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German Pages 548 Year 2012
Till Kössler Kinder der Demokratie
Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Band 41
Till Kössler
Kinder der Demokratie Religiöse Erziehung und urbane Moderne in Spanien, 1890–1936
Oldenbourg Verlag München 2013
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
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Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Kontrollierte Moderne. Die Erneuerung katholischer Bildung und Erziehung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik 1. Der Kampf um die Einheit des katholischen Erziehungsmilieus bis 1930 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
1.1
Die Expansion des katholischen Schulwesens . . . . . .
55
1.2
Liberale Bildungspolitik und antiklerikale Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
1.3
Katholische Reformer und Hindernisse im Aufbau einer politischen Bildungsbewegung . . . . . . . . . . . . . .
65
1.4
Interessenverband des Privatschulwesens oder Generalstab von Gesellschaftsreform? Konflikte auf dem Weg zur organisatorischen Neuordnung: 1924–1930 . .
76
2. Persönlichkeitsreform als Gesellschaftspolitik. Rechristianisierung und religiöse Menschenbildung nach 1900
91
2.1
Die Ausgangslage: Religion und Gesellschaftsreform vor 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
2.2
Starke Kinder für ein neues Spanien: Regenerationismus und Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
2.3
Apostolische Persönlichkeiten: Neuansätze religiöser Menschenbildung nach 1900 . . . . . . . . . . . . . . .
102
3. Vom moralischen zum psychobiologischen Kind: Der Impuls der neuen Kinderwissenschaften . . . . . . . . . .
109
3.1
Kindheit und Gesellschaftswandel um 1900: Transnationale Trends . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109
3.2
Das Kind als Gegenstand von Wissenschaft und der Aufstieg der Entwicklungspsychologie . . . . . . .
113
3.3
Katholische Akzente. Kinderwissenschaften und Kirche
119
3.4
Die Herausforderung kindlicher Gefühle . . . . . . . .
128
6
Inhaltsverzeichnis
4. Jenseits von Disziplinierung und Liberalisierung. Katholische Pädagogik und Erziehung im Wandel . . . . . . . 4.1 4.2
. . .
140
. . .
147
. . .
155
. . .
161
. . .
167
1. Von der privaten zur öffentlichen Kindheit: Tendenzen nach 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
183
4.3 4.4 4.5
Eine moderne katholische Pädagogik? . . . . . . . Disziplinierte Freiheit. Der Wandel katholischer Erziehungskonzeptionen im Spannungsfeld von Kinderorientierung und Persönlichkeitsreform . . . . . . . . . . . . . Neuansätze von Religionspädagogik und religiöser Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicht nur Ehefrauen und Mütter: Reformansätze der Mädchenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Apostel oder christliche Elite? Kinderindividuum, Begabung und Gesellschaft . .
139
II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit
1.1
Vom populären Spektakel zum „Tag des Kindes“: Der Dreikönigstag (Los Reyes Magos) . . . . . . . . . . Die Pluralisierung öffentlicher Kinderfeiern in den 1930er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Wunderkind zum Hochbegabten . . . . . . . . .
187 195
2. Widerspenstige Kinder und gesellschaftliche Ordnung: Kindheit in der populären Diskussion . . . . . . . . . . . . . .
201
1.2 1.3
2.1 2.2 2.3
Visuelle Repräsentationen von Kindheit im Wandel . . Spielen, Trainieren, Erobern: Das widerspenstige Kind als neues Leitmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kinder als Hoffnung und Bedrohung. Kindheit und Gesellschaft in populären Kindergeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Bedrohte Kinder. Die Dynamik von Kinderschutz und Kindheitsreform in der populären Medienöffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . 3.1 3.2
Der Ausgangspunkt: Internationale und spanische Kinderschutzbewegungen vor dem Ersten Weltkrieg . . Schützen und Fördern. Ausweitung von Kindheitsreform und der Entwurf neuer Kinderräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
183
201 209 218
237 237 242
3.3
Inhaltsverzeichnis
7
Große Erwartungen: Politische Dynamiken von Kindheitsreform in der Zweiten Republik . . . . . . . .
249
III. Aushandlungen 1. Kinderexperten zwischen Politik, Kindheitsreform und Profession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die „Republikanisierung der Republik“: Städtische Bildungsexperten und die Frage antiklerikaler Schulreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Debatten am Beginn der Republik . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Republikanische Bildungsdebatten und kommunale Bildungspolitik im Jahr 1933 . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Ausbleibende Radikalisierung: Bildungspolitik nach der Regierungsübernahme der „Volksfront“ im Frühjahr 1936 . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Verteidigung der christlichen Schule und das Scheitern katholischer Organisationen im Bildungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Auf der Suche nach der „integridad profesional“. Lehrer und sozialpädagogische Kinderexperten unter der Zweiten Republik . . . . . . . . . . . . . . .
265
1.1
2. Neue Familien? Eltern, Kindheitsreform und Konkurrenzgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 2.2 2.3
Weltanschauliche Familienreformprojekte: Unterschiede und Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . Ein neues Miteinander. Familienreform in der medialen Öffentlichkeit der Zweiten Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Republik als Chance und Zumutung: Familienleben zwischen 1931 und 1936 . . . . . . . . .
3. Kommerzielle Kinderzeitschriften zwischen Kindheitsreform und Kinderinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 3.2 3.3
Die frühen Kinderzeitschriften als Mittel bürgerlichmoralischer Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kommerzialisierung der Kinderpresse in den 1920er Jahren und der wachsende Einfluss von Kinderinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Überformungsversuche und gegenläufige Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
267 269 275 282 295 307 321 323 329 340 353 356 361 375
8
Inhaltsverzeichnis
IV. Schulen der Diktatur, Schulen der Demokratie? Katholische Schulgesellschaften im Wandel 1. Religion und Karriere. Der Wandel der katholischen Privatschulen vor dem Bürgerkrieg . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 1.2 1.3 1.4
Die katholischen Internate des 19. Jahrhunderts als pädagogische Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom monastischen zum urbanen Schulmodell: Veränderungen nach 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . Religion und Freiheit. Der Wandel der Schulgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Kreuzzug und Kino. Typen neuer Schulen und die Widersprüche religiös-politischer Mobilisierung . .
397 399 406 419 438
2. Die große Ernüchterung. Katholische Bildung und Privatschulen im Bürgerkrieg und im frühen Franquismus . . . . . . . . . . 461 2.1
Mobilisierung und Demobilisierung: Katholische Schulgesellschaften im Bürgerkrieg . . . . . . . . . . . Katholische Pädagogen zwischen Reformeuphorie und Verfolgungstrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reformdebatten und beschränkte Freiräume: Ein Ausblick in die Nachkriegsjahre . . . . . . . . . . .
485
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
493
Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
509
2.2 2.3
Quellen . . . . . . . . Archivalische Quellen Zeitschriften . . . . . Literatur . . . . . . . . Literatur vor 1945 . . . Literatur nach 1945 . .
. . . . . .
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462 470
. . . . . .
509 509 509 512 512 514
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
539
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
539 542
Für Emmy und Selma
Vorwort Diese Studie ist das Resultat mehrjähriger intensiver Beschäftigung mit der spanischen Geschichte. Eine Vielzahl von Personen und Institutionen hat ihre Fertigstellung gefördert. Ihnen zu danken ist das Ziel dieses Vorworts. Die Arbeit beruht auf meiner Habilitationsschrift, die im Februar 2011 am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen und für die Drucklegung leicht überarbeitet worden ist. Mein erster Dank gilt den Gutachtern der Arbeit, Martin Geyer, Dirk Schumann, Bernhard Teuber sowie in besonderer Weise Martin Baumeister, der meine Forschungen auf vorbildliche und stets liberale Weise unterstützt hat. Meinen Münchener Kolleginnen und Kollegen, insbesondere Arndt Brendecke, Cristiane Kuller, Claudia Moisel, Daniel Mollenhauer, Benjamin Schenk, Martin Schmidt, Mirjam Triendl-Zadoff sowie auch Martin Schulze Wessel bin ich für ihre Gesprächsbereitschaft und vielfältige Anregungen dankbar. Nils Freytag, Helke Stadtland, Matthias Weiß sowie Sandra Wenk haben die Mühe auf sich genommen, das Manuskript ganz oder teilweise zu lesen. Ihren Anregungen verdankt die Arbeit viel. Alexander Geppert und Stefan Schreckenberg haben während langer Jahre den Fortgang der Arbeit begleitet und waren wichtige Gesprächspartner in kritischen Momenten. Weiterhin danke ich für vielfältige Hinweise und Anregungen: Margaret Anderson, Meike Sophia Baader, Walther L. Bernecker, Sören Brinkmann, Marcelo Caruso, John Connelly, Carlos Collado Seidel, Lisa Dittrich, Paula Fass, Moritz Föllmer, Carola Groppe, Andreas Henkelmann, Ulrich Herrmann, Lucian Hölscher, Frauke Kersten-Schmuck, Sonja Levsen, Jörn Leonhard, Maren Möhring, Paul Nolte, Regina Schulte, Alexander Schwitanski, Dietmar Süß, Mary Vincent, Bernd Weisbrod, Benjamin Ziemann sowie den Mitgliedern des Arbeitskreises Geschichte + Theorie. Besonders hervorheben will ich die generöse Unterstützung einer ganzen Reihe von spanischen Wissenschaftlern und Freunden. An erster Stelle habe ich Carlos und Bei sowie Joaquín Abellán und Gabriela Ossenbach für ihre wiederholte Gastfreundschaft und tatkräftige Hilfe in vielen praktischen Fragen zu danken. Darüber hinaus bin ich zu Dank verpflichtet: Feliciano Montero, Maria del Mar del Pozo Andrés, Sandra Souto (alle Madrid), Manuel Arias (Malaga), Jesús Casquete (Bilbao), Antonio Canales (Tenerifa), Jesús Millán (Valencia), Annette Mülberger (Barcelona), Xosé Manoel Núñez Seixas (Santiago de Compostela). Die Studie hätte nicht ohne ein großzügiges Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung fertig gestellt werden können, das mir ein wunderbares Forschungsjahr in Madrid ermöglicht hat. Norbert Frei, Andreas Wirsching und meinem zu früh verstorbenen Doktorvater Klaus Tenfelde danke ich für ihre Unterstützung meines Stipendienantrags. Auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Fritz-Thyssen Stiftung sowie die
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Vorwort
Ludwig-Maximilians Universität (LMU-UCB Research in the Humanities Programm) haben durch Stipendien wichtige Forschungsaufenthalte in Spanien und den USA ermöglicht. Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael schulde ich Dank für die Möglichkeit, mein Buch in der Schriftenreihe der „Ordnungssysteme“ erscheinen zu lassen, in der ich mich bestens aufgehoben fühle. Die VG Wort hat dankenswerter Weise mit einem generösen finanziellen Beitrag die Veröffentlichung ermöglicht. In der Vorbereitung der Drucklegung haben mich in meiner neuen Bochumer Arbeitsstelle Elisabeth Reitemeyer, Alexa Knitter und besonders Laura Martena mit viel Engagement unterstützt. Schließlich danke ich Marion für ihre stets kritische Nachsicht mit mir und meiner Arbeit von ganzem Herzen.
Einleitung Kindheit und Gesellschaftsreform in der spanischen und europäischen Zwischenkriegszeit Der Beginn des Spanischen Bürgerkriegs fiel in die Schulferien, doch spielten Kindheit, Bildung und Erziehung von Anfang an eine herausragende Rolle in den sich herausbildenden Kriegsgesellschaften. Die ersten Kriegswochen und -monate waren nicht nur durch die Fragmentierung und Neuformierung politischer Macht, wirtschaftliche Umwälzungen und Gewaltexzesse gekennzeichnet, sondern auch durch einen erstaunlichen pädagogischen Enthusiasmus, der sich in einer Gründungswelle von Kinderheimen, Reformschulen und Kinderkolonien sowohl in der entstehenden republikanischen als auch in der nationalen Zone niederschlug. Kinder schmückten die Titelseiten der Illustrierten, waren ein wichtiges Element der vielen Umzüge der ersten Kriegswochen und fehlten in kaum einer Darstellung über den Sinn und die Ziele des Krieges. Die republikanische Regierung wollte im Herbst 1936 sogar einen wichtigen Teil der verfügbaren finanziellen Ressourcen für den Neubau von Schulen und die Einstellung von zusätzlichen Lehrern aufwenden. Nach Jahren erbitterter, aber unentschiedener Kämpfe zwischen katholischen und liberal-progressiven Kreisen um die Vorherrschaft im Bildungswesen und die Gestaltung moderner Kindheit brach sich nach dem Aufstand Francos ein ungezügelter bildungs- und kindheitspolitischer Enthusiasmus Bahn. Während republikanische Zeitschriften die „außergewöhnliche und wunderbare“ Vermehrung von Kinderinstitutionen feierten, erwartete eine katholische Bildungszeitschrift von einer Umgestaltung von Bildung und Erziehung eine „spirituelle Wiedergeburt unserer zeitgenössischen Welt“.1 Der Krieg, das war die feste Überzeugung vieler Zeitgenossen, eröffnete die Möglichkeit, endlich die hochgesteckten pädagogischen Reformprogramme zu realisieren, die in den vorangegangenen Jahrzehnten entwickelt worden waren. Der Krieg sollte zum Geburtshelfer einer neuen, besseren Gesellschaft und glücklicherer, leistungsfähigerer und gesünderer Menschen werden. Inmitten von Zerstörungen und Massensterben versuchten Erzieher im Bündnis mit einflussreichen politischen Gruppierungen Visionen einer neuen, unbeschwerten und glücklichen Kindheit zu verwirklichen. Doch je länger der Krieg andauerte, umso mehr verblasste der ursprüngliche Reformenthusiasmus. Die militärischen Anforderungen und ein rasch 1
Siehe nur: Un hogar-escuela para huérfanos de milicanos en Chamartín de la Rosa, Crónica, 27.9.1936; Guarderías infantiles, Mundo Obrero, 3.8.1936; Francisco Armentia, “Formación del carácter en la juventud de la España nueva“, in: Atenas 77, Januar 1938.
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Einleitung
spürbar werdender materieller Mangel in allen Lebensbereichen drängten die pädagogischen Experimente und Reformen schon im Winter 1936/37 deutlich in den Hintergrund. Kinder blieben ein wichtiges politisches Thema, doch statt hochfliegender Reformpläne bestimmte zunehmend ein tragisch gefärbtes Bild leidender, vernachlässigter Kinder die mediale Berichterstattung. Die Schwierigkeiten, die Ernährung und Kleidung der nachwachsenden Generationen sowie eine rudimentäre Aufsicht zu gewährleisten, ließen wenig Raum für zukunftsweisende Projekte und Reformen.2 Der Bürgerkrieg bildete sowohl einen Kulminationspunkt als auch einen vorläufigen Abschluss der Debatten und politischen Konflikte um die Gestaltung moderner Kindheit und Persönlichkeitsreform, wie sie sich in Spanien seit der Jahrhundertwende um 1900 herausgebildet hatten. Diese Arbeit unternimmt mit Hilfe eines kindheitshistorischen Zugriffs eine Neuinterpretation der spanischen Gesellschaftsgeschichte im Vorfeld des Bürgerkriegs und der Franco-Diktatur. Sie beschäftigt sich mit den Versuchen der katholischen Kirche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, über eine Neugestaltung von Kindheit und Erziehung die zeitgenössische spanische Gesellschaft zu reformieren und sie fragt nach den Wechselbeziehungen dieser Bemühungen mit einer sich entfaltenden neuen urbanen Gesellschaft und Kultur. In welcher Weise veränderten die politischen Bewegungen und Regime des frühen 20. Jahrhunderts das Zusammenleben der Menschen? Und umgekehrt: Welche Konsequenzen hatten Veränderungen von Kindheit, Kindheitskonzeptionen und familiären Beziehungen für die Politik? Es geht um den widersprüchlichen Wandel, die Grenzen und die Effekte katholischer, antiliberaler Gesellschaftspolitik im frühen 20. Jahrhundert. Konkret zielt die Studie auf eine doppelte Neuinterpretation gängiger Lesarten der spanischen und auch der europäischen Geschichte. Zum einen problematisiert sie das Bild des spanischen Katholizismus als einer rückwärtsgewandten und den gesellschaftlichen Status quo verteidigenden Kraft. Es geht um das Verhältnis zwischen antiliberalen und antidemokratischen Kräften und der gesellschaftlichen und kulturellen Moderne im frühen 20. Jahrhundert und die Entwicklungsrichtung der katholischen Bewegung zwischen Demokratie und Diktatur. Weiter problematisiert die Arbeit die populäre Deutung einer zunehmenden Politisierung und Polarisierung der spanischen Gesellschaft als Grundentwicklung der 1920er und 1930er Jahre, indem sie die Reichweite und Aneignungsweise der politischen Konflikte in der urbanen Gesellschaft und Kultur mit in die Deutung der Vorbürgerkriegszeit einbezieht. Eine Geschichte der Kindheit vermag es, die politisch-ideologischen Konflikte mit der Ebene des privaten Lebens und alltagskultureller Debatten in 2
Zu einzelnen Belegen siehe: Till Kössler, Children in the Spanish Civil War, in: Martin Baumeister/Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), “If you tolerate this . . . “ The Spanish Civil War in the Age of Total War, Frankfurt/Chicago 2008, S. 101–32.
Einleitung
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Beziehung zu setzen, die zumeist getrennt voneinander behandelt werden. Ein kindheitshistorischer Ansatz erlaubt es, die gesellschaftliche Mikroebene und das einzelne Individuum mit übergreifenden politischen Prozessen und Ereignissen zu verknüpfen, und er erweist sich als besonders fruchtbar in Zeiten, in denen sowohl die Grundlagen von Politik und Gesellschaft als auch das Leben der Einzelnen zutiefst erschüttert wurden. Die Studie will die vielschichtige Demokratieerfahrung und Demokratieaneignung von Spaniern jenseits der engeren politischen Sphäre erkunden und dadurch einen Beitrag zu einer Geschichte der spanischen Zweiten Republik (1931–1936/39) und generell zu einer Problemgeschichte der Demokratie im Europa des 20. Jahrhundert leisten. Das Spanien der 1930er Jahre ist zu einem Symbol der europäischen Geschichte im Zeitalter der Extreme geworden. Historiker sehen im Versinken der Zweiten Spanischen Republik in einen blutigen Bürgerkrieg im Juli 1936, nur fünf Jahre nachdem eine friedliche Revolution die Militärdiktatur Miguel Primo de Riveras beseitigt und eine reformorientierte Demokratie durchgesetzt hatte, ein Sinnbild des blutigen Kampfes der Weltanschauungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Scheitern der Republik symbolisiert in ihrer Deutung die gemeineuropäische Krise der liberalen Demokratie und das Zerbrechen gesellschaftlichen Zusammenhalts unter dem Eindruck extremer Ideologien. Im spanischen Fall verdichteten sich gesamteuropäische Problemlagen, allgemeine Entwicklungen prallten mit besonderer Wucht aufeinander.3 Insbesondere zwei Entwicklungen erscheinen in Spanien paradigmatisch zugespitzt. Zunächst sehen Historiker den Niedergang der liberalen Republik und die Lagerbildung des Bürgerkrieges in ein republikanischlinkes und ein katholisch-nationales Lager als symptomatisch für den Zerfall der europäischen Gesellschaft in antagonistische ideologische Blöcke nach 1917. Die neuere spanische Geschichte bis 1936 erscheint als Geschichte des Zerfalls der Bevölkerung in zwei weltanschauliche Blöcke und die Zweite Republik als letzte einer Serie von gescheiterten Versuchen, die gesellschaftliche Fragmentierung zu überwinden. In dieser Deutung bestimmte der Kampf zwischen Verfechtern politischer, gesellschaftlicher und kultureller Moderne und Verteidigern des Status quo, zu denen neben Adel, Militär und Großgrundbesitzern auch die katholische Kirche gezählt wird, den Gang der spanischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Der Zusammenschluss der politischen Parteien in eine „Volksfront“ und eine „Nationale Front“ in den letzten demokratischen Wahlen im Februar 1936 wird als Kulminationspunkt einer langfristigen Entzweiung der „zwei Spanien“ interpretiert, die sich hin3
Vgl. nur Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 202, nach dem im Spanischen Bürgerkrieg die „globale Konfrontation die konzentrierteste Gestalt annahm“. Spanien sei zum „Symbol eines globalen Kampfes“ geworden.
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Einleitung
sichtlich ihrer Haltung zu einer Reihe struktureller Modernisierungskrisen voneinander abgrenzten. Während die progressiven Kräfte im laizistischen Bürgertum und in der Arbeiterschaft eine Säkularisierung von Politik und Gesellschaft, grundlegende Land- und soziale Reformen, eine Beschränkung der Macht des Militärs, eine kulturelle Modernisierung und eine durchgreifende – allerdings sehr unterschiedlich definierte – Demokratisierung Spaniens anstrebten, versuchten ihre Gegner die Macht der alten Eliten und die überkommene Gesellschaftsordnung zu sichern, Modernisierungsversuche zu unterbinden und die Bevölkerung autoritär zu pazifizieren. Der Bürgerkrieg bildet in dieser Deutung das Ergebnis langfristiger Strukturprobleme einer Gesellschaft im Umbruch und das Resultat eines tragischen politischen Patts der beiden weltanschaulichen Lager.4 Zweitens erscheinen in der spanischen Entwicklung die Krise der liberalen Demokratie und der Aufstieg radikaler, antiliberaler und antiindividualistischer Ideologien als grundlegende Trends der europäischen Geschichte besonders ausgeprägt und verdichtet. Die Belagerung der liberalen Republik durch Anarchosyndikalismus und Kommunismus einerseits, reaktionären Nationalkatholizismus und bald auch Faschismus andererseits wird als zugespitzte Manifestation der globalen Auseinandersetzung von Liberalismus, Faschismus und Kommunismus interpretiert. Diese Deutung sieht Spanien als Schauplatz eines weltgeschichtlichen Ringens und betont die politischen und sozialen Unruhen der republikanischen Zeit, die fast ununterbrochenen Massenstreiks, Straßenkämpfe, Attentate und Putschversuche. Der Prozess der Polarisierung isolierte die Anhänger der demokratischen Zweiten Republik, die sich einem ideologischen Zangengriff von rechts und links ausgesetzt sahen. Während die demokratische Mitte implodierte, drangen die Feinde
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Am pointiertesten wird in jüngster Zeit diese modernisierungstheoretische Deutung von der britischen Historikerin Helen Graham vertreten: Helen Graham, The Spanish Civil War: A Very Short Introduction, Oxford 2005; Dies., The Spanish Republic at War: 1936– 1939, Cambridge 2002. Siehe auch: Helen Graham/Jo Labanyi, Culture and Modernity. The Case of Spain, in: Dies. (Hrsg.), Spanish Cultural Studies, Oxford 1995, S. 1–19. Vgl. weiterhin die einflussreichen Darstellungen: Julián Casanova, Historia de España. Bd. 8: República y Guerra Civil, Barcelona 2007; Paul Preston, The Coming of the Spanish Civil War. Reform, Reactions and Revolutions in the Second Spanish Republic 1931–1936, London 1978; Paul Preston, La Guerra Civil Española, Barcelona 2006; Santos Juliá, Historias de las Dos Españas, Madrid 2004. Als frühe Deutung: Edward Malefakis, Agrarian Reform and Peasant Revolution in Spain. Origins of the Civil War, New Haven 1970. In Deutschland ist diese Deutung prominent insbesondere von Walther Bernecker in zahlreichen Publikationen vertreten worden. Siehe hier nur: Walther L. Bernecker, Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, München 2010, bes. S. 119, 134f.; Ders., Krieg in Spanien 1936– 1939, Darmstadt 2 2006; Ders., Sozialgeschichte Spaniens im 19. und 20. Jahrhundert. Vom Ancien Régime zur Parlamentarischen Monarchie, Frankfurt/Main 1990. Eine konzise Darstellung der Debatte liefert: Carlos Collado Seidel, Der spanische Bürgerkrieg. Geschichte eines europäischen Konflikts, München 2006, S. 15–60.
Einleitung
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der Demokratie von rechts und links von den Rändern in das Zentrum des politischen Spektrums vor.5 Neuere Studien haben jedoch auf eine Anzahl von Widersprüchen und Limitierungen aufmerksam gemacht, welche sowohl das Erklärungsmuster eines Kampfes zwischen liberal-progressiver Moderne und reaktionären Traditionalisten als auch die These einer zunehmenden Radikalisierung und Polarisierung der Bevölkerung als wesentliche Entwicklungen der 1930er Jahre in Frage stellen und eine erneute Untersuchung der spanischen Vorkriegsgeschichte lohnend erscheinen lassen. Zunächst hat die internationale Faschismus- und Konservativismusforschung in den vergangenen Jahren überzeugend die simple Identifizierung der politischen und intellektuellen Rechten mit traditionellen, vormodernen Ideen und Gesellschaftsentwürfen zurückgewiesen und an der einseitigen Verbindung von Moderne und liberaler Demokratie gerüttelt.6 Die Faschismusforschung hat immer wieder versucht, diese Uneindeutigkeit mit Begriffen wie reactionary modernism oder fascist modernism zu fassen. Es hat sich ein weitgehender Konsens in der neuen Forschung herausgebildet, dass sich viele Entwicklungen des frühen und mittleren 20. Jahrhundert besser als Ringen unterschiedlicher ModerneProjekte, die sich in vielfältigen Ablösungs- und Zuspitzungstendenzen von der liberal-bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts entfernten, denn als Modernisierungskonflikte beschreiben lassen.7 Wie diese Studie zeigen wird, ist es auch im spanischen Fall unmöglich, in den zeitgenössischen 5
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Die hier vorgestellte Deutung ist in den letzten Jahrzehnten insbesondere von dem USamerikanischen Historiker Stanley Payne ausgearbeitet worden. Siehe: Stanley G. Payne, Spain’s First Democracy. The Second Republic, 1931–1936, Madison/Wi. 1993; Ders., The Collapse of the Spanish Republic, 1933–1936. Origins of the Civil War, New Haven 2006. Vgl. auch: Bartolomé Bennassar, El infierno fuimos nosotros: La Guerra Civil Española (1936–1942), Madrid 2005. Siehe als ausgezeichnete, nuancierte Synthese der verschiedenen Deutungsperspektiven: Gabriele Ranzato, El Ecplise de la Democracia. La Guerra Civil Española y sus Orígenes, 1931–1939, Madrid 2006. Die Literatur ist inzwischen umfangreich. Siehe hier nur den programmatischen Aufsatz von Peter Fritzsche: Nazi Modern, in: Modernism/Modernity 3 (1996) S. 1–22. Zu den Begriffen: Jeffrey Herf , Reactionary Modernism. Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge/Mass. 1984; Roger Griffin, Modernism and Fascism. The Sense of a Beginning under Mussolini and Hitler, New York u. a. 2007. Vgl. auch: Fernando Esposito, Mythische Moderne. Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung in Deutschland und Italien, München 2011; Sven Reichardt/Armin Nolzen (Hrsg.), Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Vergleich, Göttingen 2005. Als prominentes Beispiel des neuen Konsenses: Ulrich Herbert, Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History 5 (2007), S. 5–20. Als klassische Formulierung: Detlev Peukert, Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989; Ders., Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt/Main 1987. Zu neuen soziologischen Ansätzen siehe nur den Sammelband: Andreas Reckwitz/Thorsten Bonacker (Hrsg.), Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart, Frankfurt/Main 2007. Siehe vor allem: Thorsten Bonacker, Der Kampf der Interpretationen. Zur Konflikthaftigkeit der politischen Moderne, in: ebd., S. 199–218.
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Einleitung
Debatten auf der politischen Rechten moderne und traditionelle Positionen klar voneinander abzugrenzen. Vielmehr erweisen sich diese Kategorien als weitgehend ungeeignet zur Beschreibung der politischen und kulturellen Kämpfe der Zeit. Während ältere Forschungen zur Beziehung von Faschismus und Modernität einerseits die Aufnahme moderner politischer Symbolik, Propaganda und Technikbegeisterung in den faschistischen Bewegungen und Regimen als Teil eines Bemühens untersuchten, rückwärtsgewandte Ideen unter den neuen Bedingungen moderner Gesellschaft zu verwirklichen, andererseits um Fragen nach intentionalen und nicht-intentionalen Modernisierungswirkungen des „Dritten Reiches“ kreisten, geht es der neueren Forschung wesentlich darum, die Bewegungen als moderne Gesellschaftsreformprojekte zu verstehen, die antiliberale Antworten auf spezifische gesellschaftliche Herausforderungen des 20. Jahrhunderts zu geben versuchten. In dieser Perspektive zeichnet die neuen autoritären und faschistischen Kräfte nicht nur ein rein funktionales Verhältnis zur Moderne aus, indem sie etwa moderne Werbetechniken verwandten, um eine im Kern reaktionäre Ideologie zu propagieren. Vielmehr erweisen sich die Bewegungen und Regime als integraler Teil der Moderne des 20. Jahrhunderts, und ihre katastrophale und verbrecherische Dynamik erklärt sich gerade aus diesem Umstand.8 Der Wandel des Deutungshorizonts hat dazu beigetragen, eine ganze Reihe neuer Forschungsfelder zu erschließen, von der Untersuchung der Rezeption und Amalgamierung moderner Wissenschaftskulturen durch die faschistischen Bewegungen und Regime bis hin zu Fragen von Stadtplanung, Massenkultur, Konsum und Individualitätskonzepten.9 Unabhängig davon, ob man eher von einer Pervertierung der Moderne durch die faschistischen und totalitären Regime des 20. Jahrhunderts ausgehen möchte, oder aber eher der These inhärenter Ambivalenzen und Schattenseiten der Moderne anhängt, haben die Debatten um alternative Mo-
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Zur aktuellen Forschungsdebatte: Moritz Föllmer, Was Nazism Collectivistic? Redefining the Individual in Berlin, 1930–1945, in: Journal of Modern History 82 (2010), S. 61– 100; Fritzsche, Nazi Modern. Abwägend: Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000, S.. S. 51–58. Zu Italien: Griffin, Modernism; Ruth BenGhirat, Fascist Modernities: Italy, 1922–1945, Berkeley 2001. Als informativer Überblick über die älteren Debatten der 1990er Jahre: Ricardo Bavaj, Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus. Eine Bilanz der Forschung, München 2003. Weiterhin: Michael Prinz (Hrsg.), Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt 2 1994. Eher an diese älteren deutschen Diskussionen zu Nationalsozialismus und Modernisierung anschließend: Wolfgang Schieder, Die Geburt des Faschismus aus der Krise der Moderne in: Ders., Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008, S. 353–376. Siehe nur als originelle Beispiele dieser Forschung: Föllmer, Nazism; Peter Fritzsche, Life and Death in the Third Reich, Cambridge/Mass. 2008. Ders., A Nation of Fliers, German Aviation and the Popular Imagination, Cambridge/Mass. 1992 sowie die oben genannten Arbeiten zum italienischen Faschismus.
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dernitätsformen zu einer Vertiefung unseres Verständnisses von Faschismus und Nationalsozialismus beigetragen. In den internationalen Debatten um faschistische beziehungsweise autoritäre Varianten der Moderne hat Spanien bisher keine Rolle gespielt, und umgekehrt hat die historische Spanienforschung die Debatten um Moderne und Modernität bisher kaum aufgenommen. Ansätze einer Rezeption gibt es lediglich in der Erforschung der franquistischen Repressionspolitik der Bürgerkriegs- und Nachbürgerkriegszeit. Der britische Historiker Michael Richards hat versucht, die Gewaltausübung des Franco-Regimes als modernes, und das meint hier als entgrenztes und gesellschaftsbiologisch motiviertes Unterfangen darzustellen.10 Doch auch Richards rüttelt nicht an der allgemeinen Deutung der antidemokratischen Rechten als reaktionärer Bewegung. Gerade die Schwäche des Faschismus vor 1936 und die katholisch-religiöse Prägung der antiliberalen Bewegungen in Spanien erscheinen in dieser Hinsicht als Indiz fehlender Modernität und „Rückständigkeit“ gegenüber den modernen Gewaltregimen in Deutschland, Italien und der Sowjetunion. Trotz ihrer vielfältigen Beziehungen erscheinen „moderner“ Faschismus und „traditionelle“ religiös-konservative Rechte als Gegensätze. Entgegen dieser verbreiteten Deutung kann ein Perspektivwechsel von einer modernisierungstheoretischen Sicht hin zu dem Paradigma der umkämpften, multiplen Moderne der historischen Spanienforschung neue Impulse geben. Sie ermöglicht zunächst die Erweiterung des Untersuchungsfeldes über den engen Bereich politischer Programme und Organisation hinaus und die Einbeziehung gesellschaftlicher und kultureller Faktoren in die Analyse. Weniger politische Programmatik und Verlautbarungen, sondern die innere Struktur der illiberalen Bewegungen und ihre Interaktionen mit der kapitalistischen Industriegesellschaft, mit neuen Tendenzen der Wissenschaften, Konsumkultur und Medien rücken so in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.11 Die national-katholische, antirepublikanische Mobilisie10
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Michael Richards, A Time of Silence. Civil War and the Culture of Repression in Franco’s Spain, 1936–1945, Cambridge 1998; Ders., Civil War, Violence and the Construction of Francoism, in: Paul Preston/Ann L. Mackenzie (Hrsg.), The Republic Besieged. Civil War in Spain 1936–1939, Edinburgh 1996, S. 197–239; Ders., Morality and Biology in the Spanish Civil War. Psychiatrists, Revolution, and Women Prisoners in Málaga, in: Contemporary European History 10 (2001), S. 395–421. Eine ähnliche Deutung vertritt Graham, Very Short History. Diese Interpretation ist jedoch vor Kurzem einer grundlegenden Kritik unterzogen worden, welche mit guten Argumenten eine gesellschaftsbiologische Dimension der franquistischen Gewalt abstreitet und diese vor allem in die Tradition autoritärer Machtsicherung stellt: Julius Ruiz, Franco’s Justice. Repression in Madrid after the Spanish Civil War, Oxford 2005. Eine kondensierte Fassung seiner Argumentation findet sich in: Ders., A Spanish Genoicide? Reflections on the Francoist Repression after the Spanish Civil War, in: Contemporary European History 14 (2005), S. 171–91. Im Vergleich zu den Kernländern der westlichen Moderne liegen für Spanien erst vergleichsweise wenige Untersuchungen zur Ausprägung gesellschaftlicher und kultureller
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rung wird als modernes Gesellschaftsreformprojekt untersucht. Dabei schält sich das Verhältnis der politischen Mobilisierung zur städtischen Moderne als ein Hauptthema heraus, waren es doch gerade auch große Teile der urbanen bürgerlichen Mittelschichten, welche die politische Rechte unterstützten.12 Indem der politische Katholizismus und Autoritarismus nicht vorschnell als historische Ausläufer vormoderner Ideen verstanden werden, können ihr Wandel und ihre Bedeutung im 20. Jahrhundert neu vermessen werden. In diesem Zusammenhang ist eine Neubewertung von Religion als Faktor gesellschaftlichen Wandels von besonderer Bedeutung. In vielen Arbeiten wird Religion immer noch als ein primärer Ausweis von Tradition betrachtet, als wesentliches Hemmnis einer Modernisierung von Staat und Gesellschaft.13 Eine Reihe neuerer Studien hat diese enge Verbindung von Religion und Tradition allerdings in Frage gestellt und die spezifische Dynamik von Religion in den modernen Industriegesellschaften betont.14 Die Neubewertung von Religion als Faktor von Gesellschaftswandel hat auch die historische Spanienforschung erfasst. Die britische Historikerin Mary Vincent hat beispielsweise auf eine wichtige religiöse Erneuerungsbewegung im spanischen
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Modernität vor. Die existierende Literatur hat aber bereits viele Mythen pauschaler spanischer Rückständigkeit zerstören können: Ana María Aguado Higón/María Dolores Ramos, La Modernización de España (1917–1939). Cultura y Vida Cotidiana, Madrid 2002; Carlos Serrano/Serge Saliiny (Hrsg.), Temps de Crise et Anneés Folles. Les Anneés 20 en Espagne (1917–1930). Essai d’histoire culturelle, Paris 2002; Graham/Labanyi, Cultural Studies. Siehe weiterhin: Manuel Suárez Cortina, Sociedad, Cultura y Política en la España de entre Siglos, in: Ders./Vicente L. Salavert Fabiani (Hrsg.), El Regeneracionismo en España, Valencia 2007, S. 21–46. Vgl. als Fallstudie auch Adrian Shubert, Death and Money in the Afternoon. A History of the Spanish Bullfight, Toronto 2001, der die im internationalen Vergleich äußerst frühe Durchsetzung markt- und werbewirtschaftlicher Modernität in Spanien in einem vermeintlich besonders rückständigen Bereich spanischer Kultur betont. Wie in dieser Arbeit betont wird, waren es beispielsweise gerade bürgerliche Schichten in den neuen Industriestädten, welche die katholischen Bildungseinrichtungen förderten und frequentierten. Siehe etwa die ansonsten vorzügliche Arbeit: Julián Casanova, La Iglesia de Franco, Madrid 2001. In europäischer Perspektive sieht auch Mark Mazower in der Kirche der Zwischenkriegszeit ein „Bollwerk der alten Ordnung“: Dunkle Kontinent, S. 53. Dies trifft besonders für die neuere Katholizismusforschung zu. Siehe in programmatischer Absicht: Christopher Clark, The New Catholicism and the European Culture Wars, in: Ders./Wolfram Kaiser (Hrsg.), Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 2003, S. 11–46. Eine umfassende Auflistung der sehr umfangreichen neueren Forschung kann hier nicht geleistet werden. Vgl. aber die allgemeinen Überlegungen: Benjamin Ziemann, Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Frankfurt 2009; Michael Saler, Modernity and Enchantment. A Historiographical Review, in: American Historical Review 111 (2006), S. 692– 716; Michael Hochgeschwender, Religion, nationale Mythologie und nationale Identität: Zu den methodischen und inhaltlichen Debatten in der amerikanischen New Religious History, in: Historisches Jahrbuch 124 (2004), 435–520; José Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994.
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Katholizismus während des Bürgerkriegs hingewiesen und damit das Bild der Kirche als homogenen Block der Tradition während der Kriegsjahre korrigiert. Diese Arbeiten legen es nahe, auf neue Weise nach der Rolle von Religion für die spanische Geschichte des 20. Jahrhunderts zu fragen und ihre Bedeutung in einzelnen Gesellschaftsbereichen zu erörtern.15 Insgesamt kann der spanische Fall die allgemeinen Debatten über Liberalismus, Autoritarismus und Moderne befruchten, da er neben Deutschland und Italien ein weiteres Land in die Diskussion einführt und besonders die Frage nach dem Zusammenhang von Religion und Moderne neu stellt. Neben der modernisierungstheoretischen Deutung ist in den vergangenen Jahren auch die These einer Fundamentalpolitisierung der Bevölkerung vor und nach Beginn des Bürgerkriegs in Frage gestellt worden. Der Historiker Michael Seidman hat in einer umfangreichen Studie zum Alltagsleben in der republikanischen Kriegszone auf Handlungsmotivationen jenseits der politischen Wertsysteme aufmerksam gemacht. Er argumentiert, dass im Bürgerkrieg nach einer kurzen Phase revolutionärer Euphorie eher Eigennutz und die Sorge um das eigene Überleben anstatt politischer Ideale das Handeln der Menschen bestimmt hätten. Politische Loyalitäten seien, wenn überhaupt, kurzfristig und wandelbar gewesen.16 Unterstützung hat diese Deutung durch eine Reihe von Lokalstudien erhalten, die auf die Bedeutung von lokalen Netzwerken und persönlichen Antagonismen, die von den nationalen politischen Debatten kaum beeinflusst wurden, als entscheidende Faktoren in den Auseinandersetzungen der Bürgerkriegsjahre verweisen.17 Seidmans Thesen haben scharfe Kritik auf sich gezogen, doch werfen sie 15
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Mary Vincent, The Spanish Civil War as a War of Religion, in: Martin Baumeister/Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), „If you tolerate this . . . “ The Spanish Civil War in the Age of Total War, Frankfurt/Main 2008, S. 74–89. Vgl. auch die weiterführenden Überlegungen zu einer Erneuerung der spanischen Religionsgeschichte: Jaume Aurell, Pablo Pérez López, Introducción, in: Jaume Aurell (Hrsg.), Católicos entre dos Guerras. La Historia Religiosa de España en los Años 20 y 30, Madrid 2006, S. 9–19; Feliciano Montero, Introducción, in: Ders. (Hrsg.), La Acción Católica en la II. República, Alcalá de Henares 2008, S. 9–18; Ders., La Historiografía Española entre la Historia Eclesiástica y la Religiosa, in: René Remond (Hrsg.), Hacer la Historia del Siglo XX, Madrid 2004, S. 266– 81; José Manuel Cuenca Toribio, Estudios sobre el Catolicismo Español Contemporáneo, Bd. 4, Córdoba 2005. Michael Seidman, Republic of Egos. A Social History of the Spanish Civil War, Madison 2002. Carlos Gil Andrés, Lejos del Frente. La Guerra Civil en la Rioja Alta, Barcelona 2006. Siehe auch als knappe Zusammenfassung seinen Aufsatz: Vecinos contra Vecinos. La Violencia en la Retaguardia Riojana durante la Guerra Civil, in: Historia y Política 16 (2006), S. 109–30. Ähnlich anhand eines Fallbeispiels zu Katalonien: François Godicheau, Guerra Civil, Guerra Incivil: la Pacificación por el Nombre, in: Ders./Julio Aróstegui (Hrsg.), Guerra Civil. Mito y Memoria, Madrid 2006, S. 137–66. Vgl. in übergreifender Perspektive: Stathis Kalyvas, The Logic of Violence in Civil War, Cambridge 2006. Lesenswert ist in diesem Zusammenhang auch sein älterer Aufsatz: „New“ and „Old“ Civil Wars: A Valid Distinction? in: World Politics 54 (2001), S. 99–118.
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berechtigte Fragen darüber auf, welche gesellschaftliche Reichweite die politischen Ideologien in der Bürgerkriegs- wie in der Vorbürgerkriegszeit besaßen. Sie lenken den Blick auf die bisher erstaunlich wenig gestellte Frage nach den politischen Vorstellungen und Handlungsmotivationen der Bevölkerung jenseits der politischen Eliten und Funktionsträger. War die spanische Bevölkerung tatsächlich so politisiert und polarisiert, wie es politische Proklamationen, Leitartikel und Parlamentsdebatten nahelegen? Existierten alternative Handlungsmotivationen, die quer zu den parteipolitischen Programmen standen und wenn ja, welche politischen Konsequenzen hatten sie? Diese Arbeit will zeigen, dass ein kinderhistorischer Blick auf die spanische Geschichte der Zwischenkriegszeit neue Antworten auf diese Fragen zu geben vermag.
Kindheitsgeschichte und Kindersubjekte. Der Forschungsansatz Die europäischen Gesellschaften des frühen 20. Jahrhunderts waren Kindergesellschaften. Kinder, wie auch immer sie in historischen Kontexten definiert wurden, stellten einen höheren Anteil an der Bevölkerung als jemals zuvor in der neuzeitlichen Geschichte. In einigen Ländern war sogar fast die Hälfte aller Einwohner noch nicht volljährig. Doch auch über ihre reine Zahl hinaus erlangten Heranwachsende eine außerordentliche Bedeutung. In einer Zeit grundlegenden Umbruchs symbolisierten Kinder die potentiellen Gefahren der modernen Gesellschaft, aber auch ihre neuen Möglichkeiten. Kindheit und Erziehung rückten in den Mittelpunkt vielfältiger Kontroversen über die Zukunft der Nation und über eine neue Vermittlung von Einzelnem, Gesellschaft und Staat. Kinder standen im Zentrum von politischer Gesellschaftsreform, Sozialpolitik und gesellschaftlichem Wandel.18 Kindheitsgeschichte soll in dieser Arbeit nicht als historische Nischendisziplin verstanden werden, sondern als historische Forschungsperspektive, mit der neue Erkenntnisse über den Zusammenhang von Politik und Gesellschaftswandel im frühen 20. Jahrhundert erzielt werden können. Eine Betrachtung des Umgangs von Erwachsenen und Kindern im frühen 20. Jahrhundert lenkt den Blick auf zwei widersprüchliche Dynamiken, 18
Paula S. Fass, Introduction: Children in Society, Culture, and the World, in: Dies. (Hrsg.), Children of a New World, New York 2006, S. 1–17, hier S. 6; Joseph M. Hawes/N. Ray Hiner, Standing on Common Ground. Reflections on the History of Children and Childhood, in: Dies. (Hrsg.), Children in Historical and Comparative Perspective. An International Handbook and Research Guide, New York 1991, S. 1–7, hier S. 2. In weiterer Perspektive: Mark Mazower, Dunkle Kontinent, S. 126–34.
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welche die Geschichte von Kindheit prägten, aber auch symptomatisch auf ein grundlegendes Spannungsverhältnis moderner Gesellschaften des 20. Jahrhunderts verweisen. Einerseits drängten in Weiterentwicklung bürgerlicher Kindheitsentwürfe des 19. Jahrhunderts starke Kräfte auf eine weitgehende Trennung von Kinder- und Erwachsenenwelten und die Etablierung von geschützten und pädagogisch strukturierten Kinderräumen mit eigenen Regeln und Praktiken. Der Rückgang der Natalität und Kindersterblichkeit und damit einhergehende Veränderungen zunächst der bürgerlichen Familie, in denen Kinder von einer ökonomischen zu einer emotionalen Ressource wurden, der Einfluss der neuen Kinderpsychologie und Pädagogik im „Jahrhundert des Kindes“, aber auch neue politische Sorgen vor einer Degeneration der Gesellschaft forcierten diese Entwicklung. Kindheit wurde im 20. Jahrhundert weit mehr als in den vorangegangenen Jahrhunderten zu einem öffentlich schützenswerten Gut. Neue Kinderexperten und Erziehungsratgeber popularisierten ebenso wie die sich entfaltende Kinderkonsumkultur eine Sicht auf Kindheit, die diese Lebensphase als verletzlich, kostbar und pädagogischer Obhut bedürftig beschrieb. Die Genfer Kinderschutzkonvention des Völkerbundes von 1924 kodifizierte diesen Wandel in sichtbarer Weise. Das individuelle Kind und seine emotionalen Bedürfnisse rückten in den Mittelpunkt öffentlichen Interesses, kindzentrierte Erziehungsformen entfalteten eine große Plausibilität. Andererseits jedoch setzte eine weite Bevölkerungskreise umfassende Politisierung von Fragen der Kindheit und Erziehung ein. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert erhielt Kindheit eine neue politische Beachtung, indem Politiker und Medien Kinder immer mehr als nationale Ressource im Kampf der Nationen und als Ausgangspunkt gesellschaftlicher Erneuerung behandelten. Die neuen politischen Massenbewegungen und Regime versuchten gerade auch über eine Neugestaltung von Kindheit und eine ideologische Mobilisierung von Kindern ihren Machtanspruch durchzusetzen und Gesellschaft langfristig zu verändern. Sie versuchten, Kindheit aktiv zu gestalten, Familien zu regulieren und Bildung und Erziehung zu erneuern. Dies geschah am sichtbarsten in den totalitären Staaten sowie in den modernen Massenkriegen, lässt sich aber auch in liberalen Gesellschaftssystemen verfolgen. Innerhalb einzelner Länder bildeten sich oft antagonistische Lager heraus, die Kindheit auf je spezifische Weise gestalten wollten und miteinander in erbitterte Konkurrenz traten. Eine besondere Bedeutung in der Lagerbildung spielten häufig – und gerade in katholisch geprägten Gesellschaften – religiöse Fragen. Die Organisation von Kindheit wurde zum wichtigen Gegenstand konkurrierender Projekte der Moderne. In welchem Verhältnis standen nun diese beiden Entwicklungen und wie beeinflussten sie sich gegenseitig? Die Forschung gibt darauf bislang kaum Antworten. Historische Arbeiten untersuchen seit Langem das politische Ringen zwischen Bildungsreformern und ihren Gegnern, verlassen dabei jedoch in aller Regel nicht den engeren Bereich von Bildungspolitik und Bildungs-
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organisation. Die spanische Forschung hat sich in den letzten Jahrzehnten intensiv mit der Bekämpfung des Analphabetismus, dem Aufschwung staatlicher Schulpolitik nach 1900 und dem langsamen Ausbau des Bildungswesens befasst. Die wichtigste Neuerung der vergangenen Jahre bestand in einer Ausweitung des Untersuchungsbereiches auf die Bildungspolitik in den Regionen und Kommunen, die eine aktive Rolle im Ausbau des Schulwesens spielten.19 Auch einzelne pädagogische Strömungen – insbesondere die liberalen Reforminitiativen der bedeutenden Institución Libre de Enseñanza (Freies Bildungsinstitut, ILE) – sind in den vergangenen Jahrzehnten analysiert worden.20 Die einzelnen Studien betten ihre Ergebnisse zumeist in ein größeres Modernisierungsnarrativ ein, das die mühsame, aber letztlich erfolgreiche Durchsetzung eines modernen Schulwesens und eines liberal-demokratischen Umgangs mit Kindern beschreibt. Während somit die historische Spanienforschung wenig Anknüpfungspunkte für eine Beantwortung der Leitfragen bietet, findet sich in einer neuen, insbesondere von angloamerikanischen Historikern verfolgten kulturhistorischen Kinderforschung eine ganze Reihe von Anregungen. Diese Forschung hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Sozialgeschichte der Bildung, wie sie in den 1970er und 1980er Jahren ausgearbeitet wurde, weiterentwickelt. Die ältere Sozialgeschichte dehnte den Untersuchungsbereich der historischen Bildungsforschung einerseits in Richtung einer Sozialgeschichte der Lehrerschaft und Lehrerverbände sowie einer Geschichte von Bildungsmobilität und Bildungschancen aus, nahm andererseits aber auch erstmals 19
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Als neuere Überblicksdarstellungen: Alejandro Mayordomo Pérez, Regeneracionismo y Educación. La Construcción Pedagógica de la Sociedad y la Política, in: Salavert Fabiani/Suárez Cortina, Regeneracionismo, S. 165–206; Agustín Escolano Benito (Hrsg.), Historia Ilustrada de la Escuela en España. Dos Siglos de Perspectiva Histórica, Madrid 2006; Ders., La Educación en la España Contemporánea. Políticas Educativas, Escolarización y Culturas Pedagógicas, Madrid 2002; Antonio Viñao Frago, Escuela para Todos. Educación y Modernidad en la España de Siglo XX, Madrid 2004; Antonio Sánchez Rodríguez, La Batalla por la Escuela. El Régimen Educativo en la Constitución de la Segunda República, Sevilla 2003; José J. Martí Ferrándiz, Utopías y Desengaños en las Políticas Educativas de la Segunda República. La Inspección del Sistema Escolar, Valencia 2003; Juan Manuel Fernández Soria, Estado y Educación en la España Contemporánea, Madrid 2002; Manuel de Puelles Benítez, Educación e Ideología en la España Contemporánea, Madrid 41999. Als Regional- und Lokalstudien: Amparo Pont Sastre, El Magisterio en la Provincia de Guadalajara (1931–1940): Depuración y Represión, Alcalá de Henares 2006; María del Mar del Pozo Andrés, Desde las Escuelas para Pobres hasta la Ciudad Educadora: La Enseñanza Pública en Madrid, in: Virgilio Pinto Crespo, Madrid. Atlas Histórico de la Ciudad, Madrid 2001, S. 326–41; Dies., Urbanismo y Educación. Política Educativa y Expansión Escolar en Madrid (1900–1931), Alcalá de Henares 1999; Xosé Manuel Cid Fernández, Educación e Sociedade en Ourense durante a Segunda república (1931– 1936), Santiago de Compostela 1987. Vgl. Pedro F. Álvarez Lázaro, Krause, Giner y la Institución Libre de Enseñanza. Nuevos Estudios, Madrid 2005; Antonio Molero Pintado, La Institución Libre de Enseñanza. Un Proyecto de Reforma Pedagógica, Madrid 2000.
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unter dem Leitbegriff der „Sozialisation“ Bedingungen des Aufwachsens jenseits von Schule und Universitäten in den Blick.21 Die neuere Kindheitsgeschichte knüpft an diese Forschungen an, versucht allerdings, die Fragestellungen der älteren historischen Sozialisationsforschung zu erweitern und die Kindheitsgeschichte gegenüber neuen Forschungsansätzen besonders der Wissens-, Medien- und Konsumgeschichte zu öffnen. In Weiterentwicklung der Familien- und Bürgertumsgeschichte der 1980er und 1990er Jahre haben die neuen Kindheitshistoriker zwei Neuansätze der soziologischen und kulturwissenschaftlichen Kinderforschung aufgegriffen. Diese plädiert, erstens, dafür, Kinder als soziale Akteure ernst zu nehmen und die wechselseitigen Einflüsse von Erwachsenen- und Kinderhandeln in ihren Folgen zu beachten.22 In bewusster Anlehnung an die Arbeiter- und Geschlechtergeschichte geht es den Vertretern dieses Ansatzes wesentlich um Dynamiken von Disziplinierungsversuchen und kindlichem Widerstand. Sie fragt danach, inwieweit Kinder in der Lage waren, sich Freiräume und Rechte gegenüber Erwachsenen zu erkämpfen. In allgemeiner Perspektive ermöglicht sie es, die Unterschiede kindlicher Handlungsmöglichkeiten in und zwischen Gesellschaften in den Blick zu bekommen und Vorstellungen von Kindern als passiven Opfern staatlicher Politik und den Vorschriften Erwachsener zu überwinden. Es ist aber Vorsicht geboten, eine Geschichte der Kindheit zu sehr auf eine Geschichte aus der Perspektive von Kindern zu beschränken.23 Zwar er21
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Vgl. als Synthese für den deutschen Fall: Christa Berg (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 4: 1870–1918, München 1991; Dieter Langewiesche/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 5: 1918–1945, München 1989. Als Forschungsüberblick zur deutschsprachigen Forschung der späten 1980er und frühen 1990er Jahre: Andreas Gestrich, Vergesellschaftungen des Menschen. Einführung in die Historische Sozialisationsforschung, Tübingen 1999; Rainer Bölling, Schwerpunkte und Ergebnisse der Historischen Bildungsforschung im letzten Jahrzehnt, in: AfS 34 (1994), S. 269–99. Als gelungene neuere Arbeit: Marjorie Lamberti, The Politics of Education. Teachers and School Reform in Weimar Germany, New York 2002. Dies ist der gemeinsame Ausgangspunkt vieler neuerer theoretischer Überlegungen zur Soziologie der Kindheit: Alan Prout, The Future of Childhood. Towards the interdisciplinary Study of Children, London 2005; Allison James/Adrian L. James, Constructing Childhood. Theory, Policy, and Social Practice, Houndmills, Basingstoke, Hampshire 2004; Chris Jenks, Childhood, New York 1996; Alan Prout/Allison James, A New Paradigm for the Sociology of Childhood? Provenance, Promise and Problems, in: Dies. (Hrsg.), Constructing and Reconstructing Childhood, London 1990, S. 7–33. Für ein frühes Aufgreifen dieser Überlegungen in der Geschichtsschreibung siehe: Carolyn Steedman, „Listen, how the caged bird sings“. Amarjit´s Song, in: Dies./Cathy Urwin/ Valerie Walkerdine (Hrsg.), Language, Gender and Childhood, London 1985, S. 137–63, hier S. 138. Prout/James, New Paradigm, S. 7; Emily Cahan u. a., The Elusive Historical Child. Ways of Knowing the Child in History and Psychology, in: Glen H. Elder Jr. u. a. (Hrsg.), Children in Time and Place. Developmental and Historical Perspectives, New York 1993, S. 192– 223. Siehe S. 200–2; Hendrick, Children, S. 3f.; Peter Gstettner, Die Eroberung des Kindes durch die Wissenschaft. Aus der Geschichte der Disziplinierung, Reinbek 1981, S. 14.
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scheint es sinnvoll, parallel zu Klassen- und Geschlechtsbeziehungen auch Altersbeziehungen als Machtbeziehungen ernst zu nehmen, doch droht eine pauschale Zuordnung von Kindern zu sozial machtlosen Gruppen die großen Unterschiede zwischen unterschiedlichen Kindergruppen zu verwischen. Zudem können akteursorientierte Arbeiten auch aufgrund einer schwierigen Quellenlage, die fast zwangsläufig den Rückgriff auf retrospektive autobiographische Berichte erfordert, politische Faktoren und Dynamiken in ihrer Bedeutung für Kindheit unterschätzen.24 Ein zweiter, weiterführender Neuansatz konzeptionalisiert Kindergeschichte als spannungsreichen Dualismus von Kindheit als sozialem Konstrukt und als gelebter Erfahrung.25 Kindergeschichte muss sich demnach immer auch mit der Produktion unterschiedlicher Konzeptionen von Kindheit beschäftigen, die als Leitmodelle das Leben von Kindern strukturierten. Und sie muss die Wechselbeziehungen zwischen diesen Leitmodellen und den Praktiken von Kindern und Erwachsenen als Faktoren des Wandels berücksichtigen. Eine solche Herangehensweise, die wesentlich den gesellschaftlich konstruierten Charakter von Kindheit betont, hat den großen Vorteil, über die unterschiedlichen, miteinander konkurrierenden Kindheitskonzeptionen konkrete Formen des Aufwachsens und Erziehungspraktiken mit politischen Entscheidungen und allgemeinen Debatten um gesellschaftliche Ordnung in Beziehung zu setzten.26 24
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Ein gutes Beispiel für die Stärken, aber auch die Grenzen eines akteursorientierten Ansatzes bietet die Studie von Colin Heywood, Growing Up in France. From the Ancien Regime to the Third Republic, Cambridge 2007. Zwar schafft es Heywood, die Vielfältigkeit kindlicher Erfahrungen in Frankreich anhand von Selbstzeugnissen überzeugend nachzuweisen, doch bleibt der Bezug der konkreten Befunde auf den politisch-gesellschaftlichen Wandel vage, nicht zuletzt auch deshalb, da der Autor zur Rekonstitution der Kindererfahrungen im Wesentlichen auf retrospektive Schilderungen in Autobiographien angewiesen ist. Siehe mit ähnlichem Ansatz: Harvey J. Graff , Conflicting Paths: Growing Up in America, Cambridge/Mass. 1995; Gunilla-Friederike Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840–1914, Göttingen 1994. James/James, Childhood, bes. S. 14–17; Fass, Introduction; Carolyn Steedman, Strange Dislocations. Childhood and the Idea of Human Interiority, 1780–1930, Cambridge/ Mass. 1993, Dies., Childhood, Culture and Class in Britain: Margaret McMillan 1860– 1931, New Brunswick/N.J. 1990, S. 13. Für den deutschen Kontext vgl. Kaspar Maase, Kinder als Fremde – Kinder als Feinde. Halbwüchsige, Massenkultur und Erwachsene im wilhelminischen Kaiserreich, in: Historische Anthropologie 4 (1996), S. 93–126. Siehe nur: Michael-Sebastian Honig, Das Kind der Kindheitsforschung. Gegenstandskonstitution in den Childhood Studies, in: Ders. (Hrsg.), Ordnungen der Kindheit. Problemstellung und Perspektiven der Kindheitsforschung, Weinheim und München 2009, S. 25–51; Ders., Entwurf einer Theorie der Kindheit, Frankfurt/Main 1999. Im Kern findet sich ein solches duales Verständnis von Kindheit schon in der Pionierstudie von Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, München 1978 (frz. zuerst 1960), welcher die Entstehung eines modernen Verständnisses von Kindheit mit dem längerfristigen Wandel der Eltern-Kind Beziehungen verknüpfte. Als guten knappen Überblick über die frühe historische Kinderforschung vgl. Hawes/Hiner, Common Ground, S. 1–6.
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In der historischen Praxis haben Forscher auf der Grundlage dieser beiden Perspektiverweiterungen der sozialhistorischen Sozialisationsforschung das Forschungsfeld über bildungs- und familienhistorische Fragen deutlich erweitert und vor allem die Genese einer neuen Kinderkultur seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts untersucht, wobei sich bisher die große Mehrheit der Arbeiten mit den USA beschäftigt hat. Eine Klammer dieser neuen Kulturgeschichte der Kindheit stellt die Auseinandersetzung mit einer an Michel Foucault orientierten Theorie der Moderne als Geschichte einer zunehmenden Normalisierung und Pädagogisierung von Kindheit dar.27 Im deutschen Kontext hat Jürgen Zinnecker diese Debatte mit seiner These einer „Verhäuslichung“ von Kindheit im vergangenen Jahrhundert angefacht. Mit dem Begriff bezeichnet Zinnecker die zunehmende Trennung von Kinder- und Erwachsenenwelten und die Einrichtung gesonderter, pädagogisch kontrollierter Kindersphären, die den autonomen Handlungsraum der Kinder immer weiter einschränkten.28 Eine wesentliche Innovation der neueren US-amerikanischen Forschung besteht vor allem in der Einbeziehung wissenshistorischer Fragestellungen. Die Historiker haben sich in den vergangenen Jahren intensiv mit der Rolle von Expertengruppen beschäftigt. Gerade die Erforschung des Genres pädagogischer Erziehungsratgeber, die als Schnittstelle zwischen den neuen Expertenkulturen und der familiären Lebenswelt seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert rapide an Bedeutung gewannen, ist zu einem populären Forschungsfeld aufgestiegen. Einzelne Studien haben den Wandel von Erziehungsleitbildern im Zeitverlauf verfolgt und Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen eher autoritären und eher permissiven Ratgeberrichtungen herausgearbeitet. In Ansätzen ist auch darüber hinaus die seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts rapide zunehmende soziologische, 27
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Als knappe Zusammenfassung der neuen Forschung und Forschungsperspektiven: Fass, Introduction. Zum Forschungsstand siehe auch die weiteren Aufsätze dieses Sammelbands sowie die ausgezeichnete Synthese: Steven Mintz, Huck’s Raft. A History of American Childhood, Cambridge, Mass. 2004. Grundlegend für die neuere Forschung war: Viviana Zelizer, Pricing the Priceless Child. The Changing Social Value of Children, New York 1985. Enzyklopädisch: Paula S. Fass (Hrsg.), Childhood in America, New York 2000. Vgl. weiterhin: Mary Niall Mitchell, Raising Freedom’s Child. Black Children and Visions of the Future after Slavery, New York 2008; Joseph M. Hawes, Children between the Wars. American Childhood, 1920–1940, New York 1997; Elliott West/Paula Petrik (Hrsg.), Small Worlds: Children and Adolescents in America, 1850–1950, Lawrence 1992. Programmatisch: Jürgen Zinnecker, Vom Straßenkind zum verhäuslichten Kind. Kindheitsgeschichte im Prozeß der Zivilisation, in: Imbke Behnken (Hrsg.), Stadtgesellschaft und Kindheit im Prozeß der Zivilisation. Konfigurationen städtischer Lebensweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Opladen 1990, S. 142–62. Weiterhin: Gary Cross, The Cute and the Cool: Wondrous Innocence and Modern American Children´s Culture, New York 2004; Mintz, Huck´s Raft. Eine wichtige Inspiration vieler Studien waren die Arbeiten von Nikolas Rose: Nikolas Rose, Governing the Soul. The Shaping of the Private Self, London 1990; Ders., Inventing Our Selves. Psychology, Power, and Personhood, Cambridge 1996.
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ethnologische, psychologische und pädagogische Wissensproduktion über Kinder in ihren gesellschaftlichen Folgen erörtert worden.29 In Spanien sind diese Arbeiten noch kaum aufgegriffen worden. Ausnahmen bilden vor allem ein wichtiger Sammelband zur Kindheitsgeschichte, der Themen wie den Kampf gegen Säuglingssterblichkeit, die Regulierung von Kinderarbeit und die Entfaltung einer auf Kinder ausgerichteten Sozialpolitik umfasst, sowie eine Arbeit zur „Entdeckung“ des behinderten Kindes.30 Einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der neuen Kinderkulturen im 20. Jahrhundert haben neben wissenshistorischen auch konsum- und rechtsgeschichtliche Arbeiten geleistet. Eine Reihe wichtiger konsumgeschichtlicher Studien hat, oft ausgehend von einer Geschichte des Spielzeugs, der Kommerzialisierung von Kindheit nachgespürt und die Geschichte der kindlichen Konsumkultur an der Schnittstelle zwischen zwei widersprüchlichen Tendenzen situiert. Einmal nahm die didaktische Aufladung von Spielzeug und Spielen seit 1900 zu, zum anderen kam eine dieser Entwicklung in der Praxis implizit gegenläufige Orientierung der kommerziellen Kinderkultur an den Interessen der Kinder zum Durchbruch. Die Kommerzialisierung der Kinderzimmer eröffnete Erziehern neue Zugriffsmöglichkeiten auf das Kind, eröffnete diesem aber auch Freiräume gegenüber der Erwachsenenwelt.31 Auch rechtshistorische Arbeiten gehen von einer widersprüchlichen 29
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Diese Forschungsrichtung hat in den vergangenen Jahren einen regelrechten Boom erlebt. Vgl. als Auswahl: Peter N. Stearns, Anxious Parents. A History of Modern Childrearing in America, New York 2003; Ann Hulbert, Raising America. Experts, Parents, and a Century of Advice About Children, New York 2003; Julia Grant, Raising Baby by the Book. The Education of American Mothers, New Haven/Conn. 1998. Enger wissenschaftshistorisch: Ellen Herman, Psychologism and the Child, in: Theodore M. Porter/Dorothy Ross (Hrsg.), The Modern Social Sciences, Cambridge 2003, S. 649– 62; A. R. Colón, Nurturing Children. A History of Pediatrics, Westport, Conn. 1999; Cahan u. a. Elusive Historical Child. Für den deutschsprachigen Raum siehe jetzt Miriam Gebhardt, Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert, München 2010; Dies., Frühkindliche Sozialisation und historischer Wandel, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 32 (2004), S. 258–73; Gudrun Brockhaus, Lockung und Drohung. Die Mutterrolle in zwei Ratgebern der NS-Zeit, in: Miriam Gebhardt/Clemens Wischermann (Hrsg.), Familiensozialisation seit 1933. Verhandlungen über Kontinuität, Stuttgart 2007, S. 49–68. Weniger überzeugend, da längerfristige Entwicklungslinien kaum in den Blick nehmend: Michaela Fuchs, „Wie sollen wir unsere Kinder erziehen?“ Bürgerliche Kindererziehung im Spiegel der populärpädagogischen Erziehungsratgeber des 19. Jahrhunderts, Wien 1997. José María Borrás Llop (Hrsg.), Historia de la Infancia en la España Contemporánea (1834–1936), Madrid 1996; Mercedes del Cura González, Medicina y Pedagogía. La Construcción de la Categoría „Infancia Anormal“ en España (1900–1939), Madrid 2011; Miguel Ángel Cerezo, Los Comienzos de la Psicopedagogía en España (1882–1936), Madrid 2001. Siehe auch die Hinweise in: Annette Mülberger, Appropriation of Psychological Testing in the Spanish Pedagogical Context, in: A. Roca-Rosell (Hrsg.), The Circulation of Science and Technology: Proceedings of the 4th International Conference of the ESHS, Barcelona, 18–20 November 2010, Barcelona 2012, S. 626ff. Die beste Darstellung ist: Gary S. Cross, Kids’ Stuff. Toys and the Changing World of Ame-
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Entwicklung aus. Sie beschreiben nicht nur eine zunehmende rechtliche Regulierung von Kindheit, wie sie hinsichtlich des Verbots von Kinderarbeit bereits gut erforscht worden ist, sondern in Fallstudien zu Adoptionen, Kindesentführungen und Kindesmisshandlungen auch das Wechselspiel von Rechtsnormen, kulturellen Leitbildern und gesellschaftlichen Praktiken.32 Insgesamt hat die neuere Forschung bedeutende Fortschritte in der materiellen, medizinischen und pädagogischen Versorgung von Kindern mit gravierenden Folgekosten kontrastiert. Es überwiegt ein skeptischer Blick auf das letzte Jahrhundert, das, um es mit einem Autor drastisch zu formulieren, mit der Ausrufung des Jahrhunderts des Kindes einsetzte, aber mit dem Massaker an der Columbine-Highschool endete.33 Zwar verbesserten sich
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rican Childhood, Cambridge, Mass. 1997. Vgl. weiterhin: Gary S. Cross/Gregory Smits, Japan, the U.S. and the Globalization of Children´s Consumer Culture, in: Journal of Social History 38 (2005), S. 873–90; Miriam Formanek-Brunell, Made to Play House: Dolls and the Commercialization of American Girlhood, 1830–1930, Baltimore 1998; Susan J. Matt, Children´s Envy and the Emergence of the Modern Consumer Ethic, 1890–1930, in: Journal of Social History 36 (2002), S. 283–302; Peter N. Stearns, Konsumgesellschaft: Ein Kinderkreuzzug, in: Hannes Siegrist u. a. (Hrsg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18.–20. Jahrhundert), Frankfurt/ Main 1997, S. 139–68. Siehe auch die wichtige, als Vorgeschichte der modernen Konsumkultur lesbare Studie zur materiellen Kultur von Kindheit: Karin Calvert, Children in the House. The Material Culture of Early Childhood, 1600–1900, Boston 1992. In eine ähnliche Richtung weisen schließlich auch medienhistorische Arbeiten: David Oswell, Television, Childhood, and the Home. A History of the Making of the Child Television Audience in Britain, Oxford 2002; Ian Wojcik-Andrews, Children’s Films. History, Ideology, Pedagogy, Theory, New York 2000. Literaturwissenschaftliche Studien zur Geschichte von Kinderliteratur liegen demgegenüber zahlreicher vor. Vgl. als Auswahl neuerer Arbeiten: Monika Elbert (Hrsg.), Enterprising Youth. Social Values and Acculturation in Nineteenth-century American Children’s Literature, New York 2008; Gail Schmunk Murray, American Children’s Literature and the Construction of Childhood, New York 1998; Penny Brown, A Critical History of French Children’s Literature (2 Bde.), New York 2007/2008; Catriona Kelly, „Thank You for the Wonderful Book“. Soviet Child Readers and the Management of Children’s Reading, 1950–1975, in: Kritika 6 (2005), S. 717–53. Die beste Arbeit ist: Paula S. Fass, Kidnapped. Child Abduction in America, New York 1997. Siehe aber auch die im Einzelnen sehr unterschiedlichen Arbeiten: Stephen Robertson, Crimes against Children. Sexual Violence and Legal Culture in New York City, 1880–1960, Chapell Hill/N.C. 2005; Dominique Marshall, Humanitarian Sympathy for Children in Times of War and the History of Children´s Rights, 1918–1959, in: James Alan Marten (Hrsg.), Children and War. A Historical Anthology, New York 2002, S. 184– 99; James R. Kincaid, Erotic Innocence. The Culture of Child Molesting, Durham, N.C. 1998; Lela B. Costin u. a. (Hrsg.), The Politics of Child Abuse in America, New York 1996; Mary Ann Mason, From Father’s Property to Children’s Rights. A History of Child Custody in the United States, New York 1994; Joseph M. Hawes, The Children’s Rights Movement. A History of Advocacy and Protection, Boston 1991. Mintz, Huck´s Raft, S. 372–78. Siehe auch die ähnlichen Bilanzierungen in: Harry Hendrick, Children, Childhood and English Society. 1880–1990, Cambridge 1997, S. 94– 97; Heywood, Growing Up, S. 10f.; 288f.; Peter N. Stearns, Kindheit und Kindsein in der Menschheitsgeschichte, Essen 2007 (engl. Childhood in World History, Oxford/New York 2006), S. 210–212; Stearns, Anxious Parents, S. 212–229. Mit Blick auf die räum-
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in den westlichen Industrieländern die materiellen Lebensbedingungen von Kindern und ihre Bildungschancen, doch diese positiven Errungenschaften gingen einher mit einer Reihe negativ bewerteter Entwicklungen: die zunehmende Trennung der Erwachsenen- und Kinderwelten als Entfremdung der Generationen, die damit verbundene lange Unselbstständigkeit der Kinder, die Reglementierung der Kindheit und der Verlust der Straße als freier Lebensraum, der neue Druck auf Kinder, von klein auf einen überzeugenden Lebenslauf auszubilden und damit verbundene Ängste auf der Seite der Eltern.34 Eine gewisse Sonderrolle spielen im Kontext der neuen Kindergeschichte erfahrungsgeschichtliche Arbeiten, wie sie in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten besonders in der Bundesrepublik intensiv betrieben worden sind. In ihrem Fokus stehen die vielfältigen Konsequenzen des nationalsozialistischen Krieges für das Aufwachsen der „Kriegskinder“ und die Generationenverhältnisse nach 1945. Sie spüren Kontinuitäten und Brüchen in Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit in den Familien und der bundesdeutschen Öffentlichkeit nach.35 In der spanischen Zeitgeschichte sind Kinder in ähnlicher Weise fast ausschließlich im Kontext von Kriegserfahrungen, konkret der zeitgenössisch heftig debattierten Verschickung von Kindern aus der republikanischen Zone ins Ausland, diskutiert worden. Eine Reihe von Arbeiten hat ihr Schicksal untersucht und die Versuche Franco-Spaniens beleuchtet, sie zu repatriieren.36
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liche Trennung von Kindern und Erwachsenen: Marta Gutman/Ning de Conick-Smith, Introduction: Good To Think With. History, Space, and Modern Childhood, in: Marta Gutman (Hrsg.), Designing Modern Childhoods. History, Space, and the Material Culture of Children, New Brunswick/N.J. 2008, S. 1–21, hier S. 6f. Vgl. auch die anregende Diskussion in: Nicholas Stargardt, German Childhoods. The Making of a Historiography, in: German History 16 (1998), S. 1–15. Siehe die pointierten Thesen in: Zinnecker, Straßenkind. In einem weiteren Kontext dieser Debatten sind anregend: Laura Lee Downs, Municipal Communism and the Politics of Childhood: Ivry-Sur-Seine 1925–1960, in: Past and Present 166 (2000), S. 205–41; Sharon Stephens, Nationalism, Nuclear Policy and Children in Cold War America, in: Childhood 4 (1997), S. 103–123; Brian Platt, Japanese Childhood, Modern Childhood, in: Journal of Social History 38 (2005), S. 965–85; Dirk Schumann, Legislation and Liberalisation. The Debate about Corporal Punishment in Schools in Postwar West Germany, 1945–1975, in: German History 25 (2007), S. 192–218. Einen Zugang zur aktuellen Forschungslage bieten: Lu Seegers und Jürgen Reulecke (Hrsg.), Die „Generation der Kriegskinder“. Historische Hintergründe und Deutungen, Gießen 2009; José Brunner (Hrsg.), Mütterliche Macht und väterliche Autorität. Elternbilder im deutschen Diskurs, Göttingen 2008; Gebhardt/Wischermann, Familiensozialisation. Verónica Sierra Blas, Palabras Huérfanas. Los Niños y la Guerra Civil, Madrid 2009; Eduardo Pons Prades, Los Niños Republicanos en la Guerra de España, Madrid 2004; Alicia Alted Vigil u. a. (Hrsg.), El Exilio de los Niños, Madrid 2004; Dies., Los Niños de la Guerra Civil, in: Anales de Historia Contemporánea de la Universidad de Murcia 19 (2003), S. 43–58; Susana Castillo Rodríguez, Memoria, Educación e Historia. El Caso de los Niños Españoles Evacuados a la Unión Soviética durante la Guerra Civil Española.
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Die neue Kindergeschichte in ihrer methodologischen Erweiterung stellt einen wichtigen Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit dar. Doch erscheint es notwendig, in Teilen über sie hinauszugehen, um die Entfaltung neuer Kinderkulturen mit den politischen und weltanschaulichen Konflikten der europäischen Zwischenkriegszeit in Verbindung zu setzen. Die meisten Arbeiten der neuen Kindergeschichte klammern konkrete politische Kämpfe weitgehend aus. Der Akzent dieser Forschungsrichtung liegt nicht auf der Konfrontation politischer Gruppen, sondern auf dem Konflikt zwischen neuen Expertengruppen und Eltern. Dies ist wohl nicht zuletzt auf die vergleichsweise hohe ideologisch-politische Kohärenz der weißen Mittelschichten in den USA zurückzuführen, die das wesentliche Untersuchungsobjekt der neuen Kindheitsgeschichte darstellen. In den USA verliefen die hauptsächlichen Konfliktlinien weniger zwischen unterschiedlichen politisch-weltanschaulichen Kinderprojekten als zwischen neuen Expertengruppen und Eltern sowie zwischen den etablierten Mittelklassen und den kulturell peripheren Gruppen der Emigranten, Afroamerikaner und Arbeiter.37 Die Situation in Spanien, wie auch in anderen europäischen Ländern, zeichnete sich demgegenüber durch einen offenen Kampf konkurrierender politisch-kultureller Kinderprojekte aus. So haben Arbeiten zur Geschichte von Kindheit im Ersten Weltkrieg sowie in Ost- und Südosteuropa seit 1914 eindrucksvoll die politische Indienstnahme von Kindern herausgestellt. Einen Ausgangspunkt haben diese Studien in der neueren Nationalismusforschung, die die propagandistischen Anstrengungen zur Einbindung der Kinder in divergierende nationale Projekte in den Blick genommen hat, insbesondere anhand einer Auswertung von Schulbüchern.38 In den letzten Jahren gab es im Anschluss daran vermehrte Anstrengungen, unterschiedliche Formen der Nationalisierung von Kindheit und ihre Mobilisierung im Rahmen politischer Ideologien und Kriege zu beleuchten. Diese Studien betonen die intensiven Bemühungen von Erwachsenen, Kinder zu idealen Staatsbürgern und Kämpfern für das Vaterland zu
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Phil. Diss., Madrid 2003; Ricard Vinyes u. a., Los Niños Perdidos del Franquismo, Barcelona 2002; Jesús J. Alonso Carballés, 1937, Los Niños Vascos Evacuados a Francia y Bélgica. Historia y Memoria de un Éxodo Infantil, 1936–1940, Bilbao 1998. Vgl. etwa Hawes, Children, sowie die Kapitel zur Zwischenkriegszeit in: Mintz, Huck´s Raft, S. 213–254. Siehe nur zum spanischen Fall: Carloyn P. Boyd, Historia Patria. Politics, History and National Identity in Spain, 1875–1975, Princeton 1997; María del Mar del Pozo Andrés, Currículum e Identidad Nacional. Regeneracionismos, Nacionalismos y Escuela Pública (1890–1939), Madrid 2000; Paulá Dávila Balsera, The Educational System and National Identities. The Case of Spain in the Twentieth Century, in: History of Education 34 (2005), S. 23–40; Jessamy Harvey, Domestic Queens and Warrior Wives. Imperial Role-Models for Spanish Schoolgirls during the Early Francoist Regime (1940s–50s), in: History of Education 37 (2008), S. 277–93. Zum Deutschen Reich vgl. jüngst Siegfried Weichlein, Nation und Region. Integrationsprozesse im Bismarckreich, Düsseldorf 2004, Kap. 3.
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formen und sie als Vorbilder für die restliche Gesellschaft zu stilisieren.39 Studien zur Geschichte des Aufwachsens in der Sowjetunion haben zudem nach der Dynamik kommunistischer Erziehungs- und Kindheitskonzeptionen im Alltag der Familien, Schulen und sozialen Kindereinrichtungen gefragt.40 Es erscheint auf der Grundlage dieser Studien als ein Desiderat der Forschung, die Entfaltung historischer Kinder- und Expertenkulturen enger als bisher mit politischen Bewegungen und politischen Regimewechseln zu verkoppeln und nach den Resultaten ihres Aufeinandertreffens zu fragen. Eine zunächst naheliegende Verschränkung beider Felder ließe sich durch die Postulierung eines zeitlich, sozial und geographisch strukturierten Stufenmodells erreichen. Danach war die erste Jahrhunderthälfte eher durch die Politisierung von Kindheit, die zweite dagegen von ihrer „Verhäuslichung“ gekennzeichnet. Gleichzeitig begann in Nordwesteuropa und den USA sowie allgemein in 39
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Als neuere Zusammenstellungen: Stéphane Audoin-Rouzeau, (Hrsg.), Enfances en Guerre (Sondernummer Vingtième Siècle), Paris 2006. Grundlegend: Ders., La Guerre des Enfants 1914–1918. Essai d´histoire culturelle, Paris 1993. Weiterhin zu Frankreich, das bisher in dieser Hinsicht am besten erforscht worden ist: Ders., L´enfant de l´ennemi. 1914–1918, Paris 1995; Ders., L´enfance Mobilisée: un „Vécu“ Méconnue de la Guerre de 1914–1918, in: Maria Cristina Giuntella/Isabella Nardi (Hrsg.), La Guerra dei Bambini. Da Sarajevo a Sarajevo, Neapel 1998, S. 80–100; Pierre Gibert, Les Enfants de Guerre (1914–1962), Paris 2003; Olivier Faron, Les Enfants du Deuil. Orphelins et Pupilles de la Nation de la Première Guerre Mondiale (1914–1941), Paris 2001; Gilles Ragache, Les Enfants de la Guerre. Vivre, Survivre, Lire et Jouer en France 1939–1949, Paris 1997. Zum deutschen Fall: Nicholas Stargardt, Witnesses of War. Children’s Lives under the Nazis, New York 2006; Eberhard Demm, Deutschlands Kinder im Ersten Weltkrieg. Zwischen Propaganda und Sozialfürsorge, in: MGZ 60 (2001), S. 56–63, 86–98; Christa Hämmerle, „Diese Schatten über unsere Kindheit gelegen . . . “ Historische Anmerkungen zu einem unerforschten Thema, in: Dies., Kindheit im Ersten Weltkrieg, Wien 1993, S. 265–334. Zu Großbritannien: Mike Brown, A Child´s War. Growing Up on the Home Front, 1939– 1945, Stroud 2001. Zum US-amerikanischen Kontext: James Alan Marten, Children and War. A Historical Anthology, New York 2002; James Alan Marten, The Children’s Civil War, Chapel Hill 1998. Siehe schließlich auch. Dittmar Dahlmann, (Hrsg.), Kinder und Jugendliche in Krieg und Revolution. Vom Dreißigjährigen Krieg bis zu den Kindersoldaten Afrikas, Paderborn 2000. Siehe weiterhin die einzelnen Beiträge in: Slobodan Naumović/Miroslav Jovanović (Hrsg.), Childhood in South East Europe. Historical Perspectives on Growing Up in the 19th and 20th Century, Münster 2004. Zur Sowjetunion siehe jetzt vor allem das monumentale Werk: Catriona Kelly, Children’s World. Growing Up in Russia, 1890–1991, New Haven 2007. Weiterhin: Dies, Shaping the „Future Race“: Regulating the Daily Life of Children in Early Soviet Russia, in: Christina Kiaer / Eric Naiman (Hrsg.), Everyday Life in Early Soviet Russia, Bloomington 2006, S. 256–81; Ann Livschiz, De-Stalinizing Soviet Childhood. The Quest for Moral Rebirth, 1953–1958, in: Polly Jones (Hrsg.), The Dilemmas of De-Stalinization. Negotiating Cultural and Social Change in the Khrushchev Era, London/New York 2006, S. 117–34; Lisa A. Kirschenbaum, Small Comrades. Revolutionizing Childhood in Soviet Russia, 1917– 1932, New York 2001; Judith Harwin, Children of the Russian State, 1917–1995, Aldershot 1996; Larry E. Holmes, The Kremlin and the Schoolhouse. Reforming Education in Soviet Russia, 1917–1931, Bloomington 1991; Avis George (Hrsg.), The Making of the Soviet Citizen: Character Formation and Civic Training in Soviet Education, New York 1987.
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den Mittelschichten der Trend zur geschützten, kontrollierten Kindheit früher als in Süd- und Osteuropa und in den Unterschichten. In den nicht-westlichen Gesellschaften hat dann, dieser Interpretation zufolge, diese Dynamik oft kaum erst begonnen. Es spricht einiges für eine solche klare Trennung nach einem Vorher-Nachher-Schema.41 Doch weist sie in ihrer idealtypischen Generalisierung auch deutliche Schwächen auf. In der historischen Wirklichkeit existierten beide Entwicklungen parallel zueinander. Gerade die spannungsreiche Durchdringung beider Tendenzen, Politisierung und „Verhäuslichung“, erscheint als das Kennzeichen der spanischen wie auch der gesamteuropäischen Geschichte der Zwischenkriegszeit. Um die Verbindung von Politisierung und „Verhäuslichung“ methodisch besser zu fassen und das Forschungsfeld besser abzustecken, bietet sich das Konzept der Subjektformen an, das insbesondere der Soziologe Andreas Reckwitz für die kulturwissenschaftliche Forschung fruchtbar gemacht hat. Reckwitz sieht die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft als grundlegendes Problem moderner Gesellschaften. Diese Vermittlung erfolgt durch je spezifische Subjektkulturen, die eine dynamische Variable historischen Wandels bilden. Nach Reckwitz produziert die Moderne spezifische kulturelle Formen, denen entsprechend sich der Einzelne als „Subjekt“ zu gestalten hat, aber auch gestalten will. Gegen die gegensätzlichen Thesen einer Individualisierung beziehungsweise einer Normalisierung von Gesellschaft erkennt er eine Abfolge unterschiedlicher und miteinander konkurrierender Subjektordnungen im 19. und 20. Jahrhundert. Jede Subjektordnung greift bestimmte Bedürfnisse von Individuen auf und gewährt ihnen Handlungsspielräume, beinhaltet aber auch je unterschiedliche Anforderungen und Zumutungen, denen der Einzelne sich unterwerfen muss.42 Ein subjekthistorischer Ansatz erweist sich im Problemkontext dieser Arbeit in dreifacher Weise als weiterführend. Zunächst hilft er, unterschiedliche Konzeptionen von Kindersubjektivität mit politischen Ordnungsvorstellungen und weltanschaulichen Konflikten in Beziehung zu setzen. Besonders vielversprechend erscheint in diesem Kontext die Ausrichtung eines subjektorientierten Ansatzes auf das Konzept von citizenship, da es nicht nur den Blick auf den Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft lenkt, sondern auch die politische Dimension von Subjektentwürfen betont und 41 42
Siehe hierzu die Argumentation von Zinnecker, Straßenkind. Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006. Mit ähnlichem Fluchtpunkt: Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/Main 2009; Stefan Rieger, Arbeit an sich. Dispositive der Selbstsorge in der Moderne, in: Ulrich Bröckling/ Eva Horn (Hrsg.), Anthropologie der Arbeit, Tübingen 2002, S. 79– 96. Klassisch: David Riesman, The Lonely Crowd. A Study of the Changing American Character, New Haven 1949/1961. Aus kindheitssoziologischer Perspektive: Sharon Stephens, Introduction, in: Dies. (Hrsg.), Children and the Politics of Culture, Princeton/ N.J. 1995, S. 3–48, hier 14f.; Hendrick, Children, S. 14.
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nach den Kriterien des Ein- und Ausschlusses von Menschen in die jeweiligen Funktionssysteme moderner Gesellschaften fragt.43 In der Anknüpfung an diese Ansätze nimmt die Arbeit ein offenes Entwicklungsmodell als Ausgangsbasis, das jenseits normativer Thesen einer Individualisierung oder Disziplinierung von Kindheit nach zeitspezifischen Formen der Vermittlung von Individuum und übergeordneten kollektiven Ordnungen als grundlegendem Problem der historischen Kindheits- und Erziehungsforschung fragt und dadurch Kindergeschichte für die allgemeine Geschichte öffnet. Zweitens erlaubt eine subjekthistorische Fragestellung eine Erweiterung der Kindheits- und Bildungsgeschichte, indem unterschiedliche Produktionsorte von Kindersubjektivität als Orte gesellschaftlicher Aushandlungen und politischer Konflikte in den Blick rücken. Neben den neuen Humanwissenschaften führt Reckwitz besonders mediale Technologien sowie ästhetische Bewegungen als Orte der Herstellung von Subjektentwürfen an und schreibt ihnen gesellschaftspolitische Bedeutung zu.44 Diese Überlegungen bieten die Grundlage, die Debatten über Kindheit nicht alleine in pädagogischen Schriften, in der Bildungspolitik und in den Familien zu verfolgen. Vielmehr wendet sich die Arbeit explizit den neuen Kinderwissenschaften, der massenmedial strukturierten urbanen Öffentlichkeit der Zwischenkriegszeit sowie der Kinderliteratur und Kinderpresse als Orten sowohl der Produktion als auch der Aushandlung von Kindheitskonzeptionen zu. In diesen Feldern wurden Handlungsanforderungen für Eltern, Kinder und gesellschaftspolitische Akteure generiert, aber auch verhandelt. Die Kindheitsentwürfe in den verschiedenen Feldern beeinflussten einerseits die politischen Bewegungen und hatten dadurch erhebliche politische und gesellschaftliche Wirkungen, andererseits waren sie selbst Gegenstände von Kindheitspolitik, in denen die politischen Kräfte ihre Vorstellungen durchzusetzen und damit zu definieren versuchten, wie Kindheit und gesellschaftliche Ordnung auszusehen hätten. Drittens schließlich ermöglicht ein subjekthistorischer Zugang eine neue Thematisierung von Religion als eigenständige Variable im Wandel von Kindheit im 20. Jahrhundert. Weder die neue Religionsgeschichte noch die neuere Kindheits- und Bildungsgeschichte haben sich jenseits von vereinzelten Pionierstudien mit dem Verhältnis von Religion und Kindheit beschäftigt, obwohl der Einfluss religiöser Kindheitskonzepte und Kinderprojekte bis in die Gegenwart hinein in den westlichen Gesellschaften mindestens ebenso bedeutend – in Spanien bis wenigstens 1975 sogar deutlich wirkungsmächtiger – war als derjenige liberaler, sozialistischer und anderer säkularer Konkurrenzmodelle, deren Erforschung bislang fast die gesamte Energie 43
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Geoff Eley/Jan Palmowski, Citizenship and National Identity in Twentieth-Century Germany, in: Dies. (Hrsg.), Citizenship and National Identity in Twentieth-Century Germany, Stanford/Ca. 2008, S. 3–23; Kathleen Canning, Weimar Publics, Weimar Subjects. Rethinking the Political Culture of Germany in the 1920s, New York 2010. Reckwitz, Hybride Subjekt, S. 18.
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der Forschung eingenommen hat.45 Dies hat wesentlich damit zu tun, dass katholische Kinderbilder in der Forschung pauschal als Gegenpol moderner Kindheitskonzeptionen angesehen werden, da sie aufgrund ihres Bezuges zur Ursünde vermeintlich einen pessimistischen Grundzug aufwiesen. Moderne Kindheit wird in ihrem Wesen als säkulare Kindheit verstanden. Die Kirchen werden denn auch oft explizit als hauptsächliche Gegenspieler der neuen wissenschaftlichen Kinderexperten dargestellt.46 So hat sich auch die historische Bildungsforschung in Spanien trotz der kaum zu überschätzenden Bedeutung katholischer Bildung und Erziehung nur vereinzelt den religiös-säkularen Konflikten um Kindheit und Erziehung zugewandt.47 Um Kindheit im 20. Jahrhundert in ihrer ganzen Bandbreite verstehen zu können, erscheint es jedoch falsch, moderne Kindheit vorschnell normativ in Gegensatz zu religiöser Kindheit zu setzen. Vielmehr ist es sinnvoll, religiöse Kindheiten in die Diskussionen um den Wandel von Kindheit im 20. Jahrhundert zu integrieren und als Spielarten moderner Entwürfe von Kindersubjektivität ernst zu nehmen.48 Ihre Untersuchung verspricht besondere Aufschlüsse hinsichtlich der Leitfrage nach dem Verhältnis von Kindheit und Politik, da an ihnen die Grenzen, aber auch die Widersprüche moderner Kindheit diskutiert werden können. Ein religionshistorischer Zugang zu Kindheit darf allerdings nicht auf der Ebene theoretischer Konzepte und der zu vermittelnden Inhalte etwa im Sinne einer Geschichte des 45
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Allmählich scheint sich die Forschungslage aber zu verbessern. Siehe etwa: Meike Sophia Baader, Menschenformung durch religiöse Erneuerung. Reformpädagogik um 1900, in: Manfred Hettling/Michael G. Müller (Hrsg.), Menschenformung in religiösen Kontexten, Göttingen 2007, S. 113–32; Dies., Erziehung als Erlösung. Transformationen des Religiösen in der Reformpädagogik, Weinheim 2005; Fritz Osterwalder u. a. (Hrsg.), Pädagogische Modernisierung. Säkularität und Sakralität in der modernen Pädagogik, Bern 2006; Edmund Hermsen, Faktor Religion. Geschichte der Kindheit vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln 2006; Klaus Tenfelde (Hrsg.), Religiöse Sozialisationen nach 1945. Historische und vergleichende Perspektiven, Essen 2010. Siehe etwa Andreas Gestrich, Kindheit und Jugend. Individuelle Entfaltung im 20. Jahrhundert, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Entdeckung des Ich, Köln 2001, S. 465– 88, hier S. 472; Stearns, Kindheit, S. 97. Siehe auch Helmut Fend, Sozialgeschichte des Aufwachsens. Bedingungen des Aufwachsens und Jugendgestalten im zwanzigsten Jahrhundert, Frankfurt/Main 1988, etwa S. 61. Ausnahmen bilden: Maitane Ostolaza Esnal, Entre Religión y Modernidad. Los Colegios de las Congregaciones Religiosas en la Construcción de la Sociedad Guipuzcoana Contemporánea, 1876–1931, Bilbao 2000; Ana Yetano, La Enseñanza Religiosa en la España de la Restauración, Barcelona 1988. Für Frankreich ist die Forschungslage zumindest für das 19. Jahrhundert etwas besser: Sarah A. Curtis, Educating the Faithful. Religion, Schooling, and Society in Nineteenth-Century France, Dekalb/N.I. 2000; Raymond Grew/Patrick J. Harrigan, The Catholic Contribution to Universal Schooling in France, 1850–1906, in: Journal of Modern History 57 (1985), S. 211–47. Siehe als Beleg für die Fruchtbarkeit eines solchen Ansatzes die ethnologisch-historische Skizze zu katholischer Kindheit in den USA um die Mitte des 20. Jahrhunderts: Robert A. Orsi, Between Heaven and Earth. The Religious Worlds People Make and Scholars who Study Them, Princeton 2005, S. 74–108.
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Religionsunterrichtes stehen bleiben, sondern muss Religion als Lebensform verstehen.49 Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern standen im Mittelpunkt religiöser Vergemeinschaftung, zumindest im Katholizismus des 20. Jahrhunderts.50 Eine Beschäftigung mit religiösen Kindheitskonzepten und Kindheitskulturen verspricht in diesem Zusammenhang nicht nur neue Aufschlüsse über den Wandel religiöser Vergemeinschaftung jenseits simplifizierender Thesen einer Säkularisierung beziehungsweise Persistenz des Religiösen in der Zeitgeschichte, sondern auch neue Erkenntnisse über den Wandel des katholischen Bürgertums als Hauptklientel katholischer Kindereinrichtungen und seine Beziehungen zur katholischen Kirche und Gesellschaftsreform. Es wird zu erforschen sein, inwieweit sich im Kontext der politischen Kulturkämpfe unterschiedliche Kinderkulturen und Kinderlebensstile entwickelten, wie tiefgreifend die weltanschauliche Spaltung in Kinderangelegenheiten war und welche Auswirkungen die politischen Kulturkämpfe auf die Gestaltung von bürgerlicher Kindheit hatten. Lässt sich spiegelbildlich zu den politischen Frontlinien im Spanien der 1930er Jahre eine katholische von einer laizistischen bürgerlichen Kinderkultur unterscheiden? Dadurch will die Arbeit auch eine Antwort auf die Frage nach historischen Alternativmodellen liberal-demokratischer Kindheit geben, wie sie sich in Europa in den vergangenen Jahrzehnten als Leitmodell durchgesetzt haben. Lässt sich die Herausbildung neuer Formen katholisch-religiöser und auch faschistischer Kindheit in der Zwischenkriegszeit erkennen? Was waren ihre Merkmale, was ihre gesellschaftliche Bedeutung? Und welche Beziehungen bestanden zu liberalen Kindheitsentwürfen? Die Frage nach den Wechselbeziehungen zwischen politischen, konkret katholischen Reformprojekten und neuen humanwissenschaftlichen, medialen und kommerziellen Kindheitskulturen bildet den Fluchtpunkt der Studie. Das allgemeine Erkenntnisinteresse lässt sich in zwei eng miteinander verbundenen Fragen weiter konkretisieren. Erstens fragt die Arbeit nach dem Zusammenhang zwischen einer fortschreitenden Verwissenschaftlichung von Kindheit und Erziehung und ihrer gleichzeitig zu beobachtenden Politisierung in den säkular-religiösen Kulturkämpfen. Zweitens untersucht die Studie das Verhältnis zwischen einem beobachtbaren, stärkeren Interesse an dem Kind als psychologischer Einzelperson und einem verstärkten gesellschaftlichen Zugriff auf Kinder. Welche Folgen hatte die neue Wertschätzung der Kinderindividualität auch in antiliberalen Kreisen für die katholische, rechtsautoritäre und faschistische Kindheits- und Gesellschaftsreform? Die Studie geht davon aus, dass eine solche Analyse neue Aufschlüsse 49
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Vgl. die Überlegungen von Charles Taylor hinsichtlich der praktischen Bedeutung des säkular-religiösen Gegensatzes in der Moderne: A Secular Age, Oxford 2008. Siehe auch: Ders., Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt/Main 2002. Orsi, Heaven and Earth, S. 16.
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über den allgemeinen Gesellschaftswandel in der Vorbürgerkriegszeit geben kann. In welcher Beziehung standen Tendenzen der Politisierung öffentlichen und privaten Lebens mit der Entfaltung neuer Familien-, Konsum- und Medienkulturen? Verstärkten diese Entwicklungen die gesellschaftlichen Konflikte oder schwächten sie sie ab? Welche gesellschaftliche Reichweite hatten politisch-weltanschauliche Modelle von Gesellschaftsreform? Konzepte von Kindheit standen im 20. Jahrhundert immer auch im Kontext einer Suche nach neuen Formen des Zusammenlebens, nach Glück, Macht, Wohlstand und Sicherheit und überführten diese Suche in konkrete gesellschaftspolitische Projekte. In einer kultur- und subjekthistorischen Geschichte von Kindheit im 20. Jahrhundert fließen viele der Leitthemen der Zeitgeschichte zusammen wie etwa die Rolle moderner Ideologien, der Aufstieg von Sozialbürokratien und Sozialexperten, die Entfaltung des Wohlfahrtsstaates und die Entstehung von Konsumgesellschaften. Innovative Historiker haben in den vergangenen Jahren in diesem Sinne Kindheit als historische Sonde genutzt, um neue Aufschlüsse über moderne Gesellschaften und ihre Selbstwahrnehmungen zu erhalten. 51 Ein breiter Forschungsansatz, wie er hier entworfen wird, erlaubt es insgesamt, die politisch-weltanschaulichen Auseinandersetzungen um Kindheit und Erziehung nicht nur als auf kleine Intellektuellen- und Politikerzirkel begrenzte bildungspolitische Debatten zu verstehen, sondern als grundsätzliche Konflikte um das richtige Leben und alltägliche Machtverhältnisse, um Familienreform und Persönlichkeitsbildung. Er eröffnet Fragen nach der Dynamik von religiösen und säkularen Lebensweisen und Weltentwürfen jenseits der bekannten politisch-ideologischen Auseinandersetzungen. Erst durch die Einnahme einer solchen Perspektive lässt sich angemessen nach den Wechselwirkungen von politisch-religiösen Reformprogrammen und Kinderleben in seinen vielfältigen Dimensionen fragen. Kinder standen an der Schnittstelle von politischen Reformprojekten, neuen Wissenskulturen, urbaner Kultur und familiärem Wandel. Sie bildeten den Mittelpunkt divergierender gesellschaftlicher Erneuerungsprojekte, in denen konkrete antagonistische Lebensweisen und Lebensentwürfe verhandelt wurden. Auseinandersetzungen um Kindheit und Erziehung betrafen die zukünftige Ordnung der Gesellschaft ebenso wie aktuelle familiäre Autoritätsverhältnisse, Geschlechterbeziehungen und das Verhältnis von Individuum und politischer Ordnung. 51
Siehe als weitere eindrucksvolle Beispiele für die Erkenntnismöglichkeiten neuer Kindheitsgeschichte: Tara Zahra, Kidnapped Souls. National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian Lands, 1900–1948, Ihaca, New York und London 2008; Dies., Reclaiming Children for the Nation. Germanization, National Aspiration, and Democracy in the Bohemian Lands, 1900–1945, in: Central European History 37 (2004), S. 501– 43; Dirk Schumann (Hrsg.), Raising Citizens in the „Century of the Child“. Child Rearing in America and German Central Europe in the Twentieth Century, New York 2010.
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Zu Aufbau und Grundlagen der Arbeit Die Frage nach den Wechselwirkungen von politischen Reformprojekten und neuen, medial gestalteten urbanen Kindheiten legt die Abgrenzung von drei Untersuchungsbereichen nahe: eine Untersuchung der katholischen Persönlichkeits- und Erziehungsreformprojekte; eine Analyse der öffentlichen Kinderdebatten als Resonanzboden der Reformprojekte, aber auch als eigenständigem Motor von Veränderung; und schließlich eine Erörterung des Zusammenspiels von Politik und Kindheitskonzeptionen in konkreten Handlungsfeldern. Die drei Untersuchungsbereiche entsprechen den Großkapiteln der Studie, wobei die Fallstudien in zwei Großkapitel unterteilt wurden. Die Studie setzt im ersten Teil mit einer Darstellung des Wandels katholischer Persönlichkeitsbildung und Erziehungskonzeptionen ein. Sie verfolgt zunächst die Bemühungen einer Gruppe von Bildungsreformern, die heterogenen katholischen Bildungsorganisationen und Erziehungsströmungen als politische Kraft zu einen und erörtert anschließend die Erneuerung katholischer Bildung und Erziehung im Spannungsfeld politischer und humanwissenschaftlicher Reformimpulse. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen die katholischen Strategien, nach der Jahrhundertwende über eine Erneuerung von Bildung und Erziehung den vermeintlich verloren gegangenen gesellschaftlichen Einfluss zurückzuerobern und eine neue christliche Gesellschaftsordnung zu realisieren. Die Rechristianisierungspolitik war aufs Engste mit einem neuen Leitbild aktiven Christentums verbunden, das neue Anforderungen an katholische Erziehung und katholische Bildungsanstalten stellte. Die politisch-religiösen Reformbewegungen agierten nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum, sondern standen in engen Wechselbeziehungen mit einem umfassenderen Wandel öffentlicher Kindheitsdebatten und Kinderleitbildern. Der zweite Teil der Studie widmet sich der Thematisierung von Kindheit, Kinderschutz und Kinderreform in der medialen Öffentlichkeit über die politischen Regimewechsel des frühen 20. Jahrhunderts hinweg und untersucht ihre politischen Dimensionen und Konsequenzen. Anhand von Fallstudien zu städtischen Kinderfeiern und zum Phänomen der Wunderkinder wird zunächst die steigende Bedeutung von Kindheit und Kindern in der urbanen Öffentlichkeit Madrids erörtert, bevor in einem zweiten Kapitel die Ausbildung des „widerspenstigen Kindes“ als neuem hegemonialen Leitmodell kindlicher Subjektivität, die mit ihm verbundenen neuen Ansprüche, Hoffnungen und Befürchtungen, seine inneren Widersprüche und politischen Entwicklungsdynamiken besprochen werden. Als Quellen dienen hier visuelle Darstellungen von Kindern in der Massenpresse, Werbeanzeigen für Kinderprodukte sowie Diskussionen von Kindheit in Kommentaren und Kindergeschichten, die alle großen Zeitschriften seit den 1920er Jahren publizierten. Ein drittes Kapitel untersucht schließlich die politischen Dimen-
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sionen der Kindheitsdebatten, indem es genauer die Auseinandersetzungen um Kinderschutz und Kinderrechte in den Blick nimmt und sie mit den politischen Kämpfen und Regimewechsel der 1920er und 1930er Jahre in Beziehung setzt. In einem dritten Teil stehen schließlich im Rahmen von vier Fallstudien die Ausprägung der katholischen Erneuerungsbewegung in bestimmten politischen, gesellschaftlichen und medialen Kontexten und damit auch die Frage nach ihrer gesellschaftlichen Reichweite und Aneignungsweise im Mittelpunkt der Darstellung. Zunächst wendet sich die Studie der städtischen Bildungspolitik in Madrid zu und fragt nach der Bedeutung der politischen Kulturkämpfe um Bildung und die Gestaltung von Kindheit in der lokalpolitischen Praxis. Im Anschluss werden die katholischen Bemühungen während der Zweiten Republik, Eltern und Lehrer für ihre Bildungspolitik zu mobilisieren, diskutiert und die Frage nach dem Einfluss der politisch-kulturellen Kämpfe auf die Gruppe professioneller Kinderexperten erörtert, die als Mediziner, Sozialpädagogen und Sozialarbeiter in den expandierenden städtischen Wohlfahrtseinrichtungen beschäftigt waren. Ein zweites Kapitel beschäftigt sich mit dem Einfluss der politischen Reformbewegungen auf bürgerliche Eltern und Familien. Gerade die Gründung der Zweiten Republik bedeutete für Familien neue Ansprüche, aber auch neue Hoffnungen und Erwartungen. In der Darstellung gilt es in diesem Kontext zu überprüfen, welchen Einfluss politische Familienmodelle in der urbanen Öffentlichkeit erlangten und inwieweit Gegenmodelle existierten, die sich nicht einfach einem der politischen Großlager zuordnen lassen. Es wird auch der Versuch unternommen, familiäre Konflikte auf die politischen Ereignisse zu beziehen. Eine dritte Fallstudie untersucht den Niederschlag der politisch-religiösen Reformprojekte in kommerziellen Kinderzeitschriften, die seit den 1920er Jahren eine breite Popularität erlangten und neben Schule und Familie zu einer äußerst wichtigen Sozialisationsinstanz städtischer Kinder und Jugendlicher aufstiegen. Sie stellen einen sehr aufschlussreichen Untersuchungsgegenstand dar, da sich in ihrer Gestaltung pädagogische mit kommerziellen und politischen Interessen mischten. Den katholischen Privatschulen widmet die Arbeit aufgrund ihrer großen Bedeutung als Sozialisationsort der spanischen Mittel- und Oberschicht ein eigenes viertes Hauptkapitel. Katholische Privatschulen spielten und spielen in der Geschichte katholisch geprägter Länder eine außerordentliche Rolle für die Sozialisation der nachwachsenden Generationen. Als Ausbildungsstätten der späteren franquistischen Eliten kommt den konfessionellen Schulen zudem eine bisher kaum beachtete politik- und gesellschaftsgeschichtliche Bedeutung zu. Die Veränderung ihrer inneren Struktur stellt vor diesem Hintergrund einen wichtigen Faktor allgemeingesellschaftlichen Wandels und der Veränderungen der widersprüchlichen Beziehungen von Katholizismus und städtischem Bürgertum dar. Die katholischen Schulen, von denen viele Internate waren, gelten vielen Bildungshistorikern als Paradefälle „totaler
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Institutionen“, die vermeintlich das gesamte Leben der Kinder überwachten und reglementierten. Sie erscheinen damit paradoxerweise gleichzeitig als hochmoderne Institutionen und als Bollwerk klerikaler Tradition. Tatsächlich bildeten die Schulen in den Plänen der katholischen Kirche einen grundlegenden Hebel zur Realisierung christlicher Gesellschaftsreform. Das vierte Kapitel untersucht vor diesem Hintergrund Formen und Folgen des Wandels der Privatschulen bis in den frühen Franquismus hinein und fragt nach unterschiedlichen Ausprägungen der Reformprojekte an einzelnen Schulen. Die Arbeit verfolgt einen breiten, mehrdimensionalen Ansatz. Eine solche Untersuchung ist nur durch eine Begrenzung des Untersuchungsraumes und eine zeitliche Schwerpunktsetzung durchführbar. Die Studie hat sich vor diesem Hintergrund für eine dreifache Beschränkung der Untersuchung auf die spanische Hauptstadt Madrid, auf die Jahre der Zweiten Republik und auf die urbanen Mittelschichten entschieden. Die Beschränkung auf Madrid hat Vor- und Nachteile.52 Der Madrider Fall ist nicht repräsentativ für Gesamtspanien. Die Funktion der Stadt als Hauptstadt, die enge Verwobenheit von nationaler und lokaler Politik in der Stadt, schließlich ihr Charakter als kastillisch geprägte Metropole hoben sie von den großen ländlichen Regionen sowie Klein- und Mittelstädten, in denen die meisten Spanier lebten, ebenso ab wie von den Städten und Metropolen des Baskenlandes und Kataloniens, in denen mit den regionalen Nationalbewegungen nach der Jahrhundertwende ein besonderer Faktor auf den Wandel von Kindheit einwirkte. Umgekehrt lassen sich jedoch auch gute Argumente für die Auswahl Madrids finden. Die Stadt bildete als Mittelpunkt des politischen und kulturellen Lebens des Landes einen ständigen Bezugspunkt für die Entwicklung in den Provinzen. Zudem trafen hier die politischen Gegensätze in besonders ausgeprägter Weise aufeinander. Dadurch, dass die Madrider Illustrierten und Kinderzeitschriften nachweislich auch in den Provinzen gelesen wurden, standen die Geschehnisse in der Stadt im Mittelpunkt einer breiten überregionalen und in ihrer Tendenz nationalen Öffentlichkeit. Schließlich glichen sich die Bildungsanstrengungen im spanischen Katholizismus an und die katholischen Bildungseinrichtungen waren sehr früh, selbst in Katalonien und im Baskenland, überregionale Institutionen. In ihnen waren Unterschiede zwischen den Erziehungsorden sowie zwischen Elite- und Unterschichtenschulen wichtiger als regionale Unterschiede. Es wird jedoch zu diskutierten sein, inwieweit die Besonderheiten des Madrider Falls konfliktintensivierend oder -abschwächend wirkten. Waren es gerade die Zentren der neuen Kinderkultur, in denen die Kulturkämpfe um Kinder besonders heftig verliefen, oder schwächte der Großstadtrahmen die Auseinandersetzungen eher ab? Der zeitliche Schwerpunkt der Studie liegt auf den frühen 1930er Jahren. 52
Für ein Plädoyer von Mikrostudien in der historischen Kindheitsforschung vgl. Stargardt, Childhoods, S. 13.
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Um langfristige Wandlungsprozesse angemessen berücksichtigen zu können, war es jedoch erforderlich, in den ersten beiden Teilen einen weiteren zeitlichen Rahmen zu wählen und mit der Untersuchung am Ausgang des 19. Jahrhunderts einzusetzen. Am Ende des vierten Teils weitet sich die Untersuchung zudem bis in die frühe Franco-Zeit hinein aus. Die Kombination von einem weiten zeitlichen Rahmen mit einer detaillierteren Betrachtung einer Kernzeit erscheint am besten geeignet, einerseits den Wandel von Kindheitskonzeptionen und -debatten als langfristigen Prozess zu verfolgen, andererseits aber auch die Dynamik des Wechselspiels der Kräfte detailliert betrachten zu können. Bildete die Krise des Jahres 1898 eine deutliche Zäsur hinsichtlich des gesellschaftlichen Interesses an Kindern und Bildung, so stellten die Jahre der Zweiten Republik eine Zeit intensivierter Debatten über Kindheit und Gesellschaft dar. Nach Gründung der Republik fielen nicht nur Schranken für die Entfaltung einer neuen kommerziellen Kinderkultur, sondern es verschärfte sich auch der Zusammenprall der politischen Reformprojekte. Die frühen 1930er Jahre bilden somit eine Kernzeit, in der sich die beiden in dieser Studie primär interessierenden Entwicklungen zuspitzten und in neuer Form aufeinander trafen.53 Der Beginn des Bürgerkrieges bedeutete in diesem Zusammenhang mit dem Wegfall der weltanschaulichen Konkurrenzsituation eine scharfe Zäsur. Der Krieg ermöglichte es dabei den politischen Reformprojekten zunächst, ihre Vorstellungen von neuer Kindheit in ihren jeweiligen Machtbereichen sehr weitgehend zu verwirklichen, schuf aber gleichzeitig auch neue Einschränkungen und Hindernisse. Er bedeutete gerade auch hinsichtlich der neuen Kinderkultur eine wesentliche Zäsur, in der viele Vorkriegsentwicklungen zerstört und transformiert wurden. Am Ende des vierten Teils wird in Hinblick auf die katholische Bewegung nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten über den Bürgerkriegsbeginn hinweg gefragt. Eine an die vorliegende Arbeit anschließende, sich als äußerst vielversprechend darstellende Untersuchung von Kindheit im Franquismus kann hier leider ebenso wenig geleistet werden, wie ein systematischer Vergleich der hier erzielten Ergebnisse mit den Entwicklungen anderer Länder möglich war. Es wäre sehr zu wünschen, wenn die Studie den Anstoß zu vergleichend ausgerichteten Arbeiten geben könnte, die sich in vergleichender Perspektive einerseits mit religiösen Kinderkulturen sowie andererseits mit katholischer Bildung und Erziehung in anderen katholisch geprägten Ländern wie insbesondere Frankreich und Italien, aber auch zu Ländern Mittel- und Südamerikas beschäftigten. Es bedarf vielleicht einer besonderen Begründung, Spanien als nationalen Untersuchungsrahmen zu wählen, zumal Spanien in der älteren Forschung oft als exzentrisches Land beschrieben wurde, dessen Entwicklung nicht den 53
Immer noch grundlegend zu dieser Debatte: Juan Linz, From Great Hopes to Civil War. The Breakdown of Democracy in Spain, in: Ders./Alfred Stepan (Hrsg.), The Breakdown of Democratic Regimes, Baltimore 1978, S. 142–215.
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Entwicklungspfaden seiner europäischen Nachbarn im Nordosten folgte.54 Zwei Gründe waren für die Wahl Spaniens als Untersuchungsgegenstand ausschlaggebend. Zum einen bildeten sich in Spanien die erziehungspolitischen Optionen in besonderer konzeptioneller und organisatorischer Klarheit heraus. Dies lag wesentlich an einem durch zahlreiche Bürgerkriege im 19. Jahrhundert institutionell und finanziell geschwächten Zentralstaat, der lange Zeit wenig bildungspolitischen Elan zeigte. Die Heftigkeit der ideologischen Konflikte um Kindheit fand ihren institutionellen Niederschlag in einem Schulsystem, das durch einen Dualismus von staatlichen Schulen und katholischen Privatschulen gekennzeichnet war. Gerade aufgrund dieser Exzeptionalität im europäischen Kontext verspricht jedoch der spanische Fall besondere Aufschlüsse über den Zusammenprall einer Politisierung und „Verhäuslichung“ von Kindheit. Er erlangt als Zuspitzung allgemeiner Konflikte eine symptomatische Bedeutung. Zweitens ermöglicht der spanische Fall einen neuen Blick auf die Ausprägung der klassischen Moderne in einem Land, das nicht zu den bisher intensiv erforschten Kernländern der Moderne gehörte, aber auch nicht der kolonialen Peripherie zugerechnet werden kann, die in den vergangenen Jahren neue Aufmerksamkeit erfahren hat.55 Spanien kann vielmehr einer breiten Gruppe von Staaten in Süd-, Südost- und Osteuropa sowie in Lateinamerika zugeordnet werden, die gleichsam eine Zwischenstellung einnahmen. Diese Zwischenstellung war gekennzeichnet durch eine extreme interne Differenzierung zwischen den urbanen, auf Entwicklungen im Ausland hin orientierten Ober- und Mittelschichten und der ländlichen Bevölkerung sowie den Gegensatz von avancierten politischen Programmen in Verbindung mit deutlich beschränkten ökonomischen Möglichkeiten. Welche Auswirkungen diese Situation auf die spezifische Ausformung der Moderne hatte, erscheint eine noch zu wenig thematisierte Frage zu sein, auf die diese Arbeit einige Antworten zu geben versucht. Die Arbeit berücksichtigt ein breites Spektrum an Quellen, um ein möglichst facettenreiches Bild von Kindheit im frühen 20. Jahrhundert zu erhalten. Dieses Bemühen wird von einer in Teilen problematischen Quellenüberlieferung begrenzt. Durch eine umfassende Aktenvernichtung während des Bürgerkrieges und des frühen Franquismus ist die Überlieferung des 54
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Siehe etwa Hobsbawm, Zeitalter der Extreme, S. 202. Diese Sichtweise wird jedoch von der neueren Forschung zurückgewiesen. Siehe nur: Walther L. Bernecker, „Spanien ist anders“. Der Mythos vom hispanischen Sonderweg, in: Helmut Altrichter u. a. (Hrsg.), Mythen in der Geschichte, Freiburg 2004, S. 453–470; Ludger Mees, Der spanische „Sonderweg“. Staat und Nation(en) im Spanien des 19. und 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 40 (2000), S. 29–66. Zur älteren Debatte: Hans-Jürgen Puhle, Probleme der spanischen Modernisierung im 19. und 20. Jahrhundert, in: Jb. f. Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas 31 (1994), S. 305–28. Vgl. hierzu die weiterführenden Überlegungen in: Deborah L. Parsons, A Cultural History of Madrid. Modernism and the Urban Spectacle, Oxford 2003.
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nationalen Bildungsministeriums ebenso vollständig zerstört worden wie diejenige der Regierungsebene. Lediglich über die stenographischen Protokolle der Cortes, des spanischen Parlaments, lassen sich Aufschlüsse über die nationale Politik gegenüber Kindern erhalten. Besser sieht demgegenüber die Lage auf kommunaler Ebene aus. Im Madrider Stadtarchiv finden sich zahlreiche Akten zur städtischen Bildungs- und Kinderpolitik, so dass die republikanischen Reformmaßnahmen und die Widerstände gegen sie in der Stadt gut nachgezeichnet werden können. Über die Überlieferung der zwei großen Madrider Waisenhäuser sowie einer Erziehungsanstalt, die sich im Archiv der Region Madrid finden, lassen sich zudem die internen Auseinandersetzungen zwischen Expertengruppen um eine Neuausrichtung von Kinderpolitik innerhalb von Kinderinstitutionen von der Diktatur der 1920er Jahre über die Republik bis in den Bürgerkrieg und den Frühfranquismus hinein verfolgen. Die Expertenperspektive konnte schließlich durch eine gezielte Auswertung der umfangreichen Bestände zur Säuberung (depuración) der Lehrerschaft im Frühfranquismus weiter erforscht werden. Die alphabetisch nach Region sortierten Personenakten geben Aufschlüsse über die Ansichten und das Handeln von Lehrern unter der Republik. Selbstverständlich müssen bei der Interpretation der hier enthaltenden Befunde stets der repressive Entstehungskontext und die Interessen der Betroffenen berücksichtigt werden, um historische Fehlschlüsse zu vermeiden. Es hat sich als besonders schwierig erwiesen, interne Überlieferungen zur katholischen Kinderpolitik und zu den katholischen Schulen einzusehen. Dies hängt einmal damit zusammen, dass auch hier viele Unterlagen im Bürgerkrieg vernichtet wurden, zum anderen aber auch, dass bestehende Überlieferungen noch kaum verzeichnet und der Fachöffentlichkeit unzugänglich sind. Die Überlieferung der Katholischen Aktion in Spanien ist für die Zeit vor 1939 verschollen und intensive Bemühungen, Zugang zu Schularchiven katholischer Internate zu bekommen, haben sich als fruchtlos erwiesen. Auch Versuche, Zugang zum reichhaltigen Archiv der Institución Teresiana in Madrid zu erhalten, einer wichtigen Reformeinrichtung katholischer Mädchenbildung, scheiterten. Zwar erwiesen sich die Archivmitarbeiterinnen als äußerst gastfreundlich, waren jedoch nicht bereit, dem Verfasser Zugang zu nicht-publizierten Materialien des weitgehend über den Bürgerkrieg geretteten Archivs zu geben. Von Nachforschungen in zentralen Ordensarchiven in Rom sowie in den vatikanischen Archiven, die wichtige Informationen enthalten, wurde abgesehen, da es der Studie vor allem um konkrete Interaktionen vor Ort ging. Zukünftige Arbeiten können aber in diesen Archiven Ansatzpunkte einer weiteren Vertiefung des Themas finden. Der Mangel an interner Überlieferung konnte jedoch durch eine umfangreiche Auswertung katholischer Fachzeitschriften sowie von Schul- und Schülerzeitungen ausgeglichen werden, die in verschiedenen Zeitungsarchiven überliefert sind. Zwar muss stets mitbedacht werden, dass diese Quellen viele Themen ausblenden, doch gibt eine genaue Lektüre viel-
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fache Hinweise zu Wandlungsprozessen und auch zu internen Kontroversen und Konfliktlinien. Zur Analyse der öffentlichen Kinderdebatten, aber auch des Einflusses von Gesellschaftsreform und politischem Wandel auf Kindheit und Familienleben wurden zwei Hauptquellen verwendet. Zunächst basiert die Studie auf einer umfangreichen Auswertung populärer Illustrierter und Kinderzeitschriften zwischen 1900 und 1939. Insbesondere die 1930er Jahre zeichneten sich durch eine große Vielfalt äußerst beliebter Zeitschriften und eine florierende Kinderpresse mit je unterschiedlicher politischer Grundtendenz aus, in denen Fragen von Kindheit und Familie eine große Rolle spielten. Diese Quellen geben nur bedingt Auskünfte über das Leben realer Kinder, doch sie beschränken sich umgekehrt auch nicht auf eine Wiedergabe pädagogischer und bildungspolitischer Positionen von Fachleuten und Politikern. Vielmehr eröffnen sie Einblicke in einen Mittelraum zwischen den wissenschaftlichpolitischen Auseinandersetzungen und dem Alltagsleben einzelner Kinder und Familien, dem als Repräsentations-, Handlungs- und Reflexionsfeld hohe Bedeutung zukam. In den Zeitschriften trafen und mischten sich politisch-gesellschaftsreformerische Impulse „von oben“ mit Vorstellungen, Wünschen, Hoffnungen und Ängsten von Gesellschaftsgruppen „von unten“ und kommerziellen Interessen. Die populären Illustrierten, Tageszeitungen und Kinderzeitschriften transportierten stets politische Werthaltungen und Projekte, mussten als kommerzielle Unternehmen aber immer auch auf die oft ganz anders gelagerten Interessen und Wünsche ihrer Leserschaft eingehen – im Fall der Kinderpresse bedeutete dies auch auf die Wünsche der Kinder selbst. Um jedoch auch Einblicke in den Wandel von Familienleben und Kindheit jenseits der medialen Repräsentationen zu erhalten, wurden eine Reihe autobiographischer Schriften sowie der nach Fallakten gegliederte, umfangreiche Bestand des Madrider Kinder- und Jugendgerichtes (Tribunal Titular de Menores) ausgewertet, das 1925 seine Arbeit aufnahm. Die meisten der mehreren Tausend Fallakten betreffen – meist geringfügige – Rechtsverletzungen von Kindern, doch behandeln zahlreiche Akten auch Familienstreitigkeiten und Scheidungsfälle. Die im Zusammenhang mit diesen Rechtsstreitigkeiten verfassten Eingaben, Berichte und Vernehmungen bieten einen äußerst reichhaltigen und facettenreichen Blick auf das Leben einzelner Madrider Familien und Kinder. Auch wenn nur ein kleiner Teil von Familien jemals vor das Gericht zur Aussage gebeten wurde, bieten seine Bestände doch symptomatische Einblicke in den Wandel von Familie und Kindheit seit den 1920er Jahren. Insgesamt konnte durch die Berücksichtigung zahlreicher, bisher kaum beachteter Quellengruppen die schwierige Quellenlage hinsichtlich der offiziellen und katholischen Kinderpolitik ausgeglichen werden, auch wenn unvermeidbar blinde Flecken weiter bestehen werden. Ziel der Untersuchung war es, neue Schneisen in ein bislang kaum erforschtes Gebiet spanischer und europäischer Geschichte zu schlagen. Es muss zukünftigen Arbeiten überlassen
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bleiben, die hier vorgelegten Ergebnisse weiter zu differenzieren und gegebenenfalls anhand neu zugänglicher Überlieferungen zu korrigieren. Zwei Begriffsverwendungen erfordern am Ende dieser Einleitung einen kurzen Kommentar. Zunächst betrifft dies die Definition von Kind. Es ist deutlich geworden, dass die Arbeit das ,Kind‘ als historisch konstruierte und damit veränderbare Einheit betrachtet. Dennoch kann festgehalten werden, dass die Zeitgenossen mit Kindheit zumeist das Lebensalter zwischen Geburt und etwa 12 bis 16 Jahren bezeichneten, das durch eine verminderte Rechtsstellung, die unmittelbare Abhängigkeit von den Eltern und, seit den 1920er Jahren neu beachtet, die biologische Unreife charakterisiert war. Nach der Anhebung der Schulpflicht im Jahr 1923 auf 14 Jahre bildete das 14. Lebensjahr in den öffentlichen Diskussionen zumeist die untere Grenze des Endes der Kindheit, während oft jedoch auch noch 16-Jährige und ältere Heranwachsende als Kinder angesprochen wurden.56 Der allgemeine Sprachgebrauch dieser Studie folgt in pragmatischer Absicht vor diesem Hintergrund einer weiten Bestimmung von Kindheit und bezeichnet, sofern nicht anders vermerkt, Heranwachsende im Schulalter bis etwa 16 Jahre. In vielen Kapiteln werden in vergleichender Perspektive auch Positionen und Politik der liberalen, pro-republikanischen sowie linken Gruppen und Parteien dargestellt. Die sozialen Gruppen und politischen Kräfte, die sich als Gegenspieler der katholischen und rechts-autoritären Kräfte bezeichnen lassen, waren jedoch äußerst heterogen. Sie umfassten gemäßigt-liberale Gruppen des Bürgertums ebenso wie unterschiedliche Gruppen von Sozialisten und Anarchisten. Im Rahmen dieser Studie bot es sich jedoch immer wieder an, eine Sammelbezeichnung für diese Gruppen zu verwenden, da sie in den hier interessierenden Feldern oft ähnliche Positionen einnahmen. In Anlehnung an den Sprachgebrauch der Bürgerkriegsforschung, die die Gesamtheit der politischen Kräfte, welche die Kriegsrepublik unterstützten, als Republikaner anspricht, wurde auch hier aus Gründen der besseren Lesbarkeit die Entscheidung getroffen, alle laizistisch, kirchen- und monarchiekritischen Kräfte als Republikaner beziehungsweise republikanische Bewegungen zu bezeichnen. Nur an den Stellen, an denen eine weitere Binnendifferenzierung erforderlich erscheint, erfolgt eine genauere Benennung. Dieses Vorgehen hat sicherlich den Nachteil, die einzelnen Strömungen auf der liberalen und linken Seite in einigen Fällen zu wenig zu differenzieren. Doch da das Erkenntnisinteresse der Studie hauptsächlich auf den katholischen und rechtsautoritären Kräften liegt, erscheint ein solches Vorgehen vertretbar. 56
Zu älteren Definitionsversuchen: Borrás Llop, Historia, S. 21f. Zur Anhebung der Schulpflicht: Pilar Muñoz López, Sangre, Amor e Interés. La Familia en la España de la Restauración, Madrid 2001, S. 320. Als Beispiel neuer biologischer Definitionsversuche: Rez. Psicología del Niño, por Roberto Gaupp. Traducción de Antonio Vallejo Nájera, in: El Instituto 1, Jan. 1928.
I. Kontrollierte Moderne. Die Erneuerung katholischer Bildung und Erziehung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik
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Moderne Kindheit wird gemeinhin als säkulare Kindheit verstanden. Die Abkehr von einer Sicht des Kindes als sündig und deshalb strikter Kontrolle und Anleitung bedürftig und die Durchsetzung einer Rousseauschen Sicht auf das Kind als von Natur aus gut wird zumeist als entscheidendes Moment der Modernisierung von Kindheit seit dem 18. Jahrhundert gewertet.57 Entsprechend treten in bildungs- und kindheitshistorischen Arbeiten die christlichen Kirchen als die hauptsächlichen Gegenspieler von Kindheits- und Erziehungsreform seit dem späten 19. Jahrhundert auf. Die scharfe Modernekritik insbesondere der katholischen Kirche und ihr in vielen Ländern beobachtbares Bündnis mit konservativen und autoritären politischen Kräften haben dieser Einordnung christlicher Bildung und Erziehung in ein Lager von Tradition und Reaktion zusätzliche Plausibilität verliehen. Schließlich haben auch eine umfangreiche autobiographische Literatur sowie literarische Darstellungen katholischer Kindheit, welche die Menschenfeindlichkeit, Brutalität und Verlogenheit kirchlicher Erziehung anprangern, dazu beigetragen, eine Sichtweise auf katholisch-christliche Erziehung als Antithese eines zeitgemäßen Umgangs mit Kindern zu etablieren.58 Es ist vor diesem Hintergrund nicht erstaunlich, dass eine übergreifende Meistererzählung bildungs- und gesellschaftshistorischer Arbeiten des 20. Jahrhunderts die parallele Durchsetzung von liberaler Erziehungsreform und gesellschaftlicher Liberalisierung gegen traditionelle christlich-konservative Erziehungsauffassungen und Gesellschaftsmodelle beschreibt. 59 Auf den zweiten Blick verkompliziert sich jedoch die eindeutige Gegenüberstellung von Erziehungsmoderne und katholischer Tradition. Einige Befunde lassen die bisherige Darstellungsweise als unzureichend erscheinen. Da ist zum einen das anhaltende Gewicht katholischer Bildung in der Gegenwart, welches ihre Charakterisierung als antimodern äußerst problematisch macht. Schätzungen zufolge unterrichteten katholische Bildungsanstalten im Jahr 2000 weltweit etwa 45 Millionen Schüler in mehr als 180 000 Einrichtungen. Katholische Bildung erscheint vielen Eltern auch heute als eine attraktive Alternative zum öffentlichen Schulsystem. Die katholische Kirche in Spanien war, wie in allen katholisch geprägten Ländern, ein wesentlicher Akteur der Kindererziehung im vergangenen Jahrhundert. Sie unterhielt Schulen, stellte das Personal für Kinder- und Waisenhäuser, organisierte Elternvereine und versuchte, auf den Umgang mit Kindern in den Familien einzuwirken. Nach dem Ende des Bürgerkrieges erlangte der Katholizismus sogar für lange Jahre das Monopol über alle öffentlichen Kinderangelegenheiten. Doch auch un57 58
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Vgl. nur Gestrich, Kindheit, S. 465. Vgl. hier nur als ersten Überblick zum spanischen Fall: José Antonio Cieza García, Los Intelectuales y el Anticlericalismo. Fuentes Literarias para un Estudio de la Labor Educativo-social de las Congregaciones Religiosas durante el primer tercio del siglo XX, in: Iglesia y Educación en España, Bd. 1, Palma de Mallorca 1986, S. 77–89. Siehe nur zu Spanien: Viñao Frago, Escuela.
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ter der neuen Demokratie nach dem Tod Francos 1975 gelang es der Kirche, sich auf dem Bildungs- und Kindheitsmarkt zu behaupten. Nach wie vor liegt ein Großteil der Primar- und Sekundarbildung in ihren Händen. Eine Mehrzahl der spanischen Kinder wurde in ihrem Aufwachsen mehr oder weniger intensiv mit katholischen Erziehungsbemühungen und religiösen Deutungsmustern konfrontiert.60 In historischer Perspektive lässt sich weiterhin feststellen, dass katholische Bildungseinrichtungen in Spanien gerade in wirtschaftlichen Pionierregionen wie dem Baskenland und Katalonien sowie in den urbanen Zentren wie Barcelona, Madrid und Bilbao besonders erfolgreich waren, mithin in den viel beschriebenen Kernregionen der Moderne. Zudem fragten gerade die neuen bürgerlichen Schichten als vermeintliche Speerspitze gesellschaftlicher Modernität katholische Bildung am Ausgang des 19. Jahrhunderts nach. Demgegenüber waren kirchliche Bildungseinrichtungen auf dem Land und in den wirtschaftlich rückständigeren Latifundiengebieten des spanischen Südens deutlich weniger vertreten.61 Bildungshistorische Fallstudien zu Frankreich, einem frühen Kernland der katholischen Bildungsbewegung, haben die Modernisierungsthese für das 19. Jahrhundert geradezu auf den Kopf gestellt. Nach ihrem Dafürhalten war es gerade die Kirche, die nach dem Schock der Revolutionsjahre nach 1789 mit neuen Erziehungsmethoden experimentierte, ein neues Verständnis von Schule als intensiver, über die reine Wissensvermittlung hinausgehende Werkstatt der Charakterformung etablierte und somit den Weg in die Bildungsmoderne ebnete. Das öffentliche Schulwesen konnte sich seit den 1880er Jahren erst zu dem Zeitpunkt gesellschaftlich durchsetzen, als es das Schulmodell der katholischen Ordensschulen übernahm. Auch für die USA ist nachgewiesen worden, dass die katholischen Bildungseinrichtungen Erneuerungsimpulse für das öffentliche Schulwesen lieferten.62 Im frühen 20. Jahrhundert spielte die Kirche schließlich auch im Bereich der außerschulischen Kinderbetreuung und organisierten Freizeitgestaltung eine Pionierrolle. Sie zählte etwa in Frankreich zu den ersten Organisationen, die große Sommerferienlager für Kinder an der Küste oder im Gebirge organisierten und dabei mit aktiven Lernformen 60 61
62
Zu den Zahlen ebd., S. 204. Diese Verteilung hatte schon der antiklerikale Schriftsteller Luis Morote in seiner als Anklageschrift konzipierten Abhandlung über die religiösen Orden in Spanien aus dem Jahr 1904 beobachtet: Los Frailes de España, Madrid 1904, S. 27–29. Siehe jetzt mit überzeugenden Argumenten: Ostolaza Esnal, Religión y Modernidad; Dies./Pere Fullana, Escuela Católica y Modernización. Las Nuevas Congregaciones Religiosas en España (1900–1930), in: Julio de la Cueva/Feliciano Montero (Hrsg.), La Secularización Conflictiva. España (1898–1931), Madrid 2007, S. 187–214. Curtis, Educating. Vgl. auch: Grew/Harrigan, Catholic Contribution; Patrick J. Harrigan, The Social Appeals of Catholic Secondary Education in France in the 1870s, in: Journal of Social History 8 (1975), S. 122–41; Paula Fass, Outside In. Minorities and the Transformation of American Education, New York 1989, S. 189–228 (Kap. 6).
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experimentierten.63 Es erscheint angesichts dieser Befunde vielversprechend, die Frage nach dem Verhältnis von Katholizismus, moderner Bildung und Erziehung und Gesellschaftswandel neu zu stellen. In einem ersten Teil wird dazu der Wandel katholischer Bildung und Erziehung erörtert und stellt den und auf Veränderungen von grundlegenden Subjekt- und Gesellschaftsentwürfen im Umfeld der katholischen Kirche bezogen. Die Frage nach dem inneren Wandel des Katholizismus jenseits der viel beachteten Ebene der großen Politik bildet den Fluchtpunkt des ersten Abschnitts dieser Arbeit. Sie wird zunächst organisationshistorisch verfolgt. Bildete sich in den Kulturkämpfen um Kindheit ein einheitliches katholisches Erziehungsmilieu heraus oder lässt sich eher von einem Neben- und Gegeneinander sehr unterschiedlicher katholischer Strömungen sprechen? Die Arbeit verfolgt die Entstehung von Reformgruppen, die an dem Projekt einer eigenständigen modernen katholischen Erziehungsalternative arbeiteten, und schildert ihre Auseinandersetzungen mit innerkatholischen Gegnern sowie die Resultate dieser Kämpfe. In einem zweiten Schritt geht es um die Inhalte und Ziele katholischer Bildungsreform. Setzten sich auch im Katholizismus neue Vorstellungen von Kindheit als Lebensphase durch? Worin unterschieden sich katholische Erziehungsauffassungen von liberal-säkularen? Diese Fragen sind wichtig, da sie neue Aufschlüsse über die allgemeine Entwicklungsrichtung katholischer Gesellschaftsreform ermöglichen. Lassen sich in den Erziehungsdebatten Ansätze einer Liberalisierung erkennen, die sich in einem neuen Respekt vor der Persönlichkeit des Kindes und in der Gewährung neuer Freiräume niederschlugen und die unter der Oberfläche einer militanten antirepublikanischen Rhetorik eine Abkehr von überkommenen hierarchischen Gesellschaftsmodellen erkennen lassen; oder weisen sie eher in Richtung neuer autoritärer und sogar totalitärer Ordnungsmuster, in denen sich der disziplinierende Zugriff auf den Einzelnen verstärkte? Waren die katholischen Pädagogen Protagonisten einer vorsichtigen Annäherung an liberale Gesellschaftsmodelle oder aber Vordenker franquistischer Gesellschaftspolitik? Mit zwei weiteren übergeordneten Fragen beschäftigt sich dieser Teil der Studie. Einmal kann die Untersuchung neue Aufschlüsse über die Rolle von Religion als Faktor in der Subjektbildung und im Gesellschaftswandel nach 1900 geben. Stellte Religion eine Beharrungskraft dar, welche die Entstehung neuer Formen von Persönlichkeitsbildung und Sozialbeziehungen behinderte oder war sie nicht umgekehrt ein dynamisches Element im Wandel von Kindheit und Gesellschaft? Zum zweiten will die Untersuchung Antworten auf die Frage nach den politischen Dimensionen der neuen Humanwissenschaften geben. Trugen die neuen Kindheitswissenschaften zu einer Radikalisierung von Politikentwürfen bei und vertieften damit die Spannungen im pädago63
Laura Lee Downs, Childhood in the Promised Land. Working-class Movements and the colonies de vacances in France, 1880–1960, Durham 2002, S. 109f.
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gischen Feld zwischen liberal-progressiven Reformern und katholisch-konservativen Experten oder schwächten sie politische Gegensätze ab, indem sie neuen, allgemein akzeptierten Vorstellungen von „richtiger“ Kindheit, Erziehung und Gesellschaftsordnung zum Durchbruch verhalfen? Die historische Kindheits-, Sozialisations- und Bildungsforschung hat sich bislang kaum diesen Fragen zugewandt. Dies ist einerseits auf die anhaltende Kraft des Paradigmas katholisch-pädagogischer Traditionalität zurückzuführen, andererseits aber auch auf eine Selbstisolierung der historischen Bildungsforschung von neueren historiographischen Debatten über die klassische Moderne, die Chancen der Demokratie und neue autoritäre Bewegungen im 20. Jahrhundert. Neue Brücken zwischen Bildungsforschung und allgemeiner Geschichte sind im vergangenen Jahrzehnt allein von der historischen Nationalismusforschung geschlagen worden. Diese hat zu einer Innovation der Forschung beigetragen, indem sie die propagandistischen Anstrengungen zur Einbindung der Kinder in divergierende nationale Projekte in den Blick genommen und die in ihr vermittelten Bilder der Nation analysiert hat. Insbesondere anhand von Schulbüchern hat sie die Verbreitung von widerstreitenden Nationsmodellen untersucht. Die Studien verdeutlichen, dass die wesentlichen politischen Kräfte Kinder nach 1898 in neuer Weise zu Staatsbürgern formen wollten, und unterscheiden verschiedene Arten nationaler Imprägnierung voneinander. Für das katholisch-konservative Lager ist in diesem Zusammenhang die Ablösung eines älteren, eher föderalistisch ausgerichteten Modells eines traditionsbewussten Spaniens der Regionen durch ein neues zentralistisches national-katholisches Projekt beschrieben worden, das nach 1936 im Franco-Regime eine hegemoniale Stellung erreichte.64 Diese Erkenntnisse sind weiterführend, indem sie helfen, Bildung und Erziehung mit allgemeinen historischen Entwicklungen zu verkoppeln und den Wandel des antiliberalen Lagers und katholischer Politik als dynamischen Prozess zu begreifen. In unserem Kontext erscheint jedoch ein nationalismushistorischer Ansatz als nicht ausreichend, da er nur einen Aspekt gesellschaftlicher Einflussnahme auf Kinder in den Blick nimmt. Die nationale Prägung von Kindern war für die katholischen Erzieher nur ein Aspekt ihrer umfassenden Sozialisationsbemühungen und stand nicht unbedingt im Mittelpunkt ihrer Diskussionen. Zur Beantwortung der Leitfragen muss deshalb ein neuer Analyseansatz gewählt werden, der sich weniger mit Bildungspolitik und Bildungsorganisation beschäftigt, sondern mehr vom Kind, seiner Konzeptionalisierung und seinen Formungsversuchen, also von Persönlichkeitspolitik ausgeht. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen deshalb nicht bildungspolitische Konflikte, sondern Debatten um Persönlichkeitsbildung und Gesellschaftsreform durch Bildung und Erziehung. Ein solcher Ansatz erlaubt es, statische 64
Boyd, Historia Patria; Pozo Andrés, Currículum.
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Konzeptionen von katholischer Bildung und Erziehung zu überwinden und sie in ihrer historischen Pluralität und Dynamik neu in den Blick zu nehmen. Das folgende Kapitel verfolgt den Wandel katholischer Persönlichkeitsbildung zwischen den 1890er Jahren und dem Beginn des Bürgerkrieges im Juli 1936. Dazu wird zunächst der Zusammenschluss von Reformgruppen zu einer neuen katholischen Bildungsbewegung in den bildungspolitischen Auseinandersetzungen des frühen 20. Jahrhunderts beschrieben. In einem nächsten Schritt analysiert die Arbeit den Wandel katholischer Persönlichkeitspolitik, wie er sich vor dem Hintergrund der innenpolitischen Kämpfe und gesellschaftlichen Reformdebatten um 1900 vollzog. Die Wahrnehmung einer grundsätzlichen Gesellschaftskrise machte für eine größer werdende Gruppe kirchennaher Erziehungsexperten die Ausbildung eines neuen Typs aktiver Christen zur unerlässlichen Voraussetzung einer Abwehr revolutionärer Bewegungen und Rückeroberung der spanischen Gesellschaft. Doch auch die neuen Kinderwissenschaften, die ein drittes Kapitel behandelt, veränderten die Debatten über Kinder und wirkten auf die Erziehungsdebatten ein. Anhand einer Fallstudie zur Entdeckung und Problematisierung von Kinderemotionen werden die widersprüchlichen Aneignungsweisen der internationalen Debatten im katholischen Erziehungsmilieu verfolgt. Den Abschluss des ersten Teiles bildet schließlich ein viertes Kapitel, das die Erziehungsdebatten im Spannungsfeld von Kinderorientierung und neuen Zugriffsversuchen auf Kinder diskutiert, konkurrierende Strömungen identifiziert und die katholischen Reformansätze mit denen ihrer liberalprogressiven Gegenspieler vergleicht.
1. Der Kampf um die Einheit des katholischen Erziehungsmilieus bis 1930
Die öffentlichen Debatten über die Krise der spanischen Gesellschaft und die heftigen verbalen Angriffe gegen konfessionelle Erziehung erschütterten die katholische Bildungsbewegung nach 1898. Um sich der Anfeindungen zu erwehren, aber auch um eine eigene Reformagenda wirkungsvoll umzusetzen plädierten immer mehr Katholiken für die Einrichtung eigenständiger pädagogischer Institute, Lehrerseminare, Fachzeitschriften und Lehrer- und Elternverbände. Diese Organisationen sollten die Grundlage und der Transmissionsriemen einer erneuerten katholischen Erziehung und Menschenbildung werden. Diese Reformimpulse waren ein neues Phänomen. Zwar verfügte die Kirche um 1900 über zahlreiche, meist von religiösen Orden unterhaltene Bildungseinrichtungen und pädagogische Experten, doch diese waren institutionell kaum vernetzt. Es gab weder eigenständige katholische Bildungsverbände noch konfessionelle Lehrer- oder Elternvereine. Angesichts neuer politischer Herausforderungen erschien einer wachsenden Zahl von Intellektuellen dieser Zustand unhaltbar.
1.1 Die Expansion des katholischen Schulwesens Die beispiellose Expansion katholischer Schulen seit den 1870er Jahren veränderte die Bildungsdiskussionen in Spanien entscheidend. Der Hinweis kirchlicher Pädagogen auf die langen Traditionen und die inhaltliche Kontinuität katholischer Bildung seit der Gegenreformation darf nicht täuschen: Die Französische Revolution und die ihr nachfolgenden Säkularisationswellen bildeten auch in Spanien eine tiefe Zäsur konfessioneller Bildung und Erziehung. Ein Großteil der vor der revolutionären Epoche existierenden religiösen Schulen musste schließen, und das Selbstverständnis katholischer Bildung veränderte sich tiefgreifend. Die Zurückdrängung der religiösen Orden, die seit dem 17. Jahrhundert die wichtigsten Anbieter katholischer Bildung geworden waren, war ein politisches Hauptanliegen der Liberalen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts , und Maßnahmen progressiv-liberaler Regierungen dezimierten die ohnehin begrenzte Zahl religiöser Schulen weiter. Mit Ausnahme der Piaristen (Padres de las Escuelas Pías), die aufgrund ihrer sozialen Arbeit von den regierenden Liberalen geduldet wurden, hatten alle Erziehungsorden
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zwischen 1835 und 1851 ihre Bildungsanstalten schließen müssen.1 In Madrid konnten zu Beginn des Restaurationsregimes Mitte der 1870er Jahre nur die beiden traditionsreichen, zentral gelegenen Piaristenschulen San Antón und San Fernando auf eine längere Tradition zurückblicken.2 Vor diesem Hintergrund wirkt die stetige, sich über politische Regimewechsel vollziehende Expansion des katholischen Schulwesens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert erklärungsbedürftig. Der spektakuläre Aufschwung des katholischen Bildungswesens nach 1874 war eine historische Neuentwicklung, die katholischen Schulen waren historisch neue Phänomene, auch wenn sie sich selbst in lange Traditionslinien stellten. Die Ausweitung hatte ihren Ausgangspunkt im frühen 19. Jahrhundert, das nicht nur eine Zeit des organisatorischen Niedergangs, sondern auch der ideellen Neuorientierung war, In Reaktion auf die revolutionären Attacken gegen die Kirche gründeten sich eine Vielzahl neuer, auf Bildung spezialisierter religiöser Orden, die zunächst vor allem in Frankreich eine Rechristianisierung der Gesellschaft durch Bildung anstrebten. Der Wandel des Begriffs der Privatschule unterstreicht den Zäsurcharakter des 19. Jahrhunderts. In der ersten Jahrhunderthälfte hatte escuela pública jegliche Form außerhäuslicher – und zumeist kostenloser – Bildungseinrichtungen bezeichnet, unabhängig davon, ob sie vom Staat, den Kommunen oder kirchlichen Einrichtungen unterhalten wurden. Escuela privada meinte dagegen immer den häuslichen Unterricht (escuela doméstica).3 In den liberal-katholischen Kulturkämpfen wandelten sich seit der Jahrhundertmitte allmählich die Begriffe, bis schließlich die katholischen Schulen als Privatschulen dem öffentlichen Schulwesen gegenübergestellt wurden. Die Begriffsentwicklung vollzog die Transformation des zunächst in konfessionell-religiöser wie institutioneller Hinsicht äußerst heterogenen Bildungssystems in ein deutlich bipolar strukturiertes Feld nach. Das Bildungswesen lud sich im ausgehenden 19. Jahrhundert auf breiter Front weltanschaulich auf und wurde zu einem Hauptgegenstand der politischen Kulturkämpfe zwischen Liberalen und Katholiken. Einen wichtigen Ausgangspunkt der katholischen Bildungsexpansion bildeten in Spanien die revolutionären Ereignisse der Jahre 1868 bis 1874. Die säkularisierenden Maßnahmen der Ersten Republik leiteten eine neue, oft von der katholischen Basis ausgehende Mobilisierung im Erziehungsbereich ein. In Madrid bewegte das Gerücht von der nahen Ankunft protestantischer Prediger in der Stadt und der vermeintlich bevorstehenden Gründung pro1
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Vicente Faubell, Ordenes, Congregaciones y Asociaciones Clericales Masculinas en la Educación y la Enseñanza, in: Bernabé Bartolomé Martínez (Hrsg.), Historia de la Acción Educadora de la Iglesia en España, Madrid 1996, S. 323–491, hier S. 323–25. Estíbaliz Ruíz de Azúa, La Enseñanza en Madrid durante el Siglo XIX, in: Antonio Fernández García (Hrsg.), Historia de Madrid, Madrid 1993, S. 565–77. Faubell, Ordenes, S. 325.
1. Der Kampf um die Einheit des katholischen Erziehungsmilieus
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testantischer Schulen eine Gruppe von Frauen aus der Oberschicht dazu, sich in einem katholischen Frauenverband (Asociación Católica de Señoras) zusammenzuschließen, dessen Zweck wesentlich in der Gründung und dem Unterhalt religiöser Volksschulen bestand. Schon 1870 unterhielt die zu diesem Zeitpunkt mehr als 200 Mitglieder zählende Vereinigung 17 Jungen- und Mädchenschulen in der Stadt.4 Neben dem neuen missionarischen Interesse der Kirche an Bildungsfragen hatte der rapide Aufschwung der Ordensschulen eine wichtige Ursache in der Schwäche des öffentlichen Schulwesens, das den neuen Bildungsanforderungen der urbanen Mittelschichten und der Industrie nicht gewachsen war. Obwohl 1857 die allgemeine Schulpflicht in Spanien eingeführt worden war, boten die kostenlosen Volksschulen in Madrid nicht nur eine angesichts einer schnell wachsenden Kinderpopulation völlig unzureichende Zahl an Plätzen an, sondern galten bis weit in das 20. Jahrhundert hinein als vornehmlich karitative Einrichtungen für all diejenigen, die sich weder Hauslehrer noch die Gebühren für eine der kleinen Privatakademien leisten konnten.5 Die Lage im Bereich der Sekundarschulen war ähnlich deprimierend. Es existierten in der mehrere hunderttausend Einwohner zählenden Hauptstadt nur zwei vollständig überfüllte Institutos, also staatliche Einrichtungen im Sekundarbereich. Es war das katholische Schulwesen, das von den Defiziten der öffentlichen Einrichtungen profitierte und große Teile der Mittelschicht als Bildungskunden zu rekrutieren verstand. Bis in die 1930er Jahre hinein expandierte es deutlich schneller als das öffentliche Schulsystem, obwohl liberale Regierungen seit 1900 immer wieder versuchten seiner Entfaltung Einhalt zu gebieten. Während die allgemeine Entwicklungsrichtung eindeutig ist und den Zeitgenossen klar vor Augen stand, fällt es schwer, den katholischen Einfluss quantitativ exakt zu bestimmen. Statistische Erhebungen blieben angesichts einer chronisch unterbesetzten zentralstaatlichen Bildungsverwaltung, der Vielzahl unterschiedlicher, weitgehend autonom handelnder religiöser Orden und einer fehlenden katholischen Koordinierungsinstanz bis zum Bürgerkrieg notorisch unzuverlässig und unvollständig. Zudem verfolgte die Präsentation von Schülerzahlen in der Presse in der Regel deutlich politische Interessen; sei es, um den Beitrag des katholischen Schulwesens zur nationalen Bildung positiv zu betonen oder als Gefahr drastisch zu schildern; sei es, um diesen Beitrag nach Gründung der Republik 1931 herunterzuspielen und dadurch die Möglichkeit einer raschen Säkularisation des Bildungswesen zu belegen. Schließlich erschwert die Einteilung der offiziellen Statistiken, die oft nicht zwischen katholischen und anderen Privatschulen, Ordensschulen und
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Manuel Revuelta González, Las Escuelas de la Asociación Católica de Señoras de Madrid, in: Julio Ruiz Berrio (Hrsg.), La Educación en la España Contemporánea. Cuestiones Históricas, Madrid 1985, S. 105–14. Siehe: Pozo Andrés, Desde las Escuelas.
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sonstigen katholischen Schulen unterschieden, eine quantitative Analyse.6 Ein Beleg für die Unzuverlässigkeit statistischer Angaben ist die oft zitierte Äußerung des kirchenkritischen liberalen Bildungsministers Romanones von 1902, nach der 80 Prozent des Bildungswesens in kirchlichen Händen gelegen habe. Dies erscheint deutlich übertrieben. Romanones schlug anscheinend pauschal auch diejenigen Staatsschulen, in denen die Kirche eine geistliche Aufsicht ausübte, zum kirchlichen Machtbereich hinzu. Allerdings beschrieb seine Beobachtung, dass die „öffentlichen Klassenräume verwaisen, während die Privatschulen in außerordentlicher Weise ihre Schülerzahlen erhöhen“, die statistisch nachvollziehbare Entwicklung in der Tendenz zutreffend.7 Trotz der schlechten Datenlage können einige Aussagen getroffen werden. Zunächst lässt sich anhand der Angaben einzelner Bildungsorden und Schulen der Expansionsprozess in Ausschnitten nachvollziehen. Die Piaristen, einer der ältesten in Spanien tätigen Erziehungsorden, hatten 1858 knapp 11 000 Schüler unterrichtet. Nach einer ersten Expansionswelle steigerte sich diese Zahl bis 1891 auf 14 800 Schüler in 41 Schulen. 1913 unterhielt der Orden dann 55 Zentren mit 20 800 Schülern und 1931 sogar 74 Schulen mit 30 800 Schülern.8 In Madrid vermehrten die beiden Piaristenschulen ihre Schülerzahl in einem solchen Maße – allein das Kolleg San Antón verdoppelte zwischen 1913 und 1921 seine Schülerzahl von 1 060 auf 2 000 – dass der Orden den Neubau eines Kollegs im vornehmen Wohnviertel Salamanca beschloss. Auch die neue, 1922 eingeweihte Einrichtung sah sich sofort einer großen Nachfrage ausgesetzt und stockte bald ihre Schülerzahl rasch von 700 auf mehr als 1 000 Schüler auf.9 Die Jesuiten betrieben zum Zeitpunkt ihrer erzwungenen Auflösung Anfang 1932 in Spanien 20 weiterführende Kollegs, an denen sie 6 698 Schüler unterrichteten.10 Insgesamt existierten in Spanien Anfang der 1930er Jahre über 6 000 katholische Privatschulen. Eine verlässlich erscheinende staatliche Schulstatistik von 1927 zählte 6 311 katholische Privatschulen, und viele Hinweise deuten darauf hin, dass das katholische 6
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Der katholische Schulführer aus dem Jahr 1935 sah sich angesichts der Erhebungsprobleme bezeichnenderweise außer Stande, auch nur einen annähernden statistischen Überblick über das katholische Bildungswesen zu geben: Estadística, in: Anuario de Educación y Enseñanza Católica en España 1935/36, Madrid 1935, S. 5. Teódula García Regidor, La Polémica sobre la Secularización de la Enseñanza en España (1902–1914), Madrid 1985, S. 81. Siehe auch Tilman Tobias Klinge, Katholizismus und konservative Politik in Spanien bis zum Bürgerkrieg (1812–1936). Die geistigen Wurzeln der CEDA und ihre Ausrichtung angesichts der Herausforderungen der 30er Jahre, Heidelberg 1998, S. 71. Faubell, Ordenes, S. 371; En España se educan 130 748 alumnos en Colegios religiosos, Hijos del Pueblo, 29.10.1931. Estadística: Las Escuelas Pías en Madrid, Revista Calasancia (RC) 1 (1913); Fiesta Escolar, RC 9 (1921); Colegio de Nuestra Señora de las Escuelas Pías in Madrid-Salamanca, RC 10 (1922). Enrique Lull Martí, Los jesuitas ante la incautación de sus colegios por la II República. La alternativa de las academias, in: Miscelánea Comillas 52 (1994), S. 139–63, hier S. 141.
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Schulwesen trotz der antiklerikalen Bildungspolitik in der Zweiten Republik eher weiter wuchs als schrumpfte.11 Der Einfluss der Kirche war im Sekundarbereich weitaus größer als im Primarbereich. Die offizielle Schulstatistik von 1908, die allgemein das katholische Gewicht aus den genannten Gründen unterschätzt haben dürfte, stellte den 24 861 öffentlichen Volksschulen mit 1,2 Millionen Schülern 5 212 private Primarschulen gegenüber, die etwa 300 000 Kinder unterrichteten. Fast alle dieser Privatschulen (5 014) lagen zu diesem Zeitpunkt in katholischer Trägerschaft.12 Bis in die 1930er Jahre veränderte sich die Gewichtung wenig. Im Jahr 1933 zählte die neue links-republikanische Regierung unter Manuel Azaña 350 000 Primarschüler an 3 851 katholischen Schulen, denen 1,5 Millionen Schüler an öffentlichen Volksschulen gegenüberstanden. 13 Diese Einschätzung erscheint recht zutreffend, zumindest nannte die katholische Presse, die oft eine Untertreibung der Zahlen durch die republikanische Regierung beklagte, keine höheren Zahlen. In einer – allerdings auf unvollständigen Unterlagen beruhenden und nur Jungenschulen berücksichtigenden – Erhebung zählte sie etwa 100 000 männliche Schüler an katholischen Grundschulen. Die gut informierte Zeitschrift Atenas kam Ende 1932 zu dem Ergebnis, dass alleine die drei wichtigsten Männerorden 91 651 Jungen unterrichteten, während die fünf wichtigsten Frauenorden 145 746 Mädchen an Grundschulen erzogen.14 In Hinblick auf die weiterführenden Schulen waren die religiösen Einrichtungen den öffentlichen dagegen numerisch deutlich überlegen. Im Schuljahr 1909/10 existierten in Spanien 58 staatliche Institutos, denen 263 an den Instituten angemeldete religiöse Colegios gegenüberstanden. Allerdings war der Anteil der „freien“, das heißt in Eigenregie lernenden Sekundarschüler an der Zahl der Privatschüler in diesem Jahr noch sehr hoch, so dass sich kein aussagekräftiger Vergleich der Schülerzahlen öffentlicher und katholischer Einrichtungen anstellen lässt.15 Genauere, allerdings ebenfalls unzuverlässige Angaben existieren für die frühen 1930er Jahre. Im Jahre 1933 zählte die staatliche Bildungsverwaltung 295 katholische Sekundarschulen, die 20 700 Schüler unterrichteten, deutlich weniger als die errechneten 26 300 Schüler, 11
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Die katholischen Schulen machten 1927 98 Prozent aller Privatschulen aus: Maestros laicos en las escuelas oficiales, in: Atenas 28, 15.3.1933. Die Kirche selbst erfasste gegen Ende der Republik, im Jahr 1935, insgesamt 1 519 katholische Schulen unterschiedlichen Typs, davon 665 Jungen- und 854 Mädchenschulen. Diese Zahl war jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach deutlich zu klein: Viñao, Escuela, S. 207. García Regidor, Polémica, S. 81. Acta de la Sesión Celebrada por la Comisión de Justicia, 27.4.1933, ACD, Comisión de Justicia 481/43. En España se educan 130 748 alumnos en Colegios religiosos, Hijos del Pueblo, 29.10.1931; Hispánicus, En torno al Ministerio de Instrucción Pública, Atenas 25, 15.12.1932. García Regidor, Polémica, S. 81.
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die an öffentlichen weiterführenden Schulen eingeschrieben waren. Lokale Fallstudien zeigen jedoch, dass das Bildungsministerium keineswegs alle katholischen Schulen erfasste. Die katholische Presse setzte die Zahlen wohl zu Recht sehr viel höher an. Allein die Schülerzahl auf katholischen weiterführenden Jungenschulen gab sie – auf unvollständiger Quellenbasis – mit 25 300 an, die Zahl der unterrichteten Mädchen dürfte etwa in der gleichen Größenordnung gelegen haben.16 Es ist deshalb insgesamt davon auszugehen, dass die Kirche ungefähr ein Viertel der Primarschüler, aber zwei Drittel der Sekundarschüler Spaniens unterrichtete. Die Bedeutung katholischer Bildung gerade für die spanischen Mittelschichten wird noch deutlicher, behält man im Auge, dass die katholischen Schulen kaum auf dem Land, dagegen überproportional in den industriell geprägten Regionen und in den Städten zu finden waren. Der katholische Schulführer für das Jahr 1934/35 listet allein für Madrid 156 Grundschulen und 89 weiterführende Schulen auf.17 Ende November 1932 kalkulierte der Dachverband katholischer Bildungseinrichtungen, dass katholische Schulen in der spanischen Hauptstadt zwei Drittel aller 146 000 Primarschüler der Stadt unterrichteten. Die Schulen würden dabei zur Hälfte von religiösen Orden, zur anderen Hälfte von anderen katholischen Organisationen getragen.18 Eine andere Aufstellung kam Anfang 1933 zu dem Schluss, dass in Madrid 37 000 Kinder auf öffentliche Schulen gingen und 51 000 auf Ordensschulen, während 47 000 keinen Schulplatz besäßen. Ein anderer Beobachter kalkulierte im Sommer 1936 gar, dass 60 000 Madrider Kinder ein religiöses Kolleg besuchten.19 Der Expansionsprozess lässt sich noch weiter differenzieren. Bemerkenswert ist, dass nicht so sehr die Orden mit einer langen Geschichte wie etwa die Jesuiten, Augustiner und Dominikaner die Ausweitung vorantrieben, sondern eine Vielzahl neuer Orden und Kongregationen, die erst im 19. Jahrhundert gegründet worden waren. Die selbst für den kenntnisreichen zeitgenössischen Beobachter verwirrende Vielzahl von Orden, wie sie sich in nochmals gesteigertem Maße in der Mädchenbildung fand, war das Ergebnis eines von der Kirche kaum kontrollierten wahrhaften Gründungsfiebers von religiö16 17 18 19
Ebd., Frances Lannon, Privilege, Persecution, and Prophecy. The Catholic Church in Spain, 1875–1975, Oxford 1987, S. 78. Berechnung des Autors nach: Curso 1934–1935, in: Anuario de Educación y Enseñanza Católica en España 1934/35, Madrid 1934, S. 2–6. Ley de Congregaciones religiosas, in: Atenas 25, 15.12.1932. Hispánicus, En torno al Ministerio de Instrucción Pública, Atenas 27, 15.2.1933; De Enseñanza Primaria: Del Momento, Atenas 63, Juli 1936. Die linksliberale Zeitschrift Crónica stellte 1936 für Barcelona ganz ähnliche Relationen fest. Nach ihren Angaben gingen von den insgesamt 185 150 schulpflichtigen Kinder der Stadt 33 772 Kinder auf öffentliche Schulen, 95 160 auf Privatschulen, darunter mindestens 35 354 auf Ordensschulen, während 57 218 Kinder keine Schule besuchten. Es ist anzunehmen, dass Crónica die Zahl der Schüler katholischer Einrichtungen deutlich zu gering einschätzte: En Barcelona hay 50.000 niños sin escuela, Crónica 5.4.1936.
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sen Bildungsorden zwischen dem frühen 19. und frühen 20. Jahrhundert. Um charismatische Gründerpersönlichkeiten, wie sie in Spanien etwa Jaime Balmes (1810–1848) und Antonio María Claret (1807–1870) darstellten, sammelten sich Gruppen religiös motivierter Männer und Frauen, die die Bildung und Erziehung Heranwachsender zu ihrer Lebensmission machten und durch Schulgeld sowie die Zuwendungen reicher Sponsoren ihren Lebensunterhalt bestritten.20 Wiederkehrende Anstrengungen liberaler Regierungen nach 1900, die Zahl der Bildungsorden zu begrenzen und sie staatlicher Aufsicht zu unterwerfen, scheiterten am massiven katholischen Widerstand. Das katholische Bildungswesen des 20. Jahrhunderts war somit ein historisch junges und dynamisches Phänomen, das kaum von der Kirchenführung, geschweige denn vom Staat kontrolliert oder auch nur gelenkt werden konnte. Die rasche Ausbreitung der religiösen Bildungsorden hatte nun zwei wichtige Folgen. Auf der einen Seite schürte sie Ängste der liberalen Öffentlichkeit vor einer geräuschlosen Vergrößerung kirchlicher Macht und rief antiklerikale Abwehrreaktionen hervor. Auf der anderen Seite stieß sie aber auch Überlegungen auf Seite kirchennaher Intellektueller an, den unkontrollierten Ausbau organisatorisch und ideologisch zu integrieren und damit die politische Schlagkraft katholischer Bildung zu erhöhen.
1.2 Liberale Bildungspolitik und antiklerikale Herausforderung Die Eröffnung immer neuer Schulen unter dem Dach der Kirche beunruhigte liberale Intellektuelle am Ausgang des 19. Jahrhunderts sehr. Sie interpretierten sie als Teil eines umfassenden katholisch-restaurativen roll back nach dem Zusammenbruch der Ersten Republik im Dezember 1874. Die Ausweitung des privaten Schulwesens war für die Liberalen ein besonderes Politikum, da sie sich nach der Niederschlagung der Ersten Republik vor allem von einer umfassenden Bildung und Aufklärung der Bevölkerung eine politische Überwindung der ungeliebten Restaurationsmonarchie und eine gesellschaftliche Erneuerung versprachen. Im pseudodemokratischen turnoSystem des Restaurationsregimes, das einen periodischen Machtwechsel konservativer und liberaler Oligarchien nach festem Muster vorsah und dadurch echte politische Alternativen de facto nicht zuließ, avancierte Bildung zu einem Feld alternativer Politik.21 Seit ihrer Gründung im Jahr 1876 bildete 20
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Buenaventura Delgado Criado, Pedagogos Cristianos y sus Escritos sobre Educación, in: Bernabé Bartolomé Martínez (Hrsg.), Historia de la Acción Educadora de la Iglesia en España, Madrid 1995, S. 99–127, hier S. 103–112. Vgl. auch Curtis, Educating, S. 83f. Die Forschung zu den Bildungsdebatten und ihren politischen Ergebnissen ist sehr umfangreich. Die konziseste Darstellung findet sich in Boyd, Historia Patria. Vgl. als neuere,
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die einflussreiche Institución Libre de Enseñanza (Freie Bildungsinstitution, ILE) die intellektuelle Schaltzentrale liberaler Gesellschaftsreform, in der regimekritische Intellektuelle unter der Leitung von Francisco Giner de los Ríos eine Vielzahl von Bildungsreformprojekten entwarfen.22 Der Ausbau der katholischen Schulen betraf einen Kernbereich progressiver Politik und löste eine intensive politische Gegenmobilisierung aus. Seit den 1880er Jahren gelang es den Intellektuellen der ILE, wichtige Politiker der Liberalen Partei von ihren Reformplänen zu überzeugen und allmählich Einfluss in der Bildungsadministration zu gewinnen.23 Die Krise von 1898 im Anschluss an die Kriegsniederlage gegen die USA und den Verlust von Kuba, Puerto Rico und den Philippinen als letzten überseeischen Kolonien stärkte zunächst den liberalen Einfluss. Das militärische Fiasko von 1898 katapultierte die Debatten um Bildung und Religion in den Mittelpunkt intensiver Auseinandersetzungen über spanische Dekadenz und Möglichkeiten nationaler Regeneration. Weit über kleine intellektuelle Elitenzirkel hinausrückten Fragen von Bildung und Erziehung zu Dauerthemen der öffentlichen Debatten auf. Zeitgenossen notierten, dass „niemals zuvor so viel über Pädagogik geschrieben und gesprochen worden ist: in den Zeitungen jeder Art (inklusive der Tageszeitungen), in Büchern, in den Parlamenten, in den Parteiprogrammen und politischen Versammlungen, in den Ateneos und anderen wissenschaftlichen und literarischen Gesellschaften, ja sogar in den Verbänden der Kaufleute, Industriellen und Arbeiter“.24 Die liberalen Re-
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zumeist sehr eng an der Bildungsgesetzgebung entlang argumentierende Überblickswerke: Viñao Frago, Escuela (ein eher systematischer als historischer Überblick); Escolano Benito, Educación; Ders., Historia Ilustrada; Ders./Rogério Fernandes (Hrsg.), Los Caminos hacia la Modernidad Educativa en España y Portugal (1800–1975), Zamora 1997; Fernández Soria, Estado; Jean-Louis Guereña u. a. (Hrsg.), Historia de la Educación en la España Contemporánea. Diez Años de Investigación, Madrid 1994; Alfonso Capitán Díaz, Historia de la Educación en España, Bd. 2: Pedagogía Contemporánea, Madrid 1994. Zur oft mythisch verklärten Geschichte der Institución vgl. nur als neuere Arbeiten: Molero Pintado, Institución. Als umfangreiche Materialsammlung: Antonio Jiménez-Landi, La Institución Libre de Enseñanza y su Ambiente (4 Bde.), Madrid 1996. Auf deutsch: Franziska Schichtl, La Institución Libre de Enseñanza (1876–1936). Eine spanische Bildungseinrichtung zur Erneuerung der Pädagogik und ihre Auswirkungen auf das heutige spanische Schulsystem. Phil. Diss., Frankfurt 1991. Escolano, Educación, S. 96f. Zitat: P. de Alcántara García, Caracteres generales de la Pedagogía contemporánea, La Escuela Moderna (EM) 107, Februar 1900. Zur Krise von 1898 und Regenerationismus siehe als aktuellen Überblick: Ramón Villares und Javier Moreno Luzón, Restauración y Dictadura (Historia de España, Bd. 7), Barcelona 2009. Zur neueren Forschung siehe: Vicente L. Salavert Fabiani /Manuel Suárez Cortina, El Regeneracionismo en España. Política, Educación, Ciencia y Sociedad, Valencia 2007; Mercedes Cabrera/Javier Moreno Luzón, Regeneracíon y Reforma. España a Comienzos del Siglo XX, Madrid 2002; Joseph Harrison (Hrsg.), Spain’s 1898 Crisis. Regenerationism, Modernism, Postcolonialism, Manchester 2000; Pedro Laín Entralgo/Carlos Seco Serrano, (Hrsg.), España en 1898. Las Claves del Desastre, Barcelona 1998. Mit einem weiteren Blickwinkel: Juan Pan-Mon-
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former erhielten nach 1898 erstmals breitere Unterstützung von Teilen der Lehrerschaft und der städtischen Öffentlichkeiten.25 Der Druck einer sich neu formierenden städtischen Öffentlichkeit bewegte die politischen Eliten zu einer aktiveren Bildungspolitik. Nach der Gründung eines eigenständigen nationalen Bildungsministeriums im Jahr 1900 waren es vor allem liberale Regierungen, die in verschiedenen Etappen zwischen 1901 und 1913 auf eine Verbesserung und Ausweitung des öffentlichen Schulsystems, eine Reform der Lehrerbildung und eine pädagogische Neuausrichtung der Unterrichtsmethoden drängten. Die öffentlichen Bildungsanstalten sollten von karitativen Einrichtungen für die Unterschichten zu leistungsstarken modernen Bildungsstätten für alle Spanier werden. Mehrklassige Volksschulen, sogenannte escuelas graduadas sollten die dominierenden einklassigen Klein- und Kleinstschulen ablösen und die Lehrer besser als bisher pädagogischer Aufsicht unterstellen.26 Neben der Stärkung des öffentlichen Bildungswesens bildete die Zurückdrängung kirchlicher Bildung den zweiten Strang liberaler Reformpolitik. Eine Erneuerung des öffentlichen Schulsystems konnte ihrer Meinung nach nur gelingen, wenn zuvor die Macht der religiösen Orden gebrochen würde. Beides erschien als die zwei Seiten derselben Medaille.27 Die Reformer kämpften gegen die kirchlichen Rechte, wie sie in den 1850er Jahren als Ergebnis eines historischen Kompromisses zwischen gemäßigten Liberalen und katholischer Kirche festgelegt worden waren. Nach dem Vorbild des Konkordats von 1851 hatte das sogenannte Ley Moyano im Jahr 1857 einen Interessenausgleich zwischen den liberalen Befürwortern eines staatlichen Bildungsmonopols und der Kirche unternommen. Das Gesetz, das bis 1931 fast unverändert in Kraft blieb, gliederte und vereinheitlichte das Bildungswesen unter staatlicher Leitung, gewährte der Kirche aber als Ausgleich für die Akzeptanz staatlicher
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tojo/José Álvarez Junco, Más se Perdió en Cuba. España, 1898 y la Crisis de Fin de Siglo, Madrid 1998; Sebastian Balfour, The End of the Spanish Empire 1898–1923, Oxford 1997; Ders., Riot, Regeneration and Reaction. Spain in the Aftermath of the 1898 Disaster, in: Historical Journal 38 (1995), S. 405–23. Der gesellschaftliche Resonanzboden der Bildungsdebatten ist noch kaum erforscht. Für die liberal gesinnten Lehrer siehe aber die vorzügliche Skizze: María del Mar del Pozo Andrés, Los Educadores ante el „Problema de España“. Reflexiones sobre su Papel en la Construcción de la Identidad Nacional, in: Vicente L. Salavert Fabiani/Manuel Suárez Cortina (Hrsg.), El Regeneracionismo en España, Valencia 2007, S. 125–64. Zu den einzelnen Maßnahmen siehe: Boyd, Historia, S. 44–53; Mariano Yela, Las Ciencias: I. Las Ciencias Humanas: Psicología, Sociología, Pedagogía, in: Ramón Menéndez Pidal (Hrsg.), Historia de España, Bd. 39/II: La Edad de Plata de la Cultura Española (1898–1936), Madrid 1996, S. 255–307, hier S. 288–302; Pedro Cuesta Escudero, La Escuela en la Reestructuración de la Sociedad Española (1900–1923), Madrid 1994, S. 95– 97; Mayordomo Pérez, Regeneracionismo, S. 177. Als Fallstudie zu Madrid Pozo Andrés, Desde las Escuelas. Zur langwierigen Durchsetzung der escuelas graduadas siehe: Dies., Urbanismo. Zu den liberalen Ängsten als wichtigen Motor der Reforminitiativen: García Regidor, Polémica, S. 82f.; Ruíz de Azúa, Enseñanza, S. 576.
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Oberhoheit über Bildungstitel umfassende Rechte in der Schulaufsicht sowie in allen Fragen der Moral- und Religionserziehung. Zudem gestand der Staat ihr zu, eigene katholische Schulen zu unterhalten.28 Nach 1898 verstärkte sich der antiklerikale Grundzug liberaler Reform. Liberale Politiker hielten die Zeit für gekommen, offensiv gegen den kirchlichen Einfluss in den Schulen vorzugehen und das gesamte Schulwesen staatlicher Aufsicht zu unterstellen. Vorbild war die radikal-laizistische Bildungspolitik der französischen Dritten Republik, die 1903/04, die Ordensschulen schloss und die Ordenslehrer aus Frankreich vertrieb.29 Beeindruckt von diesen Maßnahmen versuchten die spanischen Liberalen die Zahl der katholischen Bildungsorden gesetzlich zu begrenzen, ihr Bildungspersonal zur Ablage staatlicher Examen und zur Verwendung staatlich genehmigter Lehrbücher zu verpflichten sowie eine staatliche Inspektion aller Privatschulen durchzusetzen. Durch die Abschaffung der kirchlichen Aufsicht über die öffentlichen Schulen und des obligatorischen Religionsunterrichts sollten zudem Religion und Schule deutlich voneinander getrennt werden.30 Die katholische Bildungsbewegung geriet jedoch nicht nur aus den Madrider Ministerien und progressiven Intellektuellenzirkeln unter Beschuss. In der katholischen Wahrnehmung fast noch bedrohlicher erschien die Zunahme antiklerikaler Übergriffe auf Schulgebäude und Lehrpersonal. Teile der Unterschichten und der kirchenfernen Mittelschichten machten Kirche und Klerus für das Desaster von 1898 verantwortlich und attackierten sie als Stützen einer unmoralischen politischen Ordnung. Schon vor 1900 war der Antiklerikalismus fester Bestandteil populärer urbaner Kultur gewesen, doch nach der Jahrhundertwende häuften sich Zusammenstöße zwischen Kirchengegnern und befürwortern. Ihren Höhepunkt fanden diese Ausschreitungen in der sogenannten „Tragischen Woche“ in Barcelona im Juli 1909, in der Protestierende im Laufe mehrerer Tage zahllose Ordensgebäude und Schulen niederbrannten. Obwohl ihnen antiklerikale Gewalt keineswegs unbekannt war, verblüffte und beängstigte die katholischen Intellektuellen doch die Intensität der Kirchenfeindschaft.31 28
29
30 31
Als prägnante Einordnung des Gesetzes: Boyd, Historia, S. 3f. Ausführlich zur Vorgeschichte: Manuel de Puelles Benítez, Estado y Educación en la España Liberal (1809– 1857). Un Sistema Educativo Frustrado, Barcelona 2004; Escolano Benito, Educación, S. 17–60; Capitán Díaz, Historia, S. 17–108. Manuel de Puelles Benítez, Secularización y Enseñanza en España (1874–1917), in: José Luis García Delgado (Hrsg.), España entre dos Siglos (1875–1931). Continuidad y Cambio, Madrid 1991, S. 191–213; José Álvarez Junco, Education and the Limits of Liberalism, in: Jo Labanyi/Helen Graham (Hrsg.), Spanish Cultural Studies. An Introduction, Oxford 1995, S. 45–52. Als Übersicht über die einzelnen Maßnahmen siehe Cuesta Escudero, Escuela, S. 61–91; García Regidor, Polémica, S. 245–51. Die immer noch beste Beschreibung der Unruhen in Barcelona ist: Joan Connelly Ullman, The Tragic Week. A Study of Anticlericalism in Spain, 1875–1912, Cambridge/Mass. 1968. Zur Wahrnehmung katholischer Intellektueller: Delgado Criado, Pedagogos, S. 122.
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Trotz der Unterstützung durch Straßenproteste und Teile der Lehrerschaft konnten die liberalen Reformer nur wenige ihrer Projekte umsetzen. Lediglich in der Neugestaltung der Lehrerbildung errangen sie einige Erfolge. Demgegenüber scheiterten sie fast vollständig in der Einhegung katholischer Bildung. Weder gelang es den liberalen Regierungen, das Wachstum der katholischen Privatschulen zu bremsen, noch den Religionsunterricht an den Volksschulen zu reformieren oder gar gänzlich aus den Schulen zu verbannen. Besonders augenfällig trat das liberale Versagen in dem frühen Scheitern einer von einer aufwendigen Öffentlichkeitsarbeit begleiteten Gesetzeskampagne zur Reform des in den Grundschulen gelehrten Katechismus im Frühjahr 1913 zu Tage. Selbst auf kommunaler Ebene und in Hochburgen der Kirchenkritik konnte die Kirche die Säkularisierungsmaßnahmen weitgehend abwehren. So trat ein vom Stadtrat von Barcelona 1908 verabschiedetes kommunales Bildungsgesetz, das neben einem Ausbau der Arbeiterbildung eine Säkularisierung der städtischen Schulen vorsah, nicht in Kraft, da der zuständige Zivilgouverneur es auf Druck der konservativen Regierung in Madrid aufhob.32 Das Scheitern der liberalen Bildungspolitik vor dem Ersten Weltkrieg hatte viele Gründe. Neben dem erbitterten Widerstand von konservativer Partei und Kirche und fehlenden finanziellen Mitteln erschwerte der häufige Regierungswechsel eine kontinuierliche reformorientierte Politik. Hinzu trat die geringe gesellschaftliche Verankerung der liberalen Eliten, die zwar erheblichen Einfluss auf die Spitzen der Bildungsadministration ausübten, aber kaum über kohärenten gesellschaftlichen Rückhalt jenseits allgemeiner antiklerikaler Ressentiments verfügten. Allein in den Großstädten fanden ihre Initiativen einen gewissen Resonanzboden. Nur hier erfolgte ein nennenswerter Ausbau des öffentlichen Schulwesens.33 Nach 1900 bildete sich eine Pattsituation heraus, die die spanische Bildungspolitik bis zum Bürgerkrieg prägen sollte. Das Versanden der ehrgeizigen progressiven Reformen darf aber nicht dazu führen, ihren Einfluss auf die katholischen Bildungsdiskussionen gering zu schätzen. Im Gegenteil, die liberalen Attacken bildeten eine wesentliche Ursache für eine Erneuerung katholischer Bildung.
1.3 Katholische Reformer und Hindernisse im Aufbau einer politischen Bildungsbewegung Der Auf- und Ausbau eines katholischen Bildungswesens katapultierte die Kirche in die Position des wichtigsten Bildungsanbieters der spanischen Mittel- und Oberschichten. Doch diese Vormachtstellung kontrastierte zur Jahrhundertwende in auffälliger Weise mit ihrer marginalen Rolle in den 32 33
Cuesta Escudero, Escuela, S. 87–91; García Regidor, Polémica, S. 289–292. Zusammenfassend: Boyd, Historia, S. 59–62. Zu Madrid Pozo Andrés, Urbanismo.
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pädagogischen Fachdebatten und dem Fehlen einer institutionalisierten Interessenvertretung. Der spanische Katholizismus befand sich im Erziehungsfeld intellektuell eindeutig in der Defensive. Die Kirche besaß weder eigene pädagogische Einrichtungen noch Zeitschriften, mit denen sie den liberalen Ideen hätte Paroli bieten und eine katholische Bildungsöffentlichkeit hätte integrieren können. Eine Zusammenarbeit über die Grenzen der religiösen Orden und spanischen Provinzen hinweg fand kaum statt. Erst nach der Jahrhundertwende änderte sich das Bild. Ein erstes Zeichen dafür ist eine publizistische Offensive gegen die liberale Bildungspolitik in den katholischen Medien. Während liberale Kreise im Einfluss der Kirche auf das Bildungssystem das wesentliche Hindernis einer zeitgemäßen Modernisierung Spaniens sahen, erblickte die katholische Publizistik umgekehrt gerade in der Rückbesinnung auf die religiösen Bildungstraditionen der Frühen Neuzeit die unumgängliche Voraussetzung für den Wiederaufstieg Spaniens aus den Trümmern eines gescheiterten Liberalismus. So vehement wie eintönig argumentierten katholische Intellektuelle in den Jahren und Jahrzehnten nach 1898 gegen die öffentliche Schule als staatliche Zwangsschule, für die Vorrechte der Kirche im Bildungsbereich und für das Recht der Eltern auf freie Schulwahl.34 Die historische Forschung hat die rhetorische Radikalisierung bisher vor allem als Einigelung der spanischen Katholiken in eine traditionalistische Trutzburg interpretiert. Diese These erweist sich jedoch als unzutreffend. Jenseits der gleichbleibenden politischen Forderungen lassen sich bedeutende organisatorische und konzeptionelle Reformbewegungen erkennen, die zunächst zwar kaum Durchschlagkraft entfalteten, bis 1930 aber die katholische Bildung und Erziehung auf eine neue Grundlage stellten.35 In Reaktion auf den antiklerikalen Druck und in Konkurrenz zu der liberalen Bildungsreformbewegung schufen katholische Reformer allmählich die institutionellen Grundlagen eines kohärenten, organisationsübergreifenden katholischen Bildungsmilieus, das vorher nicht existiert hatte. In einem konfliktreichen Prozess brach die Mehrheit der katholischen Bildungselite langsam mit der Vorstellung, durch die Hilfe von kirchenfreundlichen Regierungen und den etablierten allgemeinen Machtmitteln der Bildungsverwaltung, wie sie die Lehrerausbildung, Schulkommissionen und Schulinspektion darstellten, katholische Erziehungsvorstellungen durchsetzen zu können. Vielmehr wuchs die Zahl derjenigen Intellektuellen, welche die Gründung eigener, spezifisch katholischer Institutionen und Verbände für unausweichlich hielten, um 34
35
Zu den Grundzügen der Argumentation siehe etwa Ramón Ruíz Amado, La Iglesia Católica y la Libertad de Ensenanza, in: Razón y Fe (RyF) 7, 1903, S. 300–13. Vgl. auch Lannon, Privilege, S. 45. Carolyn Boyd schenkt als eine von wenigen Forschern Neuansätzen katholischer Bildung Beachtung, gesteht ihnen aber keine übergreifende praktische Relevanz zu: Boyd, Historia, S. 62f.; 99–121.
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den katholischen Einfluss im Bildungsbereich auszubauen. Sie verabschiedeten sich damit implizit von der Konzeption einer homogen katholischen Staats- und Gesellschaftsordnung und akzeptierten in ihrem politischen Handeln – nicht in ihrem Denken – die Bedingungen einer pluralen Gesellschaft. Eine Abwehr liberaler Bildungsideen, so ihre Einsicht, konnte nicht länger erfolgversprechend alleine „von oben“, durch die Besetzung von Staat und Bildungsverwaltungen, erfolgen. Mindestens ebenso wichtig war die Politik „von unten“, die Mobilisierung von Lehrern, Eltern und Öffentlichkeit für die katholischen Ziele und die intellektuelle Auseinandersetzung mit den liberalen Reformern auf Augenhöhe. Vor 1900 sprach aus katholischer Sicht wenig für einen engeren Zusammenschluss der konfessionellen Schulen und Pädagogen. Der erfolgreiche Ausbau des katholischen Schulsystems und die Protektion durch große Teile des Bürgertums, industrielle Eliten und der Konservativen Partei schienen ein engeres Bündnis überflüssig zu machen, zumal sich, wie beschrieben, in der Expansion gerade die Vielfalt der Bildungsinitiativen als Stärke erwiesen hatte. Die Orden sprachen in der Regel unterschiedliche Zielgruppen an und boten je unterschiedliche Bildungsprogramme an. Auch die Konkurrenzsituation der religiösen Gemeinschaften auf dem Bildungsmarkt stand einer bildungspolitischen Zusammenarbeit im Wege. Hinzu trat der Umstand, dass die Orden in sehr unterschiedliche Organisationstraditionen sowie weitgehend getrennte internationale Netzwerke eingebunden waren und ihr Lehrpersonal aus unterschiedlichen sozialen Schichten und oft auch Ländern stammte. Die Ordensmitglieder kommunizierten mehr über Nationsgrenzen hinweg innerhalb ihrer Gemeinschaften als über Ordensgrenzen hinweg auf nationaler Ebene. Sie glichen in vielem transnational operierenden Unternehmen.36 Ein gegenseitiges argwöhnisches und eifersüchtiges Beäugen bestimmte die Kontakte zwischen den Erziehungsorden weit mehr als Kooperation und Vernetzung. Die Revista Calasancia der Piaristen, die sich in den 1920er Jahren für eine Zusammenarbeit der Orden einsetzte, klagte 1924 unter Bezug auf die katholischen Bildungsorganisationen: „Wir kennen uns nicht, wir wissen nicht, wer wir sind und was wir können“. In ähnlicher Weise kritisierte fünf Jahre später der prominente Marianist und Reformer Domingo Lázaro (1877–1935) „das gegenseitige Misstrauen zwischen den Orden“.37 Nach 1900 mehrte sich die innerkatholische Kritik an diesem Zustand, und Rufe nach organisatorischer Erneuerung wurden lauter. Eine neue Generation von Erziehern kritisierte, dass der rasche Ausbau katholischer Bildungsein36
37
Vgl. die vielfältigen Hinweise in Enrique Lull Martí, Jesuitas y Pedagogía: El Colegio San José en la Valencia de los años veinte, Madrid 1997; José María Salvaverri, Domingo Lázaro (1877–1935). Un Educador entre dos Grandes Crisis de España, Madrid 2003. El primer Congreso Nacional de Educación Católica, RC 12 (1924); Domingo Lázaro an Michael Schleich, 18.3.1929, zit. nach Salvaverri, Lázaro, S. 241.
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richtungen entgegen den hochgesteckten Hoffnungen die Säkularisierung der spanischen Gesellschaft keineswegs gestoppt habe. Die Selbstzufriedenheit mit der katholischen Bildungsexpansion habe den intellektuellen und organisatorischen Rückstand gegenüber den laizistischen Reformprojekten im Gegenteil weiter vergrößert. Der wichtige Reformer Domingo Lázaro verwies in seinen Schriften immer wieder auf eine „galoppierende Entchristlichung“ Spaniens und die unter Katholiken verbreitete „Illusion eines katholischen Spaniens“, um seinen Reformplänen Nachdruck zu verleihen.38 Argumentative Munition erhielten die Erneuerer durch die antiklerikalen Straßenproteste, die schonungslos sowohl den materiellen Schutzbedarf der religiösen Ordensschulen als auch die Wirkungslosigkeit überkommener religiöser Volkserziehung aufdeckten. Im Angesicht der liberalen Attacken erschien Vielfalt zunehmend als Nachteil, da sie eine politische Mobilisierung von Schülern, Eltern und Lehrern ebenso erschwerte wie eine Erneuerung und Intensivierung katholischer Unterweisung. Eigenständige Bildungsverbände wären aber nur schwer denkbar gewesen, wenn nicht der Vatikan mit der Gründung der Katholischen Aktion seit den 1880er Jahren neue Möglichkeiten politisch-gesellschaftlicher Laienorganisation zugelassen und gefördert hätte. Die Kirchenführung beförderte von Italien ausgehend eine umfassende Mobilisierungsbewegung, um nach dem Verlust des Kirchenstaates auf neue Weise gegen die laizistischen Kräfte kämpfen und gesellschaftliches Terrain zurückgewinnen zu können. Die Katholische Aktion mit ihren zielgruppenspezifischen Verbänden breitete sich rasch über Italien hinaus aus und entwickelte sich auch in Ländern wie Frankreich und Deutschland zu einer Massenbewegung. In Spanien konnten die neuen Laienverbände erst später und zögerlicher Fuß fassen, doch auch hier gab die Politik des Vatikans Initiativen von Laien neue Legitimation und einen neuen Organisationsrahmen.39 Neben der Katholischen Aktion bildete für die Reformer gerade das verteufelte Freie Bildungsinstitut (ILE) und sein Organisationsnetz ein Vorbild für die Reorganisation katholischer Bildung. Bei aller inhaltlichen Polemik durchzieht die katholischen Analysen oft ein äußerst respektvoller Ton vor den konkreten Leistungen der Institución. Katholische 38
39
El primer Congreso Nacional de Educación Católica, RC 12 (1924); Salvaverri, Lázaro, S. 9f. Der Topos von der Oberflächlichkeit religiöser Kultur in Spanien findet sich auch in Darstellungen Spaniens von Ausländern. Siehe Gustav Diercks, Geschichte Spaniens von den frühsten Zeiten bis auf die Gegenwart, Berlin 1896, S. 650. Immer noch die beste Darstellung zu Spanien: Feliciano Montero, El Movimiento Católico en España, Madrid 1993, zur Gründungsphase: S. 4–14. Siehe weiterhin: Ders., Del Movimiento Católico a la Acción Católica. Continuidad y Cambio, in: Ders./Julio de la Cueva (Hrsg.), La Secularización Conflictiva. España (1898–1931), Madrid 2007, S. 169– 85; William J. Callahan, The Catholic Church in Spain, 1875–1998, Washington D.C. 2000, S. 107–116; Lannon, Privilege, S. 146–48; Stanley G. Payne, Spanish Catholicism. An Historical Overview, Madison/Wis. 1984, S. 97–99. Zum weiteren Kontext: Clark, New Catholicism.
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Reformer drückten in privaten Briefen ihre Bewunderung für die Leistungen des Gründers Giner de los Ríos aus.40 Es dauerte mehr als dreißig Jahre, bis ins Jahr 1930, bevor sich die Reformer endgültig gegen die Anhänger eines katholischen Bildungspluralismus, die besonders unter den spanischen Bischöfen zu finden waren, durchsetzen konnten. In der langwierigen Auseinandersetzung lassen sich mehrere Phasen unterscheiden, in denen sich jeweils auch der Fokus der Konflikte verschob. In einer ersten Phase zwischen 1899 und 1913 wurden die ideellen Grundlagen einer organisatorischen Neuorientierung gelegt und erste zaghafte Versuche ihrer Implementierung unternommen. Am Anfang der Erneuerung katholischer Bildung und Erziehung standen sechs katholische Kongresse, die nach italienischem Vorbild zwischen 1889 und 1902 eine Neupositionierung des Katholizismus in der Moderne bezweckten. Während die ersten Kongresse Bildungsfragen nicht exponiert behandelten, standen die beiden letzten Kongresse in Burgos 1899 und Santiago de Compostela 1902 sehr weitgehend im Zeichen von Bildung und Erziehung.41 Die Debatten auf den Kongressen waren allgemein gekennzeichnet durch die Konfrontation einer Gruppe radikaler Katholiken, die für einen wahrhaften christlichen Staat jenseits des Restaurationsregimes eintraten, mit moderaten Kräften, welche den Katholizismus innerhalb des existierenden politischen Systems stärken wollten.42 Auf die Erziehungsdebatten schlug sich diese Auseinandersetzung jedoch kaum nieder. Deren Bedeutung bestand darin, dass in ihnen zum ersten Mal die Forderung nach einer organisatorischen „Einheitsfront“ (frente común) aller katholischen Bildungsanbieter gegen die liberale Reformpolitik breiten Zuspruch erhielt. In ihren Beschlüssen entwarfen die Kongresse zudem organisatorische Zielperspektiven, entlang derer sich in erstaunlich enger Weise die Genese des katholischen Erziehungsmilieus vollziehen sollte. Die Resolutionen forderten die Einrichtung einer Reihe pädagogischer Verbände, an deren Spitze ein zentrales pädagogisches Institut mit Bibliothek stehen sollte. Dieses Institut sollte in Ausbildungskursen das Leitungspersonal neuer eigenständiger konfessioneller Lehrerseminare (escuelas normales libres) hervorbringen, die Einrichtung von Versuchsschulen überwachen und eine katholische Erzie40 41
42
Mit Beispielen: Salvaverri, Lázaro, S. 8, 227f. Die Kongresse haben in den vergangenen Jahren einige historiographische Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Siehe: Bernabé Bartolomé Martínez, Los Congresos Católicos (1889–1902) y los Problemas de la Educación. Las Confederaciones y su Contribución a la Enseñanza en la Escuela Católica, in: Ders. (Hrsg.), Historia de la Acción Educadora de la Iglesia en España, Bd. 1, Madrid 1995, S. 179–87; Capitán Díaz, Historia, S. 353– 62; Feliciano Montero, La „Cuestión Escolar“ en los Congresos Católicos (1889–1902), in: Iglesia y Educación en España, Bd. 2, Palma de Mallorca 1986, S. 155–66; Micaela Bunes Portillo, V. Congreso Católico Nacional: Burgos, in: ebd., S. 23–32; Carmen Benso Calvo/Narciso de Gabriel Fernández, El Debate Pedagógico en el VI. Congreso Católico Nacional de Santiago (1902), in: ebd., S. 10–22. Diesen Konflikt arbeitet besonders Feliciano Montero heraus: Movimiento, S. 15–27.
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hungszeitschrift auf internationalem Niveau herausgeben. Ein Lehrerverband und ein Elternverein sollten die Arbeit des Instituts unterstützen, seine pädagogischen Erkenntnisse in der katholischen Bevölkerung und Lehrerschaft popularisieren, vor allem aber den bildungspolitischen Positionen der Kirche in der Öffentlichkeit Gehör verschaffen und die religiösen Schulen gegen Angriffe verteidigen.43 Das hier formulierte Programm einer Reorganisation katholischer Bildung stellte um die Jahrhundertwende erst das Projekt einer kleinen Avantgarde dar. Die Beschlüsse der Kongresse zeitigten kaum unmittelbare Wirkung. Mehr als alles andere zeigt das Scheitern eines eigenständigen pädagogischen Kongresses, der 1904 in Salamanca stattfinden sollte, die innerkirchlichen Widerstände gegen die Erneuerungsbewegung in dieser Zeit. Bis in die 1920er Jahre hinein entsprangen Neuansätze vornehmlich der persönlichen Initiative einzelner Pädagogen. Ein später in der katholischen Traditionsgeschichtsschreibung mythisch überhöhter Pionier katholischer Bildungsreform war der Pater Andrés Manjón (1846–1923), der 1889 in Granada neuartige Armenschulen unter freiem Himmel gründete (escuelas del Ave María), die im Laufe der Jahre eine weite Verbreitung in ganz Spanien fanden. 1905 existierten bereits 16 Schulen an verschiedenen Orten. Manjón, der auch ein prominenter Redner auf den katholischen Kongressen war, suchte nach einer Verbindung neuerer aktiver Unterrichtsformen und katholischer Moralerziehung. Sein pädagogischer Neuansatz bestand darin, dass er durch die aktive Beteiligung der Kinder am Unterricht, die Aufwertung des Spiels und der Körperbewegung in der Wissensvermittlung das Lernen im Allgemeinen und die kindliche Religiosität im Besonderen auf eine neue Grundlage stellen wollte. Anders als seine Nachfolger verfolgte Manjón aber nicht das Ziel einer gesamtkatholischen Bildungsreform.44 Manjón war der Erste, aber nicht der Einzige, der eine Erneuerung katholischer Bildung anstrebte. Ein weiterer früher Reformer war Manuel Siurot, der nach einer Ausbildung als Rechtsanwalt sich ähnlich wie Manjón der Erziehung andalusischen Armenkindern widmete und seit 1908 ein wichtiger Vertreter der Escuelas del Sagrado Corazón de Jesús war, deren Leitung er 1916 übernahm. Siurot orientierte sich in vielem an den Methoden von Manjón und gründete 1919 eine Lehrerbildungsanstalt für mittellose Lehramtsanwärter.45 Charakteristisch für die Neuansätze, aber auch die Grenzen 43 44
45
Benso Calvo/Gabriel Fernández, Debate, S. 10–22. Vgl. Yvonne Turin, La Educación y la Escuela en España de 1874 a 1902, Madrid 1969, S. 321–37. Die pädagogische Literatur zu Manjón ist sehr umfangreich. Vgl. nur: José Álvarez Rodríguez, Valores y Educación Integral en A. Manjón, Granada 2003; Margarita Schweizer, Andrés Manjón. Ein spanischer und christlicher Reformpädagoge, Würzburg 1987. Conferencias pedagógicas, El Universo, 18.11.1912; Rez: M. Siurot, Cosas de Niños, in: RC 1 (1913), S. 706. Vgl. auch Boyd, Historia, S. 63.
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katholischer Bildungsorganisation in einer frühen Phase sind die Initiativen des Jesuiten Ramón Ruíz Amado (1861–1934), der nach einem längeren Studienaufenthalt in Deutschland, wo er mit Vertretern der neuen Pädagogik wie Friedrich Paulsen und Friedrich Wilhelm Foerster in Kontakt gekommen war, bis zu seinem Tode an einer katholischen Pädagogik arbeitete, welche die internationalen Neuansätze mit spanischen Traditionen verbinden sollte. Im Jahr 1911 verfasste er ein Einführungs- und Überblickswerk über die Geschichte der Pädagogik, das zum erfolgreichsten pädagogischen Handbuch in Spanien avancierte und erst 1962 als Standardlektüre für Lehramtsanwärter abgelöst wurde. Um eine breitere Öffentlichkeit für seine Reformvorschläge zu erreichen, gründete er ebenfalls 1911 die Zeitschrift La Educación HispanoAmericana, die er bis 1927 als Herausgeber leitete. Angelegt als den ganzen spanischsprachigen Raum abdeckendes, internationales pädagogisches Fachjournal, entwickelte sich die Zeitung jedoch rasch zu einem Ein-MannUnternehmen, in dem der im persönlichen Umgang schroffe Ruíz Amado unter wechselnden Pseudonymen bald fast alle Artikel selbst schrieb.46 Während Ruíz Amado im Bildungsestablishment der späten Restaurationszeit ein Außenseiter blieb, gab ein weiterer Pionier einer neuen katholischen Pädagogik, Rufino Blanco y Sánchez (1861–1936), Reformimpulse von einer einflussreichen Position innerhalb der höheren Bildungsverwaltung aus. Rufino Blanco unterrichtet lange Jahre an der zentralen staatlichen Escuela Superior del Magisterio, bekleidete bis 1930 zahlreiche Ämter in staatlichen Beratungsgremien und stieg rasch zur grauen Eminenz katholischer Bildungsreform auf. Zwischen 1907 und 1912 verfasste er eine mehrbändige pädagogische Bibliographie und befasste sich im Anschluss bis zu seiner Ermordung durch republikanische Milizen zu Beginn des Bürgerkrieges in einer beeindruckenden Zahl von Büchern mit pädagogischen Grundlagenproblemen. Eine Institutionalisierung katholischer Pädagogik gelang allerdings auch ihm nicht.47 Manjón, Siurot, Ruíz Amado und Rufino Blanco waren Teil einer größeren regenerationistischen pädagogischen Bewegung, aber auch Verfechter einer neuen, spezifisch katholischen Pädagogik. Die Grenzen zwischen einer neuen katholisch-apostolischen Mobilisierung, wie sie die kirchennahen Reformzirkel ausarbeiteten, und einer traditionelleren christlich-bürgerlichen Charakterreform blieben lange Jahre unscharf. Insbesondere existierten bis in die 1920er Jahre hinein noch bedeutende christlich-bürgerliche Reformansätze, die zwar religiös fundiert, aber nicht in das kirchliche Organisationsmilieu eingebunden waren. Ein Beispiel für diese Initiativen sind die Reformprojekte 46 47
Delgado Criado, Pedagogos, S. 117–124. E. Mérida/N. Gamarro, El Pensamiento Pedagógico: Corriente Católica: Rufino Blanco y Sanchéz, in: Buenaventura Delgado Criado, Historia de la Educación en España y América, Bd. 3: La Educación en la España Contemporánea, 1798–1975, Madrid 1994, S. 621– 24.
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der Erzieher Angel Bueno (†1927) und Juan Benejam (1846–1922). Bueno leitete schon Anfang der 1890er Jahre in Madrid in Eigenregie ein „Zentrum für moderne Bildung und Erziehung“ (Centro de educación moderna). Nach der Jahrhundertwende steckte er einen Großteil seiner Energie in die Herausgabe einer pädagogisch-moralischen Kinderzeitschrift, die er bis zu seinem Tod 1927 kostenlos an den Schulen der Stadt verteilte. Die Zeitschrift La Escuela Práctica war ebenfalls ein Ein-Mann-Unternehmen, das der selbsternannte Bildungsreformer Juan Benejam von Menorca aus leitete. Auch Benejam war an religiöser Bildung interessiert, vornehmlich ging es ihm jedoch um neue Methoden, durch die bürgerliche Werte effektiv und zeitgemäß vermittelt werden konnten. Anders als Ruíz Amado und Rufino Blanco ging es Bueno und Benejam, die anscheinend nie Teil der katholischen Bewegung im engeren Sinne waren, nicht um eine Neuschöpfung katholischer Pädagogik als Teil politischer Gesellschaftsreform, sondern um eine Popularisierung christlich-bürgerlicher Moralität. Während Erstere Wege zur Errichtung einer neuen christlichen Gesellschaftsordnung suchten, verfolgten Bueno und Benejam lediglich das Ziel einer Moralreform innerhalb der gegebenen Gesellschaftsordnung. Dennoch weist ihre Arbeit eine deutliche Nähe zu derjenigen der katholischen Reformer auf, wie sich auch an der Wertschätzung zeigt, die eine Figur wie Bueno unter katholischen Bildungsexperten genoss.4849 Erst in Reaktion auf die antiklerikale Gewalt der Semana Trágica erfolgte zwischen 1910 und 1913 ein erster umfassender Organisationsversuch eines Erziehungsmilieus von Geistlichen, Lehrern und Eltern. Neue Vereine sollten einerseits die öffentliche Meinung für die katholische Sache gewinnen, andererseits aber auch Erzieher und Eltern auf neue Weise zu Mitstreitern eines christlichen Zukunftsstaates machen. Die Mobilisierung dieser Jahre war jedoch kurzlebig und begründete keine dauerhaften Traditionen. Sie entwickelte sich aus ad-hoc-Komitees, die sich vereinzelt nach der Jahrhundertwende, vor allem aber nach 1909 zum Schutz der religiösen Orden gegen antiklerikale Ausschreitungen und gegen die liberale Bildungsgesetzgebung in einigen Großstädten zusammengefunden hatten. In Barcelona existierte beispielsweise schon im Juni 1903 ein Diozösan-Verband zur Verteidigung katholischer Interessen (Junta Diocesana de Defensa de los Intereses Católicos).50 Nach der Semana Trágica gründete sich 1911 das Comité de Defensa Social de Barce48
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Zur Person siehe den Nachruf: Angel Bueno, in: Madrileñillos. Revista escolar gratuita, Número póstume, Nov. 1927. Siehe auch: Ders., El Maestro á la Moderna, in: Escuela Moderna 11, Feb. 1892. Zur katholischen Würdigung: Zúñiega Cerrado, Velada necrológica en honor de D. Angel Bueno, RC 17, 1928, S. 52. Siehe zu Benejam und seinem Reformprojekt: La Escuela Práctica. Revista Pedagógica, Ciudadela (Islas Baleares), 1893ff. Vgl. auch: Juan Benejam, Vida nueva. Plan de mejora social por medio de un nuevo sistema educativo, Madrid 1908; Ders., El problema educativo. Hacia el mejoramiento de la escuela y del bienestar del maestro, Ciudadela 1910. Ullmann, Tragic Week, S. 74.
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lona, welches antiklerikalen Vorwürfen öffentlich entgegentrat, die religiösen Orden rechtlich beriet und vor Gericht verteidigte sowie Demonstrationen und Petitionen gegen die laizistischen Gesetzesentwürfe organisierte. Auch in Madrid konstituierte sich im Dezember 1910 eine Konföderation von Centros de Defensa Social, Ligas Católicas und ähnlicher Einrichtungen, die auch schon eine überregionale Koordination der Verteidigungsgruppen plante.51 Die unterschiedlichen Bezeichnungen deuten schon darauf hin, dass die Defensivbündnisse hinsichtlich ihrer Tätigkeit, Mitglieder und Zielvorstellungen sehr vielgestaltig waren und keineswegs nur Bildungsfragen diskutierten.52 Von Anfang an gab es aber auch Versuche einer spezifischen Mobilisierung des Erziehungsmilieus. Aus den lokalen Komitees wuchsen nach 1910 in Ansätzen eigenständige katholische Elternvereinigungen heraus, wobei die Initiative zu ihrer Gründung anscheinend in aller Regel von mit der kirchlichen Hierarchie eng verbundenen katholischen Eliten ausging. In der heißen Mobilisierungsphase gegen die Reform des Religionsunterrichts versammelte sich im Februar 1913 in Madrid eine Junta Nacional de Padres de Familia unter dem Vorsitz mehrerer Adeliger, die christlich denkende Eltern zum Beitritt aufrief und ein Bulletin „gegen den Laizismus im Erziehungssystem“ herausgab.53 Es liegen jedoch keine Informationen über das Wirken der Vereinigung in den folgenden Jahren vor, was darauf hindeutet, dass diese Initiative keinen großen Widerhall fand und nach Wegfall des unmittelbaren Mobilisierungsanlasses nicht weitergeführt wurde. Der Schock der antiklerikalen Gewalt beförderte auch das Projekt katholischer Lehrerverbände. So berichtete die katholische Tageszeitung El Universo im August 1912 über Pläne der Kirche, eine eigenständige Lehrerzeitschrift mit dem Namen El Magisterio Católico zu gründen, die „wahrhaft christliche Lehrer heranbilden sollte, die fähig sind, Spanien zu erneuern“. Im selben Jahr rief der Sevillaner Bischof dazu auf, eine religiöse Lehrervereinigung ins Leben zu rufen, um dem sozialistischen Projekt eines säkularen Lehrerverbands entgegenzutreten. Im Frühjahr 1913 zirkulierte in der katholischen Presse schließlich ein Aufruf an Lehrer, sich einer Federación Católica de los maestros españoles anzuschließen.54 Diese Initiativen zeigen deutlich das Interesse von Teilen der katholischen Elite an einer neuartigen religiösen Imprägnierung der Lehrerschaft und ihre Unzufriedenheit mit der Politik der 51 52 53 54
Memoria del Comité de Defensa Social de Barcelona, Juni 1913, in: RC 1 (1913); Intereses Sociales, Sep. 1913, in: RC 1 (1913). Vgl. zur Bandbreite lokaler Aktivitäten in Madrid: Primera Asamblea de Acción Católica en la Parroquia de Nuestra Señora de la Concepción, El Universo, 10.11.1912. Por la enseñanza católica, La Enseñanza Católica (EC), 12.2.1913. Zitat in: García Regidor, Polémica, S. 88 (FN 63); A los Compañeros, EC 83, 5.3.1913 (Sondernummer); Proyecto de Federación Católica de los Maestros Españoles, ebd. Boyd, Historia, S. 62 erwähnt die Gründung einer katholischen Sociedad Española de Pedagogía im Jahr 1906, die anscheinend einen weiteren Versuch der Organisation der Lehrerschaft darstellte.
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etablierten allgemeinen Standesvertretung der spanischen Lehrer. Diese war keineswegs ein Verband des antikirchlichen Liberalismus, duldete aber ein breiteres Spektrum von politischen Positionen in ihren Reihen.55 Die Organisierung der Lehrer hatte widersprüchliche Ergebnisse. Die 1910 gegründete Asociación de Enseñanza Católica und eine Asociación Benéfica de Enseñanza Católica konnten zunächst kaum Anhänger gewinnen, doch die neuerlichen Organisationsbemühungen von 1912 stießen zumindest in Regionen mit einem hohen Anteil praktizierender Katholiken auf Resonanz. In der baskischen Provinz Álava formierte sich Ende 1913 beispielsweise tatsächlich ein Provinzverband katholischer Lehrer mit zunächst 142 Mitgliedern.56 Es war aber in besonderer Weise die Gründung von Lehrer- und Erziehungszeitschriften, welche nach 1910 die Grundsteine einer eigenständigen katholischen Bildungsöffentlichkeit legten. Einen ersten Schritt in diese Richtung stellte schon die Gründung der jesuitischen Kulturzeitschrift Razón y Fe im Jahr 1901 dar, die nach dem Vorbild des liberalen Boletín de la Institución Libre de Enseñanza auf die gesellschaftlichen Eliten in gesellschaftsreformerischer Absicht einwirken wollte. Die Zeitschrift bot von Anfang an Bildungsthemen ein Forum, ohne allerdings eine reine Bildungszeitschrift zu sein.57 Nach 1910 entstanden eine Reihe speziellerer Bildungszeitschriften wie La Enseñanza Católica, die – und das war eine revolutionäre Neuerung – sich sowohl an die katholischen Lehrer an öffentlichen Schulen als auch an die Lehrer der religiösen Ordensschulen wandte, und nach eigenem Bekunden die „einzige katholische pädagogische Zeitschrift“ der Zeit darstellte.58 Wie die katholischen Lehrerverbände trat die Zeitschrift in Konkurrenz zu den etablierten, nicht konfessionsgebundenen Standesblättern, vor allem dem El Magisterio Español, der seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert das Sprachrohr der spanischen Volksschullehrer bildete. Allerdings gelang es La Enseñanza Católica wie auch regionalen Blättern bis zum Beginn des Bürgerkrieges nicht, die Bedeutung der allgemeinen Zeitschriften zu erreichen. Auf der regionalen Ebene gegründete Zudem dienten sie hauptsächlich dem Austausch standesbezogener Informationen, nicht der religiös-pädagogischen Mobilisierung. Parallel zu ihnen entstanden jedoch einige neue pädagogische Zeitschriften, deren Hauptziel eindeutig in der Ausarbeitung und Verbreitung einer katholischen Erziehungskunde lag. Hierunter fallen vornehmlich die schon erwähnte La Educación Hispano-Americana seit 1911 und die Revista Calasancia seit 1913, die zwar auch als Kommunikationsmedium des Piaris55
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Eine allgemeine Organisationsgeschichte der Lehrer in Spanien fehlt leider und stellt ein Forschungsdesiderat dar. Für erste Hinweise siehe Pozo Andrés, Educadores. Die Haltung des allgemeinen Lehrerverbandes lässt sich am besten in dessen publizistischem Organ, dem El Magisterio Español, analysieren. Asociación de Maestros católicos de la provincia de Álava, EC, 13.12.1913. Die erste Ausgabe erschien im Herbst 1901. Vgl. RyF 1, 1901. Nuestra reforma, EC, 1.1.1913.
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tenordens als eines der wichtigsten und größten religiösen Erziehungsorden fungierte, in der Hauptsache aber sehr intensiv pädagogische Neuansätze allgemeiner Natur diskutierte und dadurch die vielleicht interessanteste katholische Bildungszeitschrift der 1910er Jahre war.59 Eine wesentliche Innovation stellte schließlich die Revista de Educación Familiar dar, die sich seit Anfang 1916 auf neuartige Weise an interessierte Eltern wandte, um sie über moderne Erziehungsvorstellungen, den angemessenen Umgang mit Kindern sowie über das katholische Schulangebot zu informieren.60 In den einzelnen Initiativen scheint ein übergreifendes Projekt der Ausbildung eines homogenen katholischen Erziehungsmilieus aus Kirche, Schulen, Lehrern und Eltern auf, das in den 1910er Jahren jedoch mehr Idee als Wirklichkeit blieb. Seinen sichtbarsten Ausdruck fand es im ersten Congreso Nacional Catequístico, der Ende Juni 1913 in Valladolid mit mehreren hundert Teilnehmern und unter Beteiligung vieler hochrangiger kirchlicher Würdenträger stattfand. Er bildete den Abschluss der Kampagne gegen die Reform des Katechismusunterrichts. Nach dem Kongress von Santiago 1902 führte er erstmals wieder die katholischen Bildungsdiskussionen an einem Ort zusammen. Da die Katechismusvermittlung zu dieser Zeit im Mittelpunkt kirchlicher pädagogischer Diskussionen stand, kann er als erster selbstständiger katholischer Bildungskongress in Spanien betrachtet werden. Seine Teilnehmer suchten nach „Mitteln, um eine aktive Teilnahme der Kinder am Religionsunterricht wie auch an religiösen Feiern“ zu erreichen und schlugen unter anderem eine Neuausrichtung der Katechese vor.61 Organisationsgeschichtlich blieb der Kongress jedoch ein Solitär. Nachdem der liberale Druck nach 1913 spürbar nachließ, versandeten auch die Bemühungen um überregionalen Austausch. Ein kaum zu unterschätzender Faktor in dieser Entwicklung waren Widerstände gegen dauerhafte Organisationsformen innerhalb der kirchlichen Hierarchie. Die meisten Bischöfe waren vor dem Ersten Weltkrieg zu einer organisatorischen Neuordnung katholischer Bildung nicht bereit, da sie um ihren Einfluss in Erziehungsfragen fürchteten. Ihr Widerstand verhinderte 1911 auch die Realisierung des intellektuell ambitioniertesten Projekts katholischer Reform, die Gründung eines nationalen Katholisches Bildungsinstitut (Institución Católica de Enseñanza) als Schaltstelle einer katholischen Gesellschaftsreform, das der Reformer und königliche Beichtvater Pedro Poveda (1874–1936) geplant hatte. Schon von der Bezeichnung her als Konkurren59
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Siehe Melchior Rodríguez, ¡Bien venida sea!, RC 1, 27.1.1913. Seit den frühen 1920er Jahren nahm die Zeitschrift einen Niedergang, der sich an einem deutlich schrumpfenden Seitenumfang und einer Verengung des Themenspektrums ablesen lässt. Ende 1927 wurde sie ganz eingestellt. Objeto y Programa de la Revista de Educación Familiar, in: Revista de Educación Familiar (RdEF) 1, Jan. 1916. Leider kann das Ende der Zeitschrift nicht genau benannt werden. In spanischen Bibliotheken ist sie bis Dezember 1918 nachweisbar. El Congreso Catequístico, ABC, 30.6.1913; El Congreso Catequísta, ABC, 28.6.1913. Siehe auch Congreso Nacional Catequístico, Juni 1913, RC 1 (1913).
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zentwurf zum liberalen Freien Bildungsinstitut (ILE) ausgewiesen, sollte es nach der Vorstellung Povedas „die Katholische Aktion im Bildungsbereich organisieren“. Poveda war der Überzeugung, dass nur durch eine Verbesserung der katholischen Lehrerbildung und die Erarbeitung einer neuen katholischen Pädagogik die liberale Bewegung zurückgedrängt werden könne, die selbst viele Katholiken in ihren Bann geschlagen habe. Bildung und Erziehung müssten in den Rang eines nationalen katholischen Projektes (obra católica nacional) erhoben werden.62 So zukunftsweisend der Plan in der Retrospektive erscheinen mag, scheiterte das Projekt doch am Widerstand der kirchlichen Hierarchie und der religiösen Orden, die nicht bereit waren, ihre Autonomie partiell aufzugeben.63
1.4 Interessenverband des Privatschulwesens oder Generalstab von Gesellschaftsreform? Konflikte auf dem Weg zur organisatorischen Neuordnung: 1924–1930 Die relative Entspannung der bildungspolitischen Kämpfe nach 1913, der Beginn des Ersten Weltkrieges und die heftigen sozialen Unruhen der Jahre 1917 bis 1921 ließen die katholischen Bildungsdebatten für eine längere Zeit in den Hintergrund treten. Erst kurz vor der Machtergreifung des Generals Primo de Rivera, der von 1923 bis 1930 Spanien diktatorisch regieren sollte, begann eine neue Runde von Erneuerungsversuchen. Die Auseinandersetzungen zwischen Reformkräften und Skeptikern einer Laienbewegung im Bildungswesen endeten jedoch diesmal mit einem Erfolg der Reformkräfte am Ende der 1920er Jahre. Neben die alten Konfliktlinien trat nun jedoch ein neuer Streit, der die Ziele und Formen bildungspolitischer Mobilisierung betraf. Während ein Flügel vor allem über den quantitativen Ausbau der katholischen Privatschulen, deren politische Verteidigung und eine Ausweitung der Rechte der Kirche im Bildungssystem eine Rechristianisierung Spaniens in die Wege leiten wollte, ging es der schließlich erfolgreichen Reformgruppe in erster Linie um eine innere Persönlichkeitsreform von Erziehern und Heranwachsenden, welche durch die Gründung neuer Institutionen ermög62
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Pedro Poveda, Ensayo de Proyectos Pedagógicos para la fundación de una Institución Católica de Enseñanza, Sevilla 1911, S. 5f. Leider war die Überlieferung Pedro Povedas im Archiv der Institución Teresiana in Madrid trotz intensiver Bemühungen dem Autor nicht zugänglich. Zur Rezeption in der katholischen Öffentlichkeit: Por la enseñanza catequística. Un proyecto muy hacedero, El Universo, 7.11.1912. Loreto Ballester Reventós, Prólogo, in: María Dolores Gómez Molleda (Hrsg.), Pedro Poveda, Obras, Bd. 1: Creí, por esto hablé (Edición crítica y estudio), Madrid 2005, S. i– cxxxvi, hier S. xxxix–lvii.
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licht und voran getrieben werden sollte. Eine primär bildungspolitische und eine primär gesellschaftsreformerisch-„pädagogische“ Strategie katholischer Gesellschaftsreform standen einander gegenüber. Dieser Streit spiegelte die innere Fragmentierung katholischer Bildung. Die Interessengegensätze zwischen Privatschullehrern und kirchennahen Lehrern im öffentlichen Schulwesen erschwerten die Einigung der katholischen Bildungsbewegung. Ein nationaler katholischer Bildungskongress, der kurz nach der Ausrufung der Diktatur Primo de Riveras in der Karwoche 1924 in Madrid stattfand, wirkte als Initialzündung neuer Reforminitiativen. In den 1930er Jahren blickte die katholische Presse auf den Kongress stolz als außerordentlichen Erfolg zurück. Doch auch schon zeitgenössisch erfuhr er eine beachtliche Aufmerksamkeit. Zur glanzvollen Eröffnung im Teatro Real erschienen nicht nur die wichtigsten kirchlichen Würdenträger und große Teile der sozialen Elite Madrids, sondern auch der stellvertretende Bildungsminister und Militärs aus dem engsten Führungszirkel des Diktators. Die konservative und katholische Presse berichtete mehrere Tage lang detailliert über die Zusammenkunft und die Diskussionen in den einzelnen Fachsektionen. Insgesamt nahmen mehrere tausend Personen und Vertreter fast aller religiösen Bildungsorden an den Veranstaltungen teil. Nach den Kongressen von 1902 und 1913 war dies erst das dritte Mal, dass im 20. Jahrhundert an einem Ort intensiv über Probleme und Neuansätze katholischer Bildung in Spanien debattiert wurde.64 Der Kongress war ursprünglich für 1923 geplant gewesen. Er stand somit nur mittelbar in einem Zusammenhang mit dem Militärputsch. Dieser eröffnete den Katholiken jedoch einen neuen Zukunftshorizont wachsenden Einflusses und trug zur gesellschaftsreformerischen Aufbruchstimmung bei, von der sich viele Teilnehmer erfasst fühlten. Die maßgebliche katholische Tageszeitung El Debate behauptete gar, einer „pädagogischen Revolution“ beizuwohnen und sah im Kongress „ein Zeichen der neuen Zeiten.“65 Nicht erst die antiklerikale Gesetzgebung der Zweiten Republik, sondern gerade die kirchenfreundliche Diktatur setzte neue Reformkräfte unter katholischen Pädagogen frei. Tatsächlich verdeckte die glanzvolle Außendarstellung des Kongresses jedoch eine Vielzahl von Konflikten. Interessengegensätze verhinderten die Verabschiedung eines konkreten Maßnahmenkatalogs und die Einrichtung dauerhafter Organisationen im Anschluss an den Kongress. Die „Mehrheit der Beschlüsse ist
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Inauguración del Congreso Nacional de Educación, ABC, 22.4.1924; Brillante Sesión Inaugural, El Imparcial, 22.4.924; Se inaugura el Congreso de Educación Católica, El Debate, 22.4.1924. Zur Wahrnehmung der 1930er Jahre: Una visita a las Escuelas gratuitas de San Luis de Madrid, Esto, 26.7.1934. Ante el Congreso de Educación Católica, El Debate, 22.4.1924; El Congreso Nacional de Educación Católica, El Debate, 27.4.1924.
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vage und bietet kaum praktische Handlungsanleitungen“, urteilte etwa der fachkundige Kommentator der Revista Calasancia.66 In den 1920er Jahren bestimmten vor allem zwei Strömungen die Bildungsdiskussionen. Beide setzten sich für den Aufbau eines Netzwerkes von Bildungs-, Eltern- und Lehrervereinen ein und grenzten sich dadurch von älteren, organisationsskeptischen Positionen ab. Ihre Ziele unterschieden sich jedoch beträchtlich. Die beiden Strömungen lassen sich, gerade auf der lokalen Ebene, nicht vollständig auseinanderhalten, doch verkörpern sie idealtypisch zwei maßgebliche Varianten katholischer Bildungsreform. Die erste, vornehmlich bildungspolitisch ausgerichtete Strömung konstituierte sich im Kontext der Debatten um eine Reform der Sekundarerziehung. Der Gesetzentwurf des Bildungsministers Eduardo Callejo de la Cuesta (1875–1950) sollte durch eine Reihe von Maßnahmen die weiterführende Bildung in Spanien modernisieren und für die Anforderungen der industriellen Moderne wappnen. Während viele Punkte über politische Lagergrenzen hinweg unstrittig waren, sorgten besonders religiöse Fragen für hitzige Debatten. Callejo war den katholischen Privatschulen, die keine Reform des Sekundarwesens außer Acht lassen konnte, zur Besorgnis von progressiven Pädagogen, aber auch vieler gemäßigter Staatsschullehrer in einer Reihe von wichtigen Fragen entgegen gekommen. Besonders zwei Bestimmungen erregten die Gemüter. Erstens legte die Reform die jährlichen Schulprüfungen aus den staatlichen Lehranstalten heraus in die Hand von Kommissionen, in denen auch Privatschullehrer mitwirkten und stärkte so deren Stellung im Bildungssystem auf Kosten der catedráticos, der staatlichen Sekundarlehrer, die traditionell über ein hohes, Universitätsdozenten vergleichbares Prestige verfügten. Zweitens bestimmte das Gesetz die Einführung sogenannter Einheitstextbücher (texto único) je Fach. Diese Bestimmung machte zwar für die Privatschulen den Unterricht einfacher, da sie ihre Schüler auf der Basis anerkannter Texte auf die staatlichen Prüfungen am Schuljahresende vorbereiten konnten, während zuvor jeder catedrático sein eigenes Lehrbuch hatte schreiben und benutzen dürfen, öffnete aber über die Pflichtlektüre potentiell auch staatlicher Einflussnahme in den religiösen Schulen Tür und Tor. Die Bestimmung war deshalb nicht nur in Reihen der Gymnasialprofessoren, sondern auch unter Katholiken äußerst umstritten. Nachdem am Beginn der Reformdebatten 1924 ein Interessenausgleich zwischen gemäßigten Liberalen und gemäßigten Katholiken in der Erneuerung des spanischen Bildungssystems zumindest nicht ausgeschlossen erschienen war, verschärften sich im Verlauf des Jahres 1926 die gegenseitigen Attacken. Vor allem überführten die Auseinandersetzungen um die Rechte der Privatschulen den seit längerem schwelenden Interessengegensatz zwischen Privatschullehrern und catedráticos in einen of-
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El primer Congreso Nacional de Educación Católica, RC 12 (1924).
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fenen Konflikt, in dem sich beide Seiten bemühten, politische Unterstützung zu mobilisieren und die Öffentlichkeit auf ihre Seite zu ziehen.67 Die bildungspolitischen Konflikte bildeten auf katholischer Seite den Anlass eines Wiederauflebens der Initiativen zur Gründung von Eltern- und Lehrervereinigungen. Die Vertreter der Privatschulen und ihre Unterstützer in der kirchlichen Hierarchie wollten das katholische Erziehungsmilieu über Interessenverbände stärker als bisher in die politischen Kampagnen zur Verteidigung der katholischen Schulen einbinden. Da das neue Regime zwar der Kirche weit entgegenkam, aber katholische Hoffnungen einer absoluten Dominanz in Bildungsfragen deutlich enttäuschte, hielten es wichtige Kirchenkreise für notwendig, über eine informelle Lobbyarbeit hinaus durch eine umfassendere Mobilisierung des von ihr erreichbaren Erziehungsmilieus ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.68 Die Hauptstoßrichtung richtete sich zunächst auf eine Einbindung der Elternschaft, die das organisationspolitische Sorgenkind der katholischen Bewegung darstellte. Trotz früher Forderungen nach einem langfristigen Zusammenschluss waren Elternkomitees immer nur sporadisch und anlassgebunden entstanden und ohne dass aus ihnen ein überregional vernetzter Verbund entstanden wäre. Anfang 1925 unternahm die Katholische Aktion einen neuen Versuch und gründete unter ihrem Dach einen landesweiten Verband mit dem umständlichen Namen Federación de padres de familia y amigos de la enseñanza (Föderation von Eltern und Erziehungsfreunden). Er bestand zunächst nur in einem in Madrid beheimateten zentralen Komitee, das sich in der Folgezeit recht erfolglos bemühte, dem Verband einen breiten organisatorischen Unterbau zu geben. Trotz blumiger Ankündigungen einer weitgesteckten Tätigkeit zu Gunsten der christlichen Familie beschränkte sich die Tätigkeit der Organisation in der Praxis weitgehend auf eine enge Lobbyarbeit für die religiösen Ordensschulen.69 Die Organisationsarbeit wandte sich auch, etwas zeitverzögert, der Lehrerschaft zu. Auch hier wird die politische Zielsetzung schnell sichtbar. Anders als noch um 1910, als der geplante Lehrerverband eher auf die Volksschullehrer zielte, organisierte sich der neue Verband im Frühjahr 1927 eindeutig als Interessenverband der 67
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Siehe als kurze Zusammenfassung der bildungspolitischen Debatten: Boyd, Historia, S. 170–177. Ausführlicher zur Bildungspolitik der Diktatur: Alejandro Quiroga, Making Spaniards. Primo de Rivera and the Nationalization of the Masses, 1923–30, Basingstoke 2007, S. 110–133; Ramón López Martín, Ideología y Educacción en la Dictadura de Primo de Rivera. Bd. 1: Escuelas y Maestros, Valencia 1994, S. 31–60. Zur Kooperationsbereitschaft 1924 aus gemäßigt-liberaler Perspektive: Luis Santullano, Para la necesaria concordia. Política y enseñanza. El Congreso de Educación Católica, El Imparcial, 27.4.1924. Ähnlich aus katholischer Perspektive: El primer Congreso Nacional de Educación Católica, RC 12 (1924). Siehe für Madrid: Velada en la Casa de Acción Católica, ABC, 16.11.1929. Vgl. z. B. La Segunda Enseñanza, ABC, 17.2.1925; La Federación de Padres de Familia, ABC, 26.3.1925; Noticias, Reuniones y Sociedades, ABC, 1.5.1925.
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Privatschullehrer. Eine Asociación Nacional de Enseñanza privada versuchte sich als neue politische Vertretung der katholischen Schulen und ihrer mehr als 50.000 Lehrkräfte zu etablieren und lieferte sich bald heftige Propagandaschlachten mit der Standesorganisation der staatlichen catedráticos um die staatliche Mittelverteilung, die Machtverteilung in den jährlichen Prüfungskommissionen und die Art der Abschlussexamen.70 Das wichtigste Agitationsmittel in der Verteidigung der Privatschulinteressen stellte die Zeitschrift La Verdad da. Diese erschien als publizistisches Organ des Elternverbandes zum ersten Mal im Dezember 1925, wandelte sich aber unter der Leitung des streitbaren Augustinerpaters und Professors der katholischen Universität El Escorial, Teodoro Rodríguez, zu Beginn 1927 zum wesentlichen Organ der Privatschullehrervereinigung. Ging ihre Zielsetzung zunächst dahin, den katholischen Bildungsdebatten eine neue, allgemeine Tribüne zu bieten, übernahm seit dem Frühjahr 1927 die neue Privatschullehrervereinigung weitgehend die Kontrolle über die Zeitung und nutzte sie als Sprachrohr ihrer Forderungen. Statt, wie ursprünglich geplant, als breite Plattform Eltern- und Lehreranliegen aufzugreifen, verengten Lehrerverband wie Zeitschrift ihre Aktivität wesentlich auf die Verteidigung der katholischen Privatschulen.71 Kaum anders als vor dem Ersten Weltkrieg entfalteten auch die neuen Verbände wenig Wirkung und blieben Elitenprojekte ohne nennenswerte gesellschaftliche Resonanz. Trotz der materiellen und logistischen Unterstützung durch die Katholische Aktion – die Verbände residierten zumeist in den Räumlichkeiten der Laienbewegung und ihre führenden Funktionäre waren in der Regel in Personalunion hochrangige Mitglieder der Aktion72 – gelang es bis 1930 kaum, lokale Untergliederungen zu etablieren. Ein erster nationaler Kongress des Elternverbandes fand erst im Mai 1930 statt. Wie 70
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Asociación Nacional de Enseñanza privada, La Verdad, 22.1.1927; Federación Nacional de Establecimientos de Enseñanza no oficiales, La Verdad, 26.2.1927; De la Asociación Nacional de Enseñanza privada, La Verdad 11.6.1927. Ein loser Austausch zwischen den Privatschullehrern existierte bereits seit 1899 im Umkreis der Zeitschrift La Enseñanza, die sich im Untertitel „Bildungs- und Informationszeitschrift zum Zwecke der Entwicklung der Instruktion und Verteidigung der Privatschullehrer (Revista educativa y de información dedicada al fomento de la instrucción y a la defensa de los profesores privadas) nannte, aber kaum politisch hervortrat. Im April 1932 stellte sie im Kontext der Etablierung neuer katholischer Organisationen ihr Erscheinen ein. Vgl. dagegen die ursprünglichen, sehr viel breiteren Absichten: La Redacción, A lo que viene La Verdad, La Verdad 1, 5.12.1925; El Nuevo Semenario „La Verdad“, ABC, 9.12.1925. Der Vorsitzende des Elternverbandes in Valencia, Manuel Simó, stand beispielsweise gleichzeitig dem regionalen Rat der Katholischen Aktion in der Stadt vor: Constitución de una Federación de Padres de Familia, ABC 18.2.1931; Lull, Jesuitas y Pedagogía, S. 66, 640 (FN 110). Auch der Vorsitzende der Madrider Organisation, der Duque de Terranova gehörte zum städtischen Führungszirkel der Katholischen Aktion: Asamblea de Ligas contra la Inmoralidad Pública, ABC 10.11.1927; Velada en la Casa de Acción Católica, ABC, 16.11.1929.
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wenig fortgeschritten die Organisationsbemühungen zu diesem Zeitpunkt waren, zeigt sich daran, dass der Kongress erneut die Formulierung einer Verbandssatzung und die Konstitution einer zentralen Leitung auf die Tagesordnung setzte.73 Auch die Lehrervereinigung kam nicht in Schwung. La Verdad musste schon Ende 1927, anscheinend aus Geldnot, ihr Erscheinen einstellen. Die katholischen Eliten fanden für ihre Bildungspolitik wenig Rückhalt in der Bevölkerung und Lehrerschaft. Die Gründe für den Misserfolg sind vielfältig. Hier sind vor allem zwei Ursachen anzusprechen. Zunächst begrenzten die scharfen Attacken gegen die öffentlichen Schulen die Anziehungskraft der neuen Interessenorganisationen unter den Staatslehrern, selbst wenn diese mit den Zielen der Katholischen Aktion sympathisierten. Die Volksschullehrer und Gymnasialprofessoren waren schon, wie die aufmerksame Revista Calasancia bitter vermerkt hatte, dem Bildungskongress von 1924 weitgehend ferngeblieben, da sie in ihm eine einseitige Werbeveranstaltung für die Ordensschulen gesehen hatten. Angriffe der katholischen Presse gegen das öffentliche Schulwesen in den Wochen vor Kongressbeginn hatten sie in ihrer Ablehnung noch bestärkt.74 Auch am Ende der 1920er Jahre waren selbst unter bekennenden Katholiken die Vorbehalte gegenüber Verbänden, die als Sprachrohre der religiösen Orden erschienen, groß. Domingo Lázaro schrieb in diesem Sinne einem Vertrauten 1929, dass eine zu gründende katholische Bildungszeitschrift eine „säkulare Fassade“ brauche. Sie dürfe sich keinesfalls als Organ der religiösen Orden zu erkennen geben, da sie sonst von Lehrern öffentlicher Schulen nicht gelesen werden würde.75 Doch auch innerhalb der katholischen Eliten, welche die Ziele der Kampagne grundsätzlich unterstützten, erhob sich zunehmend Widerstand gegen die aggressive Polemik, mit der insbesondere Teodoro Rodríguez das staatliche Bildungssystem attackierte. Bildungspolitiker außerhalb des Verbandes lehnten seinen „unbeherrschten und aggressiven Stil“ als kontraproduktiv ab, und führende Verbandsmitglieder wollten die weitreichende Forderung nach vollständiger und unmittelbarer Gleichberechtigung der Privatschulen gegenüber den öffentlichen Schulen nicht mittragen und provozierten dadurch eine Spaltung des Verbandes.76 Schließlich unterstützte die katholische Hierarchie die Bewegung wie alle anderen Reformströmungen 73
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Asamblea de Padres de Familia, ABC, 18.5.1930. In der gewöhnlich gut informierten Zeitung ABC finden sich erst am 3. Mai 1929 (Saragossa) und 8. Oktober 1930 (Granada) Hinweise auf Untergliederungen. Die Verbandszeitschrift La Verdad erwähnte zwar Ende 1927 pauschal einen Anstieg der Zahl der lokalen Zusammenschlüsse, doch scheint diese Information vor allem propagandistischer Natur gewesen zu sein, da keine Namen genannt wurden und die Zeitung nie über regionale Aktivitäten der Elternvereine berichtete: Y esas Asociaciónes: ¿Que hacen? La Verdad, 20.10.1927. El primer Congreso Nacional de Educación Católica, RC 12 (1924). Domingo Lázaro an Michael Schleich, 18.3.1929, zit. nach Salvaverri, Lázaro, S. 241. Domingo Lázaro an Luis Heintz, 24.3.1930, zit. nach ebd., S. 250; Asociación Nacional de Enseñanza privada, La Verdad, 2.4.1927; La primera Junta general, La Verdad, 1.10.1927.
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bis 1929 nur halbherzig, da sie ihre guten Beziehungen zur Diktatur nicht gefährden wollte. Traditionell orientierten Katholiken erschien schließlich zum Verdruss des Verdad-Kreises jegliche Organisation jenseits der Amtskirche als gefährlicher Schritt in Richtung Säkularisierung.77 Der Fehlschlag, politische Interessenverbände der Privatschulbildung aufzubauen, bedeutete aber nicht das Ende der Organisationsarbeit. Parallel und in Abgrenzung zu den politischen Initiativen im Umfeld von La Verdad entwickelte sich eine weitere, zunächst weniger sichtbare, aber auf längere Sicht sehr viel bedeutendere Reformströmung. Trotz des Scheiterns der Pläne Pedro Povedas vor dem Ersten Weltkrieg verschwand das Projekt einer übergreifenden katholischen Bildungsinstitution nicht mehr aus den katholischen Diskussionen. Jenseits des bildungspolitischen Schlagabtausches der späten 1920er Jahre schloss sich, von der Presse weitgehend unbemerkt, eine Gruppe von Reformern zusammen, die Anfang 1930 ein neues, machtvolles und unterschiedliche Organisationen umfassendes Netzwerk aus der Taufe hoben und die katholische Bildungsbewegung bis in den Franquismus der 1950er Jahre hinein prägen sollten. Eine grundlegenden Sorge katholischer Intellektueller über einen Einflussverlust der Kirche, die in deutlichem Gegensatz zur nach außen getragenen Aufbruchstimmung nationaler Wiedergeburt der Gründungsphase der Diktatur steht, bildete die Basis der intensivierten Reorganisationsbemühungen. Gerade die Diktatur mit ihrer kirchenfreundlichen Politik offenbarte für viele Beobachter einen schleichenden Säkularisierungsprozess in der Gesellschaft umso drastischer.78 Diese Sorge wurde weiter angefacht durch den in katholischen Kreisen weit verbreiteten Eindruck, dass die Diktatur keineswegs so konsequent, wie von vielen katholischen Intellektuellen erhofft, gegen die liberale Bildungsbewegung vorging. Deren organisatorische und publizistische Flagschiffe wie das Freie Bildungsinstitut, die Zeitschrift Revista de Pedagogía und die Madrider Modellschule Instituto-Escuela existierten weiter, und katholische Bildungsfachleute sahen frustriert den liberalen Einfluss auf die staatliche Bildungsverwaltung kaum gemindert. Die „Ungläubigen“, so das enttäuschte Fazit eines Pädagogen nach einigen Jahren Diktatur, errichteten weiterhin „ihre Herrschaft über die Gesellschaft durch ihre Kontrolle von Bildung und Erziehung.“79 Die Erfahrung der Diktatur verstärkte die Auffassung maßgeblicher Katholiken, dass allein durch eine aktive Parteinahme des Katholizismus in Bildungsangelegenheiten eine Säkularisierung 77 78
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Domingo Lázaro an Michael Schleich, 3.6.1924, zit. nach Salvaverri, Lázaro, S. 205; Los intrigas nos producen asco, La Verdad, 21.5.1927; Als eindrucksvolles Zeugnis dieser Stimmungslage: Domingo Lázaro an Michael Schleich, 18.3.1929, zit. nach Salvaverri, Lázaro, S. 241. Siehe aber auch schon: El primer Congreso Nacional de Educación Católica, RC 12 (1924). Siehe als gutes Beispiel: El Padre T. Rodríguez en el Congreso de Granada: La Escuela y el institucionismo (II), La Verdad, 3.7.1926.
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von Bildungswesen und Gesellschaft abgewendet werden könne. Die Kirche, so die neue Überzeugung, musste die liberalen Reformer auf ihrem eigenen Terrain schlagen, dem Terrain der pädagogischen Debatten, der Lehrer- und Elitenbildung und der Durchdringung der Bildungsverwaltung. Dazu war eine Neuausrichtung katholischer Bildung nötig, die weniger auf die Eroberung formaler Machtpositionen in Staat und Bildungswesen setzte als auf die bisher vermeintlich zu wenig beachtete individuelle Persönlichkeitsformung von Lehrern, Eltern und Schülern. In organisationspolitischer Hinsicht legten diese Einsichten die Etablierung neuer Institutionen pädagogischer Forschung und Diskussion sowie neue Kanäle der Popularisierung zeitgemäßer Methoden christlicher Menschenbildung nahe.80 Getragen wurde dieser Reformimpuls von einer neuen Generation von Bildungsexperten. Seit Ende der 1910er Jahre war es insbesondere Domingo Lázaro, der den Zusammenschluss des katholischen Bildungsmilieus vorantrieb. Lázaro war zunächst Provinzialdirektor für Kastillien des Marianistenordens, der sich, aus Frankreich stammend, wie die Jesuiten auf die Erziehung der Ober- und oberen Mittelschichten spezialisiert hatte. Im Jahr 1924 übernahm er dann als Direktor das bedeutende Colegio Nuestra Señora del Pilar in Madrid. Wie viele andere katholische Intellektuelle hatte er früh eine widersprüchliche Faszination für das ILE entwickelt, deren Ansatz umfassender Persönlichkeitsbildung und stiller Organisationsarbeit er bewunderte. Seine Aktivität richtete sich schon früh auf eine langfristig ausgerichtete Bildung überzeugter christlicher Pädagogen und Erzieher, die als Vorkämpfer einer Rechristianisierung sowohl in den staatlichen Verwaltungen als auch in der Gesellschaft aktiv werden würden. Gegen die Erfolge des ILE gelte es, einen „katholischen Generalstab für Bildungsangelegenheiten“ ins Leben zu rufen.81 Erste Vernetzungsversuche unternahm Lázaro zusammen mit dem Vertreter der ersten Reformgeneration um Rufino Blanco Ende 1919. Sie planten insbesondere die Gründung einer neuen katholischen Bildungszeitschrift als Ausgangspunkt einer „ernsthaften pädagogischen Bewegung.“ Gespräche mit den Brüdern der Christlichen Schulen (Hermanos de las Escuelas Christianas), einem der wichtigsten Bildungsorden, zerschlugen sich aber angesichts des Desinteresses der Ordensvertreter. 82 Trotz dieses Misserfolgs verfolgte Lázaro in den folgenden Jahren seine Pläne hartnäckig weiter. Ab Mitte der 1920er Jahre gelang es ihm, einen regelmäßigen Austausch von Vertretern der großen Bildungsorden der Marianisten, Maristen und Brüdern der Christlichen Schulen zu etablieren. Doch ein ausgeprägtes Misstrauen der Orden gegen 80 81 82
Siehe als programmatischen Entwurf: A modo de presentación y programa, Atenas 1, 15.4.1930. Domingo Lázaro an Michael Schleich, Ende März 1930, zit. nach Salvaverri, Lázaro, S. 243f. Domingo Lázaro an Michael Schleich, 20.11.1919, zit. nach ebd., S. 202.
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einander sowie ein andauerndes Desinteresse der spanischen Bischöfe verhinderten lange Zeit praktische Erfolge. So klagte Lázaro noch im Frühjahr 1929 bitter über die fehlende Durchschlagskraft seiner Reformvorschläge. Selbst die Jesuiten, die zunächst positive Signale sendeten, nahmen von dem Projekt einer gemeinsamen Bildungszeitschrift Abstand.83 Doch diese Klagen dürfen nicht verdecken, dass unter der Oberfläche doch ein langsamer Einstellungswandel vonstatten ging. Ohne ihn wäre unter den günstigen Rahmenbedingungen des Jahres 1929/30 die überraschend schnelle Neuordnung katholischer Bildung und Erziehung nicht möglich gewesen, in deren Zentrum die Gründung der Federación Amigos de la Enseñanza (Föderation der Erziehungsfreunde, FAE) als neue Schaltstelle katholischer Bildung und der mit ihr verbundenen neuen gesamt-katholischen Erziehungszeitschrift Atenas im Frühjahr 1930 stand.84 Einige Faktoren wirkten in dieser revolutionäre Züge tragenden Neuausrichtung der katholischen Bildungslandschaft innerhalb eines Jahres zusammen. Zunächst zeitigte die Vernetzungsarbeit doch einige Erfolge. Vor allem fand Lázaro in dem Jesuiten Enrique Herrera Oria (1885-1951) einen wichtigen Bundesgenossen, der das wichtige jesuitische Bildungsmilieu für einen Zusammenschluss gewann. Enrique war der ältere Bruder Ángel Herreras (1886-1968), der als Vorsitzender der äußerst einflussreichen Asociación Católica Nacional de Propagandistas (ACNP) und als mächtiger Direktor der katholischen Tageszeitung El Debate eine der wichtigsten Figuren des politischen Katholizismus Spaniens vor dem Bürgerkrieg war.85 Die Jesuiten verfügten als Ausbilder wichtiger Gruppen 83 84
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Domingo Lázaro an Michael Schleich, 18.3.1929, zit. nach ebd., S. 241. Schon zeitgenössisch sahen die katholischen Kommentatoren in der Gründung der FAE den „Beginn einer neuen Etappe der nationalen Pädagogik“: G.A., Tercera Semana de Estudios Pedagógicos en Madrid (29.12.1933–6.1.1934), RyF 104, 1934, S. 392–95, hier S. 392. Angesichts ihrer großen Bedeutung für die spanische Geschichte der 1930er und 1940er Jahre hat die FAE erstaunlich wenig historisches Interesse auf sich gezogen. Mit ihrer Geschichte beschäftigen sich lediglich zwei kurze Aufsätze aus den 1980er Jahren, von denen der eine in einem Sammelwerk von 1995 noch einmal unverändert abgedruckt wurde: Bernabé Bartolomé Martínez/Juana Hernández Crespo, La Federación de Amigos de la Enseñanza (F.A.E.) como alternativa pedagógica, in: Julio Ruiz Berrio (Hrsg.), La Educación en la España contemporánea. Cuestiones Históricas, Madrid 1985, S. 254– 62; Carmen Labrador Herraiz, Las Semanas de Estudios Pedagógicos de la F.A.E. (1932– 1936), in: Berrio, Educación, S. 243–53. Bildungshistorische Überblickswerke weisen zwar zumeist knapp auf die FAE hin, unterschätzen aber ihre Bedeutung vollständig. Vgl. etwa Escolano Benito, Educación, S. 108f. Ein Grund für die fehlende Aufmerksamkeit ist sicherlich die äußerst schwierige Quellenlage. Es ist sehr fraglich, ob Unterlagen aus der Vorbürgerkriegszeit erhalten sind. Die zitierten Aufsätze stützen sich lediglich auf publiziertes Material. Trotz intensiver Recherchen war es nicht möglich, Unterlagen der Vereinigung oder ihrer Nebenorganisationen in Archiven aufzufinden. Über eine genaue Analyse des publizistischen Zentralorgans des Verbandes, der Zeitschrift Atenas, lassen sich jedoch Politik und Praxis der FAE gut erschließen. Zur Biografie und Bedeutung Ángel Herreras siehe: José Luis Gutiérrez García, Estudios sobre Ángel Herrera Oria, Madrid 2009.
1. Der Kampf um die Einheit des katholischen Erziehungsmilieus
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der spanischen Ober- und Mittelschichten über besonderes pädagogisches Prestige und Gewicht. Auf den pädagogischen Kongressen von 1913 und 1924 war ihre Präsenz so stark gewesen, dass Gegner diese als jesuitisch unterwandert anprangern konnten.86 Erst Ende der 1920er Jahren öffneten sich jedoch die jesuitischen Intellektuellen gegenüber anderen katholischen Bildungsströmungen, wobei Herrera Oria eine wichtige Vermittlerfunktion ausübte. Nach längeren Studienreisen, die ihn nach Deutschland und England geführt hatten, machte er sich am Ende der 1920er Jahre als Redner und Autor pädagogischer Bücher einen Namen, bevor er nach 1930 zu einem der einflussreichsten katholischen Bildungspolitiker und –theoretiker aufstieg. Gemeinsam mit Lázaro war Herrera der entscheidende Motor hinter der FAE.87 Die dritte wichtige Figur im Gründungsprozess der FAE war Pedro Poveda, dessen Kontakt zu Lázaro und Herrera Oria sich Ende der 1920er Jahre intensivierte. Trotz des Scheiterns seiner weiterreichenden Pläne vor dem Ersten Weltkrieg war Poveda nicht zuletzt auch aufgrund seiner Stellung als Beichtvater Alfons XIII. ein einflussreicher Reformer geblieben, auch wenn ihn Teile der katholischen Rechten aufgrund seines Engagements für eine zeitgemäße Mädchenbildung als „katholischen Feministen“ scharf kritisierten. Während des Ersten Weltkrieges baute er zusammen mit Josefa Segovia die Institución Teresiana als religiöse Gemeinschaft und Zentrum einer erneuerten Mädchen- und Frauenbildung auf. In den 1920er Jahren expandierte das Institut schnell und zählte 1934 mehr als ein Dutzend Zentren in ganz Spanien, in denen 2 500 angehenden Lehrerinnen und 4 500 Schülerinnen lebten und arbeiteten. Poveda und Segovia teilten mit Lázaro das Interesse an einer Neuausrichtung christlicher Persönlichkeitsbildung. Das Institut strebte die „Missionierung“ der öffentlichen Schulen und ihres Lehrkörpers an. 88 Eine weitere wichtige Keimzelle der Neuorganisation stellte das vom Bischof von Madrid-Alcalá, Leopoldo Eijo y Garay, gegründete und finanzierte katholische Lehrerseminar Institución del Divino Maestro in Madrid dar. Das Institut widmete sich seit seiner Eröffnung zum Studienjahr 1926/27 in Konkurrenz zu den regulären staatlichen Lehrerseminaren der katholischen Lehrerbildung. Bis zum Beginn des Bürgerkrieges bereitete es unter der Lei86 87
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Luis de Zulueta, Alrededor de una pregunta: ¿La libertad o el Santo Oficio? La Libertad, 23.4.1924. Zur frühen Tätigkeit siehe: Enrique Herrera Oria, El concepto de la futura Universidad espanola, según los debates de la Asamblea, RyF 82 (1928), S. 433–49; Ders., Orientaciones de los estudios secundarios en Italia, RyF 83 (1928), S. 422–34. Es existieren zwei Aufsatzsammlungen von Herrera Oria, die beide im Hausverlag der FAE publiziert wurden: Educación de una España nueva, Madrid 1934; Sabe educar España? Madrid 1935. Biografische Arbeiten zu seiner Person liegen bisher nicht vor. Ballester Reventós, Prólogo, S. cxxxvi. Auf die Arbeit der Institución wird unten noch genauer eingegangen. Im Archiv der Institucion Teresiana, Madrid, sind Briefwechsel von Poveda und Lázaro erhalten, deren Einsicht dem Verfasser leider nicht genehmigt wurde.
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tung des katholischen Multifunktionärs und Schulleiters Isidro Almazán in Jahreskursen eine ausgewählte Zahl von jeweils etwa 100 Schülern auf die Abschlussprüfungen am staatlichen Lehrerseminar vor. Zusätzlich gab es seit 1929 eine eigene Zeitschrift mit dem Titel Boletín de la Institución del Divino Maestro heraus.89 Mit seiner pädagogischen Ausrichtung auf die Formung neuer christlicher Lehrer entsprach das Institut in hohem Maße den Vorstellungen der Reformer um Lázaro und Herrera Oria und lässt sich als erste Verwirklichung ihrer Ideen verstehen. Es ist denn auch wenig überraschend, dass Almazán bis zu seiner Ermordung durch republikanische Milizen zu Beginn des Bürgerkrieges zum inneren Führungszirkels der FAE gehörte. Die Reformbemühungen hätten jedoch wahrscheinlich nicht so bald Erfolg gehabt, hätten nicht zwei äußere Ereignisse ihnen zu neuer Anerkennung innerhalb des Katholizismus verholfen. Zunächst wiesen heftige Studentenproteste im Mai 1929 gegen ein Dekret des Bildungsministers Callejo, das in Einklang mit jahrelangen kirchlichen Forderungen die katholischen Privatuniversitäten Deusto und El Escorial den staatlichen Universitäten rechtlich gleichstellte, der Kirche erneut und schonungslos die Grenzen ihres gesellschaftlichen Einflusses auf. Die katholischen Eliten sahen in den Protesten nicht ganz zu Unrecht einen weiteren Frontalangriff gegen ihre gesellschaftliche Stellung. Besonders schmerzend war es für die katholischen Kreise, dass es gerade wichtige Teile der nachwachsenden intellektuellen Eliten des Landes waren, die oft genug katholische Schulen besucht hatten, die sich nun gegen die Kirche wandten. Die Proteste und der sich anschließende Zerfall der Diktatur im Winter 1929/30 erhöhten in kaum zu unterschätzender Weise die Bereitschaft der kirchlichen Hierarchie, den Bildungsreformern Gestaltungsspielraum und Unterstützung zu gewähren.90 Hinzu trat ein binnenkatholisches Ereignis von außerordentlicher Bedeutung für die Reformer, die Verkündigung der Enzyklika Divini illius Magistri durch Papst Pius XI. am 31. Dezember 1929. Die Enyzklika betonte die Bedeutung der christlichen Erziehung und stellte – für die Reformer entscheidend –katholischen Laien die Gründung „besonderer Vereinigungen“ zur Aus- und Weiterbildung katholischer Lehrer und Erzieher frei.91 In der 89
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Nuestro Boletín, BDM, 1, Juli 1929. Eine historische Abhandlung zur Institución existiert bislang noch nicht. Einen verklärenden, aber dennoch informativen Überblick über die Gründungszeit gibt: Leónides Gonzalo Calavia, La Institución del Divino Maestro. Breve historia, in: Anuario de de la Enseñanza Privada en España. Curso 1943–1944, Madrid 1943, S. 106–115. Zu den Protesten siehe: Quiroga, Making Spaniards, S. 132f., der auch die Entfremdung zwischen Diktatur und Kirche eindringlich beschreibt. Siehe allgemein auch: Shlomo Ben-Ami, Fascism from Above. The Dictatorship of Primo de Rivera in Spain, 1923–1930, Oxford 1983; Ders., The Dictatorship of Primo de Rivera. A Political Reassessment, in: Journal of Contemporary History 12 (1977), S. 65–84. Siehe zur Enzyklika: Karl Erlinghagen, Grundfragen katholischer Erziehung. Die prinzipiellen Erziehungslehren der Enzyklika Pius’ XI. „Divini illius magistri“ vom 31.12.1929, Freiburg 1963.
1. Der Kampf um die Einheit des katholischen Erziehungsmilieus
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spanischen Situation konnte diese Erlaubnis von den Bildungsreformern nicht anders als ein Aufruf zum Handeln aufgefasst werden. Tatsächlich nutzten Lázaro und Herrera augenblicklich die veränderte Lage und drängten in einem längeren Memorandum den Erzbischof von Toledo, Pedro Segura y Sáenz, der in Personalunion Primus der spanischen Kirche und Weisungsberechtigter der Katholischen Aktion in Spanien war, zum Handeln. Dieser erkannte offensichtlich die Nützlichkeit eigenständiger Bildungsorganisationen gerade angesichts einer zu diesem Zeitpunkt politisch höchst ungewissen Zukunft und genehmigte am 15. März 1930 die Statuten der FAE als neuen Dreh- und Angelpunkt der katholischen Bildungsbewegung.92 Auch auf Seiten der religiösen Orden förderten die Ereignisse des Jahres 1929 die Bereitschaft zur Zusammenarbeit. In den Wochen nach der formalen Gründung der FAE erreichten die Initiatoren rasch den Beitritt aller Schulen der Jesuiten, Marianisten, Hermanos de las Escuelas Católicas, Maristen sowie von vierzehn weiblichen Kongregationen. Von den großen männlichen Bildungsorden blieben nur die Salesianer und die Piaristen anfangs der FAE fern, in deren Führungskreis die wichtigsten Männerorden paritätisch vertreten waren. Mit der FAE gelang somit im Frühjahr 1930 erstmals der organisatorische Zusammenschluss der wichtigsten katholischen Bildungsanbieter. Die Bedeutung dieses Bündnisses für die Geschichte des Katholizismus der folgenden Jahre kann kaum überschätzt werden. Im Gegensatz zu den ihr vorausgegangenen Projekten entfaltete die FAE fast sofort eine fieberhafte Aktivität und etablierte sich als zentrale Koordinations- und Planungsstelle. Enge personelle und institutionelle Beziehungen verband sie mit den katholischen Lehrerverbänden und dem neu gegründeten katholischen Elternverband. Sie gründete eine pädagogische Forschungs- und Studienabteilung, die jeweils Anfang Januar stattfindende pädagogische Kongresse (semanas pedagógicas) organisierte und Interessierte in mehrmonatigen Kursen und Studienprogrammen an die neue katholische Pädagogik heranführte. Nach dem Vorbild des Freien Bildungsinstituts sah es die FAE als eine ihrer wichtigsten Aufgaben an, über ihre Zeitschrift Atenas eine Tribüne pädagogischer Debatten zu etablieren. Schließlich übernahm sie mit Gründung der Zweiten Republik die Rolle als wichtigster politischer Lobbyist des katholischen Bildungswesens.93 Den Höhepunkt seines Einflusses erreichte der Verband in der Gründungsphase der Franco-Diktatur, in der seine überlebenden Vertreter die wichtigsten Funktionen der neuen Bildungsverwaltung übernahmen und die neue Bildungsgesetzgebung maßgeblich formulierten.94 92 93 94
Zur Vorgeschichte der FAE auf der Grundlage der Briefe Lázaros: Salvaverri, Lázaro, S. 243–50. Ebd., S. 243–45; A modo de presentación y programa, Atenas 1, 15.4.1930; Labrador Herraiz, Semanas. Vgl. José Manuel Alfonso Sánchez, Iglesia, política y educación en España (1940–1960). Documentos del Archivo Pla y Deniel, Madrid 2005.
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Mit der Gründung der FAE rückte eine neue, jüngere Generation an katholischen Bildungs- und Erziehungsexperten erstmals in Verantwortungspositionen. Diese Generation der um 1900 Geborenen sollte den katholischen Bildungsinitiativen der folgenden Jahre in hohem Maße ihren Stempel aufdrücken. Als Repräsentanten dieser neuen Generation sollen hier nur Alfonso Iniesta (1901-1994) und Josefa Álvarez Díaz (1898-?) vorgestellt werden. Beide wurden während der Zweiten Republik zu staatlichen Schulinspektoren berufen, traten darüber hinaus aber auch als Redner und Autoren der FAE hervor. In der Franco-Diktatur übernahm Iniesta den Vorsitz des katholischen Lehrerverbandes, während Álvarez zusätzlich zu ihrer Funktion als Schulinspektorin eine Professorenstelle an der privaten katholischen Kaderschmiede Escuela Superior de Educación übernahm. Beide bestimmten durch ihre zahlreichen Veröffentlichungen, Artikel und Reden die Bildungsdiskussionen im Frühfranquismus wesentlich mit.95 Zusammenfassend lässt sich die FAE von den früheren katholischen Bildungsorganisationen in mehreren Punkten abgrenzen. Zunächst war sie organisationsübergreifend orientiert. Es ging ihr um die Formulierung einer einheitlichen katholischen Position jenseits der Partikularinteressen der einzelnen religiösen Gemeinschaften und jenseits auch der Partikularinteressen von staatlicher und privater Lehrerschaft. Zweitens verstand sie sich nicht primär als bildungspolitischer Interessenverband. Zwar zwang sie die antiklerikale Bildungsreform der Zweiten Republik gegen die ursprünglichen Intentionen Lázaros und Herrera Orias in die Rolle eines öffentlichen Anwalts und Lobbyisten katholischer Bildung. Doch war ihr Kernanliegen die Erneuerung katholischer Persönlichkeitsbildung und die Formung einer neuen christlichen Lehrerschaft und gesellschaftlichen Elite. Die Vereinigung verstand sich als Avantgardeorganisation eines neuen Katholizismus. Drittens professionalisierte sich mit Gründung der FAE die katholische Bildungsarbeit und gewann gegenüber der kirchlichen Hierarchie an Eigenständigkeit.96 Diese Professionalisierung katholischer Bildung zeigt sich sehr deutlich auf den Bildungskongressen, die bis 1930 noch sehr stark von kirchlichen Würdenträgern geprägt waren, danach aber im Wesentlichen von einer Gruppe katholischer Pädagogen bestritten wurden. Mit der FAE betrat eine Generation von Bildungs- und Erziehungsexperten die Bühne, die ein
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Alfonso Iniesta, Formación del maestro en la España nueva, Atenas 77, Jan. 1938; Escuala Superior de Educación, in: Anuario de de la Enseñanza Privada en España. Curso 1943– 1944, Madrid 1943, S. 78–93. Dies war kein Spezifikum des spanischen Katholizismus. Vgl. Christoph Schmidtmann, „Verbandskardinäle“ und „Berufskatholiken“. Funktionäre im Katholizismus, in: Till Kössler/Helke Stadtland (Hrsg.), Vom Funktionieren der Funktionäre. Politische Interessenvertretung und gesellschaftliche Integration in Deutschland nach 1933, Essen 2004, S. 239–264.
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neues professionelles Selbstbewusstsein besaß und sich als Speerspitze einer pädagogischen Erneuerung verstand. 97 Die Erneuerung katholischer Bildungsorganisation lässt sich vorläufig wie folgt zusammenfassen: Die Ängste vor einer beobachteten schleichenden Säkularisierung der spanischen Gesellschaft zusammen mit dem Konkurrenzdruck liberaler Bildungsreformprojekte stießen seit der Jahrhundertwende innerhalb des Katholizismus eine Debatte über eine organisatorische und konzeptionelle Erneuerung katholischer Bildung und Erziehung an. War es zunächst das Ziel der Kirche gewesen, das Netz an religiösen Ordensschulen auszubauen und das gesamte Bildungswesen katholischer Kontrolle zu unterstellen, mehrten sich nun die Stimmen, die eine Koordination und Intensivierung katholischer Bildung als unabdingbare Voraussetzung einer Rechristianisierung der spanischen Gesellschaft ansahen. Die Verlagerung der Aufmerksamkeit von der Bildungsverwaltung und -aufsicht hin zum Bildungsprozess selbst trug dem Umstand Rechnung, dass die Kirche unter den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft nur ein Akteur im Bildungsbereich unter mehreren war. Diese Einsicht war schmerzhaft und wurde von einer Mehrheit der kirchlichen und kirchennahen Intellektuellen erst unter dem gewaltigen äußeren Druck am Ende der Diktatur vollzogen, sie eröffnete aber im Verständnis der Reformer der Kirche auch neue Möglichkeiten einer aktiven Missionierung von Lehrern, Eltern und Schülern. Nicht mehr primär durch die Bestimmung der äußeren, bildungspolitischen Rahmenbedingungen, von Schulaufsicht und Lehrplangestaltung, sondern durch eine innere Persönlichkeitsreform von Erziehern und zu Erziehenden sollte die gesellschaftliche Säkularisierung gestoppt und rückgängig gemacht werden. Die Reformkräfte stießen zunächst auf starke innerkatholische Widerstände und waren in sich gespalten. Eine Mobilisierung des katholischen Bildungsmilieus gelang bis 1930 immer nur kurzfristig und in einem eng begrenzten Rahmen. Unter der Diktatur scheiterte der Versuch, nationale Interessenverbände des Privatschulwesens zu etablieren. Eine nationale Elternvereinigung kam kaum auf die Beine und auch eine Vereinigung der Privatschullehrer entfaltete kaum Mobilisierungskraft. Doch vollzog sich allmählich, zunächst über Einzelinitiativen, informelle Gespräche und Zeitschriften die Institutionalisierung eines eigenständigen katholischen Erziehungsmilieus über die einzelnen Bildungsorden und Regionen hinweg. Mit der Gründung der FAE übernahm eine Reformströmung die Führungsrolle, die neben der organisatorischen auch eine grundlegende inhaltliche Reform katholischer Bildung und Erziehung durchzusetzen versuchte.
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El Segundo Congreso Catequístico Nacional, La Verdad, 12.6.1926. Eine Aufstellung aller Vorträge auf den pädagogischen Wochen der FAE findet sich in: Nuestras Semanas de Educación, in: Anuario de la Enseñanza Privada en España. Curso 1943–1944, Madrid 1943, S. 143–152.
2. Persönlichkeitsreform als Gesellschaftspolitik. Rechristianisierung und religiöse Menschenbildung nach 1900 Die Ausbildung eines eigenständigen katholischen Bildungsmilieus war nur die eine Seite des fundamentalen Wandels katholischer Erziehung nach 1900. Die neue organisatorische Eigenständigkeit reflektierte grundsätzliche Neuerungen in den katholischen Debatten über Kindheit, Jugend, Bildung und Erziehung, wie sie sich zunächst in engeren Reformkreisen, bald aber auch deutlich über diese hinaus formten. Die nationale Krise von 1898, antiklerikale Ausschreitungen und die Verbreitung neuer liberaler Erziehungskonzeptionen stellten überkommene Erziehungspraktiken in Frage und stießen eine intensive Suche nach neuen, tragfähigen Leitbildern katholischen Aufwachsens, Bildung und Erziehung an. Der katholische Umgang mit Kindern, das war die Grundüberzeugung der Reformer, musste im 20. Jahrhundert anders beschaffen sein als zu Zeiten, in denen die christliche Religion vermeintlich unangefochten das geistige Leben des Landes bestimmt hatte. Die Kirche und ihre Erzieher hatten Kinder intensiver als bisher christlich zu imprägnieren und zu aktiven Streitern der Kirche in einer Zeit von Säkularisierung und Kirchenfeindschaft zu formen. Kindheit und Jugend wurde nach 1900 zu einem Hauptfeld apostolischer Gesellschaftsreform. Doch wie sollte eine zeitgemäße katholische Kindheit aussehen? Wie musste eine Persönlichkeitserziehung beschaffen sein, die unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts erfolgreich sein wollte? Es ging um die drängende Frage, wie Kinder angesichts des wesentlich als Säkularisierung wahrgenommenen gesellschaftlichen Wandels und der liberalen Bildungsoffensiven zu guten Christen erzogen werden könnten, ja grundsätzlicher noch: Was unter „guten Christen“ im 20. Jahrhundert überhaupt zu verstehen sei. Diese Fragen begleiteten die katholischen Debatten in den folgenden Jahrzehnten und berührten Grundprobleme christlicher Religion in der Moderne: Wie ist ein wahrhaft christliches Leben in einer säkularen Umwelt möglich? Sollte ein solches Leben eher weltabgekehrt und monastisch oder weltzugewandt und missionierend gestaltet werden? Und: Wie lässt sich Glaube weitergeben an Kinder, die nicht schon in ihrer Familie eine intensive Religiosität erlebt haben? Schon im 19. Jahrhundert hatte die Kirche versucht, auf diese Fragen tragfähige Antworten zu finden. Um 1900 büßten diese älteren Antworten jedoch an Überzeugungskraft ein. Eine neue, intensive Debatte über die Formung neuer Christen setzte ein.
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I. Kontrollierte Moderne
2.1 Die Ausgangslage: Religion und Gesellschaftsreform vor 1900 Christliche Erziehung war in Spanien am Ausgang des 19. Jahrhunderts weder einheitlich noch statisch. Zwei Hauptströmungen religiöser Sozialisation lassen sich unterscheiden. Sie lassen sich als christlich-bürgerliches und als monastisches Modell bezeichnen und standen in einem instabilen, dynamischen Spannungsverhältnis zueinander. Eine weitere Verbreitung fand die christlich-bürgerliche Konzeption, die sich eine hegemoniale Stellung in der publizistischen Öffentlichkeit und an den Volksschulen eroberte. Religiöse Unterweisung war in diesem Modell sehr weitgehend mit einer moralisch-patriotischen Tugenderziehung identisch und in den Dienst bürgerlicher Charakterbildung gestellt. Durch die Vermittlung eines breiten Tugendkanons und die Übung christlicher caritas sollte der Charakter der Heranwachsenden veredelt und den Kindern Mittel an die Hand gegeben werden, ein sittliches, auf das Gemeinwohl ausgerichtetes Leben zu führen. Religion bezog sich hier in erster Linie auf eine überindividuelle, moralische Ordnung, und religiöse Sozialisation zielte auf die bereitwillige Einfügung des Einzelnen in diese feststehende Ordnung. Charakterbildung wurde in erster Linie als Ein- und Unterordnung des Individuums in die göttliche und weltliche Ordnung verstanden. In diesem Sinne sollten Kinder von früh an Wahrhaftigkeit (veracidad), Gehorsam (obediencia), Dankbarkeit (gratitud) und Bedürfnislosigkeit (a tener pocas necedidades) einüben.1 Darüber hinaus diente religiöse Bildung als Lebensratgeber: Religion „erweckt in uns karitative Gefühle [...], tröstet und stärkt uns in Stunden des Unglücks, sie erlaubt uns, mit Gleichmut die Mühsal des Lebens zu ertragen und füllt uns mit den heroischsten Tugenden.“2 Religion und religiöse Unterweisung waren im Kern rationale Unternehmungen. Religiös-sittliches Handeln wurde als Ergebnis von vernünftiger Einsicht und gutem Willen verstanden. Damit grenzt sich dieses Modell deutlich von der vermeintlich irrationalen Volksreligiosität ab, von übertriebener Frömmigkeit und religiöser „Schwärmerei“, die von den Verfechtern christlich-bürgerlicher Moralerziehung mit tiefem Misstrauen betrachtet wurde.3 Der reformerische Kern dieser Erziehung zielte gerade auf die Überwindung abergläubischen Volksglaubens und eine zivilisierte christliche Persönlichkeit. Entsprechend erfolgte religiöse Unterweisung fast ausschließlich durch die Ansprache von Willen und Verstand. Die Erläuterung und das anschließende Memorieren des Katechismus bildete das hauptsächliche und in den 1 2 3
M.X., Cómo se educan hijos felices, in: El Magisterio Español, 6.6.1900. Siehe auch Simón Aguilar y Claramunt, Dos clases de operarios, El Magisterio Español, 7.4.1900. Roviralta, Educación Moral, in: El Magisterio Español, 31.3.1900. Ebd. Das religiöse Gefühl dürfe „weder in Monomanie noch in Fanatismus“ abgleiten.
2. Persönlichkeitsreform als Gesellschaftspolitik
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Augen der Zeitgenossen hinreichende pädagogische Mittel. Daneben sollten Erzieher durch vorbildliches Handeln wie etwa ein bescheidenes Auftreten oder die dezente Unterstützung Bedürftiger die moralische Überlegenheit christlich-tugendhaften Lebens praktisch demonstrieren und den Kindern helfen, die religiösen Lektionen zu verinnerlichen. Popularisiert wurde dieses Modell rational-bürgerlicher Religion in Kinderzeitschriften, vor allem aber in Anstandsfibeln (manuales de urbanidad), die sich im 19. Jahrhundert zu einem äußerst populären Genre und Medium der Diffusion hegemonialer gesellschaftlicher Normen entwickelten, einen festen Bestandteil des Volksschulunterrichts ausmachten und in den ersten Jahrzehnten des Restaurationsregimes den Höhepunkt ihrer Ausbreitung fanden. Forscher haben mindestens 400 unterschiedliche Fibeln nachweisen können, die zwischen dem frühen 19. Jahrhundert und den 1950er Jahren in vielfachen Auflagen zu Hunderttausenden auf den Markt geworfen wurden. Die Fibeln ähnelten sich in der Regel sehr und umfassten neben Kapiteln zu bürgerlichen Werten, Etikette und Höflichkeitsregeln jeweils Abschnitte zu christlicher Moral, die neben einer Darstellung christlicher Tugenden – oft stereotyp zugespitzt auf die Kardinaltugenden Glaube, Hoffnung und Liebe (fe,esperanza, caridad) – lange Listen religiöser Pflichten umfassten.4 Religiös-bürgerliche Unterweisung in diesem Sinne zielte auf eine umfassende bürgerliche Gesellschaftsreform. Sie konnte dabei jedoch unterschiedliche politische Aufladungen erhalten und lässt sich nicht eindeutig oder ausschließlich mit einem spezifischen politischen Lager identifizieren. Je nachdem, ob man den Schwerpunkt eher auf eine Stabilisierung der existierenden Gesellschaftsordnung oder auf deren Reform im bürgerlichen Geiste legte, konnte das Modell sowohl in konservative als auch in liberale Gesellschaftspolitik integriert werden. Gerade auch weil die katholische Religion in diesem Modell nicht zwingend als tragende Säule von Erziehung erschien, konnte es die politischen Lagergrenzen transzendieren. Es lohnt sich, kurz die unterschiedlichen Ausprägungen zu betrachten. Der sozialkonservative Reformentwurf stand im Kontext der nachrevolutionären Stabilisierungsversuche der frühen Restaurationsära, in der es den konservativen Eliten darum ging, die durch die revolutionären Unruhen in Bewegung geratene Gesellschaft zu pazifizieren und politisch neu zu integrieren. Eng damit verbunden war auch die Kirche nach Jahren virulenter Kirchenkritik um eine Wiedererrichtung ihrer moralischen Autorität bemüht.5 Religiöse Bildung besaß in 4
5
Jean-Louis Guereña, El Alfabeto de las Buenas Maneras. Los Manuales de Urbanidad en la España Contemporánea, Madrid 2005, bes. S. 64f. Weiterhin: Carmen Benso Calvo, Controlar y Distinguir. La Enseñanza de la Urbanidad en las Escuelas del Siglo XIX, Vigo 1997. Vgl. als pädagogische Begründungen: De los buenos hábitos en la escuela. La urbanidad, EM 13, Apr. 1892; M. Malapert, La educación moral de la juventud, in: BILE 16 (1892), S. 181–88. Callahan, Catholic Church, S. 20–56.
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diesem Kontext eine deutlich herrschaftsstabilisierende Stoßrichtung. Das auf Respekt (respeto), Ordnung, Harmonie, körperliche Selbstbeherrschung und Fügsamkeit gegründete Erziehungsprogramm sollte der hierarchisch gegliederten bürgerlichen Gesellschaft der Restaurationsmonarchie einen sozialmoralischen Unterbau geben und sie kulturell absichern.6 Die Vereinigung katholischer Lehrer brachte dieses Verständnis von religiöser Bildung im Rahmen der Katechismusdebatten 1913 in einer exemplarischen Stellungnahme auf den Punkt: Religiöse Unterweisung sei das beste Mittel, „dem Vaterland eine moralische Grundlage zu geben, da sie zu Anerkennung von Autorität, Respekt vor fremdem Eigentum hinleitet, die Bande zwischen reich und arm stärkt und die Liebe zur Arbeit weckt“.7 Die Verbindung von religiöser Unterweisung und politischem Konservativismus war eng. Es darf aber nicht übersehen werden, dass das christlichbürgerliche Erziehungsmodell vor 1900 sich auch in liberale Programme einbinden ließ, die eine Reform der Gesellschaft über eine Selbstreform der Individuen verfolgten. Deutlich lässt sich dies in liberalen Erziehungszeitschriften und einigen frühen Kinderzeitschriften erkennen. Die Zeitschriften La Niñez und Los Niños entfalteten seit Ende der 1870er Jahre ein ambitioniertes bürgerliches Selbstreformprogramm für Kinder unter erwachsener Aufsicht. In Moralgeschichten, Bildern und Sinnsprüchen entwarfen sie Modelle vorbildlicher, tugendhafter Kinder, die ihr Geld nicht für Süßigkeiten, sondern für Lehrbücher ausgaben, Schwächeren halfen und ihr Essen mit Bedürftigen teilten.8 Religion und religiöse Themen fehlten in den Zeitschriften keineswegs, waren aber in ihren Inhalten auf eine allgemeine moralisch-bürgerliche Persönlichkeitsreform bezogen. Eine Geschichte der Heiligen Drei Könige führte diese etwa als Schiedsrichter über das moralische Verhalten der Kinder ein, die je nachdem ob diese „gehorsam, fleißig und gegenüber ihren Eltern respektvoll“ waren, ihnen Geschenke zukommen lassen oder nicht. Ein Nacheifern der tugendhaften Qualitäten der Könige wurde den kindlichen Lesern mit Bezug auf sehr handfesten Nutzen empfohlen, „damit eure Eltern euch lieben, damit eure Lehrer euch Preise zuerkennen und damit jedermann euer Freund sein will.“9 Religion trat hauptsächlich als Lebenshilfe in Erscheinung. Religiöse Bildung vermittelte die „Kunst, mit sich selbst und seinesgleichen in Harmonie zu leben und gut zu sein, um dadurch glücklich zu werden.“10 Wie fließend die Übergänge von dezidiert katholisch-konservativen Positionen und liberalen Entwürfen Anfang der 1890er Jahre oftmals waren, 6 7 8
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Guereña, Alfabeto, S. 129–37, 166–68. Por la Enseñanza Cristiana, La Enseñanza Católica, 9.4.1913. Ähnlich schon: Sección Doctrinal: Las Instituciones morales y pedagógicas, El Colegio (Sevilla) 2, 31.12.1887. Zitat: Prólogo, in: La Niñez 1, Jan. 1879. Siehe weiterhin exemplarisch: Bildergeschichte, o.T., La Niñez 8, März 1879; Carlos Frontaura, Retratos Infantiles, in: Los Niños 3, 1.2.1883. Los Reyes Magos, in: La Niñez 1, Jan.1879. Marmontel, Moral religiosa, in: La Niñez 1, Jan. 1879.
2. Persönlichkeitsreform als Gesellschaftspolitik
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zeigt ein Blick in die führenden liberalen Bildungszeitschriften. Ein Aufsatz im Boletín de la Institución Libre de Enseñanza von 1892 über die „Moralische Erziehung der Jugend“ plädierte etwa mit ganz ähnlichen Begriffen wie La Niñez und konservative Autoren für eine Erziehung zu „Arbeitsfleiß, Mäßigung und Würde“, ohne diese allerdings religiös zu fundieren.11 Und auch nach den Vorgaben der liberalen Escuela Moderna von 1892 sollte Kindererziehung im Grundsatz darauf gerichtet sein, die Schüler für ein tugendhaftes Leben zu zivilisieren. Sie sollten „bereitwillig die Gebote der Höflichkeit“ befolgen, nicht auf den Boden spucken, nicht mit der Hand vor dem Mund sprechen, nicht Mitschüler anrempeln und bei Anrede aufstehen. Der „nützliche Bürger“ (hombre útil), wie ihn eine katholische Schulzeitschrift 1887 beschrieb, „aufmerksam, höflich, distinguiert, mit einwandfreien Umgangsformen, einem angenehmen Äußeren, sympathisch und diskret“ bildete das Ideal sowohl liberaler wie katholischer Bildungszeitschriften.12 In seiner Struktur erweist sich das christlich-bürgerliche Sozialisationsmodell in seinen spanischen Varianten als Teil transnationaler, überkonfessioneller bürgerlicher Kindheits- und Gesellschaftsreform, wie sie in vielen europäischen und außereuropäischen Ländern im Laufe des 19. Jahrhunderts Einfluss gewann.13 In unserem Kontext ist die Feststellung wichtig, dass religiöse Bildung vor den 1890er Jahren keineswegs ausschließlich in einem engeren Sinne kirchlich-katholisch konnotiert war. Neben dieser wirkmächtigen, politisch schillerenden Blaupause religiöser Erziehung als bürgerlicher Akkulturation existierte vor 1900 jedoch ein weiteres, spezifisch katholisches, „monastisches“ Modell, das seine Ausformung vor allem in den religiösen Internaten fand, welche die Kinder der oberen sozialen Schichten unterrichteten. Obwohl es sich nur auf einen kleinen Teil der Kinderpopulation bezog, ist seine Bedeutung nicht zu unterschätzen. Es muss vielmehr als Avantgardemodell verstanden werden, das ganz bewusst auf die Erziehung einer zukünftigen gesellschaftlichen Elite ausgerichtet war, von der sich die Kirche Multiplikatoreneffekte erwartete. In Reaktion auf das Vordringen von Liberalismus und Säkularisierung und angesichts eines Verständnisses von Kindheit als leicht beeinfluss- und korrumpierbar erschien es der Kirche im 19. Jahrhundert zunehmend notwendiger, die Kinder für die Zeit ihrer Erziehung in geschützten Räumen zu isolieren bis ihr Charakter soweit christlich gefestigt sei, dass er den Anfechtungen der Welt aus eigener Kraft widerstehen könne. Dem monastischen Modell des katholischen Internats, das auf die jesuitische Pädagogik des 17. Jahrhunderts zurückgeht, lag die Auffassung zugrunde, dass die äußere Ordnung der Schul- und Lebens11 12
13
M. Malapert, La educación moral de la juventud, BILE 16 (1892), S. 181–88. Erstes Zitat: De los buenos hábitos en la escuela. La urbanidad, EM 13, Apr. 1892, Zweites Zitat: Sección Doctrinal: Las Instituciones morales y pedagógicas, El Colegio (Sevilla) 2, 31.12.1887. Vgl. etwa die einschlägigen Passagen in: Budde, Auf dem Weg.
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umwelt in einem osmotischen Prozess die innere Ordnung der Kinderseele prägt und gestaltet. Dies zeigt sich besonders deutlich in der Forderung nach einer exakten Zeiteinteilung kindlicher Aktivitäten. Je perfekter die äußere Ordnung, umso vorbildlicher würden sich Körper und Psyche des Kindes entwickeln.14 Die umfassenden, uns heute nur mehr schwer nachvollziehbaren Maßnahmen, die die Schulen ergriffen, um Körper und Verhalten ihrer Schüler möglichst vollständig zu kontrollieren, sind vor diesem Hintergrund zu verstehen. Vor allem die einflussreichen und stilbildenden Jesuitenkollegs richteten das Schulleben sehr weitgehend an der klösterlichen Novizenausbildung aus. Über die neun Monate des Schuljahres getrennt von ihren Familien und der Außenwelt näherte sich das Leben der Schüler demjenigen angehender Ordensbrüder und -schwestern an.15 Die Schulen versuchten das gesamte Leben der Kinder mit Religion zu durchtränken. Ständige Gebete, tägliche Gottesdienste, regelmäßige religiöse Vorträge und eine Vielzahl devotionaler Praktiken wie Andachten, Vigilien und Umzüge webten Religion in alle Aspekte des Schülerlebens ein. Die intensive Spiritualität der Schulen sollte den Kinder helfen, in eine unmittelbare, familiäre Verbindung zu Jesus, Maria und ausgesuchten Heiligen als Verkörperungen der göttlichen Transzendenz zu treten: „Der Kontakt zu den himmlischen Gestalten konstituierte ein grundlegendes Element der religiösen Erziehung“.16 Ziel war es, sich in einem Prozess spiritueller Vervollkommnung der jenseitigen Erlösung schon im Diesseits anzunähern und die eigene Person religiös zu läutern. Die beiden hier skizzierten Modelle religiöser Sozialisation waren komplementär, da sie sich in der Praxis auf unterschiedliche soziale Schichten bezogen – die große Masse der Volksschüler in dem einen Fall, die Kinder der gesellschaftlichen Eliten in dem anderen. Beiden gemein war die klare Kategorisierung von Kinderverhalten in die moralischen Kategorien gut und böse, ein Verständnis von Kindernatur als wankelmütig und intensiver Beaufsichtigung durch Erwachsene bedürftig, schließlich die Auffassung, dass nur durch ein striktes Befolgen moralischer Maximen eine charakterliche Festigung zu erreichen sei. Hinsichtlich der Bedeutung von Religion sowie den mit den religiösen Konzepten verbundenen Erziehungsmethoden unterschieden sich die Modelle jedoch wesentlich und entfalteten sehr unterschiedliche Dynamiken. Im christlich-bürgerlichen Modell war der Gegensatz von Welt und Religion nur schwach konturiert. Gerade das weltliche Handeln im Sinne des Gemeinwohls und christlicher Caritas bildete seinen Kern. Demgegen14 15
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Curtis, Educating, S. 94f. Einen guten Überblick über Pädagogik und erzieherische Praxis der Jesuitenschulen im 19. Jahrhundert gibt: Manuel Revuelta González, Los Colegios de Jesuitas y su Tradición Educativa (1868–1906), Madrid 1998. Zur Ähnlichkeit mit der Novizenausbildung: S. 304. Siehe auch: Yetano, Enseñanza Religiosa 1988. Revuelta González, Colegios, S. 323.
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über nahm im monastischen Modell Religion die Rolle des Gegenpols zur als korrumpierend verstandenen Welt ein. Die Ausformung eines gefestigten, christlichen Charakters konnte nur abseits der Welt erfolgen und bedurfte einer hochintensiven religiösen Umgebung. Religiöse Sozialisation vollzog sich hier nicht primär als Prozess rationaler Erläuterung und Willensschulung, sondern durch eine umfassende Durchtränkung der Kinderpersönlichkeit mit Religion. Beide Modelle zogen unterschiedliche erzieherische Konsequenzen nach sich. Reichten im ersten Modell die Vermittlung grundlegender Glaubensinhalte und ein Verhaltens-Training in religiösen Praktiken aus, erforderte das zweite Modell die Einrichtung von Räumen verdichteter Religiosität. Ging es im ersten Modell hauptsächlich darum, die Einsicht in die Vorteilhaftigkeit einer christlichen Lebensführung durch moralische Geschichten und das Vorbild von Erwachsenen zu wecken, mussten im zweiten Modell Mittel und Wege gefunden werden, möglichst das ganze Leben der Kinder vom Aufwachen am Morgen bis zum Einschlafen am Abend religiös aufzuladen. Damit legten beide Modelle auch unterschiedliche bildungspolitische Forderungen nahe. Während das erste Modell die Kirche lediglich zu einer Verteidigung von Religion als schulischem Pflichtfach anhielt, legte das zweite Modell eine sehr viel umfassendere und offensivere Bildungspolitik nahe, die einen aktiven Ausbau katholischer Erziehungseinrichtungen beförderte und versuchte, Wege zu finden, um über den Religionsunterricht hinaus möglichst viele Kinder intensiv religiös zu formen. Die bildungspolitischen Ziele waren in diesem Fall deutlich anspruchsvoller und konfliktträchtiger. Während das erste Modell nicht notwendigerweise in einen bildungspolitischen Konflikt mit kirchenkritischen Kräften zu münden brauchte, da Religion als Teil eines breiteren Prozesses der Zivilisierung definiert werden konnte, war ein bildungspolitischer Konsens im zweiten Fall sehr viel schwerer vorstellbar, da hier die katholische Religion im absoluten Zentrum der Erziehung stand. Es ist nicht ganz leicht, den sich wandelnden Stellenwert der beiden Konzeptionen religiöser Bildung im Zeitverlauf festzustellen. Doch der rasante Aufstieg des Internatswesens deutet darauf hin, dass das Modell monastischer Sozialisation gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Kirchenkreisen an Bedeutung gewann, auch wenn nicht alle Internate dem Modell monastischer Sozialisation folgten und das Wachstum der katholischen Privatschulen wichtige nicht-religiöse Gründe hatte. Die Verbreitung katholischer Privatschulen und ihre bildungspolitische Verteidigung durch die Kirche erscheint in dieser Hinsicht weniger als Ausdruck religiösen Traditionalismus, sondern ganz im Gegenteil als – wenn auch höchst ambivalente – Speerspitze einer Erneuerung katholischer Persönlichkeitsbildung. Entsprechend den erhöhten Anforderungen an religiöse Sozialisation im monastischen Modell stieg sowohl die Bedeutung von Bildungspolitik für die Katholiken am Ende des Jahrhunderts als auch ihr Interesse an Kindheit und Pädagogik. Die Krise von 1898 sowie der wachsende Einfluss dezidiert antikirchlicher liberaler
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Persönlichkeitsmodelle trafen also keineswegs auf ein in Traditionen gefangenes, homogenes katholisches Erziehungslager. Doch der Druck von außen verstärkte die existierende Dynamik im Katholizismus in Richtung neuer Leitbilder religiöser Kindheit und entfachte intensive Debatten über eine Neuausrichtung katholischer Erziehung.
2.2 Starke Kinder für ein neues Spanien: Regenerationismus und Erziehung In den Debatten nach der Kriegsniederlage von 1898 wurden grundlegende Ziele von Persönlichkeitsbildung neu verhandelt. Das hegemoniale christlichbürgerliche Modell wie auch das monastische Modell der Menschenbildung gerieten in die Kritik sowohl liberal-progressiver als auch katholischer Intellektueller, da beide als unzureichend für die Bewältigung der neuen gesellschaftlichen Aufgaben angesehen wurden. Angesichts der tiefen Krise der spanischen Gesellschaft und des hispanischen Menschen erschienen die überkommenen Sozialisationsmodelle und die Konzepte von Gesellschaftsreform, die sie transportierten, als veraltet. Eine grundlegende Erneuerung Spaniens, in dieser allgemeinen Annahme waren sich die Reformer über politische Lagergrenzen hinweg einig, bedurfte neuer Menschen und damit auch neuer Formen der Menschenbildung. Die Neubestimmung von Kindheit und Persönlichkeitsbildung erfolgte wesentlich über eine Diskussion und Kritik religiöser Unterweisung, anhand derer sich nach 1898 auf neue Art und Weise eine Abgrenzung zwischen progressiv-laizistischen und katholischen Positionen etablierte, die nun in der Fachöffentlichkeit immer mehr als eigenständige und einander jeweils ausschließende Optionen wahrgenommen wurden. Bevor wir genauer die uns interessierenden katholischen und konservativen Debatten ansehen, ist es sinnvoll, zunächst in allgemeiner Form die liberal-progressiven Auseinandersetzungen zu betrachten, ohne deren Kenntnis die Diskussionen im Umkreis der Kirche unverständlich bleiben müssen. Die liberal-progressiven Konzeptionen stellten eine fundamentale Herausforderung für die neuen kirchennahen Reformer dar, gegen die sie ihre eigenen Vorstellungen entwarfen. Eine Kenntnis der liberal-progressiven Kindheitsdebatten hilft zudem, die Frage nach der Polarisierung der Bildungslager neu zu stellen, indem der Blick auf konzeptionelle Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten gelenkt wird. Ausgangspunkt eines neuen Interesses an Kindheit und Menschenbildung unter liberal-progressiven Reformern war ihre niederschmetternde Analyse der spanischen Gegenwartsgesellschaft. Im Angesicht nationaler Degeneration erschienen ihnen die nachwachsenden Generationen als „einzige Hoff-
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nung der Erlösung“ Spaniens.17 Kindheit erhielt – wie in vielen Ländern – darüber hinaus neue Bedeutung als nationale Ressource im Konkurrenzkampf der Nationen, in den sich die Reformer verwickelt sahen. Waren Kinder im 19. Jahrhundert zuallererst als gesellschaftliches Versorgungs- und Disziplinierungsproblem erschienen, wurden sie nun als kostbares nationales Kapital angesehen, das es zu schützen und zu pflegen galt, wollte man nicht die nationale Zukunft und Chancen im internationalen Wettbewerb verspielen.18 In diesem Zusammenhang erfolgte ein grundlegender Wandel des Idealbildes des Staatsbürgers und – aufs Engste damit verbunden – des Kindes, der sich allgemein als Schritt vom Ideal sozialer Einpassung hin zu einer Wertschätzung sozialer Unangepasstheit und persönlichen Eigensinns als Motor von gesellschaftlicher Veränderung beschreiben lässt. Verkürzt gesagt, sollten sich nicht mehr die Kinder der Gesellschaft anpassen, sondern die Gesellschaft sollte durch die Kinder erneuert werden. Mit diesem konzeptionellen Wandel war ein bedeutender Prestigegewinn von Kindheit als Lebensalter verbunden. Nicht mehr die Kinder erschienen primär reformbedürftig, sondern die sie umgebende Gesellschaft. Entsprechend ging es nicht mehr darum, den Kindern möglichst schnell und vollständig die Werte und Normen der bestehenden sozialen Ordnung zu vermitteln, und prämierungswürdig erschien nicht mehr ein Verhalten der widerspruchslosen Akzeptanz dieser Ordnung. Es musste nun vielmehr darum gehen, die in den Kindern angelegten Tendenzen und Fähigkeiten als gesellschaftsreformerische Produktivkräfte nutzbar zu machen. Der Wandel war kein abrupter Bruch mit der Vergangenheit und basierte in vielem auf romantischen Konzeptionen von Erziehung als Entfaltung der im Kind vorhandenen Anlagen.19 Doch erfuhren diese Vorstellungen um 1900 eine neue Verbreitung und politische Aktualisierung. Der hier beschriebene Wandel idealer Kindheit vom sozial angepassten moralischen Bürger zum selbstbewussten gesellschaftlichen Akteur vollzog sich auf breiter Front und war eingebunden in einen liberal-regenerationistischen Gesellschaftsentwurf, der eine Erneuerung Spaniens auf der Grundlage selbstständiger, tatkräftiger Staatsbürger anstrebte. Zwei Vorträge des Volksschullehrers Manuel Polo de la T. Toribio an der Madrider Lehrerhochschule vom 19. und 20. Juli 1900 verdeutlichen exemplarisch den skizzierten Wandel.20 Eingangs unterschied er „neue Nationen“, die Kinder als nationales Thema entdeckt hätten von „alten Nationen“, die Kinder noch nicht genug 17
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Matilde García del Real, Lo que deben ser los juegos de los niños, EM 111, Junio 1900. Siehe auch: Alfredo Calderón, La Educación Moral, EM 116, Nov. 1900 (Auszug aus El Mercantil Valenciano). En la academia de San Luis Gonzaga de Zaragoza, El Magisterio Español, 3.1.1900. Meike Sophia Baader, Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit. Auf der Suche nach der verlorenen Unschuld, Neuwied 1996, S. 107–69. Weiterhin: Dieter Richter, Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt/ Main 1987, S. 229–61. Der Vortrag wurde in drei Teilen in der Zeitschrift La Escuela Moderna abgedruckt:
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wertschätzen würden und als Konsequenz in Rückständigkeit und Armut gefangen blieben. Auch in Spanien selbst sah er diese zwei Lager und mit ihnen zwei gegensätzliche „Konzepte des Menschen, des Kindes, der Welt und des Lebens“.21 Um die gegenwärtige Krise zu meistern, sei eine „innere Reform“ notwendig: „Die neue Welt braucht neue Gehirne und neue Weisen, die Gehirne zu formen“. Erziehung müsse auf neue Weise auf eine innere Persönlichkeitsbildung der Schüler ausgerichtet werden. Die Schulen dürften nicht länger „Papageienkäfigen“ ähneln, in denen für das praktische Leben untaugliche Untertanen geformt würden. Vielmehr sei es ihre Aufgabe, „virile, fokussierte, zielstrebige Menschen mit einem mächtigen und klaren Geist“ heranzubilden.22 Ganz ähnlich argumentierte der 25-jährige Félix Martí y Alpera (1875–1945), Volksschullehrer aus Cartagena und in 1930er Jahren ein einflussreicher Verfechter einer Erneuerung der spanischen Volksschule, im Jahr 1900 für die Erziehung der Kinder zu zupackenden und aufgeklärten Unternehmern und Arbeitern. Besonders in der Ersetzung patriotischer Unterweisung durch einen modernen Staatsbürgerunterricht (educación cívica) sah er einen Weg, Kinder zu nützlichen Staatsbürgern heranzubilden.23 Toribio und Martí repräsentierten mit ihrer Forderung, neue „wirkliche Charaktere“ zu formen, eine breite Reformbewegung, die sich von der anarchistischen Linken bis weit in Kreise eines gemäßigten Liberalismus hinein erstreckte.24 In der anarchistischen Revista Blanca entwarf Francisco Navés beispielsweise das Bild eines neuen Menschen als Erziehungsideal, der sich durch ein „reines Herz, klare Intelligenz, festen Willen und schlanken Körper“ auszeichnen sollte, und der französische Anarchist Jean Grave forderte in derselben Zeitschrift neue „offene und unabhängige Charaktere“ anstatt in Konventionen erstarrte Bürger.25 Ganz ähnliche Forderungen erhob auch Martín Chico y Suárez in der politischer Extreme unverdächtigen, führenden Verbandszeitschrift der spanischen Lehrer El Magisterio Español. Gegen den blutleeren Intellektualismus der zeitgenössischen Schulbildung gelte es, Kin-
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Manuel Polo de la T. Toribio, Dos Conferencias, EM 113, Aug. 1900; EM 114, Sep. 1900; EM 115, Okt. 1900. Manuel Polo de la T. Toribio, Dos Conferencias, EM 113, Aug. 1900. Ebd. Félix Martí y Alpera, Educación Cívica, EM 112, Juli 1900. Sehr ähnlich: Juan José Hernández, Educación de la voluntad (Teil II), EM 126, Sep. 1901. Zur Person vgl. P.L. Moreno Martínez, Renovación pedagógica y compromiso social en la edad de plata de la Pedagogía española: Félix Martí Alpera (1898–1920), in: Revista Española de Pedagogía 53 (2005), S. 203–222. Zitat nach: P. de Alcántara García, La educación social en la Escuela primaria, EM 124, Julio 1901. Francisco Navés, Educación é Instrucción, Revista Blanca 58, 15.11.1900; Jean Grave, La Anarquía: Su fin y sus medios, Teil 22: La educación, Revista Blanca 60, 15.12.1900.
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der mit einem „energischen Willen“ zu versehen, damit diese sich später im Leben durchzusetzen verständen.26 Die neue pädagogische Zielperspektive steigerte die Anforderungen an Erziehung und Schule deutlich. Schule, das wurde immer mehr Gemeingut, habe nicht mehr ausschließlich an die gegenwärtige Gesellschaft heranzuführen, sondern sollte in ihren Mauern gleichsam eine utopische Gegenwelt zur bestehenden Gesellschaft aufbauen, in der sich neue Persönlichkeiten ungestört heranbilden konnten.27 Erziehung hatte den einzelnen Schüler individuell anzusprechenund ihn als eigenständigen Akteur im Erziehungsprozess ernst zu nehmen.28 Als ein wichtiges Mittel, um diese neue Selbstständigkeit zu erreichen, sahen die liberalen Reformer Formen der Selbstregierung (autogobierno) an, welche die Kinder nicht nur zu Eigenständigkeit und Verantwortung führen, sondern ihnen auch ihre Abhängigkeit vom Gemeinwesen aufzeigen und sie so zu sozialem Handeln anleiten sollte.29 Wie sich die liberalen Reformer eine ideale Erziehungseinrichtung vorstellten, vermag die sogenannte George Junior Republic verdeutlichen, die 1894/95 von dem US-amerikanischen Philanthropen William George in Freeville im Bundesstaat New York gegründet wurde. Die Kinderrepublik erregte in den folgenden Jahren international großes Aufsehen und wurde von den spanischen Reformern intensiv als Modelleinrichtung rezipiert.30 Zwei Aspekte machten die Institution, die mit Präsident, Parlament, Gerichten, einer Polizei und weiteren politischen Institutionen eine ideale liberale Gesellschaft in Miniatur verkörperte, für die Erzieher attraktiv. Zunächst der Umstand, dass die straffälligen Jugendlichen zwischen zwölf und 18 Jahren, welche die Einwohnerschaft der Republik ausmachten, sich selbst ohne Intervention von Erwachsenen regierten, ohne dass dadurch Anar26 27
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Martín Chico y Suárez, Cooperación del alumno en la obra educativa, in: El Magisterio Español, 27.6.1900. Zur notwendigen Zukunftsorientierung der neuen Erziehung siehe: Domingo Barnés, La educación social y la educación cívica, in: BILE 49 (1925), 176–79. Vgl. in weiterer Perspektive zur Schule als utopischem Ort: Heinz-Elmar Tenorth, Erziehungsutopien zwischen Weimarer Republik und Drittem Reich, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 175–98, hier S. 177. Es ist aufschlussreich, dass die progressiven Reformer diese Auffassung mit den kirchennahen Verfechtern katholischer Internatserziehung teilten. Dies ist ein erster Hinweis der unten thematisierten Gemeinsamkeiten der Reformbewegungen jenseits der bildungspolitischen Konfrontationen. Siehe etwa: Martín Chico y Suárez, Cooperación del alumno en la obra educativa (III.), El Magisterio Español, 26.5.1900; P. de Alcántara García, La educación social en la Escuela primaria, EM 124, Juli 1901. Ebd. Vgl. auch: R. Rissmann, Pedagogía social, BILE 26 (1902), S. 237–240. Zur Geschichte der Kinderrepublik: Mintz, Raft, S. 172f. Zur liberalen Wahrnehmung in Spanien siehe vor allem: Una república infantil formada y gobernada por menores de edad, EM 122, Mai 1901. Auch fast zwanzig Jahre später faszinierte das Experiment die spanischen Liberalen: Teodoro Roosevelt, El Reformatorio „George Junior Republic“, BILE 717 (1919), 353–356.
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chie ausbrach. Überschreitungen der Ordnung wurden vielmehr streng in Form von Strafarbeiten zu Hungerlöhnen und den Entzug von Privilegien geahndet. Zweitens sprach auch das in der Republik herrschende, gnadenlose Arbeits- und Leistungsprinzip die spanischen Liberalen an. Die Kinder mussten arbeiten, um Essen, Kleidung und Unterkunft zu erwerben. Nur im Krankheitsfall erhielten sie Essensgutscheine. Eine demokratische Republik disziplinierter und arbeitsamer Bürger: Dies war der utopische Fluchtpunkt liberaler Persönlichkeitsreform nach 1900. Es kann hier nun nicht darum gehen, diese Reformentwürfe ideengeschichtlich weiter einzubetten und sie in die vielfältigen Kontexte darwinistischen Denkens, der frühen Reformpädagogik und vitalistischer Strömungen präzise zu verorten.31 Wichtig ist an dieser Stelle, dass die Herausbildung einer progressiv-regenerationistischen Persönlichkeitspolitik der Abgrenzung von konfessionell-religiöser Bildung eine neue Dringlichkeit verlieh. Liberale Pädagogen hatten schon seit der Aufklärung die kirchliche Aufsicht über die Persönlichkeitsbildung als Hindernis für die Ausbildung persönlicher Autonomie kritisiert, doch waren diese Auffassungen lange Zeit auf einen recht kleinen Kreis von Intellektuellen beschränkt geblieben. Nach der Jahrhundertwende rückten die Kirche und ihre religiöse Unterweisung jedoch auf neue Weise als Hindernis moderner Menschenbildung in den Blick. Erst jetzt fanden Angriffe auf die katholische Erziehung, wie sie etwa der Pariser Psychologe F. Buisson in der Escuela Moderna im Februar 1900 erhob, in einem weiteren Erziehungsmilieu Widerhall, während eine Vermittlung der Positionen, die es bis dahin gegeben hatte, schwieriger wurde.32 Die liberalen Attacken setzten alle Formen katholischer Menschenbildung unter neuen Legitimationsdruck.
2.3 Apostolische Persönlichkeiten: Neuansätze religiöser Menschenbildung nach 1900 Die Krise von 1898 ging auch an den kirchennahen Pädagogen nicht spurlos vorbei und setzte ein grundsätzliches Nachdenken über Defizite katholischer Bildung und Erziehung in Gang. Die Kriegsniederlage gegen die USA legte aus katholischer Perspektive auch und gerade eine religiöse Krise, eine Krise religiöser Menschenbildung offen. Diese wurde, wie oft beschrieben, 31
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Siehe hierzu die Ansätze bei Juan Manuel Fernández Soria, Educar en Valores, Formar Ciudadanos. Vieja y Nueva Educación, Madrid 2007. Vgl. auch ders., Foundations of Laic Moral Education in Spain, in: History of Education 37 (2008), S. 431–46. Ferdinand Buisson, La Educación de la Voluntad (Conclusión), EM 107, Feb. 1900. Buisson attackiert vor allem das pessimistische Menschenbild der Kirche und ihren Anspruch auf Vormundschaft über die Kinder.
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in immer neuen Wendungen auf den schädlichen Einfluss von Aufklärung und Liberalismus zurückgeführt. Doch der zunehmend aggressive Antiliberalismus darf nicht verdecken, dass die Krise von 1898 auch eine kritische Introspektion anstieß, die nach Defiziten und Versäumnissen katholischer Persönlichkeitsbildung fragte. Diese, so die Selbstkritik, habe es trotz ihres Einflusses im Bildungswesen nicht geschafft, den Vormarsch des Säkularismus zu stoppen.33 Katholische Bildung und Erziehung, darin waren sich bald die führenden Pädagogen einig, genügten immer weniger den hohen Ansprüchen, welche die politisch-gesellschaftlichen Umstände an sie stellten. Die Defizite katholischer Bildung und Erziehung wurden maßgeblich für die vermeintlich halbherzige Religiosität der nominell katholischen Mittelschichten verantwortlich gemacht. Der señor católico, der zwar regelmäßig die Messe besucht, das Abendmahl einnimmt und die Frömmigkeitsübung der Novene vollzieht, aber die Kirche nicht aktiv gegen Verfolgungen verteidigt und sich nicht an öffentlichen Kampagnen der Kirche beteiligt, wurde zum Negativbild einer falschen, nicht zeitgemäßen Religiosität. Auch eine intensive katholische Beschulung, das wurde angesichts der aufflammenden politischen Kämpfe und antiklerikaler Attacken schmerzlich empfunden, mündete nur selten in ein öffentlich bekennendes und praktisch wirksames Christentum, das als neue Zielvorstellung nun die Bildungsanstrengungen leitete.34 Viele Pädagogen beobachteten mit Sorge, dass die Mehrzahl der männlichen Schüler sich schämte, sich in der Öffentlichkeit als Katholiken zu erkennen zu geben, und nach dem Ende der Schulzeit kaum mehr für eine aktive Beteiligung in den zahlreichen neuen Laienorganisationen und kirchlichen Initiativen zu gewinnen waren. Viele Katholiken zogen sich etwa nach dem Schulabschluss aus dem aktiven religiösen Leben mit dem Hinweis zurück, sie seien in ihrer Schulzeit oft genug in die Messe gegangen.35 Die beobachtete Säkularisierung der Gesellschaft schien bedrohlich auf die Gemeinschaft der Gläubigen und die Erzieherschaft selbst überzugreifen. So stellte die Zeitschrift Revista de Educación Familiar 1916 voller Sorge fest, dass unter Katholiken „eine Art tatsächliche oder simulierte Gleichgültigkeit existiert, die uns dazu führt zu glauben, es gehöre zum guten Ton in religiösen Fragen, vor allem in der Öffentlichkeit, eine große Unbekümmertheit an den Tag zu legen.“36 Selbst viele gläubige Lehrer sähen im Religionsunterricht ein minderwertiges Fach (asignatura vergonzante) und schämten sich, kirchliche 33
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Teodoro Noguer, Excelencia del ministerio de la enseñanza, El Magisterio Español, 3.2.1900. Siehe gebündelt auch: Ramón Sarabia, ¿Cómo se educan los hijos? Lecciones de pedagogía familiar, Madrid 2 1932, S. 275. Aus der Perspektive der 1930er Jahre zusammenfassend: Enrique Herrera Oria, La crisis de hombres en España, in: Atenas 22, 15.7.1932. P. Ramón Lostalé, Cartas a los discípulos de las Escuelas Pías, RC 10 (1922), S. 1096f.; Jesús Martínez Hernández, La Liturgia y los „Scouts“ Católicos, in: Anuario de Educación y Enseñanza Católica en España, 1935/36, Madrid 1935, S. 39–42, hier S. 41. Ejercicios Prácticos, RdEF 1, Jan. 1916.
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Positionen in der Öffentlichkeit zu vertreten.37 Als wie groß die Probleme und wie notwendig eine neue, intensive Persönlichkeitsbildung den führenden Katholiken selbst nach den Jahren kirchlicher bildungspolitischer Hegemonie unter der Diktatur Primo de Riveras von 1922 bis 1930 erschien, zeigt der Aufruf des Leitungszirkels der Institución Teresiana vom Januar 1930 an die katholischen Lehrer, aktiv auf die vielen Lehrerinnen und Lehrer einzuwirken, die „sich nicht trauen, ihren [religiösen, T.K.] Eifer öffentlich zu zeigen, aus Furcht vor gesellschaftlicher Ausgrenzung und Ächtung.“38 Tatsächlich häuften sich um 1900 die Forderungen nach einer Erneuerung christlicher Persönlichkeitsbildung, oft in sehr ähnlichen Begriffen wie auf liberal-progressiver Seite. Rufino Blanco etwa sah in ähnlicher Weise wie seine liberalen Gegenspieler in der Charakterschwäche der Spanier, einer „Anämie des Charakters“, eine Hauptursache nationalen Niedergangs und forderte eine neue, auf Persönlichkeitsreform abzielende Erziehung. Es gelte, „dass wir uns der Bildung von Charakteren verschreiben [als, T.K.] Erlösungswerk“ und „entschiedene, edle, würdige“ Persönlichkeiten formen: „Ohne die Integrität des Charakters ist sowohl die Festigkeit der Individuen als auch der Zusammenhalt der Völker unmöglich.“39 Noch deutlicher manifestierten sich diese Appelle in einigen Aufsätzen der neuen pädagogischen Zeitschriften der 1910er Jahre. In einem programmatischen Aufsatz argumentierte die Revista Calasancia, dass nur eine Gemeinschaft starker Charaktere in der Lage sei, nicht bloß eine Vereinigung (asociación) sondern eine wahrhafte Gesellschaft (sociedad) zu bilden, die sie als „Zusammenschluss der Starken“ definierte. Deshalb müsse die Gesellschaft bestrebt sein, aus den Kindern durch eine ganzheitliche Erziehung feste Persönlichkeiten zu bilden: „ganze Charaktere mit einer robusten Intelligenz“.40 Ähnlich, dabei stärker auf das Wirtschaftsleben bezogen, argumentierte die Revista de Educación Familiar, dass die Zukunft der Gesellschaft angesichts des harten wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes der Nationen von ihrer Fähigkeit abhänge, eine möglichst große Zahl „hartnäckiger und ausgesuchter Arbeiter auf allen Feldern ökonomischer und sozialer Aktivität“ auszubilden.41 Und die gleiche Zeitschrift erklärte sich 1917 zur begeisterten Anhängerin des Buches Hacia un nuevo tipo de español des Militärs und Gründers der spanischen Pfadfinderbewegung Teodoro de Iradier, der eine neue Charakterbildung forderte, um gegen das Ausland bestehen zu können.42 37 38 39 40 41 42
Bonifacio Sedeño de Oro, La verdadera educación, RdEF 1, Jan. 1916. Enseñanza de la Religión (Trabajo leído por su autora, Srta. Díaz Jiménez, en la III. Asamblea de Cooperadoras Técnicas), BIT 182, Jan. 1930. Rufino Blanco y Sánchez, El carácter: Su educación, El Magisterio Español, 6.1.1900. Monera, La sociedad y el niño, RC 3 (1915). X., Hacia qué carrera deben orientar a sus hijos las clases directoras, RdEF 2, Feb. 1916. El Problema de la Educación, RdEF 21, Nov. 1917.
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In den Debatten um 1900 bildete sich ein neues Leitmodell aktiven apostolischen Christentums als Amalgam dieser breiteren regenerationistischen Vorstellungen mit dem monastischen Modell intensiver Religiosität heraus. Die Formung „säkularer Apostel“ rückte als Erziehungsaufgabe in den Vordergrund. Die Aufgabe guter Christen war nun nicht mehr wie in den ersten Jahren der Restauration die Stabilisierung der existierenden nachrevolutionären gesellschaftlichen Ordnung, sondern deren aktive Veränderung und Erneuerung.43 In seiner neuen Betonung intensiver, persönlichkeitsumfassender Religiosität stand das Modell in deutlicher Kontinuität zum monastischen Entwurf religiöser Menschenbildung. Doch es wendete die Zielrichtung dieser Persönlichkeitsbildung nun offensiv nach außen. Das Bestehen und Kämpfen in der feindlichen Umwelt der modernen Industriegesellschaft bildete den neuen Fluchtpunkt. Der neuen Generation von katholischen Pädagogen und Lehrern erschien die Forderung nach urbanidad und die Einforderung von strikten Benimmregeln immer mehr als bloß äußerliche Disziplinierung der Kinder, die Initiativlosigkeit und Angepasstheit, ja Heuchelei und Falschheit förderten.44 Die Einübung bürgerlicher Umgangsformen wurde zwar weiterhin als erstrebenswert angesehen, doch rückten sie aus dem Zentrum des pädagogischen Interesses an den Rand. Sie stellte nicht mehr den Kern der Erziehungsaufgabe, sondern eher ein Nebenprodukt gelungener Charakterformung dar.45 Die Ansprüche an die Gläubigen stiegen im 20. Jahrhundert bedeutend. Ein guter Christ zu sein, umfasste nun nicht mehr nur die Vorgaben der Kirche geflissentlich zu erfüllen, an der eigenen moralischen Vervollkommnung zu arbeiten und sein gesellschaftliches Los mit Gleichmut zu akzeptieren. Vor allem drei Dinge sollten einen guten Christen nach der Jahrhundertwende auszeichnen. Erstens der Wille, seinen Glauben auch in einer feindlich gesinnten Öffentlichkeit offen zu bekennen, zweitens die Bereitschaft, aktiv im Sinne der Kirche in der Gesellschaft zu wirken und drittens die intellektuelle Fähigkeit, den christlichen Glauben gegen Anfeindungen rational und überzeugend zu erläutern. Katholik in Spanien nach 1900 zu sein, bedeutete nach dem Willen der Kirche immer mehr, die Rolle eines Missionars und Apostels 43
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Die konziseste Formulierung dieses neuen Modells findet sich wiederum in: Enrique Herrera Oria, La crisis de hombres en España, in: Atenas 22, 15.7.1932. Aus dem Aufsatz stammt auch das Zitat. Ebd. Es gab keine vollständige Ablösung, sondern mehr eine Schwerpunktverlagerung, in der die älteren Modelle von Persönlichkeitserziehung deutlich an Einfluss verloren. Diese existierten aber weiter. So betonte beispielsweise ein Aufsatz in der einflussreichen katholischen Zeitschrift Jesús Maestro noch 1913, dass Erziehung die Aneignung guter Umgangsformen (buenos habitos) zum Ziel habe und vor allem auf die „Unterwerfung und Respekt der Schüler“ gegenüber ihren Lehrern gerichtet werden müsse: El Respeto en la educación del niño (ursprünglich abgedruckt in: Jesús Maestro), La Enseñanza Católica, 15.2.1913.
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einzunehmen. Jeder gute Christ, egal ob Mann oder Frau, so argumentierte die Revista de Educación Familiar im Jahr 1916 in verschiedenen Artikeln, müsse seinen Glauben „öffentlich bekennen“ und „äußerlich zeigen“ (exteriorizar). Er und sie dürften „niemals dulden, dass in ihrer Gegenwart ein Kernpunkt der Religion attackiert wird, [...] ohne sofort die Stimme zu erheben, um von den Angreifern einen Beweis ihrer Behauptungen zu verlangen und, wenn dieser gegeben wird, dagegen die ihren zu setzten, die (wie ich es erwarte) glaubhafter und einleuchtender sein werden.“46
Wichtig ist in unserem Kontext ein grundlegender Wandel im Verständnis und in der Stoßrichtung von Rechristianisierung. Während diese vor 1900 in erster Linie auf die Festigung und den Ausbau kirchlicher Macht in Staat und Gesellschaft ausgerichtet gewesen war, definierte nach 1900 eine wachsende Zahl von Erziehern Rechristianisierung hauptsächlich als eine umfassende christlich-transzendente Reform des jeweils einzelnen Menschen, als Bildung neuer christlicher Personen und Staatsbürger. In diesem neuen Verständnis wurde Rechristianisierung nicht mehr in erster Linie von „oben“, aus der Perspektive politischer Herrschaft, sondern „von unten“, vom Individuum her gedacht, mit weitreichenden praktischen Folgen für katholische Bildung und Erziehung und katholische Vergemeinschaftung. Es galt, Lehrer und Eltern, vor allem aber die Kinder zu aktiven apostolischen Kämpfern zu erziehen. Das apostolische Persönlichkeitsmodell setzte sich bis in die 1930er Jahre als neues hegemoniales Modell innerhalb des sich formierenden katholischen Bildungsmilieus durch. Dabei stand es von Anfang an in Konkurrenz zu zwei anderen Strömungen, die sich ebenfalls in den intellektuell turbulenten Jahren nach 1900 ausformten und als alternative Spielarten einer neuen katholischen Menschenbildung verstanden werden müssen. Einerseits etablierte sich in Abgrenzung zur regenerationistischen Bildungs- und Kindheitseuphorie eine dezidiert antireformerische Position, die sich gerne als Ausdruck traditioneller Überzeugungen ausgab, jedoch als neue Erscheinung der Jahrhundertwende verstanden werden muss. Der Publizist Amador Conde argumentierte im Frühjahr 1900 beispielsweise gegen die um sich greifende Bildungseuphorie, dass ein Zuviel an Bildung die Kinder überfordere und zudem in der Zukunft soziale Unruhen schüre, da für alle Gebildeten nur eine begrenzte Anzahl an Arbeitsplätzen zur Verfügung stehe. Wichtiger als eine umfassende Wissensvermittlung sei die Förderung kindlicher Gottes- und Nächstenliebe, um sozialem Neid vorzubauen. Die beste Gesellschaft sei eine differenzierte, in der jeder den ihm von seinen Anlagen her zugedachten Platz einnehme.47 Ähnlich argumentierte auch Simón Aguilar Claramunt, der seit den 1870er Jahren pädagogische Schriften publizierte und den Weg des Fortschritts in Bildung 46 47
Juana Ramos, Como debe practicar la mujer su fe, RdEF 9, Okt. 1916; Ejercicios Prácticos, RdEF 1, Jan. 1916. Amador Conde, Variedad y armonia, El Magisterio Español, 21.3.1900.
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und Erziehung nicht in Körperertüchtigung und Geistesschulung, sondern „im religiösen Prinzip, in der Furcht vor und der Liebe zu Gott“ sah.48 Diese antireformerische Haltung stellt in vielem eine Weiterentwicklung der christlich-bürgerlichen Erziehungstradition dar, unterschied sich aber von dieser durch einen deutlicheren Anti-Intellektualismus und die partielle Aufnahme neuer regenerationistischer Vorstellungen. Wie sehr sich antireformerische und regenerationistische Konzeptionen vermischen konnten, zeigt ein weiterer Artikel Aguilars, in dem er wiederum gegen ein Zuviel an Bildung wetterte, dies aber mit dem Hinweis begründete, dass Spanien „weniger weise Menschen, aber mehr vernünftige, moralische, arbeitsame und für das Vaterland nützliche“ brauche.49 Zweitens muss eine weitere Strömung benannt werden, die christliche Persönlichkeitsbildung mit einer starken sozialutopischen Komponente verband. Diese Strömung manifestierte sich zunächst vor allem in der Pädagogik und den einflussreichen Escuelas del Ave María des Reformers Andrés Manjón.50 Manjóns Schulen stellten die Erneuerung christlicher Menschenbildung in den Kontext einer neuen utopischen Vergemeinschaftung, welche die gesellschaftlichen Gegensätze in der christlichen Gemeinschaft aufheben und in diesem Prozess die christliche Personwerdung vervollkommnen würden. Ein gutes Beispiel für diese Ausrichtung ist das Tutorenprogramm zur Förderung kindlicher Religiosität. Kinder aus wohlhabenden Familien sollten in dem Programm die Patenschaft über ein bedürftiges Kind übernehmen, eine Patenschaft, die über die materielle Seite eine Persönlichkeitsreform bei beiden Kindern in Gang setzen sollte. Während leistungs- und verhaltensabhängige Almosen das Straßenkind zur Übernahme eines christlichen Lebensstils drängten, sollte das wohlhabende Kind durch den Umgang mit vom Schicksal weniger verwöhnten Altersgenossen christliche Demut und Agape lernen. Das Programm zielte auf eine wachsende Erkenntnis wechselseitiger spiritueller Abhängigkeit und, damit eng verbunden, die religiöse Läuterung beider Kinder. Die Schule als Ort dieser Läuterung und der Versöhnung der Klassen wurde zum Labor und zur Keimzelle umfassender Gesellschaftsreform.51 Diese sozialutopische Ausrichtung katholischer Persönlichkeitsbildung kann deutlich von der dominanten Richtung der Förderung eines individuellen, auf Konkurrenzsituationen hin orientierten Glaubens unterschieden werden, auch wenn es wichtige Überschneidungen gab. Die sozialutopische Strömung blieb bis in den Bürgerkrieg hinein minoritär, doch entfaltete sie in gewissen Institutionen, besonders in der Institución Teresiana, Einfluss. 48 49 50 51
Simón Aguilar Claramunt, No acertamos el camino, El Magisterio Español, 18.4.1900. Siehe auch: Ders., Exageraciones, El Magisterio Español, 24.2.1900. Simón Aguilar Claramunt, La ciencia y el arte de educar (III.), El Magisterio Español, 14.2.1900. Álvarez Rodríguez, Valores; Schweizer, Andrés Manjón. Andrés Manjón, Caridad Educadora. El Magisterio Español, 17.1.1900.
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Überblickt man zusammenfassend die katholischen Debatten der Jahrhundertwende, sind vor allem drei Punkte hervorzuheben. Zunächst lässt sich um 1900 eine grundlegende Reorientierung katholischer Persönlichkeitsbildung hin zu einem apostolischen Modell aktiven Christentums feststellen, welches sowohl ein christlich-bürgerliches Modell als auch ein monastisches Modell als hegemoniale katholische Sozialisationskonzepte ablöste. Es konnte zudem gezeigt werden, dass dieser Wandel nicht als mechanische Ablösung des einen Modells durch das andere zu fassen ist. Verschiedene Strömungen existierten in einem spannungsreichen Verhältnis nebeneinander und entwickelten eine eigene Dynamik. Die einzelnen Positionen waren kaum inhaltlich, geschweige denn institutionell klar abgegrenzt. Sie stellen eher tastende Versuche dar, katholische Erziehung im 20. Jahrhundert in Reaktion auf die nationale Krise von 1898 und die säkulare Herausforderung neu zu definieren. Zweitens gilt es herauszustellen, dass trotz einer seit den 1890er Jahren deutlich zunehmenden Konfrontation zwischen katholischen und liberal-progressiven Sozialisationsvorstellungen im Einzelnen viele Gemeinsamkeiten existierten. Vor allem sahen die Reformer beider Lager in der Erziehung neuer selbstbewusster, starker Charaktere das entscheidende Mittel einer Regeneration Spaniens. Im Einzelnen standen die katholischen Reformer ihren liberalen Gegenspielern oft deutlich näher als den katholischen Moralisten der vorangegangenen Generation. Drittens, schließlich, waren in der Praxis die beiden ideologischen Pole nicht klar getrennt, Es gab Plattformen wie die einflussreiche Zeitschrift des nationalen Lehrerverbandes El Magisterio Español, die ein Forum sowohl für liberal-progressive als auch für katholische Stellungnahmen boten. Welche Konsequenzen hatte nun der Wandel der Kindheits- und Persönlichkeitsideale für den Umgang mit Kindern? Bevor wir uns dieser Frage detaillierter zuwenden wollen, erscheint es zunächst sinnvoll, die katholische Persönlichkeitsbildung im Kontext der internationalen Debatten um Kindheit zu verorten, um ihre Dynamik besser verstehen zu können.
3. Vom moralischen zum psychobiologischen Kind: Der Impuls der neuen Kinderwissenschaften Die Durchsetzung eines apostolischen Persönlichkeitsmodells als neues Ziel katholischer Bildung und Erziehung folgte einer binnenkatholischen Dynamik, wurde aber gleichzeitig von einem umfassenderen, konfessions- und nationsübergreifenden Wandel von Kindheitskonzeptionen geprägt. Im Folgenden soll dieser Wandel beleuchtet werden. Zum einen soll dadurch die katholischer Kindheitspolitik besser in der industriegesellschaftlichen Moderne des 20. Jahrhunderts verortet werden, zum anderen sollen umgekehrt die politische Reichweite und Rezeptionsweisen eines neuen Kindheitsverständnisses eruiert werden, das zumeist vorschnell allein mit liberalen und demokratischen Gesellschaftsentwürfen identifiziert wird. Der Wandel von Kindheit im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert ist ein komplexer, vielschichtiger Prozess, dessen ausführliche Erörterung den Rahmen dieser Studie sprengen würde. Auf der Grundlage einer guten Forschungsliteratur werden jedoch zunächst einige Grundtendenzen skizziert, die den Rahmen abstecken, in dem sich die Entfaltung und Verbreitung der neuen Kinderwissenschaften vollzog. Diese etablierten sich um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert als ein zentraler Ort der gesellschaftlichen Reflexion über Kindheit sowie der Innovation und Durchsetzung neuer Vorstellungen vom Wesen und von der Entwicklung des Kindes. Die Ergebnisse der Kinderforschung traten in Konkurrenz zu älteren Kinderbildern und Erziehungsvorstellungen. Insbesondere entwarf und popularisierte die Forschung ein neues Bild des Kindes als psychobiologisches Wesen. Die Entstehung dieses Konzeptes und die Frage nach seiner Bedeutung für die katholischen Kindheitsdebatten stehen im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen. Es wird argumentiert, dass dieses Konzept ein zentrales Fundament des neuen apostolischen Erziehungsmodells bildete. Die neuen Kinderwissenschaften lieferten nicht nur Grundlagen eines neuen liberalen Umgangs mit Kindern, sondern ihre Ergebnisse konnten und wurden auch von antiliberalen und autoritären Bewegungen aufgegriffen.
3.1 Kindheit und Gesellschaftswandel um 1900: Transnationale Trends Im Frühjahr 1931, kurz nach Ausrufung der Zweiten spanischen Republik, erörterte die renommierte Madrider Tageszeitung El Sol den Wandel von
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Kindheit in den vergangenen Jahrzehnten. Auf der kurz zuvor neu in die Tageszeitung eingefügten Frauen- und Kinderseite, die zumeist regelmäßig jede Woche erschien, kontrastierte sie die ihr nun naiv vorkommende Ansicht vergangener Elterngenerationen, dass Kinder entweder gut oder böse auf die Welt kämen und diese Neigungen gegen erzieherische Maßnahmen resistent seien, mit zeitgenössischen, vermeintlich aufgeklärteren Ansichten über den psychologischen Aufbau der Kinderseele. Gleichzeitig ließ sie die Errungenschaften der Kindermedizin, den Ausbau des Schulwesens und den höheren Stellenwert der Kinder in den Familien Revue passieren. Den gesamten Wandel des gesellschaftlichen Umgangs mit Kindern in den zurückliegenden Jahren ins Auge fassend, bilanzierte die Zeitung stolz: „Glücklicherweise gehört heute die Welt den Kindern“.1 Die Zeitung knüpfte hier, bewusst oder unbewusst, an das viel zitierte Diktum der schwedischen Kinderreformerin Ellen Key an, die im Jahr 1900 das neue Jahrhundert zum Jahrhundert des Kindes ausgerufen hatte.2 Zwei eng verknüpfte Einsichten lassen sich diesem Artikel entnehmen. Erstens eine deutliche Aufwertung der Kinderrolle in der Gesellschaft und, zweitens, ihre gesellschaftspolitische Aufladung als Ressource und Ausgangspunkt sozialen und politischen Wandels. Der Aufsatz erscheint damit als Teil einer kindheitshistorischen Epoche, die in den 1880er Jahren ihren Ausgang nahm und auch die katholische Kinderpolitik zutiefst beeinflusste. Die Herausbildung dieses neuen Verständnisses von Kindheit als Problem und Chance von Gesellschaften lässt sich genauer beschreiben. Viele kinderhistorische Arbeiten sehen in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert keine einschneidende Zäsur, sondern gehen eher von einem fließenden Übergang aus, in dem sich die um 1800 verfestigenden Grundkoordinaten von Kindheit im Grundsatz nur wenig änderten. Insbesondere das sich um 1800 im Bürgertum durchsetzende Verständnis von Kindheit als gefährdete Lebensphase, die dem Lernen gewidmet sein solle und die räumlich von der Erwachsenenwelt zu trennen sei, blieb konstant.3 Doch begannen trotz dieser unzweifelhaften Kontinuitäten mit den 1880er Jahren eine ganze Anzahl neuer Entwicklungen, die es sinnvoll erscheinen lassen, die Jahrzehnte um 1900 als Zäsur moderner Kindheitsgeschichte anzusehen. Vor allem rückten das individuelle Kind und 1 2 3
Los Niños: Trabajo y Disciplina, El Sol, 26.5.1931. Vgl. Meike Sophia Baader u. a. (Hrsg.), Ellen Keys reformpädagogische Vision. „Das Jahrhundert des Kindes“ und seine Wirkung, Weinheim/Basel 2000. Mintz, Huck´s Raft, S. 4; Stearns, Kindheit, S. 94f.; Heywood, Growing Up. S. 286f. Vgl. auch: Anne Higonnet, Pictures of Innocence. The History and Crisis of Ideal Childhood, London 1998. Als Fallbeispiel: Jürgen Schlumbohm, Constructing Individuality: Childhood Memories in Late Eighteenth-century ,Empirical Psychology and Autobiography, in: German History 16 (1998), S. 29–42. Zur Bildungsgeschichte der Aufklärung, die in vielem die Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts vorprägte vgl. Jürgen Oelkers, Bruch und Kontinuität. Zum Modernisierungseffekt der Reformpädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik 40 (1994), S. 565–83.
3. Vom moralischen zum psychobiologischen Kind
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seine Psyche auf neue Weise in den Mittelpunkt öffentlichen und politischen Interesses.4 Eine wichtige Grundlage hatte diese Entwicklung in den Familien. Der Wandel bürgerlicher Familien im 19. Jahrhundert ist gut erforscht, und so können wir uns hier auf einige allgemeine Hinweise beschränken. 5 Auch wenn die neuere Forschung einen simplen Konnex von sinkenden Kinderzahlen und einem neuen Interesse am individuellen Kind in Frage gestellt hat, so kann nicht bestritten werden, dass, wie die US-amerikanische Historikerin Viviana Zelizer auf klassische Weise formuliert hat, im Verlauf des 19. Jahrhunderts in einem fundamentalen Wandel die ökonomische Bedeutung von Kindern für die Familien zugunsten ihrer emotionalen Bedeutung in den Hintergrund trat. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wuchs die Zahl der Mittelschichtfamilien, die es sich leisten konnte, auf den ökonomischen Zugewinn durch Kinderarbeit zu verzichten. Erst jetzt wurden für breitere Gesellschaftsgruppen die emotionale Zuwendung zu den Kindern – vor allem die Idealisierung der Mutter-Kind Beziehung – und die Kindererziehung immer mehr zum Kern von Familie. Damit erhöhte sich aber für die Familien das Interesse am Innenleben der Kinder, an der kindlichen Psyche und ihrer Entwicklung. Dazu trug auch der Rückgang der Kindersterblichkeit in den westlichen Kernländern bei, die erst um 1900 signifikant sank. 6 Das gesellschaftliche Interesse erhöhte sich zur gleichen Zeit durch die Verbreitung einer Sicht auf Kindheit als ursprünglichere, authentischere Lebensform. Kindheit übte aufgrund der ihr zugeschriebenen Naivität, Ur4
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Gutman/de Conick-Smith, Introduction, S. 2; Stephens, Introduction, bes. S. 15f. Als historische Zusammenfassung: Stearns, Kindheit, S. 97–102. Für den russischen Fall: Kelly, Children´s World, Kap. 1. Die Literatur zur bürgerlichen Kindheit ist sehr umfangreich. Siehe hier nur zum deutschen Fall den Forschungsüberblick: Stargardt, German Childhoods. Sowie: Rebekka Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums, Göttingen 2000; Dies., Parent-Child Relationships in the Nineteenth Century, in: German History 16 (1998), S. 43–55; Budde, Weg ins Bürgerleben. Als Quellenband: Irene Hardach-Pinke/Gerd Hardach, (Hrsg.), Deutsche Kindheiten: Autobiographische Zeugnisse 1700–1900, Frankfurt/Main 1978. Zu Frankreich: Heywood, Growing Up. Zu den USA: Caroline F. Levander u. a. (Hrsg.), The American Child: A Cultural Studies Reader, New Brunswick 2003; Graff, Conflicting Paths. Zu Großbritannien: James Walvin, A Child’s World. A Social History of English Childhood 1800–1914, Harmondsworth, Middlesex 1984. Zelizer, Pricing. Siehe auch als konzise Zusammenfassung: Stearns, Konsumgesellschaft, S. 147f. Die Zurückdrängung von Kinderarbeit, seit dem frühen 19. Jahrhundert ganz oben auf der Agenda der Kindheitsreformer, war ein zäher Prozess, der selbst in Avantgardeländern der Kindheitsreform erst nach dem Ersten Weltkrieg zu wirklichen Erfolgen führte: Zusammenfassend: Stearns, Kindheit, S. 95. Zum Forschungsstand: Hugh Cunningham und Pier Paolo Viazzo (Hrsg.), Child Labour in Historical Perspective 1800– 1985: Case Studies from Europe. Japan and Colombia, Florenz 1996. Als Fallstudien: Annika Boentert, Kinderarbeit im Kaiserreich 1871–1914, Paderborn 2007; Myron Weiner, The Child and the State in India. Child Labor and Education Policy in Comparative Perspective, Princeton 1991.
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sprünglichkeit und Ungekünsteltheit eine neue Faszination aus. Sie schien einen dem erwachsenen Menschen verloren gegangenen Zugang zu den Quellen menschlichen Seins darzustellen, zum „Primitiven und Originellen der Menschennatur“ und wurde zu einem neuen Sehnsuchtsort.7 Diese Verklärung des kindlichen Zustandes wurde von der Entwicklungspsychologie weiter gefördert, indem sie die Distanz zwischen Erwachsenen und Kindern als Ausgangspunkt ihrer Forschungen deutlich herausstellte. Die Kinderseele erschien Forschern wie dem Jenaer Physiologen William Preyer (1841–1897) als „unverständliche Schrift“, als „Geheimschrift“, die nur mühsam, durch genaue Beobachtung entschlüsselt werden könne und der seit 1887 an der Clark University in Massachusetts lehrende Psychologe Stanley Hall (1844– 1924) erläuterte im Rückblick: „Wir gelangen allmählich zur Einsicht, dass die Kinder keine kleinen Erwachsenen mit allen ausgebildeten Fähigkeiten in verkleinertem Maßstabe sind, sondern einzigartige und von uns sehr verschiedene Geschöpfe.“8 Neben diese längerfristigen gesellschaftlichen Trends, die Kindheit als gesellschaftliches Thema neu konturierten und dabei insbesondere ein neues Interesse am individuellen Kind und seiner Personalität entfachten, trat ein neues national- und bevölkerungspolitisches Interesse an Kindern. Die Deutung der Kriegsniederlage von 1898 als Symptom einer Degeneration des spanischen Charakters und die neue Sorge um Kinder standen im Kontext einer breiten internationalen Debatte um Nation und Kindheit, die sich um die Gefahren nationaler Degeneration und die Möglichkeiten nationaler Weltgeltung drehte. In einer Zeit verschärfter internationaler Konkurrenz der Nationalstaaten und Imperien rückten Kinder als nationaler Rohstoff neu in den Blick, den es zu pflegen und entwickeln gelte. Kindersterblichkeit erschien nicht nur als zivilisatorische Tragödie und Ausweis von nationaler Rückständigkeit, sondern auch als verantwortungslose Verschwendung gesellschaftlicher Ressourcen. In Großbritannien entfachte etwa der ver7
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Stanley Hall, Die Kinderforschung und ihr Verhältnis zur Erziehung (1900), in: Ders., Ausgewählte Beiträge zur Kinderpsychologie und Pädagogik, Altenburg 1902, S. 23–43, hier S. 41. Vgl. auch Karl Groos, Das Seelenleben des Kindes. Ausgewählte Vorlesungen, Berlin 1904, S. 1. In der historischen Forschung hat Carolyn Steedman auf diese Entwicklung aufmerksam gemacht und die „Fremdheit“ als wesentliches Merkmal der Figur des Kindes in der Kultur des 19. Jahrhunderts und seine enge Verbindung mit Fragen von menschlicher Subjektivität und dem Unterbewussten herausgestellt. Siehe: Strange Dislocations. Unabhängig von Steedman hat Meike Sophia Baader mit sehr ähnlichen Ergebnissen die Entstehung von Kindheit als „Projektionsfläche für die Sehnsüchte des modernen Menschen“ (S. 257) in der deutschen Romantik herausgearbeitet: Baader, Romantische Idee. William Preyer, Die Seele des Kindes. Beobachtungen über die geistige Entwicklung des Menschen in den ersten Lebensjahren, Leipzig 1882, S. viii–ix; Hall, Kinderforschung, S. 42. Diese Auffassung bildete auch die Grundlage von äußerst populären Kindertagebüchern, die um 1900 als neues Genre eine breitere gesellschaftliche Rezeption fanden. Vgl. Ernst Scupin/Gertrud Scupin, Bubis erste Kindheit. Ein Tagebuch über die geistige Entwicklung eines Knaben während der ersten drei Lebensjahre, Leipzig 1907, S. v.
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lustreiche Burenkrieg, in dem die zahlenmäßig weit überlegene britische Armee die aufständischen Buren nur mit äußerster Mühe hatte besiegen können, eine breite Diskussion über die Notwendigkeit einer grundlegenden Erneuerung des britischen Charakters, der als tragende Säule des britischen Imperiums gesehen wurde. Die Bekämpfung gesellschaftlicher Degeneration durch eine Formung der Kinder zu energischen imperialen Charakteren erschien als Staatsaufgabe ersten Ranges.9 Auch in Deutschland rückte eine breite Debatte über die Degeneration des Menschen in der Moderne Kindheit und Erziehung in das Zentrum vielfältiger Reforminitiativen, die eine, oft religiös aufgeladene Erneuerung des Menschen bezweckten.10 Es waren insgesamt drei allgemeine Entwicklungen, welche auf breiter Front den gesellschaftlichen Umgang mit Kindern nach 1900 prägen sollten: Ein intensives Interesse am individuellen Kind, die enge Verbindung von Kindheits- und Gesellschaftsreform sowie die Debatte über die Notwendigkeit, aus Kindern neue Menschen zu formen anstatt sie lediglich nach dem Bilde der real existierenden Erwachsenen zu erziehen.
3.2 Das Kind als Gegenstand von Wissenschaft und der Aufstieg der Entwicklungspsychologie Die Verwissenschaftlichung von Kindheit stellt einen fundamentalen Faktor der Kindheitsgeschichte nach 1900 dar. Das neue gesellschaftliche Interesse an Kindern erhöhte die Nachfrage nach Wissen und Expertise über Kinder. Dieses Interesse richtete sich zunächst auf die körperliche Konstitution von Kindern. In Großbritannien nahmen Kinderstudien beispielsweise einen wichtigen Ausgang von Berichten über den hohen Untauglichkeitsgrad der städtischen Unterschichten für den Militärdienst. Um Kinderleben aber besser schützen und Kinder zu kräftigen Staatsbürgern formen zu können, war 9
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Adrian Wooldridge, Measuring the Mind. Education and Psychology in England, 1860– 1900, Cambridge: 1994, S. 19–24; Nathan Roberts, Character in the Mind. Citizenship, Education and Psychology in Britain, 1880–1914, in: History of Education 33 (2004), S. 177–97, hier S. 179f.; Hugh Cunningham, The Children of the Poor. Representations of Childhood since the Seventeenth Century, Oxford 1991. Siehe aus der umfangreichen Literatur hier nur: Meike Sophia Baader, Persönlichkeitsbildung als Aufgabe von Schule um 1900, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 9 (2003), S. 225–48; Dies., Menschenformung. Zum größeren bildungshistorischen Kontext: Jürgen Oelkers, Krise der Moderne und Reformer der Erziehung, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Klassiker der Pädagogik. Zweiter Band: Von John Dewey bis Paulo Freire, München 2003, S. 7–31, hier insb. S. 12f. Vgl. zur religiösen und theologischen Dimension der Debatten auch: Friedrich Wilhelm Graf , Rettung der christlichen Persönlichkeit. Protestantische Theologie als Kulturwissenschaft des Christentums, in: Ders./ Rüdiger vom Bruch/Gangolf Hübinger (Hrsg.), Kultur und Kulturwissenschaften im 1900, Stuttgart 1989, S. 103–32.
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neues medizinisches Wissen über die Besonderheiten des Kinderkörpers und seine Entwicklung notwendig, wie es die neue Pädiatrie sammelte.11 Mit der flächendeckenden Einführung der allgemeinen Schulpflicht im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts trat ein weiteres Interesse an neuem Wissen hinzu.12 Die Einschulung fast aller Kinder einer Alterskohorte stellte Bildungsadministration und Pädagogen vor das neue Problem einer angemessenen Sortierung der Schüler. Die körperlichen und geistigen Unterschiede zwischen altersgleichen Kindern rückten als pädagogisches Problem in den Blick. Gerade die Herausforderung des Umgangs mit lernschwachen Schülern forcierte Forschungen zu den kindlichen Entwicklungsphasen, zur Intelligenzmessung, zur Früherkennung und Unterscheidung geistiger und körperlicher Defizite und ihre Behandlung.13 Mit der wachsenden Wissensproduktion und dem Aufbau neuer, staatlich finanzierter Kinderinstitutionen entstanden neue Expertengruppen als kinderpolitische Akteure, die sich als Mediziner, Lehrer oder Sozialarbeiter mit unterschiedlichen Aspekten von Kindheit befassten. Diese Experten waren dabei aktive Produzenten und Distribuenten neuen medizinischen und psychologischen Wissens, das über eine aufblühende Ratgeberliteratur die interessierten Mittelschichtenfamilien erreichte.14 Die neuen Kinderwissenschaften und die Kinderexperten vermochten sich als zentrale Orte und Akteure der Aushandlung dessen, was ein Kind sei und wie es zu behandeln sei, zu etablieren. Die neuen Kinderwissenschaften brachten eine ungeheure Fülle neuer Kenntnisse vom Kind in so unterschiedlichen Feldern wie der Pädiatrie, der Intelligenz- und Lernforschung und der Pädagogik hervor. Jenseits dieser spezifischen Wissensbestände lassen sich jedoch einige grund11
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Sydney A. Halpern, American Pediatrics. The Social Dynamics of Professionalism, 1880– 1980, Berkeley 1988; Peter W.G. Wright, Babyhood. The Social Construction of Infant Care as a Medical Problem in England in the Years around 1900, in: M. Lock und D. R. Gordon (Hrsg.), Biomedicine Examined, Dordrecht 1988, S. 299–329. Vgl. zur Disziplingeschichte auch: Colón, Nurturing Children. Die Schulpflicht, die zwischen 1860 und 1880 in fast allen Industriestaaten eingeführt worden war, setzte sich zumeist erst in den Jahren vor der Jahrhundertwende als Standarderfahrung von Kindheit durch. In den USA stieg die Teilnahme am Schulunterricht zwischen 1890 und 1918 um 700 Prozent. In vielen Ländern der Erde, darunter Spanien, sollte der regelmäßige Schulbesuch des überwiegenden Teils der Kinderpopulation sogar erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts verwirklicht werden oder bis in die Gegenwart unerfüllte Forderung bleiben. Hugh Cunningham, Review Essay: Histories of Childhood, in: American Historical Review 103 (1998), S. 1195–1208, hier S. 1201; Hendrick, Children, S. 12; Mintz, Huck´s Raft, S. 175; Stearns, Kindheit, S. 96. Vgl. die Hinweise zum britischen Fall: Wooldrige, Measuring, insb. S. 53–56, 73–110. Zu den USA: John Carson, The Culture of Intelligence, in: Theodore M. Porter/Dorothy Ross (Hrsg.), The Modern Social Sciences, Cambridge 2003, S. 635–48, hier S. 642f. Als Überblick: Hendrick, Children, S. 9–14; Hulbert, Raising America. Weiterhin: John Carson, The Measure of Merit. Talents, Intelligence, and Inequality in the French and American Republics, 1750–1940, Princeton 2006; Roberts, Character; Wooldridge, Measuring.
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legende Innovationen im Verständnis von Kindheit erkennen, die uns hier aufgrund ihrer gesellschaftsgeschichtlichen Folgen interessieren. 15 Reflexionen über Kindheit als Lebensphase gibt es seit der Antike. Doch erst in der Aufklärung lassen sich Ansätze einer systematischeren Beobachtung von Kindern feststellen. Neben retrospektive Betrachtungen der eigenen Kindheit traten erste ausführlichere Berichte über das Verhalten von Kindern in Form von Kindertagebüchern.16 Diese Beschäftigung wurde im 19. Jahrhundert fortgeführt und legte wichtige Grundlagen einer empirischen Kinderforschung. Es sollte aber bis in die 1880er Jahre dauern, bevor sich unter den begrifflichen Bannern der Kinderseelenkunde, Pädologie beziehungsweise im angloamerikanischen Raum child studies die Entwicklungspsychologie als wissenschaftliche Disziplin herausbildete. Bis zum Ersten Weltkrieg erlebte sie eine rasche Ausbreitung und Institutionalisierung. Zunächst in den USA, dann aber auch bald in anderen Ländern bildeten sich in den 1890er Jahren spezialisierte Zeitschriften und Vereine, die sich der neuen Kinderforschung verschrieben und neben Experten zunächst auch eine große Zahl interessierter Laien umfassten.17 Gegenüber älteren, nun als vorwissenschaftlich abgelehnten philosophischen Betrachtungsweisen von Kindheit wie etwa der einflussreichen „spekulativen Seelenkunde“ eines Johann Friedrich Herbart nahmen die neuen Kinderforscher für sich in Anspruch, zum ersten Mal auf einer breiten empirischen Basis nachprüfbare Informationen über die Kindheit als menschliche Entwicklungsphase zu sammeln und auszuwerten.18 Zwar 15
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Eine solche Wissensgeschichte darf nicht verwechselt werden mit der von der historischen Kindheitsforschung in den 1970er und 1980er Jahren intensiv betriebenen psychohistorischen Erkundung von Kindheit, welche die emotionalen Beziehungen von Erwachsenen zu ihren Kindern über große Zeiträume hinweg zu rekonstruieren und zu vergleichen versuchte: Lloyd de Mause, Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit, Frankfurt a. M. 1977 (engl. Original. 1974); Linda Pollock, Forgotten Children. Parent-Child Relations from 1500 to 1900, Cambridge 1983; Ingeborg Weber-Kellermann, Die Kindheit. Eine Kulturgeschichte, Frankfurt/Main 1979; Jürgen Schlumbohm, Geschichte der Kindheit. Fragen und Kontroversen, in: Geschichtsdidaktik 8 (1983), S. 305–15. Andreas Schulz, Der „Gang der Natur“ und die „Perfektibilität“ des Menschen. Wissensgrundlagen und Vorstellungen von Kindheit seit der Aufklärung, in: Ders./Lothar Gall (Hrsg.), Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2003, S. 15–39, hier S. 19– 23. Zum bildungshistorischen Kontext: Notker Hammerstein/Ulrich Herrmann (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2: Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800,, München 2005. Als konziser Überblick: Wooldridge, Measuring, S. 27f. Besonderen Einfluss in der frühen, sehr international ausgerichteten Forschung erlangte Stanley Hall, der durch Hunderte von Aufsätzen und Vorträgen und eine rastlose organisatorische Aktivität entscheidend zur gesellschaftlichen Popularisierung der Kinderpsychologie beitrug. Zur Rolle von Hall siehe: Mintz, Huck’s Raft, S. 187–89; Dorothy Ross/Stanley Hall, The Psychologist as Prophet, Chicago 1972. Als zeitgenössische Darstellungen: Wilhelm Ament, Fortschritte der Kinderseelenkunde
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waren sie methodisch weniger innovativ als von ihnen behauptet, da auch ihre Forschungen wesentlich auf einer Beobachtung von Kindern – oft der eigenen – beruhten. Doch sie verfeinerten und systematisierten die Beobachtungstechniken und nutzten zudem auf neue Weise statistische Methoden.19 Seit den 1890er Jahren ergänzten schließlich physiologische Experimente mit Kindern unter Laborbedingungen die Methodenpalette. Amerikanische Wissenschaftler richteten in Berkeley eine Versuchsschule ein, in welcher Lehramtsstudierende Kinder beobachteten und mit ihnen Wahrnehmungstests durchführten. In Deutschland leitete Ernst Meumann um 1900 Experimente zum ästhetischen Empfinden, in denen er Kinder Farben und Kunstwerke beurteilen ließ.20 Die neue Kinderforschung war keine einheitliche Bewegung, sondern umfasste unterschiedliche Strömungen, die sich jeweils mehr entwicklungspsychologischen, medizinischen oder pädagogischen Problemen zuwandten und durch unterschiedliche nationale Wissenstraditionen geprägt wurden. Doch teilten sie viele grundlegende Annahmen über Kindheit. 21 Der rasante Aufstieg der Kinderforschung und die mit ihr einhergehende Popularisierung eines neuen Bildes von Kindheit ist nur zu verstehen, wenn man sie in breitere, sich gegenseitig verstärkende wissenschaftliche und gesellschaftliche Dynamiken einbettet. Die Kindheitsforschung entstand wesentlich im Kontext des Siegeszuges der Evolutionsbiologie. Anders als heute vielleicht erwartbar, war es nicht ein Interesse an der Kindheit als eigenständiger Lebensphase, das die frühe Kinderforschung antrieb. Im Anschluss an Darwin waren die frühen Kinderforscher vielmehr überzeugt, über eine Erforschung des Kindes wichtige Aufschlüsse über die Genese und Grundfunktionen des menschlichen Geistes zu bekommen.22 Preyer nahm in Analogie zur Darwin-
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1895–1903, in: Archiv für die gesamte Psychologie, Heft 2 (1904), S. 69–136; Adolf Dyroff , Über das Seelenleben des Kindes, Bonn 1904; Christian Ufer, Art. Psychologie des Kindes, in: Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik, Bd. 7, Langensalza 1908, S. 109– 124. Als wie revolutionär diese Hinwendung zur Empirie empfunden wurde, zeigen verbreitete zeitgenössische Bedenken vor einer „geistigen Vivisektion“ der Kinder durch die Seelenkunde: Hall, Kinderforschung. S. 27. Nicht nur für den deutschsprachigen Raum grundlegend und wesentlicher Ausgangspunkt der weiteren Forschungen: Preyer, Seele. Zur quantitativen Methode: Einleitung des Übersetzers Joseph Stimpfl, in: Stanley Hall, Ausgewählte Beiträge zur Kinderpsychologie und Pädagogik, Altenburg 1902; Herman, Psychologism, S. 655. Frederick Tracy, Psychologie der Kindheit. Eine Gesamtdarstellung der Kinderpsychologie für Seminaristen, Studierende und Lehrer (Mit Erlaubnis des Verfassers nach der vierten neubearbeiteten Auflage des Orginals aus dem Englischen übertragen von J. Stimpfl), Leipzig 1899, S. iv. Ernst Meumann, Vorlesungen zur Einführung in die Experimentelle Pädagogik und ihre psychologischen Grundlagen, Erster Bd., Zweite umgearbeitete und vermehrte Auflage, Leipzig 1911, S. 591–99. Siehe besonders Marc Depaepe, Zum Wohl des Kindes? Pädologie, Pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik in Europa und den USA, 1890–1940, Weinheim/ Leuven 1993, Kap. III–VI. Die Pionierstudie William Preyers weist schon in ihrem Titel auf dieses übergeordnete
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schen Biologie an, dass auch in der psychischen Entwicklung des einzelnen Menschen Onto- und Phylogenese untrennbar miteinander verbunden seien. Im Kleinkind ließe sich die menschliche Psyche somit in einer entwicklungshistorisch früheren und elementareren Form untersuchen, als dies beim erwachsenen Menschen möglich sei. Darwin selbst hatte in einem knappen Abriss über das Seelenleben des Kindes dieser Vermutung Ausdruck gegeben. Er hatte dort kindliche Furchtäußerungen als „inherited effects of real dangers and abject superstitions during ancient savage times“ gedeutet.23 Der evolutionsbiologische Einfluss zeigt sich auch daran, dass die Kinderforschung zunächst hauptsächlich eine physiologische Wissenschaft war. Sie erforschte vornehmlich an Säuglingen und Kleinkindern das kindliche Geistesleben in seiner Bedingung durch körperliche Prozesse. Wenig erstaunlich bildete denn auch der Vergleich der Kinderpsyche mit derjenigen von Tieren, aber auch von „Naturvölkern“ ein wesentliches Moment der frühen Kinderforschung. Der amerikanische Psychologe Frederick Tracy suchte aufgrund der „wohlbekannten Ähnlichkeit der Kindheit des Individuums und jener der Rasse“ Gleichartigkeiten zwischen Kleinkindern und „Wilden“ zu ermitteln und auch Stanley Hall hielt die Kinderforschung für „auf jeder Stufe innig mit dem Studium des tierischen Instinkts und mit den Bräuchen und Anschauungen der Naturvölker verwandt“.24 Es waren vor allem drei Neuerungen der Kinderforschung, welche die Grundkoordinaten der Debatten um Kindheit und Erziehung verschoben und ihre Attraktivität für Pädagogen, Lehrer und Eltern bedingten. Erstens rückte die Kinderpsychologie die Individualität des Kindes in den Vordergrund und vollzog damit eine Abkehr von älteren typologisierenden Darstellungsformen von Kindheit, die bis weit in das 20. Jahrhundert hinein die Wahrnehmung einer breiteren Fachöffentlichkeit beeinflussten. Die Betonung der psychischen Eigenart jedes Kindes untergrub allmählich eine beliebte moralisierende Charakterlehre, welche die Existenz überzeitlicher Kindertypen wie den Schmutzfinken, den Faulpelz, den Pechschulzen oder den Primus postulierte.25 In ähnlicher Weise verdrängte sie allmählich die in Wissenschaftskreisen einflussreiche Temperamentenlehre, die versucht hatte, das sanguinische, lebhafte vom cholerischen, jähzornigen Kind und das
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Interesse hin: „Die Seele des Kindes. Beobachtungen über die geistige Entwicklung des Menschen in den ersten Lebensjahren“. Preyer, Seele, S. v. Charles Darwin, Biographical Sketch of an Infant, in: Mind 2 (1877), S. 285–294. Tracy, Psychologie, S. 64; Hall, Kinderforschung, S. 26; Groos, Seelenleben, S. 6. Die Verbindung war dabei wechselseitig. Kinder ähnelten nicht nur Wilden, sondern Wilde auch Kindern. Aufgrund der „als Tatsache beobachtete[n] Entwicklungshemmung des Kindes bei den Naturvölkern und bei den Völkern von Halbkultur“ sei auch der „erwachsene Wilde nur ein großes Kind“: Ament, Fortschritte, S. 112. Die Erforschung der Kinderseele versprach somit auch ethnologischen Mehrwert. Vgl. als Kritik Ament, Fortschritte, S. 113.
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phlegmatische vom melancholischen, in sich gekehrten Kind zu unterscheiden.26 Zweitens lag eine wesentliche intellektuelle Faszination der neuen Kinderseelenforschung darin, Kindheit in erster Linie als psychobiologisches Entwicklungsstadium zu betrachten. Sie entkräftete wirkungsmächtige religiöse Thesen einer angeborenen Unschuld bzw. Sündhaftigkeit des Kindes entwicklungspsychologisch, indem sie den besonderen vormoralischen Charakter der frühen Kindheit betonte und die Bedeutung der Vererbung als Faktor der Geistesentwicklung neu herausstellte.27 In diesem Kontext rückte „Energie“ zum neuen Leitkonzept von Kindheit auf. Erziehung erhielt die neue Aufgabe, sich um die Entfaltung, Kanalisierung und Regeneration der kindlichen Energien kümmern. Stanley Hall verglich in einem 1915 übersetzten Aufsatz den Erzieher gar mit einem hydraulischen Ingenieur, der ein Wässerungssystem angelegt, in dem die kindlichen Energien einen sinnvollen und nützlichen Einsatz finden. Es gehe in der Erziehung wesentlich darum, „die primitiven Energien der menschlichen Natur zu dirigieren.“28 Drittens rückte die Forschung die Bedeutung physischer und emotionaler Faktoren in der Kindesentwicklung neu in den Blick. Durch die Betonung der Verschränkung von Geist und Körper konnte sie Defizite der dominierenden rationalistischen Konzeption der Kinderseele überwinden, wie sie in prominenter Weise etwa in der Forschungsrichtung der „kindlichen Vorstellungskreise“ offenkundig geworden waren. Diese hatte die Kinderpsyche hauptsächlich als einen Container für gedankliche Inhalte konzeptionalisiert. In der Nachfolge Herbarts waren Gefühle entsprechend als Relation von Vorstellungen oder auch als „dunkle Gedanken“ gefasst worden.29 Ihre Anhänger hatten sich vor allem der Erforschung der Begriffswelt des Vorschulkindes zugewandt. Mit Hilfe der Erstellung langer Begriffslisten, in denen sie den 26
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Wilhelm Ament, Die Seele des Kindes. Eine vergleichende Lebensgeschichte, Stuttgart 1906, S. 44. Zum anhaltenden Einfluss dieser Lehre vgl. Klatt, Art. Natur des Kindes, in: Pädagogisches Lexikon, Bd. 3, Bielefeld und Leipzig 1930, Sp. 846–54, hier 851f. Siehe allgemein: Carson, Culture, S. 636f. Vgl. zum historischen Kontext auch: Jan Goldstein, The Post-revolutionary Self. Politics and Psyche in France, 1750–1850, Cambridge/Mass. 2005; Dies., The Advent of Psychological Modernism in France: An Alternate Narrative, in: Dorothy Ross (Hrsg.), Modernist Impulses in the Human Sciences, 1870–1930, Baltimore 1994, S. 190–209. Die meisten Vertreter der Kinderseelenkunde verstanden ihre Arbeit nicht gegen die Religion als solche gerichtet, lehnten aber ältere religiöse Kindheitsvorstellungen ab. Vgl. Ament, Fortschritte, S. 73f. Siehe zu diesem grundlegenden „Paradigmenwechsel“ weiterhin: Schulz, Gang, S. 32f.; Wooldridge, Measuring, S. 47; Carson, Measure, S. 166f. Zur Aufnahme in der Pädagogik: Heinz-Elmar Tenorth, Natur als Argument in der Pädagogik des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Baader u. a., Ellen Key, S. 301–22. Ferdinand Buisson, La Educación de la Voluntad (Conclusión), EM 107, Feb. 1900; Stanley Hall, Nuevas ideas sobre la infancia, in: BILE 669 (1915), S. 353–356. O. Flügel, Art. Gefühl, in: Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik, Bd. 3, Langensalza 1905, S. 287–99, hier S. 291.
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Wortschatz von Kindern verzeichneten, verglichen sie die „Vorstellungskreise“ verschiedener sozialer Schichten und Regionen. Ziel der Untersuchungen war eine bessere Anpassung des Volksschulunterrichts an die Vorstellungswelt der Kinder. In der Praxis machte sich jedoch zunehmend Kritik an den Resultaten dieses Ansatzes bemerkbar, die insbesondere die Reduzierung der Kindespersönlichkeit auf den Verstand bemängelte. Das umfassendere, auch Sinneseindrücke und Gefühle berücksichtigende Kinderbild erwies sich demgegenüber für die Reflexion des praktischen Umgangs mit Kindern weit besser geeignet als die älteren Modelle.30 Die Erfolge der frühen Kinderpsychologie, sich als akademische Disziplin zu etablieren, waren – besonders außerhalb des angloamerikanischen Kontextes – begrenzt. Schon vielen Zeitgenossen waren Methoden wie die oft dilettantisch durchgeführten Datenkompilationen und das Bemühen um naturwissenschaftliche Exaktheit vieler Untersuchungen fragwürdig.31 In Deutschland konnte die empirische Kinderforschung nach dem Ersten Weltkrieg nur mehr sehr begrenzten Einfluss auf die universitäre Pädagogik und das Bildungsestablishment erlangen.32 Doch die begrenzten Institutionalisierungserfolge dürfen nicht die bedeutenden Folgewirkungen ihrer Neufassung des Kindheitsverständnisses verdecken. Ihre Leistung, das Kind als psychobiologische anstatt als moralische Entität zu entwerfen, und die an diese Innovation anschließenden Verfahren der Messung und Kategorisierung von Kindern fanden über nationale Grenzen eine weite Verbreitung.33
3.3 Katholische Akzente. Kinderwissenschaften und Kirche Spanien zählte nicht zu den Zentren der neuen Kinderwissenschaften. Es erfolgte auf der iberischen Halbinsel zunächst keine mit Deutschland, Frankreich, Großbritannien und vor allem den USA vergleichbare Institu30
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Vgl. zur Bedeutung der Vorstellungskreisforschung in der Praxis, aber auch schon zur einsetzenden Kritik: Albert Fritz, Ergebnisse und Analysen des kindlichen Bewusstseins und Folgerungen daraus, in: Bayrische Lehrerzeitung, 2.2.1894. Zur zeitgenössischen wissenschaftshistorischen Einordnung: Ament, Fortschritte, S. 70. Zu Deutschland: Baader, Persönlichkeitsbildung, S. 232f. Siehe insgesamt: Peter N. Stearns, Girls, Boys, and Emotions: Redefinitions and Historical Change, in: Journal of American History 80 (1993), S. 36–74. Siehe exemplarisch: Wooldridge, Measuring, S. 44–47. Depaepe, Wohl, S. 397–400; Heinz-Elmar Tenorth, Pädagogisches Denken, in: Ders./ Dieter Langewiesche (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 5: 1918– 1945. Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989, S. 111–35. Vgl. für die internationale Dimension auch: N.N., Art. Child Psychology, in: A Encyclopedia of Education, Bd. 1, London 1925, S. 611–615.
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tionalisierung der Bewegung in Forschungszentren und Vereinen.34 Doch bedeutet das nicht, dass die Bewegung keinen Einfluss auf der iberischen Halbinsel besaß. Und dieser Einfluss war nicht auf liberal-progressive Kreise begrenzt. Die Krise von 1898 wirkte als Auslöser für die Rezeption der neuen Kinderforschung in Spanien, wie sich am Begriff der Kinderpsychologie nachweisen lässt. Wenn in den 1890er Jahren in pädagogischen Journalen von Kinderpsychologie die Rede gewesen war, hatte es sich durchweg noch um die Diskussion älterer, auf den kindlichen Geist konzentrierter und moralisch aufgeladener Konzepte gehandelt. Symptomatisch hierfür ist der unkommentierte Wiederabdruck einer Serie von Aufsätzen von Julián Sanz del Río aus den 1860er Jahren im liberalen Boletín de la Institución Libre de Enseñanza von 1892 über die „Psychologie des Kindes“, in der Sanz del Río die Geistesentwicklung des Kindes als Herausbildung der Fähigkeit zur Selbstreflexion beschreibt und als oberstes Erziehungsziel die Verhinderung des Absinkens des Kindes aus einem Stadium ursprünglicher Reinheit und Einheit in einen egoistischen Individualismus postuliert.35 Einen ersten Hinweis auf die Rezeption der neuen Kinderforschung geben Übersetzungen wichtiger Pionierarbeiten im Jahrzehnt nach 1900. Preyers grundlegende Studie erschien erstmals 1908 in einem Madrider Verlag auf Spanisch, Gabriel Compayrés wichtige Studie von 1893 wurde 1905 unter dem Titel La evolución intelectual y moral del niño publiziert und erschien bis 1920 in mindestens drei Auflagen, und auch zwei wichtige Arbeiten des prominenten amerikanischen Entwicklungspsychologen James Baldwin erschienen 1905 und 1907 in Übersetzung. Alfred Binets im Orginal im Jahr 1900 publizierte Arbeit zur Kinderpsyche erschien 1910 unter dem spanischen Titel Las ideas modernas sobre los niños.36 Allerdings war die Übersetzungstätigkeit keineswegs gleichmäßig oder gar umfassend. Die Werke des international wohl berühmtesten Kinderforschers Stanley Hall wurden beispielsweise ebenso wie die Grundlagenwerke von Ernst Meumann erst in 34
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Siehe als guten Überblick über die Bewegung: Depaepe, Wohl (zu Spanien S. 116f.). Mit Schwerpunkt auf den USA: Herman, Psychologism. Mit Schwerpunkt auf Großbritannien: Wooldridge, Measuring, S. 18–72. Einführend zum deutschen Fall: Schulz, Gang, insb. S. 32–39; Ulrich Herrmann, „Neue Schule“ und „Neue Erziehung“ – „Neue Menschen“ und „Neue Gesellschaft“, in: Ders. (Hrsg.), „Neue Erziehung“ – „Neue Menschen“. Ansätze zur Erziehungs- und Bildungsreform zwischen Kaiserreich und Diktatur, Weinheim 1987, S. 11–34, hier S. 12. Eher essayistisch: Hermsen, Faktor Religion, S. 155–173. Trotz interessanter Thesen in unserem Kontext weniger brauchbar: Gstettner, Eroberung. Zur Vorgeschichte im ausgehenden 18. Jahrhundert: Schlumbohm, Constructing Individuality; Reinhard Spree, Shaping the Child´s Personality. Medical Advice on Child-Rearing from the late Eighteenth to the Early Twentieth Century in Germany, in: Social History of Medicine 5 (1992), S. 317–35. Julián Sanz del Río, Psicología del niño: El espiritu en el niño, in: BILE 16 (1892), 81–83; Ders., Psicología del niño: La oposición en el niño, ebd., 225–26. James Baldwin, Historia del alma, Madrid 1905; Ders., Interpretaciones sociales y éticas del desenvolvimiento mental, Madrid 1907.
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den 1920er Jahren übersetzt, und die wichtigen Arbeiten von Christian Ufer und Edward Thorndike fanden gar nicht den Weg ins Spanische.37 Wichtiger als einzelne Übersetzungen war jedoch, dass spanische Autoren in allen wichtigen pädagogischen Zeitschriften die Ergebnisse der internationalen Forschung diskutierten. Ein Gymnasialprofessor am prestigeträchtigen Madrider Instituto de San Isidro hatte bereits 1892 eine neue Beschäftigung mit dem individuellen Kind und seiner Natur angemahnt, ohne allerdings detaillierter auf die internationale Forschung einzugehen.38 Doch schon 1899 gab der Herausgeber der Escuela Moderna, Pedro de Alcántara García, seinen Lesern einen längeren Überblick über die internationale Kinderwissenschaft und forderte deren Übernahme in Spanien. In den nächsten Jahren veröffentlichte seine Zeitschrift tatsächlich kontinuierlich Aufsätze, die sich etwa mit Fragen der Intelligenzentwicklung und kindlichen Empfindungen beschäftigten. Selbst die in der historischen Forschung nicht für ihre pädagogische Reformorientierung bekannte Zeitschrift El Maestro Español öffnete der neuen Kinderforschung im Jahr 1900 seine Spalten.39 Treibende Kräfte der Rezeption waren zumeist einzelne Personen wie der in Tarragona ansässige Gymnasiallehrer (catedrático) und seit 1919 als Psychologielehrer an der Instituto-Escuela in Madrid tätige Martín Navarro Flores, der Preyers Buch übersetzte und seit der Jahrhundertwende in Büchern und Aufsätzen für die neue Wissenschaft warb.40 Auch Domingo Barnés, der wichtige Leiter der äußerst einflussreichen bildungsreformerischen Institution Museo Pedagógico in Madrid, förderte die Aneignung der neuen Kinderpsychologie durch Übersetzungen und eigene Veröffentlichungen, von denen besonders seine 1917 publizierte umfangreiche Darstellung zu den Fuentes para el estudio de la pedología hervorgehoben werden muss.41 Schon 1911 wurde in Barcelona, das sich rasch als Zentrum der Kinderforschung in Spanien etablierte, ein Museo 37 38 39
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Eine frühe Rezeption von Hall in Spanien bildet: Stanley Hall, Nuevas ideas sobre la infancia, in: BILE 669 (1915), S. 353–356. U.[rbano] González Serrano, El Problema Pedagógico, EM 17, Aug. 1892. P. de Alcántara García, De los estudios llamados de Pscicología infantil, EM 104, 1899; U. González Serrano, Inteligencia y carácter, EM 105, 1899; Antonio Cervera y Royo, Apuntes pedagógicos: De la sensibilidad, EM 107, Feb.1900; Martín Chico y Suárez, Cooperación del alumno en la obra educativa (IV.), El Magisterio Español, 9.6.1900. Vgl. auch den allerdings in zahlreichen Punkten fehlerhaften Überblick über die spanische Kinderforschung: Depaepe, Wohl, S. 116–118. Siehe als frühe Arbeiten: Martin Navarro, La Paidología. Su historia y su estado actual, in: BILE 28 (1904), S. 72–77, 100–05; Ders., Relaciones de la pedagogía con la psicología y con la ética, in: BILE 32 (1908), S. 291–296, 324–330. Vgl. auch seine Bücher Nociones de Psiciología, Tarragona 1906 sowie Manual de Psicología experimental, Tarragona 1914. Zur Biographie Navarros: Teresa Marín Eced, Innovadores de la Educación en España, Ciudad Real 1991, S. 243–45. Siehe nur: Domingo Barnés, Fuentes para el estudio de la pedología, Madrid 1917; Ders., La psicología experimental en la Pedagogía francesa, Madrid 1921; Ders., Paidología. Parte general, Madrid 1929. Weiterhin: Ders., La psicología y la pedagogía, in BILE 39 (1915), S. 5–11.
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Pedagógica Experimental gegründet, das sich explizit der Weiterentwicklung und Verbreitung der experimentellen Pädagogik in Spanien verschrieb.42 Alcántara García, Navarro Flores und Barnés waren allesamt Liberale, die persönlich eng mit den liberalen Bildungsreformeinrichtungen verbunden waren. Doch interessierten sich katholische Intellektuelle gleichfalls für die neue Wissenschaft und trugen zu ihrer Popularisierung in Spanien bei. Der vor den 1930er Jahren wohl berühmteste und einflussreichste katholische Pädagoge in Spanien, Rufino Blanco y Sánchez, hatte sich schon zu einem äußerst frühen Zeitpunkt, im Jahr 1888, mit der Bedeutung der Psychologie für die Pädagogik befasst und wandte sich auch in den Jahren nach 1900 immer wieder entwicklungspsychologischen Themen zu. Auf übergreifendes Interesse stießen vor allem seine großangelegten anthropometrischen Untersuchungen an Schulkindern.43 Auch die beiden bedeutenden katholischen Bildungszeitschriften, die jesuitische Razón y Fe und die Revista Calasancia, publizierten schon vor dem Ersten Weltkrieg Aufsätze zur neuen Kinderforschung. Der Piarist Rogelio Gutierrez war nach eigenen Angaben von einer ersten Berührung mit der neuen Wissenschaft so begeistert, dass er angab, fortan seine ganze Kraft darauf aufgewendet zu haben, sich deren Erkenntnisse anzueignen.44 Das Interesse setzte sich in den kommenden Jahrzehnten fort, wie nicht zuletzt ein Sammelband von 1932 zur Pädagogischen Psychologie belegt, der aus katholischer Perspektive einen Überblick über die zu diesem Zeitpunkt nur mehr schwer überschaubare internationale Debatte lieferte.45 Die intensive Rezeption resultierte in einer die erziehungspolitischen Lagergrenzen übergreifenden Durchsetzung eines psychobiologischen Verständnisses von Kindheit und der Zurückdrängung einer primär moralischen Konzeption in den spanischen Debatten. Ein Aufsatz von Augusto Vidal Perera, einem Professor der Lehrerhochschule in Granada, in dem er argumentiert, dass Kinder niemals böse, wohl aber krank sein können, bringt diesen Wandel in symptomatischer Weise auf den Punkt. Die Begriffe „gut“ 42
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Eulàlia Collelldemont/Ángel Carlos Moreu, El Mueso Pedagógico Experimental de Barcelona. Enclave para una Historia de los Pequeños Museos Pedagógicos, in: Historia de la Educación 26 (2007), S. 471–82. Rufino Blanco y Sánchez, Nociones de psicogenesia aplicada a la pedagogía, Madrid 1888; Ders., Paidología, paidotécnica y pedagogía científica, Madrid 1911; Ders., Paidología y paidotécnica. Breve historia de la paidología, Madrid 1920. Rogelio Gutierrez, Paidología y Paidotécnica, RC 3 (1915), S. 410–16. Siehe auch: Monero, La Ciencia y el Niño, RC 4 (1916), S. 755–762; E. Ugarte de Ercilla, El problema psicofisiológico de la enseñanza (Teil I und II), in: RyF 28, Sep.1910. Psicología pedagógica, Barcelona 1932. Siehe weiterhin den programmatischen Aufsatz: Fernando María Palmés, S.J., La organización psicológica de los establecimientos de enseñanza, Atenas 1, 15.4.1930. Palmés leitete als Direktor das psychologisch-pädagogische Labor des jesuitischen Colegio Máximo de San Ignacio in Sarriá bei Barcelona. Vgl. zu den 1920er Jahren auch: Angel Rogí, Importancia de la Psicología en la obra de la educación, RC 10 (1922), S. 406–11, 494–98, 599–603.
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und „böse“, so Vidal, sollten aufgrund ihrer fehlenden Erklärungskraft aus den pädagogischen Debatten getilgt und durch die Begriffe „gesund“ und „krank“ ersetzt werden. Genauso sah es der liberalen Pädagoge Gerardo Rodríguez García: Das Kind sei „mehr ein physiologisches denn ein moralisches Wesen“.46 Wichtig im Rahmen unserer Arbeit ist nun, dass seit spätestens den 1910er Jahren auch die Mehrzahl der katholischen Experten diesen Aussagen beipflichtete. Ein psychobiologisches Verständnis von Kindheit setzte sich auch in den maßgeblichen katholischen Reformzirkeln durch. Das Verhalten des Kleinkindes, so belehrte etwa eine katholische Pädagogin im Jahr 1917 interessierte Eltern, dürfe nicht in moralischen Kategorien beurteilt werden, da, wie die Kinderpsychologie bewiesen habe, das Kind anfangs nur die zwei Impulse Lust und Unlust kenne. Verhaltensweisen, die Mütter oft entsetzt als Ausdruck von Bösartigkeit oder moralischer Schwäche des Kindes interpretierten, seien in Wirklichkeit allein auf seine „natürliche Schwäche [. . . ] und Lebhaftigkeit“ zurückzuführen.47 Die katholischen Zeitschriften übernahmen kinderpsychologische Begriffe und räumten Medizinern als Kindheitsexperten Raum ein. Das Wortfeld der Energie löste ein moralisches Vokabular ab. Der kindliche Energiehaushalt, die Bedingungen einer Akkumulation und Erhaltung von Energie sowie die Warnung vor zu schneller Entladung angesammelter Kräfte entwickelten sich zu prägenden Themen der Erziehungsdebatten.48 Die hier sichtbar werdende Konzeption des Kindes unterschied sich deutlich von einer älteren, nach 1900 als Minderheitsposition fortbestehenden Auffassung, welche das Kind als Doppelwesen ansah, als gleichzeitig engelgleiches, unschuldiges Wesen und als Heide, den es durch Erziehung zu christianisieren galt.49 In beiden Fällen wurden Erziehung und Lernen in moralische Begriffe gefasst. Abweichendes Verhalten konnte nur als Resultat schlechter, böser Einflüsse konzeptionalisiert werden. Beichte und gemeinsames Gebet waren konsequenterweise verbreitete Mittel, um Erziehungsprobleme zu lösen.50 Nach 1910 finden sich jedoch immer öfter Debattenbeiträge, die versuchen, eine moralische Sicht auf Kindheit mit neuen physiologischen Erkenntnissen in Einklang zu bringen. So sah etwa 46
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Augusto Vidal Perera, Consideraciones acerca de la clasificación de los niños en „buenos“ y „malos“, EM 233, Jan. 1911; Gerardo Rodríguez García, Lo que debe saber un padre para educar bien a su hijo, Madrid 1921, S. 21. Vizcondesa de Pitray, No desfallezcáis jamás en cuestiones de educación, RdEF 21, Nov. 1917. Siehe nur als Beispiele: M. Asunción M. y O. de Urbina, Reflexiones sobre dirección y educación del niño desde su más corta edad, RdEF 2, Feb. 1916; Sybil, El Medico debe colaborar en la educación familiar de los niños, RdEF 19, Sept. 1917; Doctor Rosa, La cólera en el niño (I.). Sus Causas, RdEF 21, Nov. 1917. Siehe etwa: El Respeto en la educación del niño (ursprünglich abgedruckt in: Jesús Maestro), La Enseñanza Católica, 15.2.1913; Monseñor Dupanloup, Los niños consentidos o mimados, Atenas 20, 15.5.1932. Elena Rodríguez Pascual, De la vida escolar, BIT 186 (May 1930).
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ein Autor in der ersten Ausgabe der Revista Calasancia die Kinderseele, der Tradition folgend, als zweigeteilt in gute Eigenschaften (buenas calidades) und perverse Instinkte (perversos instintos), betonte jedoch im nächsten Satz die Bedeutung körperlicher Bewegung für eine gesunde Kindesentwicklung.51 Zwar beeinflusste eine moralische Sicht auf Kindheit weiterhin die katholischen Erziehungsdebatten, doch verlor sie ihre Hegemonialstellung. Ernsthafte Debattenbeiträge, welche das Kind als wesentlich durch die Erbsünde gekennzeichnetes Wesen beschrieben, finden sich anders als um 1900 nach 1914 kaum mehr.52 In den 1930er Jahren hatte die psychobiologische Sicht auf Kindheit unter katholischen Pädagogen feste Wurzeln geschlagen. Es waren nicht nur progressive katholische Minderheiten, wie sie sich etwa um die Zeitschrift Avante gruppierten, die ein neues Verständnis vom Kind propagierten. Auch das Mitteilungsblatt des katholischen Lehrerseminars in Madrid argumentierte, dass „psychologische Kenntnisse für den Lehrer notwendig“ seien: „Lasst uns das Kind studieren [. . . ]. So werden wir es immer besser verstehen“.53 Gerade die Zeitschrift Atenas als wichtigstes, hegemoniales pädagogisches Organ im katholischen Erziehungsmilieu propagierte eine kinderpsychologisch geschulte Sicht auf Kinder. Dass die Kindernatur sich wesentlich durch ihren psychobiologischen „impulso vital“ auszeichne und sich Erziehung „nach den Vorgaben der Kinderpsychologie zu richten habe“, war in der dominierenden Gruppe katholischer Pädagogen in den 1930er Jahren Gemeingut.54 Aufsätze mit Titeln wie „Verstehen wir eigentlich unsere Kinder?“ wiesen auf eine bislang vermeintlich zu wenig berücksichtigte Komplexität des Innenlebens der Kinder hin und forderten, „exaktes Wissen über die spezifische Seinsweise des Schülers, mit anderen Worten, seine Individualpsychologie“ zu gewinnen.55 In einem von der Zeitschrift preisgekrönten Essay argumentierte der Lehrer Félix Fernández Sáinz, dass die „zeitgenössische Erziehung ein Kind der Experimentellen Psychologie“ sei und Pedro Martínez Saralegui unternahm in einer Artikelserie eine groß angelegte „Psychographie des Kindes“.56 Auch veröffentlichte das der FAE angegliederte pädagogische Institut im organi51 52 53 54
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Monero, El Niño, in: RC, 27.1.1913, S. 6–12. Simón Aguilar Claramunt, La ciencia y el arte de educar (III.), El Magisterio Español, 14.2.1900. Mariano Caruana Mateos, Ráfagas, BDM 22, Dic. 1931; Adolfo Ferrière, La psicología del adolescente y la escuela activa en la enseñanza secundaria, Avante, 46, Jan.–Feb. 1932. Siehe hier nur pars pro toto die Ausführungen von Josefina Álvarez über Fundamentos psicológicos de la escuela activa auf der nationalen katholischen Bildungswoche 1933/34: Julián Sotillo, La Tercerca Semana de Estudios Pedagógicos, Atenas 36, Jan. 1934. Mario Franco, ¿Comprendemos a nuestros niños? Atenas 1, 15.4.1930; Fernando Palmés, S.J., La organización psicológica de los establecimientos de enseñanza, ebd. Editorial: Félix Fernández Sáinz, La inmanencia vital y la educacción, Atenas 41, Okt. 1934; Pedro Martínez Saralegui, Psicografía del niño, Atenas 39, April 1934. Siehe weiterhin mit gleicher Stoßrichtung auch: P. Martínez Saralegui, Procedimientos en psicología aplicada: Cuestionarios, Atenas 20, 15.5.1932; Laburu, Psicofisiología del carácter, Atenas
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sationseigenen Verlagshaus in prominenter Weise Werke zur Pädagogischen Psychologie.57 Die Debatten wirkten in eine breitere katholische Lehrerschaft hinein. Sommerschulen der FAE für Lehrer enthielten regelmäßig Einheiten zur Pädagogischen Psychologie und zu Techniken der Experimentellen Psychologie.58 Auch in der katholischen Ratgeberliteratur schlug sich die Rezeption des psychobiologischen Kindheitsverständnisses nieder. Die FAE gab 1933 beispielsweise einen Erziehungsratgeber des bekannten Madrider Kinderheilkundlers Enrique Suñer heraus, der anders als ältere Vorläufer hinsichtlich Darstellung und Ratschlägen ganz auf die gesunde biologische Entwicklung des Kleinkindes ausgerichtet war.59 Auch wenn es sich in einigen Fällen um eine schlichte Usurpation moderner Begriffe zur Bezeichnung recht klassischer Gedanken gehandelt haben mochte und die moralische Sicht auf Kinder lebendig blieb: Die Durchsicht der katholischen pädagogischen Literatur der 1930er Jahre zeigt eindrucksvoll nicht nur eine intensive Auseinandersetzung mit kinderpsychologischem Wissen, sondern auch die Durchsetzung einer psychobiologischen Sichtweise auf Kindheit. Kindheit als Entwicklungsphase wurde nach 1900 für die katholischen Bildungsexperten zu einem problematischen Gegenstand, der intensive Beschäftigung und psychologischempirische Kenntnisse zu verlangen schien. Die neue entwicklungspsychologische Orientierung ließ auch eugenische Argumente in die katholischen Kindheitsdebatten einsickern. Gegen neuere Forschungen, welche die Bedeutung eugenischer, rassistischer Programme im Frühfranquismus herauszustellen versuchen, muss jedoch ihr begrenzter Einfluss in den katholisch-nationalen Debatten vor und auch nach 1936 betont werden. Schon vor dem Ersten Weltkrieg diskutierten katholische Publikationen rassenanthropologische Argumente, ohne dass diese allerdings breitere Resonanz gefunden hätten. So wies ein Autor der Revista Calasancia beispielsweise Einteilungen der Kinder in eine nordische und eine südländische Rassengruppe mit unterschiedlichen Eigenschaften zwar nicht explizit zurück, kritisierte aber doch die mit der Unterteilung verbundene moralische Wertung.60 Erst in den 1930er Jahren fanden eugenische Argumente im katholischen Erziehungsmilieu mehr Aufmerksamkeit. Enrique Suñer hielt beispielsweise eine Gruppe von „degenerierten Kindern“ aufgrund ihrer Erbanlagen für nicht erziehbar und erkannte auch erbliche Faktoren
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33, Okt. 1933; Edilberto Onieva (Maestro Nacional), La educación moral en la escuela, Atenas 57, Jan. 1936. Siehe vor allem: Instituto Pedagógico FAE (Hrsg.), Metodología y Psícología educativa, Madrid (Ediciones FAX) 1935. Weiterhin: Fernando María Palmés, Psicología. Segunda Edición, corregida y aumentada, Madrid (Ediciones FAX) 1935. Actividades femeninas: Cursos de verano en Santander, Atenas 44, Okt. 1934. Enrique Suñer, La Salud del Niño, Madrid 1933. Monero, El Niño, in: RC, 27.1.1913, S. 6–12.
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in psychischen Erkrankungen im Kindesalter an.61 Der wichtigste Vertreter einer eugenischen Pädagogik war der Kinderpsychater Antonio Vallejo Nágera.62 Nach Beginn des Bürgerkrieges rückte er in die Spitze des katholischen Bildungsestablishments auf, ohne dass allerdings seine eugenischen Forschungen in diesem auf größeren Widerhall gestoßen wären. Anders als von neueren Forschungen behauptet wird, war Vallejo Nágara trotz seines unbestreitbaren und verhängnisvollen Einflusses eine Ausnahmeerscheinung, die nicht repräsentativ für das katholisch-nationale Erziehungslager als Ganzes ist, auch wenn sich in diesem kein offener Widerstand gegen seine Auffassungen regte.63 Symptomatischer für das katholische und nationale Kinderverständnis waren Versuche, das spanische Kind als besonderen national-moralischen Typus abzugrenzen, seine besonderen Merkmale zu ermitteln und auf der Grundlage dieser Merkmalen eine besondere nationalspanische Pädagogik zu entwickeln: „Unsere Kinder unterscheiden sich von den ausländischen“.64 Katholische Reformer der 1930er Jahre meinten gerade in dem reichen Gefühlsleben des spanischen Kindes einen Hauptunterschied zu nordwesteuropäischen, eher rational geprägten Heranwachsenden zu sehen. Diese Suche nach nationalen Charaktereigenschaften von Kindern war allerdings ebenso wie die Debatte eugenischer Konzepte keine katholische Besonderheit, sondern findet sich, wenn auch unter anderen Vorzeichen, auch in den Kreisen progressiver Pädagogen.65 61
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Enrique Suñer, Herencia y eduación (I), Atenas 35, Dez, 1933; Ders., Herencia y educación (II.), Atenas 36, Jan. 1934. Vgl. insg. ders., Herencia y Educación, Madrid 1932. Abgeschwächt auch: Doctor Victor Pauchet, La ciencia de la eduación, Esto, 13.12.1934. Siehe etwa A Vallejo Nágara, Reacciones neuropáticas de los jóvenes escolares, especialmente en el internado. Lección dada en la VIII Semana de Educación Nacional, 30.12.1939, Atenas 98, Feb. 1940; Antonio Vallejo Nágera, Niños y jóvenes anormales, Madrid 1941. Vgl. Richards, Morality, der m. E. die Bedeutung biologistischer Denkweisen im Frühfranquismus aufgrund seiner Konzentration auf Vallejo Nágara überschätzt. Siehe auch allg. Raquel Álvarez Peláez, Biología, Medicina, Higiene y Eugenesia. España a Finales del Siglo XIX y Comienzos del XX, in: Vicente L. Salavert Fabiani/Manuel Suárez Cortina (Hrsg.), El Regeneracionismo en España, Valencia 2007, S. 207–40. Als abwägende Diskussion: Carlos Collado Seidel, Die Vernichtung des Anderen als Konstituens der FrancoDiktatur, in: Florian Legner (Hrsg.), ¡Solidaridad! Deutsche im Spanischen Bürgerkrieg, Berlin 2006, S. 191–211. Zitat: Alfonso Iniesta, Formación del maestro en la España nueva, Atenas 77, Jan. 1938. Siehe daneben vor allem: Josefina Álvarez, Estudio del niño español, Atenas 42, Juli 1934; Dies. Psicología Pedagógica: Estudio del niño español, Atenas 46, Dez. 1934; Dies, Estudio del niño español 48, Feb. 1935. Zusammenfassend: Josefina Álvarez de Cánovas, Psicología pedagógica. Estudio del niño español, Madrid 1941. Weiterhin: Francisco Armentia-Mitarte, La autoformación del niño y la autoridad del maestro (II.), Atenas 47, Jan 1935. Zur liberalen Diskussion über nationale Besonderheiten von Kindheit und Eugenik siehe: Amado Nervo, Libros de niños. Libros para niños. Los niños en la vida y en el arte, in: BILE 808 (1927), S. 199–202; Luis Huerta, ¿Dónde esta el poder? (II.), EdE 16, Abril 1935, S. 145–156.
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Schließlich muss kurz auf die Rezeption psychoanalytischer Deutungsmuster eingegangen werden. In Spanien begann auf liberaler Seite seit Mitte der 1920er Jahre eine intensive Debatte über die pädagogischen Konsequenzen der Psychoanalyse. Auch wenn die Debatte von Anfang an eine durchaus kritische war, förderte sie ein Einsickern psychoanalytischer Deutungsmuster in die Diskussionen um Kindheit.66 Deutlich sichtbar wird dies etwa im Kursprogramm des neugegründeten Institut Psicotecnic de la Generalitat de Catalunya, das unter der Leitung des international geachteten Psychologen Emilio Mira bis in den Bürgerkrieg hinein zum führenden Zentrum psychotechnischer Forschung auf der iberischen Halbinsel aufstieg, wobei Kindheit von Anfang an einen wichtigen Gegenstand der Institutsarbeit darstellte. Das Institut rezipierte dabei gerade auch psychoanalytische Debatten. Im Forschungsjahr 1932/33 bot das Institut beispielsweise einen siebenteiligen Kurs zur „Einführung in die Psychologie Adlers“ an, in dem in zwei Sitzungen die Themen „Das Kind in der Familie“ und „Die Adlersche Psychologie in der Schule“ behandelt wurden. Im Folgejahr gab es weitere mehrtägige Kurse zur „Psychologie und Erziehung von Kleinkindern“, „Studien zur kindlichen Sexualität“ und zu „Psychiatrie und Kinder“.67 In den 1930er Jahren gab auch die Revista de Pedagogía in ihrer Publikationsreihe als Band 4 einen Band von Alfred Adler zur „Individualpsychologie und Schule“ und als Band 7 ein Buch von Otto Pfister zu „Psychoanalyse und Erziehung“ in spanischen Übersetzungen heraus.68 Anders als unter progressiven Erziehern wurde eine psychotherapeutische Deutung der Kindernatur in katholischen Erziehungskreisen nie explizit ausformuliert. Blickt man jedoch etwas genauer hin, so wird eine differenzierte Rezeption der Psychoanalyse im katholischen Bildungsmilieu sichtbar. So erfolgte zunächst durchaus eine selektive Aufnahme psychoanalytischer und individualpsychologischer Erkenntnisse. Atenas rezensierte von Anfang an psychoanalytische Werke und schlug in den Besprechungen zumeist einen kritisch-abwägenden Ton an, der bei aller prinzipiellen Ablehnung die Psychoanalyse keineswegs vollständig verwarf.69 Besonders Forschungen zum kindlichen Unbewussten wurden aufmerksam registriert. So betonte kurz 66
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Eine frühe Diskussion findet sich in: Domingo Barnés, El psico-análisis y la educación, in: BILE 49 (1925), S. 78–84, 107–111; J. Ramón Beltran, El psico-análisis en sus relaciones con la pedagogía, in: ebd., S. 293–300; José M. Sacristan, Técnica del psicoanálisis infantil, in: RdP 8 (1929), S. 337–342. Institut Psicotecnic de la Generalitat de Catalunya: Programa dels Cursos 1932–1933, in: RPP 1, Feb. 1933; Programma dels Cursos 1933–34, in: RPP 3, Aug. 1933. Publicaciones de la Revista de Pedagogía: Biblioteca Pedagógica, in: RdP 169 (1936), Einband. Siehe etwa: Rez. J. Jastrow, The House that Freud Built, Nueva York 1932, Atenas 27, 15.2.1933. Zum Einfluss der Psychoanalyse auf die pädagogischen Debatten der Zwischenkriegszeit vgl. auch Danielle Milhaud-Cappe, Freud et le Mouvement de Pédagogie Psychoanalytique 1908–1937. A. Aichhorn, H. Zulliger, O. Pfister, Paris 2007.
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vor Ausbruch des Bürgerkrieges etwa der Leiter einer Sanatorium-Schule in Zaragoza, José Talayero Lite, in einem Überblick über neuere psychoanalytische Arbeiten zur Kindheit die große psychische Differenz zwischen Kind und Erwachsenen und argumentierte, dass jegliche Erziehung die unterbewussten Energien des Kindes zu berücksichtigen habe.70 Häufiger als eine solche direkte Diskussion waren jedoch deutliche Ähnlichkeiten im Blick auf das Kind, dessen „höchst delikate und enorm komplexe Konstitution“ viele katholische Pädagogen beschäftigte.71 Einen scharfen Gegensatz zwischen katholischem Kinderbild und psychoanalytischer Kindheitsforschung gab es somit ebenso wenig wie eine umfassende Aneignung. Es ist deutlich geworden, dass die katholischen Erziehungsdebatten keineswegs isoliert von internationalen Trends der Kinderforschung abliefen. Die katholischen Reformer bildeten keine traditionsfixierte Gemeinschaft, sondern rezipierten kaum weniger als ihre liberal-progressiven Konkurrenten die Resultate der neuen Kinderpsychologie und teilten mit ihnen fundamentale Annahmen über die Kinderpsyche. Insbesondere vollzogen sie in ihrer Mehrzahl den grundlegenden Wandel von einer rationalen und moralischen hin zu einer psychobiologischen Sichtweise auf Kindheit mit. Eine exklusive Affinität von neuer Wissenschaft und liberalen, progressiven Erziehungspositionen existierte nicht. Das neue psychobiologische Verständnis von Kindheit wirkte auf die vielfältigen Forderungen nach Persönlichkeitsreform ein, die um 1900 von einer neuen Generation katholischer Intellektueller erhoben wurden, und bestärkte ihre Kritik an der zeitgenössischen katholischen Bildung. Auch der spanische Katholizismus konnte und wollte sich dem neuen Sprechen über Kindheit nicht entziehen.
3.4 Die Herausforderung kindlicher Gefühle Mit dem neuen Interesse am Kind als psycho-biologischer Einheit rückten Kinderkörper und Kindergefühle als Gegenstände pädagogischen Handelns neu in den Blick. Eine Untersuchung des Wandels von Gefühlserziehung kann helfen, die Veränderungen katholischer Erziehungsdebatten genauer zu bestimmen. Kindergefühle bildeten für die Pädagogen fast aller Strömungen nach 1900 ein fundamentales Thema der Erziehung. Zahlreiche Beiträge in Zeitschriften und Büchern beschäftigten sich mit der Beschaffenheit von Emotionen und Möglichkeiten ihrer Formung. Für die Erzieher stellte sich 70
71
José Talayero Lite, Psicobiología del niño, Atenas, 63, Juli 1936. Siehe auch Sección Pedagógica de los Cursillos organizados por AC en Santander, Atenas 33, Okt. 1933 (Referat Tusquets zu Educación Nueva); Josefina Álvarez, Estudio del niño español. Interpretaciones de sueños infantiles, Atenas 50, April 1935. Domingo Lázaro, Algo sobre psicología escolar, Atenas 36, Jan. 1934.
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die Frage, inwieweit und auf welche Weise Kinderkörper und Kinderemotionen eine Rolle im Erziehungsprozess spielen sollten. Sollte ihnen ein erzieherischer Eigenwert zugesprochen werden und war ihre Entfaltung somit zu fördern, oder stellten sie eher minderrangige und im Zweifelsfall störende Elemente christlicher Persönlichkeitsbildung dar? Für die katholischen Pädagogen war dies eine außerordentlich bedeutende Frage, da die Bekämpfung der Passionen eine der wichtigsten Forderungen überkommener christlich-katholischer Erziehung war. Die Durchsetzungsfähigkeit neuer Kindheits- und Erziehungskonzeptionen musste sich deshalb gerade in diesem Punkt beweisen. Die Betrachtung der katholischen Gefühlsdebatten bietet somit einen guten Gradmesser für die Reichweite des Wandels katholischer Kinderauffassungen. Im Folgenden wird zunächst die Entdeckung von Gefühlen als Gegenstand pädagogischer Reflexion dargestellt, die in der Etablierung eines Modells der Zivilisierung der Gefühle als neue Erziehungsaufgabe mündete. In einem zweiten Schritt werden anschließend die Ablösung dieses hegemonialen Modells seit dem Ersten Weltkrieg und die kontroversen Debatten um Kindergefühle und den angemessenen Umgang mit ihnen in den 1920er und 1930er Jahren diskutiert. Den katholischen Debatten werden jeweils kontrastierend Entwicklungen im liberal-progressiven Spektrum gegenübergestellt. Kindliche Emotionen bildeten sich erst um 1900 als Gegenstand intensiven pädagogischen Interesses heraus, nachdem die neue Kinderpsychologie sie als fundamentalen Faktor der kindlichen Entwicklung entdeckt hatte. Kinderemotionen hatten die internationale Forschergemeinschaft zunächst nicht aus pädagogischen Gründen interessiert. Die neuen Kinderpsychologen hatten sich Gefühlen vielmehr seit den 1880er Jahren als Element der kindlichen Geistesentwicklung zugewandt und erhofften sich aus ihrer Erforschung Rückschlüsse über den Aufbau und die Genese des menschlichen Geistes.72 Gefühle bildeten in ihrem Verständnis eine frühe Phase der Geistesentwicklung, eine Durchgangsstufe auf dem Weg von den ersten diffusen sensorischen Empfindungen zur Dominanz des Verstandes im Wollen und Denken als höherrangigen Geistestätigkeiten. Insgesamt definierte die frühe Entwicklungspsychologie Gefühl deutlich weiter, als es in der Alltagssprache heute üblich ist. Der Begriff umfasste sowohl elementare sensorische Wahrnehmungen als auch Einstellungen wie Gottesfurcht oder Vaterlandsliebe, die heute eher als Werthaltungen bezeichnet würden.73 72
73
Vgl. hierzu meine Ausführungen: Till Kössler, Die Entdeckung der Kindheit im Gefühl. Kinderpsychologie und das Problem kindlicher Emotionen (1880–1930), in: Uffa Jensen/ Daniel Morat (Hrsg.), Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionalität 1880–1930, München 2008, S. 189–210. Preyer, Seele, S. 115. Ähnlich: Tracy, Psychologie, S. 57; Ament, Seele, S. 20. Vgl. für ähnliche Auffassungen in Frankreich und England die einflussreichen Arbeiten: Gabriel Compayré, L´évolution Intellectuelle et Morale de l´enfant, Paris 1893; James Sully, Studies of Childhood, London 1895.
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Obwohl die frühe Entwicklungspsychologie somit Kindheit nicht als eigenständiges Forschungsobjekt betrachtete, war sie doch mittelfristig für die Auffassung vom Kind äußerst folgenreich, da sie einen engen Zusammenhang zwischen Kindheit als vorrationaler Lebensphase und Gefühlen herstellte und Emotionen als Rohmaterial der Geistesentwicklung aufwertete. Kinderemotionen beanspruchten als Ausgangsstadium des autonomen Erwachsenen Aufmerksamkeit.74 Der Umgang mit kindlichen Gefühlen erhielt eine neue Bedeutung, da diese die Grundlage für eine rationale und moralische Persönlichkeitsentwicklung bildeten. Störungen in der kindlichen Gefühlsentwicklung mussten defizitäre Erwachsene nach sich ziehen. Die Entwicklungspsychologie legte somit auf neue Weise eine das gesamte Kind umfassende Erziehung nahe. Im Ergebnis hatte sie einen paradoxen Effekt auf die Pädagogik. Während sie Kindheit als vormoralische Entwicklungsphase von dem Druck rigoroser moralischer Verhaltensnormen entlastete, steigerte sie den Druck auf die Erzieher, über eine Regulierung kindlicher Gefühle die Grundlagen zukünftig psychisch gesunder und moralischer Persönlichkeiten zu legen. Die empirische Gefühlsforschung hatte von Anfang an einen deutlich appellativen Charakter. Durch wissenschaftliche Aufklärung wollten die Kinderforscher zur gesunden Persönlichkeitsentwicklung und geistigen Veredelung des Menschen beitragen..7576 Diese Zielformulierung erschien möglich, da die frühe Kinderforschung Emotionen eine Entwicklungsfähigkeit zusprach, die sie von basalen, eng an das körperliche Befinden geknüpften „Lebensgefühlen“ hin zu höherwertigen geistigen und sittlichen Gefühlen führe. Preyer verfolgte beispielsweise detailliert die Transformation der Elementargefühle von Lust und Unlust in die höher entwickelten geistigen Gefühle der Liebe und des Hasses. Aus dem Lustgefühl der Sättigung, so seine Erkenntnis, entwickele sich langsam im Kleinkind die Liebe zu den Eltern – als den Versorgern – und später die höheren Gefühlsformen der Vaterlands- und Gottesliebe, aus der kreatürlichen Furcht vor dem Dunkeln die religiöse Ehrfurcht.77 Pedro de Alcántara argumentierte etwa 1901, dass die Musik als Instrument der ästhetischen und moralisch-patriotischen Erziehung, die Gefühle im Kind „hervorrufe und reinige. [. . . ] Die reinsten und schönsten Gefühle erwachen und werden praktisch wirksam“.78 Die hier skizzierte Sicht auf Gefühle als Etappe der Geistesentwicklung und das daraus abgeleitete Modell einer erzieherischen Zivilisierung und Ver74 75 76 77
78
Als für ein breites Publikum gedachte Zusammenfassung: Dyroff , Seelenleben, S. 2–11. Ebd., S. 203. Meumann, Vorlesungen, S. 602f. Preyer, Seele. 89f. Siehe auch: Hall, Untersuchung, S. 435; Tracy, Psychologie, S. 157; Meumann, Vorlesungen, S. 612f. Zusammenfassend: W. Jerusalem, Art. Gefühl, in: Enzyklopädisches Handbuch der Erziehungskunde, Wien und Leipzig 1906, S. 494–497; O. Flügel, Art. Gefühl. Pedro de Alcántara García, La enseñanza musical en las Escuelas, EM 123, Junio 1901.
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edelung kindlicher Gefühle konnten sich seit den 1910er Jahren auch unter katholischen Erziehern eine hegemoniale Stellung erobern. Nachdem schon um 1900 Rufino Blanco Gefühle als Grundlage von Charakterbildung aufgewertet hatte, bildeten Kinderemotionen im Umkreis des Ersten Weltkrieges ein wichtiges Thema katholischer Erziehungsdebatten. Welcher Stellenwert ihnen zugesprochen wurde, zeigt das programmatische Vorwort der ersten Nummer der Ratgeberzeitschrift Revista de Educación Familiar, das die „religiöse und moralische Erziehung der Gefühle“ zu einem Hauptthema der Zeitschrift ausrief.79 Welche Dominanz die Position einer produktiven Gefühlserziehung in den 1930er Jahren erlangt hatte, zeigt exemplarisch ein von der Zeitschrift Atenas preisgekrönter Essay des Lehrers Félix Fernández Sáinz. Die Hauptaufgabe der Erzieher sei es, so Fernández, über die Selbstentfaltung der kindlichen Psyche zu wachen und die „kindlichen Emotionen, die unsere Existenz veredeln und verschönern, zu kultivieren“, ohne aber durch zuviel erzieherischen Druck auf sie „den Charakter zu deformieren“.80 Diese ganz auf der Linie der internationalen Kinderpsychologie liegende und auch von der Hauptrichtung liberaler Pädagogen vertretene Auffassung drängte die oben angesprochene wirkmächtige ältere Position zunehmend in das Abseits, welche Gefühle als Passionen (pasiones) in den Blick genommen und als Bedrohung menschlicher Autonomie und Verstandestätigkeit aufgefasst hatte.81 Die katholischen Reformer teilten mit liberalen Pädagogen viele Überzeugungen, vertraten aber auch besondere Positionen, indem sie die Bedeutung von Religion als Erziehungsmittel von Gefühlen betonten und zum Teil andere Gefühle in den Blick nahmen. Diese Unterschiede lassen sie jedoch weniger als Gegenpol der liberalen Reformer als vielmehr als alternative Erneuerer erscheinen. Gut zeigen lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede an einer langen Abhandlung zum Thema Kinderängste durch den italienischen Piaristen Pietro Mazzanti, die 1913 in der Revista Calasancia erschien. Mazzantis Ausführungen folgen zunächst in ihrer Orientierung an dem zeitgenössisch äußerst bekannten französischen experimentellen Psychologen Théodule Ribot dem zu diesem Zeitpunkt etablierten Argumentationsgang.82 Wie libe79
80
81 82
Division de la Revista de Educación Familiar, RdEF 1, Jan. 1916; Rufino Blanco y Sánchez, El carácter: Su educación, El Magisterio Español, 6.1.1900. Siehe auch: Delia Castellanos de Etchepare, La educación sentimental del niño, RdEF 11, Dic. 1916. Editorial: Félix Fernández Sáinz, La inmanencia vital y la educacción, Atenas 41, Okt. 1934. Siehe mit gleicher Stoßrichtung auch: Gabriel de Diego Torés, De las Pasiones, BDM 19, Sep. 1931; Carta de Monseñor Landrieux, obispo de Dijón, a su clero. Un aspecto de un problema vital, Atenas 24, 15.11.1932; Alfonso Francisco Ramírez, Algo acerca de las educación sexual, Atenas 30, 15.5.1933; Laburu, Psicofisiología del carácter, Atenas 33, Okt. 1933; Edilberto Onieva (Maestro Nacional), La educación moral en la escuela, Atenas 57, Jan. 1936. Roviralta, Educación Moral, El Magisterio Español, 31.3.1900. Pedro Mazzanti, Apuntes sobre educación de los sentimientos. Del Miedo, in: RC 1 (1913), S. 403–05. Zu den Forschungen Ribots siehe: Carson, Measure, S. 120–22, 125– 30.
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rale Erzieher definierten sie Emotionen gleichzeitig als fundamentale Kraft in der Persönlichkeitsentwicklung wie auch als pädagogische Herausforderung. Furcht wird entwicklungspsychologisch als menschliches Elementargefühl und Erbe einer früheren Menschheitsepoche gefasst und auf seine möglichen schädlichen Folgewirkungen hin untersucht. Mazzanti betont im Einklang mit der internationalen Forschung eine lebenslange Furcht, der Realität ins Auge zu blicken, sowie eine dauerhafte „Verminderung der Persönlichkeit“ als Gefahren, denen Erziehung begegnen müsse. Auch seine pädagogischen Rezepte zur Kanalisierung der Furcht ähnelten zunächst liberalen Vorschlägen. Es gelte, das Kind vor gewaltsamen Eindrücken und einer Überreizung seiner Imaginationskraft zu schützen, ihm die Grundlosigkeit seiner Angst rational auseinanderzusetzen, aber auch durch die Anstachelung konträrer Emotionen wie das Ehrgefühl eine Bewältigung der Furcht zu erreichen. Mazzanti griff schließlich auch Ratschläge Rousseaus, des vermeintlich wichtigsten Antagonisten katholischer Pädagogik, auf, über eine graduelle Gewöhnung der Kinder, die Ursachen der Furcht zu beseitigen, und näherte sich dadurch auch in den USA intensiv geführten behavioristischen Debatten um Gefühlserziehung an.83 Die Auseinandersetzung über den angemessenen pädagogischen Umgang mit Gefühlen erhielt jedoch bei Mazzanti eine eindeutig katholische Wendung insofern, als er im Unterschied zu seinen liberalen Kontrahenten die Angst vor dem Tod als wesentlichen Teil des Phänomens Furcht ansah und dementsprechend gerade in der religiösen Unterweisung, die den Heranwachsenden die Angst vor dem Nichts nehmen könne, das wirkungsvollste Gegenmittel gegen Furchtgefühle sah. Mazzanti entfaltete hier eine katholische Position, die in den Folgejahren immer wieder aufgegriffen wurde. Auch in den 1930er Jahren betonten katholische Pädagogen die Rolle von Religion als entscheidende regulierende Instanz der emotionalen Entwicklung des Kindes.84 Unternahm Mazzanti den Versuch einer Verbindung von Gefühlspsychologie und katholischem Glauben, so weist der von katholischen Autoren behandelte Gefühlskanon auf deutliche Unterschiede in der Aneignung neuen Wissens zwischen den weltanschaulichen Erziehungslagern hin.85 Für die katholische Pädagogin Delia Castellanos de Etchepare zählten beispielsweise neben der Liebe (amor) vor allem Frömmigkeit (piedad), Dankbarkeit (gratitud), Mitleid (compasión), karitative Nächstenliebe (caridad) und Selbstlosigkeit (abnegación) zu den Gefühlen, denen die Erzieher besondere 83
84
85
Peter N. Stearns/Timothy Haggerty, The Role of Fear: Transitions in American Emotional Standards for Children, 1850–1950, in: American Historical Review 96 (1991), S. 63–94, hier S. 81–84. Francisco Armentia-Mitarte, La autoformación del niño y la autoridad del maestro (II.), Atenas 47, Jan 1935. Siehe auch: Enrique Suñer, Herencia y educación (II), Atenas 36, Jan. 1934; Página Pedagógica, BIT 191, Okt. 1930. Als symptomatische Darstellung der liberalen Gefühlsdebatten siehe: Gerardo Rodríguez García, Lo que debe saber un padre para educar bien a su hijo, Madrid 1921, S. 224–240.
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Aufmerksamkeit zukommen lassen sollten.86 Auch der Erziehungsreformer Domingo Lázaro betonte 1918 die pädagogische Bedeutung von Gefühlen wie Elternliebe, Selbstlosigkeit und Güte, die einen hohen Stellenwert innerhalb der katholischen Religion besaßen.87 Die Mehrheit der kirchennahen Erzieher übernahm neue kinderpsychologisch geprägte Vorstellungen von Kinderemotionen und ihrer Erziehung, gab diesen aber eine besondere katholische Ausprägung. Das hier skizzierte Zivilisierungsmodell von Kinderemotionen blieb bis in die 1930er Jahre hinein einflussreich, differenzierte sich seit den 1910er Jahren jedoch aus.88 Die Debatten über Kindergefühle pluralisierten sich: Neben das optimistische Modell einer problemlosen Entwicklung der Gefühle trat eine neue Sicht auf Gefühle als problematisch und verletzlich. Während der Pädagoge Vicente Viquera in einem Aufsatz von 1916 Emotionen noch als wenig problematisch und leicht durch den Verstand zu domestizieren beschrieben hatte, zeichnete er in einem Artikel von 1922 Kindergefühle und ihre Erziehung als deutlich vertrackter. Gerade komplexe Gefühle (sentimientos complejos) hätten in der letzten Zeit das Nachdenken über die Kinderpsyche bestimmt, und das Zusammenspiel der Emotionen, „ihre Organisation und wechselseitigen Beziehungen“ in der Seele sei als Ganzes rätselhaft. Auch interessierte er sich auf neue Weise für ererbte Gefühlsdispositionen, die als solche zumindest teilweise außerhalb pädagogischer Beeinflussung lägen.89 Diese Entwicklung der spanischen Debatte korrespondierte eng mit Tendenzen in der transnationalen Kinderpsychologie nach 1918.90 Gefühle und mit ihnen der Umgang mit Kindern wurden problematischer. Die klare Ordnung der Gefühle im kindlichen Geistesleben ging verloren. Die Gefühlsforscher der zweiten Generation sahen sich einer Mischung widerstreitender Erscheinungen gegenüber, die sie nur mühsam definitorisch und konzep86 87 88
89 90
Delia Castellanos de Etchepare, La educación sentimental del niño, in: RdEF 11, Dez. 1916. Domingo Lázaro, La educación en la familia y por la familia (III.), RdEF 32, Nov. 1918. Zum Fortwirken vgl. nur: Emilio Mira, La exploración de la afectividad en la escuela, in: RdP 5 (1926), S. 481–86; F. Martí Alpera, La emoción en la educación del niño, in: RdP 10 (1931), S. 6–13. Vicente J. Viqueira, Las tendencias psíquicas y su educación, in: RdP 1 (1922), 142–47. Vor allem eine Forschergruppe um den Historiker Peter Stearns hat in einer Reihe von Studien auf der Grundlage von Ratgeberliteratur die Entwicklung einzelner Gefühle wie Ärger, Neid und Angst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verfolgt und als Teil eines umfassenden Wandels von Kindheit interpretiert: Stearns, Girls; Ders., The Rise of Sibling Jealousy in the Twentieth Century, in: Ders./Carol Z. Stearns (Hrsg.), Emotion and Social Change. Towards a New Psychohistory, New York 1988, S. 193–222; Ders./ Haggerty, Role of Fear; Matt, Children´s Envy. Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Entwicklung in Europa und den USA: Nelleke Bakker, The Meaning of Fear. Emotional Standards for Children in the Netherlands, 1850–1950: Was there a Western Transformation? in: Journal of Social History 34 (2000), S. 369–91. In weiterer Perspektive: Peter N. Stearns, American Cool. Constructing a 20th century emotional style, New York 1994; Ders., Battleground of Desire. The Struggle for Self-Control in Modern America, New York 1999.
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tionell zu bändigen vermochten. Gefühle gewannen eine eigenständige, in ihrer Dynamik schwer zu steuernde Rolle in der Persönlichkeitsentwicklung. Damit verlor schließlich auch das Modell einer aufsteigenden Gefühlsentwicklung an Plausibilität. Statt einer natürlichen Genese höherer aus niederen Gefühlen beschrieben die Forscher nun „Gefühlskomplexe“, in denen „niedere“, körperliche und „höhere“, geistige Gefühle komplizierte Bindungen eingingen. Statt des einzelnen, isolierbaren Gefühls avancierte das komplexe „Gefühlserlebnis“ zur neuen Grundkategorie der Debatte.91 Die neue Konzeptionalisierung von Emotionen legte eine Neuausrichtung der Gefühlserziehung nahe. Das Modell der Gefühlsveredelung blieb zwar einflussreich, doch entstanden neben ihm seit den 1920er Jahren alternative Erziehungsprogramme, in denen der Schutz und die Bewahrung der Kindergefühle Priorität erhielt. Psychologen forderten nun, Kinder nicht mehr mit starken emotionellen Eindrücken wie Furcht oder Neid ungeschützt zu konfrontieren, um ihre psychische Gesundheit nicht zu gefährden.92 Die Forderung, die kindliche Gefühlswelt gegenüber der Erwachsenenwelt möglichst lange zu schützen, setzte sich in weiten Teilen der liberalen und progressiven Öffentlichkeit durch. Die führende liberale Tageszeitung El Sol forderte in diesem Sinn 1931, dass „Furcht und Bitterkeit keinen Platz in der kindlichen Psyche haben dürften“. Diese gelte es vielmehr von schädlichen Emotionen freizuhalten.93 Diese Kommentare verweisen auf eine neue Wertschätzung der Kinderemotionen nicht bloß als Rohstoff der Persönlichkeitsbildung, sondern als Wert an sich hin, die eng mit gesellschaftsreformerischen Hoffnungen verbunden waren. Die Aufwertung der Kindergefühle bedeutete dabei eine Aufwertung von Kindheit insgesamt. Paradigmatisch formulierte schon der maßgebliche republikanische Kindheitsreformer und spätere erste Generaldirektor für das Volksschulwesens der Zweiten Republik Rudolfo Llopis diese neue Sicht – und schon unter Berufung auf Freud: „Wir müssen den Infantilismus kultivieren. [. . . ] Die Pädagogik muss aus dem Kind ein Kind machen, das heißt, sie muss in höchstem Grade das Kindsein des Kindes intensivieren.“94 Llopis ging es nicht mehr um die möglichst rasche Hinführung der Kinder 91
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Herchenbach, Art. Gefühl, Sp. 349, 356–361 (Zitate Sp. 349); Scola, Art. Gefühl, in: Lexikon der Pädagogik der Gegenwart, Bd. 1, Freiburg 1930, Sp. 875–882, hier Sp. 879–82; VC.H.J., Art. Emotion, in: A Encyclopedia of Education, Bd. II, London 1925, S. 440–442, hier S. 440. Vgl. als grundlegende Werke: Max Scheler, Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Hass, Halle 1913; Felix Krueger, Das Wesen der Gefühle. Entwurf einer systematischen Theorie, Leipzig 1928. Stearns/Haggerty, Role of Fear, S. 94. Los Niños: Trabajo y Disciplina, El Sol, 26.5.1931. Schon im Frühjahr 1922 lässt sich anhand der Behauptung der populären Illustrierten Mundo Gráfico, dass jedes traurige Kind ein gesellschaftliches Verbrechen sei, der neue Stellenwert einer emotional befriedigenden, glücklichen Kindheit für große Teile der gesellschaftlichen Deutungseliten nach dem Ersten Weltkrieg erkennen: María Valero de Mazas, Comentos breves: „Los niños tristes“, MG, 11.1.1922. Rodolfo Llopis, Los derechos y la personalidad del niño, según A. Patri, in: BILE 48 (1924),
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zu einem Dasein als nützliche, selbstkontrollierte Staatsbürger, sondern um die Konstruktion von Kindheit als utopischer Gegenwelt zur existierenden Gesellschaft, aus der heraus eine gesellschaftliche Veränderung hin zu einer besseren, authentischeren und menschlicheren Gesellschaft erfolgen sollte. Kindheit wurde hier in den Mittelpunkt eines ganz anderen, utopischen Projektes von Gesellschaftsreform gestellt, das nicht mehr eine liberale Gesellschaftsordnung mündiger und produktiver Bürger, sondern auf eine Erneuerung menschlichen Miteinanders zielte. Damit eine solche Gesellschaftsordnung möglich würde, mussten die positiven Seiten von Kindheit, und dass bedeutete vor allem ihre Emotionalität, im Sozialisationsprozess möglichst vollständig erhalten und zur Entfaltung gebracht werden sowie die ihr durch die Erwachsenenwelt zugefügten psychischen Schädigungen geheilt werden. Kindergefühle erhielten im linksliberalen pädagogischen Spektrum somit eine neue politische Aufladung als Ausgangspunkt von Emanzipation und Gesellschaftsreform. Die Neuansätze der internationalen Gefühlspädagogik ließen auch die katholischen Debatten nicht unberührt. Die katholischen Pädagogen vollzogen den Wandel zu einem komplexeren Bild von Kindergefühlen im Grundsatz mit, verknüpften Emotionen jedoch mit gesellschaftsreformerischen Projekten jenseits liberaler Visionen. Zudem entfaltete sich auch eine neotraditionalistische Strömung, die angesichts sozialer Unruhen und politischer Kämpfe gerade in einer strikten Gefühlsregulierung die Bedingung einer Gesellschaftsreform im christlichen Sinne erblickte. Im Umkreis des Ersten Weltkrieges lässt sich auch in katholischen Zeitschriften eine neue Sensibilität für die Verletzbarkeit der kindlichen Psyche feststellen. Ein Doktor Rosa veröffentlichte in der Revista de Educación Familiar in den Jahren 1917 und 1918 mehrere Aufsätze zu einzelnen Gefühlen, in denen er sich deutlich in der internationalen Kinderpsychologie verortete. Anders als die frühe Kinderforschung wandte sich Rosa aber ausschließlich problematischen Gefühlen wie Furcht (miedo), Wut (cólera) und Trauer (tristeza) zu, die seiner Meinung nach in vielen Fällen medizinisch-therapeutischer Behandlung bedürften. Furcht wertete Rosa beispielsweise nicht mehr wie ältere Erziehergenerationen als relativ einfach zu behebende Charakterschwäche, sondern als pathologische Störung des Affekthaushaltes, als „wahrhafte Krankheit“. Er mahnte Eltern beispielsweise, sich der kindlichen Furcht äußerst behutsam zu nähern, da bei falscher Behandlung das kindliche Gefühl sich in eine dauerhafte Schüchternheit zu verfestigen drohe. Auch eine falsche, nämlich ausschließlich repressive Reaktion auf Äußerungen kindlichen Ärgers könnte zu „tief greifenden gesundheitlichen Störungen“ des Kindes führen und zudem eine dauerhafte „Schärfe“ des Charakters S. 274–79 (Zitat S. 278). Vgl. auch Ders. Los derechos y la personalidad del niño, según A. Patri (II.), in: BILE 48 (1924), S. 301–305.
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bewirken.95 Kindliche Gefühle mussten geschützt werden, und Eltern wie Erzieher mussten die besten Wege kennen lernen, um dies zu erreichen. In seinem Blick auf eine neue Komplexität kindlicher Gefühle näherte er sich deutlich späteren psychoanalytischen Beschreibungen kindlicher Depressionen und Aggressionen an. Insgesamt nahm Rosa eine bezeichnende Zwischenstellung zwischen dem Modell charakterlicher Gefühlsveredelung und einem neuen medizinisch-therapeutischen Emotionsdiskurs ein, der den Schutz des Kindes in den Mittelpunkt stellte. Diese Zwischenstellung zeigt sich auch in der Propagierung der Verbindung von therapeutischen und moralisch-charakterlichen Ansätzen in der Gefühlserziehung: „Parallel zur therapeutischen Behandlung muss die moralische Behandlung erfolgen“.96 So waren beispielsweise in Abgrenzung zur Schocktherapie früherer Jahrzehnte eine behutsame Behandlung und Korrektur der Angstzustände der richtige Weg, um der erwünschten charakterstarken und mutigen Persönlichkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Doch gleichzeitig sollten Eltern, der Tradition folgend, ihre Kinder auch durch Beispiele von Heldenmut und Appelle an ihre Ehre von der Furcht kurieren. Jungen sollten zudem mit anderen Kindern Fußball spielen, damit sie die Angst vor körperlichen Schmerzen verlören und lernten, diese gleichmütig zu ertragen. Die Mischung aus therapeutischen und charakterpädagogischen Ansätzen dominierte in den katholischen Debatten auch der 1930er Jahre. Daneben traten jedoch zwei weitere Strömungen. Die erste, weniger deutlich greifbare Richtung zielte auf die Schaffung intensivierter Räume emotionalen Austausches. Gefühle gewannen in diesem Entwurf Bedeutung vor allem als Basis glückender zwischenmenschlicher Kommunikation. Die Begegnung zwischen Lehrer und Schüler sollte in einer intensiv-spirituellen Atmosphäre der Liebe und Sympathie stattfinden, welche als Vorwegnahme einer gesamtgesellschaftlichen harmonischen Zukunftsordnung betrachtet wurde. Ganz ähnlich, aber anders ausbuchstabiert als auf links-republikanischer Seite bildeten Gefühle hier den Ausgangspunkt einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Neuordnung, die nicht mehr als Ergebnis der individuellen Perfektionierung des Einzelnen, sondern als kollektiver Prozess, als Neuordnung der Sozialbeziehungen verstanden wurde.97 Neben diese neue Wertschätzung von Gefühlen als Basis von Gesellschaftsreform gewann jedoch eine weitere Position an Bedeutung, die in der Weiterentwicklung der älteren Passionenkritik starke Gefühlstendenzen im 95
96 97
Doctor Rosa, Tratamiento del miedo en el niño, RdEF 20, Okt. 1917; Ders., La cólera en el niño. Sus causas, RdEF 21, Nov. 1917. Siehe weiterhin: Ders., Medios para curar la cólera en los niños, RdEF 22, Dez. 1917; Ders., Los Niños perezosos: ¿Son perezosos todos los niños que se niegan a estudiar? RdEF 26, Apr. 1918; Ders., El niño triste, RdEF 32, Nov. 1918. Ders., Tratamiento del miedo en el niño, RdEF 20, Okt. 1917. María de Echarri, De Sociología, BIT 200, August/Sep. 1931.
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Kind als gesellschaftspolitische Gefahr verstand. Eine ältere Erziehergeneration hatte das Problem der Passionen vor allem als individualpsychologisches Problem definiert und ihre Beherrschung, einen entsprechenden Willen vorausgesetzt, als unproblematisch angesehen. So bewertete ein Aufsatz in der Educación Hispano-Americana vom November 1916 Passionen gleichzeitig als gefährliche wie als nützliche Seelenbewegungen. Auch der Pädagoge Gabriel de Diego Torés behauptete im Herbst 1931, dass „Passionen an sich nichts Schlechtes“, sondern natürlich und sogar notwendig seien.98 In Abgrenzung zu dieser vermittelnden Auffassung definierten die Neo-Traditionalisten seit den 1920er Jahren Passionen immer mehr in sozialpsychologischen als in individualpsychologischen Kategorien. Vor dem Hintergrund sozialer Aufstände, Streiks und antiklerikaler Gewalt erschienen Gefühle als überindividuelle bedrohliche Kraft, deren Bändigung der individuelle Wille alleine nicht leisten könne. Der Piarist Joaquín Seguí deutete beispielsweise schon 1920 die sozialen Erschütterungen der Gegenwart als Ergebnis von ungebremsten, nicht mehr durch Willenskraft gebändigter Passionen.99 Die Eindämmung der kindlichen Passionen erschien einer wichtigen Minderheit von Katholiken als Hauptaufgabe religiöser Erziehung. Der Bischof von Madrid-Alcalá hatte schon 1924 in der Beherrschung der Passionen die Grundlage moralischen Handelns erblickt und der Erzbischof von Toledo Isidro Goma forderte in Reaktion auf die Oktoberaufstände 1934 die Erzieher auf, „den menschlichen Passionen Einhalt zu gebieten [. . . ], diese anmaßenden Kräfte der niederen Regionen des Menschen zu unterwerfen“. Auch der populäre, 1932 in überarbeiteter Form neu aufgelegte Erziehungsratgeber des Redemptoristen Ramón Sarabia sah in den Passionen den Hauptfeind der Erziehungstätigkeit und in ihrer Bezwingung deren vornehmliches Ziel an.100 Nach der revolutionären Erhebung in Asturien im Oktober 1934, die das katholische Spanien erschütterten, gewann selbst in der Zeitschrift Atenas der neo-traditionalistische Ansatz kurzfristig an Bedeutung. Alfonso Iniesta zeichnete im Dezember 1934 beispielsweise ein düsteres Bild einer „durch entfesselte Passionen erschütterten Welt“ und verschiedene Kommentare sahen beunruhigt auf die politische Linke, die vermeintlich die Kinder zu
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Gabriel de Diego Torés, De las Pasiones, BDM 19, Sep. 1931; Olaya, Pasiones, Hábitos, Virtudes, abgedruckt in: Leyendo Revistas, RdEF 12, Jan. 1917. Siehe mit dem gleichen Tenor auch das einflussreiche Werk von Jules Renault, Consejos a los padres. Curso de pedagogía familiar, Madrid 1934, S. 100–111. Zur katholischen Rezeption des Werkes: Rez. Renault, J., Consejos a los padres, Atenas 47, Jan. 1935. Joaquín Seguí, Sch.P. (Barcelona), La educación en el ambiente social moderno, in: RC 8 (1920), S. 312–314. Doctor Goma, Arzobispo de Toledo, La escuela laica es atea, inmoral, antisocial, Ellas, 30.12.1934. Siehe auch: Las Pasiones, fuente de incredulidad, Ellas, 4.9.1932. Vgl. auch: Bonifacio Sedeño, Instrucción religiosa de los adolescentes, in. RdEF 2, Feb. 1916; Sarabia, Cómo se educan.
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„Hass und politischen Passionen“ aufstachelten.101 Allerdings blieb der Passionendiskurs bis 1936 in der Zeitschrift und damit in der hegemonialen katholischen Expertengruppe randständig. Erst nach Ausbruch des Bürgerkrieges sollte dieses sozialpsychologische Verständnis von Kinderemotionen im Katholizismus kurzzeitig die intellektuelle Dominanz erlangen.102 Wie die Beispiele andeuten, wurde die Rede von den Passionen zudem eher von einer allgemeinen katholisch-nationalen Öffentlichkeit getragen, während sie die Debatten der katholischen Intellektuellen und besonders der Pädagogen sehr viel weniger prägte. Insgesamt stand die unterschiedliche Bewertung kindlicher Emotionen im Mittelpunkt einer äußerst wichtigen, praxisrelevanten Spaltung der katholischen Bildungsbewegung in eine individualpsychologisch-apostolische und eine neo-tradionalistische Strömung, die im nächsten Kapitel weiter verfolgt werden wird. Die Aneignung der neuen Kinderwissenschaften führte im zentralen Bereich der Gefühlserziehung nicht zu einer Annäherung der Erziehungslager und einen Abbau politischer Gegensätze. Im Gegenteil, das neue Wissen über Gefühle schuf neue pädagogisch-politische Gräben. Es legte den Erziehern aller Lager eine Ausweitung des pädagogischen Zugriffs auf das ganze Kind nahe und begründete die Notwendigkeit der Intervention in Kindheit. Gerade die Ähnlichkeit der kinderpsychologisch geprägten Problemanalyse löste eine Dynamik politisch-pädagogischer Konfrontation aus. Kinder wurden auf neue Weise zu einem gesellschaftlichen Politikum. Allerdings darf die weltanschauliche Polarisierung in den Gefühlsdebatten nicht überzeichnet werden. Statt klarer Pole lässt sich eher ein Kontinuum beziehungsweise eine Gemengelage an Positionen erkennen, die sich im Einzelnen nur schwer trennscharf voneinander abgrenzen lassen. Es gab auch in den 1930er Jahren noch ein breites Mittelfeld von Positionen, die Gefühlserziehung weiterhin vor allem als Beitrag zur individuellen Persönlichkeitsbildung im Rahmen einer politisch unspezifischen bürgerlichen Gesellschaftsordnung sahen.
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Circular del Prelado de la Diócesis de Madrid-Alcalá, acerca del uso de lenguas extranjeras en los Colegios Católicos, RC 12 (1924), S. 498–501, hier S. 498; Alf. Iniesta, Perfiles: Mirada angustiosa a la moral infantil, Atenas 46, Dez. 1934 (Zitat); De acuerdo con Pestaña, Atenas 61, Mai 1936. Vgl. hierzu die Diskussion in: Till Kössler, Persönlichkeitsreform als Friedenspolitik. Friedenssemantiken im spanischen Katholizismus während des Bürgerkriegs (1936– 1939), in: Helke Stadtland (Hrsg.), „Friede auf Erden“. Religiöse Semantiken in Europa im 20. Jahrhundert, Essen 2009, S. 153–169.
4. Jenseits von Disziplinierung und Liberalisierung. Katholische Pädagogik und Erziehung im Wandel Die Bildung starker christlicher, apostolischer Persönlichkeiten wurde nach 1900 zum Hauptziel katholischer Bildung und Erziehung. Doch wie konnten überzeugte und tatkräftige Christen geformt werden, nachdem sich die älteren Modelle religiöser Sozialisation als untauglich erwiesen hatten, die Säkularisierung der spanischen Gesellschaft aufzuhalten? Und wie war den liberalen Erziehungsreformentwürfen zu begegnen, deren internationales Prestige immer schwerer ignoriert werden konnte? Hatte die Kirche den Kindern und deren Interessen entgegenzukommen und dabei auch neue pädagogische Ansätze aufzugreifen oder war es sinnvoller, die Kinder strikt von allen Erscheinungsformen von Modernität zu isolieren? Wie war den neuen Herausforderungen entsprechend die Balance von Autorität und Freiheit, von Förderung des kindlichen Willens und seiner Disziplinierung zu bestimmen? Und: Sollten Jungen weiterhin anders erzogen werden als Mädchen? Diese Fragen beschäftigten die Katholiken seit der Jahrhundertwende intensiv und prägten die katholischen Erziehungs- und Gesellschaftsreformdebatten über weite Strecken des 20. Jahrhunderts. Jenseits von Einzelfragen kennzeichneten zwei Grundspannungen den katholischen Umgang mit Kindern seit den 1910er Jahren bis in den Franquismus hinein. Erstens: Das neue psychobiologische Verständnis von Kindheit und die neuen Anforderungen an Persönlichkeitsbildung stärkten einerseits die Position des Kindes im Erziehungsprozess, indem sie ein Eingehen auf seine Natur, eine Förderung seiner Eigeninitiative und die Gewährung von Freiräumen nahelegten. Andererseits steigerten die neuen Anforderungen jedoch die Ansprüche an Erziehung in Richtung einer totalen christlichen Formung des Einzelnen. Zweitens rückten die neue Kinderpsychologie und die Neukonzeption einer Rechristianisierung „von unten“ das einzelne, individuelle Kind, seine psychische Struktur und seine Anlagen in den Mittelpunkt der pädagogischen und religiösen Debatten. Gleichzeitig zielten die Erziehungsreformer jedoch immer auf gesamtgesellschaftliche, in den 1930er Jahren auch auf politische Veränderungen. Den kirchennahen Experten stellte sich somit die Frage, wie eine neue Individualisierung von Erziehung mit einer neuen kollektiven, gesellschaftspolitischen Ausrichtung von Bildung in Verbindung zu setzen sei. Es waren diese grundlegenden Probleme, mit denen sich die Bildungs- und Erziehungsdebatten, denen sich die Darstellung nun zuwendet, in kontroverser Weise beschäftigten. Das komplizierte Terrain der katholischen Erziehungsdebatten soll in mehreren Schritten vermessen werden. Zunächst soll einführend das pädago-
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gische Selbstverständnis der katholischen Experten als Vertreter moderner Erziehungsideen erläutert werden. Anschließend werden die Veränderungen der in Zeitschriften, Büchern und Konferenzen geführten katholischen Erziehungsdebatten anhand von vier Themenblöcken diskutiert. Erstens stellte sich die Kardinalfrage katholischer Erziehung nach 1900, wie die Kinder für eine aktives Christentum gewonnen werden konnten, das eine innere Überzeugung erforderte, die mit autoritärem Zwang nicht zu erreichen war. Diese Probleme betrafen in besonderer Weise die religiöse Bildung als Kern katholischer Persönlichkeitsbildung, die einen zweiten Gegendstand dieses Kapitels bildet. Drittens werden die Konsequenzen des apostolischen Leitbildes und neuer Kinderpsychologie für die Mädchenbildung und -erziehung untersucht, auch um die Reichweite der Veränderungen besser abschätzen zu können. Viertens, schließlich, stellte sich die Frage nach dem Verhältnis von Individualförderung und Gesellschaftsreform als Erziehungszielen, die in einem potentiellen Spannungsverhältnis standen. Welche Bedeutung sollte individueller Begabung und Leistung in einer neuen christlichen Gesellschaft zukommen?
4.1 Eine moderne katholische Pädagogik? Spätestens in den 1910er Jahren ergriff auch viele katholische Erzieher ein neuer pädagogischer Reformeifer. Hatten kirchennahe Pädagogen um die Jahrhundertwende noch versucht, eine überkommene „Erziehungskunst“ gegen eine neue „Pädagogik“ zu verteidigen, häuften sich nun die positiven Bezüge auf Pädagogik als moderne Wissenschaft.1 Die Begeisterung für eine Erneuerung der Pädagogik erfasste nicht nur die herausragenden Reformer, sondern auch das breitere katholische Erziehungsmilieu. In piaristischen Kreisen, die sich in diesem Punkt aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von anderen katholischen Erziehergruppen unterschieden, existierte 1915 eine regelrechte paidomanía, und pädagogische Reformvorschläge liefen in solcher Frequenz bei den Ordensoberen ein, dass der bisherige dreijährige Turnus der pädagogischen Grundsatzdiskussionen als deutlich zu lang erschien.2 In den 1930er Jahre hatte sich die Selbstbeschreibung als moderne Pädagogen unter katholischen Erziehern durchgesetzt. Die FAE betonte, dass die Kirche ein „integrales und modernes Erziehungskonzept besitzt“ und nahm für die katholischen Schulen und Lehrerseminare in Anspruch, „die letzten Worte der modernen Pädagogik in einem wohlverstandenen Sinne“ zu 1
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Zur älteren Position: Simón Aguilar Claramunt, La ciencia y el arte de educar, El Magisterio Español 10.1.1900. Zur neuen Sicht: R. Ruiz Amado, La educación religiosa, RyF 27, Mai–Aug. 1910, S. 141ff. Nuestros Capítulos, in. RC 3 (1915), S. 478f.
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verkörpern und einer „modernen Orientierung“ zu folgen. Entgegen der liberalen Polemik, so die Vereinigung, seien es vielmehr gerade die Staatsschulen, welche einem pädagogischen Traditionalismus verhaftet blieben.3 Die katholischen Debatten hatten „die modernsten Entwicklungen der Psychologie und Pädagogik“ zu berücksichtigen, und das gesamte Bildungssystem sollte unter katholischer Führung „moderner, mehr in Einklang mit den Bildungssystemen der kultivierten Länder“ gestaltet werden. Die neuen Ansätze in der Pädagogik zu ignorieren, so die junge theresianische Pädagogin Paquita Montilla, und „die Schule nach den Vorgaben von vor zwanzig Jahren zu organisieren, wäre nicht nur lächerlich, sondern tollkühn“. Eine Abschottung gegenüber den innovativen Ansätzen des Auslandes müsse zwangsläufig in eine Versteinerung (fosilización) von Bildung und Erziehung münden. 4 Die kontinuierliche Betonung der eigenen pädagogischen Modernität war Teil eines intensiven Konkurrenzkampfes mit progressiven Reformern um die intellektuelle Vormachtstellung im Erziehungsfeld. Die katholischen Reformer der FAE sahen sich am Ende der 1920er Jahre in einer intellektuellen Defensive. Der intellektuellen Ausstrahlungskraft der Reformpädagogik in ihren unterschiedlichen Schattierungen konnte sich das katholische Erziehungsmilieu nicht entziehen. Viele katholische Erzieher, so klagte eine Pädagogin 1936, bekannten sich in der Öffentlichkeit ungern zu den großen Bildungsprinzipien des Katholizismus, da sie Angst hatten, als unwissenschaftlich zu gelten.5 Der intellektuelle Druck auf katholische Erziehung zeigt sich auch im Vorwort von Atenas, in dem die Herausgeber den Hinweis für notwendig hielten, dass die katholische Pädagogik „weder untauglich noch verstümmelt sei, [. . . ] der christliche Glaube des Lehrers in keiner Weise seine pädagogischen Fähigkeiten, seine wissenschaftliche Erziehungsarbeit noch seine erzieherische Effizienz einschränke.“6 Nur durch die Entwicklung einer eigenen Form von pädagogischer Moderne, so die Überzeugung der Reformer, war es möglich, die Meinungsführerschaft im Erziehungsfeld zu übernehmen und Einfluss auf die zukünftigen Erziehergenerationen zu gewinnen. Die FAE definierte dies Ziel programmatisch:
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Siehe nur: Werbung: Boletín, BIT 203, Dez. 1931; Hispánicus, En torno al Ministerio de IP: Semana de estudios pedagógicas, Atenas 26, 15.1.1933; Actividades femeninas. Escuelas católicas, Atenas 28, 15.3.1933. Mit identischer Aussage: X. Leyendo un librito [Isidro Almazán y Francos, La formación de Maestros, Madrid 1930], Atenas 1, 15.4.1930. De actualidad pedagógica: España: La creación de Escuelas católicas. Atenas 32, 15.7.1933; Movimiento Educativo, Atenas 46, Dez. 1934; Enrique Herrera Oria, Hay que españolizar el Ministerio de Instrucción Pública, Atenas 48, Feb. 1935; Paquita Montilla, De nuestros días ¡Renovarse! Atenas 23, 15.10.1932. Ähnlich: J.M. Gómez Lozano, Al pasar . . . Maestros Nuevos, Atenas 23, 15.10.1932. María-Díaz Jiménez, Pedagogía Católica, in: BIT 252 (March 1936). A modo de presentación y programa, Atenas 1, 15.4.1930.
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„Gegen die Technik der Institución Libre de Enseñanza und ihre moderne Pädagogik die Technik der FAE und ihre ebenfalls moderne Pädagogik. Gegen die Revista de Pedagogía [. . . ] die Zeitschrift Atenas, die [. . . ] vielleicht intensiver und gründlicher als die Revista de Pedagogía die internationale Bildungs- und Erziehungsdiskussionen verfolgt. [. . . ] Gegen die Schriften von Luzuriaga [dem bekanntesten liberalen Bildungsreformer, T.K.] eine Publikationsreihe moderner Pädagogik“.7
Es ging den führenden katholischen Pädagogen nicht, wie von der Forschung bisher angenommen, um eine Bewahrung von traditionellen Erziehungstraditionen gegen den Ansturm der Moderne, sondern um die Ausarbeitung einer neuen Pädagogik, die sich den liberalen Reformprojekten als zumindest ebenbürtig erweisen sollte. Während Absichtserklärungen leicht gemacht waren, erwies sich die inhaltliche Füllung dessen, was mit moderner katholischer Pädagogik gemeint sein könnte, als wesentlich schwieriger. Die Reformkräfte versuchten diese als Amalgam der neuen pädagogischen Wissenschaften mit bewährten katholischen Traditionen zu definieren und sich dadurch sowohl gegen die „alte“ Erziehung als auch gegen areligiöse Exzesse der „neuen“ Pädagogik abzugrenzen. Gerade die Verbindung von alten Traditionen und neuem Wissen, so die Erwartung, würde sich als wahrhaft modern und einem traditionsvergessenen Modernismus als überlegen erweisen.8 Atenas erläuterte im Dezember 1934 dieses Programm wie folgt: „Die Bewegung der Neuen Erziehung (Educación Nueva) hat eine katholische Färbung, die versucht [. . . ], die neuen pädagogischen Studien zu prüfen und zu würdigen, [aber, T.K.] ohne Verachtung der Tradition, sondern im Gegenteil diese erneuernd und komplettierend.“9 Innerhalb dieses ideellen Gerüstes gab es unterschiedliche Schwerpunktsetzungen, von eher zögerlichen Rezeptionsversuchen neuer Pädagogik bis hin zu einer enthusiastischen Aneignung, wie sie etwa die Paquita Montilla als Repräsentantin einer Gruppe entschlossener Reformer auszeichnete, die fragte: „Wie können wir auf die Höhe der internationalen pädagogischen Bewegung gelangen?“10 Auch die scharfe Traditionskritik des Pädagogen Manuel Ángel de Javier verdeutlicht, wie weitgehend die Bereitschaft zur Übernahme neuer Ansätze war. Gegenüber einer Position, die sich auf „die großen Figuren 7 8
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Nuestro Intento, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1934/35, Madrid 1934, S. 7–19, hier S. 12. Siehe als frühe programmatische Formulierung einer solchen modernen katholischen Pädagogik: Nicolás Yábar, Ayer y Hoy o „Nuestra Pedagogía“, in: RC 5 (Sondernummer 1917), S. 129–163. Lo nuevo y lo viejo en pedagogía, in: Atenas 46, Dez. 1934; Movimiento Educativo: Alianza Universal de Profesores Católicos, Atenas 24, 15.11.1932. Vgl. als weitere zugespitzte Stellungnahmen: Enrique Herrera: La Escuela nueva en la Segunda Enseñanza, zit. nach: Josefina Álvarez, Cuarta Semana de Estudios Pedagógicos, Atenas 47, Jan. 1935; María de los Dolores de Naverán, Posibilidad de adaptar a las bases insustituíbles de la „esucela tradicional“ algunas de las innovaciones didácticas de la llamada „educación nueva“, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1935/36, Madrid 1935, S. 103–06. Paquita Montilla, De nuestros días ¡Renovarse! Atenas 23, 15.10.1932.
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von Einst, eine Erziehung durch Schweiß und Tränen und weitere überholte Ansichten“ berief, vertrat de Javier eine emphatische Verteidigung der „modernen Strömungen der europäischen Schule“.11 Die Herausgeber von Atenas hielten seine Ausführungen für so wichtig, dass sie ihnen einen eigenen Nachtrag zur Seite stellten, der ebenfalls einen Import des „Enthusiasmus für die Schule, den man in den pädagogischen Zeitschriften des Auslandes spürt“ nach Spanien forderte.12 Tatsächlich beließen es die Reformkreise nicht bei bloßen Forderungen, sondern bemühten sich um einen Wissenstransfer nach Spanien. Die rhetorische Xenophobie von großen Teilen der politischen Rechten fand keine Widerspiegelung in den Bildungsdebatten. Im Zeitverlauf bis zum Bürgerkrieg ist im Gegenteil eine immer weitere Öffnung gegenüber internationalen Tendenzen festzustellen, in der sich zwei Phasen unterscheiden lassen. In der Formationszeit des katholischen Erziehungsmilieus bis in die 1920er Jahre hinein erörterten die verschiedenen Publikationen zunächst die pädagogischen Schriften katholischer Ordensgründer und Geistlicher zusammen mit denjenigen klassischer Pädagogen des 19. Jahrhunderts wie Pestalozzi, Herbart, Fröbel und Herbert Spencer.13 Zeitgenössische Ansätze der internationalen Pädagogik wurden demgegenüber erst in Ansätzen rezipiert, wobei eine sehr frühe Beachtung der Pädagogik Maria Montessoris heraussticht.14 Seit Ende der 1920er Jahre trat dann die Beschäftigung mit den Gründungsvätern katholischer Bildung deutlich zugunsten der Diskussion aktueller pädagogischer Literatur in den Hintergrund. Atenas beobachtete seit ihrer 11 12
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Manuel Ángel de Javier, Alrededor de la Escuela. „Cavernacolismo“ pedagógico, Atenas 35, Dez. 1933. Renovación necesaria, Atenas 35, Dez. 1933. Einen Monat vorher hatte die Redaktion in einer Werbeanzeige gefordert: „Jeder katholische Lehrer muss auf der Höhe der internationalen pädagogischen Diskussionen sein.“ Anzeige: Atenas, Enseñanza Católica 460, Nov. 1933. Siehe etwa: L. Menasalvas, La Pedagogía de San José de Calasanz, in: RC 1 (1913), S. 677ff.; Nicolás Yábar, Ayer y Hoy o „Nuestra Pedagogía“, RC 5 (1917), S. 129–163; E. Bartolomé y Mingo, La Escuela Froebel de Madrid, RdEF 7, Juli–Aug. 1916; Juana de Rabaudy, El método froebeliano es el método ideal para la educación familiar de los niños de tres a seis años, RdEF 21, Nov. 1917. Revistas de Inglaterra, in: RC 1 (1913), S. 122; I. Torrijos, El sistema de enseñanza Montessori, in: RC 2 (1914), S. 118–125; Noticias pedagógicas, RdEF 2, Feb. 1916 (zu Montessori). Einige Jahre später veröffentlichte die Revista Calasancia sogar einen Aufsatz von Montessori selbst: María Montessori, Fundamentos psicológico y pedagógico del método Montessori, in: RC 15 (1928). Zur frühen Montessori-Rezeption in Spanien vgl. Ezequiel Solana, María Montessori. Exposición y crítica de sus métodos de educación y enseñanza, Madrid 1915. Zur vielfältigen politischen Anschlussfähigkeit der Ansätze von Montessori siehe jetzt: Hélène Leenders, Der Fall Montessori. Die Geschichte einer reformpädagogischen Erziehungskonzeption im italienischen Faschismus, Bad Heilbrunn 2001; Dies., Reformpädagogik im Faschismus: Peter Petersen – Maria Montessori, in: Hein Retter (Hrsg.), Reformpädagogik. Neue Zugänge, Befunde, Kontroversen, Bad Heilbrunn/Obb. 2004, S. 154–67.
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Entstehung in einer Rubrik die Debatten in internationalen Zeitschriften und besprach regelmäßig Neuerscheinungen maßgeblicher zeitgenössischer Pädagogen. Vor allem aber publizierte sie regelmäßig Aufsätze zu namhaften Reformpädagogen wie Kerschensteiner, Decroly, Claparède, Freinet und Piaget, und sie tat dies weitgehend unabhängig von deren gesellschaftspolitischen Positionen, die sich oft deutlich von den katholischen unterschieden.15 So rezipierten die katholischen Reformer intensiv die Methoden Ovide Decrolys und brachten dem Pädagogen nach dessen Tod ihre „ehrliche Bewunderung“ zum Ausdruck, obwohl Decroly bekennender Freimaurer war, deren Einfluss auf das Bildungswesen die Kirche auf das Schärfste bekämpfte.16 Der Kontakt mit der internationalen Pädagogik wurde seit den 1920er Jahren durch Bildungsreisen ins europäische Ausland intensiviert, die für eine nachwachsende Generation katholischer Pädagogen fast selbstverständlich zu ihrer Ausbildung gehörten. Fast alle Wortführer katholischer Bildung unternahmen Studienreisen nach Deutschland, Belgien, England, Italien, weniger nach Frankreich und in die USA. Die in den katholischen höheren Bildungszentren tätigen Pädagogen hielten sich vielfach sogar mehrere Monate im Ausland auf, um bestimmte Schulen oder Bildungseinrichtungen kennen zu lernen. Im Frühjahr 1935 beschloss die katholische Elternvereinigung sogar Lehrern Reisen ins Ausland zu ermöglichen, damit diese „die neuen Methoden studieren und sie mit ihrer katholischen Auffassung verbinden“, und auch die katholische Lehrervereinigung organisierte Bildungsreisen ins Ausland.17 15
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Vgl. nur als Auswahl aus den Jahren 1933 und 1934: Rufino Blanco, Temas Pedagógicas: Jorge Kerschensteiner, Atenas 27, 15.2.1933; A. Rodriguez, El Método „Decroly“ según Mlle. Degand (I.), Atenas 28, 15.3.1933; A. Rodriguez, El Método „Decroly“ según Mlle. Degand (II.), Atenas 33, Okt. 1933; Tusquets, Educación nueva [zur funktionalen Psychologie Claparèdes], Atenas 33, Okt. 1933; Teodoro Romanillos, El método de Decroly [Wiedergabe eines Vortrags auf der 3. pädagogischen Woche der FAE im Jan. 1934], Atenas 36, Jan. 1934; Paquita Montilla, Filiación ideológica de Kerschensteiner, Atenas 36, Jan. 1934; A. Rodríguez, Cuestiones prácticas „decrolyanas“, Atenas 36, Jan. 1934; Miguel Deyá Palerm, La técnica Freinet en mi escuela, Atenas 42, Juli 1934; Margarita Daisy Bareño, El método Decroly, Atenas 45, November 1934; Rez. von: Juan Piaget, La representación del mundo en el niño, Madrid: Espasa Calpe 1934, in: Atenas 46, Dez. 1934. Rez. O. Decroly, Psicología aplicada a la Educación, Madrid: Fr. Beltrán 1934, Atenas 46, Dez. 1934. Zum Tode von Decroly: Movimientos escolares, Atenas 25, 15.12.1932. Die Rezeption Célestin Freinets ist ein weiteres Beispiel intensiver Rezeption trotz weltanschaulicher Gegensätze. La Asamblea de Pamplona, Atenas 49, März 1935; Asamblea de la Federación Católica de Maestros Españoles, Atenas 57, Jan. 1936. Die katholischen Fachzeitschriften der 1930er Jahre enthalten regelmäßig Reiseberichte. Vgl. als frühes Beispiel hier nur den Bericht Herrera Orias vor katholischen Lehrern in Madrid über eine Studienreise an die Technische Universität München und ans Deutsche Museum: En la Institución del Divino Maestro, ABC, 9.4.1929. Weiterhin: M. Aguirre Elorriaga, La Escuela Superior Católica de Budapest, RyF 104 (1934), S. 107f.; Enrique Herrera Oria, Una visita a la más célebre „escuela nueva“ de Francia, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España
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Die Rezeption internationaler Strömungen wies jedoch auch deutliche Unterschiede zu derjenigen progressiver Pädagogen auf. Sie erfolgte durch eine katholische „Brille“ und war eingebettet in umfassendere Debatten eines internationalen katholischen Expertenmilieus. Das internationale Bildungsfeld war nicht einheitlich, sondern in Strömungen und weltanschauliche Lager geteilt, die sich vielfach überlappten, aber doch auch Eigentümlichkeiten besaßen. Am Ende der 1920er Jahre fanden die spanischen Pädagogen auf breiter Front Anschluss an internationale katholische Expertennetzwerke. Die FAE beteiligte sich an zwei internationalen katholischen Kongressen zur Sekundarschulbildung, die im August 1930 in Brüssel und im August 1933 in Den Haag stattfanden. Seit der ersten Konferenz unterhielt die FAE eine rege Korrespondenz mit Schwesterorganisationen in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Italien, Irland und der Katholische Schulorganisation Deutschlands.18 Neben diesen Hauptkongressen partizipierten die spanischen Reformer an weiteren katholischen Zusammenkünften wie dem Ersten Internationalen Kongress der Religionspsychologie in Wien und verschiedenen internationalen Kongressen zur Familienerziehung.19 Darüber hinaus schrieben katholische Pädagogen aus Frankreich, Deutschland und Belgien regelmäßig in Atenas, und die Bücher katholischer Pädagogen wurden in den Rezensionsteilen der spanischen Zeitschriften besonders intensiv rezipiert. Es waren oftmals auch katholische Gelehrte aus anderen Ländern wie der französische Jesuit François Charmot (1881–1965), der in den 1930er Jahren intensiv an einem Wörterbuch der katholischen Pädagogik arbeitete, und der Schweizer Pädagogikprofessor Eugène Dévaud (1876–1942), die in Atenas Aspekte der neuen Pädagogik diskutierten und um die Entwicklung einer dezidiert christlichen Reformpädagogik rangen.20 Die Aneignung neuen pädagogischen Wissens ging schließlich einher mit
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1935/36, Madrid 1935, S. 90–102; Manuel Rodríguez, Como educa Italia, Atenas 58, Feb. 1936; Método en el Colegio de Stonyhurst (Inglaterra), Atenas 78, Feb. 1938. Enrique Herrera Oria, El primer Congreso Internacional de Enseñanza Libre, in: RyF 93 (1930), S. 70–86; Ders., II. Congreso Internacional de Enseñanza secundaria católica (La Haya 31.7–5.8.1933), Atenas 35, Dez. 1933. Zum Austausch: G.A., Tercera Semana de Estudios Pedagógicos en Madrid (29.12.1933–6.1.1934), RyF 104 (1934), S. 392–395, hier S. 394. Ein dritter Kongress wurde 1936 in Luxemburg geplant. Aufgrund des Beginns des Bürgerkrieges nahm die FAE an ihm aber nicht als Organisation teil: Actualidad Pedagógica: Luxemburgo: III. Congreso Internacional de Enseñanza secundaria católica, Atenas 59, März 1936. Primer Congreso Internacional de Psicología de la Religión, en Viena, RyF 96 (1931), S. 360ff.; V. Congreso Internacional de Educación Familiar, Atenas 47, Jan. 1935. Siehe etwa: François Charmot, Editorial: La Personalidad en la educación del niño, Atenas 23, 15.10.1932; Eugène Dévaud, La Escuela de la Comunidad, Atenas 33, Okt. 1933. Im Frühjahr 1936 publizierte Atenas zudem einen mehrteiligen Aufsatz von Dévaud zu Grundlagen der Charaktererziehung. Zu Charmot vgl. Philippe Rocher, Un Dictionnaire de Pédagogie Catholique pour le 20e siècle? Histoire d’un Projet Franco-Belge, in : Revue d’histoire ecclésiastique 96 (2001), S. 391–426.
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einer Wiederentdeckung der katholischen Bildungstraditionen der Frühen Neuzeit, denen sich etwa die Fünfte Pädagogische Woche der FAE im Winter 1935/36 ausführlich widmete. Besonders die enge Verbindung von Lernen und Leben in den jesuitischen Colegios Mayores erschien den katholischen Reformern als lange Zeit vergessenes Vorbild für eine zeitgemäße katholische Sozialisation, wobei in der spanischen Interpretation das College-System von Oxford und Cambridge eine zeitgenössische Manifestation dieser Tradition bildete.21 Die Wiederentdeckung verschütteter Traditionen sollte ein Gegengewicht zur neuen Pädagogik liefern und es den kirchennahen Erziehern ermöglichen, eine eigenständige Position in der Erziehungsmoderne der Zwischenkriegszeit zu finden und zu behaupten. In diesen Zusammenhang gehören auch die bis weit in die Franco-Zeit unternommenen intensiven Versuche, mit Andres Manjón einen eigenen Pionier der internationalen Reformpädagogik zu etablieren. Manjón habe, so ein häufiges Argument, eher als Maria Montessori Strafen als Erziehungsmittel abgelehnt und aktive Lernformen eingeführt.22 Das Bemühen, eine eigenständige Erziehungswissenschaft zu begründen, bildete schließlich auch den Hintergrund, in Nachahmung der weltweit führenden pädagogischen Zentren ein katholisches Instituto Superior de Pedagogía in Spanien einzurichten.23 Die spanischen Reformbemühungen müssen zusammenfassend als ein integraler Teil des internationalen pädagogischen Aufbruchs nach 1900 verstanden werden, der sehr viel vielfältiger und politisch uneindeutiger war, als oftmals angenommen wird. Eine neue katholische Pädagogik, wie sie die Reformer der FAE im Einklang mit katholischen Pädagogen in anderen Ländern anstrebten, sollte nicht in Abwehr der neuen reformpädagogischen Ansätze, sondern durch ihre christliche Einfärbung erreicht werden. Es ging den Erziehern um eine christlich eingehegte Erziehungsmoderne, in der die notwendigen Erneuerungen der Erziehungspraktiken durch die Anbindung an die Glaubenstraditionen geerdet werden sollten. Es wird nun zu diskutieren sein, wie dieses allgemeine Programm in den Bildungs- und Erziehungsdebatten mit Leben gefüllt wurde. 21
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A. Pérez Goyena, Los antiguos Colegios Mayores, in: RyF 82 (1928), S. 481–492; Enrique Herrera Oria, Los primitivos Colegios universitarios de Oxford, in: RyF 90 (1930), S. 136ff.; Actividades de la FAE: V. Semana de Estudios Pedagógicos, Atenas 57, Jan. 1936; Enrique Herrera Oria, Los Colegios Mayores españoles, Atenas 59, März 1936. Manjón sei deshalb der eigentliche Begründer moderner Pädagogik. Isidro Almazán: Don Andrés, zit. nach Josefina Álvarez, Cuarta Semana de Estudios Pedagógicos: Pinceladas, Atenas 47, Jan. 1935. Siehe auch: Isidro Almazán, Don Andrés Manjón y la pedagogía moderna, zit. nach Actividades de la FAE: V. Semana de Estudios Pedagógicos, Atenas 57, Jan. 1936; Isidro Vinchés y Rafael Gil y Serrano, Impresiones de los cursos de Santander. Los estudios pedagógicos en la incipiente Universidad Católica, Atenas 41, Okt. 1934. Zu Gründung und Arbeit des pädagogischen Instituts: Instituto Pedagógico, Atenas 34, Nov. 1933; Renovación necesaria, Atenas 35, Dez. 1933; Instituto pedagógico de la FAE, Atenas 58, Feb. 1936.
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4.2 Disziplinierte Freiheit. Der Wandel katholischer Erziehungskonzeptionen im Spannungsfeld von Kinderorientierung und Persönlichkeitsreform Vor allem in dreierlei Hinsicht sollte sich der neue Christ der frühen 1930er Jahre auszeichnen. Er sollte, erstens, aktiv an der christlichen Rückeroberung des öffentlichen Raums teilnehmen. Es gelte in den Heranwachsenden „religiösen Mut“ zu wecken, der sich nicht zuletzt an der Teilnahme an Prozessionen durch die großen Städte, dem Schutz von Geistlichen auf der Straße und dem öffentlichen Bekenntnis zum Christentum manifestieren solle. Zweitens sollte der vorbildliche Christ als katholischer Agitator missionarisch sowohl in seinem persönlichen Umfeld als auch durch die verschiedenen Organisationen der Katholischen Aktion wirken und in den katholischen Verbänden, wenn möglich, Führungsaufgaben übernehmen. Drittens hatte der apostolische Christ nicht nur die kirchlichen Rituale zu beherrschen, sondern die Kirche auch argumentativ in Streitgesprächen mit Ungläubigen zu verteidigen. Diese drei Anforderungen, das war den katholischen Intellektuellen sehr bewusst, setzten Eigenschaften und eine Persönlichkeitsstruktur voraus, welche die herkömmliche katholische Erziehung in ihren Augen kaum förderte, sondern eher unterdrückte. Dazu zählte insbesondere der Eigenantrieb, sich freiwillig, aus eigener Überzeugung für die katholischen Sache einzusetzen und diese mit Enthusiasmus voranzutreiben. Auch die Ausbildung eines „eisernen Willens“, die eigene Überzeugung selbst gegen massiven äußeren Druck aufrecht zu erhalten, zählte zu den wichtigen neuen Eigenschaften. Die neue religiöse Unterweisung sollte auf ein aktives, apostolisch-missionarisches Handeln jenseits der Schulmauern ausrichten und starke Persönlichkeiten hervorbringen, die fähig waren, in einer Zeit tiefgreifender politischer und moralischer Krisen zu bestehen. In ihrer Suche nach neuen Erziehungsformen, welche eine auf diesen Eigenschaften beruhende Persönlichkeitsbildung bewerkstelligen könnte, wandten sich die Experten nun gerade den kindzentrierten Ansätzen der Reformpädagogik zu, von denen sie sich eine Intensivierung katholischer Persönlichkeitsbildung erhofften. Spätestens Anfang der 1930er Jahre sah die Mehrzahl der katholischen Pädagogen eine umfassende christliche Formung und eine kinderorientierte Erziehung, die auch kindliche Wahl- und Freiheitsräume akzeptierte, als zwei Seiten derselben Medaille an.24 Diese Entwicklungen dürfen nicht als simpler Übergang von einem System zum anderen verstanden werden. Katholische Bildung blieb vielmehr plural. 24
Eine längere Ausführung dieser Sichtweise findet sich in: X., El Arte de Educar: El Esfuerzo, Verdadera Palanca de Educación, in: El Pilar. Revista colegial 59, Juni 1935, S. 9f.
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Die Veränderungen lassen sich am besten als Herausbildung eines neuen Leitrahmens verstehen, in dem sich die konkreten Erziehungspraktiken verorteten. Das neue Ideal christlicher Persönlichkeiten und die neue psychologische Sicht auf das Kind waren eng miteinander verzahnt. Sowohl die Rechristianisierungspolitik als auch die neue Kinderpsychologie legten eine intensive Beschäftigung mit der Kinderpersönlichkeit und eine neuartige Kontrolle ihres Aufwachsens nahe. Zusammen bewirkten sie eine umfassende konzeptionelle Veränderung katholischer Bildung und Erziehung. Die im Folgenden näher zu bestimmende Verschränkung von Aktivierung und Kontrolle, Gewährung von Freiräumen persönlicher Entfaltung und intensivierter Persönlichkeitsbildung stellte die Pädagogen jedoch auch vor eine Reihe schwer lösbarer Probleme. Wie viel Autonomie musste und konnte den Kindern zugestanden werden? Wie war die erwünschte christliche Aktivierung der Kinder zu bewerkstelligen, ohne die Kontrolle über Inhalte und Ziel des Erziehungsprozesses aufzugeben? Die Art des Zugriffs auf die Kindespersönlichkeit wurde in den katholischen Reformdebatten nach 1900 auf fundamentale Weise neu konzeptionalisiert. Die Förderung und Kanalisierung kindlicher Energien durch die Gewährung eines beschränkten Maßes an kindlicher Eigenständigkeit bildete den Fluchtpunkt der neuen Erziehungspolitik. Ein Aufsatz des Schulleiters Mario Franco mit dem programmatischen Titel „Verstehen wir eigentlich unsere Kinder?“, der als erste inhaltliche Abhandlung des ersten Hefts von Atenas an prominenter Stelle unmittelbar nach dem Vorwort erschien, markiert auf programmatische Weise die Neuorientierung. Franco nahm Kinder als religiös Handelnde im Rahmen der christlichen Gesellschaftsmission ernst, die durch das Zusammenwirken von Erwachsenen und Kindern neue Kraft entwickeln sollte: „Vater und Sohn, mitgerissen durch eine gemeinsame Begeisterung und entflammt von einem gleichen Ideal“.25 Im Unterschied zu früheren Ansätzen sprach Franco Kindern dabei Attribute zu, die sie Erwachsenen in einigen Hinsichten überlegen machten. Er sah insbesondere im unverformten kindlichen Enthusiasmus eine entscheidende gesellschaftsreformerische Kraft, welche die zögerlichen Älteren mitreißen würde. Religiöse Sozialisation konnte nicht mehr einseitig in der möglichst schnellen Übernahme der Werte und Normen der Erwachsenenwelt bestehen, sondern musste auch die intrinsischen positiven religiösen Eigenschaften des Kindes fördern und schützen: „Ein Kind zu verstehen heißt in erster Linie anzuerkennen, dass es Kind ist [. . . ], dass es sich in einem dynamischen Entwicklungsstadium befindet.“26 Diese Erkenntnis müsse nun den Erzieher dazu führen, dass Kind nicht vorschnell zu einem Erwachsenen machen zu wollen. Es sei 25 26
Hierzu und zum Folgenden: Mario Franco,¿Comprendemos a nuestros niños? Atenas 1, 15.4.1930. Ebd. Hervorhebung im Original.
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beispielsweise ein Fehler, Kinder, wie in bestimmten Internaten üblich mit zehn Jahren in einen Galaanzug zu stecken. Vielmehr müsse der Erzieher anerkennen, dass die kindliche Natur anti-konventionell ausgerichtet sei, nach schnellen Wechseln, abrupten Brüchen und ständiger Erneuerung verlange. Um dieser bisher missverstandenen Natur des Kindes gerecht zu werden, war nach Franco eine bessere, wissenschaftlich fundierte Kenntnis des Kindes und seiner „besonderen Psychologie“ notwendig. Diese neue Beachtung der Kinderpsyche war nun in Francos Argumentation mit einer erzieherischen Revolution verbunden. Erziehung müsse den kindlichen Impulsen flexibel und anpassungsbereit begegnen und dürfe die Entfaltung kindlicher Energien nicht mit rigider Strenge und Kälte abtöten. Er argumentierte, dass das Kind „die Notwendigkeit einer wilden Verausgabung fühlt und alle Formen gewaltsamer Bewegung bewundert; dass es gefährlich wäre, mit Rigidität seinen unwiderstehlichen Überfluss zu unterdrücken und dass wir durch die gewaltsame Unterdrückung der zur Verfügung stehenden nervlichen Energie (energía nerviosa) [. . . ] gefährdet sind, Störungen hervorzurufen, die sich auf das moralische Leben des Kindes niederschlagen können.“27
Was Franco hier etwas umständlich erläutert, ist ein einfacher Gedanke, der oben in der Beschreibung der neuen Kinderpsychologie bereits angesprochen worden ist: Da kindliche Energien als solche positiv sind, muss ihnen in der Erziehung Raum gewährt werden. Gerade der schwärmerischen, traditionsfeindlichen Seite von Kindheit, die Franco zu entdecken meint, gilt seine Sympathie, da er in ihr die notwendige Bedingung der Möglichkeit von Begeisterungsfähigkeit und christlichem Reformeifer im Erwachsenenalter sieht. Francos Artikel drückt auf für die katholische Erziehungsreform um 1930 symptomatische Weise die neue Wertschätzung von Kindheit als Lebensphase und der kindlichen Energien aus. Seit den 1910er Jahren mündete die Kritik an einer Unterdrückung des Kinderwillens in der überkommenen Erziehung in Forderungen nach einer kindzentrierten Neuausrichtung katholischer Erziehung. An die Stelle äußerer Disziplinierung, so die Kernforderung, müsse eine Anleitung zur Selbstdisziplinierung und Selbstformung der Kinder treten. Denn nur autonome Persönlichkeiten könnten im Erwachsenenleben bestehen, während von Erziehern und Eltern geformte Charaktere schnell scheiterten. Die Revista Calasancia warnte 1913 in diesem Sinne vor einer Erziehung, welche den kindlichen Willen ersticke und dadurch menschliche „Automaten schaffe“, statt den eigenen Willen des Kindes leitend zu fördern. „Anstatt alles nur von Strafen zu erwarten“ müsse der Schüler dazu angeleitet werden, „sich selbst zu erobern.“28 War der Ruf nach einer deutlicheren Berücksichtigung kindlicher Freiheit 27 28
Ebd. B. Rigola, La cultura moral y la educación de la voluntad, in: RC 1 (1913), S. 1068–1076. Ähnlich: M. Asunción M. y O. de Urbina, Reflexiones sobre dirección y educacción del niño desde su más corta edad, RdEF 2, Feb. 1916.
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in der Erziehung zunächst nur eine Stimme unter mehreren, eroberten er sich bis zum Beginn der 1930er Jahren in den katholischen Bildungsdiskussionen eine Hegemonie. Zu den Forderungen nach der Anerkennung des kindlichen Eigenwillens trat nach 1930 ein Vokabular der Freiheit hinzu. Erzieher forderten nun vehement eine neues Klima der „Freiheit und Spontaneität“ in der Erziehung und die Erneuerung der katholischen Schule als „Schule der Freiheit“.29 Erziehung dürfe kein „Krieg gegen den Willen des Kindes sein“, sondern habe auf der Basis des Zusammenspiels des Lehrers mit der „Freiheit des Kindes“ zu erfolgen.30 Es war besonders die nachwachsende Generation katholischer Experten, die vehement Freiheiten für Schüler einklagte. Der junge Pädagoge Antonio González Quevedo zeichnete sogar das Bild einer idealen Schule ohne Strafen, mit einem „Regime der Freiheit“, in der sich die Lehrer nicht fürchten, „wenn die Kinder das tun, was sie wollen“.31 Es war aber nicht nur eine Avantgardegruppe von Katholiken, die diese Forderungen erhob. Vielleicht am systematischsten kritisierte der einflussreiche Reformer Enrique Herrera in einem maßgeblichen Aufsatz von 1932 die „Militärdisziplin“ überkommener katholischer Erziehung und forderte dagegen eine „Disziplin der Freiheit“, welche den Willen der Schüler respektiere und „freie Persönlichkeiten“ schaffe. Herrera Oria lehnte äußeren Zwang als Erziehungsmittel strikt ab, da er eine innere Persönlichkeitsreform im Kind verhindere und eine rein äußerliche Angepasstheit hervorbringe, die sich bei Wegfall des Zwanges unwillkürlich auflöse. Durch eine strenge Maßregelung der Kinder ließe sich vielleicht eine „schöne Fassade“ guten Benehmens in den Schulen errichten, die bei pädagogisch weniger kundigen Besuchern Bewunderung hervorrufe, doch auf längere Sicht erweise sich diese Fassade als fatal, da hinter ihr unweigerlich Widerspruch und Abneigung gegen die katholische Erziehung wachse.32 Nur eine Erziehung, welche auf die freiwillige Mitwirkung der Schüler zählte und ihre Freiheit respektierte, darin waren sich die führenden katholischen Pädagogen einig, könne diejenigen autonomen und starken Persönlichkeiten hervorbringen, wie sie die Kirche in den politischen Kämpfen der Zeit dringend benötigte. Die Forderungen nach einem Wandel des Disziplinarregimes waren eng verknüpft mit einer Befürwortung aktiver Erziehungsmethoden. Während Erziehung in früherer Zeit weitgehend „prophylaktisch“ gewesen sei, müsse die neue Pädagogik grundsätzlich „stimulierend“ ausgerichtet werden.33 Der Pädagoge Manuel Angel de Javier setzte sich beispielsweise vehement für eine 29 30 31 32 33
A. Martínez de la Nava, Las excusiones escolares, Atenas 29, 15.4.1933; Félix Fernández Sáinz, La inmanencia vital y la educacción, Atenas 41, Okt. 1934. Francisco Armentia-Mitarte, La autoformación del niño y la autoridad del maestro (II.), Atenas 47, Jan 1935. Antonio González Quevedo, La educación motival de la voluntad (II.), Atenas 58, Feb. 1936. Ähnlich: Paquita Montilla ¿Instrucción? Atenas 49, März 1935. Enrique Herrera Oria, La crisis de hombres en España, Atenas 22, 15.7.1932. Educación y carácter. Inclinaciones básicas del niño, ebd.
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Neuausrichtung der katholischen Schule an den kindlichen Bedürfnissen nach Aktivität und Bewegung ein: „Das Kind handelt, wird initiativ, hat ununterdrückbare Impulse von höchstem Wert“. Deshalb müsse gegen den Widerstand traditionalistischer Kreise, welche „die Schule in eine Diktatur ihrer Verdrossenheit verwandeln“ wollten, „das Recht des Kindes auf Freude, welche die eigenständige Tätigkeit hervorbringt“, den Mittelpunkt der erzieherischen Anstrengungen bilden.34 Angesichts der harten bildungspolitischen Kämpfe erstaunen die Ähnlichkeiten in der Problemkonzeption von Erziehung zwischen den katholischen und progressiven Pädagogen. Diese suchten in den 1920er und 1930er Jahren ganz ähnlich wie die katholischen Reformer nach einem neuen Gleichgewicht zwischen Freiheit und Disziplin auf der Grundlage eines psychobiologischen Verständnisses von Kindheit. Wie ihre katholischen Konkurrenten fahndeten sie nach Möglichkeiten, Kinder zu einer freiwilligen Mitwirkung am Erziehungsprozess zu bewegen, ohne Erziehung als solche zu verabschieden.35 Felipe Carnicer argumentierte beispielsweise in der Revista de Pedagogía, dem Vorbild und Konkurrenzblatt von Atenas, 1929 in fast identischer Wortwahl wie die katholischen Reformer für die Ersetzung einer äußeren mechanischen durch eine verinnerlichte organische Disziplin. Ein Jahr später diskutierte der prominente französische Pädagoge Auguste Ferrière in ähnlichen Begriffen wie Herrera Oria in seinen Überlegungen von 1932 den Zusammenhang von Freiheit und Disziplin und forderte eine „progressive Entwicklung in Richtung einer disziplinierten Freiheit (libertad disciplinada)“.36 Die Erzieher aller großen Erziehungsmilieus setzten sich mit dem Problem auseinander, wie die von Kinderpsychologie und Regenerationismus gleichermaßen neu entdeckte und geforderte kindliche Aktivität und Eigenständigkeit mit der Vermittlung von allgemeinen Normen und Werten in Harmonie gebracht werden könne. Allerdings waren die Forderungen nach mehr Freiräumen für Kinder in den katholischen Reformkreisen untrennbar mit dem religiösen Reformprogramm verbunden. Der Freiheitsbegriff war eng in ein religiöses Verweissystem eingebunden. Doch die Befürwortung einer kindorientierten Pädagogik warf für die Katholiken ähnliche Probleme auf wie für ihre progressiven Konkurrenten. Wie weit sollte Erziehung den Interessen des Kindes folgen und inwieweit waren Vorgaben des Lehrers gerechtfertigt? „Wie lässt sich das notwendige Wissen 34 35
36
Manuel Ángel de Javier, Alrededor de la Escuela. „Cavernacolismo“ pedagógico, Atenas 35, Dez. 1933. Siehe als frühes Beispiel: Algunas palabras acerca de la Disciplina en la escuela, EM 13, Apr. 1892. Vgl. weiterhin: E. Bartolomé y Mingo, Contra una nota, EM 116, Nov. 1900. Für die 1920er Jahre: Félix Martí Alpera, La Disciplina Escolar, in: La Vida en La Escuela (Beilage der Revista de Pedagogía) 1, Jan. 1924, S. 1–2. Felipe Carnicer, Disciplina escolar, RdP 8 (1929), S. 489–494; A. Ferrière, Participación que deben tomar la disciplina y la autonomía en la educación moral, in: RdP 9 (1930), S. 508–510.
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mit der Freiheit des Kindes in Einklang bringen, das auszuwählen, was es freiwillig lernen will?“37 Diese Fragen standen im Mittelpunkt einer Debatte über das angemessene Verhältnis von Autorität und Freiheit. Das große Interesse der katholischen Erzieher der 1930er Jahre an reformpädagogischen Schulexperimenten wie etwa der 1899 gegründeten französischen École des Roches oder der 1906 eingeweihten Freien Schulgemeinde Wickersdorf in Thüringer Wald, die auf der pädagogischen Jahrestagung der FAE Anfang Januar 1936 vorgestellt und diskutiert wurden, vermitteln einen Eindruck von der Suche nach einer neuen Balance von Selbstbestimmung und Disziplin, Einzelnem und Gruppe.38 Insbesondere zwei Vermittlungsversuche zwischen der Freiheit des Kindes und der Autorität des Erziehers fanden größeren Anklang im katholischen Erziehungsmilieu. Einmal sollten äußere Disziplin und Disziplinierungsinstrumente durch die Förderung einer inneren Selbstdisziplinierung und Selbsterziehung (autoformación) des Kindes ersetzt und überflüssig gemacht werden. In einem Essay, der insofern eine Mehrheitsmeinung der katholischen Erzieher repräsentiert, als er von den Herausgebern von Atenas in einem Wettbewerb prämiert wurde. plädierte der Lehrer Francisco ArmentiaMitarte für eine wechselseitige Begrenzung von erzieherischer Autorität und persönlicher Freiheit des Kindes. Die Unterstützung der Selbstbildung des Kindes sei der goldene Weg christlicher Erziehung. Es gehe um die Entwicklung innerer Dispositionen, nicht die Aufdrückung äußerer Formen. Nur durch die Respektierung der kindlichen Freiheit sei eine dauerhafte Beeinflussung des Kindes möglich. Ziel müsse ein „freiwilliger Gehorsam“ sein, indem das Kind die Vorgaben des Lehrers als notwendig anerkennt. Um diese Einsicht zu erreichen, schlägt Armentia-Mitarte vor allem eine positive Verstärkung vor, durch die der innere Impuls des Kindes, zum Guten zu streben, gefördert würde, ferner die Vermeidung harter Strafen und mechanischer Anweisungen undschließlich die Erläuterung der Gründe des eigenen Handelns.39 Zweitens sollte eine Verbindung von Autorität und Freiheit durch die Selbsterziehung der Kinder in Kindergruppen erreicht werden. Der Pädagoge Juan Jaouen entwarf in diesem Sinne die Skizze einer neuen „sozialen Didaktik“, in deren Mittelpunkt Gemeinschaftsspiele, Projektarbeit, vor allem 37 38
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A.R. de A., Sugestiones para la organización de una escuela unitaria. El programa escolar, Atenas 60, April 1936. Enrique Herrera Oria, Una visita a la más célebre „escuela nueva“ de Francia, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España, 1935/36, Madrid 1935, S. 90–102; La V Semana de Estudios Pedagógicos de la FAE, BIT 250, Jan. 1936. Zur École des Roches siehe nun: Nathalie Duval: L’Ecole des Roches, Phare Français au sein de la Nébuleuse de l’Education Nouvelle (1899–1944), in: Paedagogica historica 42 (2006), S. 63–75. Francisco Armentia-Mitarte, La autoformación del niño y la autoridad del maestro, in: Atenas 46, Dez. 1934. Ähnlich: Fr. Charmot, Editoriales: La Personalidad en la educación del niño (II.), Atenas 24, 15.11.1932.
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aber die auch in linksliberalen Zirkeln intensiv diskutierte angelsächsische Methode des „self-government“ standen. Die Schülergemeinschaft sollte selbst undisziplinierte Schüler zur Vernunft bringen, indem ihnen die gemeinschaftsschädigenden Konsequenzen ihres Verhaltens deutlich gemacht würden.40 Historisches Vorbild dieser Überlegungen waren die britischen Internate, die ungeachtet der in Großbritannien existierenden Internatskritik als Musterbeispiele moderner Persönlichkeitsbildung durch Selbstführung der Kinder erschienen. In diesem Kontext entfaltete in den 1930er Jahren auch die Pfadfinder-Bewegung in der Tradition Baden Powells trotz ihrer ursprünglich protestantischen Prägung unter katholischen Erziehern eine hohe Attraktivität, schien sie doch ein geeignetes Mittel der Selbsterziehung von Heranwachsenden bereitzustellen. Atenas druckte mit Verweis auf die „großartigen Möglichkeiten“ dieser Institution in der Gegenwart zwei Aufsätze Powells ab, in denen dieser seine Konzepte einer „freiwilligen Selbstbildung“ erläuterte und spanische Pädagogen berichteten von den praktischen Erfahrungen und Erfolgen der katholischen Pfadfinderbewegung. Die Pfadfinder verkörpern in diesen Texten das neue Idealbild kollektiv errungener disziplinierter Freiheit.41 Trotz der intensiven Bemühungen, Autorität und Freiheit in der Erziehung auf neuer Basis zu vereinen, sind die inhärenten Spannungen im Begriff der disziplinierten Freiheit nicht zu übersehen. Dem katholischen Freiheitsverständnis in der Erziehung wohnte ein utopisches Element inne. Es nahm eine fundamentale Harmonie zwischen dem Willen des Kindes und den katholischen Erziehungszielen an. Es setzte voraus, dass der Kinderwille im Falle seiner freien, ungehinderten Entfaltung zwangsläufig mit den Ansprüchen der Kirche zusammenfallen würde. Die Gewährung von Freiräumen war an die Annahme einer natürlichen Religiosität des Kindes gebunden, die sich durch den Kontakt mit dem katholischen Glauben unvermeidlich in ein aktives und kirchentreues Christentum ausformen würde. Es wird unten zu untersuchen sein, wie sich diese inhärente Spannung in der Erziehungspraxis der 1920er und 1930er Jahre auswirkte. Die Neuausrichtung katholischer Erziehung blieb jedoch innerhalb des katholischen Erziehungsmilieus nicht unwidersprochen. In Opposition zu der dominanten kinderzentrierten Persönlichkeitsbildung formte sich nach 1900 eine neo-traditionalistische Gegenrichtung heraus. Als neo-traditionalistisch 40
41
Juan Jaouen, Las Enciclicas y la formación social de los alumnos, Atenas 26, 15.1.1933. Im gleichen Sinn: Hispánicus, La Pedagogía de la Religión. Con ocasión de un nuevo libro, Atenas 51, Mai 1935. Zitat: Hispánicus, Los Exploradores o „Boy-Scouts“ en un colegio católico, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España, 1935/36, Madrid 1935, S. 22–27, hier S. 22; Jesús Martínez Hernández, La Liturgia y los „Scouts“ Católicos, ebd, S. 39–42; Lord Baden Powell, Educación varonil, no por el temor, sino por el amor, Atenas 26, 15.1.1933; Lord Baden Powell, Educación Varonil (II). La Organización de los Exploradores y de las Exploradoras (Boy Scouts), Atenas 27, 15.2.1933.
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lässt sie sich deshalb bezeichnen, weil sie eine neue Bewegung darstellte, die wichtige Einsichten der neuen Kinderpsychologie teilte, neue Christen aber anders als die Reformer der FAE hauptsächlich durch asketische Maßnahmen formen wollte. Die Vertreter dieser Strömung vertraten die Auffassung, dass Erziehung Kinder zuvorderst für den Existenzkampf (lucha por la existencia), der sie im Erwachsenenleben unweigerlich erwarte, vorbereiten müsse. Die Zukunftsperspektive eines Kampfes um das Dasein verbiete jedes Entgegenkommen gegenüber den Wünschen der Kinder und jede „Verzärtelung“, da sie die zukünftige Adaption des Kindes an die Realitäten des Konkurrenzkampfes im Erwachsenenleben beeinträchtige. Durchsetzungsfähige Charaktere ließen sich vor diesem Hintergrund alleine durch ein forderndes Programm der Askese und des Gehorsams gestalten.42 Exemplarisch lässt sich der neotraditionalistische Ansatz in einem aus dem Deutschen übertragenen Artikel von 1900 entfalten. Der Autor wendet sich darin zunächst wie die kindeszentrierten Ansätze gegen harte, die Kinderpsyche schädigende Strafen und sieht in einer glücklichen Kindheit die beste Voraussetzung für ein zufriedenes Leben nach dem Übertritt in das Erwachsenenalter. Glück definiert er aber vor allem als innere Gelassenheit gegenüber den „Schmerzen und Bitternissen des Lebens“. Entsprechend rät er in sechs Erziehungsmaximen zu einer Erziehung zu Bedürfnislosigkeit, Wahrhaftigkeit, Gehorsam, Nächstenliebe, Dankbarkeit und Aktivität. Diese Erziehung erfordere nicht nur ein penibles Zeitmanagement mit klar bestimmten Zeiten von Arbeit, Spiel und Erholung, sondern auch die Vermittlung der Fähigkeit, „sich unterzuordnen [. . . ] und niemals sich zu widersetzen noch [den elterlichen Willen, T.K.] zu hinterfragen“.43 Auch der Pädagoge Luciano Menasalvas postulierte sechzehn Jahre später eine „Notwendigkeit der Unterwerfung der Heranwachsenden während der Zeit ihrer Erziehung“ als Voraussetzung starker Charaktere. Ein Übermaß an Freiheiten während der Kindheit erschwere den Übertritt in das Erwachsenenleben und die in ihm notwendige Zurückstellung der eigenen Person.44 Diese Begründungen einer asketischen Charakterbildung besaßen von Anfang an eine defensive Dimension, als sie sich wesentlich gegen den Einflussgewinn kindzentrierter Erziehung richteten. Gleichzeitig lässt sich ihre Virulenz jedoch nicht verstehen, wenn man den politischen Kontext der sozialen Umwälzungen zunächst der Jahre 1917–21, dann vor allem der Zweiten Republik außer Acht lässt, die nicht nur die soziale Ordnung erschütterte, sondern auch, wie zu zeigen sein wird, einen symbolischen und praktischen 42 43 44
Siehe als frühe Formulierung: Roviralta, Educación Moral, in: El Magisterio Español, 31.3.1900. M.X., Cómo se educan hijos felices (Traducción de un semanario alemán), El Magisterio Español 6.6.1900. Luciano Menasalvas, Agentes de la Educación Moral (Revista Calasancia, 27.1.1916), wiedergegeben in: Leyendo Revistas y Periodicos, RdEF 3, März 1916.
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Machtzuwachs der Großstadtkinder bedeutete. Ramón Sarabia klagte in seinem Erziehungsratgeber von 1932, dass in der Gegenwart „selbst die Kinder eingefleischte Liberale“ seien und bereits Elfjährige keinerlei Autorität mehr anerkennen würden. Als Konsequenz forderte er, einen umfassenden „Krieg gegen den Ungehorsam“ zu beginnen und „Disziplin über alles“ zu stellen“.45 Die neo-traditionalistische Haltung besaß im katholischen Erziehungsmilieu Rückhalt, erlangte allerdings bis 1936 zu keinem Zeitpunkt den Einfluss, den die optimistischen kindeszentrierten Reformprogramme erreichen konnten. In den Madrider pädagogischen Zirkeln rund um die FAE, Atenas und das katholische Lehrerseminar blieb sie marginal. Erst im Laufe des Bürgerkrieges erhielt sie neue Ausstrahlungskraft, allerdings weniger in den katholischen pädagogischen Kernmilieus als unter falangistischen Erziehern und Volkschullehrern, die sich erst nach 1936 als solche formierten und als Kinder der neo-traditionalistischen Schule betrachtet werden können. Die Konflikte zwischen den beiden wichtigsten Erziehungsströmungen im Katholizismus wurden in den katholischen Publikationen nicht offen ausgetragen. Der gemeinsame Kampf gegen die Säkularisierung des Bildungswesens ließ interne Gegensätze zurücktreten. Zudem sahen die katholischen Pädagogen beide Positionen wohl eher als zwei Pole in einem breiten Spektrum von Erziehungsansätzen an, innerhalb dessen sich die einzelnen Erzieher verorteten. Beide Ansätze teilten grundlegende Ansichten und Anliegen, vor allem das Ziel, neue christliche Subjekte heranzubilden. Die Dominanz kindzentrierter Strömungen erklärte sich weniger aus politischweltanschaulichen Gründen als dadurch, dass die führenden Pädagogen sich von ihm bessere Erfolge in der christlichen Persönlichkeitsbildung versprachen als von autoritären Ansätzen. Es muss einer detaillierten Untersuchung von konkreten Handlungsfeldern vorbehalten bleiben, wie sie im dritten und vierten Teil dieser Arbeit unternommen wird, um zu bestimmten, welche Position sich die katholischen Erzieher in der Praxis aneigneten und wie sich ihre Haltung im Zeitverlauf veränderte.
4.3 Neuansätze von Religionspädagogik und religiöser Erziehung Katholische Bildung und Erziehung verstand sich in erster Linie als religiöse Persönlichkeitsbildung. Eine Untersuchung der Formen und Inhalte religiöser Vermittlung kann deshalb besondere Aufschlüsse über den Wandel katholischer Menschenbildung geben und das Verständnis des Wandels katholischer Erziehung vertiefen. Der Religionsunterricht stellte für die katholischen Päd45
Sarabia, Cómo se educan, S. 482f.
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agogen das Königsfach im Fächerkanon dar. Doch wie genau veränderte sich die schulische Religionsvermittlung? Wir wollen uns hier zunächst den zeitgenössischen Methodendiskussionen zuwenden und anschließend die weitaus schwierigere Frage nach inhaltlichen Schwerpunktverlagerungen diskutieren. Seit der Jahrhundertwende geriet eine alleine auf den Katechismus gestützte religiöse Unterweisung zunehmend in die Kritik. Die katholischen Reformer beanstandeten vor allem zwei Dinge. Erstens habe der ältere Religionsunterricht Religion allein auf äußere Praktiken und Routinen reduziert, und, zweitens, habe er aufgrund seiner auf Autorität und Disziplin ausgerichteten Vermittlungsmethoden Kinder der Religion eher entfremdet als sie an sie herangeführt. Aufgrund des falschen Unterrichts, so ein junger Pädagoge, sähen Kinder „in den religiösen Dogmen nichts als leere Formeln; die göttlichen Gebote sind für sie lästige Schranken, die ihre freie Aktivität einengen; und in den Handlungen des Kultes sehen sie nichts als bedeutungsleere Rituale.“46 Grundlage dieser Kritik war das neue Verständnis von Kindheit als spezifische Entwicklungsphase, deren Ansprache besonderer Methoden bedürfe und in der emotionale Faktoren eine besondere Bedeutung besitze. Religionsunterricht hatte sich, um erfolgreich zu sein, auf neue Weise an der Schülerpersönlichkeit und deren Lernvoraussetzungen auszurichten: „Die religiöse Wissensvermittlung (instrucción religiosa) reicht nicht aus. Der Lehrer muss eine religiöse Stimmung (ambiente religioso) in der Schule schaffen.“47 Aus diesem neuen Verständnis ergab sich eine Reihe von konkreten Folgerungen. Zunächst entfalteten sich in Spanien zum ersten Mal spezifisch religionspädagogische Debatten.48 Katholische Pädagogen versuchten, die religiöse Ansprechbarkeit unterschiedlicher Altersgruppen sowie die religiöse Vorstellungswelt der Kinder zu erkunden und forderten in der Folge eine neue altersgemäße Gestaltung des Religionsunterrichts. Der deutsche Religionspsychologe E. Grimm unterschied in einem Beitrag für Atenas beispielsweise verschiedene Stadien der religiösen Entwicklung des Kindes. Auf eine Phase der „egoistischen Frömmigkeit“ des Kleinkindes folge eine Etappe magischer Religiosität, in der das Kind noch nicht zwischen Symbolen und Realität unterscheiden könne. Diese Phase zeichne sich durch eine große Rezeptivität für religiöse Fragen aus, doch sei die religiöse Persönlichkeitsbildung noch nicht gefestigt und könne leicht in religiöse Enttäuschung führen. Zudem nehme mit dem elften Lebensjahr die religiöse Aufnahmebereitschaft schnell
46 47 48
Félix Fernández Sáinz, La inmanencia vital y la educación, Atenas 41, Okt. 1934. X., Leyendo un librito, in: Atenas 1, 15.4.1930. Siehe hier nur Hispánicus, La Pedagogía de la Religión. Con ocasión de un nuevo libro, Atenas 51, Mai 1935; Daniel Llorente, Plan cíclico-concéntrico de Instrucción religiosa, para catequesis y colegios de primera enseñanza, Atenas 59, März 1936. Vgl. auch: Juan Tusquets, Pedagogía de la Religión, Madrid (Editorial Amigos del Catolicismo) 1934.
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ab. Gerade die ersten Schuljahre gelte es deshalb für eine dauerhafte religiöse Charakterbildung zu nutzen.49 Die Definition von Kindheit als vornehmlich emotionaler Lebensphase führte darüber hinaus zu Appellen, im Religionsunterricht nicht mehr nur die göttlichen Gebote und religiösen Verhaltensmaximen zu vermitteln, sondern auch Imagination und Emotionen der Kinder anzusprechen und zu formen. Der Bischof von Dijon, Maurice Landrieux (1857–1926), beschwerte sich beispielsweise in einem posthum 1932 in Atenas abgedruckten Brief über ein „unvorstellbares Unwissen über die kindliche Psychologie“ bei vielen Religionslehrern: „Das Kind ist ganz Gefühl (sentimiento), ganz Eindruck (impresión) [. . . ] und wir erlegen ihm vor der Zeit längere Anstrengungen des Geistes und des Verständnisses über Texte und Formeln auf, deren Inhalt, und selbst deren Worte, den sehr beschränkten Zirkel seines Verständnisses und seines Wortschatzes überschreiten. [Wir müssen, T.K.] uns auf natürliche Weise, über die offenen Türen seiner Imagination und seiner Empfindsamkeit einen Zugang zu ihm suchen.“50
Um diese altersgerechte Ansprache zu erreichen, hielten die Religionspädagogen eine Neugestaltung des Unterrichts für notwendig. Zunächst sollte der Katechismus, den nun viele Erzieher für zu „schwer“ hielten, kindgerechter vermittelt werden. Eine Neufassung von Juan Tusquets aus dem Jahr 1930 stellte beispielsweise jeweils einen „intuitiven“ Teil, der die kindliche Phantasie und Einfühlungsvermögen ansprechen sollte, vor weitergehende, in kindgerechte Sprache gekleidete Erläuterungen. Tusquets versuchte so den Spagat zwischen der Vermittlung kirchlicher Lehrsätze und dem kindlichen Interesse.51 Insgesamt sollte der Religionsunterricht nicht als Zwang, sondern als freudiges Ereignis empfunden werden. Nur so, das war in den katholischen Reformkreisen der 1930er Jahre unstrittig, könne eine positive Grundhaltung zur christlichen Religion geschaffen werden. Die Kinder sollten „freudig“ in den Unterricht kommen und in ihm „mehr Freiheit“ genießen, so forderte etwa Landrieux. Dazu gehörte wesentlich auch eine Verminderung der Anforderungen. Die Unterweisung im Katechismus dürfe nicht länger von den Kindern als Strafe empfunden werden.52 Die altersgerechte und positive Gestaltung beinhaltete auch die Förderung 49
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E. Grimm, La adolescencia, la religión y otros valores, Atenas 22, 15.7.1932. Siehe weiterhin: J. Moyano, De Pedagogía Catequista, Una lección de Catecismo en el Internado sobre la fiesta de Cristo Rey: Alumnas de ocho y trece años, BIT 201, Okt. 1931; A. Hodum, La formación religiosa del adolescente, Atenas 29, 15.4.1933. Carta de Monseñor Landrieux, obispo de Dijón, a su clero. Un aspecto de un problema vital. Empezamos por el Evangelio. Evangelio antes de Catecismo, Atenas 24, 15.11.1932. Juan Tuquets, El pequeño cristiano. Libro de Maestro, Libro del alumno, Barcelona 1930. Siehe auch die lobende Besprechung: Rez. María Fargues, Les Méthodes actives dans l´Enseignement religieux, Juvisy 1934, Atenas 47, Jan. 1935. Carta de Monseñor Landrieux, obispo de Dijón, a su clero. Un aspecto de un problema vital. Empezamos por el Evangelio. Evangelio antes de Catecismo, Atenas 24, 15.11.1932.
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der Aktivität und Beteiligung der Kinder am Unterricht, der nun eher als Interaktion denn als Vermittlung gestaltet werden sollte. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Schilderung einer Unterrichtsstunde an einer der Mädchenschulen der Institución Teresiana.53 Die Stunde fand in der Vorweihnachtszeit statt, und die Autorin beschrieb eingangs die besondere Schwierigkeit, angesichts des nahenden Festes die Aufmerksamkeit der Kinder auf den Unterricht zu lenken. Um die Kinder für den Unterricht trotzdem zu gewinnen, knüpfte die Lehrerin an das Interesse ihrer Schüler an und wählte eine Abbildung der Krippenszene, anhand derer sie den Kindern die Weihnachtsgeschichte erzählte, die sie bewusst oder unbewusst als Parabel der bedrängten Lage der Katholiken unter der Zweiten Republik formte. Wichtig in unserem Kontext ist nun, dass die Schülerinnen sie im Erzählen ständig unterbrachen und unterbrechen durften, um mit eigenen Schilderungen zur Geschichte beizutragen. Die Stunde entwickelte sich so in der Aufzeichnung der Lehrerin zu einer Modellstunde neuer katholischer Religionspädagogik, in der die Schüler eigenständig durch eine aktive Beteiligung zum Gelingen des Unterrichts und einer intensiveren Aneignung des Glaubens beitragen.54 Eine wichtige Frage ist nun, ob mit dem hier erkennbaren Methodenwandel auch inhaltliche Veränderungen des Unterrichts sowie neue Konzeptionen religiöser Persönlichkeit einhergingen. Diese Fragen sind nicht einfach zu beantworten, doch lassen sich einige Tendenzen benennen. Erstens kam es zu einer Verschiebung hin zu einem umfassenderen Verständnis der katholischen Lehre und des katholischen Kultes als Zielsetzung religiöser Unterweisung. Apologetik und Liturgie rückten in den Vordergrund. Eine rationale Vermittlung des Glaubens sollte die Einsicht der Schüler in die kirchlichen Rituale und Dogmen fördern und sie befähigen, in der Öffentlichkeit ihre Religion offensiv und überzeugend zu verteidigen. Ein solcher fundierter Glaube musste sich auf einen gewissen Schatz religiösen Wissens jenseits des Katechismus stützen.55 Schon in den 1910er Jahren hatten deshalb Erzieher gefordert, die Schüler zur Lektüre von der Kirche approbierter religiöser Bücher über den Katechismus hinaus zu ermuntern. Seit der Jahrhundertwende fanden, ausgehend von den jesuitischen Internaten auch apologetische Übungen vermehrt Eingang in den Religionsunterricht, zumeist in Form von Rollenspielen, in
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Catecismo Vivente, BIT 203, Dez. 1931. Siehe auch: Llorente, Organización catequística, Atenas 33, Okt. 1933, der für einen „aktiven Katechismusunterricht und manuelle Arbeiten“ und die Anwendung der „Projektmethode“ auf die Katechese plädierte. Für die Übernahme „vieler Methoden der Neuen Schule“ in den Religionsunterricht trat weiterhin ein: Hispánicus, La Pedagogía de la Religión. Con ocasión de un nuevo libro, Atenas 51, Mai 1935. Félix Fernández Sáinz, La inmanencia vital y la educación, Atenas 41, Okt. 1934 argumentierte etwa, dass erst ein liturgisches Wissen die Heranwachsenden dahin führe, die Schönheiten katholischer Rituale zu verstehen und zu genießen. Unterweisung in Liturgie müsse deshalb integraler Bestandteil des Religionsunterrichtes werden.
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denen die Schüler die Kirche und ihre Dogmen gegen säkulare Anfeindungen verteidigen mussten. 56 Zweitens schlugen die Pädagogen eine Verschiebung des Unterrichtsinhalts vom Katechismus hin zur biblischen Geschichte und zum Leben Jesu vor, da die Experten annahmen, dass die Kinder aufgrund der narrativen Struktur der biblischen Ereignisse und über die Sympathie mit der Person Jesus einen leichteren Zugang zu den Botschaften der Bibel erlangen würden als über die trockenen Lektionen des Katechismus.57 Diese Verschiebung war also zunächst lernpsychologisch motiviert, sie weist aber auch auf eine grundsätzlichere Verlagerung katholischer Unterweisung hin. Nicht mehr die Vermittlung einer feststehenden Moralordnung, sondern die Entfaltung der religiösen Persönlichkeit der Kinder nach dem Beispiel Jesus bildete den Fluchtpunkt. Das vor 1900 dominierende Modell einer stabilen christlichhierarchischen Ordnung trat im Religionsunterricht in den Hintergrund zugunsten eines Modells, das Religion mehr als gelebte, auf Gesellschaftsveränderung bezogene Religiosität verstand. Religiöse Vermittlung zielte weniger auf die Bewahrung einer existierenden Ordnung denn auf die Errichtung neuer christlicher Gemeinschaft. Dieser Wandel lässt sich in vielen Beiträgen zur Frage der Neugestaltung des Religionsunterrichtes finden. Religion, so definierte der französische Bischof Landrieux 1932 müsse „zwar auch als Doktrin, aber vor allem als Leben“ verstanden werden.58 Ganz ähnlich argumentierte auch der spanische Pädagoge Félix Fernández Sáinz, als er schrieb, dass bei richtiger Vermittlung „unsere Religion zu einem wahrhaftigen Leben werde, weil sie aus dem Grunde der Persönlichkeit aufsteigt“.59 Die pädagogischen Implikationen dieser Auffassungen werden besonders in einem Aufsatz des belgischen Pädagogen A. Hodum deutlich: „Dem Heranwachsenden reicht [im Unterschied zum Kleinkind, T.K.] nicht mehr der Gott der Bibel, der mit souveräner Geste die Welten schafft; er benötigt den lebenden Gott, der in seiner Seele wirkt [. . . ] Die Heranwachsenden beeindruckt nicht mehr wie vormals der unerbittliche Richter des Jüngsten Gerichts; sie werden vielmehr vom heiligen Lehrer mit dem 56
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Ejercicios Prácticos, RdEF 1, Jan. 1916; Bonifacio Sedeño de Oro ¿Para qué sirve el Catecismo? Diálogo catequístico, RdEF 4, April 1916; Escuela de Cultura Religiosa en Valladolid, Atenas 36, Jan. 1934. Siehe auch unten das Kapitel zu den katholischen Schulen. Carta de Monseñor Landrieux, obispo de Dijón, a su clero. Un aspecto de un problema vital. Empezamos por el Evangelio. Evangelio antes de Catecismo, Atenas 24, 15.11.1932; Daniel Llorente, Plan cíclico-concéntrico de Instrucción religiosa, para catequesis y colegios de primera enseñanza, Atenas 59, März 1936. Weiterhin: A. Iniesta, La lírica y los niños, Atenas 28, 15.3.1933. Carta de Monseñor Landrieux, obispo de Dijón, a su clero. Un aspecto de un problema vital. Empezamos por el Evangelio. Evangelio antes de Catecismo, Atenas 24, 15.11.1932. Vgl. auch als frühes Beispiel: P. Ramón Lostalé, Cartas a los discípulos de las Escuelas Pías, RC 10 (1922), S. 1096–97. Félix Fernández Sáinz, La inmanencia vital y la educación, Atenas 41, Okt. 1934. Hervorhebung im Text.
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sanften und demütigen Herzen angezogen. Schließlich: sie verstehen nicht mehr die Moral, die ihnen aufgibt, ,gute Kinder‘ (buenecitos) und ,gehorsam‘ zu sein; heute ersehnen sie die umfassende Entfaltung ihrer Persönlichkeit (la plena expansión de su personalidad)“.60
Hodum verzeitlicht hier in Anschluss an die religionspsychologischen Studien von Grimm und anderen religiöse Bildung und differenziert sie in zwei Phasen. Während er für die jüngeren Kinder im Vorschul- und Primaralter weiterhin eine klassische, auf Moral orientierte Unterweisung akzeptiert, fordert er für die älteren Kinder eine Neuausrichtung des Religionsunterrichts im Sinne einer christlichen Persönlichkeitsbildung. Die Schüler sollten gleichsam die moralische christliche Weltordnung in sich selbst entdecken und eine „tiefe religiöse Mentalität“ erwerben.61 Drittens schließlich, lässt sich eine neue politisch-soziale Orientierung des Unterrichts erkennen. Die praktische Übung von caritas durch die Unterstützung von Armen und Bedürftigen hatte seit dem 19. Jahrhundert zu einem Kernelement katholischer Bildung gehört und wurde in den 1930er Jahren weiter praktiziert, indem Schüler Arme und Kranke besuchten und verpflegten. Darüber hinaus lassen sich jedoch zwei neue Elemente ausmachen. Einerseits versuchten Pädagogen in den 1930er Jahren religiöse Vermittlung unmittelbar mit den tagesaktuellen politischen Konflikten zu verbinden. Schüler wurden etwa angehalten, für die Abschaffung der republikanischen Bildungsreform zu beten oder im Falle von Streiks durch Fürbitten zu einer Verständigung zwischen Kapital und Arbeit beizutragen.62 Andererseits sollten im Religionsunterricht aber auch die Grundlagen einer neuen religiösen Vergemeinschaftung der Schüler geschaffen werden.63 Die neuen Anforderungen an ein gelebtes Christentum ließen die überkommenen Formen religiöser Unterweisung als defizitär erscheinen und beförderten die Aneignung neuer schülerorientierter und dialogisch strukturierter Lehrmethoden. Gleichzeitig erhöhten sie die Anforderungen an den Religionsunterricht, den einzelnen Schüler auf neue Weise religiös zu formen und zu inspirieren. Didaktische Innovationen waren Teil eines Wandels der Ziele religiöser Menschenbildung. Der einzelne Schüler wurde als religiös Suchender aufgewertet und ihm wurde mehr religiöse Eigenständigkeit zugestanden als noch am Ende des 19. Jahrhunderts. Gleichzeitig steigerten sich jedoch die Ansprüche an sein religiöses Leben, das sich nun nicht 60 61
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A. Hodum, La formación religiosa del adolescente, Atenas 29, 15.4.1933. Z., La Instrucción Religiosa en los centros de segunda enseñanza, El Pilar 60, Nov. 1935. Siehe weiterhin auch Félix Fernández Sáinz, La inmanencia vital y la educación, Atenas 41, Okt. 1934. Juan Jaouen, Las Enciclicas y la formación social de los alumnos, Atenas 26, 15.1.1933; Francisco Armentia-Mitarte, La autoformación del niño y la autoridad del maestro, Atenas 46, Dez. 1934. Eugenio Devaud, Dos instituciones de tipo de comunidad escolar, zitiert nach: V. Semana de Estudios Pedagógicos, Atenas 57, Jan. 1936. Zur praktischen Umsetzung siehe unten das Kapitel zu den katholischen Schulen.
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mehr in der Teilnahme am Kultus und einem moralischen Lebenswandel erschöpfen sollte. Vielmehr bildete die Ausrichtung des gesamten Lebens auf eine imitatio Christi im Sinne einer missionarischen Verteidigung und Verbreitung des Glaubens die neue Zielperspektive des Religionsunterrichts. Der katholische Religionsunterricht der 1930er Jahre stand im Spannungsfeld von neuer Schülerorientierung und neuem religiösem Formungsanspruch und Zugriffsversuch. Der einzelne Schüler genoss mehr Wertschätzung und Gestaltungsmöglichkeiten, sah sich aber auch gewachsenen Ansprüchen an sein religiöses Handeln ausgesetzt.
4.4 Nicht nur Ehefrauen und Mütter: Reformansätze der Mädchenbildung Katholische Bildung und Erziehung waren geschlechtsspezifisch. Jungen und Mädchen wurden in getrennten Schulen nach unterschiedlichen Curricula unterrichtet. Inwieweit veränderten die Reformansätze auch die Mädchenbildung und -erziehung? Zunächst: Obwohl zumeist nicht offen thematisiert, standen Jungen eindeutig im Zentrum der Reformdebatten. Die Experten blieben weiterhin einer geschlechterdualistischen Konzeption von Bildung und Erziehung verhaftet und entwarfen deutlich unterschiedliche Bildungsprogramme für Jungen und Mädchen. Trotz ihrer Aneignung neuen Wissens blieb Koedukation ein rotes Tuch für die katholischen Experten. Und doch: Die Dynamik der Neuausrichtung katholischer Bildung und Erziehung erfasste auch die katholische Mädchenbildung. Die religiöse Mobilisierung veränderte auch die Bildung und Erziehung von Mädchen und destabilisierte dabei auf längere Sicht ältere Modelle katholischer Weiblichkeit. Das neue apostolische Erziehungsideal dynamisierte die katholische Mädchenerziehung. Der neue Stellenwert apostolischer Persönlichkeitsbildung und die Bedeutung von Wissen als Waffe im argumentativen Wettstreit mit den Ungläubigen legte eine umfassendere Ausbildung von Mädchen nahe, die über die bisher für nötig erachteten elementaren Grundkenntnisse und haushälterischen Kenntnisse hinausging. Dies bezog sich zunächst auf die religiösen Kenntnisse im engeren Sinne. Damit die Mädchen später ihre Rolle als aktive Apostel auszufüllen vermochten, war nach Dafürhalten der Reformer eine Erneuerung der Religionserziehung für Mädchen in Richtung einer stärker rationalen Aufklärung über die Glaubensinhalte notwendig. „Mehr als früher“, so argumentierte die katholische Erzieherin Juana Ramos im Herbst 1916, müsse die Religionserziehung „ernstzunehmend (serío) sein und alles vertreiben, was Übertreibung und Fanatismus“ sei, um angesichts der prekären Lage der Kirche den Religionsgegnern keine Munition zu geben. Gerade den Mädchen, die mehr als Jungen natürliche Anlagen für eine
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gefühlsmäßige und imaginative Religiosität hätten, müsse das Christentum „in seiner wunderbaren Ökonomie, in seiner logischen Ordnung und seinen großen, durch die gesunde Vernunft und klare Philosophie gestützten Fundamenten“ vermittelt werden.64 An anderer Stelle forderte sie, die religiöse Mädchenbildung, die „noch in den Kinderschuhen stecke“ durch „ernsthafte Studien“ voranzutreiben. Um eine rationale Aneignung des Glaubens zu erreichen, sollten die Mädchen auch auf neue Weise angehalten werden, in der Bibel zu lesen und über ihre Lesefrüchte nachzudenken und zu debattieren.65 Doch die Aufwertung von Mädchenbildung ließ sich konzeptionell schwer allein auf den religiösen Bereich beschränken, und tatsächlich wurden seit den 1910er Jahren Forderungen nach einer generellen Verbesserung der Mädchenbildung zahlreicher. Andres Manjón kritisierte die Bevorzugung von Jungen hinsichtlich der schulischen Bildung und behauptete apodiktisch: „Wenn ich [nur ein Geschlecht erziehen] könnte, würde ich die Bildung der Mädchen wählen“.66 In der Argumentation Manjóns zeigt sich deutlich die Herausbildung einer neuen Dynamik der Mädchenbildung aus dem Geist religiöser Erneuerung. Manjóns Position war in ihrer Widersprüchlichkeit symptomatisch. Dem Erziehungsreformer ging es nicht um die Gleichstellung von Mann und Frau, die er ablehnte. Er beharrte auf einer polaren Geschlechterordnung. Doch die religiösen Aufgaben der Frauen als Mütter erforderten seiner Meinung nach ihre zumindest gleichberechtigte schulische Ausbildung. In der Praxis trat er deshalb für eine Verbesserung der Mädchenausbildung ein. Seine Armenschulen richteten sich vorwiegend an Mädchen. Einige Reformerinnen der Revista de Educación Familiar gingen in den folgenden Jahren in ihren Forderungen deutlich über Manjón hinaus. Juana Ramos argumentierte im Herbst 1916 beispielsweise, dass die Frau „sich selbstverständlich in den profanen Wissenschaften bilden müsse, soweit ihr dies ihr sozialer Rang und ihre intellektuellen Fähigkeiten erlauben“.67 Einen Monat später erklärte eine weitere Pädagogin es zu einem positiven Resultat des Ersten Weltkrieges, dass die Frauen nach seiner Beendigung „studieren, arbeiten und mehr Unabhängigkeit besitzen werden“, und im Oktober 1918 kritisierte María Teresa del Palacio scharf die ihrer Meinung nach weitverbreitete Neigung in den spanischen Mittelschichten, Töchtern nur eine rudimentäre Ausbildung zukommen zu lassen.68 Eine erste Konsequenz dieser Analyse zog die Zeitschrift selbst, in der diese Aufsätze erschienen: Sie publizierte monatliche, an bürgerliche Eltern gerichtete Unterrichtsentwürfe, die 64 65 66 67 68
Juana Ramos, Formación intelectual de la joven, RdEF 8, Sep. 1916. Dies., Como debe practicar la mujer su fe, RdEF 9, Okt. 1916. Siehe mit gleicher Stoßrichtung: El Magistral de Burgos ¡Más instrucción religiosa! Ellas, 5.6.1932. Andres Manjón, Imitemos: ¿Para niños o para niñas? in: BIT 2, 12.10.1913. Juana Ramos, Formación intelectual de la joven, RdEF 8, Sep. 1916. Bsa. de Ardana ¿Hará la guerra triunfar las reivindicaciones del feminismo? RdEF 9, Okt. 1916; María Teresa del Palacio ¿Debe trabajar la mujer de la clase acomodada? RdEF 31, Okt. 1918.
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ein umfassendes Bildungsprogramm auf der Höhe zeitgenössischen Wissens präsentierten. Diese Entwürfe entwarfen nun ein geschlechtsübergreifendes Curriculum, sie wollten das Wissen präsentieren, „das jede gebildete Person besitzen sollte, egal ob Junge oder Mädchen.“69 Jungen und Mädchen sollten nach dem Willen der Zeitschrift dasselbe lernen. Diese Forderungen wurden zwar auch mit älteren Argumenten begründet, nach denen die Frauen als Ehefrauen und zukünftige Mütter eine gewisse Bildung besitzen müssten, um ihren Ehemännern interessante Gesprächspartner und ihren Söhnen gute Erzieherinnen zu sein. Darüber hinaus spielten jedoch zunehmend regenerationistische Argumente eine Rolle, welche allgemein auf die Schaffung gesellschaftlich nützlicher Bürger zielten und nicht mehr unmittelbar im Kontext einer dualen Geschlechterordnung standen. So forderte del Palacio die Eltern auf, auch in ihren Töchtern „zukünftige Mitstreiterinnen des menschlichen Fortschritts zu sehen“.70 Doch das wichtigste Argument für eine Intellektualisierung der Mädchenbildung lag eindeutig in ihrer Bedeutung im Kampf für die religiöse Widergeburt Spaniens. Nur durch eine umfassende Verstandesbildung, so die Überzeugung der Erziehungsreformer, könne die Frau ihre religiöse Mission erfüllen, in ihrem sozialen Umfeld den Glauben zu stärken und Zweiflern mit Argumenten Paroli zu bieten.71 Die neuen religiösen Anforderungen drängten in diesem Zusammenhang auf eine stärkere öffentliche Rolle von Mädchen und Frauen und untergruben damit in der Tendenz das Modell der klaren Sphärentrennung. Zwar sahen selbst die avanciertesten Reformerinnen das primäre religiöse Tätigkeitsfeld der Frauen in der Familie, doch wohnte ihrer Argumentation eine Logik inne, die die etablierten Sphärengrenzen sprengte. Dies zeigt sich in Beiträgen von Juana Ramos, die Frauen aufforderte, ihren Glauben nach außen zu richten, „sei es in der Familie oder sei es in welchem Medium auch immer“. Einige Jahre später forderte auch die Institución Teresiana neue Frauen, „welche das soziale Apostolat ausüben“, das heißt aktiv in gesellschaftliche Belange eingriffen.72 Die Gründung und Ausbreitung der Institución Teresiana als Zentrum reformorientierter katholischer Mädchen- und Frauenbildung seit 1917 ist ein prominentes Beispiel für die neue Bedeutung der Mädchen im katholischen Bildungswesen. Die Bildungseinrichtung unterhielt Lehrerinnenseminare, Wohnheime für Sekundarschülerinnen und Studentinnen sowie Mädchenschulen und bezweckte die Herausbildung einer neuen Elite katholischer 69 70 71 72
Sección Escolar, RdEF 1, Jan. 1916. María Teresa del Palacio ¿Debe trabajar la mujer de la clase acomodada? RdEF 31, Okt. 1918. Ähnlich: Juana Ramos, Formación intelectual de la joven, RdEF 8, Sep. 1916. Dies., Como debe practicar la mujer su fe, RdEF 9, Okt. 1916. Ebd.; Enseñanza de la Religión (Trabajo leído por su autora, Srta. Díaz Jiménez, en la III. Asamblea de Cooperadoras Técnicas), BIT 182, Jan. 1930. Zur Aufwertung außerhäuslicher Betätigung der Frauen siehe auch: María Teresa del Palacio ¿Debe trabajar la mujer de la clase acomodada? RdEF 31, Okt. 1918.
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Frauen, daneben aber auch eine verbesserte Bildung von Arbeiterinnen. Zwar erreichten die Einrichtungen der Institución immer nur einen Bruchteil der gesamten Schülerinnenpopulation und wurden von Teilen des katholischen Lagers als „feministisch“ verspottet, doch bildete das Institut die Speerspitze einer spezifisch katholischen neuen Mädchenbildung mit Ausstrahlungskraft in ein weiteres Erziehungsmilieu hinein. Der Einfluss der Institution zeigt sich auch an der engen Verbindung mit der Frauenorganisation der Katholischen Aktion, dessen Führungskader in den 1930er Jahren zu einem großen Teil theresianische Internate besucht hatten. Einer Historikerin der Institution ist zuzustimmen, dass diese als „erste apostolisch orientierte Laienorganisation von Frauen“ einen wichtigen „Aufbruch gläubiger Frauen aus dem Obdach der Kirche und des Heimes in Richtung von Aktivitäten bedeutete, die bis zu diesem Zeitpunkt fast ausschließlich von Männern ausgeübt worden waren.“ Es ist in diesem Zusammenhang kein Zufall, dass die erste Professorin im Franco-Spanien, Angeles Galino, Leiterin der Theresianerinnen war.73 Die Bedeutung der Ausbildung der Mädchen für eine aktive gesellschaftliche Rolle stieg angesichts der Verfolgungserfahrungen der frühen 1930er Jahre weiter. Exemplarisch dafür kann die Gründung einer neuen höheren katholischen Bildungsanstalt für Frauen, dem Instituto Superior de Cultura Femenina in Madrid im Frühjahr 1933 stehen. Ähnlich den theresianischen Akademien sollte das neue Institut Lehrerinnen für die neu entstehenden katholischen Primarschulen ausbilden. Angesichts der Einführung des Frauenwahlrechts im Jahr 1931, aber auch des Verfolgungsdrucks auf die Kirche könne und dürfe, so der Ausgangspunkt der Institutsgründung, die Aktivität der Frau „nicht länger uneingeschränkt auf die engen Grenzen des Haushalts begrenzt bleiben“. Um ihre neue gesellschaftliche Rolle ausfüllen zu können, sei es aber notwendig, „dass die Frau ihren Verstand in einer geistigen Umgebung formt, die der Umwelt, in der sie sich bisher formte, überlegen ist, damit sie mit der schärfsten Waffe unserer Zeit in den Kampf ziehen kann: der Kultur“.74 Das bedeutete nichts anderes, als das Bildungsniveau der 73
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Loreto Ballester Reventós, Einleitung, in: Gómez Molleda, Pedro Poveda, S. xxx–cxxxvi, hier S. cxii. Obwohl sie hagiographisch gefärbt ist, stellt diese Arbeit die zur Zeit beste Darstellung der noch kaum wissenschaftlich behandelten Geschichte der Institution dar. Eine knappe Einordnung der Institution in den allgemeineren Kontext der Frauenbildung unternehmen: Luis Alberto Cabrera Pérez, Mujer, Trabajo y Sociedad (1839–1983), Madrid 2005, S. 97–99; Rosa María Capell Martínez, El Trabajo y la Educacción de la Mujer en España, 1900–1930, Madrid 1982, S. 351. Zum Programm der Institución Teresiana: Pedro Poveda, Itinerario Pedagógico. Estudio preliminar, Introducciones y notas de Ángeles Galino, Madrid 2 1965. Actividades femeninas. Escuelas católicas, Atenas 28, 15.3.1933. Vgl. mit derselben Stoßrichtung die Ausführungen von Díaz Jiménez zur Educación cívico-patriótica en la Enseñanza secundaria femenina auf der pädagogischen Woche der FAE im Frühjahr 1935: Josefina Álvarez, Cuarta Semana de Estudios Pedagógicos: Pinceladas, Atenas 47, Jan. 1935. Auch Pädagoginnen der Institución Teresiana kritisierten in den frühen 1930er Jahren die unzureichende Erziehung der Frauen als Ursache gesellschaftlicher Missstände
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katholischen Mädchen deutlich zu heben. Das neue höhere Bildungsinstitut für Frauen wollte durch eine bessere, zeitgemäße Bildung die Mädchen zu gesellschaftlichen Kämpferinnen der katholischen Sache ausbilden. Neuausrichtung der Mädchenbildung, pädagogische Modernisierung und christlichpolitische Mobilisierung unter dem Banner eines „weiblichen Apostolats“ waren auf das Engste verbunden.75 Weitere Neugründungen der späten 1920er und 1930er Jahre verweisen auf die Bedeutung der Erneuerung der Mädchenbildung. Im Jahr 1927 öffnete eine katholische Frauenliga in Valladolid eine Granja Profesional Femenina und wenig später entstand in Madrid eine Liga Femenina de Orientación y Cultura.76 In den 1930er Jahren existierte auch innerhalb der FAE eine eigene Frauensektion, die in Kooperation mit dem Instituto Superior de Cultura Femenina Neuansätze der Mädchenbildung diskutierte und Sommerkurse über moderne Pädagogik für Lehrerinnen abhielt. Zudem überlegten die Reformer im Umfeld der FAE, eine katholische Universität für Frauen zu gründen. 77 Die Reichweite einer neuen Befürwortung von Mädchenbildung zeigt sich auch in katholischen Frauenzeitschriften und Illustrierten. Die militant katholische Zeitschrift Aspiraciones verteidigte beispielsweise den „Drang nach Tätigkeit und Bildung“ von Mädchen, kritisierte Vorstellungen, dass familiäre Harmonie nur auf der Basis „einfältiger, kleinmütiger und ungebildeter Frauen“ zu erreichen sei und plädierte für eine lebensnahe, „realistische“ Ausbildung der Mädchen.78 Die politisch gemäßigtere Illustrierte Ellas begrüßte den prozentualen Anstieg der Mädchen an den Sekundarschülern der staatlichen Institutos und forderte, dass aufgrund derselben „intellektuellen, sozialen und
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und forderten eine neue Ausrichtung der Mädchenbildung auf die politische Sphäre und die gesellschaftliche Rechristianisierung. Actuación de la mujer en la política, BIT 203, Dez. 1931; Abilio Alaejos, La Colegiala instruída. Pedagogía del Venerable A. Claret, BIT 183, Febrero 1930; Vgl. auch: M. Dolores Juan, El movimiento feminista después de la guerra, BIT 201, Okt. 1931. Zum Begriff: Temas para circulos de estudio, BIT 252, März 1936. Zu den Frauenverbänden: Temas para círculos de estudio, BIT 254, Mai 1936. Vgl. allgemein: Inmaculada Blasco Herranz, Paradojas de la ortodoxia. Política de masas y militancia católica femenina en España (1919–1939), Zaragoza 2003; Dies., Género y Religión: De la Feminización de la Religión y la Movilización Católica Femenina. Una Revisión Crítica, in: Historia Social 53 (2005), S. 119–36. Dies, Las Ramas femeninas de la AC durante la II República. De la política al apostolado, in: Montero, Acción Católica, S. 43–72. Actividades femeninas: Una notable institución educativa, Atenas 33, Okt. 1933; En la Liga Femenina de Orientación y Cultura, BIT 252, März 1936. Siehe allgemein auch: Ramón Ruiz Amado, La educación femenina, Barcelona 1923; Rufino Blanco Sanchéz, Luis Vives. La pedagogía científica y la Instrucción de la Mujer, Madrid 1935. Actividades femeninas: Cursos de verano en Santander, Atenas 41, Okt. 1934; Hacia la Universidad Libre Femenina, Esto, 7.6.1934. Carmen Carriedo de Ruiz ¿Puede discutirse? Aspiraciones, 30.1.1932; La Educación de las jovenes, Aspiraciones, 9.4.1932.
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politischen Befähigung“ der Frau ihre Ausbildung in Zukunft derjenigen von Männern ähneln müsse.79 Mehr noch als die Jungenbildung entwickelte sich die Mädchenbildung zu einer besonderen Domäne des Katholizismus. Nach einer kirchlichen Statistik standen 1935 665 Jungen- 854 Mädchenschulen gegenüber.80 Betrachtet man statistische Aufstellungen für Madrid zeigt sich jedoch, dass sich die Verhältnisse deutlich nach Schulformen unterschieden. Während im Primarbereich die Mädchenschulen mit 83 gegenüber 73 Jungenschulen überwogen, dominierten im Sekundarbereich die Jungenschulen. Den 59 weiterführenden Jungenschulen unterschiedlicher Ausrichtung standen in der Stadt 30 weiterführende katholische Mädchenschulen gegenüber.81 Die Deutung dieser Zahlen fällt jedoch nicht leicht. Auf der einen Seite verweisen sie auf eine nach wie vor ungleichgewichtige Stellung der Mädchen in der weiterführenden katholischen Bildung, zumal die bloßen Zahlen noch nichts über die Qualität der einzelnen Schulen aussagen. Doch lassen sich die Angaben auf der anderen Seite auch als Beleg für einen fundamentalen Wandel deuten. Dass Mädchen nicht nur eine Grundbildung, sondern auch eine weiterführende Bildung verdienten, war im Madrid der 1930er Jahre keine Minderheitenmeinung mehr. Diese Einschätzung wird durch die Werbeanzeigen der Schulen unterstützt, die den Mädchen und ihren Eltern eine Bildung versprachen, „die den modernen Ansprüchen genügt [und, T.K.] umfassender und moderner ist, als es noch vor einigen Jahren üblich war“.82 In den 1930er Jahren waren die Stimmen, die eine Reform katholischer Mädchenbildung forderten, nicht mehr zu überhören. Zwar muss nochmals betont werden, dass die allermeisten Reformer nach wie vor nicht auf eine Gleichberechtigung der Geschlechter abzielten. Doch dürfen berechtigte Hinweise auf Kontinuitäten des katholischen Frauenbildes und auch die Ablehnung jeglicher Koedukation nicht verdecken, dass sich seit dem Ersten Weltkrieg die Auffassung, dass Mädchen eine den Jungen ebenbürtige Bildung genießen sollten, in den führenden pädagogischen Kreisen durchsetzte und es zu wichtigen Neuansätzen katholischer Mädchenbildung kam. Religion erwies sich dabei gleichzeitig als dynamische Kraft der Veränderung von Mädchenbildung und als einhegender Faktor. Die tradierten und reli79 80 81 82
María S. José Fernandez, La mujer en la enseñanza secundaria y superior, Ellas, 3.7.1932. Viñao, Escuela, S. 207. Berechnung des Autors nach: Curso 1934–1935, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1934/35, Madrid 1934, S. 2–6. Anzeige Nelly´s School, Barcelona ebd.; Anzeige Colegio de la Asunción „Santa Isabel“, ebd. Besonders die zweite Anzeige verdeutlicht wiederum die Ambivalenzen katholischer Mädchenbildung Anfang der 1930er Jahre sowie die enge Verbindung von pädagogischer und inhaltlicher Innovationen und antirepublikanischer Mobilisierung. Trotz des modernen Lehrplans blieb die Rolle als Mutter und Ehefrau Fixpunkt der schulischen Ausbildung. Gleichzeitig sollte der religiöse Glaube der Mädchen nicht auf eine äußere Frömmigkeit, sondern auf die „Kämpfe des Lebens“ orientiert werden.
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giös legitimierten Geschlechterbilder setzten den Reformdebatten deutliche Grenzen, wurden aber durch neue Praktiken und Anforderungen allmählich verändert.
4.5 Religiöse Apostel oder christliche Elite? Kinderindividuum, Begabung und Gesellschaft Die Erneuerung katholischer Bildung und Erziehung ist bislang wesentlich als Ergebnis religiöser Mobilisierung beschrieben worden. Doch muss zum Verständnis des Wandels auch eine weitere parallele Dynamik in den Blick genommen werden, die einen anderen Fluchtpunkt besaß und in latenter Spannung zum Programm politisch-religiöser Gesellschaftsreform stand. Die Neuausrichtung katholischer Bildung zielte nicht nur auf ein apostolisches Christentum. Ein weiterer wichtiger Diskussionsstrang verhandelte im Kontext der sich entfaltenden neuen Differentiellen Psychologie Möglichkeiten der Diagnose und Förderung individueller Begabungen und die sich daraus ergebenden bildungspolitischen Konsequenzen. Fluchtpunkt dieser Debatten war weniger die Ausbildung politisch-gesellschaftlicher Missionare als die individuelle Förderung einzelner Kinder im Zeichen einer möglichst optimalen Ausnutzung der verfügbaren gesellschaftlichen Ressourcen und einer zeitgemäßen Elitenbildung. Eine neue Aufmerksamkeit auf Eignung und Begabung sollte die Nation im internationalen Konkurrenzkampf stärken und zugleich zum inneren Frieden beitragen, indem jeder – und jede – unterstützt wurde, dem seiner und ihrer Begabung und Befähigung entsprechenden Platz in der Gesellschaft zu finden. Diese Debatten standen nicht im Gegensatz zur neuen christlichen Persönlichkeitsbildung, doch setzten sie insofern einen Kontrapunkt, als sie in letzter Konsequenz weniger auf eine religiöse denn eine sozioökonomische Gesellschaftsreform zielten. In ihrer Konsequenz implizierten sie eine stärker nach individueller Befähigung und Leistung organisierte Gesellschaft.83 In der Praxis vermischten sich allerdings beide Diskussionsstränge. Mit der nationalen Krise von 1898 wurden Berufswahl und Berufsausbildung auf neue Weise zu einem gesellschaftlichen Problem, das auch die kirchennahen Erzieher intensiv beschäftigte. Das Fehlen unternehmerischer Persönlichkeiten und die mangelnde Nutzung der vorhandenen Talente erschienen als wichtige Symptome des spanischen Niedergangs. Auch der ökonomische Wandel, seine neuen Anforderungen an Berufsqualifikationen und die Öffnung neuer Berufsfelder bildeten einen Hintergrund der 83
Es soll schon hier darauf verwiesen werden, dass es gerade dieser Punkt war, der besondere Resonanz in großen Teilen der katholisch orientierten Familien der Mittel- und Oberschichten fand. Siehe Kapitel 9.
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Debatten um Begabung und Eignung. Besonders die Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs in den 1920er Jahren eröffneten neue Aufstiegschancen, führten aber auch zu einer Verunsicherung darüber, wie diese Chancen am besten zu nutzen seien. Zudem verkomplizierte sich für Eltern die Berufswahl ihrer Kinder angesichts des Niedergangs traditioneller Berufe und der Etablierung neuer Tätigkeitsfelder. Es ist vor diesem Hintergrund nicht erstaunlich, dass die Revista de Educación Familiar die Beschäftigung mit Fragen der beruflichen Qualifikation (las carreras) als eines von drei Schwerpunktthemen einführte. Tatsächlich nahmen Artikel über die Erkennung und Förderung von Begabungen einen großen Teil der Zeitschrift ein.84 Die Aufsätze richteten sich zunächst an einzelne Eltern, die sie bei der Förderung und Zukunftsplanung ihrer Kinder unterstützten wollten, doch hatten sie auch eine deutliche gesellschaftspolitische Stoßrichtung. Der Erste Weltkrieg schien ihnen einen handfesten Beleg dafür zu liefern, dass sich die Nationen Europas in einem zähen Kampf miteinander befänden, aus welchem nur diejenigen Nationen erfolgreich heraustreten würden, denen es gelänge, eine tatkräftige, fähige Elite zu schaffen: „Die Nation, die leben will, die den Platz einnehmen will, auf den sie ein Anrecht hat, [. . . ] wird diejenige sein, welche die besten Eliten hat“.85 Um dieses zu erreichen, galt es zunächst in Kirche, Staat und bei den Eltern ein Bewusstsein für eine angemessene Förderung der kindlichen Anlagen zu schaffen. Entsprechend dem neuen Leitbild energischer Persönlichkeiten sollte die Elitenbildung „realistisch“ sein und das hieß nicht nur auf eine innere Charakterbildung ausgerichtet sein, sondern auch auf eine unternehmerische Tätigkeit. Die neue Elite hatte nach Vorstellung der Beiträger zur Revista de Educación Familiar weniger klassische und nunmehr zunehmend weltfremd erscheinende humanistische Karrieren zu wählen als vielmehr ökonomisch-technische.86 Die Debatten kreisten zunächst um Fragen der Berufswahl und Forderungen nach einer stärker „realistischen“ Ausrichtung des Sekundarschulwesens. Mit Beginn der 1920er Jahre prägten dann zunehmend differentialpsychologische Thesen und Forschungsergebnisse die katholischen Diskussionen. Die Vielzahl der praktischen Erziehungsprobleme, so argumentierte der Jesuit und Schulpsychologe Fernando María Palmés, lasse sich nur auf der Grundlage einer genauen Erforschung der individuellen Kinderpsyche und ihrer Tendenzen angemessen lösen, deren Ziel eine „perfekte Psychographie des Schülers“ sein müsse. Auch andere katholische Reformer sahen die „Notwendigkeit, Begabung zu erforschen“ und warnten davor „die Fortschritte der experimentellen Psychologie mit ihren Tests, Koeffizienten und 84 85 86
Division de la Revista de Educación Familiar, RdEF 1, Jan. 1916. Siehe als Beispiel hier nur: Sybil, Medios para discernir las aptitudes intelectuales del niño, RdEF 23, Jan. 1918. Sybil, El problema de las „élites“, RdEF 12, Jan. 1917. Siehe auch: X., Hacia qué carrera deben orientar a sus hijos las clases directoras, RdEF 2, Feb. 1916. Ebd.; P. Sicart, Útil empleo de las vacaciones, RdEF 28, Juni 1918.
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psychologischer Profilbildung“ gering zu schätzen.87 Die Erforschung und der pädagogische Umgang mit Begabungen (aptitud/vocación) wurden zu einem integralen Bestandteil katholischer Bildung und Erziehung. Damit wurde ein neues Gliederungskriterium in die Kindheitsdebatten eingeführt, das der Tendenz nach quer zu Unterscheidungen nach sozialer Schicht und Geschlecht stand. Es ging einerseits um die Bildung einer neuen gesellschaftlichen Führungselite, andererseits um die Umgestaltung der Gesellschaft nach meritokratischen Gesichtspunkten. Alle in der Bevölkerung schlummernden Begabungen sollten geweckt und möglichst weitgehend für die Gesellschaft fruchtbar gemacht werden. Die Schulinspektorin Josefina Álvarez hielt es beispielsweise Ende 1934 für die Pflicht der Schule gegenüber der Gesellschaft wie gegenüber dem einzelnen Kind, auf der Basis von psychologischen Untersuchungen den Schülern gemäß ihrer je speziellen Begabungen den für sie am besten geeigneten Berufsweg zu weisen. Álvarez plante für den Schulbezirk, für den sie verantwortlich war, die Einführung von psychologischen Dossiers über die einzelnen Schüler an den Schulen, in denen einerseits Arbeiten gesammelt werden sollten, in denen die Kinder „eine Selbsterforschung ihrer Begabungen vollzogen, indem sie verschiedene psychologische und wissenschaftliche Probleme lösten, andererseits psychologische Testbögen, anhand derer die Lehrer „den psychologischen Typ des Schülers erkennen können, dessen Erkenntnis für uns so wichtig ist, um eine Berufsorientierung zu geben, der sich die Schule jeden Tag mehr widmen muss“.88 Auch die Einrichtung psychologischer Beratungs- und Berufsberatungsstellen an katholischen Privatschulen verdeutlicht den Stellenwert, den die Differentielle Psychologie seit dem Ersten Weltkrieg im Katholischen Erziehungsmilieu zu erringen vermochte.89 In dieser neuen Ausrichtung rezipierten die katholischen Erzieher intensiv die neue Differentielle Psychologie wie sie seit 1900 entwickelt und besonders in den USA in Form unterschiedlicher Intelligenztests gesellschaftlich wirksam geworden war.90 Die katholischen Pädagogen beobachteten sehr genau die Versuche von Psychologen wie Alfred Binet, Théodore Simon, Lewis M. Terman, William Stern und ihren Nachfolgern, Instrumente zur exakten Messung der kindlichen Psyche zu entwickeln.91 87
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Fernando María Palmés, La organización psicológica de los Establecimientos de enseñanza, Atenas 1, 15.4.1930; Tusquets, Educación nueva, Atenas 33, Okt. 1933; Hispánicus, La Pedagogía de la Religión. Con ocasión de un nuevo libro, Atenas 51, Mai 1935. Josefina Álvarez, Plan del hacer escolar para el curso 1934–35, Atenas 45, Nov. 1934. Siehe weiterhin: Dies., Estudio del niño español, Atenas 48, Feb. 1935. Fernando María Palmés, La organización psicológica de los Establecimientos de enseñanza, Atenas 1, 15.4.1930. Umfassender: Ders., La diagnosis de la vocación profesional en los Colegios de la Compañía de Jesús, Barcelona 1929. Zur Etablierung und gesellschaftlichen Auswirkungen siehe bes. Carson, Measure. Weiterhin: Ders., Culture; Roberts, Character; Wooldridge, Measuring. Vgl. nur: Rez. Psicología Pedagógica, Barcelona, Editorial F.T.D 1932, Atenas 23, 15.10.1932; Rez. R. Nihard, La Méthode des tests, Juvisy 1932, Atenas 29, 15.4.1933; Rez. Juvenal de Vega, El problema de las selección y protección de los niños superdotados,
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Die Begeisterung für die neuen Möglichkeiten der Analyse und Beeinflussung der kindlichen Psyche teilten die kirchennahen Pädagogen mit ihren progressiven Kontrahenten. Das Thema der Individual- und Begabtenförderung war ein zentrales, bisher wenig beachteter Gegenstand der progressiven Erziehungs- und Gesellschaftsreformdebatten der 1930er Jahre. Auch die liberalen Reformer im Umkreis des Freien Bildungsinstituts und der Revista de Pedagogía debattierten seit dem Ersten Weltkrieg intensiv den pädagogischen Nutzen von Intelligenztests. Sie verbanden die Analyse verschiedener Testmethoden und die Wiedergabe neuer Erkenntnisse über die kindliche Psyche mit der Hoffnung, auf dem Wege der Differentiellen Psychologie Bildung und Erziehung besser an den unterschiedlichen Voraussetzungen des einzelnen Kindes ausrichten und diesem dadurch bessere Chancen individueller Entfaltung geben zu können.92 In der Diskussion der neuen Ansätze lassen sich über die politischen Lagergrenzen hinweg deutliche Gemeinsamkeiten feststellen. Progressiven wie kirchennahen Pädagogen ging es in den 1920er und 1930er Jahren zunächst um das Problem der Anpassung des Unterrichts an die unterschiedlichen individuellen Begabungen der einzelnen Schüler und deren möglichst optimale Förderung, darum, „jedes Kind nach den Begabungen und Besonderheiten seines Individualtypus“ zu behandeln beziehungsweise, wie ein katholischer Pädagoge formulierte, „die Erziehungsarbeit zu individualisieren“.93 Ebenso wie die Katholiken rezipierten die progressiven Pädagogen in diesem Zusammenhang umfassend die Entwicklung von Intelligenztests, planten die Erstellung psychologischer Dossiers und Karteien und dachten über Möglichkeiten von Eignungstests im Rahmen einer umfassenden Berufsberatung nach.94 Weiterhin ähnelten sich die Ansätze in der Verknüpfung verbesserter Berufsberatung des einzelnen Schülers mit gesellschaftspolitischen Erwägungen einer besseren Nutzung der Humanressourcen des Landes sowie der Formung leistungsstarker nationaler Eliten über eine Förderung von Hochbegabten.95 Die Ähnlichkeiten zeigen sich sehr deutlich beispielsweise in der Rezeption des Buches des
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Burgos 1932, ebd.; Josefina Álvarez, Estudio del niño español, Atenas 42, Juli 1934; La „Sección de Enseñanza de A.C. de Vizcaya“ ha organizado una serie de Cursillos para Maestros, Atenas 46, Dez. 1934; Dr. Vallejo-Nájera, Los „tests“ de anormales, zit. nach: Josefina Álvarez, Cuarta Semana de Estudios Pedagógicos: Pinceladas, Atenas 47, Jan. 1935. Siehe nur als frühe Beispiele: Domingo Barnés, La psicología y la pedagogía según Münsterberg, in: BILE 39 (1915), S. 5–11; Juan Vicente Viqueira, Los métodos del examen de la inteligencia, BILE 39 (1915), S. 100–107, 134–35. B. Arrabal, Ensayo sobre la imaginación de los niños, in: RdP 1 (1922), S. 169–174. Alfredo Samonati, Escuelas experimentales, laboratorios de Paidología y clínicas paidológicas, BILE 40 (1916), S. 4–11; A.R. de A., Sugestiones para la organización de una escuela unitaria. El programa escolar, Atenas 60, April 1936. Siehe nur: Pablo Otero, La orientación Profesional y la Escuela, in: RdP 12 (1933), S. 108– 114. La Educación de los Supernormales, BILE 49 (1925), S. 242–45.
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Schulinspektors Juvenal Vega y Relea zum Thema, der die Einrichtung einer staatlichen Begabtenförderung und eines Stipendiensystems in Spanien von der Grundschule an vorschlug. Sowohl die liberal-republikanische Revista de Pedagogía als auch Atenas besprachen die Vorschläge äußerst positiv.96 Schließlich verfochten beide Seiten das Recht von Experten auf der Grundlage einer Eignungsprüfung Kinder auch gegen deren Willen in für sie vermeintlich objektiv geeignete Berufsfelder zu führen. Kein Kind, so der umtriebige Arzt und Psychologe César Juarros in der Revista de Educación Familiar, dürfe für einen Beruf ausgebildet werden, das nicht seinen Anlagen entspräche.97 Auch hinsichtlich der Einbettung der Differentiellen Psychologie und Pädagogik in umfassendere gesellschaftspolitische Programme lassen sich neben wichtigen Unterschieden auch Gemeinsamkeiten erkennen. Beide Reformgruppen wollten die Fähigkeiten und die Leistungskraft des Einzelnen für die Gesellschaft besser nutzen. Während den katholischen Reformern dabei jedoch ein organisches, hierarchisches Gesellschaftsbild vor Augen stand, in dem eine Leistungselite den Ton angab, vertraten progressive Reformer eher die Auffassung einer Abschwächung sozialer Hierarchien durch Leistung. Viele progressive Pädagogen verbanden Begabtenförderung mit Entwürfen einer neuen dynamischen meritokratischen Leistungsgesellschaft als Gegenentwurf zu einer starren Gesellschaft ererbten Ranges98 Der linksliberale Pädagoge Jesús Sanz (1897–1936) argumentierte beispielsweise 1930 in der Zeitschrift des ILE, dass eine Begabtenförderung, wie sie viele europäische Länder seit dem Ersten Weltkrieg institutionalisierten, einerseits dem staatlichen Interesse gehorche, „die materiellen und geistigen Energien besser für den inneren Wiederaufbau“ zu nutzen, andererseits aber auch ein „Gefühl sozialer Gerechtigkeit“ im Volk befriedige, dass „freie Bahn für das Talent“ fordere. Staatliche Förderinstrumente, vor allem aber die Einführung der klassenübergreifenden Einheitsschule (escuela única) sollten dazu beitragen, dass nicht mehr das Herkommen und die Finanzkraft des Elternhauses, son96
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Libros: Juvenal Vega y Relea, El problema de la selección y protección de los niños superdotados, Burgos 1932, in: RdP 12 (1933); Rez. von: Juvenal de Vega, El problema de las selección y protección de los niños superdotados, Burgos 1932, Atenas 29, 15.4.1933. Der Rezensent von Atenas sah allerdings die Gefahr politischer Einflussnahme auf die Stipendiatenauswahl. César Juarras, La Crianza del Hijo: XI. Educación e Instrucción, RdEF 30, Sep. 1918. Dieselbe Forderung findet sich in liberalen Zeitschriften: Bonifacio Arrabal, Sobre las preferencias de los escolares, RdP 3 (1924), S. 449–453. Siehe hier nur als Auswahl: Gervasio Manrique, Una Escuela para niños bien dotados, in: RdP 12 (1933); Esteban Pinto, La educación de los bien dotados, in: RdP 12 (1933), S. 262–66; Jesús Sanz, La Seleccio dels Ben-Dotats, RPP 2 (1933), S. 165–175; Bernad Morales, Psicobiología de las aptitudes, RdP 14 (1935), S. 119–126¸ Clasicos de la Pedagogía: La selección espiritual según Fichte, BdAMM 18, 1.1.1936. Die Debatte wurde auch in der liberalen und republikanischen Presse intensiv geführt: Kommentar: No basta crear escuelas, El Sol, 19.4.1933; Las Letras: Vocaciones. Anunciación del tema, El Sol. 21.8.1933; Alberto Jimenez Fraud, Vocaciones, El Sol, 24.9.1933;
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dern allein die individuelle Begabung über die gesellschaftliche Position des Einzelnen bestimmten.99 Die Förderung von Begabten, gerade auch aus den Unterschichten, durch den Staat war in dieser Hinsicht eine Maßnahme zur Durchsetzung einer demokratischen Gesellschaftsordnung, die dem Einzelnen individuelle Entfaltungs- und Aufstiegsmöglichkeiten bot. Allerdings war auch vielen liberalen Reformern das Konzept einer Leistungselite nicht fern. Sie hielten die „Bildung von leitenden Minderheiten (minorías directoras)“ für eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe gerade der neuen Republik.100 Bezüge zur Demokratie fehlten demgegenüber in den katholischen Debatten, was sich auch in ihrer strikten Ablehnung staatlicher Einheitsschulen niederschlug. Die kirchennahen Reformer entwarfen mehr das Bild einer funktional differenzierten, aber hierarchisch strukturierten Gesellschaft, in der schon mit Beginn der Bildungslaufbahn jeder gemäß seinen naturgegebenen Begabungen und Fähigkeiten gefördert werden sollte. Auch die Katholiken wollten eine Gesellschaft der Leistungsstarken und Fähigen, doch hielten sie dafür eine möglichst breite Differenzierung von Bildungsangeboten für notwendig. Ihnen ging es nicht um die Überwindung der Klassenstruktur der spanischen Gesellschaft als solcher, sondern um die Herausbildung einer vermeintlich gerechteren, da auf individuellen Begabungen und Fähigkeiten beruhenden Klassenordnung. Dass in der Praxis vornehmlich die Kinder aus zahlungskräftigen Ober- und Mittelschichtenfamilien für gesellschaftliche Führungsaufgaben ausgebildet wurden, fand in den Debatten jedoch keine Berücksichtigung.101 Trotz solcher Widersprüche zeigt sich jedoch auch hier, dass die katholischen Bildungskreise keineswegs intransigent eine vormoderne Gesellschaftsund Bildungsordnung verteidigten, sondern weitreichende Gesellschaftsreformprojekte diskutierten. Zwar ging es den Experten nicht um die Etablierung einer demokratischen Ordnung, doch barg die katholische Debatte um Eignung und Begabung kaum weniger gesellschaftspolitischen Sprengstoff als die Pläne ihrer progressiven Kontrahenten. Die zahlreichen 99
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Jesús Sanz, La selección de los niños „bien dotados“, BILE 54 (1930), S. 1–7. Siehe aus der umfangreichen Diskussion nur: Antonio Linares Maza, Diagnóstico de niños anormales y superdotados, RdP 10 (1931), S. 412–17; A. Ballesteres, Rez. von Leoni Kaseff , A Educação dos Super-Normaes, Río de Janeiro 1931, in: RdP 11 (1932); José Rocamora, Leitartikel: Hacia la Escuela Unica, Heraldo de Madrid, 19.5.1931; Leitartikel: El problema de la enseñanza nacional visto por D. Marcelino Domingo y explicado a los lectores de El Sol, El Sol, 28.7.1931. Zu Person und Wirken von Jesús Sanz siehe: Joan Soler Mata, La escuela a la medida en el pensamiento de Jesús Sanz Poch (1897–1936), in: María Reyes Berruezo Albéniz/Susana Conejero López (Hrsg.), El Largo Camino hacia una Educación Inclusiva: la Educación Especial y Social del Siglo XIX a nuestros días (XV Coloquio de Historia de la Educación), Pamplona-Iruñea 2009, S. 685–696. Gervasio Manrique, Una Escuela para niños bien dotados, in: RdP 12 (1933). Josefina Álvarez, Plan del hacer escolar para el curso 1934–35, Atenas 45, Nov. 1934; Isidro Almazán, Problemas de pedagogía práctica, zit. nach: Cursos de verano: Programa de la Sección de Pedagogía, Atenas 63, Juli 1936.
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inhaltlichen Berührungspunkte weisen darüber hinaus darauf hin, dass katholische Bildung und Erziehung keine klar abgrenzbare Einheit bildete, die liberal-progressiven Entwürfen diametral gegenüberstand, sondern dass im Einzelnen eher fließende Übergänge und ähnliche Antworten auf gemeinsame Fragen das Bild bestimmten. Schließlich konnte hier gezeigt werden, dass katholische Bildung und Erziehung nicht nur durch das politische Rechristianisierungsprojekt geprägt wurde. Die Debatten um Begabung und Eignung standen nicht im offenen Widerspruch zur religiösen Rückeroberung Spaniens, wiesen aber eine gesonderte Dynamik auf, die über den engeren religiösen Bereich hinauswies.
II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit
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Die katholischen Reformer agierten in einem öffentlichen Raum, in dem sich Kindheitsentwürfe rapide veränderten. Die katholischen Reformer waren in vielfältiger Weise in öffentliche Debatten eingebunden, mussten auf sie reagieren und wurden von ihnen geprägt. Um die Reichweite, die Dynamik und die Konsequenzen katholischer Kindheits- und auch Gesellschaftsreform zu verstehen, ist es deshalb notwendig, die Thematisierung von Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit Madrids in den Blick zu nehmen.102 Fragen der Gestaltung von Kindheit beschäftigten nicht nur die nationale Politik und neue Expertengruppen. Sie standen vielmehr auch im Mittelpunkt öffentlicher Debatten, in denen Probleme von Kindheit diskutiert und Zukunftsvisionen von Kindheits- und Gesellschaftsreform entworfen wurden. Die politisch-weltanschaulichen Bewegungen wirkten auf diese Debatten ein. Über städtische Veranstaltungen und Feste sowie über die Tages- und illustrierte Presse versuchten sie, ihre Vorstellungen von Kindheitsreform zu popularisieren und im Falle der katholischen Bewegung insbesondere auf die urbanen Mittelschichten als vermeintlichen Motor gesellschaftlichen Wandels einzuwirken. Doch die städtische Öffentlichkeit war keineswegs nur Resonanzboden und Plattform von politischen Expertengruppen. Sie entwickelte eigene Dynamiken, setzte der Kinderpolitik einen Rahmen und wirkte in vielfältiger Weise auf diese ein. Die illustrierte Presse, welche die Hauptquelle dieses Teiles der Arbeit bildet, entwickelte sich seit 1900 zu einem der wichtigsten Orte der Ausgestaltung, Popularisierung, aber auch der Problematisierung neuer Modelle von Kindheit. Sie nahm einen Mittelraum zwischen den wissenschaftlich-politischen Auseinandersetzungen und dem Alltagsleben einzelner Kinder und Familien ein, dem als Repräsentations-, Handlungs- und Reflexionsfeld hohe Bedeutung zukam. Die populären Illustrierten und führenden Tageszeitungen transportierten stets politische Werthaltungen, mussten als kommerzielle Unternehmen aber immer auch auf die Interessen und Wünsche ihrer Leserschaft Rücksicht nehmen. In ihr trafen und mischten sich politisch-gesellschaftsreformerische Impulse „von oben“ mit Vorstellungen, Wünschen, Hoffnungen und Ängsten von Gesellschaftsgruppen „von unten“ sowie kommerziellen Interessen. Es braucht kaum erwähnt zu werden, dass die massenmedialen Darstellungen von Kindheit nur sehr bedingt Auskünfte über das Leben realer Kinder geben. Sie stellen kulturelle Konstrukte dar, in die Darstellungskonventionen, 102
Vgl. als ausgezeichnete Geschichte der urbanen Öffentlichkeit Madrids: Parsons, Cultural History. Siehe auch: Michael Ugarte, Madrid 1900. The Capital as Cradle of Literature and Culture, Pennsylvania 1996. Mit einem engeren politik- und sozialgeschichtlichen Schwerpunkt: David Ringrose u. a., Historia de Madrid, Berkeley 1994; Santos Juliá, Madrid, 1931–1934. De la Fiesta Popular a la Lucha de Clases, Madrid 1984, bes. S. 41–92. In seiner rein chronologischen Struktur enttäuschend und nur als Quellensammlung hilfreich: Federico Bravo-Morata, Historia de Madrid. Bd. 4: De la Dictadura al Madrid de la República, San Fernando de Henares 2002. Siehe auch als innovative, über Madrid hinausgreifende Analyse: Serrano/Saliiny, Temps de Crise.
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politische und kommerzielle Interessen, schließlich gesellschaftliche Hoffnungen und Ängste einflossen. Vor allem muss berücksichtigt werden, dass die Illustrierten Neuentwicklungen, die jedoch für die zeitgenössische Gegenwart nicht repräsentativ waren, aufgrund ihres Neuigkeitswertes besonders herausstellten. Diese Erkenntnisse bedeuten aber nicht, dass eine Erforschung der medialen Repräsentationen von Kindheit irrelevant oder gar irreführend ist, da sie lediglich verzerrte und geschönte Bilder von spanischer Kindheit zu Tage fördere und diese im schlimmsten Fall unreflektiert als Abbild der zeitgenössischen Wirklichkeit nehme. Die in Reportagen, Abbildungen, Werbeanzeigen, fiktionalen Kindergeschichten und Kommentaren entworfenen Kinderbilder sind für den Historiker aussagekräftig und besaßen politische Relevanz, da sie gesellschaftliche Leitbilder wünschenswerter Kindheit entwarfen und reflektierten. Die populäre Presse bildete seismographisch den Wandel der Stellung von Kindern in den Familien und in der urbanen Gesellschaft ab, doch war sie auch selbst ein unmittelbarer und mittelbarer Faktor von Veränderung. Sie prägte die Erwartungen von Zeitgenossen – Politkern, Kinderexperten und Eltern – wie Kindheit auszusehen habe und wirkte dadurch auch auf die Gestaltung konkreter Kinderpolitik und ihre Zielsetzung ein. Die medialen Darstellungen übten Druck auf die politischen Akteure aus, Kinder auf spezifische Weise zu fördern und zu schützen. Eine Analyse des Wandels medialer Repräsentationen und Diskussionen über Kindheit gibt somit nicht nur Auskünfte über die mediale Reichweite politischer Reformprojekte und des neuen entwicklungspsychologischen Wissens, sondern darüber hinaus Einblicke in die komplizierten Interaktionen von urbaner Öffentlichkeit und Politik in der Zwischenkriegszeit. Im Folgenden sollen die wirkmächtigen Dynamiken der urbanen Öffentlichkeit als Rahmen und Faktor katholischer Kindheitsreform genauer untersucht werden. Primäres Ziel ist es, Veränderungen von Debatten und Repräsentationen von Kindern herauszuarbeiten und auf ihre politischen Konsequenzen hin zu befragen. Weiterhin sollen Tendenzen einer Politisierung der Kindheitsdebatten beziehungsweise deren Grenzen aufgespürt werden. Standen sich in den 1930er Jahren in den Medien konträre Kindheitsmodelle und Reformvorschläge gegenüber oder bestimmte eher ein weitgehender Konsens über gesellschaftliche Leitbilder von Kindheit und Kinderpolitik die Lage? Trugen die öffentlich-medialen Darstellungen zu einer politisch-weltanschaulichen Radikalisierung bei oder schwächten sie diese im Bereich von Kinderpolitik und Kindheitsreform in dem Maße eher ab, in dem sich Leitbilder moderner, unpolitischer Kindheit durchsetzten? In Madrid, dem wichtigsten Zentrum der spanischen Medienindustrie sind die Interaktionen von Stadtgesellschaft und Medien besonders gut greifbar. Selbst die großen nationalen Illustrierten widmeten der Metropole in ihrer Berichterstattung einen deutlich überproportionalen Anteil an Aufmerksamkeit und bildeten deshalb Teil der urbanen Öffentlichkeit der Hauptstadt. Die Madrider Stadtgesellschaft wurde in ihnen wie in einem
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Schaufenster ausgestellt und erhielt dadurch sowohl eine Vorbildfunktion für große Teile der spanischen Mittelklassen als auch eminente Bedeutung als Bezugspunkt nationaler Kinderpolitik.103 Die urbane Öffentlichkeit war nicht homogen, sondern umfasste verschiedene Strömungen und Teilöffentlichkeiten. Um einen repräsentativen Eindruck von der Bandbreite der Debatten zu erhalten, wurde in der Auswertung der Presse ein breiter Ansatz gewählt, wobei aufgrund der Beschränkung der Arbeit auf das städtische Bürgertum die Arbeiterpresse ausgeklammert wurde. Das Augenmerk lag dabei neben den Tageszeitungen El Sol, die dem liberal-bürgerlichen und pro-republikanischen Spektrum zugeordnet werden kann, und ABC, als wichtiger rechtskonservativer und republikkritischer Zeitung, besonders auf der illustrierten Presse, da diese Kindheitsangelegenheiten besonders viel Raum widmete und zugleich die publizistische Form mit der vielleicht größten Reichweite im städtischen Bürgertum Madrids war.104 Versucht man, die Ende der 1920er Jahre einen erneuten Aufschwung nehmende illustrierte Presse politisch-weltanschaulich einzuordnen, so ergeben sich folgende, grobe Einteilungen. Am weitesten auf der politischen Linken stand Crónica, deren politische Berichte zumeist eine links-republikanische Gesinnung erkennen lassen. Politisch gemäßigter, aber im Ganzen republikfreundlich eingestellt waren El Mundo Gráfico und Estampa. Die seit 1911 erscheinende El Mundo Gráfico des Verlages Prensa Gráfica stand nach 1931 den politisch gemäßigten Radikalrepublikanern um Alejandro Lerroux nahe und widmete zahlreiche Reportagen den führenden Politikern der Republik.105 Auch Estampa, die nach ihrer Gründung im Juni 1928 zunächst deutlich die Diktatur hofiert hatte, unterstützte nach 1931 die Republik, bemühte sich aber gleichzeitig, eine politisch diverse Leserschaft von linksliberalen bis hin zu monarchistischen Ansichten an sich zu binden, indem sie tagespolitische Fragen wenig berührte und politische Reportagen sich sowohl der politischen Rechten als auch der republikanischen Linken widmeten.106 Das konservative, monarchiefreundliche und Distanz zur Republik wahrende Bürgertum war der Adressatenkreis der traditionsreichen Illustrierten 103 104
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Zur Vorbildfunktion Madrids vgl. Pozo Andrés, Escuelas para Pobres, hier S. 326. Als faktenreicher Überblick über die Pressegeschichte hilfreich ist María Cruz Seoane/María Dolores Sáiz, Historia del Periodismo en España, Bd. 3: El siglo XX: 1898– 1936, Madrid 1996. Siehe weiterhin: Justino Sinova, La Prensa en la Segunda República Española. Historia de una Libertad Frustrada, Barcelona 2006. Eine gute Analyse des Wandels der politischen Haltung von ABC unternimmt: Francisco de Luís Martín, El Grupo Monaquico de „ABC“ en la Segunda República Española (1931–1933), Salamanca 1987. Siehe nur: Indalecio Prieto. La figura política y social española de máxima actualidad, El Mundo Gráfico, 10.6.1936. Zur Frühzeit: Celebrando el V. aniversario del Nuevo Régimen, Estampa, 18.9.1928. Zur politischen Offenheit während der Republik siehe nur: La Mujer al servicio de la República, Estampa, 25.4.1934; El General Sanjuro habla en este número de su candidatura a la presidencia de la república, Estampa, 1.2.1936.
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Blanco y Negro, die seit 1891 wie später ABC (seit 1902) im Verlag Prensa Española erschien. In ihren politischen Reportagen wandte sie sich oft scharf gegen die republikanischen Kräfte und brachte in den Jahren vor Ausbruch des Bürgerkrieges immer wieder Sympathien für das Italien Mussolinis und das nationalsozialistische Deutschland zum Ausdruck.107 Schließlich muss die seit Januar 1934 erscheinende Illustrierte Esto erwähnt werden, mit der die spanischen Kirche ihren medialen Einfluss zu vergrößern versuchte. Die Zeitschrift verfocht in ihren politischen Berichten einen oft militanten nationalen und religiösen Kurs. Zusammen mit der Frauenzeitschrift Ellas, die allerdings einen deutlich geringeren Leserkreis hatte, bildet Esto somit einen deutlichen politischen und religiösen Gegenpol zu Crónica.108 Parteipolitische Erörterungen von Kindheit sind in den Illustrierten selten. Die meisten Kommentare und Reportagen lassen sich nicht eindeutig politisch zuordnen, was nicht zuletzt auf kommerzielle Interessen der Zeitschriften an einer größtmöglichen Leserschaft zurückzuführen ist. Doch bedeutet das nicht, dass die öffentliche Reflektion über Kindheit keine politischen Dimensionen gehabt hätte. Die Beschreibungen von Kindheit legten vielmehr implizit bestimmte politische Handlungen nahe. Sie stellten spezifische Anforderungen an die politischen Akteure und strukturierten deren Handlungsfeld. Es wird im Folgenden zu analysieren sein, welche Unterschiede sich in der Reflexion über Kindheit zwischen republikanischer und republikskeptischer Presse erkennen lassen und wo die Grenzen zwischen unterschiedlichen Kindheitsentwürfen verliefen. Um die aufgeworfenen Fragen zu beantworten, wendet sich dieses Kapitel verschiedenen Facetten urbaner Öffentlichkeit zu. Zunächst wird anhand von öffentlichen Kinderfeiern und Darstellungen hochbegabter Kinder ein fundamentaler Wandel in der öffentlichen Thematisierung von Kindern verfolgt. Anschließend wendet sich die Darstellung allgemeinen Kindheitsbildern zu, wie sie sich in Werbeanzeigen, fiktionalen Kindergeschichten und Reflexionen über Kindheit besonders anlässlich des Dreikönigstages finden lassen. Geschichten und Kommentare geben Einblicke in die Durchsetzung eines neuen, die publizistischen Lager überspannenden Leitbildes von Kindheit, das den Ausgangspunkt für hochfliegende Hoffnungen von Gesellschaftsreform, aber auch für neue Ängste bildete. Schließlich soll anhand der sich wandelnden öffentlichen Debatten über Kinderreform und neue Kindereinrichtungen kon107
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Siehe besonders die dem nationalsozialistischen Deutschland gewidmete Sondernummer der Zeitschrift vom 26.1.1936. Siehe dort besonders die Reportagen: La Verdad sobre el Nacional-Socialismo und La lucha de Alemania por su igualdad de derecho y honor nacional. Siehe weiterhin: España y Anti-España, Blanco y Negro, 2.2.1936; El espíritu de la joven alemania, Blanco y Negro, 15.3.1936. Siehe nur: Acción Católica, Esto, 25.1.1934; Un fugitivo ruso a través de la Europa en llamas, Esto, 10.5.1934. Zur Propagierung von Esto als katholische Illustrierte: „Esto“. La Revista Ideal, Boletín Bonanova 10, Aug. 1935. Zur politischen Ausrichtung von Ellas: J.A. Primo de Rivera, Ellas, 4.12.1934.
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kreter nach den politischen Auswirkungen neuer Kindheitsmodelle und neuer Kinderschutzprojekte gefragt werden. Das Kernargument des folgenden Kapitels ist es, dass gerade die Durchsetzung neuer, moderner und unpolitischer Kindheitsentwürfe in der medialen Öffentlichkeit den Handlungsdruck auf die politischen Akteure enorm erhöhte und dadurch eine Politisierung von Kindheits- und Gesellschaftsreform auf kommunaler und nationaler Ebene förderte.
1. Von der privaten zur öffentlichen Kindheit: Tendenzen nach 1900 Unter dem Eindruck nationaler Krise und unter dem Einfluss regenerationistischer Ideen gewannen Kinder nach 1898 eine neue öffentliche Bedeutung.1 Einen guten Einblick in die Veränderungen bieten zunächst die Etablierung und der Wandel von öffentlichen Kinderfeiern am Dreikönigstag (6. Januar) seit 1898, der immer mehr als „Tag des Kindes“ begangen wurde. Doch der 6. Januar war nicht die einzige Gelegenheit, in der Kinder in die städtische Öffentlichkeit traten. In einem zweiten Schritt weitet sich deshalb die Darstellung auf weitere Kinderfeiern in Madrid aus und versucht, unterschiedliche Antriebskräfte dieser Veranstaltungen zu identifizieren. Schließlich soll anhand der sich wandelnden öffentlichen Thematisierung von Wunderkindern eine generelle Aufwertung von Kindheit als Gegenstand öffentlichen Engagements beschrieben werden.
1.1 Vom populären Spektakel zum „Tag des Kindes“: Der Dreikönigstag (Los Reyes Magos) Anders als im deutschsprachigen Raum wurde in Spanien schon im 19. Jahrhundert das liturgische Fest der Epiphanias am 6. Januar, der „día de los Reyes Magos“, als Familien- und Volksfest gefeiert, in dem der Einzug der drei heiligen Könige nach Bethlehem in ritueller Form nachgespielt wurde. Im Mittelpunkt dieser Tradition stand die nächtliche Bescherung artiger Kinder durch die Könige mit Geschenken und das Hinterlassen von Kohle für unartige Kinder als Mahnung zur Besserung.2 Am Ende des 19. Jahrhunderts lassen sich zwei Arten der Feiern feststellen. Zunächst hatte sich die Ankunft der Könige in den Mittelschichten im Laufe des 19. Jahrhunderts als Anlass von Familienfeiern etabliert. Diese Feiern waren um 1900 gesellschaftlich fest verankert, gestützt von familiären Traditionen und einem dichten Beiwerk von Geschichten und Legenden, deren Mittelpunkt das gemeinsame Warten auf den nächtlichen Besuch der morgenländischen Könige und die Beschenkung der Kinder mit Spielzeug bildete.3 Neben diesen privaten Familienfeiern, 1 2
3
Vgl. auch Borrás Llop, Historia, S. 55. Eine zeitgenössische Darstellung der Verbreitung des Festes in der Welt findet sich in: José L. Barberán, La fiesta de los Reyes Magos y la del Arbol de Navidad, El Mundo Gráfico, 5.1.1932. Zur besonderen Bedeutung der Feiern in Spanien: Barcelona: Los barceloneses gastan más de dos milliones de pesetas en juguetes, La Vanguardia, 4.1.1936. Vgl. auch Borrás Llop, Historia, S. 50. Gabriel R. España, Juguetes de los Reyes, Blanco y Negro, 7.1.1899.
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die der bürgerlichen Weihnachtsfeier im deutschsprachigen Raum glichen, prägten vor 1900 jedoch auch öffentliche Rituale diesen Tag, in denen Kinder nur einen Nebenrolle spielten. Die Nacht vom 5. auf den 6. Januar bildete in vielen Städten den Rahmen karnevalesker, unorganisierter Umzüge durch die Straßen. Die Illustrierte El Mundo Gráfico beschrieb diese populären Rituale 1921 als schillerndes, Kinder gleichzeitig faszinierendes wie erschreckendes Spektakel, in der Gruppen von Jugendlichen und Neugierige in Erwartung der Könige mit Lichtern und Leitern in einem „wilden Treiben“ und „grotesker Farce“, die in retrospektiven Beschreibungen an vormoderne Jugendrituale erinnern, durch die Straßen zogen, Scherze mit Ortsunkundigen trieben, aber auch Kontakte mit dem anderen Geschlecht anbahnten. Dieser Brauch verlor jedoch am Ende des Jahrhunderts an Bedeutung, jedenfalls gehörte er aus der Perspektive von 1921 einer vergangenen Zeit an.4 Nach 1898 entwickelte sich aus den volkstümlichen und Familienfesten allmählich ein öffentliches Ritual, das die Fürsorge der Gesellschaft für die Heranwachsenden symbolisch inszenierte. Der 6. Januar nahm in den folgenden Jahrzehnten immer mehr Züge eines öffentlich begangenen „Tages des Kindes“, eines „Festes der Kindheit“ an, beides Bezeichnungen, die sich in der medialen Berichterstattung der 1930er Jahre eingebürgert hatten.5 Nach dem Willen der Protagonisten dieser Entwicklung sollte der Tag zu demjenigen Zeitpunkt im Jahr werden, den die spanische Gesellschaft ihren jüngsten Mitgliedern widmete. Tatsächlich inszenierten die Medien seit spätestens den 1920er Jahren den 6. Januar als einen Tag der gesellschaftlichen Grundsatzreflexion über Kindheit. Die Vergesellschaftung des Feiertages als Tag des Kindes hängt eng mit der Gesellschaftskrise von 1898 zusammen. Denn erst seit 1898 etablierte sich der Brauch, am 6. Januar in öffentlichen, karitativen Feiern Kindern aus den Unterschichten Spielzeug zu schenken. Die Entstehung und die Ausweitung dieser sich bis zum Ende unseres Untersuchungszeitraums als äußerst populär erweisenden Feiern lässt sich für Madrid erstaunlich gut beschreiben. Die Tradition geht auf eine Initiative der Verlagsgruppe Prensa Española zurück. Ende 1899 begann sie damit, unter wohlhabenden Bürgern Spenden einzuwerben, mit denen sie insgesamt 1 400 Spielzeuge erwarb, die sie am 6. Januar 1900 in einem Festakt in ihrem Verlagsgebäude an Armenkinder des umliegenden Stadtbezirkes verschenkte.6 Zwar hatten das Königshaus und die mächtigen Zivilgouverneure schon in
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Diego San José, Noche de Reyes, El Mundo Gráfico, 5.1.1921. Siehe etwa: José L. Barberán, La fiesta de la Reyes Magos y la del Arbol de Navidad, El Mundo Gráfico, 5.1.1932; El día de los niños, Blanco y Negro, 13.1.1935; Barcelona: El Día de los Niños, La Vanguardia, 7.1.1936. Los Niños Pobres en „Blanco y Negro“, Blanco y Negro, 6.1.1900. Zu dieser Feier als Traditionssetzung: La fiesta de los Reyes Magos en Madrid, Blanco y Negro, 14.1.1912. Tatsächlich findet sich in der Presse der 1890er Jahre kein Hinweis auf öffentliche Kinderfeiern am Dreikönigstag.
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den Jahren zuvor Spielzeug an Waisenkinder und andere bedürftige Bevölkerungsgruppen verteilt, doch mit der Veranstaltung von Prensa Española etablierten sich erstmals karitative Kinderfeiern als öffentliche Veranstaltungen, als zentraler Bestandteil des Dreikönigstages und als gesellschaftliches Ereignis der Hauptstadt. In den folgenden Jahren wiederholte der Verlag sein Kinderfest unter stetig wachsendem Zulauf an Spenden und Armenkindern, wozu sicher auch die ausführliche Berichterstattung in der verlagseigenen Presse beitrug. 1908 berichtet Blanco y Negro schon von 3 000 beschenkten Kindern und bis 1911 stieg die Zahl weiter auf 7 000.7 Seit 1910 erfuhren die Kinderfeiern einen neuen Schub, als weitere private Organisationen dazu übergingen, das Vorbild der Prensa Española öffentlichkeitswirksam zu imitieren. Im Januar 1912 stellten verschiedene Illustrierte übereinstimmend fest, dass die Kinderfeiern am 6. Januar „jedes Jahr eine größere Bedeutung sowohl in als auch außerhalb von Madrid“ erhielten.8 In dem genannten Jahr veranstalteten beispielsweise auch das Madrider Ateneo, die Vereine Fomento de los Artes, Hijos de Madrid, Juventud Liberal-Conservadora und der Círculo Unión Mercantil eigene karitative Feiern. Langsam erfolgte somit zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg eine Festschreibung des 6. Januar als Tag des Kindes. Waren nach 1900 einerseits anders als in späteren Jahren Kinder teilweise noch am 28. Dezember, dem Tag der Santos Inocentes beschenkt, andererseits aber auch andere Bevölkerungsgruppen wie Soldaten oder erwachsene Bedürftige als Empfänger von Geschenken ausgewählt worden, stand für Beobachter 1920 außer Frage, dass der 6. Januar ganz im Zeichen des Kindes stand.9 Private Initiatoren blieben auch in den 1920er Jahren die wichtigsten Förderer der karitativen Kinderfeste. Doch trat zunehmend auch die öffentliche Hand auf den Plan. Nachdem zunächst städtische und staatliche Repräsentanten, für Madrid lässt sich dies zuerst 1910 nachweisen, die privaten Wohltätigkeitsveranstaltungen als politische Bühne entdeckt hatten, gingen viele Kommunen allmählich dazu über, den privaten Veranstaltungen eigene Kinderfeste an die Seite zu stellen. Die Diktaturgründung von 1923 beförderte die unterschiedlichen öffentlichen Initiativen, ohne dass es allerdings zu einer Verstaatlichung der Feiern gekommen wäre. Die Stadt Sevilla, ein Vorreiter kommunaler Feiern, organisierte seit 1923 jährlich eine Massenveranstaltung für Kinder in der städtischen Stierkampfarena, während die Stadtregierung von Valencia am Ende des Jahrzehnts den Raum der städtischen Schlachthöfe 7 8 9
Nuestro Festival Infantil, Blanco y Negro, 11.1.1908; Fiesta en la Casa de „Blanco y Negro“, Blanco y Negro, 15.1.1911. La fiesta de los Reyes Magos en Madrid, Blanco y Negro, 14.1.1912; La fiesta de Reyes en Madrid, El Mundo Gráfico, 10.1.1912. Aspecto de la Calle de Serrano el día de nuestra fiesta infantil, Blanco y Negro, 3.1.1903; Actualidad Gráfica, Blanco y Negro, 13.1.1906; La Festividad del día de Reyes, Blanco y Negro, 11.1.1908; Madrid. La Fiesta de los Reyes Magos, Blanco y Negro, 11.1.1920.
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II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit
für große Kinderfeste nutzte. Auch Bilbao richtete früh ein großes städtisches Kinderfest aus, an dem 1924 3 000 Kinder teilnahmen und in dessen Rahmen Sport- und Zirkusaufführungen für die Heranwachsenden stattfanden.10 In Madrid zeigte sich die städtische Initiative zunächst in der Beteiligung an einem von der aufstrebenden Tageszeitung El Heraldo de Madrid seit den späten 1920er Jahren ausgerichteten Festumzug der heiligen Könige durch die Stadt.11 Unter der Zweiten Republik setzte sich der Aufschwung der Dreikönigsfeiern weiter fort. Nachdem 1931 eine Gruppe radikaler Republikaner in ihrem Versuch scheiterte, den Dreikönigstag zu säkularisieren, alle öffentlichen Veranstaltungen am 6. Januar zu verbieten und stattdessen den 1. Oktober als offiziellen Tag des Kindes zu begehen, zeigte sich die linksliberale Madrider Stadtregierung in den folgenden Jahren in der Vorbereitung von Kinderfeiern äußerst engagiert. War ein großes Kinderfest im Kino Monumental, das Spielzeugvergabe, Ansprachen von Politikern und eine Filmvorführung kombinierte, im Januar 1931 kurz vor Einführung der Republik noch das Ergebnis einer Einzelinitiative des republikanischen Stadtrats Flores Valles gewesen, so organisierte die Stadtregierung 1936 am Ende der Republik unter großem administrativen Aufwand die Ausgabe von 100 000 Stück Spielzeug an die Kinder der öffentlichen Schulen im Rahmen von Kinderfeiern und trat damit deutlich neben die weiterhin wichtigen privaten Initiativen. Darüber hinaus prägten schon 1932 „prächtige öffentliche Paraden“ den Dreikönigstag, und für den Präsidenten der Republik und weitere hochrangige Politiker war die symbolische Überreichung von Spielzeug an bedürftige Kinder jedes Jahr ein Pflichttermin.12 Kinder rückten, dies lässt sich an der Entfaltung des 6. Januar als Kindertag ablesen, nach 1900 auf neue Weise in den Blickpunkt öffentlichen Interesses, was sich zunächst in privaten Initiativen, bald aber auch in städtischem Engagement niederschlug.
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Die zunehmende Rolle der öffentlichen Hand thematisiert: Manuel Bueno, Paisajes Sociales: El Derecho a los juguetes, Blanco y Negro, 3.1.1932. Siehe weiterhin: Sevilla. Fiesta de los Reyes Magos, Blanco y Negro, 14.1.1923. Zu Valencia: Notas Gráficas, Estampa, 10.1.1928; Zu Bilbao, wo das Kinderfest allerdings jeweils ungewöhnlicherweise im Herbst stattfand: La fiesta del Niño, ABC, 17.12.1924; En el campo de San Mamés, ABC, 16.10.1926. Notas gráficas de la semana, Blanco y Negro, 15.1.1928. La fiesta de los Reyes, El Sol, 6.1.1931; La Vida Madrileña, El Sol, 7.1.1931; Los Reyes Magos y los niños pobres: El Alcalde de Madrid, Señor Rico, reparte juguetes (Fotobericht), El Mundo Gráfico, 12.1.1932; Antonio Robles, Despues de la fiesta de los niños: Reacciones de un Rey Mago, Crónica, 13.1.1935; La Fiesta de los Reyes Magos: 100 000 juguetes se repartirán entre los alumnos de 1 178 escuelas madrileñas, El Sol, 5.1.1936; Fiesta de Reyes en Madrid, Ya, 6.1.1936.
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1.2 Die Pluralisierung öffentlicher Kinderfeiern in den 1930er Jahren Der Dreikönigstag war bis 1936 der prominenteste, aber nicht der einzige Anlass für die Inszenierung und Feier von Kindheit im urbanen Raum Madrids. Ein Blick auf weitere Arten von öffentlichen Kinderfeiern kann helfen, Stoßrichtungen und Phasen der Entwicklung weiter zu präzisieren. Die Republikgründung von 1931 erweist sich dabei als Zäsur, welche eine erste, durch die Dominanz karitativer und patriotischer Kinderfeiern gekennzeichnete Etappe von einer zweiten trennte, die durch eine neue Vielfalt an Kinderfesten geprägt war. Zunächst muss auf weitere karitative „Feiern des Kindes“ (Fiestas del Niño) verwiesen werden, die nach dem Vorbild der Dreikönigsfeiern im Umkreis des Ersten Weltkriegs entstanden und sich ebenfalls die Unterstützung mittelloser Kinder zum Ziel setzten. In Madrid initiierte der Wissenschaftler Eduardo Lozano y Ponce de León als Vorsitzender einer Sociedad Benéfica Carloteña im Arbeiterviertel Doña Carlota (Puente de Vallecas) im Mai 1923 eine solche karitative Kinderfeier, in der Kinder eingerahmt von moralischpatriotischen Reden Sparbücher mit Guthaben von zwei Peseten geschenkt bekamen. Die Veranstaltung etablierte sich bis mindestens 1933 als jährliches Fest.13 Neben solchen karitativen Festen stellten patriotische Feiern, die einen raschen Aufschwung in den 1890er Jahren erfahren hatten, eine zweite frühe Strömung der organisierten Einbeziehung von Kindergruppen in die städtische Öffentlichkeit dar. Wie die Historikerin María del Mar del Pozo Andrés anschaulich beschrieben hat, versuchten unterschiedliche politisch-regenerative Strömungen, Kinder auf neue Weise für ihre nationalen Projekte zu gewinnen und in die jeweils unterschiedlich vorgestellte spanische Nation zu integrieren. Patriotische Kinderfeiern unterschiedlicher Art sollten die Verbindung von Bevölkerung und Nation demonstrieren und vertiefen, waren jedoch immer auch umstritten. Liberale Nationalisten führten in den 1890er Jahren nach französischem Vorbild tägliche Fahnenappelle und das Singen patriotischer Lieder an den Schulen ein, eine Praxis, die sich trotz anfänglicher Kritik von Kirche, Militär und Lehrern nach der Jahrhundertwende vielerorts durchsetzen konnte.14 Die wichtigste patriotisch-regenerative Kinderfeier stellte jedoch die von konservativen Politikern geförderte Übernahme des in den USA seit 1872 gefeierten Arbor Day dar. Die erstmals 1896 in Madrid gefeierte Fiesta del Árbol entwickelte sich in vielen Regionen zu dem 13 14
Vgl. nur: La fiesta del Niño, ABC, 20.5.1923; La fiesta del Niño, ABC, 26.5.1925; La fiesta del Niño, ABC, 31.5.1933. Pozo Andrés, Currículum, S. 185–90. Zu den Spielarten des Nationalismus in Spanien siehe auch: José Álvarez Junco, Mater Dolorosa. La Idea de España en el Siglo XIX, Madrid 2001.
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bedeutendsten kinderbezogenen Fest des Regenerationismus. Eingebettet in patriotische und regenerationistische Lieder und Reden von Vertretern der Kommune und der Kirche pflanzten Kinder im Rahmen dieser Feste Bäume als Symbol der Regeneration von Landschaft, Kommune und Nation. Die Attraktivität der Feste lag nicht nur in der konkreten Tätigkeit vor Ort, sondern vor allem auch in der symbolischen Aussage, welche die Erneuerung Spaniens von der gesellschaftlichen Basis her, über die Regeneration einzelner Orte und Regionen imaginierte. Ein königliches Dekret von 1904 verlieh den Fiestas del Árbol offiziellen Status, ein weiteres Dekret vom 15. Januar 1915 machte sie sogar zu obligatorischen Veranstaltungen. Nach einem Bedeutungsrückgang am Ende des Jahrzehnts erfuhren sie unter der Diktatur neue Popularität und spielten auch in den republikanischen Jahren in der städtischen Öffentlichkeit Madrids eine gewisse, wenn auch – wie gleich gezeigt werden soll – umkämpfte Rolle.15 Einen deutlichen Niedergang seit dem Ersten Weltkrieg erlebten dagegen die Bemühungen neuer nationalistischer Strömungen, durch die an französischen Vorbildern orientierte Gründung von repräsentativen Kinderbataillonen (batallones escolares) der nachwachsenden Generation patriotische Werte, militärische Tugenden und eine vormilitärische Ausbildung zu vermitteln. Die ersten Bataillone entstanden in den 1890er Jahren, in denen sie häufig auf lokalen Festen auftraten, erlebten ihre Hochphase jedoch bereits wenige Jahre später vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Von Anfang an zogen sie Kritik auf sich, die sich nicht nur gegen eine vermeintliche Militarisierung der Kinder, sondern auch deren „exhibitionistische“ Instrumentalisierung in einem öffentlichen Spektakel richtete. Im Kontext einer neuen Kritik der Zurschaustellung von Kindern und den neuen Vorgaben der Kinderwissenschaften, die für flexiblere Formen der Gymnastik und Körperbewegung plädierten, erschienen sowohl der steife Drill in den Bataillonen als auch die Präsentation von Kindern in Kostümuniformen nicht mehr zeitgemäß.16 Insgesamt spielten die patriotischen Kinderfeste unterschiedlicher Art eine bedeutende Rolle in der städtischen Öffentlichkeit Madrids, doch muss auch auf die deutlichen Grenzen ihrer Reichweite hingewiesen werden. Zumindest in der medialen Wahrnehmung war ihre Bedeutung am Ende der 1920er Jahre deutlich geringer als die der Dreikönigsfeiern. In den republikanischen Jahren spielten sie nur mehr eine, in kurzen Nachrichten vermeldete Nebenrolle. 15
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Pozo Andrés, Currículum, S. 219–224. Zum Ablauf der Feiern vgl. Fiestas del árbol, El Magisterio Español, 14.4.1931; Bild: Zaragoza. Los Exploradores realizando la plantación en la Fiesta del Arbol, ABC, 9.4.1931. Zur republikanischen Epoche: Madrid al día, ABC, 13.4.1935. Pozo Andrés, Currículum, S. 250–56. Schließlich stand auch die Teilnahme von Kindern am 1918 zum nationalen Feiertag erklärten Día de la Raza (12. Oktober) im Kontext nationaler Mobilisierung von Kindern: Ebd., S. 263.
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Wenig erfolgreich waren schließlich seit dem Ersten Weltkrieg erkennbare sporadische Versuche, sozialhygienische Kinderfeste als Bestandteile des urbanen Kalenders zu etablieren, welche über richtige Kinderpflege aufklären und diese popularisieren wollten. So plante die städtische Institución Municipal de Puericultura, in Madrid im Frühjahr 1918 am Ende ihrer Mutterschaftskurse im Mai ein großes „Fest des Kindes“ zu veranstalten, das unter anderem „als Stimulus für eine Popularisierung der Kinderhygiene“ dienen sollte und zwei Jahre später plante die Stadtregierung von Logroño (La Rioja) ein ähnliches Fest des Kindes, in dessen Rahmen Müttern, die in der Pflege ihrer Kinder auf besondere Weise die Normen der modernen Hygienebewegung befolgten, Preise verliehen werden sollten. Diese Impulse blieben jedoch vergleichsweise schwach, auch Neuansätze Anfang der 1930er Jahre erreichten nur eine äußerst begrenzte öffentliche Resonanz.17 Der Beginn der Republik führte zu einer Reihe von Veränderungen. Zunächst erweiterte sich das Spektrum von Kinderfeiern. Die Feiern des 6. Januars wurden ausgeweitet und neue Arten von Festen traten auf den Plan, während die älteren karitativen und patriotischen Festformen in den Hintergrund rückten. Deren Bedeutungsverlust zeigt sich besonders gut an der Fiesta del Árbol, welche die neue republikanisch dominierte Stadtregierung äußerst stiefmütterlich behandelte. In den Jahren 1931 und 1932 fanden anscheinend gar keine städtischen Baumfeste statt und für das Frühjahr 1934 war zwar zunächst die Durchführung eines Festes geplant, doch fiel dieses aus, nachdem der Termin zunächst immer weiter verschoben worden war. Im Jahr darauf organisierte die Stadtregierung erstmals wieder ein Fest, limitierte die Teilnehmerzahl jedoch auf 1 000 Kinder und schränkte damit die Breitenwirkung der Feierlichkeiten deutlich ein. Der Bedeutungsverlust der Feier kann jedoch nicht allein auf fehlenden politischen Willen zurückgeführt werden. Selbst der sympathisierenden Presse waren die Fiestas del Arbol und ihre Absage jeweils nur dürre Notizen wert, ausführliche illustrierte Berichte, wie sie hinsichtlich der Kinderfeiern am 6. Januar gang und gäbe waren, finden sich nicht.18 Die alten Veranstaltungsformen wurden ergänzt und vielfach abgelöst durch neue Kinderfeiern, die oft in Kooperation von Stadt und kommerzi17
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Pedro de Montolón, Vida Pedagógica, RdEF 25, Marzo 1918; Dr. Olías Salvador, La Fiesta del Niño, in: Revista Calasancia 8 (1920), S. 277f.; Las proximas fiestas madrileñas, El Heraldo de Madrid, 2.6.1931. Es ist unklar, ob das Fest in Madrid tatsächlich stattfand. In der Presse konnten keine Informationen dazu gefunden werden. La fiesta del arbol, ABC, 26.2.1933; Acuerdos de los inspectores de Enseñanza, ABC, 8.5.1934; Madrid al día, ABC, 30.5.1934; Aplazamiento de la Fiesta del Arbol, ABC, 31.5.1934; La fiesta del Arbol, ABC, 25.1.1935. In einigen anderen Städten scheint die Tradition jedoch lebendiger geblieben zu sein und insgesamt deuten einige Anzeichen darauf hin, dass in den letzten Jahren der Republik die Feste wieder größeren Anklang fanden: La fiesta del Arbol, ABC, 25.3.1933 (zu Saragossa); Varias notas de provincias, ABC, 5.4.1936 (zu Saragossa); Miscelánea de actualidades, ABC, 30.5.1936 (zu Valencia).
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II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit
ellen Unternehmen durchgeführt wurden und deren Schwerpunkt deutlich mehr auf der Unterhaltung und Aktivierung der Kinder als auf deren moralischer Belehrung lag. Am meisten öffentliche Aufmerksamkeit fanden in den frühen 1930er Jahren Sportwettkämpfe von Kindern. Die körperliche Ertüchtigung der Heranwachsenden war ein wichtiges Element der neuen Kinderwissenschaften und des politischen Regenerationismus, die beide die Formung von gesunden und kräftigen Menschen zum Ziel hatten. Im Umkreis des Ersten Weltkrieges schlugen sich diese Impulse in Sportfeste für Kinder nieder, die einen Bedeutungszuwachs während der Diktatur erfuhren, bevor sie nach 1931 im Umfang deutlich zunahmen und ihren Charakter veränderten. Die erste Erwähnung einer Kinder-Sportveranstaltung in Madrid stellt ein Kinder-Fußballturnier im Februar 1917 dar. Schon unter der Diktatur hatte der Sportverein Real Madrid 1928 ein großes festival atlético infantil veranstaltet, bei dem Kinder in großen Gruppen gymnastische Übungen im Stil der Zeit vorführten. Nach 1931 wurden die Sportfeste jedoch häufiger und veränderten ihre Form.19 Anhand von zwei im Herbst 1931 und im Herbst 1932 durchgeführten Radrennen, Campeonatos Infantil Ciclista de Madrid, lassen sich besonders gut Neuansätze, aber auch Widersprüche neuer Kinderfeiern unter der Republik aufzeigen.20 Zwischen 200 und 400 Kinder nahmen an den von der Zeitschrift Crónica und dem Uhrengeschäft Casa Coppel organisierten Straßenrennen teil, die unter der Schirmherrschaft des republikanischen Madrider Bürgermeisters Pedro Rico standen und über welche die Madrider Presse ausführlich berichtete. Die Berichterstatter von Crónica bemühten sich deutlich, die Veranstaltungen von älteren patriotischkaritativen Festen abzugrenzen. Im Unterschied zu der moralisch-didaktischen Ausrichtung älterer Kinderfeiern stand die Unterhaltung von Kindern im Vordergrund. Auch sollten die Kinder selbst eine Protagonistenrolle 19
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Campeonato Infantil de Fútbol en Madrid, ABC, 21.2.1917; El festival atlético infantil del Real Madrid, Estampa, 22.5.1928. Die Zeitschriftendatenbank von ABC liefert zum Stichwort „campeonato infantil“ für die Jahre 1891 bis 1930 20 Treffer, für die fünf Jahre von 1931 bis 1936 dagegen 72. Zum Folgenden: A. Cruz y Martin, Epilogo del Primer Campeonato Infantil Ciclista de Madrid: La alegre y simpática fiesta a que dió lugar la distribución de los premios, Crónica, 6.12.1931; La primera jornada del II Campeonato Infantil Ciclista de Madrid, Crónica, 23.10.1932; La segunda jornada del II Campeonato Infantil Ciclista de Madrid, Crónica, 30.10.1932; Primer Campeonato Infantil Ciclista, ABC, 7.11.1931; Un campeonato infantil madrileño, ABC, 17.11.1931; Ciclismo Infantil y Luchas, ABC, 24.11.1931, Campeonato Infantil, ABC, 28.11.1931; Sport: Ciclismo infantil, El Mundo Gráfico, 26.10.1932. Zu weiteren Veranstaltungen in Madrid vgl.: Baloncesto. Campeonato Infantil, ABC, 14.4.1933; Natación, ABC, 30.8.1935; Campeonato Infantil de Madrid, ABC, 22.1.1936 (Basketball), El campeonateo infantil y „junior“ del Centro, ABC, 9.6.1936 (Baseball). Zu ähnlichen Wettkämpfen in anderen Regionen siehe nur: Deportes, Esto, 17.5.1934; Campeonato Infantil de Adrejez, ABC, 20.7.1932 (Barcelona); Un campeonato infantil en San Sebastián, ABC, 28.3.1933; Campeonato Infantil en Murcia, ABC, 22.6.1935; El campeonato infantil de Guipúzcoa, ABC, 31.3.1936.
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übernehmen und nicht länger passive Rezipienten erwachsener Fürsorge sein. Weiterhin beabsichtigten die Veranstalter eine Überwindung kindlicher Geschlechterrollen. Mädchen nahmen gleichberechtigt an den Radrennen teil und zeigten sich als „eingefleischte sportwomen“. Allerdings bedeutete diese Abkehr von der Tradition einen Aufbruch in unbekanntes Terrain, der eine ganze Reihe von Problemen und Widersprüchen mit sich brachte. Das zeigt sich bereits an der widersprüchlichen Zielsetzung der Radrennen. Auf der einen Seite stellten sie Feiern kindlicher Energie und Willensstärke dar. Die Wettbewerbe standen deutlich in der Tradition regenerationistischer und hygienischer Kinderreform, welche eine Ertüchtigung des kindlichen Körpers anstrebte. In diesem Sinne feierte die Zeitschrift „die Hingabe an die körperliche Übungen“ und die „detailversessene Vorbereitungen“, welche die Kinder zeigten. Andererseits sollten die Veranstaltungen aber auch der erwachsenen Konkurrenzgesellschaft enthobene Feiern kindlicher Freude darstellen. In diesem Sinne betonten die Reporter den besonderen kindlichen, nicht-kompetitiven Charakter der Wettbewerbe. Diese waren nach Angabe der Veranstalter nicht nur so gestaltet, dass sie kein Kind überanstrengten, sondern es gab auch keine Verlierer: Jedes Kind erhielt einen Preis. Selbst diejenigen, die das Rennen nicht beendeten, konnten bei der Preisverleihung den Beifall des Publikums genießen. Das Rennen wollte Kindheit als dem Erwachsenenleben überlegene Lebensphase präsentieren, was nicht zuletzt in der Beschreibung der Tausenden von erwachsenen Zuschauern erkennbar wird, die am Straßenrand das kindliche Spektakel wie eine höhere Erscheinung „in sich versunken betrachteten und unendlich genossen.“ Im zweiten Jahr strich das Organisationskomitee sogar die Alterskategorie der älteren Kinder ab 14 Jahre, „um den kindlichen Charakter des Rennens besser zu bewahren“.21 Auch hinsichtlich ihrer politischen Bezüge waren die Radrennen widersprüchlich. Einerseits betonten die Kommentatoren den dezidiert kindlichen, unpolitischen Charakter der Veranstaltungen. Andererseits versuchten sie jedoch, die Kinderfeiern zumindest ansatzweise in das größere politische Projekt der Republikanisierung Spaniens einzubinden. Bei der Verleihung der Preise ertönte die neue republikanische Staatshymne Himno de Riego und die Teilnehmer kämpften um die „Trophäe des Präsidenten der Republik“. 1932 wurde die Preisverleihung zudem durch einen Film über eine Massensportveranstaltung in der Tschechoslowakei abgeschlossen, der nach Aussage des Berichterstatters die „kulturellen und moralischen Fähigkeiten eines Volkes“ und „den zivilen Geist [. . . ] eines vereinten Kollektivs“ ausdrückte. Die Madrider Sportveranstaltung mit ihrer Betonung auf fair play wurde teilweise in der Berichterstattung explizit in den Kontext der Formung „zukünftiger Staatsbürger“ gestellt. Die teilnehmenden Kinder erfuhren eine mediale Stilisierung als Avantgarde einer neuen Kindheit, die körperliche 21
La primera jornada del II Campeonato Infantil Ciclista de Madrid, Crónica, 23.10.1932.
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Leistungskraft mit republikanisch-staatsbürgerlicher Gesinnung verband. Die Teilnehmer zeichneten sich in der Darstellung von Crónica beispielsweise durch „Züge von Brüderlichkeit“ aus, die sich in Gesten wie dem Verzicht auf einen Pokal zugunsten eines gestürzten Konkurrenten manifestierten.22 Allerdings war die Veranstaltungsart als solche keineswegs ausschließlich republikanisch besetzt. So plante etwa die republikkritische, rechts-bürgerliche Tageszeitung Informaciones für den Herbst 1936 schon ihr drittes Radrennen für Kinder.23 Ein weiteres großes Kindersportfest am 28. Mai 1935 im städtischen Sportstadium, das in Anwesenheit des Bürgermeisters Salazar Alonso stattfand, scheint demgegenüber keine klare politische Ausrichtung gehabt zu haben. Kinder verschiedener Schulen führten gymnastische Übungen durch und konkurrierten in Leichtathletikwettkämpfen. Auch Pfadfindergruppen beteiligten sich mit einer Vorführung.24 Die Radsportwettbewerbe von Crónica sind insgesamt symptomatisch für die uneindeutige Mischung von regenerativen Erneuerungsimpulsen, politischen und kommerziellen Interessen, welche viele Kinderfeste der republikanischen Jahre prägte. Die Grenzen zwischen allgemeinen städtischen und kommerziellen Kinderfesten und politischen Veranstaltungen waren häufig fließend. Es war dabei oft gerade der überparteiliche Appell von Kinderfeiern, welche sie auch als politische Werbeveranstaltungen attraktiv machte, ohne dass konkrete politische Botschaften im Verlauf der Feiern eine größere Rolle spielen mussten. Gerade Zeitschriften entdeckten unterhaltende Kinderfeste als Möglichkeit, mit ihren Lesern in Kontakt zu treten. So organisierte Informaciones am 27. Mai 1935 in Zusammenarbeit mit der Stadtregierung in der neuen Stierkampfarena von Madrid ein „Kinderfestival“, an dem mehrere Tausend Kinder teilnahmen – die Zahlenangaben schwanken zwischen 2 000 und 30 000. Das Fest war als Unterhaltungsrevue gestaltet, in der Artisten und Clowns auftraten. Zwar trug es durchaus einen politisch konservativen Akzent, wie republikanische Kritiker schnell bemerkten, doch spielten politische Aspekte zumindest in der medialen Berichterstattung keine Rolle.25 Ähnliches gilt für die ein halbes Jahr später von der katholischen Kinderzeitschrift Jeromín organisierte „Woche von Jeromín“ mit Theateraufführungen und Feiern für Kinder im Madrider Teatro Calderón. Die Zeitschrift griff dabei eine Form auf, die schon Anfang 1932 von der eng mit Blanco y Negro verbundenen Kinderzeitschrift Gente Menuda verwendet worden war, als sie eine große Veranstaltung für ihre Leser im Teatro de la Comedia veranstaltete,
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A. Cruz y Martin, El II. Campeonato Infantil Ciclista: La distribución de trofeos, premios y diplomas, Crónica, 6.11.1932. Ciclismo, ABC, 26.2.1936. Festival infantil. Ayer en el Metropolitano, ABC, 29.5.1935. Festival infantil en la plaza de toros, ABC, 29.5.1935. Zur Kritik der Veranstaltung als Spektakel: Festival infantil, Escuelas de España 18, Juni 1935.
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die einen Verkleidungswettbewerb, Theateraufführungen und den Auftritt der populärsten Figuren ihrer Fortsetzungsgeschichten und Comics umfasste.26 Explizit politische Kinderfeiern wie das im Juli 1934 in Loyola im Baskenland abgehaltene „Fest des karlistischen Kindes (Fiesta del Niño Tradicionalista) der karlistischen Rechten, an dem 20 000 Kinder teilnahmen, waren demgegenüber die Ausnahme. Doch selbst diese Feier legte einen deutlichen Schwerpunkt auf Unterhaltung und unterschied sich darin wenig von anderen Kinderfesten. Allein der explizite politische Rahmen und ein gemeinsamer Messebesuch zum Auftakt grenzten es ab.27 Hinsichtlich seiner Gestaltung und Programminhalte wies es dagegen deutliche Ähnlichkeiten auf mit dem von der Barceloner Stadtregierung jährlich im Juli im Pueblo Español auf dem Gelände der Weltausstellung von 1929 abgehaltenen „Fest der Kinder und der Blumen“, das einen deutlich politisch progressiven Akzent trug. Auf beiden Veranstaltungen wurden Tänze und volkstümliche Spiele aufgeführt und Bündel von Luftballons in den Himmel geschickt.28 In den gegen Ende der Republik sehr populären Kinder-Schönheitswettbewerben traten durchaus vorhandene nationalpolitische Elemente noch weiter gegenüber kommerziellen Aspekten in den Hintergrund. Die Wettbewerbe, die für die illustrierte Presse mit ihrer Präsentation geschmückter Kinder äußerst attraktiv waren, standen oft im Kontext von Stadtfesten wie den Fallas in Valencia, bildeten darüber hinaus aber auch eigenständige Veranstaltungen. Zwar feierten auch diese Feste Kindheit als Symbol von Erneuerung und fungierten durch ihre räumlichen Bezüge als Förderer lokaler, regionaler und nationaler Identitäten, doch bezogen sie in der Medienberichterstattung ihre Attraktivität zuallererst aus ihrem Glücksversprechen an Kinder und ihre Eltern, es ungeachtet der sozialen Herkunft durch Glück und Geschick zu Reichtum und Ruhm zu bringen und in die Liga der neuen Kinderstars von Hollywood, deren Leben von den spanischen Illustrierten aufmerksam verfolgt und kommentiert wurde, aufzusteigen. Ihre Anziehungskraft bezogen sie darüber hinaus auch aus dem spielerischen Kontrast mit „ernsten“ Wettbewerben. Kindheit wurde auch hier ästhetisiert und als Gegenwelt zur Erwachsenenwelt inszeniert.29 Die Bedeutung und Breitenwirkung, welche die „Feste des Kindes“ in den Jahren der Republik erlangten, zeigt sich schließlich auch daran, dass kom26 27 28 29
Foto: La semana de „Jeromín“, Ya, 3.1.1936; Werbung: „Gente Menuda“ festeja a sus lectores, Blanco y Negro, 7.2.1932. Fiesta del Niño Tradicionalista, Esto, 12.7.1934. La fiesta de los niños y de las flores, La Vanguardia, 7.7.1936. Los grandes bailes de Carnaval en Madrid. Los concursos de disfraces infantiles, El Mundo Gráfico, 21.2.1934; Los animados festejos de la verbena de la Paloma. Concursos y „misses“, El Mundo Gráfico, 22.8.1934; Enrique Malboysson, „Miss Fallera Infantil“ tiene cinco años, Estampa, 28.12.1935; Los „peques“ falleros eligen la „Fallera Infantil para 1936“, Crónica, 29.12.1935; Los dos niños más bellos de Francia, El Mundo Gráfico, 1.7.1936.
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merzielle Kino- und Theaterunternehmen den Begriff übernahmen, um mit ihm für spezielle Kindervorführungen zu werben, zu denen Eltern und Kinder mit einem Rahmenprogramm von Preisverleihungen und Spielzeuggeschenken gelockt werden sollten. Um 1932 gingen einige Theater dazu über, an den Feiertagen am Jahresanfang besondere Kinderstücke anzubieten, die jenseits der moralisch-didaktischen Tradition zeitgemäße Unterhaltung für Kinder versprachen. Allerdings waren sogar hier die Grenzen von kommerziellen Interessen im engeren Sinn und weiterreichenden Reformzielen fließend. So etablierte sich Anfang der 1930er Jahre ein neues, von einer jungen Generation von Kinderschriftstellern – auf die unten genauer eingegangen werden wird –, gestaltetes Kindertheater. Zudem popularisierten sich Aufführungen von Theaterstücken, die von Kindern selbst gespielt wurden.30 Kinderfeiern bildeten nach 1900 in vielfacher Weise Kristallisationspunkte der öffentlichen Kinderdebatten. Überblickt man das breite Panorama öffentlicher Kinderveranstaltungen von der Jahrhundertwende bis zum Bürgerkrieg, lassen sich insbesondere zwei Entwicklungen herausstellen. Erstens pluralisierten sich die Kinderfeiern, wobei die Republikgründung 1931 eine deutliche Zäsur darstellt. Das zunächst dominierende Modell karitativer Kinderfeste behielt seine Bedeutung, wurde jedoch ergänzt durch neue Formen von Feiern. Allein patriotische Kinderfeste verloren nach 1931 merklich an Bedeutung. Neben die älteren Veranstaltungen, die Kinder als schutzbedürftige Objekte von Wohlfahrt inszenierten, traten neue Feiern aktiver und dynamischer Kindheit, die Kinder, ihre Kraft und die von ihnen vermeintlich verkörperten unkorrumpierten Werte als Versprechen einer besseren Zukunft feierten. Zweitens fällt die Heterogenität der meisten öffentlichen Kinderveranstaltungen der 1930er Jahre auf, in denen sich politische, allgemein regenerative und kommerzielle Interessen häufig mischten. Zumeist lassen sich diese unterschiedlichen Antriebskräfte nicht klar voneinander trennen. In politischer Hinsicht lassen sich zwar einige Bemühungen erkennen, republikanische Kinderfeiern zu etablieren. Diese Impulse erwiesen sich aber in langfristiger Perspektive als in sich widersprüchlich und wenig dauerhaft. Einerseits war der politisch-republikanische Impuls uneindeutig, da die Veranstaltungen zwischen einer offenen Betonung politischer Vergemeinschaftung und dem Ziel schwankten, der Tagespolitik enthobene Feiern des Kindes als gleichsam höheres Wesen zu zelebrieren. Andererseits erscheint aber auch die Nachfrage von Kindern und Eltern nach politischen Kinderfeiern vor 1936 begrenzt gewesen zu sein, und schließlich verhinderten wohl auch materielle Probleme eine dauerhafte Etablierung republikanischer Feiern. Die meisten der 30
Zum von Salvador Bartolozzi gegründeten Marionettentheater: Actualidades Teatrales, Blanco y Negro, 12.1.1930; Luis G. de Linares, Un interviú con los actores del Teatro Pinocho para niños en el Español, Estampa, 3.1.1931; Teatro, Crónica, 11.1.1931; El Teatro de Niños, Blanco y Negro, 3.1.1932.
1. Von der privaten zur öffentlichen Kindheit
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besprochenen Veranstaltungen waren einmalige Ereignisse oder existierten nur wenige Jahre. Allerdings nahmen gegen Ende der Republik die Feiern des 6. Januars Züge eines republikanischen Tages des Kindes an. Erst im Bürgerkrieg gab die republikanische Stadtregierung dem Tag jedoch einen offen politischen Charakter als republikanisches Fest. Katholisch-religiöse Kinderfeiern spielten selbst in der kirchennahen Presse bis 1936 keine Rolle. Die religiösen Feste der Taufe und Kommunion blieben zwar für die einzelnen Kinder, Familien und Gemeinden herausgehobene Zeiten im Jahres- und Lebensverlauf, doch erlangten sie weder in den Jahren vor 1931 noch während der Republik eine öffentlich-politische Bedeutung. Auch nahmen Kinder zwar an allgemeinen religiösen Umzügen teil, doch ihre Teilnahme wurde nicht weiter kommentiert. Insgesamt scheiterten alle Versuche, öffentlichen Kinderritualen einen eindeutigen politischen, weltanschaulichen oder pädagogischen Akzent zu geben. Wie angedeutet wurde und unten weiter dargestellt werden soll, lag dies nicht nur an der Vielzahl der Akteure von Kinderpolitik in der Stadt, von denen keiner eine hegemoniale Stellung zu erringen vermochte, fehlender Einigkeit hinsichtlich der politischen Botschaften und mangelnden Ressourcen. Das Scheitern der Etablierung von Kinderfeiern als öffentliche Ereignisse kollektiver Vergemeinschaftung lag vielmehr auch wesentlich an der prinzipiellen und politische Lagergrenzen überschreitenden Uneinigkeit darüber, welche Rolle Kinder in der städtischen Öffentlichkeit spielen sollten. Widerstände gegen Kinderfeiern als Zurschaustellung oder auch politische Instrumentalisierung von Kindern waren unter Madrider Kinderexperten durchaus verbreitet.31 Vor diesem Hintergrund lassen sich die unterschiedlichen Kinderfeiern der 1930er Jahre als Teil einer umfassenderen Suchbewegung verstehen, nach der Delegitimation überkommender Festtraditionen Kindheit und städtische Gesellschaft auf neue Weise zueinander in Beziehung zu setzen.
1.3 Vom Wunderkind zum Hochbegabten Die Untersuchung von Kinderfeiern hat gezeigt, dass das öffentliche Interesse an städtischer Kindheit seit 1898 auf deutliche, wenn auch politisch uneindeutige Weise zunahm. Ein Überblick über Darstellungen von Wunderkindern, wie sie sich über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg in der populären und Fachpresse finden, kann unser Verständnis des neuen öffentlichen Interesses an Kindern weiter vertiefen. Gerade in der Auseinandersetzung mit dem Besonderen, dies zeigt eine Lektüre von Reportagen über Wunderkinder 31
Siehe etwa: Noticiario breve, Atenas 29, 15.4.1933; Junta Municipal de Primera Enseñanza, Sesión Extraordinaria, 21.11.1934, AVM, Instrucción Pública 29/445/22.
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II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit
rasch, lassen sich kondensiert allgemeine mit Kindern verbundene Hoffnungen und Ängste ablesen und Forderungen nach öffentlichen Interventionen in Kindheit beschreiben. Kinder mit außergewöhnlichen Fähigkeiten zogen nicht erst im frühen 20. Jahrhundert ein hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit auf sich. Seit der Aufklärung sind Wunderkinder ein prominentes Thema der Kindheitsdebatten.32 Im Laufe des 19. Jahrhunderts bildete sich über nationale Grenzen hinweg ein erstaunlich standardisierter Typus des Wunderkindes heraus, der eng an die Figur Mozarts angelehnt war. Öffentlich diskutierte Wunderkinder waren fast ausschließlich musikalische Virtuosen, die, zumeist aus gehobenen Gesellschaftskreisen stammend, einem internationalen großstädtischen Publikum in Konzertauftritten vorgeführt wurden. Noch ganz in dieser Tradition stehend, gab etwa das zehnjährige Wunderkind Manolito Funes 1911 in Madrid eine Reihe von Konzerten, in denen er Werke von Beethoven, Chopin, Liszt, Schubert, Saint-Saens und Bach interpretierte und bei seinen Hörern „Bewunderung und Staunen hervorrief “.33 Zwar war der Typus des musikalischen Genies auch nach 1900 in den Medien weiterhin prominent vertreten, doch veränderten sich die Debatten über Wunderkinder in Spanien im frühen 20. Jahrhundert grundsätzlich. Zunächst lässt sich eine Ausweitung des Phänomens über den Bereich der Musik hinaus in neue Berufs- und Tätigkeitsfelder hinein beobachten, vor allem seit Ende der 1920er Jahre. Ein langer Bericht der Tageszeitung El Heraldo de Madrid über Wunderkinder in der Hauptstadt vom Frühjahr 1931 widmete sich neben einer Pianistin etwa auch einer kindlichen Journalistin, einem Radiosprecher, einer Schauspielerin und einem Kinostar. Die mediale Prominenz neuer Kinderstars in Hollywood weckte nach dem Ersten Weltkrieg gerade das Interesse an überdurchschnittlich begabten Kinderschauspielern.34 Die schrittweise Nationalisierung der Wunderkinder in Spanien bildete eine zweite mächtige Bewegung. Die nach dem Empfinden von Zeitgenossen seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts einsetzende „Blüte“ oder, ironisch gewendet, „Epidemie“ von Wunderkindern auf dem europäischen Kontinent von Moskau bis Madrid wurde immer mehr in nationalen Kategorien erläu32
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Schulz, Gang, S. 23; Kelly, Children´s World, S. 54. Jenseits biographischer Studien zu einzelnen „Wunderkindern“ hat das Thema in der historischen Forschung bisher allerdings kaum Beachtung gefunden. Siehe als Beispiel: Manolito Funes, El Mundo Gráfico, 15.11.1911; La Nena de Raquel Meller, Blanco y Negro, 11.1.1920; Notas Gráficas de Provincias, El Mundo Gráfico, 1.12.1920. Vgl. allg. auch die Hinweise in: Gerd-Heinz Stevens, Das Wunderkind in der Musikgeschichte. Phil. Diss., Münster 1983. Rafael N. Olivares, Unos cuantos niños precoces madrileños, El Heraldo de Madrid, 19.4.1931; Una Artista de dos años, Blanco y Negro, 10.1.1932. Insbesondere die Kinderschauspielerin Shirley Temple bildete über weltanschauliche Lagergrenzen hinweg den Gegenstand umfangreicher Berichterstattung. Siehe nur: Curiosidades del mundo, Esto, 30.8.1934; Robert Wallace, Hollywood: Shirely Temple acaba de cumplir siete años y gana dos milliones de Pesetas anuales, El Mundo Gráfico, 20.5.1936.
1. Von der privaten zur öffentlichen Kindheit
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tert. Liberale Kreise deuteten etwa das Erscheinen von Wunderkindern auf der iberischen Halbinsel als Beleg kulturellen Fortschritts, wenn auch, wie ein Artikel von 1911 bedauerte, die Dichte an Wunderkindern in Spanien noch nicht diejenige fortgeschrittener Länder erreicht habe. In den 1920er Jahren setzte sich die Nationalisierung weiter fort. Immer wieder wurde in Beschreibungen auf die spanische Herkunft und Erziehung von Wunderkindern verwiesen – die begnadete Tänzerin Pilar Barrios erschien Ende 1930 einer Zeitung etwa als „sehr spanisches“ Wesen – und musikalische Wunderkinder brillierten nun an spanisch konnotierten und mit einer weiteren Volkskultur in Verbindung gebrachten Instrumenten wie der Gitarre anstatt am internationalen Klavier.35 Mit der Nationalisierung des Wunderkinds ging seine „Demokratisierung“ einher. Die Presse entdeckte immer öfter Kinder aus ländlichen Regionen und Unterschichten mit außergewöhnlichen Talenten. Der 1936 zwölfjährige Aberlardo Periáñez aus der Provinz Salamanca hatte sich als Sohn eines Briefträgers beispielsweise mit vier Jahren selbst auf einer billigen Geige zum Virtuosen ausgebildet.36 Die Presse der republikanischen Jahre vermittelte den Eindruck, dass jedes Kind den Status eines Wunderkinds erreichen könne. Werbeanzeigen suggerierten, dass mit der richtigen Ernährung und ausreichender Bewegung, wundersame Leistungen durch Kinder nicht mehr vom Schicksal allein abhingen und die schon oben beschriebenen populären Schönheits- und Look-Alike-Wettbewerbe, an denen in den frühen 1930er Jahren Tausende spanischer Kinder partizipierten, bezogen ihre Popularität auch aus dem Versprechen, mit ein wenig Glück „entdeckt“ zu werden. Alleine an einem nationalen, mit 5 000 Peseten ausgelobten, Shirley-Temple Wettbewerb mit Ausscheidungsrunden in den großen Städten des Landes nahmen unter großem Medienecho im Frühjahr 1936 7 000 Mädchen teil.37 Wunderkinder, die in der populären Imagination immer mehr mit den kindlichen Hollywoodstars in eins fielen, verkörperten zumindest für einen Teil der Bevölkerung neue Chancen und Aufstiegsmöglichkeiten jenseits klassischer Karrierewege und Statusschranken. Die Darstellung von Wunderkindern war jedoch nach 1931 nicht nur positiv. Neben die Feier des Wunderkindes als individuelles und gesellschaftliches Versprechen trat zunehmend eine neue kritische Sicht auf Wunderkinder, die in Forderungen nach einem besseren Schutz der Kinder gegenüber Ausbeu35
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Manolito Funes, El Mundo Gráfico, 15.11.1911; Pilar Barrios, Crónica, 30.11.1930; Bergerac, Un guitarrista de ocho años, Estampa, 7.11.1931; Una pequeña actriz de cinematógrafo, Crónica, 14.12.1930. Zum russischen Fall siehe Kelly, Children´s World, S. 53f., die ebenfalls ein schnell wachsendes Interesse an dem Phänomen nach der Jahrhundertwende konstatiert. Jesús de Mijares Condado, „Quiero ser violinista“, Estampa, 20.6.1936. Siehe auch: Bergerac, Un guitarrista de ocho años, Estampa, 7.11.1931. J.R., Tambien Sevilla tiene su Shirley Temple, Estampa, 18.4.1936; Una sevillana de seis años ha sido proclamada Shirley Temple, Estampa, 2.5.1936.
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II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit
tung und psychischer Überlastung mündete. Schon um die Jahrhundertwende hatte eine sich formierende Kinderschutzbewegung, die sich vor allem dem Kampf gegen Kinderarbeit verschrieben hatte, eine entwicklungspsychologisch geprägte Kritik an der Vorführung von Kindern erhoben, da diese eine langfristige Entwicklung der kindlichen Talente beeinträchtige. Statt ihrer öffentlichen Zurschaustellung, so die Meinung prominenter Pädagogen, sollten die Eltern ihren Kindern besser eine ernsthafte Ausbildung jenseits der Öffentlichkeit ermöglichen.38 Am Ende der 1920er Jahre erhielt diese Sorge um das Wunderkind jedoch eine neue Wendung, als die Kindlichkeit von Wunderkindern als positives Merkmal von Unverfälschtheit und Spontanität neu herausgestellt und gegen die vermeintlichen Gefahren von Charakterdressur und Drill in Stellung gebracht wurde. Reportagen stellten seit Ende der 1920er Jahre die Kindlichkeit des Wunderkindes und seine psychologische Verletzbarkeit neu heraus. Immer wieder wurde nun in Artikeln und Interviews darauf verwiesen, dass die Wunderkinder zwar enorme Talente besäßen, doch letztendlich immer noch Kinder seien und ihrer kindlichen Welt nicht zu früh entrissen werden dürften. Die Förderung der Talente, so eine einflussreiche Sichtweise, dürfe deshalb nur auf spielerischem Wege und mit freiwilligem Einverständnis der Kinder erfolgen. Keinesfalls sei das Kind unter Druck zu setzen oder gar durch Drill zu erziehen. Paradigmatisch für diese Sicht auf Wunderkinder steht ein Artikel in Estampa vom Januar 1931 über die sechsjährige Pianistin Alicia de Larrocha. Der Autor des Berichts scheute keine Mühen, um Alicia und ihr „frohes Zuhause“ von dem traurigen Spektakel „perfekter Automaten“ abzugrenzen, zu denen unwissende Eltern viele talentierte Kinder dressierten und deformierten. Alicia dagegen, so der Autor, spiele den ganzen Tag und übe nur dann, wenn sie Lust dazu verspüre. Auch der Unterricht selbst laufe spielerisch mit Lachen und Reden ab: „Man darf sie nicht ermüden und zwingen“. Die Außergewöhnlichkeit von Alicia bestand in der Darstellung gerade darin, dass ihr alles ohne Mühen zuflog.39 War es in dieser Reportage noch möglich, sowohl unbeschwertes Kind als auch Wunderkind zu sein, so schien diese Verbindung gegen Ende der Republik immer weniger möglich. Das Bild des Wunderkindes trübte sich deutlich ein. Insbesondere in längeren Berichten über die amerikanische Schauspielerin Shirley Temple wurden die Schattenseiten des Daseins als Wunderkind neu thematisiert. Besonders der Verlust an Lebensfreude erschien nun zuneh38
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Siehe als frühe Formulierung dieser Kritik: .O. de B., Un niño prodigioso, EM 17 (1899), S. 448f. In ironischer Form: Félix Mendez, Los niños prodigios, El Mundo Gráfico, 6.12.1911. Felix Centeno, Una niña barcelonesa de seis años que desde los cuatro da recitales de piano, Estampa, 24.1.1931. Vgl. auch: Una recitadora de cino años, Estampa, 27.11.1928; Rafael N. Olivares, Unos cuantos niños precoces madrileños, El Heraldo de Madrid, 19.4.1931. Zur Kritik des älteren, nun unkindlich erscheinenden Wunderkindtypus siehe auch: Ramon Martorell, Un dibujante de trece años: Fernandito Pezzi, el muchacho que ha aprendido a dibujar sin que nadie le enseñe, Crónica, 19.1.1936.
1. Von der privaten zur öffentlichen Kindheit
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mend als unausweichlicher Preis für eine Karriere im öffentlichen Rampenlicht. Shirley Temple, so wusste ein Reporter im Frühjahr 1936 zu berichten, lächele nur noch vor der Kamera. Sobald die Lichter im Studio erlöschen, zeige sie sich niedergeschlagen und melancholisch.40 Freude (alegría) erschien in dieser Sichtweise als zentrales Element von Kindheit, deren Verlust auch durch Ruhm und Geld nicht aufgewogen werden konnten. Befürchtungen einer Beschädigung von Kindheit traten somit in der Debatte über außergewöhnliche Kinder neben die gesellschaftlichen Hoffnungen, die sich mit ihnen verbanden. Beides, Hoffnungen und Ängste, drängten seit dem Ausgang der 1920er Jahre auf öffentliches, politisches Handeln zugunsten der Wunderkinder. Die Förderung und der Schutz von Talenten wurden zunehmend als gesellschaftliche Aufgabe begriffen. Die öffentliche Hand ging dazu über, Wunderkinder durch finanzielle Zuwendungen wie Stipendien zu fördern. Planten die Eltern von Manolito Fuentes 1911 noch einen Umzug in die USA, um dort ihren Lebensunterhalt durch die Präsentation ihres Sohnes in den Konzertsälen des Landes zu verdienen, übernahmen seit Ende der 1920er Jahre immer häufiger Kommunen und teilweise auch der Staat die Kosten für Lebensunterhalt und Ausbildung der talentierten Kinder. Die Stadtregierung von Barcelona finanzierte 1928 die musikalische Ausbildung der fünfjährigen Pianistin Giocasta Corma durch den hochgeschätzten städtischen Musiker Frank Marshall, 1931 übernahm die Bezirksverwaltung von Toledo den Unterhalt des Gitarristen Pedro Moreno und 1932 erhielt Josefina Sanz, „die einzige zehnjährige spanische Cellistin“, eine Zuwendung des Staates, um nicht länger mehrmals täglich vor Publikum auftreten zu müssen.41 Doch die Entwicklung blieb bei der Gewährung von Einzelstipendien nicht stehen. Forderungen an Staat und Gesellschaft reichten weiter in Richtung einer planmäßigen Förderung begabter Kinder und der Einrichtung von Instrumenten der Begabtenförderung. Aus dem Wunderkind (niño prodigioso) wurde in den öffentlichen Debatten und unter Einfluss der neuen Differentialpsychologie das einer intensiven Förderung bedürftige hochbegabte Kind (niño superdotado). Waren Wunderkinder definitionsgemäß äußerst seltene und nicht willentlich reproduzierbare Einzelphänomene, konnten Hochbegabte auf der Grundlage differentialpsychologischen Wissens über eine systematische Suche an Schulen erfasst und gezielt gefördert werden. Pädagogen aller weltanschaulichen Lager forderten eine Ausweitung diagnostischer Tests an den städtischen Schulen. Ein Rezensent der Revista de Pedagogía 40
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Antonio Zozaya, Niños millonarios, El Mundo Gráfico, 27.5.1936. Mit derselben Stoßrichtung: Shirley Temple, la niña prodigiosa y triste. Figuras del cinematógrafo, Crónica, 5.1.1936. Vincente Sanchez-Ocaña, Han llegado a Madrid un pianista de ocho años y una pianista de cuatro, Estampa, 10.1.1928; Bergerac, Un guitarrista de ocho años, Estampa, 7.11.1931; Una pequeña gran artista, Crónica, 18.12.1932.
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II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit
hielt im Einklang mit vielen Fachkollegen die Erziehung von Hochbegabten sogar für „eines der pädagogischen Probleme, die in der Gegenwart die meiste Aufmerksamkeit auf sich ziehen“.42 In den sowohl auf liberaler wie auf katholischer Seite intensiv geführten Debatten ging es wesentlich um die Frage nach den Voraussetzungen und Formen von Elitenbildung unter demokratischen politischen Bedingungen, welche alte soziale Auswahlmechanismen in Frage stellten.43 Die Debatten blieben in Madrid nicht ohne Wirkung. Anfang 1933 gründete die Akademikerin Laura Luque ein Instituto de Selección escolar obrera, das sich der Förderung hochbegabter Kinder aus den Unterschichten verschrieb, die durch das städtische psychotechnische Institut unter den Primarschülern der Stadt ausgewählt wurden, und im gleichen Jahr beschloss die Madrider Stadtversammlung ein Stipendiensystem für Hochbegabte.44 Durch eine systematische Begabtenförderung sollte sowohl den Kinder- als auch nationalen Interessen gedient werden. Wunderkinder wurden zwischen 1900 und 1930 immer stärker zu Personen öffentlichen Interesses. Sie forderten um 1930 die Gesellschaft in neuer und doppelter Weise heraus. Einerseits erschienen das Aufspüren und die Förderung kindlicher Talente immer dringlicher als Aufgabe der öffentlichen Hand, andererseits legten aber auch neue Sorgen vor einer Deformation von Kindern einen Einsatz der Öffentlichkeit zum Schutz der Kinder nahe. Sowohl die Forderungen nach Förderung als auch diejenigen nach Schutz von hochbegabten Kindern legten dabei teils explizit, teils implizit einen stärkeren Zugriff des Gemeinwesens auf Kindheit insgesamt nahe. Der Darstellungswandel von Wunderkindern deutet auf einen fundamentalen Wandel in der allgemeinen gesellschaftlichen Reflexion von Kindheit hin. Im Folgenden soll es darum gehen, die hier skizzierten Dynamiken in der medialen Öffentlichkeit weiter zu vertiefen.
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A. Ballesteres, Rez. von Leoni Kaseff , A Educação dos Super-Normaes, Río de Janeiro 1931, in: RdP 11 (1932). Zur katholischen Position: María Alos, Los niños bien dotados, BIT 253, April 1936. Schon 1932 hatte eine Liga Española de Higiene Escolar eine bessere Selektion Hochbegabter gefordert: Crónica, El Magisterio Español, 30.1.1932. Auf das 1932 publizierte Buch von Juvenal de Vega, El problema de la selección y protección de los niños superdotados und dessen lagerübergreifende positive Rezeption ist schon oben hingewiesen worden. Vgl. weiterhin: Antonio Linares Maza, Diagnóstico de niños anormales y superdotados, RdP 10 (1931) 412-17, der Begabungen als Verpflichtungen gegenüber dem Gemeinwesen verstanden wissen wollte und nach Wegen suchte, um aus ihnen „ein Maximum an individuellem und gesellschaftlichem Nutzen“ zu ziehen. Siehe hier nur: A. Ballesteres, Rez. von Leoni Kaseff , A Educação dos Super-Normaes, Río de Janeiro 1931, in: RdP 11 (1932); Nuevas reformas para perturbar la enseñanza, Ellas, 23.9.1934. Gervasio Manrique, Una Escuela para niños bien dotados, RdP 134, Feb. 1933; Los tests de superdotados, Atenas 60, April 1936; El Cronista, Noticiario breve, Atenas 27, 15.2.1933.
2. Widerspenstige Kinder und gesellschaftliche Ordnung: Kindheit in der populären Diskussion
Nach 1900 verlor das Modell des bürgerlich-moralischen Kindes nicht nur in den pädagogischen Expertenzirkeln, sondern auch in der urbanen Öffentlichkeit seine Vormachtstellung. Es wurde abgelöst durch das neue Leitmodell des widerspenstigen, selbstbewussten und aktiven Kindes, ohne dass es allerdings zu einer vollständigen Verdrängung gekommen wäre. Die Ablösung darf jedoch nicht einfach als Befreiung des Kindes aus traditionellen Fesseln und als Schritt gesellschaftlicher Liberalisierung verstanden werden, wie dies viele linksliberale Zeitgenossen taten. Das neue Leitmodell setzte vielmehr neue Verhaltensnormen für Kinder und bürdete ihnen und ihren Eltern neue Anforderungen auf. In politischer Hinsicht war es für sehr unterschiedliche Strömungen anschlussfähig. Es war zudem einerseits mit überbordenden Hoffnungen verknüpft, generierte andererseits aber auch neue Sorgen und Ängste, die eine neue Regulierung von Kindheit nahe legten. Im Folgenden werden die Durchsetzung des Modells des widerspenstigen Kindes in der medialen Öffentlichkeit dargestellt und die mit ihm verbundenen Hoffnungen und Sorgen erläutert. Neben Leitartikeln werden dazu insbesondere visuelle Repräsentationen, Artikel, die sich mit Spielzeug und dem Kinderspiel beschäftigten, Werbeanzeigen für Kinderprodukte und schließlich an Kinder gerichtete Kurzgeschichten untersucht. Während in den populären Debatten über das Spielen die Durchsetzung neuer Auffassungen vom Kind anschaulich verfolgt werden kann, lassen sich in Werbeanzeigen und Kindergeschichten besonders plastisch die mit dem Leitmodell des widerspenstigen Kindes verbundenen gesellschaftsreformerischen Hoffnungen, aber auch neue Ängste vor einer Deformation von Kindern und vor einer zu weitgehenden Selbstständigkeit der Heranwachsenden herausarbeiten.
2.1 Visuelle Repräsentationen von Kindheit im Wandel Eine Analyse des Wandels der bildlichen Darstellungen von Kindern kann einen ersten Einblick in die Durchsetzung neuer Kindheitsmodelle nach 1900 geben. Vor dem Ersten Weltkrieg dominierte zunächst ein Konglomerat eta-
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II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit Abbildung 1: M. Lobrichón, El Suplicio de Tántalo (Die Qualen des Tantalus), Gemälde 1882.
blierter, zueinander in Beziehung stehender Kinderdarstellungen, wie sie sich während des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatten.1 Die am weitesten verbreitete Darstellungsweise von Kindern stellten pittoreske Kinderszenen mit oft allegorischen Aussagen dar, die zumeist als Ge1
Neben der illustrierten Presse wurde für die folgenden Ausführungen auch das umfangreiche zeitgenössische Bildmaterial in Borrás Llop, Historia herangezogen. Zum Wandel der Darstellungsregime von Kindheit im US-amerikanischen Kontext siehe: Higonnet, Pictures; Gary Cross, The Cute and the Cool: Wondrous Innocence and Modern American Children´s Culture, New York 2004, S. 19–42. Vgl. auch: Hans-Heino Ewers, Kindheit als poetische Daseinsform. Studien zur Entstehung der romantischen Kindheitsutopie im 18. Jahrhundert. Herder, Jean Paul, Novalis und Tieck, München 1989; Richter, Fremde Kind.
2. Kindheit in der populären Diskussion
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Abbildung 2: „Die Rückkehr vom Feld“, El Mundo Gráfico, 3.1.1912
mälde oder Zeichnungen, immer öfter aber auch als Fotografien Verbreitung fanden. Sie standen in einer längeren Tradition von Kindheitsdarstellungen in der Kunst. Kindheit wurde in den oft in ländliche Szenen gesetzten Bildern einerseits als gleichsam zeitlose Reflexionsfläche für die Bedingungen des Menschseins genutzt, andererseits aber auch als Idylle gezeichnet, die ihren Reiz aus der kindlichen Unschuld und Naivität und deren utopischen Kontrast zur Erwachsenenwelt gewann.2 Diese Darstellungen wiesen oftmals fließende Übergänge zu einer Tradition religiöser Kindheitsdarstellungen auf, die wesentlich von frühneuzeitlichen Darstellungen der Heiligen Familie, des Jesuskindes und biblischer Kinderszenen geprägt wurden. Religiöse Bildmotive waren besonders in der konservativ ausgerichteten allgemeinen illustrierten Presse vor 1914 noch sehr präsent, finden sich aber seit den 1920er Jahren nur mehr in einer engeren katholischen Spartenpresse, nicht mehr in den auflagenstarken Illustrierten. Selbst die populär-katholische Esto druckte sie 2
El Arte y la Fotografía: El Regreso del Campo, El Mundo Gráfico, 3.1.1912; Fotografía y Arte: Primer Amor, El Mundo Gráfico, 17.1.1912; Los niños y el arte, Esfera, 2.1.1915. Zur Bedeutung dieses „romantischen“ Kinderbildes in den USA des frühen 20. Jahrhunderts siehe: Higonnet, Pictures, insb. S. 73–86.
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II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit
kaum noch.3 Die stilisierte Darstellung von Straßenkindern stellt ein zweites Bildmotiv der Zeit vor 1914 dar. Diese Bilder dienten zumeist als tragische Symbole gesellschaftlicher Ungerechtigkeit und illustrierten Geschichten, welche die Schattenseiten modernen Großstadtlebens beschrieben.4 Kontrast- und Gegenbilder zu den Darstellungen marginalisierter Kinder bildeten nach 1900 moralisch-idealisierende Bilder bürgerlicher Kindheit, die stets einen familiären, häuslichen Kontext als Rahmen hatten. Kinder traten als idealisierte Figuren auf, die sich in ihrer Körpersprache den stets anwesenden, und den Bildaufbau dominierenden Erwachsenen unterwerfen. Ein häufiges Bildmotiv zeigt Kinder, die sich um eine in der Bildmitte platzierte, sitzende männliche Erwachsenenfigur scharen, die mit erhobenem Zeigefinger zu dozieren scheint.5 Spätestens seit den 1910er Jahren wandelte sich der Bilderkosmos grundlegend. Eine Reihe von Entwicklungen lässt sich unterscheiden. Zunächst behielt die Darstellung marginalisierter Kinder zwar ihren Platz in der publizistischen Öffentlichkeit, erfuhr aber eine wichtige Rekontextualisierung. Kinder wurden zunehmend in Gruppen als Objekte karitativer Fürsorge abgebildet. Die sentimentale Stilisierung des einzelnen Straßenkindes wich einer nüchternen Darstellung von Kindergruppen, zu denen sich bürgerliche Wohltäter und städtische Honoratioren gesellten. Bis in die 1920er Jahre hinein prägten solche Fotografien, die oft im Rahmen der beschriebenen wohltätigen Kinderfeste aufgenommen wurden, die visuelle Repräsentation des Dreikönigstages in Madrid.6 In den 1930er Jahren machten einige Zeitschriften einen weiteren Schritt und stellten das Straßenkind auch als selbstständigen Kleinunternehmer dar, der sich einfallsreich mit kleinen Arbeiten als Zeitungsverkäufer oder Schuhputzer über Wasser hält. Das neue
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San José mit Jesuskind, Esfera, 14.3.1914; Espejo de Santidad, Pro Infancia 1, 19.3.1931 (zu Murillos Sagrada Familia). Zur katholischen Darstellungstradition siehe weiterhin die einzelnen Ausgaben der katholischen Erbauungszeitschrift La Estrella del Mar der 1930er Jahre. Siehe etwa das stilisierte Bild einer bettelnden Mutter mit Kind auf dem Arm in: Manuel de Tolosa Latour, Nuestros Hijos, Blanco y Negro, 4.1.1902; Vicente Medina, Como mi niña, Blanco y Negro, 4.1.1908; Bildseite: Dos niñas secuestradas en Barcelona, El Mundo Gráfico, 13.3.1912. Vgl. allgemein: Cunningham, Children of the Poor. Eusebio Blasco, Cuento: El Regalo de los Reyes, Blanco y Negro, 12.1.1901; Preguntones, Blanco y Negro, 4.1.1902; Carlos Luis de Cuenca, Cuento de Reyes, Blanco y Negro, 7.1.1912. Diese Darstellungsform findet sich auch auf Fotografien: Nuestras Visitas: En Casa de Palacio Valdés, Esfera, 10.1.1914; Nuestras Visitas: Joaquin Dicenta, Esfera, 28.3.1914. Zur Kontinuität dieses äußerst verbreiteten Darstellungstopos siehe etwa: Los Niños Pobres en „Blanco y Negro“, Blanco y Negro, 6.1.1900; Crónica Gráfica, Blanco y Negro, 15.1.1910; Notas Graficas de Actualidad, El Mundo Gráfico, 20.12.1911; Notas gráficas de la semana, Blanco y Negro, 15.1.1928.
2. Kindheit in der populären Diskussion
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Abbildung 3: „Geschichte zum Dreikönigstag“, Blanco y Negro, 7.1.1912
Leitmodell tatkräftiger Kindheit bestimmte nun auch die visuelle Repräsentation von Kindern aus den Unterschichten.7 Weiterhin rückten einzelne Kinder jenseits der Abbildung stilisierter Allegorien, anonymer Kindergruppen und Kinder-Erwachsene Gruppen in den Vordergrund. Diese Entwicklung hing auch mit Verbesserungen der Fototechnik und der Verbilligung fotografischer Abbildungen zusammen, doch muss sie vor allem auf einen Einstellungswandel gegenüber Kindern zurückgeführt werden. In den Jahren um den Ersten Weltkrieg herum waren es zunächst die spanischen Kronprinzen und in geringerem Umfang die Kinder von Adeligen, welche die Illustrierten als erste in Großaufnahmen abbildeten.8 Im Lauf der 1920er Jahre traten dann die neuen Kinderstars des Hollywood-Kinos hinzu, über welche auch die spanische illustrierte Presse seit Mitte der 1920er Jahre ausführlich berichtete und die auch neue Bildkompositionen von Kinderporträts popularisierten.9 7
Siehe etwa: La historia, que parece cuento, de un niño bueno, Crónica, 1.3.1931; Regalo de Reyes (Cuento), La Familia 313, Jan. 1934. 8 Titelblatt: Los Hijos de los Reyes de España, El Mundo Gráfico, 8.11.1911; El Bautizo de la Infantita Maria Christina, El Mundo Gráfico, 27.12.1911; La duquesa de Canalejas, con sus hijos, en uno de los salones de su casa, Esfera, 3.1.1914; Bildseite: Los Hijos de los Reyes, Esfera, 21.2.1914; Una fotografía original: La infanta Beatriz . . . besando á su muñeca, ebd. Als frühe Ausnahme: Nuestro Concurso de Belleza Infantil, Blanco y Negro, 4.1.1902. Das Bild zeigt sechs Portraits bürgerlicher Kinder. 9 Siehe nur: Irene de Falcon, Jackie Coogan „Chiquilín“ habla a los pequeños lectores de
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II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit Abbildung 4: „Nieve y Sol“ (Ausschnitt), Blanco y Negro, 14.2.1932
Die Entwicklung nahm zudem Formen einer „Demokratisierung“ von Kinderabbildungen an. Neben Adeligen und Filmstars publizierten die Zeitschriften immer mehr auch Einzelfotos von Mittel- und Unterschichtkindern. Bezeichnend für das neue Interesse am Einzelkind ist eine Fotoseite Anfang 1931 in Crónica, die neben einem Gruppenbild von Kindern des Madrider Waisenhauses, das in der Tradition der Fürsorgebilder steht, auch vier Großaufnahmen einzelner Waisenkinder enthält.10 Eine dritte Entwicklung lässt sich erkennen. Das gesunde, energie- und ressourcenvolle Kind bildete das
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Estampa, Estampa, 11.12.1928; Cinema: Los niños en el cine, Blanco y Negro, 14.2.1932; Pedro Massa, Cinematógrafo: „Las peripecias de Skippy“, Crónica, 10.7.1932. Pedro Massa, Epifanía: Lo que los niños de la Inclusa desean que les traigan los Reyes Magos, Crónica, 4.1.1931. Siehe weiterhin: Los niños, alegría de la vida. Cuatro bellos retratos infantiles hechos por el fotógrafo vienés Manassé, Cronica, 30.8.1931; Niños y Pájaros, Blanco y Negro, 24.1.1932. Bildseite: Los Niños, Blanco y Negro, 6.3.1932; „Los peques“ ante la cámara. Estudios fotográficos de niños, Crónica, 12.3.1933; ¡Día de Reyes! La alegría de la nena ante los regalos de los Magos, Crónica, Sondernummer 1934 (1935); Los dos niños más bellos de Francia, El Mundo Gráfico, 1.7.1936.
2. Kindheit in der populären Diskussion
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Abbildung 5: Selbstständige Kinder, sportliche Kinder: „CineBaby“, Macaquete, 26.12.1930.
Leitmotiv populärer Kinderbilder in den Jahren vor dem Bürgerkrieg. Kinder wurden in den 1930er Jahren immer weniger in häuslicher Umgebung und zunehmend in Freizeit- und Naturkontexten, im Schwimmbad, in den Bergen und am Meer abgebildet.11 Zwei wichtige Stoßrichtungen kennzeichneten insgesamt die neuen Kinderdarstellungen. Zunächst emanzipierten sich Kinder von Erwachsenen. Kinder traten zunehmend als eigenständige und aktive Protagonisten hervor, deren visuelle Darstellung unabhängig von Erwachsenen erfolgen konnte. Diese Entwicklung ist besonders in Sportbildern erkennbar, beschränkte sich jedoch nicht auf diese neue Bildergattung. Ein Foto in Estampa vom Sommer 1931 zeigt etwa ein Kind als Piloten eines kleinen Wasserflugzeuges, und ein Titelbild der Zeitschrift vom Frühjahr des gleichen Jahres zeigt in Großaufnahme einen kleinen, Zigarette rauchenden Jungen. Diese Abbildungen stehen zwar auch in einer Tradition pittoresker Kinderbilder, doch werden hier Kindheit, modernes Großstadtleben und Eigenständigkeit auf neue Weise zusammengefügt. Diese Entwicklung lässt sich 11
Dies wird besonders deutlich in der Durchschau der als politisch-religiöses Kampfblatt gegründeten Esto: Titelbild, Esto, 9.8.1934; Titelbild, Esto, 18.7.1935; Doctor X.X., La Vida de Nuestros Hijos: La Alegría, Esto, 18.7.1935.
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II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit Abbildung 6: „Die Auswirkungen der Ersten StraßenRadmeisterschaft für Kinder“, Crónica, 13.12.1931.
über die Zeitschriften hinweg, von der linksrepublikanischen Croníca bis hin zur rechtskatholischen Esto feststellen.12 Darüber hinaus ebneten sich auf den Bildern die Hierarchieunterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern ein. In den 1930er Jahren wurden Bilder von Kindern und ihren Eltern weniger hierarchisch-formal aufgebaut. Beide stehen nunmehr in einem potentiell gleichwertigen Nebeneinander. Fotos zeigen etwa Erwachsene und Kinder zusammen auf einem Schlitten oder beim Baden im Fluss.13 In humoristischen Zeichnungen konnte sich sogar die ikonische Hierarchie umkehren, wie etwa auf einer ganzseitigen Karikaturseite in Crónica im Anschluss an das von der Zeitschrift organisiertes Fahrradrennen für Kinder im Herbst 1931. Die Karikatur zeigt in Form eines Wimmelbildes eine Madrider Straßenszene, die vollständig von spielenden und tobenden Kindern beherrscht wird, während kein einziger Erwachsener auf der Abbildung zu sehen ist.14 Der Wandel in der visuellen Darstellung von Kindheit deutet auf fundamentale Verschiebungen in der öffentlichen Thematisierung von Kindern. 12
13 14
Bild, Estampa, 8.8.1931; Titelbild, Estampa, 14.3.1931. Siehe weiterhin: Deportes, Esto, 4.1.1934; Nieve y Sol, Blanco y Negro, 14.2.1932; Sin temor al frío, Blanco y Negro, 13.1.1935. Siehe als frühes Beispiel: La nieve como diversión y como espectáculo, Esfera, 31.1.1914. Las consecuencias del Primer Campeonato Infantil Ciclista, Crónica, 13.12.1931.
2. Kindheit in der populären Diskussion
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2.2 Spielen, Trainieren, Erobern: Das widerspenstige Kind als neues Leitmodell Regenerationistische und entwicklungspsychologische Neuformulierungen von Kindheit fanden breiten Eingang in die populäre Presse und konkretisierten sich in der Figur des niño travieso, des widerspenstigen, körperlich robusten und im Wortsinn die etablierten Grenzen von Kindheit in Frage stellenden Kindes. Waren Selbstständigkeit und Durchsetzungsfähigkeit, ja Kindheit als solche in den älteren Debatten, wie sie sich in normierter Form in den manuales de urbanidad niederschlugen, eindeutig negativ konnotiert gewesen, so wurden sie nach 1900 als positive Eigenschaften entdeckt. Das niño travieso wurde als Voraussetzung der Entwicklung reformerischer, unternehmungsfreudiger Persönlichkeiten im Erwachsenenalter betrachtet. Es bezog sich anfänglich vor allem auf Jungen, doch bestimmte es auch immer mehr das Idealbild des modernen Mädchens.15 Die neuen Anforderungen an Kindheit werden besonders deutlich in der Debatte um den Stellenwert von Spielen und Spielzeug. Pädagogen aller Lager hatten um 1900 den erzieherischen und entwicklungspsychologischen Wert des Kinderspiels entdeckt und propagiert, nachdem es in den Jahrzehnten zuvor vor allem als Zeitvertreib und Freizeitvergnügen angesehen worden war. Schon in diesen Debatten war das freie, unkontrollierte Spiel als bester Weg einer umfassenden und vollständigen Aktivierung der im Kind angelegten Eigenschaften pädagogisch aufgewertet worden.16 Die populären Illustrierten griffen diese Position in den folgenden Jahren immer wieder in Reportagen auf, welche die Vorzüge des kindlichen Spiels für die Persönlichkeitsentwicklung betonten. Rafael N. Olivares lobte beispielsweise in Crónica Anfang 1931 das Spiel als Förderer von „Gewandtheit, Entschlusskraft, Selbstbeherrschung, Wagemut, Würde, Courage, Ausdauer“. Das Spiel sei „der Tiegel, in dem sich der Charakter, die Persönlichkeit eines jeden Individuums formt“.17 Und auch Esto vertrat die Auffassung, „dass das Kind, welches zu spielen versteht [. . . ], in der Zukunft der nützliche Mensch sein wird, der keine Langeweile kennt.“18 Mit der neuen Wertschätzung des Spiels änderten sich die Verhaltensanfor15 16
17 18
Zum älteren, in der frühen Restaurationsära dominierenden Kinderleitbild siehe auch die Ausführungen in: Muñoz López, Sangre, S. 313f. Siehe hier nur: José Bonet y Costas, Lo que deben ser los juegos de los niños, El Magisterio Español 30.5.1900; Matilde García del Real, Lo que deben ser los juegos de los niños, EM 111, Junio 1900, S. 426–432. Zur ähnlichen Sicht aus katholischer Perspektive: Mme. July de Parenholth, El Juguete, RdEF 11, Dez. 1916; Fernando Garrigós, Educación extraescolar, in: Revista Calasancia 5 (1917), S. 337–350. Rafael N. Olivares, Reforma de Madrid, Crónica, 8.2.1931. Pedro Massa, Fiesta de Reyes: De lo saludable que es no respetar demasiado un juguete, Crónica, 8.1.1933; KAY, La Vida de nuestros hijos: Jugando . . . Jugando, Esto, 1.11.1934. Siehe auch: Visita partida en dos: ¿Cuales son los juguetes preferidos? Crónica, 5.1.1930.
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derungen im Umgang mit Spielzeug. Während die ältere Kinderliteratur die Kinder noch zu einem sorgsamen Umgang mit ihrem Spielzeug angehalten und seine Zerstörung unter Strafe gestellt hatte, erschien um 1930 gerade diese Zerstörung des Spielzeugs als Zeichen wirklichen, angemessenen Spiels und freier Persönlichkeitsentwicklung.19 Die mediale Durchsetzung des Modells des niño travieso zeigt sich weiterhin in vielen Reportagen über unabhängige, tatkräftige Kinder. Neben kindlichen Sportlern, die wir schon kennen gelernt haben und die ihre Kraft und Geschicklichkeit in Wettkämpfen unter Beweis stellten, präsentierte die Presse immer wieder Kinder, die sich die neue technische und industrielle Moderne gefügig machten: „Die Frage ist sich zu bewegen, die Erde und die Luft zu beherrschen, Herr und Meister der wundersamen Gegenstände zu sein“, dieses Bestreben ließ sich laut Crónica in den neuen Kindern Spaniens entdecken.20 Vorbildliche Kinder werden als selbstbewusste Akteure in der städtischen Öffentlichkeit dargestellt und als Beherrscher der technischen Moderne. Den Wandel hin zum neuen Leitmodell widerspenstiger Kindheit vollzog auch die katholische Presse mit. In zwei Artikeln in der katholischen Frauenzeitschrift Ellas kritisierte zum Beispiel die Reformerin Paquita Montilla zunächst Kinder, die „in höchstem Maße zuvorkommend“ und selbstlos auftreten, als „zerbrechliche Puppen“, die keine Widerstandskräfte gegen die Fährnisse des Lebens entwickelten, und beschrieb anschließend wohlwollend einen Jungen, der sich beim Spielen „herrschend und stark“ zeigte. Maria de Madariaga meinte in derselben Zeitschrift anlässlich eines Besuches in einem Kindergarten, dass alle gesunden Kinder „ausgelassen (retozón) und unartig (travieso)“ sein müssten.21 Diese Stellungnahmen standen im weiteren Kontext einer die politischen Lager übergreifenden Debatte über die Förderung kindlichen Durchsetzungsvermögens. Die liberale El Sol lobte beispielsweise im Frühjahr 1931 anlässlich einer Ausstellung von Kinderzimmern in Berlin, dass es Deutschland geschafft habe, ein „Volk von arbeitsamen Menschen, unternehmerischen Menschen zu formen“ und ihnen die Mittel in die Hand zu geben „um im Leben zu triumphieren“.22 Denselben Leitideen folgte in vielen Artikeln die Ratgeberkolumne von Teresa de Escoriaza in El Mundo Gráfico. Im Juni 1936 erklärte die Kolumnistin etwa, man müsse der nachwachsenden Generation eine „stärkende 19 20
21
22
Rodolfo de Salazar, Los Juegos y los Juguetes, Blanco y Negro, 15.1.1928. Zur älteren Position: Eusebio Blasco, Cuento: El Regalo de los Reyes, Blanco y Negro, 12.1.1901. P.M., Notas, visiones y anecdotario de la fiesta de Reyes, Crónica, 3.1.1932; La Educación del niño inglés, El Mundo Gráfico, 29.12.1920. Siehe weiterhin: Cuando los niños de la pantalla vuelven a ser niños, Doppelseite, Estampa, 9.5.1931. Paquita Montilla, Estampas infantiles: Ella es una mujercita, Ellas, 25.11.1934; Dies., Estampas infantiles: El Tiranuelo, Ellas, 2.12.1934; Maria de Madariaga, Una gran obra social: Las guarderías de párvulos de las misioneras franciscanas, Ellas, 26.6.1932. Siehe weiterhin: La Batalla, La Familia 329, Mai 1935. De la Vida Moderna: Juguetes, El Sol, 25.6.1931.
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Injektion“ verpassen, um sie zur Bewältigung der Krisen und Herausforderungen der Gegenwart zu befähigen. Weder blinder Glaube noch christliche Demut und Selbstverleugnung seien die richtigen Erziehungsziele. Vielmehr müsse es darum gehen, den Kindern „die Augen zu öffnen [. . . ] und sie dazu zu verpflichten, den Kopf zu heben. Sie müssen lernen zu sehen, zu widerstehen, zu kämpfen und zu siegen“.23 Die vielen Berichte über Sportwettkämpfe und Schönheitswettbewerbe feierten die Fähigkeit von Kindern, sich aufgrund ihrer Begabungen im Leben durchzusetzen und Erfolg zu haben. 24 Es ging implizit zunächst vorrangig um Jungen, wenn starke, selbstbewusste Kinder gefeiert wurden. Doch blieb der Wandel keineswegs nur auf das männliche Geschlecht beschränkt. Es waren gerade Mädchenfiguren, die in den frühen 1930er Jahren das niño travieso symbolisierten und die bürgerlich-konservative Illustrierte Estampa meinte gar, dass die Mädchen sich in der städtischen Öffentlichkeit aufgeweckter (despabiladas) zeigten als Jungen.25 Nirgends zeigt sich die Reichweite und Popularität des neuen Kindermodells besser als in der wahrscheinlich berühmtesten Kinderfigur Spaniens im vergangenen Jahrhundert, dem von der Autorin Elena Fortún (eigentlich Encarnación Aragoneses Urquijo, 1886–1952) geschaffenen liebenswert-ungezogenem Mädchen Célia, deren Abenteuer von Januar 1929 ohne Unterbrechung bis zum Beginn des Bürgerkriegs jede Woche in der Kinderbeilage Gente Menuda von Blanco y Negro erschienen und ab 1930 auch von dem Verlag Edición Aguilar als Bücher publiziert wurden.26 Das neue Leitmodell eröffnete den Kindern jedoch nicht nur neue Freiheiten, sondern verlangte von ihnen auch neue Anstrengungen. Insbesondere geriet das sozial angepasste, introvertierte Kind in die Kritik. Viele Reportagen und fiktionale Geschichten erklärten es implizit zu einer Pflicht der Kinder, ihren Körper zu trainieren und die in ihnen angelegten Talente zu entfalten. Eine Geschichte in Estampa von 1928 kann dies veranschaulichen.27 In ihr wird ein Kind Lucía kritisiert, dass sein Spielzeug, aus Angst es zu zerbrechen, nicht anrührt und sich dadurch von anderen Kindern isoliert. Sie verstößt damit gegen die neue Anforderung an Kinder, der Welt aktiv forschend und unternehmerisch gegenüberzutreten und sich ihren Mitmenschen sozial aufgeschlossen zu zeigen. Tatsächlich wird ihr Verhalten in der Geschichte geahndet. Von Ameisen, tierischen Symbolen von Fleiß und Arbeitsethik, wird sie verhaftet, 23 24 25
26
27
Teresa de Escoriaza, Página de la Mujer, El Mundo Gráfico, 3.6.1936. Siehe etwa: Enrique Malboysson, „Miss Fallera Infantil“ tiene cinco años, Estampa, 28.12.1935. ¿Que le piden los niños a los Reyes Magos en 1936? Encuesta por J. Lorrenzo Carriba, Estampa, 21.12.1935; Massa, Fiesta de Reyes: De lo saludable que es no respetar demasiado un juguete, Crónica, 8.1.1933. Carmen Martín Gaite, Prólogo, in: Elena Fortún, Célia, lo que Dice, Madrid 1992, S. 7– 44, zu Célia S. 34–36. Siehe auch: Marisol Dorao, Los mil sueños de Elena Fortún, Cadiz 1999; Villasante, Elena Fortún. Página de Baby: Hormiguita. Cuento, Estampa, 1, 3.1.1928.
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angeklagt und von einem Gericht unter dem Vorsitz einer sprechenden Ameisenkönigin zu täglichem Spielen verurteilt. Das Urteil ist erfolgreich: Lucía ändert in der Folge ihre Einstellung zu ihrem Spielzeug und wird beim gemeinsamen Spiel mit anderen Kindern glücklich. Kinder, die keine Aktivität und keinen Eroberungsdrang zeigten, erscheinen hier auf neue Weise als problematisch und medizinisch-pädagogischer Behandlung bedürftig. Die Entfaltung des neuen hegemonialen Leitbildes von Kindheit und der in ihm angelegten Spannungen lassen sich durch eine Betrachtung von an ein Mittelschichtenpublikum gerichteten Werbeanzeigen weiter präzisieren. Werbung für Hygieneprodukte und Nahrungsmittel für Kleinkinder findet sich in der spanischen Presse vereinzelt schon am Ausgang des 19. Jahrhunderts. So warb eine österreichische Firma bereits 1892 für das Nahrungsergänzungsmittel Harina Victoria für Säuglinge.28 In regelmäßiger Form erschien Werbung für Produkte der Kinderpflege jedoch erst seit dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Bis zum Bürgerkrieg nahm sie im Umfang deutlich zu und differenzierte sich hinsichtlich Produktgruppen und Werbeformen aus. Eine erste große Neuerung der Werbung war der neue Akzent auf der körperlichen Gesundheit und Robustheit als Kennzeichen idealer Kindheit. Die Werbung für Nahrungszusätze, Seifen und Puder, die deutliche Anleihen bei der internationalen Hygienebewegung der Zeit nahm und zudem das Vokabular der politischen Reformdebatten nach 1898 aufgriff, zielte auf eine physische Stärkung der Kinderkörper. Schon die Werbeanzeige von 1892 versprach die kindlichen „Knochen zu stärken und das Blut zu regenerieren“. In gleichem Tonfall wollte der Nahrungszusatz Hipofositos Salud 1921 dazu beitragen, „ihre Kleinen rasch zu kräftigen (robustecer)“.29 Die Darstellung von körperlicher Gesundheit als Kern von Kindheit wurde in den frühen 1930er Jahren weiter ausgebaut und in drastische Bilder und Worte verpackt. Der Hersteller des Nahrungsergänzungsmittels Natel warb 1930 etwa mit einer Zeichnung, die einen körperlich kräftigen Jungen in Sportkleidung zeigt, der eine extrem dünne Jungenfigur eine steile Klippe emporzieht. Der Produzent von Hipofositos Salud versprach im Juni 1936, Kinder „stark wie Eichen, mächtig und siegreich“ zu formen. Das Nahrungsmittel schaffe „starke, optimistische, zur Arbeit taugliche Menschen“.30 Die hier zitierte Werbung spiegelte und popularisierte eine Kindheitskonzeption, deren Kern nicht länger tugendhaftes Verhalten, sondern körperliche Gesundheit und Kraft bildeten. Sie lässt sich einbetten in die oben dargestell28 29
30
Harina Victoria para niños, Blanco y Negro, 3.1.1892. Ebd.; Hipofositos Salud, El Mundo Gráfico, 15.6.1921. Siehe auch: Las amas de cria estan de mas, El Mundo Gráfico, 2.11.1911. Zur Geschichte der Hygienewerbung vgl. Ute Daniel, Der unaufhaltsame Aufstieg des sauberen Individuums. Seifen- und Waschmittelwerbung im historischen Kontext, in: Imbke Behnken (Hrsg.), Stadtgesellschaft, S. 43– 60. Natel, Blanco y Negro, 5.1.1930; Hipofositos Salud, El Mundo Gráfico, 24.6.1936.
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Abbildung 7: Werbeanzeige „Natel“, Blanco y Negro, 5.1.1930.
ten allgemeinen Debatten um gesellschaftliche Reform durch die Formung neuer robuster Kinder und erhob die Herstellung solcher starker Personen zu einem erstrebenswerten Erziehungsziel. Die Werbeanzeigen gingen jedoch allmählich über den Entwurf körperlicher Gesundheit als erstrebenswertes Kennzeichen gelungener Kindheit deutlich hinaus, indem sie auch die Entfaltung und Förderung kindlicher Talente sowie einen positiven seelischen Zustand als Elemente neuer Kindheit entwarfen. Dies zeigte sich vor allem in der Spielzeugwerbung, die sich in den 1920er Jahre etablierte. Der Großteil dieser Werbung warb für mechanische Baukästen für Jungen. Die Werbung versprach, die Begabungen der Kinder zu aktivieren und sie in Richtung nützlicher, praktischer Tätigkeit zu lenken. Der Hersteller des Baukastens Meccano versicherte beispielsweise nicht nur, den Kindern „gesunde Unterhaltung“ zu bieten, sondern auch, sie „in die Geheimnisse des Ingenieurwesens einzuführen“ und ihnen „ein Wissen zu vermitteln, das ihnen in der Zukunft von unschätzbarem Wert“ sein werde.31 Die Spielzeugwarenhersteller propagierten ein Bild des (männlicher) Kindes als forschend, weltzugewandt und mit rastloser Energie ausgestattet. Mit diesem Programm fügte sich die Werbung reibungslos in regenerationistische 31
Meccano, Estampa, 13.12.1930. Als frühes Beispiel: Sr. José Palouzié Serra, Barcelona, El Mundo Gráfico, 21.12.1921. Weiterhin: La alegría del niño, Crónica, 18.12.1932; Trix, La Vanguardia, 1.1.1936.
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II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit Abbildung 8: Werbeanzeige „Meccano“, El Mundo Gráfico, 21.12.1921.
Projekte einer Erziehung der Kinder zu tatkräftigen Erneuern der spanischen Gesellschaft ein. Nicht zuletzt über Werbeanzeigen wurden regenerationistische Kindheitsvorstellungen popularisiert. Die Ausweitung der Werbung auch auf die seelische Verfassung des Kindes stellt die vielleicht wichtigste Entwicklung der frühen 1930er Jahre dar. Neben die körperliche Durchsetzungsfähigkeit und die Entfaltung der Talente rückte der seelische Glückszustand als drittes zentrales Kriterium geglückter Kindheit und Erziehung. Wie die Kinderreformdebatten dominierte der Zweiklang aus körperlicher und seelischer Gesundheit, „Fröhliche Kinder, gesunde Kinder“, wie es eine Werbeanzeige von 1931 verhieß, die Werbung für Kinderprodukte immer mehr. Die Forderung, dass „die Kleinen glücklich sein müssen“, prägte auch die Werbung in den 1930er Jahren.32 Doch das neue Leitmodell von Kindheit war höchst ambivalent. Es stand im Mittelpunkt umfassender Reformhoffnungen, weckte jedoch auch neue Ängste und enthielt auch neue und gestiegene Ansprüche an die Eltern und an die Gesellschaft insgesamt. Deutlich zeigt dies ein erweiterter Blick auf Werbeanzeigen. Das hoffnungsvolle Versprechen gesunder, starker und glücklicher Kinder fand seine Entsprechung in neuen gesellschaftlichen Sorgen um 32
Hipofositos Salud, Estampa, 11.4.1931; Los pequeños deben estar alegres: Goloso. Sabor naranja, Heraldo de Madrid, 9.6.1931. Siehe nur weiterhin: Boston Zapatos, Estampa, 4.12.1928; Maizena. Cria niños robustos, El Mundo Gráfico, 16.11.1932.
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die Kinder, welche die Werbung wiederum sowohl widerspiegelte als auch eigennützig beförderte. „Das Aufwachsen der Kinder“, so eine Werbeanzeige für Hipofositos Salud aus dem Jahr 1934, „darf nicht dem Zufall überlassen werden, denn das Schicksal reserviert gewöhnlich schwere Schicksalsschläge für diejenigen Kinder, die schwach und unzureichend ernährt sind“.33 Die aufscheinenden Sorgen um Kinder waren unterschiedlicher Natur. Wenig überraschend dominierten in der Gesundheits- und Nahrungsmittelwerbung zunächst Warnungen vor gesundheitlichen Schäden infolge falschen hygienischen Umgangs und minderwertiger Ernährung. Doch waren die Gefahren von Witterung, Keimen und falschen Nahrungsmitteln, gegen die es den kindlichen Organismus zu schützen galt, nicht die einzigen Sorgen, welche die Werbung ausbuchstabierte.34 Ebenso bedrohlich erschienen die Gefahren seelischer Beeinträchtigungen, die besonders in den letzten Jahren der Republik von der Werbung thematisiert wurden. Lustlosigkeit und Traurigkeit von Kindern waren neue Probleme, die elterliches Eingreifen erforderlich machten. So präsentierte eine ganzseitige Werbeanzeige für die Kekssorten María Artiach y Chiquilín eine auf Albrecht Dürers Melencolia I (1514) verweisende Zeichnung eines Jungen, der nicht spielen und essen mag, und warnte: Nur mit einer angemessenen Ernährung könne eine „gefährliche Lustlosigkeit (desganas) des Kindes“ vermieden werden.35 Eine andere Reklame für einen Nahrungszusatz erklärte ganz ähnlich die „Indifferenz gegenüber den Spielen und der Freude der anderen Kinder“ zu einem gravierenden Problem: „Ein trauriges und zurückgezogenes Kind muss durch Jarabe de Salud behandelt werden.“36 Nicht nur der kindliche Körper, auch die Gemütsverfassung des Heranwachsenden war veränderbar, unterlag damit aber auch der elterlichen Sorge. Schließlich versuchte die Werbung seit den 1920er Jahren, Kinder als gesellschaftliches Statussymbol zu präsentieren. Eltern sollten vor allem in der Reklame für Hygiene- und Schönheitsmittel ihre Kinder als Distinktionsobjekte entdecken. Besonders für Haarfärbemittel, die eine Blondierung des kindlichen Haars versprachen, wurde intensiv geworben. Der Hersteller eines Haarmittels argumentierte beispielsweise 1932, dass eine Blondierung der Kinderhaare „ein Zeichen guten Geschmacks und Distinktion“ sei und ein Jahr später bewarb er sein Produkt, indem er die vermeintlich unausweichliche Bewunderung und den Neid im Bekanntenkreis gegenüber einem solchermaßen verschönerten Kind beschrieb, das „wie ein Garten duften“ würde.37 33 34 35 36 37
Hipofositos Salud, Esto, 10.5.1934. Siehe nur: Harina Lacteada Nestle, Crónica, 5.12.1932; Jarabe Famel: Resfriados de los niños, Blanco y Negro, 5.1.1936. Galletas María Artiach y Chiquilín, El Mundo Gráfico, 19.10.1932. Hipofosfitos Salud, El Mundo Gráfico, 3.6.1936. Camomila Intea: Los niños rubios son un encanto, El Mundo Gráfico, 12.1.1932; Camomila Intea, Crónica, 26.2.1933. Siehe auch: Rubior Emilmat, Ahora, 22.3.1935; Molfort´s,
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II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit Abbildung 9: „Unlust“, Werbeanzeige (Ausschnitt) „María Artiach y Chiquilín“, El Mundo Gráfico, 19.10.1932.
Insgesamt vermittelte die Werbung der frühen 1930er Jahre ein Bild von bürgerlicher Kindheit als außerordentlich chancenreich, aber gleichzeitig zahlreichen Belastungen und Gefährdungen ausgesetzt. Die Kinder, so der Tenor vieler Werbeanzeigen, befänden sich in einem harten Konkurrenzkampf mit Altersgenossen, für das die Eltern sie durch richtige Pflege und Ernährung vorbereiten müssten. So rief eine Anzeige vom Februar 1931 den Eltern zu, dass die „doppelte Anstrengung zu lernen und zu wachsen“ die kindlichen Kräfte leicht überfordere. Diese bedürften deshalb Unterstützung: „Man muss hart arbeiten, um sich seinen Weg im Leben zu bahnen! Aber nicht auf Kosten der Gesundheit!“38 Ganz ähnlich stellte eine Werbung von 1936 die gewachsenen Belastungen des Kindes, das gegenüber der Vergangenheit „doppelte Energie zum Spielen, Lernen und Wachsen“ benötige, in den Kontext einer intensiven gesellschaftlichen Konkurrenzsituation als Grundtatsache der Gegenwartsgesellschaft. Eine fiktive Mutter zeigt sich in der Anzeige erschüttert, dass andere Kinder ihren Jungen für „schwach wie ein Mädchen“ halten. Und die Mutter einer anderen Werbeanzeige schämt sich angesichts der Behauptung von Bekannten, ihr Kind sei schlecht ernährt
38
S.A.: ¡Como Papá! (Sockenwerbung), El Mundo Gráfico, 13.5.1936. Als frühes Beispiel: Petróleo Gal, Esfera, 24.1.1914. Emolución Scott, Estampa, 14.2.1931. Siehe auch: Carne Liquida: Cuidado con la salud de sus hijos, El Mundo Gráfico, 27.5.1936.
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und verkündet: „Ich würde es so gerne sehen, dass mein Sohn mit seinen Kameraden in Wettstreit treten kann.“39 Insgesamt repräsentierten die Illustrierten (bürgerliche) Kinder Ende der 1920er Jahre immer mehr als hochkomplexe Wesen, deren Verständnis Mühe kostete. Eine Autorin der republiknahen Frauenzeitschrift Mujer hob die Genüsse hervor, die ein Studium von Kindern, „ihrer komplexen Psychologie und unerwarteten Reaktionen“ bereite, benannte aber auch die Schwierigkeit des Verstehens: „Die Probleme, die sich in der inneren Welt dieser im Wachsen begriffenen Einbildungskraft präsentieren, sind so kompliziert, dass generell die Erwachsenen es aufgeben, sie zu entziffern.“40 Schwang in dieser Aussage noch keine Besorgnis mit, so äußerte sich in anderen Artikeln eine neue, an neurasthenischen Diskursen der vergangenen Jahrzehnte geschulte Sorge vor psychischen Deformationen des Kindes. „Emotionale Hemmungen“ von Kindern und „erregbare Kinder, die nervöse Krisen erleiden“ tauchten Anfang der 1930er Jahre auf den Seiten der Illustrierten auf. Auch die katholische Esto sprach der „psychischen Hygiene“ in der Kindererziehung neuen Wert zu. Die Eltern müssten lernen, beruhigend auf „nervöse, reizbare, frühreife kleine Kinder“ einzuwirken und diese nicht aus irregeleitetem Stolz in einer konstanten geistigen Anspannung zu halten.41 Das psychische Wohlbefinden des Kindes erlangte in den Mediendebatten eine neue Bedeutung für seine Entwicklung, es wurde dadurch aber auch zum Objekt neuer Gefährdungen und Sorgen. Für bürgerliche Eltern verbanden sich somit die Versprechen neuer Chancen für ihre Kinder, die es durch eine intensive Betreuung des Aufwachsens der Kinder zu nutzen galt, mit neuen Sorgen um Heranwachsende, die nicht mehr allein basale Faktoren wie Ernährung und Kleidung, sondern auch das psychische Gleichgewicht und die gesellschaftliche Außenwirkung ihrer Söhne und Töchter betrafen. Der Umstand, dass sich der Wandel über Zeitschriften und kulturelle Lagergrenzen hinweg erstreckte, verweist darauf, dass es sich hierbei tatsächlich um eine grundlegende Veränderung in den populären Vorstellungen von Kindheit handelte. Wandte sich die Werbung hauptsächlich an die Eltern, so besaßen die neuen Anforderungen an und Sorgen um Kindheit jedoch auch weitergehende gesellschaftliche und politische Dimensionen.
39 40 41
Ovomaltina, Blanco y Negro, 15.3.1936; Ovomaltina: ¡Qué Humilación! Blanco y Negro, 26.1.1936. Renée de Hernández, La Mujer y los niños, Mujer, 1.8.1931. La vida de nuestros hijos: La educación debe empezar con la primera sonrisa, dice el doctor Víctor Pauchet, Esto, 15.11.1934. Zur Neurastheniedebatte: Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998.
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2.3 Kinder als Hoffnung und Bedrohung. Kindheit und Gesellschaft in populären Kindergeschichten Literarische Geschichten für Kinder, welche die führenden Illustrierten der 1930er Jahre wöchentlich publizierten, bildeten einen wichtigen Reflexionsort zeitgenössischer Kindheit und bieten sich deshalb als Quellen an, um Veränderungen von Kindheitsvorstellungen zu untersuchen. Ihre Lektüre kann im Verbund mit der Durchsicht allgemeiner Kommentare zu Kindheitsproblemen helfen, zentrale Motive der Kindheitsdebatten zu identifizieren, welche den Handlungsrahmen für Kinderreformbewegungen und kinderpolitische Maßnahmen bildeten. Die Erzählungen, die fast alle wichtigen Zeitschriften im Format von Kurzgeschichten wöchentlich publizierten, lassen sich als Experimente verstehen, die Chancen und Probleme neuer Kindheit ausloteten. Zwar richteten sich die Kindererzählungen in erster Linie an eine heranwachsende Leserschaft, doch abgesehen davon, dass die Geschichten in der Praxis auch unter Erwachsenen äußerst populär waren, bedeutet dies nicht, dass ihre Inhalte belanglos und rein infantil gewesen wären. Vielmehr verhandelten sie unter der Oberfläche märchenhafter Geschichten allgemeine Themen von Kindheit in der zeitgenössischen Gesellschaft. Im Folgenden sollen wirkmächtige Arten der Darstellung von Kindheit sowie inhärente Widersprüche moderner Kindheit identifiziert werden, bevor nach Arten der Verbindung von Kindheit und politischen Gesellschaftsentwürfen in den Geschichten gefragt wird. Am Ende der 1920er Jahre eroberte eine Gruppe junger Kinderliteraten die Vormachtstellung im Feld der Kinderliteratur, wie es sich in den populären Illustrierten konstituierte.42 Autoren wie Salvador und Piti Bartollozi, Magda Donato, Elena Fortún und Antonio Robles wandten sich gegen das vorherrschende Genre der bürgerlichen Moralgeschichten und bemühten sich um eine Erneuerung der spanischen Kinderliteratur, welche die neuen Erkenntnisse über die Funktionsweise des kindlichen Geistes berücksichtigen und gleichzeitig auf neue Weise aktuelle Probleme des Kindseins in Spanien reflektieren sollte. Neben der Rezeption der literarischen Avantgarde, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, reagierten die neuen Kinderliteraten auf intensive pädagogische Debatten über Kinderliteratur. Kindheitsreformer versuchten, die literarische Produktion für Kinder den neuen Leitbildern von 42
Als Grundlagenwerke: Jaime García Padrino, Libros y Literatura para Niños en la España Contemporánea, Madrid 1992; Carmen Bravo Villasante, Historia de la Literatura Infantil Española, Madrid 1959. Zu einzelnen Kinderschriftstellern: Diana Soriano Casado, El Señor que se Comió un Mundo, de Antonio Robles. El Absurdo y la Fantasía en los Cuentos Infantiles, Alicante 2001; Marisol Dorao, Los Mil Sueños de Elena Fortún, Cadiz 1999; Carmen Bravo Villasante, Elena Fortún, Madrid 1986.
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Kindheit anzupassen. Sie forderten eine neue Behandlung des Innenlebens des Kindes, dessen Andersartigkeit gegenüber der erwachsenen Psyche neu betont wurde.43 Die älteren Moralgeschichten erschienen nun schematisch, weltfremd und pädagogisch unwirksam und sogar schädlich, da sie die kindliche Imagination beschnitten und überfrachteten: „Wir glauben nicht in die Wirksamkeit der Erzählungen mit moralisierenden Kommentaren (apostillas moralizantes) [. . . ] Der Wert der Maxime ist immer minimal.“44 Diese Opposition gegen die ältere Tradition bedeutete aber keineswegs die Befürwortung einer völligen erzählerischen Freiheit. Ebenso sehr wie gegen die alte Moralliteratur wandten sich die neuen Theoretiker gegen eine ungeschützte Konfrontation der Kinder mit der Realität des Erwachsenlebens, die ihnen als „brutal und verstörend“ erschien und an welche die Kinder behutsam herangeführt werden müssten. Auch die neuen Kinderliteraten vertraten ein didaktisches Programm. Von Kinderexperten durch Ratschläge unterstützt, hätten Eltern und Schule die Aufgabe, das Leseverhalten der Kinder zu überwachen und zu steuern. Ein Erzieher forderte in hygienischem Vokabular sogar eine umfassende „Entseuchung der Kinderliteratur“.45 Positiv gewendet, sollte die geforderte neue Kinderliteratur an den kindlichen Voraussetzungen und Interessen anknüpfen und die Imagination des Kindes gleichzeitig fördern und kanalisieren. Hatten ältere Erzieher Kinderliteratur noch ausschließlich als Verstandes- und Tugendschule verstanden, so stellte sich für die neuen Theoretiker die Hauptfrage, „wie die kindliche Imaginationsfähigkeit kultiviert werden könne“. In diesem Sinne forderte ein Autor: „Wir müssen dem Kind in seinen ersten Jahren das höchstmögliche Maß an Freude geben und es sich in süßen Fiktionen wiegen lassen, bevor wir es mit der Realität bekannt machen [. . . ] Wachen wir darüber, aus dem Kind nicht vorzeitig ein berechnendes Verstandeswesen zu machen und es zu zwingen, die erste Etappe seines Lebens, die edelste unter allen, zu verlassen.“46 43
44
45
46
Siehe im Kontext der kinderliterarischen Debatten etwa: Jeroni Moragues, Condicions Psicologiques de la Literatura per a infants, in: RPP 11, August 1935, S. 251–64, hier S. 264. J. Sanchez Trincado, Los cuentos en la escuela, in: RdP 13 (1934), S. 56–61, hier S. 61. Weiterhin: H. Almendros, El niño y la lectura, in: Escuelas de España 14, Feb. 1935, S. 58– 69. Marcel Braunschvig, La literatura infantil, in: BILE 38 (1914), S. 257–266, hier S. 266; José Mallart, Protección del niño conta la desviación intelectual producida por cierta literatura imaginativa, in: BILE 50 (1926), S. 145–47. Weiterhin: Carlota Kett, La lectura de nuestros niños, in: BILE 50 (1926), S. 225–233, 257–261. Marcel Braunschvig, La literatura infantil, in: BILE 38 (1914), S. 257–266, hier S. 258. Diese Position stellte den gemeinsamen Nenner der Debatten der 1920er und 1930er Jahre dar. Siehe etwa: José Mallart, Protección del niño contra la desviación intelectual producida por cierta literatura imaginativa, in: BILE 50 (1926), S. 145–47; Dr. J. Sanchís Banús, La psicopatología y los cuentos infantiles, in: RdP 7 (1928), S. 212–220; Amado Nervo, Libros de niños. Libros para niños. Los niños en la vida y en el arte, in: BILE 51 (1927), S. 199–202; Manuel Abril, Los cuentos de los niños y los cuentos de los hombres,
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Moderne Kinderliteratur hatte die doppelte Aufgabe, die kindliche imaginative Energie zu entfachen und sie gleichzeitig zu kanalisieren und zu schützen. Die beste Literatur war dabei diejenige, die sich in einem mimetischen Prozess möglichst vollständig der Logik des kindlichen Geistes annäherte. In einer radikalen Zuspitzung dieser allgemeinen Ansicht meinte der Erzieher H. Almendros Anfang 1935 gar, dass in der Zukunft die beste Kinderliteratur von Kindern selbst stammen werde.47 In den späten 1920er Jahren konnte sich die neue Gruppe von Kinderliteraten zunehmenden Raum in den populären Medien erobern. Ihre erzählerischen Neuansätze trafen auf einen wachsenden Zeitschriftenmarkt, auf dem sich neben den etablierten Illustrierten wie Blanco y Negro, Esfera und El Mundo Gráfico neue aufstrebende Journale wie Cósmopolis, Estampa und Crónica eine Leserschaft suchten. Die Rekrutierung begabter Kinderschriftsteller war in dieser Situation für die Herausgeber eine interessante Möglichkeit, sowohl das neue öffentliche Interesse an Kindheit – und auch neue Kinderinteressen an Zeitschriften – zu befriedigen, als auch sich gegenüber der wachsenden Konkurrenz auf dem Zeitschriftenmarkt abzusetzen. In den 1930er Jahren konnte es sich kaum eine Zeitschrift mehr leisten, keine Kinderseiten und Kindergeschichten im publizistischen Angebot zu führen. Die kommerziellen Interessen zusammen mit der Popularität der neuen Kindergeschichten trugen dazu bei, dass der literarische Einfluss der neuen Kinderliteraten trotz ihrer zumeist vorhandenen liberalen oder linken politischen Sympathien weit in das katholisch-nationale Spektrum hinein reichte. Besonders gut lässt sich dies anhand der Geschichten von Elena Fortún nachweisen. Fortún lernte über ihren Ehemann Eusebio Gorbea in den 1920er Jahren viele wichtige Figuren der literarischen „Generation von 1914“ kennen, darunter Gregorio Martínez Sierra und pflegte zudem enge Kontakte zu den links-liberalen, feministisch orientierten Kreisen um María de Maetzu und den 1926 gegründeten Lyceum Club femenino. Nach Beginn des Bürgerkrieges schlug sie sich auf die republikanische Seite, bevor sie nach Argentinien emigrierte, von wo sie erst kurz vor ihrem Tod im Jahr 1952 nach Spanien zurückkehrte. Ihre Geschichten lassen sich trotz ihres mehrheitlich linksliberalen sozialen Umfelds jedoch politisch nicht eindeutig festlegen und fanden
47
Blanco y Negro, 17.1.1932. Als dezidiert katholische Stellungnahme: Paquita Montilla, El periódico hecho por el niño, La Enseñanza Católica, Ergänzungsheft zu Nr. 451, Febrero 1933. Die ältere Position vertritt: Simón Aguilar Claramunt, La Buena Lectura (I.), El Magisterio Español, 13.6.1900. Schon um 1900 gab es erste Absetzbewegungen von der Tradition. Juan José Hernández kritisierte 1901 beispielsweise die Weltfremdheit und den Schematismus der dominierenden Kinderliteratur, wollte jedoch Literatur weiterhin als „großes Moralisierungsmedium“ (gran medio para moralizar) nutzen. Geschichten für Kinder sollten zwar gefällig geschrieben werden, aber auch einen „guten moralischen Grund (un buen fondo moral)“ besitzen: Juan José Hernández, Educación de la voluntad (Teil II), EM 126, Sep. 1901, S. 161–173. H. Almendros, El niño y la lectura, in: Escuelas de España 14, Feb. 1935, S. 58–69.
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auch große Resonanz in rechts-republikanischen und konservativen Illustrierten. Nachdem sie Ende der 1920er Jahre zunächst Kurzgeschichten für die Kinderzeitschrift Macaco, die eine deutlich national-patriotische Ausrichtung aufwies, verfasst hatte, erschienen ihre berühmtesten Geschichten, welche die Abenteuer des Mädchens Célia zum Thema hatten, wie erwähnt in dem bürgerlich-konservativen Kindermagazin Gente Menuda. Für die Mitarbeit in der Zeitschrift hatte sie der berühmte monarchienahe Herausgeber von ABC und Blanco y Negro Torcuato Luca de Tena y Álvarez Ossorio gewinnen können.48 Ein anderes Zeichen für die kulturelle Reichweite der neuen Kinderliteratur ist die Wertschätzung von Antonio Robles, der nach 1936 unter anderem Propagandageschichten für die republikanische Seite verfasste, in der konservativen Tageszeitung ABC, die nach Beginn des Bürgerkrieges Partei für die aufständischen Generäle ergriff. In einem längeren Essay, der im Übrigen hart mit der Kinderpolitik der republikanischen Linken ins Gericht geht, werden die Kindergeschichten von Robles als vorbildlich gefeiert.49 Die weite Reichweite zeigt, dass es die neue Kinderliteratur vermochte, über politische Lagergrenzen hinweg grundlegenden Ansichten, Hoffnungen und Ängsten der urbanen bürgerlichen Mittelschichten Ausdruck zu verleihen. Trotz ihrer großen Bedeutung dominierten die neuen Kinderliteraten die fiktionale Darstellung von Kindheit jedoch keineswegs vollständig. In den Zeitschriften der katholischen und nationalen Rechten konnte sich auch eine alternative literarische Strömung einen gewissen Raum erobern. Blicken wir zunächst auf die dominante Strömung neuer Kinderliteratur. Deren kulturelle Attraktivität, die wohl zu einem großen Teil ihren Erfolg bei den Lesern erklärt, bestand wesentlich darin, dass sie einerseits die Widersprüche des neuen Leitbildes des selbstständigen Kindes und der mit ihm verbundenen neuen Anforderungen an Kinder und Erwachsene in verfremdeter Form erörterte, andererseits Kinder als Protagonisten von Gesellschaftsverbesserung entwarf. Zunächst muss festgehalten werden, dass auch viele Geschichten das widerspenstige und selbstständige Kind feierten. Eine Bildgeschichte, die in mehreren Folgen Anfang 1930 in Crónica abgedruckt wurde, handelt beispielsweise von einem abenteuerlustigen Jungen, der davon träumt, Pilot zu werden, und schließlich tatsächlich mit einem eigenen Flugzeug selbstständig die Welt bereist und den Lesern in einzelnen Kapiteln von fremden Ländern berichtet.50 Ein weiteres modernes Kind begegnet uns in der Geschichte „Carrete va al Africa“ von 1932, in der ein Junge auf Großwildjagd geht, wilde Tiere überlistet und diese schließlich gezähmt nach Hause führt.51 In einer Geschichte aus dem Jahr 1935 legt sich 48 49 50 51
Siehe die detaillierte Liste aller in Zeitschriften publizierten Geschichten von Elena Fortún in: Bravo-Villasante, Fortún, S. 60–76. José María Salaverria, El Mundo de los Niños, ABC, 30.12.1932. Robledano, Un vuelo alrededor del mundo, Crónica, 2.2.1930. Página infantil: „Carrete“ va al Africa, Crónica, 24.1.1932.
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der Junge Miguel sogar mit seinem Schutzengel an, der ihn mit ständigen moralischen Belehrungen peinigt, befreit sich mit List von ihm und tritt während seiner anschließenden Abenteuer auf einer Weltreise selbst dem Teufel unerschrocken entgegen.52 Die Autoren der hier exemplarisch beschriebenen Geschichten knüpften an die großen literarischen Vorbilder selbstständiger und gewitzter Kinder an, wie sie insbesondere in der Tradition der Picaro-Romane, der Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts und einigen klassischen Kindererzählungen des späten 19. Jahrhunderts kreiert wurden. Eine besondere Bedeutung hatte im spanischen Kontext die Hauptfigur von Carlo Collodis klassischer Kindererzählung „Pinocchios Abenteuer“ von 1883.53 Es ist kein Zufall, dass Pinocchio der Namensgeber sowohl einer der einflussreichsten spanischen Kinderzeitschriften (1925) als auch des ersten Madrider Kindertheaters (1929/30) wurde. In einer Besprechung des ersten Programms dieser von dem wichtigen Kinderautor und Künstler Salvador Bartolozzi im Teatro Calderón eingerichteten Kinderbühne wurde die Theaterfigur Pinocchio entsprechend als Modell moderner Kindheit charakterisiert als „so gewandt in der Kunst der Verkleidung und Schläue wie mutig in seinen Unternehmungen und großherzig.“54 Viele Kindergeschichten entwarfen vor diesem Hintergrund Kinder als Protagonisten gesellschaftlicher Versöhnung und Hoffnungsträger neuen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Sie gaben intensiven Hoffnungen einer Regeneration der Erwachsenenwelt durch Kinder Ausdruck. Anschaulich zeigt ein Artikel von Edmundo González Blanco aus dem Jahr 1912 die allmähliche Durchsetzung dieser neuen Sichtweise. In einer fiktiven Ansprache an seinen schlafenden Sohn bekennt der Autor, „die Kinder zu beneiden [. . . ] und eine Art von respektvollem Erstaunen“ ihnen gegenüber zu empfinden. Nur in der Kindheit gebe es wahre Glückseligkeit und Vollkommenheit, während die Erwachsenen gespaltene, „komische Invaliden“ seien. Kinder seien „perfekt in ihrer Art“.55 Wie González Blanco stellten viele Kommentatoren in den folgenden Jahren der „perfekten“ Kinderwelt die vermeintlich degenerierte, enthumanisierte Welt der Erwachsenen gegenüber. Auch Pedro Massa stellte zwanzig Jahre später, im Juli 1932, die „Herzlichkeit und Zärtlichkeit der Kleinen“ der „Grausamkeit und Gleichgültigkeit“ der Erwachsenen gegenüber und ein Artikel in Estampa kontrastierte 1931 anlässlich einer Reportage über die Badesaison das in Konventionen erstarrte Erwachsenenleben in dem Café eines Seebads mit der natürlichen Freiheit der Kinder am 52 53
54 55
Elena Fortún, Un cuento para niños: El alma de la maricastaña, Crónica, 10.3.1935. Eine gute historische Kontextualisierung des Buches von Collodi liefert: Carl Ibsen, Italy in the Age of Pinocchio. Children and Danger in the Liberal Era, New York 2006, S. 1– 4, 197–206. Siehe bes. S. 202 zur Charakterisierung Pinocchios als „subversive or nonmodel child“. Actualidades Teatrales, Blanco y Negro, 12.1.1930. Edmundo González Blanco, Adormeciendo á Juanín, El Mundo Gráfico, 31.1.1912.
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Strand.56 Rafael Suárez Solis argumentierte schließlich in Crónica anlässlich des Dreikönigstages 1936, dass an diesem Tag nicht Erwachsene den Kindern eine wunderbare Welt eröffneten, sondern dass es umgekehrt die Kinder seien, welche „uns mitnehmen und zeigen, wie reduziert unser Leben geworden ist“.57 In dieser Perspektive nahmen die Reyes-Feiern für einen wichtigen Teil der öffentlichen Meinung den Charakter gesamtgesellschaftlicher spiritueller Erneuerungsfeste an, in der sich die Erwachsenen neuerlich an die Kindheit als Jungbrunnen anschlossen, um neue Kräfte für das moderne Leben zu finden. Die Feste sollten in den Worten eines Kommentators Erwachsene dazu ermahnen, „alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um für immer Kinder zu bleiben“.58 Eng verbunden mit der Aufwertung von Kindheit als Lebensphase war die Auffassung, dass die Kinder ihre Kindheit möglichst vollständig ausleben müssten, um später als Erwachsene den Herausforderungen des Lebens gewachsen zu sein. Um ein kompletter Mensch zu werden, sei es notwendig, „ganz Kind gewesen zu sein (haber sido muy niño).“59 In den 1930er Jahren forderte der progressive Leitartikler Pedro Massa beispielsweise die Kinder ausdrücklich auf, „nicht einen einzigen deiner Impulse zu unterdrücken. Anderenfalls bist du nicht Kind, nicht wirklich Kind (auténticamente niño)“. In dieser Perspektive bildete die Selbstorganisation von Kindern ein wichtiges Mittel von Gesellschaftsreform. Die liberale Pädagogin María Sánchez Arbos erhoffte sich die Ausbildung eines wahren Gemeinschaftssinns im Kinderspiel und Pedro Massa forderte sogar nur halb scherzend eine „Syndikalisierung aller Kinder“ gegen Eltern, die ihren Kindern Spielzeug vorenthielten.60 Die 56 57 58
59 60
Pedro Massa, Cinematógrafo: „Las peripecias de Skippy“, Crónica, 10.7.1932; Los que disfrutan mejor del verano, Estampa, 25.7.1931. Rafael Suarez Solis, Juguetes de los niños y juguetes de los hombres, Crónica, 5.1.1936. Siehe auch Kapitel 5.1. Antonio Zozaya, El noel de los niños y el noel de los grandes, El Mundo Gráfico, 10.1.1934. Das Motiv konnte auch ironisch gebrochen werden, ohne allerdings seine positiven Konnotationen zu verlieren: Página de humor, por Bellón: Día de Reyes, o la tragedía de los „peques“ cuando las personas mayores se sienten niñas, Crónica, 6.1.1935; Barcelona. Los barceloneses gastan más de dos milliones de pesetas en juguetes, La Vanguardia, 4.1.1936. Die Kommentatoren benutzten in diesem Zusammenhang teilweise das Verb aniñarse, für das es keine wörtliche Übersetzung gibt, das aber den Versuch beschreibt, sich dem Kind anzuverwandeln. Der Begriff wurde seit Ende der 1920er Jahre eindeutig positiv verwendet. Siehe etwa: Rodolfo de Salazar, Los Juegos y los Juguetes, Blanco y Negro, 15.1.1928; Actualidades Teatrales, Blanco y Negro, 12.1.1930; José Montero Alonso, Los „peques“ artistas: Exposición de dibujos infantiles en el Lyceum Femenino, Crónica, 15.1.1933. Rafael N. Olivares, Reforma de Madrid, Crónica, 8.2.1931. Pedro Massa, Fiesta de Reyes: De lo saludable que es no respetar demasiado un juguete, Crónica, 8.1.1933; María Sánchez-Arbós, Los problemas de la escuela: IX. El Juego, in: BILE 58 (1934), S. 73–75. Schon 1918 hatte ein Autor im BILE das Kinderspiel als Ausdruck „perfekter Demokratie“ gefeiert: Henry S. Curtis, El juego y la formación de los hábitos y del carácter (II.), in: BILE 42 (1918), S. 294–98.
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hier vorgestellte Position wurde in der republikfreundlichen Presse und vor allem in Crónica häufiger und wortgewaltiger vertreten als in der konservativen und katholischen Presse, doch zeigt ein Blick auf Blanco y Negro, dass sie auch dort Einfluss besaß. Felipe Sassone entwarf beispielsweise in einem Artikel Kindheit ganz ähnlich als bessere Gegenwelt zur Welt der Erwachsenen und forderte, dass „etwas aus der Kindheit immer im Leben erhalten“ bleiben solle.61 In den neuen Kindergeschichten der 1930er Jahre wird diese Position weiter ausgebaut. Kinderfiguren wirken in vielen Geschichten positiv auf das Leben der Erwachsenen ein. Sehr plastisch erscheint dieses Erneuerungsmotiv in der Geschichte „Las barbas y los juguetes del Doctor Cucharón“, in der ein Arzt bei einer Behandlung eines Jungen sein Blut mit demjenigen des Jungen mischt, in der Folge seine Kindheit zurückgewinnt und „wahrhaft glücklich wird“.62 Am Beginn der 1930er Jahre wurden besonders anlässlich des Dreikönigstags über die politischen Lagergrenzen hinweg individuelle und gesellschaftliche Erneuerung miteinander verknüpft. Schon 1912 hatte eine Karikatur auf der Titelseite von Blanco y Negro ein Elternpaar abgebildet, das durch eine Tür auf ihre zwei Kinder späht, die in einem festlich erleuchteten Kinderzimmer mit ihren neuen Geschenken spielen, und damit das Motiv erwachsener Nostalgie nach der verlorenen Welt der Kindheit aktualisiert.63 In den 1930er Jahren stellten die Kommentatoren die Kinderwelt der Reyes-Feiern immer mehr in Kontrast zur verhärteten, egoistischen Welt der Erwachsenen. José Barberán meinte beispielsweise 1932, „dass wir Menschen ohne die Kinder im härtesten Egoismus leben und uns gegenseitig nicht wahrnehmen würden“.64 Doch Kinder reformieren nicht nur das erstarrte Leben von Erwachsenen, sondern treten in Kindergeschichten auch als Agenten einer Versöhnung sozialer Gegensätze und politischer Konflikte auf. Das Thema der gesellschaftlichen Aussöhnung der Gesellschaftsklassen stellte seit der Jahrhundertwende einen wichtigen Kontext der Kinderfeiern des 6. Januar dar. Die Beschreibungen der Feste sind regelmäßig durch eine Gegenüberstellung der vornehmen 61 62
63 64
Rafael Suárez Solis, Juguetes de los niños y juguetes de los hombres, Crónica, 5.1.1936; Felipe Sassone, Hay que enseñar a los niños la Paz, Blanco y Negro, 19.1.1936. Antonio Robles, Las barbas y los juguetes del doctor Cucharón, Crónica, 4.6.1933. Siehe weiterhin: Elena Fortún, Don Diego, Crónica, 6.8.1933; Elena Fortún, La risa de periquillo, Crónica, 16.12.1934. Dieses Motiv von Kindheit hat seine Wurzeln in der Frühromantik, erhielt aber erst im 20. Jahrhundert eine gesellschaftspolitische Dimension. Titelbild, Blanco y Negro, 7.1.1912. Zur Genese dieses Motivs siehe Baader, Romantische Idee; Steedman, Strange Dislocations. José L. Barberán, La fiesta de la Reyes Magos y la del Arbol de Navidad. Respetemos la más santa alegría de los niños, El Mundo Gráfico, 5.1.1932. Sehr ähnlich: Carmen Payá, Los Reyes Magos en la Inclusa madrileña, Blanco y Negro, 7.1.1934; Ortiz de Castro, La Magía de los Reyes; Crónica, Sondernummer 2, Neujahr 1936. Vgl. auch schon: Ranón Asensio Mas, Las culpas de los grandes (Cuento de Reyes), El Mundo Gráfico, 10.1.1932.
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Spender und der bedürftigen Beschenkten gekennzeichnet, die durch die Gabe des Spielzeugs in eine symbolische Verbindung miteinander treten. Die Feiern wollten ein Alternativmodell zu den Klassenkämpfen präsentieren, wobei Kinder als Brücke und Bindeglied zwischen den Klassen eine neue Rolle erhalten.65 Während die moralischen Geschichten der Jahrhundertwende die Klassenversöhnung jedoch noch weitgehend im Kontext christlicher Caritas verhandelten und den armen Kindern eine passive Empfängerrolle zusprachen, thematisierten die Kindergeschichten seit den späten 1920er Jahren Freundschaften zwischen armen und reichen Kindern nicht länger als Affirmation existierender bürgerlicher Ordnung, sondern als deren Überwindung. Zudem treten arme Kinder auf neue Weise als Akteure und gleichberechtigte Figuren auf. In einer Geschichte von Antonio Robles von Ende 1934 schließen etwa der Sohn eines Gutsbesitzers und der Sohn eines Tagelöhners Freundschaft und müssen verschiedene, ihnen von Erwachsenen auferlegte Abenteuer bestehen, die sie zusammen mit Mut und Erfindungsreichtum meistern.66 Kinder vermögen durch ihre Freundschaften selbst politische Konflikte und Kriege zu schlichten. Viele Erzählungen handeln von zwei zerstrittenen Gruppen von Erwachsenen, die durch das kluge Handeln von Kindern wieder versöhnt werden. Die unter Kindern äußerst populären Helden einer Bildergeschichte von Salvador Bartolozzi, Pipo und Pipa, müssen im Verlauf ihrer Abenteuer gleich mehrfach den Streit zwischen verfeindeten Erwachsenengruppen schlichten. In ihren Reisen durch das „Land der Wunder“ 1931 vermitteln sie zwischen den zerstrittenen Dörfern der Giganten und der Großköpfe, die in Anlehnung an den Romeo und Julia-Stoff eine Heirat zweier Heranwachsender, welche die Sehnsucht nach der Überwindung etablierter gesellschaftlicher Schranken symbolisieren, über die Dorfgrenzen hinweg unterbinden wollen, und im Frühjahr 1936 verhindern die Helden durch eine List im letzten Moment den Krieg zweier Zwergenvölker, die sich heftig um den Besitz einer Puppe bekriegen. Ganz ähnlich gelingt es in einer Geschichte von Piti Bartolozzi den beiden Jungen Chispo und Canito den Streit ihrer beiden verfeindeten Dörfer zu schlichten, indem sie zum gemeinsamen Nutzen eine Eisenbahnbrücke konstruieren, welche die beiden Orte verbindet.67 Viele Kindergeschichten wiesen schließlich deutlich anti-bürgerliche Momente auf. Sie präsentierten städtisch-bürgerliche Kindheit als höchst am65 66
67
Manuel de Tolosa Latour, Nuestros Hijos, Blanco y Negro, 4.1.1902. Antonio Robles, Cuento para los niños, 1 pez, 2 chicos y 35 estrellas, Crónica, 2.12.1934. Siehe auch: Lolín y Bobito: Instinto de conservación, Crónica, 19.2.1933; Antonio Robles, Bichos, sillas, bodas y guerras, Crónica, 25.6.1933; Elena Fortún, La gata de Angora y el gato atigrado, Crónica, 5.7.1936. Aventuras de Pipo y Pipa, Septima Parte, Estampa, 14.11.1931; Aventuras de Pipo y Pipa: La Cuerda de Pega, Estampa, 23.5.1936; Piti Bartolozzi, Un cuento para los niños: La apuesta, Crónica, 3.4.1932.
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bivalent und stellten das behütete bürgerliche Leben oft als entfremdet und als Einschränkung der kindlichen Persönlichkeit dar. Bürgerliches Aufwachsen wurde immer wieder als lebensfern und langweilig und die bürgerliche Wohnung als goldener Käfig beschrieben. Viele Geschichten handeln von Ausbruchsversuchen aus der engen familiären Welt. In der Geschichte „El Manto de Oro“ flieht ein Prinz aus der Öde des Hoflebens zu einer einfachen Fischerfamilie und heiratet am Ende die Fischerstochter, in „Narcisín“ entzieht sich eine Katze den Peinigungen durch ihre Besitzerin und findet ihr Glück mit einer wilden Bergkatze in der Wildnis. In der Erzählung „Fiquín y Perucho“ ist der Protagonist sein behütetes, langweiliges Leben als Bürgersohn Leid, folgt einem Straßenjungen und lernt dessen Welt kennen.68 Der antibürgerlichen Kritik entspricht in diesen Geschichten eine Aufwertung der Figur des Straßenkindes, das in den älteren Erzählungen allein als tragische Gestalt und Objekt karitativen Handelns gezeichnet wurde. Die Armut des Straßenkindes und seine prekären Lebensverhältnisse bleiben zwar weiterhin im Blick, aber es bekommt auch eine attraktive, verlockende Dimension, es steht für Freiheit von Aufsicht, selbstbestimmtes Leben und die Abenteuer der Erwachsenenwelt. Der Blick vom Balkon der bürgerlichen Stadtwohnung hinunter auf die Straße, wie er in vielen Erzählungen inszeniert wird, ist ebenso bedrohlich wie verführerisch. Der Ausbruch aus der Beschränktheit bürgerlichen Lebens wird zwar zumeist als positiver Schritt dargestellt, er bleibt am Ende aber oft ambivalent. In der Geschichte von Fiquín etwa führt der Ausbruch aus der bürgerlichen Wohnung zu einer weiteren Enttäuschung, als die Hauptfigur die Schattenseiten des Unterschichtenlebens am eigenen Leibe erfährt. Am Ende kehrt sie reumütig in den Schoß der Familie zurück.69 Wie sehr ein antibürgerlicher, utopischer Zug einige Geschichten durchzog, zeigt sehr deutlich die Geschichte „La Cigüeña“ von Elena Fortún. Fortún beschreibt hier, wie eine Storchenfamilie durch engherzigen sozialen Druck der Nachbarschaft eingeengt wird und die Storchenkinder in der Schule einem normierenden Zwang der Eulen-Lehrerin ausgeliefert sind, der ihre Persönlichkeiten zu deformieren droht. Alleine die Flucht der Storchenmutter mit ihren Kindern zum Storchenparadies am Nil setzt dem Leiden ein Ende.70 Für eine Reform von Kindheit und eine Erneuerung der Gesellschaft, so lassen sich diese Geschichten lesen, bedurfte es einer grundsätzlichen Erneuerung des Lebens jenseits bürgerlicher Konventionen und Werte. Die bisher vorgestellten Elemente finden sich in Geschichten aller Illustrierten, auch wenn der zuletzt angesprochene antibürgerliche Impetus in der linksliberalen Presse am deutlichsten zu Tage trat. Doch lassen sich 68 69 70
Elena Fortún, El Manto de Oro, Crónica, 30.8.1931; Josefina Bolinaga, Narcisín, Crónica, 4.9.1932; Elena Fortún, Fiquín y Perucho, Crónica, 1.3.1936. Siehe auch: Lolín y Bobito: Esclavitud, Crónica, 29.5.1932; Lolin y Bobito: Un mundo mejor, Crónica, 2.4.1933; Piti Bartolozzi, Chonin busca un hermano, Crónica, 16.2.1936. Elena Fortún, Un cuento para niños: La Cigüeña, Crónica, 26.3.1933.
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in den Geschichten auch Anknüpfungspunkte zu politischen Strömungen erkennen. Insbesondere erschienen nach 1931 einige politische Parabeln, die von der Errichtung einer neuen gesellschaftlichen Ordnung gegen äußere Feinde handeln und mit republikanischen Programmen von Gesellschaftsreform verbunden werden können. Die meisten der in diesen Geschichten beschriebenen Gesellschaften sind bedroht. Die Androhungen von Krieg und kriegerischen Handlungen sind häufig wiederkehrende Themen der Erzählungen. Nur durch Klugheit können missgünstige Feinde abgewehrt und am Ende in Freunde verwandelt werden. Die Geschichte „Las naranjas del Sabio“ von Antonio Robles, die Ende 1930 noch vor Gründung der Republik erschien, handelt in diesem Sinne von einer utopischen Stadt Nueva Flor, in der alle Menschen durch den Saft wundersamer Orangen, die von einem weisen Wissenschaftler gezüchtet werden, gütig und tugendhaft leben. Kinder sind die wichtigsten Bürger der Stadt und jeder Donnerstag wird als „Tag des Kindes“ begangen. Eines Tages jedoch fallen feindliche Soldaten über die Stadt her, die neidisch auf ihren Reichtum sind, doch können sie durch den Einsatz des wundersamen Orangensaftes pazifiziert werden. Am Ende verbrüdern sich die Kämpfer beider Seiten.71 Anfang 1936 verfasste Elena Fortún eine ganz ähnliche Erzählung, in der ein neidischer „dünner König“ in das Land des friedlichen „dicken Königs“ einfällt. Dieser hat sein Land durch kontinuierliche Verbesserungen im Weinbau zu Wohlstand gebracht. Der Angriff der Feinde kann jedoch durch einen besonderen Wein zurückgeschlagen werden, der die Moral der feindlichen Soldaten zerstört und sie in wehrlose, desorientierte Gegner verwandelt, die leicht gefangen genommen werden können. Am Ende steht auch hier eine Versöhnung. Nach Reparationszahlungen in Form von Spielzeug schließen die beiden Könige Frieden.72 Die vielleicht interessanteste Geschichte, die als Parabel der Errichtung der spanischen Republik interpretiert werden kann, stellt eine Erzählung von Antonio Robles dar. Sie handelt von einem König, der einen großen Palast mit vielen Türmen für die jährlich in die Stadt ziehenden Störche bauen lässt. Der Bau des Palastes schleppt sich jedoch lange hin und die Störche vermehren sich in einem solchen Tempo, dass ihre Zahl auf sechs Millionen steigt und sie die Stadt zu überfluten drohen. Der Enkel des Königs schlägt in dieser Situation vor, die Störche gewaltsam zu bekämpfen, doch scheitern seine Versuche an der numerischen Übermacht der Tiere. Der König fällt deshalb in der Not den Beschluss, dass jeder Bewohner des Reiches zwei Störche als Gäste aufnehmen soll. Der Plan geht auf und Gastgeber und Gäste, Menschen und Störche werden so gute Freunde, dass die Störche zu Teilen der Familien werden und der städtische Friede wieder hergestellt wird.73 Die Parabel lässt 71 72 73
Antonio Robles, Cuento infantil: Las naranjas del Sabio, Crónica, 14.12.1930. Elena Fortún, El país de las uvas, Crónica, 16.2.1936. Siehe auch: Elena Fortún, El Príncipe Indio, Crónica, 29.5.1935. Antonio Robles, Seis milliones de cigüeñas, Crónica, 23.12.1934.
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sich als Reflexion der rapiden Urbanisierung der Metropolen Madrid und Barcelona lesen, deren städtische Reformpolitik durch den Zuzug immer neuer Menschen vom Land stets aufs Neue herausgefordert wurde. Gleichzeitig entwirft sie eine utopische Lösung der sozialen Probleme der Zeit über eine Versöhnung der Gesellschaftsklassen. Einige Kernelemente dieser republikanischen Kindererzählungen lassen sich herausstellen. Zunächst werden Gesellschaften als zerrissen gezeichnet. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist bedroht, während Kinder als Kitt dargestellt werden, der einer neuen Ordnung Stabilität und Zusammenhalt geben kann. Zweitens ist der starke Akzent dieser Geschichten auf Gesellschaftsverbesserung zu nennen. Es geht um die Errichtung einer neuen, besseren Gesellschaft, in der materielle Not ebenso wie gesellschaftliche Konflikte besiegt sind. Drittens werden Expertise und Experten, oft in Form weiser Herrscher, als maßgebliche Träger von Gesellschaftsreform postuliert. In der Erzählung „La risa de Periquillo“ beschließt etwa ein weiser König dafür zu sorgen, dass alle Kinder seines Reiches „sauber und fröhlich“ werden, und in der Geschichte „El Mediquillo“ übernehmen drei Kinder, die Arzt, Architekt und Ingenieur geworden sind, die Herrschaft des Landes von einem dummen König und leiten dadurch eine Ära des Wohlstandes und Friedens ein.74 Viertens schließlich weisen die Geschichten eine deutliche Kritik traditioneller Institutionen und besonderes des Militärs auf. Offiziere werden in der Regel als lächerliche und kriegssüchtige Figuren präsentiert und das militärische Leben als monoton und brutal dargestellt. Die Helden der Geschichten setzen sich nie alleine mit Waffengewalt gegen ihre Feinde zu Wehr, sondern nutzen ihre Erfindungskraft.75 In unserem Kontext bemerkenswert ist schließlich, dass antiklerikale Tendenzen in den Geschichten kaum oder höchstens sehr verhalten präsent sind. In den hier referierten Geschichten wird in Umrissen das republikanische Experiment der Zweiten Republik reflektiert und für Kinder aufbereitet. Kindheit wird in ihnen deutlich mit der Etablierung einer gerechteren und harmonischeren Gesellschaftsordnung in Verbindung gesetzt. Kinder treten als Protagonisten und Vorreiter einer Versöhnung der Gesellschaftsklassen in Erscheinung, und es zählt zu den wichtigsten Eigenschaften positiver politischer Führung, sich für eine Verbesserung der Lage der Kinder einzusetzen. Allerdings bleiben die politischen Bezüge widersprüchlich. So tauchen explizite Verweise zur Demokratie als Staatsform in den Geschichten ebenso wenig auf wie die Thematisierung demokratischer Willensbildung oder demokratischer Verfahren. Die Geschichten zeichnen eine optimale Staatsform 74 75
Elena Fortún, La risa de Periquillo, Crónica, 16.12.1934; Elena Fortún, El Mediquillo, Crónica, 15.12.1935. A.R., La Princesa de los Aviones, Crónica, 24.11.1929; Pipo y Pipa, Pelotina esta triste, Estampa, 15.8.1931; Carmen Vidal de Aguirre, Cuento para los niños: El Soldatito de Madera, Crónica, 24.5.1936.
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eher als Herrschaft fachkundiger Experten, denn als pluralistische Ordnung. Trotz ihrer republikanisch-liberalen Konnotationen lassen sie sich somit nur bedingt einer demokratischen Bewusstseinsbildung zuordnen. Vielmehr kennzeichnete sie eine beträchtliche politische Vagheit. Die dargestellten idealen Staatsgebilde sind nicht notwendigerweise demokratische. Insgesamt fällt auch auf, dass in keiner analysierten Kindererzählung der Versuch einer historischen Legitimierung der Republikgründung unternommen wird. Der unblutige Regimewechsel vom April 1931 taucht in ihnen ebenso wenig auf wie Hinweise auf republikanische Traditionen und Erinnerungsorte. In ihrem Bemühen, von der zeitgenössischen Realität abgehobene Kunstformen zu sein, tauchen politische Fragen vor Beginn des Bürgerkrieges nur gefiltert und uneindeutig in Form von Märchen auf. Es lässt sich somit nach 1931 eine gewisse politischen Aufladung der Kindergeschichten erkennen, die lose einer republikanischen politischen Strömung zugeordnet werden können, ohne dass jedoch klare Konturen bestanden. Eher als von festgefügten ideologischen Positionen muss man von Verdichtungen und oft auch Überlappungen bestimmter Überzeugungen mit je unterschiedlicher Reichweite ausgehen. Wie die Kindergeschichten in Blanco y Negro zeigen, sprachen viele Elemente der neuen Kinderliteratur auch ein konservativ und religiös geprägtes Publikum an. Doch war dieses bürgerlich-katholische Publikum, zumal wenn es kirchennahe Zeitschriften wie Esto oder katholische Familienjournale las, auch mit einer alternativen Strömung von Kinderliteratur vertraut, die zwar ebenfalls eine positive Darstellung selbstbewusster, weltgewandter Kindheit und eine Abkehr vom Modell älterer Moralgeschichten auszeichnete, die jedoch eine andere Akzentuierung moderner Kindheit, ihrer Chancen und Gefahren vornahm. Auch diese literarische Strömung, die als national-religiös bezeichnet werden kann, wertete Kindheit auf und erkannte in ihr Chancen einer gesellschaftlichen Neuordnung. Sie betonte jedoch deutlicher die vermeintlich in Kindern angelegten Eigenschaften von Heroismus und Opferbereitschaft. Auch spielte in ihr gesellschaftliche Versöhnung nur eine untergeordnete Rolle. Schließlich sind in ihr die politischen Bezüge eindeutiger. Nach Gründung der Republik erfuhr die Figur des heroischen, glaubensstarken und opferbereiten Kindes, das als missionierender Hoffnungsträger die in ihren Überzeugungen schwankenden und mutlosen Erwachsenen für die katholische und nationale Sache zurückgewinnt, eine weite Verbreitung. Sowohl Geschichten wie vermeintliche Tatsachenberichte erzählten von Kindern, die selbstständig zu beten anfingen und dadurch auf friedliche Weise gegen die Umsetzung des Beschlusses der republikanischen Regierung protestierten, das Kruzifix in ihrem Klassenzimmer abzuhängen. Auch über dieses Thema hinaus sind Kinder in den Geschichten glaubensstärker als Erwachsene, denen sie als Vorbild dienen. Eine exemplarische Geschichte erzählt etwa von einem Kind, das heimlich seinen Freund missioniert, dessen Eltern Freimaurer sind, und ihn schließlich sogar zu überzeugen vermag, die Erstkom-
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munion zu begehen. Wieder eine andere Geschichte berichtet von Andrés, der aus einfachen Verhältnissen stammend, es durch den „festen Entschluss, alle Schwierigkeiten zu überwinden“, zu Erfolg im Leben bringt und Priester wird.76 Diese Geschichten weisen deutliche Bezüge zum katholischen Programm der Rechristianisierung Spaniens auf, standen jedoch auch im Kontext der oben beschriebenen, die politischen Lager übergreifenden Debatte über die Förderung kindlichen Durchsetzungsvermögens. Der Akzentuierung kindlichen Heroismus und Opferbereitschaft als wichtigsten Kennzeichen neuer Kindheit entsprach eine spezifische Wahrnehmung der Gefährdungen von Kindheit. Drei Gefahrenquellen standen besonders im Mittelpunkt katholischer und konservativer Debatten. Zunächst spielte die Vernachlässigung der Kinder durch ihre Eltern eine größere Rolle als auf der progressiven Seite. Viele Erzählungen handeln von den Entbehrungen und sogar dem Tod von Kleinkindern, deren vergnügungssüchtige Eltern – fast immer standen die Mütter im Mittelpunkt der Kritik, während Väter in diesen Geschichten zumeist gutwillige, aber willensschwache Figuren sind – ihre Fürsorgepflicht zugunsten mondäner Genüsse großstädtischen Lebens verletzen und ihre Kinder unbeaufsichtigt oder nur unter der Aufsicht zweifelhafter Ammen zurücklassen. In einer besonders spektakulären Geschichte tötet eine Mutter ihre fünfjährige Tochter unbeabsichtigt durch eine Überdosis Schlafmittel, die sie dem Kind verabreicht, um rechtzeitig zu einem Ball aufbrechen zu können.77 Insgesamt wird, zweitens, die moderne Großstadt- und Medienkultur in stärkerem Maße als Gefahr entworfen. Kommentatoren beklagten etwa den Verlust kindlicher Tugenden durch die von den Eltern geförderte Teilnahme an Schönheitswettbewerben für Kinder. Gute und natürliche Kinder verwandelten sich, so der Vorwurf, durch die mediale Aufmerksamkeit in stolze und eingebildete Persönlichkeiten.78 Darüber hinaus wurde, drittens, die ideologische Deformation von Kindern durch Atheismus und republikanische Ideen als neue Gefahr angesehen. Mit Beginn der Republik wurde die ideologische Korruption von Kindern zu einem wichtigen Gegenstand der Sorge. Zugespitzt äußerte sie sich etwa in dem Bericht über einen versuchten Vatermord in Belgien als Ergebnis antichristlicher Erziehung. Eine Tochter, die zunächst hatte Nonne werden wollen, war von ihrem Vater von diesem Entschluss durch das Geschenk freizügiger Bücher auf solche Weise korrumpiert worden, dass sie auf die
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Página de una maestra, Ellas, 31.7.1932; Uva Jaramillo Gaitan, Almas de Niño, Ellas, 11.12.1932; José María Selva, Andrés se despierta, La Familia 331, Juli 1935. Pierre L´Ermite, Para siempre, La Familia 332, August 1935. Die literarische Tradition dieses Topos lässt sich zumindest bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Es bildet auch ein wichtiges Element in dem wohl berühmtesten katholischen Kinderroman in Spanien, der von dem Jesuiten Luís Coloma (1851–1915) verfasst wurde: Pequeñueces, Bilbao 1891. Der Roman wurde 1950 von Juan de Orduña verfilmt. Las „Misses“ y sus madres, La Familia 342, Juni 1936.
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schiefe Bahn geriet und schließlich einen Anschlag gegen ihren Erzeuger verübte.79 Ob in ihrer republikanischen oder in ihrer katholisch-nationalen Spielart, die Kindergeschichten gaben dem Modell widerspenstiger Kindheit Form und feierten neue Kindheit, thematisierten aber auch die Schattenseiten und inneren Widersprüche des neuen Kinderleitbildes, wie an einigen Beispielen erörtert werden kann. Die ambivalente Thematisierung neuer Kindheit zeigt schon ein Blick auf die Kinderfiguren der Geschichten. Zunächst war die Autonomie der Kinder oftmals eine erzwungene. Erstaunlich viele Erzählungen handeln von Waisen oder anderen Kindern, deren Eltern abwesend sind, und die sich deshalb alleine durch das Leben schlagen müssen. Zwischen dem heroischen und dem schutzlosen, ausgesetzten Kind existieren fließende Übergänge.80 Darüber hinaus thematisierten die Kindergeschichten und auch viele Kommentare die Widersprüche zwischen der Anforderung einer „realistischen“ Heranführung an die Welt der Erwachsenen und einem möglichst weitgehenden Schutz der kindlichen Imagination. Kommentare und Geschichten zelebrierten auf der einen Seite die vermeintliche Entstehung neuer weltgewandter Kinder, die sich nicht länger durch Erwachsene täuschen ließen. Ein fortschreitender Zweifel an der Existenz der Heiligen unter Heranwachsenden hielt ein Reporter von El Mundo Gráfico bereits 1912 für ein Indiz der Genese einer neuen pragmatisch denkenden Kindheit: „Die historische Kritik und der methodische Zweifel haben sogar in den Köpfen der Kinder große Eroberungen gemacht.“ Ganz ähnlich bilanzierte Blanco y Negro Anfang 1921: „Die Jungen von heute sind frühreifer (precoces) und aufgeweckter (avisados) als ehemals“ und Berichte aus den 1930er Jahren beschreiben Kinder als wache Konsumenten, die Täuschungsversuche Erwachsener souverän durchschauen.81 Eine Geschichte aus dem Jahr 1935, die den Verlust des Zaubers herkömmlicher Märchen für die Heranwachsenden reflektiert, endet ebenfalls mit einer Affirmation neuer Weltgewandtheit durch eine Kinderfigur: Wir Kinder „bevorzugen heute Indianerabenteuer oder die Heldentaten eines Piratenkapitäns; sie entsprechen mehr der Wahrheit und uns Kindern von heute gefallen keine Lügen“.82 Während das neue Kindheitsmodell somit eine frühe Aufklärung des 79 80 81
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¡Monja, no! La Familia 340, April 1936. El Secreto de Periquín, Crónica, 24.7.1932; Piti Bartolozzi, Canito y su gata peladilla, Crónica, 16.12.1934. Weiterhin: Cuento de la Hermana Tornera, Crónica, 24.1.1932. Andrenio, Los Reyes Magos, El Mundo Gráfico, 3.1.1912; Diego San José, Noche de Reyes, Blanco y Negro, 5.1.1921; ¿Que le piden los niños a los Reyes Magos en 1936? Encuesta por J. Lorrenzo Carriba, Estampa, 21.12.1935. Insbesondere linksrepublikanische Gruppen und Lehrerverbände forderten, Kinder aus ihrer durch Märchengeschichten zementierten Unmündigkeit zu befreien. Siehe etwa: El Congreso de la Asociación General de Maestros, Heraldo de Madrid, 4.4.1931. Piti Bartolozzi, Canito y su gata peladilla, Crónica, 8.12.1935. Ähnlich: Piti Bartolozzi, El dragón, Crónica, 29.1.1933.
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II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit Abbildung 10: „Die Heiligen Drei Könige: Gestern, heute, morgen“, Blanco y Negro, 6.1.1929.
Kindes über die Erwachsenenwelt und ihre Geheimnisse forderte und feierte, weckte es auf der anderen Seite neue Ängste vor einem Verlust von Kindheit durch ein zu schnelles Heranführen an die urbane Erwachsenenwelt. In den Darstellungen der Illustrierten ist der Realismus moderner Kinder oft das Resultat einer Notlage und bedeutet immer auch die Gefahr eines Verlustes an wahrer Kindheit. Diese Ambivalenzen werden gut in einem Artikel von Julían Fernández Piñero von 1922 sichtbar, der wie viele andere Artikel auch die Frage des kindlichen Glaubens an die Heiligen Könige behandelt: „Die Kinder lernen heute die traurigen Dinge des Lebens sehr schnell. Ein kleiner Halunke von fünf Jahren erlaubt sich schon den geistigen Luxus des Skeptizismus. Diese Kinder sind bereits Erwachsene (hombres) und verstehen es schon zu fingieren. [Sie, T.K.] erkennen so gut die Lüge all der schönen Bilder [der Reyes-Darstellungen, T.K.], dass es ihnen nicht gelingt den Schleier der Illusion vor ihren Augen zu bewahren, der sie vor den tatsächlichen und brutalen Wahrheiten der Realität schützen könnte.“83
Den Chancen einer realistischen Erziehung stehen hohe Kosten gegenüber. Vielen Kommentatoren erschienen in dieser Situation die Risiken moderner Kindheit als zu hoch. Kinder, so berichtete ein Reporter der Leserschaft von Crónica im Januar 1931, hätten in der Gegenwart die Fähigkeit zum Spie83
Julían Fernandez Piñero, Los Reyes pasan, El Mundo Gráfico, 11.1.1922.
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Abbildung 11: „Marmolín“ (Ausschnitte), Cosmópolis, Dez. 1927.
len verloren, was angesichts der oben beschriebenen Zentralität des Spiels für das neue Kindheitsverständnis einer Bankrotterklärung zeitgenössischen Umgangs mit Kindern gleich kam: „Das heutige Kind ist jeden Tag weniger Kind“.84 Und die politisch ganz anders ausgerichtete ABC pflichtete bei und forderte sogar ein „Recht des Kindes auf Nichtwissen“: Die Befürworter einer „realistischen“ Aufklärung der Kinder zielten darauf, „das Kind in der Kinderseele zu töten, um diese auf solche Weise besser für das Leben vorbereiten zu können“. Sie richteten dadurch immensen Schaden an.85 Kindergeschichten und Kommentare reflektierten eine weitere Ambivalenz in der gesellschaftlichen Aneignung des neuen Kindheitsmodells. Dieses forderte einerseits selbstbewusste, forschende und aufmüpfige Kinder, andererseits weckte es aber auch Ängste vor einer zu weitgehenden Selbstständigkeit, vor unkontrollierbaren Kindern und Kinderbanden als soziale Bedrohung. Viele Zeitungsartikel und Kindergeschichten zeichneten Kinder als geheimnisvoll und latent bedrohlich. Das Auftauchen grotesk-komischer Puppen in Madrider Schaufenstern am Ende des Ersten Weltkrieges im Rahmen einer neuen Mode der Spielzeugindustrie weckte in einem Beobachter beispielsweise das absurde Verlangen, diese Puppen auf der Stelle im örtlichen Irrenhaus abzugeben oder sie in Alkohol wie Monster zu konservieren. Am Ende gesteht er, bei ihrem Anblick „kurz vor einem Kindsmord“ gestanden zu haben. Puppen, die hier als kaum verhüllte Stellvertreter für die Großstadtkinder allgemein angesehen werden können, dienten nicht mehr nostalgisch-verklärenden Erinnerungen an das eigene Aufwachsen, sondern wirkten fremd und unverständlich.86 Auf besonders drastische Weise zeigt die komisch-ernste Fortsetzungs84
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Rafael Ortega Lisson, Una interviú con los juguetes que aguardan á ser distribuidos por los Magos, Crónica, 4.1.1931. Siehe auch: La niña loca: Pobre Pepona! Heraldo de Madrid, 6.1.1931. José María Salaverria, El Mundo de los Niños, ABC, 30.12.1932. F. Luque, El trapo de la risa, Blanco y Negro, 13.1.1918.
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II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit
geschichte „Marmolín“ auf der Basis des Frankenstein-Stoffes die Probleme einer (Re-)Integration des neuen widerspenstigen Kindes in die gesellschaftliche Ordnung als Motiv der neuen Kinderliteratur. Ein genialer Wissenschaftler schafft das naiv-gewalttätige Monster Marmolín, das jedoch nach einem Streit schon bald seinen Schöpfer im Affekt tötet und anschließend von der Polizei gejagt durch Athen, später dann durch Madrid flieht. Durch Waffen unverwundbar, schüttelt Marmolín zunächst seine Verfolger ab und ist in den Jagdpausen immer wieder bemüht, sich in das städtische Leben einzugliedern. Dies misslingt jedoch stets, da er mit grundlegenden gesellschaftlichen Konventionen nicht vertraut ist und seine unbändige Kraft nicht zu zügeln versteht. So enden seine Integrationsbemühungen stets in gewalttätigen Konfrontationen mit seiner Umwelt. Schließlich wird Marmolín von einem Auto überfahren, ein letztes Zeichen für seine Unfähigkeit, sich in die urbane Gesellschaft und ihre Regeln einzufinden.87 Die Geschichte eröffnet zahlreiche Möglichkeiten der Interpretation, doch lässt sie sich in unserem Kontext zuallererst als Reflexion über die Probleme der Vermittlung von kindlicher Persönlichkeit und urbaner Gesellschaft lesen. Das Monster Marmolín lässt Kinder sowohl als von der urbanen Gesellschaft bedrohte und bedrängte Wesen erscheinen als auch als selbst Bedrohung ausstrahlende Kreaturen. Es buchstabiert die Gefahr des Umschlags der wünschenswerten Selbstständigkeit der Kinder in eine unerwünschte Unkontrolliertheit und Zügellosigkeit der Heranwachsenden plastisch aus. Auch die familiäre Ordnung brachten unkontrollierbare Kinder in vielen Geschichten durcheinander. In einer Erzählung von 1929 vermag beispielsweise eine alleinstehende Mutter ihren Sohn nicht mehr zu zügeln. Dieser lässt sich von ihren Drohungen nicht einschüchtern, sondern freundet sich im Gegenteil in einer fantastischen Wendung der Geschichte mit dem „Coco“, dem traditionellen Schreckgespenst, mit dem spanische Eltern ihren Kindern bei Fehlverhalten drohten, an. Am Ende der Erzählung muss der Sohn in einer Umkehrung der klassischen familiären Rollen der Mutter den Schreck vor dem sich als harmlos herausstellenden Ungetüm nehmen. In einer ähnlichen komischen Bildergeschichte verzweifelt der Coco selbst an den ihm von überforderten Eltern überantworteten Kindern, die sein Haus demolieren und unter anderem – mit orthographischen Fehlern – „Nieder mit der Schule“
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Guillermo Hernández-Mir, Marmolín. Historia para niños, que puede ser leída por hombres, Cosmópolis, 1.12.1927; Marmolín (Fortsetzung), Cosmópolis 2, 2.1.1928; Marmolín (Fortsetzung), Cosmópolis 3, Feb. 1928. Siehe auch die strukturell sehr ähnliche Geschichte von Elena Fortún, El paraguas de María Luz, Crónica, 29.5.1932, in dem ein Regenschirm ein Eigenleben annimmt, sich nicht mehr zähmen lässt und die gesellschaftliche Ordnung durcheinander bringt. Er stört einen Gottesdienst, springt einem Angehörigen der Guardia Civil an den Kopf und stiehlt, bevor er seiner Besitzerin endgültig entflieht.
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(Avajo el cole) an eine Wand pinseln.88 Auf komische Weise werden hier unterschwellige erwachsene Ängste vor dem Umgang mit Kindern thematisiert, die nicht mehr durch autoritäre Maßnahmen diszipliniert werden sollen und können. Welche Reaktion auf das neue selbstbewusste Kind die angemessene ist, lassen die Geschichten dabei offen. Die regelmäßig in Crónica erscheinenden humoristischen Bildseiten verknüpften schließlich das Motiv des unkontrollierbaren Kindes mit dem urbanen Raum. Sie zeigen lärmende und tobende Kindergruppen auf der Straße, die sich über Regeln von Erwachsenen hinwegsetzen. Eine großformatige Karikatur zeigt beispielsweise eine Straßenszene, in der eine Gruppe lärmender Kinder sich nicht an ein Hinweisschild, das Ballspielen auf der Straße untersagt, hält und auch einen Polizisten, der sie zur Ordnung ruft, nicht beachtet. Stattdessen demolieren sie eine Straßenlaterne, zwingen ein Auto zu einer Notbremsung und schießen einem Passanten einen Fußball ins Gesicht.89 Die Bildseiten enthielten insgesamt eine ambivalente Botschaft. Einerseits feierten sie das widerspenstige, aktive und freie Kind, das gesellschaftliche Konventionen überschreitet, andererseits drückten sie jedoch auch eine unterschwellige Besorgnis vor erwachsener Kontrolle entzogenen Kindern aus. Diese Besorgnis verbindet die fiktionalen Darstellungen mit Erörterungen des Problems urbaner Kinderbanden in den 1930er Jahren. Die Presse berichtete immer wieder über Gruppen von Heranwachsenden, die nach dem Vorbild von Gangsterfilmen Straftaten begingen und als „Herren der Gosse“ die Straße für Erwachsene unsicher machten. Darüber hinaus mehrten sich in den republikanischen Jahren Berichte über Disziplinlosigkeiten von Kindern in der Schule, von fehlendem Respekt gegenüber ihren Lehrern und sogar von Schülerstreiks.90 Zusammenfassend konnten sowohl die linksrepublikanischen als auch die katholischen Reformer die öffentlichen Debatten über Kindheit immer nur partiell prägen. Zwar etablierte sich auch in der medialen Öffentlichkeit das neue Leitmodell selbstständiger, widerspenstiger Kindheit, doch erfolgte nur eine sehr begrenzte parteipolitische und religiöse Aufladung dieses Modells. Dass bedeutet jedoch nicht, dass Debatten und Kindergeschichten in einem vorpolitischen Raum angesiedelt gewesen wären. Über die weltanschaulichen Lagergrenzen hinweg erhielten Darstellungen von Kindheit seit den 1920er Jahren neue Problemdimensionen. Wie stellte sich die mediale Öffentlichkeit 88 89 90
José Santugini, Un cuento para los niños: El Coco, Crónica, 1.12.1929; Pipo y Pipa, Septima parte, 12: El Coco, Mama, Estampa, 5.9.1931. La calle convertida en campo de juego, o el calvario del transeúnte en Madrid, Crónica, 16.2.1936. José de las Casas Pérez, La banda de ladronzuelos que operaba capitaneada por una chiquilla de doce años. El grande problema de la delincuencia infantil, Crónica, 30.11.1930; José Montero Alonso, Cómo se juzga a los niños en el Tribunal Tutelar de Menores, Crónica, 16.10.1932; Los alumnos de un Grupo Escolar visitan al alcalde y se declaran en huelga, Crónica, 12.7.1936.
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vor dem Hintergrund der widersprüchlichen Kindheitsentwürfe einen zeitgemäßen Kinderschutz und eine richtige Kinderförderung vor? Und welche politischen Dynamiken entfachten die Debatten über Kindheitsreform und Kinderschutz? Im nächsten Kapitel wollen wir uns diesen Fragen zuwenden.
3. Bedrohte Kinder. Die Dynamik von Kinderschutz und Kindheitsreform in der populären Medienöffentlichkeit Kinderschutz war das beherrschende Thema der publizistischen Kindheitsdebatten nach 1900. Die Illustrierten berichteten immer wieder über die Notlage städtischer Kinder, beschrieben neue Modelleinrichtungen von Kindheitsreform im In- und Ausland und richteten sich mit Forderungen an die Politik. Die öffentlichen Reformdebatten durchliefen dabei bis 1936 eine rasante Entwicklung. Dieses Kapitel nimmt die Formen und Folgen dieses Wandels unter die Lupe. Zunächst wird knapp die Entfaltung einer internationalen Kinderreformbewegung beschrieben, welche den vieldiskutierten Kontext der öffentlichen Debatten in Spanien bildete. Anschließend werden die Ausweitung des Konzeptes von Kinderschutz im Verlauf der 1920er Jahre erörtert und seine politischen Konsequenzen diskutiert. Zum Abschluss soll geklärt werden, wie sich die öffentlichen Debatten nach Gründung der Zweiten Republik veränderten. Zwei Fragen strukturieren das Kapitel. Erstens geht es um die politischen Folgen neuer Kindheitsreformprojekte. Wie veränderten sich das Konzept von Kinderschutz und das Idealbild moderner Kinderinstitutionen und wie wandelten sich die Ansprüche an den Staat im Laufe der Jahre? Zweitens geht es um die Frage nach der politischen Aufladung der Kinderreformdebatten. Setzte sich über politische Lagergrenzen hinweg ein dominantes Modell modernen Kinderschutzes durch oder lässt sich in der publizistischen Öffentlichkeit die Entstehung unterschiedlicher, antagonistischer politischer Reformprojekte identifizieren?
3.1 Der Ausgangspunkt: Internationale und spanische Kinderschutzbewegungen vor dem Ersten Weltkrieg Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts etablierte sich länderübergreifend eine neue Wahrnehmung von Kindern als gefährdete Bevölkerungsgruppe und gleichzeitig – vor allem in Gestalt der Straßenkinder – als Gefahr gesellschaftlicher Ordnung. Gruppen von bürgerlichen Kindheitsreformern setzten sich dafür ein, Kinder auf neue Weise als eigenständige Personen mit gewissen Rechten anzusehen. Zunächst in England und den USA entstanden Kinderreformbewegungen, die Kinderschutz neu als gesellschaftliche und staatliche Aufgabe definierten und eine länderübergreifende Debatte über Kinderschutz und Kinderrechte entfachten. Ein neues nationalpolitisches
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II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit
Interesse an Kindern als Grundlage zukünftiger nationaler Stärke sowie demographische Ängste vor einem Bevölkerungsverlust verschafften den Reformkräften öffentliche Resonanz und politische Aufmerksamkeit. Großbritannien erklärte beispielsweise grausames Verhalten gegen Kinder 1889 zu einer Straftat und schon 1886 schlossen einige europäische Staaten bilaterale Abkommen zur Bekämpfung des Mädchenhandels ab.1 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts formierten sich international ausgerichtete Expertengruppen aus Medizinern, Juristen, Sozialarbeitern und Pädagogen, die für eine rechtliche Verankerung des Kinderschutzes eintraten, Kinderarbeit bekämpften, Aufklärungskampagnen für eine neue hygienische Säuglingspflege entfachten, die Reform der älteren Kinderasyle und Waisenhäuser betrieben und für die Gründung neuer Kindereinrichtungen stritten. In New York hatte sich schon 1853 eine Children´s Aid Society gegründet, die sich dem Problem der Straßenkinder zuwandte und für das so genannte placing-out System eintrat, der Platzierung von Kindern aus zerrütteten Familien in Adoptivfamilien.2 In der amerikanischen Metropole gründete sich auch 1875 die bald landesweit agierende Society for the Prevention of Cruelty to Children, die schnell zu einem einflussreichen Interessenverband heranwuchs, in der politisch heftig diskutierten Beobachtung von Unterschichtenfamilien öffentliche Funktionen übernahm und Kinderschutz erstmals als umfassendes Konzept formulierte, das auch die Durchsetzung von Kinderinteressen gegen die Interessen der Eltern vorsah.3 In den folgenden Jahrzehnten traten in allen westlichen Ländern neue Kinderschutzvereine mit Forderungen an Staat und die Kommunen hervor, zugunsten von Kinderinteressen tätig zu werden. Die Vorstellung, dass Kinderschutz ein wichtiges Thema nationaler Politik und es Aufgabe der öffentlichen Hand sei, Kinder gegebenenfalls auch vor ihren eigenen Eltern zu schützen, setzte sich immer mehr durch. Einige konkrete Ergebnisse dieser Entwicklung können benannt werden. Zunächst regulierten die meisten Staaten in einem längeren Prozess die industrielle Kinderarbeit und schränkten sie immer weiter ein. Darüber hinaus trennten sie Kinder als separate Rechtsgruppe aus der allgemeinen Rechtsprechung und dem allgemeinen Strafvollzug aus und schufen eigene Gerichte, separate gesetzliche Bestimmungen für Heranwachsende und eigene Institutionen für straffällige Kinder und Jugendliche. Das erste Jugendgericht entstand 1899 in Chicago.4 Schließlich machte sich insbesondere in den Großstäd1 2 3 4
Manfred Liebel, Wozu Kinderrechte? Grundlagen und Perspektiven, Weinheim 2007, S. 16. Hawes, Children´s Rights, S. 18f. Ebd., S. 20–24. Weiterhin: Linda Gordon, Single Mothers and Child Neglect, 1880–1920, in: American Quarterly 37 (1985), S. 173–92. Zur Frage der Kinderarbeit: Boentert, Kinderarbeit; Cunningham/Viazzo, Child Labour. Zur Entstehung der Jugendgerichte in den USA: Hawes, Children´s Rights, S. 32–53; Mason, Father´s Property, insb. S. 118f. Zu Frankreich: Sylvia Schafer, Children in Moral
3. Kinderschutz und Kindheitsreform in der Medienöffentlichkeit
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ten eine neue Hygienebewegung bemerkbar, die auf der Grundlage neuer medizinischer Erkenntnisse insbesondere für den Kampf gegen das Ammenwesen, eine Verbesserung der Säuglingspflege und -ernährung sowie eine hygienische Gestaltung von Schulen und anderen Kinderräumen eintrat. Neue Institutionen sollten insbesondere Müttern aus den Unterschichten gesunde Säuglingsnahrung zur Verfügung stellen und sie gleichzeitig über Säuglingspflege aufklären. Spanien vollzog diese neuen Entwicklungen seit der Jahrhundertwende mit. Ausgangspunkt waren auch hier Reformimpulse in den 1880er Jahren, wie sie sich vor allem in der 1883 von dem Mediziner Tolosa Latour gegründeten Zeitschrift La Madre y el Niño sowie in der von der wichtigen Kinderreformerin Concepción Arenal herausgegebenen Zeitschrift Voz de la Caridad kristallisierten. Tolosa Latour formulierte in seiner Zeitschrift bereits ein ambitioniertes Programm des Kinderschutzes und der Verbesserung der Kinderpflege, das auch die Reform der Kinderasyle und die Neugründung von Kinderkliniken vorsah.5 Doch erst nach der Krise von 1898 institutionalisierte das Land Kinderschutz in einer Reihe von gesetzlichen Regelungen und baute neue Einrichtungen für Kinder auf. Die wichtigste Zäsur stellte der Erlass eines Kinderschutzgesetzes (Ley Protectora de la Infancia) im Januar 1908 dar, das nach einer unerklärlichen Verschleppung schon 1904 beschlossene Regelungen für die wichtigsten debattierten Bereiche von Kindheitsreform endlich in Kraft setzte: Kinderarbeit wurde erstmals reguliert, wenn auch nur schwere manuelle und die Gesundheit gefährdende Arbeit explizit verboten wurde; das Ammenwesen wurde gesetzlicher Aufsicht unterstellt und Ammen einer öffentlichen Inspektion unterworfen; Mutter- und Säuglingsschutz zu öffentlichen Aufgaben erklärt; ein öffentlicher Schutz- und Bildungsauftrag gegenüber körperlich und geistig behinderten Kindern formuliert; schließlich die Sorgepflicht der öffentlichen Hand gegenüber Straßenkindern und minderjährigen Kriminellen postuliert. Zur Umsetzung der einzelnen Beschlüsse wurde ein Consejo Superior de Protección a la Infancia geschaffen, der, den zuständigen Ministerien unterstellt, als Bindeglied zwischen den staatlichen Institutionen und privaten Wohltätigkeitsvereinen agieren sollte, und sich auf Untergliederungen auf der Provinz- und kommunalen Ebene stützte, denen jeweils der zuständige Zivilgouverneur beziehungsweise Bürgermeister vorsaßen.6 In den folgenden Jahren errichteten private Reformgruppen und die Stadt
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Danger and the Problem of Government in Third Republic France, Princeton 1997. Zu Italien: Ibsen, Italy, S. 5–12. Borrás Llop, Historia, S. 35–37; Al Empezar, ABC, 8.3.1908; Bienhechores de la Infancia: Concepción Arenal, ABC, 22.3.1908. Siehe zum Kontext auch: Muñoz López, Sangre, S. 288f. La Protección a la Infancia y el Trabajo de los Niños y de las Mujeres, ABC, 29.1.1908. Zur komplizierten Vorgeschichte des Gesetzes: Niñerías, ABC, 5.7.1905. Zur frühen Kinderschutzbewegung siehe auch: Muñoz López, Sangre, S. 297f., 348.
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II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit
Madrid eine Reihe neuer Institutionen zur Mutterunterstützung und -beratung, Kinderhygiene und materiellen Versorgung von Kindern. Die wichtigste städtische Maßnahme war sicherlich die Gründung der Institución Municipal de Puericultura im Jahr 1914 als zentrale Einrichtung des Mutter- und Säuglingsschutzes, deren Haupttätigkeit der Kampf gegen die nach wie vor sehr hohe Kindersterblichkeit bildete. Wichtigste Untergliederung der Einrichtung war eine Säuglingsstation, Gota de Leche (wörtlich „Milchtropfen“), die Milch an Mütter ausgab und diese gleichzeitig über Fragen der Säuglingspflege beriet. In einem Zwischenbericht ihrer Tätigkeit im Jahr 1927 konnte die Station eine eindrucksvolle Bilanz vorweisen. Seit ihrer Gründung hatte sie 114 000 Madrider Kinder mit Milch versorgt, 102 000 medizinische Beratungsgespräche durchgeführt und ungezählte Impfungen vorgenommen.7 Im Zuge eines massiven Engagements im Ausbau des öffentlichen Schulwesens richtete die Stadt zudem mit Hilfe privater Spender Kantinen an Schulen ein, die kostenlose Essen an bedürftige Kinder ausgaben. Im Jahr 1912 existierten bereits sechs solcher Speiseräume. Weiterhin griff die Stadt nach 1898 das Vorbild privater Vereine auf und etablierte Ferienkolonien für Kinder in Seebädern und Gebirgsdörfern. Darüber hinaus nahm sie auch eine Reform der städtischen Kinderasyle in Angriff. Diese sollten zu neuen pädagogischen Einrichtungen ausgebaut werden, in der die Kinder nicht nur verwahrt werden, sondern auch Bildung erhalten sollten.8 Schließlich setzte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auch in Spanien eine intensive Debatte über die Einrichtung von Kinder- und Jugendgerichten ein. Die Forderungen entstammten insbesondere aus einem Kreis von Reformern aus dem Umkreis des Freien Bildungsinstituts, der sich schließlich im Februar 1916 zu einem Protektorat des straffälligen Kindes (Protectorado del Niño Delincuente) zusammenschloss, dessen wichtigste Figur seine Generalsekretärin Alicia Pestaña war, die sich intensiv für die Etablierung neuer Einrichtungen für straffällige und obdachlose Kinder (refugios und reformatorios) einsetzte. Statt in den allgemeinen Gefängnissen sollten diese in Häusern untergebracht werden, in denen sie eine familiäre Atmosphäre und einen stabilen Rahmen für ihre Entwicklung zu arbeitsamen Staatsbürgern vorfinden sollten. Die Reforminitiativen fanden nach mehreren erfolglosen Gesetzesinitiativen in den Jahren 1912, 1915 und 1917 einen erfolgreichen Niederschlag in dem Gesetz vom 2. August 1918, das die flächendeckende Einrichtung von Kindertribunalen in allen Provinzhauptstädten verfügte. Nachdem 1920 in 7
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Anita Prieto, Una institución que ha criado de balde 2 900 niños, Estampa, 23.10.1928; José de las Casas Pérez, Una Institución generosa que ha curado y ha sostenido en Madrid á cuatro mil niños. La salud y la vida de la infancia, Crónica, 23.2.1930. Escuela-asilo, El Magisterio Español 3, 1900; La obras de la Beneficiencia Particular, El Mundo Gráfico, 27.12.1911; X., Cantinas Escolares, El Mundo Gráfico, 21.2.1912; La Educacíon en España: Colonias Escolares, Esfera, 28.3.1914; (als Rückblick) Madrid gasta al año ochocientos mil pesetas en colonias escolares, Ahora, 31.1.1932.
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Bilbao das erste Gericht eröffnet worden war und in Barcelona seit 1922 ein Kindertribunal bestand, dauerte es in Madrid bis 1925 – in anderen Städten sogar noch länger – bis der erste Kinderrichter seine Arbeit aufnahm.9 Die frühen kinderreformerischen Maßnahmen wiesen zwei Stoßrichtungen auf. In sozialhygienischer Hinsicht wollten sie durch bessere Versorgung und Aufklärung die hohe Kindersterblichkeit in Spanien senken und die Kinderkörper stärken, um im Sinne einer nationalen Regeneration aus Kindern kräftige, lebenstüchtige Erwachsene zu machen. In sozial- und ordnungspolitischer Hinsicht sollte durch die Einrichtung neuer Kinderinstitutionen das Problem der Straßenkinder und der Kinderkriminalität eingedämmt werden.10 Schließlich muss darauf verwiesen werden, dass anders als in der Bildungspolitik in Fragen von Kindheitsreform ein weitgehender Konsens zwischen den politischen Lagern existierte. Der Reform des städtischen Waisenhauses stimmten in Madrid beispielsweise „der Bürgermeister und alle Stadtverordneten [. . . ] zu. Selbst die Sozialisten.“ Insgesamt befürworteten sowohl die liberale als auch die katholischen Presse prinzipiell die beschriebenen Kinderschutzmaßnahmen.11
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Die Bezeichnungen für das Gericht änderten sich geringfügig von Tribunal para Niños (1918) über Tribunal Tutelar de Niños (1925) zu Tribunal Tutelar de Menores (1929). Siehe zur breiten zeitgenössischen Debatte: Alicia Pestaña, Tendencias actuales en la tutela correccional de los menores (Biblioteca Pro Infancia), o.O. 1916; Enrique Zarandieta Mirabent, La delincuencia de los menores y los tribunales para niños, Madrid 1916; Eugenio Cuello Calón, Tribunales para niños, Madrid 1917. Zum Gesetz und zur juristischen Debatte: Ders., Los tribunales para niños: Legislación española sobre esta materia, in: BILE 44 (1920), S. 375–83; Avelino Montero-Ríos Villegas, Antecedentes y comentarios a la ley de tribunales para niños, Madrid 1919; José Gaullart L. de Goicoechea, El Derecho Penal de los menores. Los Tribunales para niños, Zaragoza 1925. Als Bilanz der ersten Dekade: Inocencio Jiménez, Los Tribunales Tutelares de Menores, Zaragoza 1932; Antonio Gómez Mesa, Los Tribunales Tutelares de Menores en España. Historia, objeto, sujeto, implantación, organización, crítica, Madrid 1934. Als erste historiographische Annäherungen: Borrás Llop, Historia, S. 479–500; Tomás Roca Chust, Historia de la Obra de los Tribunales Tutelares de Menores de España, Madrid 1968; Montserrat González Fernández, Los Tribunales para Niños. Creación y Desarrollo, in: Historia de la Educación 18 (1999), S. 111–25; Francisco Sánchez Martínez, La Jurisdicción de Menores en España. Pasado, Presente y Futuro. Phil. Diss., Madrid 2001. Zur neuen Wahrnehmung von Straßenkindern als Problem der öffentlichen Ordnung siehe auch: Muñoz López, Sangre, S. 297. Nuestras Visitas: La Caridad Madrileña, Esfera, 25.7.1914. Zur starken Befürwortung von Kindheitsreform und neuen Kindereinrichtungen auf katholischer Seite siehe etwa: Pedro de Montolón, Vida Pedagógica, RdEF 25, März 1918. Katholische Experten forderten ebenfalls vehement die Einrichtung von Kindergerichten: I. Torrijos, Actualidad Pedagógica: Tribunales para niños, in: Revista Calasancia 1 (1913), S. 122–124.
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II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit
3.2 Schützen und Fördern. Ausweitung von Kindheitsreform und der Entwurf neuer Kinderräume Um 1914 sahen nicht mehr nur kleine Reformkreise, sondern auch eine breitere Öffentlichkeit in bisher marginalisierten Kindergruppen eine nationale Ressource, die es zu pflegen galt.12 In diesem Sinne forderte schon ein Zeitungskommentar von 1902, aus den „ausgebeuteten und prostituierten Kindern [. . . ] ein Heer kräftiger, arbeitsamer und guter Menschen“ zu formen. Die wohlhabenden Schichten sollten einen Beitrag leisten, allen Kindern einen Aufenthalt in den Bergen oder am Meer zu ermöglichen, wo diese sich „erneuern (regenerarse)“ könnten. Aus den neuen hygienischen Sanatorien werde dann „eine neue Rasse“ hervorgehen.13 Doch war die Durchsetzung regenerationistischer Kindheitsreform in der veröffentlichten Meinung nicht der Endpunkt der Entwicklung. Vielmehr setzten jenseits konkreter Inhalte die frühen Reformbemühungen zwei miteinander eng verbundene Dynamiken in Gang, die in den folgenden Jahren und Jahrzehnten auf eine umfassende Ausweitung des Kinderschutzes drängten und mindestens bis zum Bürgerkrieg den Druck auf die Politik, zugunsten von Kindern zu handeln, bedeutend erhöhten. Einerseits führte die Einrichtung neuer Kinderinstitutionen die Herausbildung einer neuen Gruppe von Kinderexperten, die zu einem großen Teil aus Medizinern bestand. Ihre Stimme gewann in der medialen Öffentlichkeit zunehmend Gewicht. Andererseits drängte auch die intensivere Medienberichterstattung über erfolgreiche Reformschritte im Ausland auf eine Verbesserung des Kinderschutzes. Die Etablierung neuer Kinderexperten in der medialen Öffentlichkeit und die Berichterstattung über neue Kinderinstitutionen trugen wesentlich zur Herausbildung eines öffentlichen Problembewusstseins in Spanien bei. Sicherlich verschärfte die rasche Urbanisierung die Probleme der Versorgung und Kontrolle von Kindern, doch es bedurfte der neuen Rahmung dieser Probleme durch Experten und Medien, um sie zu einem öffentlichen Thema und einer politischen Angelegenheit zu machen.14 In dem Jahrzehnt nach 12
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Vgl. etwa: Doctor Fausto, ABC, 22.6.1908; X., Cantinas Escolares, El Mundo Gráfico, 21.2.1912; Nuestras Visitas: La Caridad Madrileña, Esfera, 25.7.1914. Zu ähnlichen Positionen in den Expertendebatten Augusto Vidal Perera, Consideraciones acerca de la clasificación de los niños en „buenos“ y „malos“, EM 233, Jan. 1911; Alicia Pestaña, Un tribunal para los niños, in: BILE 39 (1915), S. 356–360. Manuel de Tolosa Latour, Nuestros Hijos, Blanco y Negro, 4.1.1902. Siehe auch: Vicente Medina, Como mi niña, Blanco y Negro, 4.1.1908. Schon rein quantitativ scheint etwa das Problem der Straßenkinder in Madrid bis in die 1930er Jahre deutlich zugenommen zu haben. Nach Borrás Llop, Historia, S. 43 lebten am Ende des 19. Jahrhunderts erst 800 Kinder auf den städtischen Straßen. Siehe auch Muñoz López, Sangre, S. 296f.
3. Kinderschutz und Kindheitsreform in der Medienöffentlichkeit
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1900 öffnete sich in der medialen Berichterstattung eine Schere zwischen neuen Visionen von Kindheitsreform und mit ihnen verknüpften politischen Forderungen einerseits und Darstellungen eines nun als immer weniger tragbar erachteten Status quo andererseits. Kinderreform erwies sich in Spanien dabei als ein im Vergleich mit den führenden Industrieländern besonders explosives Thema, da hier die Konfrontation von neuen Möglichkeiten von Kinderreform mit deutlich beschränkteren materiellen Mitteln auf staatlicher und kommunaler Ebene besonders ausgeprägt war. Die Diskrepanz zwischen Ansprüchen und Mitteln entfaltete in Spanien nicht zuletzt deshalb eine besondere politische Dynamik, da Tageszeitungen und illustrierte Presse intensiv über Reforminitiativen und Modelleinrichtungen im Ausland berichteten und der spanischen Leserschaft so neue Erwartungshorizonte eröffneten. Detaillierte Beschreibungen neuer Kinderheime, Kindergärten und Kinderkliniken ließen die Situation von Kindern in Spanien und Madrid unerträglich erscheinen. Die Vorstellungen davon, was möglich war, stiegen deutlich schneller als die Fähigkeiten des spanischen Staates, diese Vorstellungen zu verwirklichen.15 Diese Konstellation lässt sich im Ansatz bereits in den Jahren nach 1900 erkennen. Einerseits häuften sich Berichte über neue Modelleinrichtungen im Ausland. Ein gutes Beispiel hierfür ist ein langer illustrierter Bericht über ein neuartiges Säuglingsheim im französischen Porchefontaine im März 1908, das den Autor durch seine gesundheitsfördernde Lage auf dem Land, die umfassende Ausstattung mit Bädern, modernen medizinischen Einrichtungen, Freispielflächen sowie durch seinen unmittelbaren Zugang zu milchwirtschaftlichen Betrieben bestach. Im Schlussabsatz der Reportage forderte der Autor dann vehement die Einrichtung eines ähnlichen Heimes in Madrid.16 Vor dem Hintergrund solcher Berichte artikulierte sich eine zunehmende Enttäuschung über die Reformpolitik in Spanien. Exemplarisch hierfür kann ein längerer Kommentar in ABC vom Frühjahr 1910 stehen, der die mangelhafte Kenntnis und unzureichende Umsetzung des 1908 endlich in Kraft getretenen Kinderschutzgesetzes beklagte. Angesichts der Fortschritte des Auslandes trete die „generelle Indifferenz mit der in Spanien alle Ideen, die auf eine Verbesserung des Kinderwohls zielen, aufgenommen werden“ besonders negativ hervor.17 Einige Jahre später beklagte die liberale Reformerin Alicia Pestaña in einer Buchbesprechung in ganz ähnlichen Worten „die feindliche Atmosphäre, die in Spanien die Kinder umgibt, die sich schon vor
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Die zunehmende mediale Beachtung von notleidenden und gequälten Kindern beobachtet auch Borrás Llop, Historia, S. 52. Un Vivero Infantil, ABC, 22.3.1908. Als weiteres gutes Beispiel: Niñerías Internacionales. Cartas a Lili, ABC, 22.8.1910 (zu einem neuen medizinisch-pädagogischen Institut in Paris). Explicaciones Necesarias, ABC, 25.4.1910.
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ihrer Geburt von Feinden umzingelt sehen“.18 Der Umgang mit Kindern wurde zunehmend zum Kriterium für die Zivilisiertheit und Fortschrittlichkeit Spaniens im internationalen Vergleich.19 Gleichzeitig lässt sich in der medialen Berichterstattung bis zum Ende der 1920er Jahre eine signifikante Ausweitung der Definition von Kinderschutz und Kindheitsreform feststellen, die den politischen Reformdruck weiter steigerte. Die spanischen Illustrierten vollzogen dabei die expansive Logik der internationalen Kinderreformdebatten unmittelbar mit, die bis etwa zum Beginn des Zweiten Weltkrieges neben das nackte Existenz- und Versorgungsrecht auf neue Weise das Recht des Kindes auf Entwicklung seiner Persönlichkeit und die Notwendigkeit des Schutzes auch der kindlichen Psyche betonten. Ein wichtiger Ausgangspunkt dieser Entwicklung war die Genfer Kinderrechtserklärung des Völkerbundes vom September 1924, die auch in Spanien intensiv wahrgenommen wurde.20 Wesentlich beeinflusst durch die moderne Entwicklungspsychologie ging es in den folgenden Jahren nicht mehr allein um die Senkung von Kindersterblichkeit und Kinderkriminalität sowie die Produktion kräftiger Staatsbürger. Vielmehr erschien nun auch eine harmonische psychische Entwicklung des Kindes als unabdingbare Voraussetzung eines seelisch gefestigten und auf gesellschaftliche Harmonie orientierten Erwachsenenlebens. Um eine menschliche Höherentwicklung als Bedingung einer besseren Gesellschaftsordnung zu gewährleisten, musste Kindheit in den Augen der Reformer zunächst auch als psychisch-emotionale Lebensphase unter Schutz gestellt und dem Kind eine freie Entfaltung seiner seelischen Kräfte in von der Erwachsenenwelt geschützten Räumen erlaubt werden. Kindheit musste nach Überzeugung der neuen Kinderexperten zudem fröhlich und unbeschwert verlebt werden, wenn aus den Heranwachsenden psychisch stabile Erwachsene werden sollten. Freude (alegría) wurde neben körperlicher Gesundheit zum wichtigsten Indikator gelungener Kindheit und die Gewährleistung emotionaler Zuwendung ein neuer Anspruch an Kindheitsreformmaßnahmen. In den populären Zeitschriften lässt sich die Ausweitung der Kinderreformdebatten gut nachvollziehen. Spätestens seit 1900 hatte sich eine Sprache der Kinderrechte in Spanien etabliert, in der Reformforderungen aus dem Kinde unveräußerlichen Rechten abgeleitet wurden. Bezogen sich diese Rechte an18 19 20
Alicia Pestaña, El Tribunal Especial para niños, in: BILE 49 (1925), S. 40–42. Siehe etwa: Niñerías. Cartas a Pépe, ABC, 26.11.1911. Zu ähnlichen Tendenzen im liberalen Italien vgl. Ibsen, Italy, S. 162–195. Zur internationalen Entwicklung vgl. Hawes, Children´s Rights, S. 54f.; Vgl. auch in übergreifender Perspektive: Frank Surall, Ethik des Kindes. Kinderrechte und ihre theologisch-ethische Rezeption, Stuttgart 2009, S. 45–51; Liebel, Kinderrechte, S. 16–22; Michael Freeman, Introduction: Rights, Ideology and Children, in: Ders./Philip Veerman (Hrsg.), The Ideologies of Children´s Rights, Dordrecht 1992, S. 3–6. Zur spanischen Rezeption siehe etwa: Consejo Superio de Protección a la Infancia, ABC, 12.11.1924.
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fangs vor allem auf die Gesundheit des Kindes, so lässt sich spätestens nach dem Ersten Weltkrieg eine Erweiterung dessen feststellen, was unter Kinderrechte gezählt wurde. Der einflussreiche Leitartikler Antonio Zozaya bewegte sich 1920 noch an der Spitze der Debatte, als er erläuterte, dass Straßenkinder nicht nur materieller Unterstützung, sondern auch emotionaler Zuwendung bedürften.21 In den folgenden Jahren forderten immer mehr Kommentatoren, die Kinderrechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und auf Freude anzuerkennen und ihnen zur Durchsetzung zu verhelfen.22 Jenseits einzelner Expertenäußerungen wurden Bemühungen, Kindern eine fröhliche und geschützte Kindheit zu ermöglichen, zu Grundelementen der öffentlichen Debatten, wie sich an den Kommentaren zum Dreikönigstag erkennen lässt. Diese nahmen immer öfter das Recht auf Freude als Ausgangspunkt neuer Forderungen nach staatlichen und gesellschaftlichen Eingriffen. „Ein trauriges Kind ist ein kollektives Verbrechen“ urteilte symptomatisch María Valero de Mazas schon 1922 und dieser Ansicht schlossen sich seit Ende der 1920er Jahre Kommentare über weltanschauliche Lagergrenzen von Esto bis Crónica an.23 Manuel Bueno stellte beispielsweise im Januar 1932 in Blanco y Negro ein neues Verständnis des Kindes in der Gegenwart fest, dass auch die Politik ihnen gegenüber verändert habe: „Es ist nur gerecht festzustellen, dass die Gesellschaft sich von Tag zu Tag mehr geneigt zeigt, nicht nur mit Schutzverordnungen über das Kind zu wachen, sondern auch den Wunsch zeigt, ihm das Leben angenehm zu machen, es sowohl zu schützen (amparar) als auch zu unterhalten (divertir).“ Diese Schritte seien ein Beleg für die zunehmende Zivilisierung der Menschheit, doch reichten sie noch nicht aus: „Alle Kinder sollen das Recht auf die gleiche Zuwendung (caricia) und Schmeicheleien (halagos) haben. Es genügt nicht, dem Kind nur Brot und eine Zuflucht zu geben; es ist ebenso notwendig, seine Seele mit Freude zu erfüllen.“ Lebensfreude sei für Kinder unabdingbar, damit sie nicht am Leben verzweifelten.24 Ganz ähnlich hatte es Pedro Massa in Crónica ein Jahr früher formuliert: „Den Kindern Freude zu schenken, bedeutet ihre Seelen mit Licht zu füllen und viele dunkle Schatten, die in der Tiefe ihres Bewusstseins lagern, auszulöschen“.25 Kindern eine glückliche Kindheit zu 21
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Antonio Zozaya, Del Ambiente y de la vida: ¿Incorregibles? in: El Mundo Gráfico, 22.12.1920. Ansätze einer neuen Sicht finden sich schon in: Niñerías. Cartas a Pépe, ABC, 26.11.1911. Zur älteren Diskussion: Los Cubiles, ABC, 31.1.1910; Explicaciones Necesarias, ABC, 25.4.1910; Asamblea de la Confederación Nacional de Maestros, ABC, 3.11.1927; Gabriela Mistral, Los derechos de los niños, in: BILE 53 (1929), S. 65–67. Als weitere frühe Formulierung: Rodolfo Llopis, Los derechos y la personalidad del niño, según A. Patri, BILE 48 (1924), S. 274–79. María Valero de Mazas, Comentos breves: „Los niños tristes“, El Mundo Gráfico, 11.1.1922. Manuel Bueno, Paisajes Sociales: El Derecho a los juguetes, Blanco y Negro, 3.1.1932. Pedro Massa, Epifanía: Lo que los niños de la Inclusa desean que les traigan los Reyes Magos, Crónica, 4.1.1931. Siehe auch: La Fiesta de los Reyes Magos, El Sol, 5.1.1936.
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garantieren, wurde zum Ausweis der zivilisatorischen Reife Spaniens und zu einer gesellschaftlichen Pflicht ersten Ranges. Dass Kinderpolitik sich darauf richten müsse, „ein Land von gesunden, fröhlichen und nützlichen Kindern“ hervorzubringen, wie ein Kommentator in Crónica in einer nun charakteristischen Verbindung von alten und neuen Forderungen im Jahr 1935 meinte, entwickelte sich zur dominierenden Auffassung der publizistischen Öffentlichkeit.26 Der Einfluss dieser neuen Sichtweise reichte bis weit in katholische und konservative Kreise hinein. Selbst die militant-katholische Zeitschrift Esto behauptete 1935, dass „die Bewahrung der kindlichen Fröhlichkeit“ das Fundament aller gesunden Persönlichkeitsentwicklung bilde und deshalb besonderer politischer Beachtung bedürfe.27 Die erweiterte Sichtweise auf Kindheitsreform und Kinderschutz schlug sich besonders in der Darstellung von Modellinstitutionen nieder, die seit Ende der 1920er Jahre nicht nur als hygienische, die Gesundheit des Kindes fördernde Einrichtungen beschrieben wurden, sondern auch als fröhliche Orte, welche die seelischen und emotionalen Bedürfnisse der Heranwachsenden ernst nähmen. Einige Beispiele sollen hier genügen. Blanco y Negro veröffentlichte 1927 etwa einen langen Artikel über ein Kinderheim in BerlinLankwitz, das modernste sanitäre Installationen und einen großen Garten besaß, aber auch auf die Psyche der Kinder achtete, so dass „die Fröhlichkeit der Gesundheit und der Freiheit“ das Heim kennzeichneten.28 Fünf Jahre später berichtete Estampa über ein anderes vorbildliches Kinderheim in Berlin und stellte dabei ganz ähnliche Beobachtungen an. Das Heim zeichnete sich aus der spanischen Perspektive nicht nur durch „diese ausgezeichnete Ordnung der Deutschen, ergänzt durch die Idee der Hygiene und des inneren Friedens“ sowie durch materiellen Überfluss aus, der sich nicht zuletzt in einer umfangreichen Spielzeugsammlung zeigte, sondern auch durch „familiäre Wärme und die Fröhlichkeit des Lebens ohne Sorgen“. Neben die hygienischen Errungenschaften traten somit die sozialpsychologischen.29 Die Erweiterung der Ansprüche an die Gestaltung von Kindheit führte zu neuen Initiativen der öffentlichen Gestaltung von Kindheit über die klassische Sozial- und Armenpolitik hinaus. Die kindgerechte Stadt wurde zu einem neuen Leitziel von Kindheitserneuerung. Im Zuge dieser Entwicklung bezogen die Reformdebatten zunehmend Kinder aus den Mittelschichten als Objekte von Kinderpolitik ein. Nachdem Experten schon seit der Jahrhundertwende die Umgestaltung der städtischen Parks zu wahren Kinderorten 26
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L.G. de L., Lo que es y lo que debería ser el Servicio Médico Escolar, Crónica, 10.2.1935. Siehe auch María Luz Morales, Mujeres: ¡Los Niños, los niños! El Sol, 5.7.1931; Hacia el porvenir: ¿Cual debe ser la labor de las mujeres en la República? Crónica, 17.5.1931. Doctor X.X., La Vida de Nuestros Hijos: La Alegría, Esto, 18.7.1935. Por Amor al Niño, por Regina, Blanco y Negro, 9.1.1927. William Loring, Cómo se sustituye el calor del hogar en los niños sin padres, Estampa, 5.9.1931.
3. Kinderschutz und Kindheitsreform in der Medienöffentlichkeit
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und die Anlage von Spielplätzen in allen Stadtvierteln diskutiert hatten, fanden die Vorschläge ab den 1920er Jahren allmählich Eingang in die populären Medien. Beispielhaft ist ein langer Artikel in Crónica, der detailliert die Umbauarbeiten an Madrider Plätzen bespricht. Die vor kurzem begonnene kindgerechte Umgestaltung der Plaza de Mariano Zurita, so erläuterte der Autor beispielsweise, sei zwar zu begrüßen, doch sei er noch verbesserungsbedürftig, da die neugepflanzten Bäume in der Platzmitte das freie Spiel der Heranwachsenden zu behindern drohten.30 Hatten diese Forderungen zunächst einen deutlichen sozialhygienischen Hintergrund und sollten zudem die Kinder vor den Gefahren des Straßenverkehrs bewahren, berichteten die Illustrierten bald auch über Versuche, über neue Kinderräume in der Stadt die seelisch-emotionale Entwicklung der Heranwachsenden zu fördern und zu schützen. Der Einrichtung von Kinderbibliotheken, die erste wurde Ende 1929 in einem Gebäude des städtischen Hauptparks Retiro eingeweiht und umfasste auch eine Spielzeugsammlung für Vorschulkinder, und der Gründung von Kindertheatern sowie den Debatten über die Einrichtung von Kinderkinos und eines Kinderzoos wurde in den Illustrierten viel Platz eingeräumt. Wie grundlegend sich die öffentliche Beschäftigung mit Kindheit wandelte, zeigt schließlich die Tätigkeit der wohltätigen, politisch nicht eindeutig zuzuordnenden Sociedad Amigos de Niños, die 1930 nicht mehr nur wie ihre Vorgänger die Hygiene, Versorgung und Unterkunft benachteiligter Kinder verbessern wollte, sondern in ihren Räumen auch wöchentliche kulturelle Veranstaltungen für Kinder wie Kunstkurse anbot.31 Die medialen Reformdebatten griffen dabei auch auf die familiäre, häusliche Sphäre über. Sowohl liberale wie katholische Zeitschriften widmeten der Reform des bürgerlichen Kinderzimmers zu einem sowohl hygienischen als auch die geistig-emotionale Entwicklung des Kindes fördernden Ort viel Raum. Die Zeitschriften berichteten ausführlich über neue internationale 30
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Rafael N. Olivares, Reforma de Madrid, Crónica, 8.2.1931. Weiterhin: Para las madres: Llevemos a los niños al parque, El Sol, 19.4.1931; Claudio Ferrán, Los niños y las palomas de la Plaza de Cataluña, El Mundo Gráfico, 13.6.1934; Inglaterra, La Voz, 10.7.1936. Zu frühen Forderungen siehe etwa: Ricardo Rubio, Hay que enseñar á jugar, EM 118, Januar 1901; T. Jonckheere/A. Sluys, Los juegos en la educación, in: BILE 37 (1913), S. 353–358. Inauguración de la biblioteca para niños, Crónica, 24.11.1929; Elena Fortún, Las buenas obras: Varias señoritas de buena voluntad han creado una biblioteca circulante para los niños que no tienen libros, Crónica, 6.1.1935; Guiñol en la Comedia, Crónica, 15.12.1929; El Director General de Primera Enseñanza dice que la obra educativa de la República en nueve meses no tiene igual en el mundo, Ahora, 31.1.1932; Luisa Trigo, 4 000 niños en la feria del libro, Estampa, 13.6.1936; Juan de Sarto, Los de mañana: La Sociedad Amigos del Niño, su presidenta, Manoliata Martín, y su presidente, Alfredito Hurtado (Pitusín), Crónica, 16.2.1930. In katholischen Zeitschriften siehe etwa: El Teatro y el cinema, Ellas, 5.6.1932; César Gonzalez Ruano, El Zoo y los Niños, Esto, 23.8.1934. Sowie: Juana de Rauday, La Educación de la Bondad en el niño, RdEF 19, Sept. 1917; Mentor, La cooperación de los padres y profesores de Instituto, RdEF 29, Juli–Aug. 1918.
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II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit
Entwürfe von idealen Kinderzimmern und gaben Eltern visuelle Hinweise an die Hand, wie ein modernes Zimmer zu gestalten sei. „Auch das Kind“, so eine Reportage in Esto von 1934, „bedarf der Aufmerksamkeit des Architekten“ und „Räumen zum Spielen und Lernen.“32 Paradigmatisch für die neue Kombination von hygienischen und psychologischen Interessen formulierte ein Artikel über die Gestaltung von Kinderzimmern von 1932: „Die Sorge für das Kind besteht nicht allein darin, wie es seine Mutter badet, wie sie es ernährt und kleidet. Genauso wichtig wie all dieses ist die Förderung seiner erwachenden Fantasie durch das, was es umgibt und die Auswahl seiner Spielzeuge“.33 Schon ein Jahr vorher hatte die liberale El Sol gefordert, den Kindern das hellste und größte Zimmer der Wohnung zu überlassen, und es in freundlichen Farben zu streichen.34 Demgegenüber spielten ältere katholische Versuche, das Kinderzimmer durch die Dekoration mit Heiligenbildern und die Anbringung eines Weihwasserbeckens am Kinderbett zu einem primär religiösen Ort zu gestalten, selbst in der militant-katholischen Presse der 1930er Jahre keine Rolle mehr. Auch diese Presse plädierte nun für das Aufhängen von Kinderbildern statt von Heiligendarstellungen.35 Schließlich berichtete die gesamte illustrierte Presse in den 1930er Jahren intensiv über ideale Kinderräume außerhalb der Stadt. Der Strand und der Luftkurort in den Bergen stiegen zu neuen Referenzgrößen auf, an denen sich von nun an alle Aufenthaltsorte von Kindern messen lassen mussten und gemessen werden konnten. Die Stadt San Sebastián pries sich etwa im Sommer 1936 in einer als Reportage getarnten Werbeanzeige als idealer Kinderort an: „Die Stadt ist ein wahrhafter Kinderspielplatz (parque infantil), in der Tausende Heranwachsende in einer hygienischen Umgebung sonnenbaden und im Schatten der unzähligen Baumgruppen spielen.“36 Ganz ähnlich beschrieb ein Reisebericht in Esto im August 1934 einen Luftkurort in den Bergen als „Kinderparadies“.37 Insgesamt etablierten sich fotografische Darstellungen von Kindern am Strand und in Kurorten in den frühen 1930er Jahren als wichtiger Bildtopos der Illustrierten, dessen Wirkmacht sich bis in die ersten Wochen des Bürgerkriegs hinein verfolgen lässt.38 Mit der medialen Aufwertung von gesonderten Kinderräumen innerhalb 32 33
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El Hogar: El cuarto de los niños (por José Luis de Arrese, Arquitecto), Esto, 31.5.1934. Zum Wandel des Kinderzimmers siehe auch: Borrás Llop, Historia, S. 47–49. Decoración e interiores: Cuarto de Niños, Ellas, 11.12.1932. Siehe weiterhin: E. Santonja Rosales, El Arte de la Casa: Cuartos para los niños, Blanco y Negro, 27.3.1932; María del Rosario Rodriguez Godinez, Por los Niños: Cuidados especiales. Baño. Habitación, Ellas, 31.7.1932; La vida de nuestros hijos: ¡Guerra al Polvo! Esto, 13.12.1934. La Mujer, El Niño y el Hogar, El Sol, 7.1.1931. Zu den älteren Impulsen und zu Ansätzen des Wandels siehe: Borrás Llop, Historia, S. 49. Verano de familias: El niño, tirano de la casa, La Voz, 7.7.1936. Turismo: El Paraíso de los niños, Esto, 9.8.1934. Siehe nur: Enrique Moreno, Reportaje Infantil: De los „peques“ y con los „peques“, Crónica, 16.7.1933; San Sebastian, Estampa, 20.6.1936; La nena no tiene miedo al mar, in: Crónica, 6.9.1936.
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und außerhalb der Stadt ging eine deutliche Delegitimierung der Straße als Aufenthaltsort für Kinder einher. Angesichts der Entfaltung neuer Visionen von Kinderräumen erschien der Aufenthalt von Kindern auf der Straße zunehmend als unangemessen und für Körper und Seele des Kindes gefährlich. Straßenkinder hatten schon am Ausgang des 19. Jahrhunderts sorgenvolle Blicke auf sich gezogen, ihr Bild musste die Zeitgenossen der 1930er Jahren jedoch auf neue Weise erschüttern.39 Die Kinder von der Straße in sichere, hygienische, pädagogisch anregende und fröhliche Räume zu befördern, erschien 1936 als dringende politische Aufgabe.
3.3 Große Erwartungen: Politische Dynamiken von Kindheitsreform in der Zweiten Republik Die idealisierenden Berichte über Kinderheime, Krippen und Säuglingsstationen im Ausland und Kinderparadiese an der Küste und in den Bergen müssen immer auch vor dem Hintergrund sehr realer Probleme großstädtischer und ländlicher Kindheit gelesen werden. Eine Ahnung davon, als wie prekär die Lage den meisten Beobachtern in Spanien erschien, geben Berichte über spanische Vorzeigeeinrichtungen. Reportagen wiesen immer wieder auf den Ausnahmecharakter der beschriebenen Einrichtungen hin und beklagen den scharfen Gegensatz zwischen den exzeptionellen Modellprojekten und der weiter existierenden Drangsal der großen Kindermassen.40 Die in bewunderndem Ton gehaltenen Darstellungen von Modelleinrichtungen wurden immer wieder durch komplementäre Berichte ergänzt, welche die Unzulänglichkeiten der spanischen Situation herausstellten, fehlenden politischen Reformwillen beklagten und in Plädoyers nach vermehrten Anstrengungen mündeten, die neuen Möglichkeiten von Kinderreform in der Praxis zu realisieren. Ein Anfang 1931 publizierter Artikel zitierte den Zivilgouverneur von Madrid, der Berichten ausländischer Reisender über die erschreckend hohe Zahl an bettelnden Kindern in Madrid beipflichtete, aber auf fehlende materielle und personale Mittel verwies, welche Kinderschutzmaßnahmen in der
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Diese Dynamik lässt sich gut erkennen in: A. de C., En favor de los niños abandonados o explotados: ¿Por qué no se crea en Madrid el sello „Pro Infancia“ que tan magníficos resultados da en Barcelona? Crónica, 31.3.1935. Siehe auch: Comentarios: Urgencias en la Segunda Enseñanza, El Sol, 3.1.1936. Ein Beitrag von Miguel de Unamuno bestätigt diesen Trend, auch wenn der Autor sich in polemischer Weise gegen die allgemeinen Forderungen stellt, Kinder von der Straße zu verbannen, da diese dadurch entmenschlicht würden: Miguel de Unamuno, Un mensaje a los niños de España, in: RdP 14 (1935), S. 31f. Herminia Peñaranda, La Casa de los niños, Mujer, 4.7.1931; Elena Fortún, Nochebuena en „La Casa del Niño“, Crónica, Sondernummer Neujahr 1936.
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Metropole in größerem Ausmaß verunmöglichten.41 Vor dem Hintergrund solcher Äußerungen erhielt die Forderung, „dass wir versuchen müssen, den Kinderschutz bei uns auf die Höhe der avanciertesten Länder“ zu bringen, um 1930 neue Dringlichkeit und politischen Sprengstoff.42 Setzten sich die neuen Vorstellungen von Kindheitsreform in allen Zeitschriften über politisch-kulturelle Lagergrenzen hinweg durch, so lassen sich doch unterschiedliche politische Kontextualisierungen von Kindheitsreform und unterschiedliche politische Stoßrichtungen in der Medienberichterstattung erkennen. Diese Unterschiede traten nach Gründung der Zweiten Republik stärker hervor und entwickelten in den folgenden Jahren eine je spezifische Eigendynamik. In den Zeitschriften, welche das republikanische Projekt unterstützten, und insbesondere Crónica, überwogen in den Jahren 1931 und 1932 zahlreiche Berichte, welche mit optimistischem Grundton spanische Reformeinrichtungen als Beleg für die unternommenen Anstrengungen republikanischer Gesellschaftsreform beschrieben. Die republiknahe Frauenzeitschrift Mujer berichtete beispielsweise im Juli 1931 über eine neue Kinderkrippe für Arbeiterinnen in Madrid, die mehr einem Familienhotel als einem Asyl alten Typs gleiche. Das ganze Haus gleiche einem Paradies und es sei erhebend, „so viel realisierte Glückseligkeit“ zu betrachten.43 In den folgenden Jahren politisierten sich die Reportagen deutlicher. Sie stellten Kinderheime zunehmend als Labors der zukünftigen republikanischdemokratischen Gesellschaft dar. Deutlich wird dies in einer ausführlichen Reportage in Crónica über eine Reformschule in Barcelona, die als Gegenbild zu den traditionellen, vermeintlich lebensfeindlichen Internaten präsentiert wird. Zunächst ist es wieder der inzwischen etablierte Zweiklang aus Fröhlichkeit und Gesundheit – die Schule sei „so fröhlich, so gut durchlüftet“ – der als Kennzeichen der modernen Ausrichtung der Schule fungierte. Dazu trat hier aber ein zusätzliches Distinktionsmerkmal der Institution, ihr Charakter als Ort neuer Gemeinschaftsbildung. In der Schule lebten, so die Reporterin, „die Kinder ohne Unterscheidung des Geschlechts und der Klassenzugehörigkeit in einem Ambiente offener Kameradschaft und Demokratie“.44 Diese Präsentation von Kindereinrichtungen als soziale Laboratorien findet sich 41
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A. Cacho y Zabalza, Vida Madrileña, El Sol, 29.1.1931. Siehe auch die Verknüpfung der kritischen Beschreibung ländlicher Kindheit mit Aufrufen zu dringenden Reformmaßnahmen: A ciento cincuenta kilómetros de Madrid, los campesinos de Navas de Estena carecen de luz, de agua, de trabajo y de pan, Crónica, 21.6.1936. Ähnliche Kontraste auf dem Feld des Städtebaus konstatiert: Santos Juliá, Madrid. Capital del Estado (1833– 1993), in: Ders./David Ringrose/Cristina Segura, Madrid. Historia de Madrid, Berkeley 1994, S. 253–461, hier S. 393–410. A. Cacho y Zabalza, La Guardería infantil de Vallehermoso, Estampa, 24.1.1931. Herminia Peñaranda, La Casa de los niños, Mujer, 4.7.1931. Ana María Martinez-Sagi, Crónica en Barcelona, La Escuela del Bosque de Guinardó, Crónica, 3.1.1932. Vgl. zu ähnlichen Strömungen in den liberal-republikanischen Expertendebatten: José Mallart, El régimen de internados para huérfanos y pupiles sociales, in: BILE 56 (1932), S. 133–38.
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in den folgenden Jahren immer wieder. Elena Fortún stellte beispielsweise Anfang 1935 die Kinderbibliothek in der Casa de los Niños des feministisch orientierten Lyceum Club als Ort kindlicher Selbstorganisation und Selbstbildung dar. Die Kinder achteten selbstständig und vorbildlich auf den sorgsamen Umgang mit Büchern, die Einhaltung der Ruhepflicht und die Ordnung in der Ausleihschlange.45 Auch eine Reportage in El Mundo Gráfico über eine Waisenkolonie im katalanischen Montgat betonte kurz vor Ausbruch des Bürgerkrieges das demokratische, selbstbestimmte Miteinander der Kolonisten als Hauptmerkmal der Einrichtung, die abseits der Stadt Leben und Lernen auf eine neue Grundlage stellen wollte.46 Die Zweite Republik erschien in dieser Perspektive als Verjüngungsprojekt der Gesellschaft. Es war kein Zufall, dass die junge Republik immer wieder mithilfe von Kinderbildern symbolisiert wurde. Crónica druckte etwa zum ersten Jahrestag der Republikgründung auf ihrem Titelbild ein Mädchen mit Jakobinermütze vor dem Hintergrund der republikanischen Feiern des Vorjahres auf der Plaza del Sol von Madrid ab. Schon im Mai 1931 kurz nach Ausrufung der Republik hatte die führende liberale Tageszeitung El Sol Republikgründung und Kindheitsreform in einen Zusammenhang gestellt: „Glücklicherweise wird in der neuen Epoche die Welt den Kindern gehören“.47 Kindheitsreform erschien als Speerspitze und Grundlage allgemeiner Gesellschaftsreform. Die ersten beiden Jahre der Republik durchzieht eine äußerst optimistische Haltung hinsichtlich der Möglichkeiten einer Reform von Kindheit und Gesellschaft. Durch richtige Maßnahmen, so ein Aufsatz von Anfang 1932, könnten selbst psychologische Schädigungen geheilt und aus geistesgestörten minderjährigen Straftätern normale Kinder und gute Staatsbürger werden.48 Nach 1933 trübte sich jedoch die Darstellung von Kindheit in der linksliberalen Presse deutlich ein. Der anfängliche Optimismus wich einer düsteren Lagebeurteilung. Neben die Erörterung neuer Reformprojekte richteten die Zeitschriften ihr Augenmerk vermehrt auf die Schattenseiten spanischer Kindheit. Statt der erhofften neuen gesunden und glücklichen Kinder prägten zunehmend geschundene, verlassene und seelisch deformierte Kinder die mediale Berichterstattung. Berichte über Misshandlungen von Kindern nahmen zu, und das Elend von Kindern in Stadt und Land wurde ausführlicher geschildert.49 Ein Beitrag von Ende 1934 berichtete beispielsweise über die große Zahl 45
46 47 48 49
Elena Fortún, Las buenas obras, Crónica, 6.1.1935. Weiterhin: Santiago Masferrer Canto, Como trata Rusia a los niños, El Mundo Gráfico, 21.2.1934. Ähnlich: Pedro Arenas, ¿Quien debe escoger las lecturas del niño? ¿El niño mismo o su papá? Estampa, 11.7.1931. J. Aymami-Serra, En Montgat existe una colonia de huérfanos que son proprietarios de la finca donde viven, El Mundo Gráfico, 15.7.1936 Titelseite, Crónica, 10.4.1932; Trabajo y Disciplina, El Sol, 26.5.1931. Como y por que se hacen delincuentes los niños, Ahora, 31.1.1932. Siehe nur: El suceso del Puente de Vallecas: Paquita „la Trigo“, la niña de trece años a
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II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit Abbildung 12: „14. April 1931 – 14. April 1932. Erster Geburtstag der zweiten spanischen Republik“, Crónica, 10.4.1932.
von der städtischen Polizei in Barcelona aufgegriffener Straßenkinder. Nicht nur die schiere Menge – allein 65 in einem Monat – entrüstete den Kommentator, sondern mehr noch die unsäglichen Zustände des Aufnahmeheims, „eines dreckigen und düsteren alten Kastens“, in dem sich die Kinder gezwungenermaßen mit der Unterwelt der Großstadt mischten. Besonders das Bild eines elfjährigen Mädchens, das neben einer alten Prostituierten lagerte, erschien dem Autor als Sinnbild der untragbaren Zustände. Während der Reporter zwar weiterhin über Reformpläne des Stadtrats informierte, bestimmte anders als noch in Artikeln von 1931/32 die trostlose Realität eindeutig seinen Bericht. Am Ende der Republik häuften sich auch Nachrichten über Eltern, die ihre Kinder an öffentlichen Orten aussetzten.50 Die erwarteten Reformen ließen auf sich warten und vermochten immer weniger über die als bedrückend empfundenen aktuellen Probleme hinwegzutrösten.
50
quien apuñaló, por celos, un hombre de cincuenta y cuatro, Crónica, 15.12.1935; Los setecientos niños de las Rozas van a comer, Estampa, 6.6.1936. G. Trillas Blazquez, Crónica en Barcelona: Niños perdidos y niños abandonados, Crónica, 23.12.1934; Federicu Feliu, „Tonín“, el niño abandonado en el tren, Estampa, 4.4.1936; Cuando la vida es dura para los pequeños. Dos muchachos abandonados por su padre junto a la línea de los muelles, Crónica, 5.4.1936.
3. Kinderschutz und Kindheitsreform in der Medienöffentlichkeit
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Abbildung 13: „Der dreijährige Tomasito Gómez, von seiner Mutter grausam misshandelt“, El Mundo Gráfico 1932.
Der Kontrast zwischen Anspruch und Wirklichkeit führte in den Medien regelmäßig zu politischen Forderungen, die Probleme endlich radikal zu lösen. Wie ein Kommentator von Crónica im März 1933 sahen viele einen dringenden Handlungsbedarf hinsichtlich der fortbestehenden Kinderarmut und forderten, dass endlich „das [Reform-, T.K.]Werk sich konsolidiere und verbessere, dass die Gesellschaft und die Regierung eine unmittelbare und gefühlsbewegte Sorge um das Kind spüren.“51 Zwei Jahre später kam eine lange Reportage zur Lage der Kinder zu einer bitteren Bilanz. Trotz jahrzehntelanger Reformbemühungen sei das Madrider Kind heute weiterhin „vollständig ungeschützt (desamparado). Wenn es nicht kommerziell ausgebeutet wird, [. . . ] ist es der unfreiwilligen Vernachlässigung durch die Eltern ausgesetzt, die es während der achtstündigen täglichen Arbeitszeit zur Betreuung einer Nachbarin anvertrauen. [. . . ] Angefangen von Schulen bis hin zur medizinischen Betreuung fehlt es dem Madrider Kind an allem. Wenn es jemanden gibt, der durch den Staat unmittelbar umsorgt, gerettet und beaufsichtigt werden sollte, so ist es das Kind. Und dennoch ist es die am wenigsten geschützte Person, die unter uns existiert. [. . . ] Man muss das Kind retten.“52
Ähnlich zugespitzt zeichnete auch Luis G. de Linares in Crónica Anfang 1935 51 52
José de las Casas Pérez, El abandono de los niños, Crónica, 26.3.1933. A. de C., En favor de los niños abandonados o explotados, Crónica, 31.3.1935.
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II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit
in einem desillusionierten Leitartikel die gegenwärtige Lage, die er nicht zuletzt durch eine erschreckende Zunahme von gewerbsmäßigen Bettlern im Kindesalter charakterisiert sah, und verknüpfte sie mit einer Kritik an der Kinderpolitik der Republik. Diese habe in den letzten Jahren immer wieder Versprechungen gegeben, das traurige Spektakel der Straßenkinder zu beenden, doch die Lage sei in der Gegenwart schlimmer als je zuvor.53 Das Scheitern der Bemühungen, die Kindersterblichkeit rasch zu senken, erschien als weiterer Beleg für die Krise republikanischer Kinderpolitik. Das jährliche Sterben von 17 000 Kindern unter fünf Jahren allein in Katalonien wurde zumindest in der linksliberalen Presse zum Ausgangspunkt wortgewaltiger Reformforderungen genommen.54 Kindheit erschien progressiven Kommentatoren im Frühjahr von 1936 bedrohter als je zuvor. Anstatt, wie erhofft, eine Epoche der Reform der Erwachsenenwelt durch Kinder und kindliche Werte einzuleiten, erreichte ihrer Ansicht nach das Kinderelend im republikanischen Spanien im Gegenteil unbekannte Ausmaße. Dieser Umstand stellte die politische Legitimation der Republik unter ihren einstmaligen Befürworten in Frage. Vor diesem Hintergrund enttäuschter Erwartungen muss schließlich der große, von der Presse ausdauernd gefeierte Erfolg des Theaterstücks Nuestra Natacha des populärem Schriftstellers und ehemaligen Volksschullehrers Alessandro Cassano im Frühjahr 1936 verstanden werden. Das Werk erhielt begeisterte Rezensionen und wurde allein bis April 1936 im Madrider Theater Victoria 133 Mal hintereinander vor ausverkauftem Haus aufgeführt. Der bis weit in den Bürgerkrieg sich erstreckende Erfolg war so groß, dass bereits im Juli 1936 die Verfilmung des Werkes in den Filmstudios von Aranjuez auf Hochtouren lief.55 Das Stück handelt von einer jungen Studentin Natacha, die nach Abschluss ihres Studiums an einer fortschrittlichen Bildungsanstalt, die kaum verhüllt nach Vorbild des Freien Bildungsinstituts modelliert war, mit den erschreckenden Zuständen eines von „Blauen Damen“ geführten Reformatoriums für straffällige Mädchen konfrontiert wird. Natacha rebelliert gegen das veraltete Regime, bricht mit den Mädchen aus der gefängnisartigen Einrichtung aus und gründet mit ihnen eine Reformkolonie auf dem Land, in der Lehrerin und Schülerinnen eine neue Gemeinschaft bilden. 53
54 55
Luis G. de Linares, Los martiros de los niños mendigos en Madrid, Crónica, 20.1.1935. Ähnlich auch: E.A., Las dos Primaveras de los niños, Crónica, Sondernummer Frühling 1935; Elena Fortún, La Primavera de los niños, Crónica, Sondernummer Frühling 1935. La mortalidad infantil en Cataluña. Anualmente mueren 17 200 niños, El Sol, 2.1.1936; G. Trillas Blasquez, Cinco Centimos para la salud de los niños, Crónica, 3.2.1936. Victoria: Nuestra Natacha, El Sol, 10.4.1936; ¡Silencio! . . . ¡Se rueda! La Voz, 18.7.1936. Siehe weiterhin die Besprechung: Rafael Suárez Solis, Nuestra Natacha, Crónica, 16.2.1936; Elena Fortún, La Casa-Escuela de los Arcos, Reformatorio de espíritu liberal, generoso y moderno, creado para muchachas delincuentes en Chamartín de la Rosa y que inspiró a Alejandro Casona su admirable comedia „Nuestra Natacha“, Crónica, 22.3.1936. Zur Rezeption in der linksorientierten Lehrerschaft: Herminio Almendros, Contornos: Viendo „Nuestra Natacha“, Escuelas de España 27, Marzo 1936.
3. Kinderschutz und Kindheitsreform in der Medienöffentlichkeit
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Angesichts der bedrückenden Realität fanden die hohen, durch das neue Kindheitsverständnis geprägten Reformhoffnungen nur mehr in der fiktionalen Welt des Theaters uneingeschränkte Verwirklichung, bis der Beginn des Bürgerkrieges eine kurze, aber äußerst intensive Phase von Kinderreform auf republikanischer Seite einleitete. Es darf allerdings nicht der Eindruck erweckt werden, als lasse sich in der illustrierten Presse ein klar umrissenes republikanisches Programm von Kinderreform identifizieren. Jenseits einiger geteilter Grundüberzeugungen existierten im Einzelnen doch auch wichtige konzeptionelle Differenzen. Während sich Reporterinnen wie Elena Fortún etwa dezidiert von sozialutopischen Entwürfen abgrenzten und den Akzent eher auf Verbesserungen der bürgerlichen Familie legten, trat der Madrider Lehrervertreter Luis Huerta für die Errichtung von wahren „Kinderrepubliken“ als „innere Kolonien“ und freien Produktionsgemeinschaften fernab der urbanen Lebenswelt ein.56 In der republiknahen Massenpresse war letztere Position allerdings deutlich weniger vertreten als in linksgerichteten Lehrerzeitschriften. In den Illustrierten lässt sich demgegenüber eher ein fließender Übergang zu einer zweiten Hauptströmung von Kinderreformdarstellungen in den republikanischen Jahren erkennen, die sowohl in der gemäßigten republikanischen und konservativen Presse von Estampa, El Mundo Gráfico und Blanco y Negro als auch in den kirchennahen Zeitschriften wie Ellas und Esto dominierte. Zunächst muss noch einmal festgehalten werden, dass auch in diesem politisch-kulturellen Spektrum eine Erneuerung der existierenden Kindereinrichtungen eine politische Grundforderung darstellte. Stellvertretend für andere Stimmen meinte beispielsweise die konservative Tageszeitung Ahora, deren Distanz zum republikanischen Gesellschaftsreformprojekt sich schon darin zeigte, dass sie eine feste Spalte mit Informationen zu kirchlichen Veranstaltungen führte, auf einem Titelbild Anfang 1932, dass nach dem Abdanken Alfons XIII. „seiner Majestät dem Kind“ die neue Führung Spaniens zukomme: „Die vorrangige Sorge der Republik, die Spanien verwandeln und vergrößern möchte, muss das Kind, seine Erziehung und Gesundheit sein.“57 Auch in der Kritik der alten Asyle und Kinderheime sowie in der begeisterten Beschreibung neuer Modelleinrichtungen unterschieden sich die republikskeptischen Medien kaum von der linksliberalen Presse. Eine vom religiösen Orden der Misioneras Franciscanas geleitete Kinderkrippe erzog nach einem Bericht in der katholischen Frauenzeitschrift Ellas die Kleinkinder nicht nur nach den „modernsten Erziehungsmethoden“ und war nach den neusten hygienischen Erkenntnissen eingerichtet, sondern strahlte 56
57
Elena Fortún, La Casa-Escuela de los Arcos, Crónica, 22.3.1936; Elena Fortún, Nochebuena en „La Casa del Niño“, Crónica, Sondernummer Neujahr 1936; Luis Huerta, Sobre el grave problema de los orfanatos, BdAMM 7, 1.4.1933, S. 5–8. Su majestad el niño, Ahora, 31.1.1932; Primer aniversario de la segunda República Española, Crónica, 10.4.1932.
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II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit
auch mit bunten, von den Kindern selbst dekorierten Wänden eine fröhliche, einladende Atmosphäre aus. Tatsächlich beobachtete die Journalistin, wie die hundert betreuten Kinder „fröhlich durch den Garten und die Gänge der Einrichtung liefen, den Magen gut gefüllt [. . . ], ungezogen, wie alle Kinder wenn sie von Zufriedenheit und Liebkosungen umgeben werden.“58 Auch die katholische Propagandazeitschrift Los Hijos del Pueblo präsentierte im November 1931 ein von Kapuzinern geleitetes Reformatorium als moderne Modelleinrichtung, welche den minderjährigen Bewohnern ein „abwechslungsreiches Leben“, viele Anreize und „ein Regime größtmöglicher Freiheit“ biete.59 Der Schwerpunkt von Kinderreform lag sowohl in der gemäßigten als auch in der katholischen Presse jedoch weniger auf der Errichtung neuer demokratisch-solidarischer Kindergemeinschaften, sondern in der Weiterentwicklung regenerationistischer Positionen auf der Ausbildung kräftiger, willenstarker Persönlichkeiten, die im Kampf des Lebens bestehen können. Diese Position lässt sich schon in Äußerungen der Leitfigur der gemäßigten radikalrepublikanischen Partei, Alejandro Lerroux, erkennen, der im Juli 1931 in Crónica den Schwerpunkt seiner kinderreformerischen Vorstellungen auf die Weiterentwicklung von Pädiatrie und Hygiene legte, um auf diese Weise eine „Degeneration der Rasse“ zu verhindern.60 Diese Sichtweise wird in einem Bericht über die nationale Generalversammlung für Kinderpflege in Madrid im November 1932 weiter ausformuliert. Die ärztliche Tätigkeit sollte über den engeren medizinisch-hygienischen Bereich hinaus auch auf die Psyche des Kindes ausgeweitet und die Ärzte zu Seelenkundlern ausgebildet werden, die Begabungen feststellen und Berufsorientierung geben können.61 Doch auch in allgemeinen Reportagen findet sich dieses Verständnis von Kindheitsreform als individuelle Ertüchtigung von Kindern. Claudio Ferrán meinte etwa in El Mundo Gráfico im Juni 1934: „Der tägliche und pausenlose Lebenskampf ist sehr hart, und es ist notwendig die Kinder, die Heranwachsenden vorzubereiten, damit sie ihn mit Gesundheit und Energie aufnehmen können [. . . ] mit dem Ziel, dass die Rassen und Völker nicht degenerieren.“62 Das Konzept von Kinderreform als individuelle Ertüchtigung wirkte weit 58 59
60
61 62
María de Madariaga, Una gran obra social: Las guarderías de párvulos de las misioneras franciscanas, Ellas, 26.6.1932. Ähnlich: Victoria Maura, Caridad, Ellas, 27.11.1932. Una Institución Religiosa Insustituible en España, Los Hijos del Pueblo, 26.11.1931. Vgl. auch die wortgewaltige Anklage gegen die tradionellen Kinderheime: Paquita Montilla, Estampas infantiles: La Sala de los niños, Ellas, 30.9.1934. Don Alejandro Lerroux nos expone su eventual programa de Gobierno, Crónica, 29.7.1931. Ähnlich: Doctor Juan Paulis, La semana médica: Higiene Pública en Cataluña: La Escuela Ambulante de Puericultura, El Mundo Gráfico, 2.11.1932. Doctor P.P., Pro Infancia. Asamblea Nacional de Puericultura, El Mundo Gráfico, 23.11.1932. Claudio Ferrán, Los niños y las palomas de la Plaza de Cataluña, El Mundo Gráfico, 13.6.1934.
3. Kinderschutz und Kindheitsreform in der Medienöffentlichkeit
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in die katholische Öffentlichkeit hinein. Selbst die katholischen Zeitschriften debattierten Fragen von Kinderreform nach 1931 weitgehend unabhängig von religiösen und moralischen Fragen.63 Einen spezifischen katholischen Akzent erhielten die Debatten jedoch hinsichtlich des Schutzes der Kinderpsyche vor dem politischen Zugriff der Republikaner als wichtigem Thema der kirchennahen Presse. Es war dieser neue, erst in den 1920er Jahren entdeckte Bereich von Kindheitsreform, in dem die politisch-kulturellen Gegensätze am deutlichsten zum Vorschein traten. Seit 1931 befürchteten katholische Kreise eine Beeinträchtigung und Deformation der kindlichen Psyche durch die unmittelbare Konfrontation mit sozialen Unruhen, politischen Demonstrationen und Streiks sowie durch die politische Propaganda der republikanischen und linken Kräfte. Schon im Mai 1931 kritisierte die Zeitschrift Pro Infancia beispielsweise die Verteilung kommunistischer Broschüren an Kinder als Verseuchung der kindlichen Imagination.64 Die Republik erschien in solchen Repräsentationen einerseits nicht in der Lage, Kinder wirksam zu schützen, andererseits wurde sie aber auch selbst als Gefahr für Kinder dargestellt, da sie den kindlichen Geist verwirre und schädliche Emotionen freisetze. Die Republik versagte nicht nur, wie dies linke Stimmen kritisierten, an der Aufgabe einer Reform von Kindheit, sie war selbst die Quelle des Übels. Die Darstellung von Kindern als Leidtragende der politischen Verwerfungen der Republik wurde insbesondere nach den Oktoberaufständen von 1934 zu einem verbreiteten Topos der katholischen Presse, an den sich neue Forderungen nach einer entschiedenen Intervention gegen die politische Indoktrination von Kindern anschlossen: „Alle Mittel der Repression und Überwachung, die [nach den Aufständen, T.K.]unternommen werden, werden fruchtlos bleiben, wenn nicht endgültig das Entfachen von Hass in den Kinderherzen, diese abscheuliche und skandalöse Korruption des kindlichen Geistes unterbunden wird.“65 Eine Revolutionsprophylaxe, das war die Ansicht einer steigenden Zahl katholischer Kommentatoren, konnte nur dann dauerhaft erfolgreich sein, wenn der republikanische Zugriff auf Kinder in den Schulen, in der Öffentlichkeit und in Kinderheimen unterbunden würde. Effektiver Kinderschutz bekam in dieser Hinsicht ähnlich wie auf der politischen Linken unwillkürlich eine grundsätzliche politische Dimension. Wahrhafte Fortschritte im Kinderschutz waren erst von einem grundlegenden politischen Regimewechsel zu erwarten. 63
64 65
Ángel Puga, Los bebés bajo el cristal. La casa de las vitaminas para los niños de pecho, Esto, 26.7.1934. Weiterhin: Oskar, Descanso de Madres, Esto, 8.8.1935; Ángel Puga, Los bebés bajo el cristal: La casa de las vitaminas para los niños de pecho (Doppelseite), Esto, 26.7.1934; KAY, La Vida de nuestros hijos: Puericultura, Ciencia Moderna, Esto, 25.10.1934; La vida de nuestros hijos: ¡Guerra al Polvo! Esto, 13.12.1934; Algo sobre alimentación, Esto, 27.12.1934. Una gran desgracia en Madrid, Pro Infancia 4, Juni 1931. Leitartikel: La corrupción de la infancia, Ellas, 11.11.1934; Titelbild, Esto, 8.11.1934; Episodios dramáticos: La muerte del niño seminarista, ebd.
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II. Kindheit in der urbanen Öffentlichkeit
Wie die links-republikanische stellte auch die christlich-politische Aufladung der Kindheitsdebatten nur einen herausgehobenen Pol der medialen Öffentlichkeit dar, ohne dass jedoch von einer polarisierten, dichotomischen Struktur gesprochen werden könnte. Eher kennzeichneten fließende Übergange das Bild, wobei eine zentristische Debattenposition die meiste Verbreitung fand. Darüber hinaus muss auch auf grundlegende Gemeinsamkeiten religiös-katholischer und republikanischer Vorstellungen hingewiesen werden. So plädierten Vertreter beider Seiten am Ende der Republik für eine möglichst weitgehende Separierung von Kindern von der Tagespolitik und der urbanen Öffentlichkeit. Eine neue Auffassung von Kindheit als Sphäre gesellschaftlicher Versöhnung und Harmonie jenseits der politischen Tageskämpfe verband die politischen Lager. Die Feiern des Kindes am 6. Januar, so behauptete El Mundo Gráfico Anfang 1932, „wecken die besten Gefühle im Menschen, vor denen alle politischen Ideale, wie extremistisch sie auch seien“, zurücktreten müssten. Vor der Kindheit, so deklarierte der Autor José Barberán, habe alle Politik zu schweigen.66 Die republikanische öffentliche Meinung knüpfte wie die katholische nach 1931 an diese Argumentationsfiguren an und erkannte in der Verstrickung von Kindern in politische Auseinandersetzungen eine zunehmende Gefahr. Ein Leitartikel in El Sol warnte im Frühjahr 1936 vor einer Politisierung der Schulen und kritisierte, dass in Spanien immer noch ein Menschentypus ausgebildet würde, der „zu nichts anderem tauge, als sich in politischen Kämpfen zu verwickeln“. Auch Elena Fortún zeigte vor Beginn des Bürgerkrieges eine deutliche Aversion gegen eine parteipolitische Usurpation von Fragen der Kinderreform und kritisierte die Plakatierung von Wahlpostern vor einem Kinderheim.67 Drei Tendenzen kennzeichneten zusammenfassend den Aufstieg von Kindheitsreform zu einem wichtigen Thema öffentlicher Debatten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Erstens existierte ein enges Wechselverhältnis von Anstößen aus dem Ausland, die insbesondere in Form von Reportagen über neue Modelleinrichtungen Eingang in die medialen Debatten Spaniens fanden. Zweitens erweiterten sich die Debatten um Kindheitsreform von zunächst dominierenden hygienischen und sicherheitspolitischen Fragen auch auf Fragen des Schutzes und der Förderung der Kinderpsyche. Damit einher ging drittens, eine Ausdehnung der Reformdiskussionen über Randgruppen von Kindern hin auch auf Mittelschichtenkinder. Diese Entwicklungen führten zu einer für die Vorbürgerkriegszeit charak66
67
José L. Barberán, La fiesta de la Reyes Magos y la del Arbol de Navidad. Respetemos la mas santa alegría de los niños, El Mundo Gráfico, 5.1.1932. Zum Motiv der, nun immer weniger christlich-karitativ gefassten Klassenversöhnung in den Dreikönigsfeiern: Eusebio Blasco, Cuento: El Regalo de los Reyes, Blanco y Negro, 12.1.1901; Curro Vargas, Cuento: Los Reyes de este año, Blanco y Negro, 10.1.1926; José Andrés Vazquez, Sevilla y los niños. De cómo se hizo realidad una bella ilusión, Blanco y Negro, 8.1.1933. La Escuela en la calle, El Sol, 21.3.1936; Elena Fortún, Nochebuena en „La Casa del Niño“, Crónica, Sondernummer Neujahr 1936.
3. Kinderschutz und Kindheitsreform in der Medienöffentlichkeit
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teristisch erscheinenden strukturellen Situation, in der deutlich gestiegene Anforderungen an Gesellschaftsreform und neuen, durch die illustrierte Presse verbreiteten Visionen idealer Kinderräume im In- und Ausland mit deutlichen Reformhindernissen kollidierten. Die Lage einer Mehrheit der durch Zuwanderung in ihrer Zahl rasch ansteigenden städtischen Kinder verbesserte sich kaum, zumindest nicht in dem Tempo, dass die medialen Wortführer als notwendig erachteten. Angesichts der neuen Erwartungen an die Pflege moderner Kindheit erschienen einem großen Teil der öffentlichen Meinung die existierenden Verhältnisse als untragbar. Der Kontrast zwischen neuen Möglichkeiten und den weiter bestehenden Problemen steigerte den in der medialen Öffentlichkeit formulierten politischen Reformdruck in erheblichem Maße. Nach Gründung der Zweiten Republik lässt sich vor diesem Hintergrund eine politische Aufladung der öffentlichen Kindheitsdebatten erkennen. Auf der einen Seite entwarfen Teile der links-republikanischen Öffentlichkeit Kindheit als Motor einer republikanischen Transformation der Gesellschaft. Auf der anderen Seite sahen katholische Meinungsführer im politischen System der Republik zunehmend das größte Hindernis wahrhafter Kinderreform. Allerdings war die mediale Reichweite beider Ansätze deutlich beschränkt. Den größten medialen Einfluss besaß eine zentristische Position, die Kinderreform im Kern als möglichst umfassende Vorbereitung der Kinder für den Kampf des Lebens, als Herausbildung zupackender Staatsbürger definierte. Jenseits dieser grundlegenden Unterschiede existierten zudem viele Gemeinsamkeiten zwischen den politischen Flügeln. Insgesamt war der Wandel der öffentlichen Kindheitsreformdebatten paradox. Gerade die Durchsetzung neuer Bilder apolitischer, unbeschwerter Kindheit erhöhte den politischen Reformdruck und förderte Rufe nach einem verstärkten Eingreifen in Kindheit. Kinder, so schien es vielen Kommentatoren Mitte der 1930er Jahre, bedürften einschneidender politischer Maßnahmen, um so frei und unbeschwert – auch von Politik – aufwachsen zu können, wie es die neuen Kindheitsmodelle vorsahen.
III. Aushandlungen
III. Aushandlungen
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Bisher ist die Herausbildung eines neuen Projektes katholischer Kindheitsund Gesellschaftsreform sowie die Entstehung einer neuen medialen Kinderkultur mit deutlichen, wenn auch widersprüchlichen politischen Obertönen verfolgt worden. Offen geblieben ist bisher die Frage nach der Reichweite katholischer Gesellschaftsreform, ihrer Wirkmacht und Dynamik, aber auch ihrer Grenzen und Widersprüche. Weiter gefasst, geht es um die Frage nach den Interaktionen der katholischen Reformprogramme mit den Interessen und Wünschen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, insbesondere Kinderexperten in Politik und Kindereinrichtungen, Lehrern, Eltern und Kindern. Diese Frage bildet den Fokus der folgenden beiden Teile dieser Arbeit. Sie verfolgen das Aufeinandertreffen von Gesellschaftsreformprojekten und urbaner Gesellschaft zwischen dem Ende der 1920er Jahre und dem Beginn des Bürgerkrieges und fragen nach den politischen Folgen dieses Zusammentreffens. Trugen die Reformprojekte zu einer Polarisierung zweier antagonistischer gesellschaftlicher Blöcke und damit mittelbar zur Konfrontation des Bürgerkrieges bei? Oder aber gewannen politikferne Interessen und Ziele in den Aushandlungen um die gesellschaftliche Gestaltung von Kindheit die Oberhand? Und: Wie wirkten die Konfrontationen mit anderen Interessen und Wünschen auf die Ziele und die Strategien katholischer Gesellschaftsreform zurück? Es gilt, das sich wandelnde Verhältnis von Politik, urbaner Öffentlichkeit und neuem Expertentum in den Blick zu nehmen. In den Jahren der Zweiten Republik, welche das Zentrum der folgenden Untersuchungen bilden, spitzten sich die Auseinandersetzungen um Kindheits- und Gesellschaftsreform zu. Die öffentlichen Kindheitsdebatten drängten auf eine umfassende Neugestaltung von Kindheit, während die Demokratiegründung in sehr grundsätzlicher Weise die Frage nach der Neugestaltung des Verhältnisses von Individuum und Staat stellte. Die energischen politischen Vorstöße der Kirche wie republikanischer Kräfte in Richtung einer umfassenden Gesellschaftsreform trafen auf neue Erwartungen, aber auch Befürchtungen von Expertengruppen, Eltern und Kindern. Anhand der Untersuchung von vier Handlungsfeldern werden Antworten auf diese Fragen gesucht. Diese Felder sind die Lokalpolitik und die städtischen Kinderinstitutionen, die Familie, der neue publizistische Markt der Kinderzeitschriften, sowie schließlich die katholischen Schulen, die aufgrund ihrer besonderen Bedeutung jedoch in einem eigenen Teil behandelt werden. In diesen Feldern trafen die katholischen Reformer jeweils auf unterschiedliche Personengruppen und deren Interessen: Bildungs- und Kinderexperten – lokale Bildungspolitiker, Lehrer, Mediziner und Sozialpädagogen –, Eltern, Verleger, die kindliche Leserschaft von Kinderzeitschriften sowie die Schüler katholischer Schulen. Diese Gruppen sahen sich mit den katholischen – und den unterschiedlichen republikanischen – Gesellschaftsreformprojekten konfrontiert, nahmen einzelne Reformkonzepte auf, ignorierten andere und
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III. Aushandlungen
wirkten mit ihren Forderungen und Interessen umgekehrt auf die Reformbewegungen zurück.
1. Kinderexperten zwischen Politik, Kindheitsreform und Profession Die neue öffentliche Bedeutung von Kindheit, der Ausbau des öffentlichen Schulwesens und die Neugründungen medizinischer, sozialer und rechtlicher Kindereinrichtung führten zu einer raschen Zunahme von Kinderexperten, welche die Bildungspolitik auf lokaler Ebene steuerten und die neuen Kindereinrichtungen leiteten. Dieses Kapitel untersucht die Einbindung unterschiedlicher Gruppen von städtischen Kinderexperten und Lehrern in die bildungspolitischen Kämpfe der Zweiten Republik. Es untersucht die Bedeutung der Kulturkämpfe zwischen Katholiken und republikanischen Gruppen in den Expertenkreisen. Befeuerte das neue medizinische und kinderpsychologische Expertenwissen die bildungspolitischen Kämpfe oder bildete sich eine Kinderexpertenkultur aus, die quer zu den politischen Lagergrenzen stand? In welchem Umfang gelang es der Kirche beziehungsweise den Reformern der FAE, die städtischen Expertengruppen für sich zu gewinnen, zu organisieren und zu aktiven Streitern einer apostolischen Erziehung zu formen? Drei wesentliche Expertengruppen stehen im Mittelpunkt der Untersuchung. Neben den für das öffentliche Erziehungswesen verantwortlichen Lokalpolitikern des städtischen Ausschusses für Primarerziehung (Junta Municipal de Primera Enseñanza) werden die städtischen Lehrer sowie die sozialpolitischen Kinderexperten des Jugendgerichts und weiterer städtischer Kindereinrichtungen in den Blick genommen.1 Die einzelnen Unterkapitel haben dabei unterschiedliche Schwerpunkte. In der Betrachtung der lokalpolitischen Akteure, die in Madrid in ihrer Mehrzahl den linksrepublikanischen Parteien und der Sozialistischen Partei angehörten, steht zunächst die Frage nach der Bedeutung der antiklerikalen Bildungspolitik in der lokalpolitischen Praxis im Mittelpunkt. Die Passagen dienen dazu, den politischen Spielraum der katholischen Reformer und der konfessionellen Privatschulen in den frühen 1930er Jahren zu bestimmen. Sie umreißen die Herausforderungen, vor die sich die katholischen Kindheitsreformer gestellt sahen. Im Anschluss wird die Bildungspolitik der katholischen Experten der FAE unter der Republik als Suche nach geeigneten Strategien der Antwort auf 1
Es muss betont werden, dass hier keine Gesamtgeschichte der einzelnen Gruppen und Institutionen vorgelegt wird. Gerade eine Geschichte der Lehrerschaft verspräche zwar wichtige Einblicke in soziale und politische Dynamiken der 1930er Jahre, würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Vgl. jedoch die Hinweise in: Pozo Andrés, Educadores; Leonardo Borque, El Magisterio Primario en Asturias (1923–1937). Sociedad y Educación, Oviedo 1991; Raimon Portell, Els mestres de la república, Badalona 2006. Hagiographisch verklärend: María Antonia Iglesias, Maestros de la República. Los Otros Santos, los Otros Mártires, Madrid 2006.
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III. Aushandlungen
die neue politische Lage erörtert. Schließlich geht es um die Reichweite der politischen Programme in bestimmten Expertengruppen. Der Abschnitt zur Lehrerschaft versucht vor allem, den Grad der Politisierung der Schulen zu bestimmen und die Stärke unterschiedlicher politischer Optionen innerhalb der Lehrerschaft zu identifizieren. Die Passagen zu den medizinischen und sozialpolitischen Kinderfachleuten schließlich fragen besonders danach, inwieweit sich ein spezifisches professionelles Selbstverständnis über die politischen Regimewechsel hinweg herausbildete. Leider gibt es so gut wie keine Literatur zur Geschichte der Kommunalpolitik Madrids in den 1920er und 1930er Jahren. Dies hat wesentlich damit zu tun, dass die Madrider Lokalpolitik in vielerlei Hinsicht kaum von der in Madrid zentrierten gesamtstaatlichen Politik zu trennen ist. Die Verwaltung der Stadt Madrid wurde stets auch als nationale Aufgabe begriffen. Die nationalen Regierungen nahmen auf die städtische Bildungspolitik der Hauptstadt deshalb weitaus mehr Einfluss als auf diejenige anderer Städte. So leitete der nationale Generaldirektor für das Primarschulwesen im Juni 1933 die wichtige städtische Kommission, die sich mit der Schließung der Ordensschulen in Madrid beschäftigte, und in den im April 1936 neu gegründeten Spezialrat für Kulturfragen von Madrid (Consejo especial de cultura de Madrid) entsandten sowohl die Kommune als auch das Bildungsministerium Mitglieder.2 Die enge Verbindung von nationaler und Lokalpolitik hat dazu geführt, dass sich Historiker bislang kaum gesondert der Stadtpolitik unter der Republik zugewandt haben. Doch zeigen schon die intensiven Konflikte zwischen Kommune und Staat in vielen Bildungsfragen, dass die lokale Handlungsebene nicht einfach als Anhängsel der nationalen Politik verstanden werden darf.3 Es ist notwendig, die städtische Bildungspolitik und ihre Akteure als eigenständigen Untersuchungsgegenstand zu fassen. Die unbefriedigende Literaturlage erschwert eine Analyse, da die allgemeine Politik der republikanischen Stadtregierung noch nicht einmal in ihren Grundzügen bekannt ist und selbst biographische Informationen zu den handelnden Politikern und Mitgliedern des Stadtparlaments äußerst mühsam eruiert werden müssen. Doch stellen die überlieferten Stadtratsprotokolle und die Unterlagen des städtischen Bildungsausschusses genügend Informationen zur Verfügung, um Einstellungen und Politik der lokalen Akteure herauszustellen.
2 3
La sustitución de las escuelas servidas por religiosos en Madrid, El Sol, 7.6.1933; Notas del Mes, in: RdP 173, Mai 1936. Siehe zur vorrepublikanischen Zeit die vielen Hinweise in: Pozo Andrés, Urbanismo.
1. Kinderexperten zwischen Politik, Kindheitsreform und Profession
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1.1 Die „Republikanisierung der Republik“: Städtische Bildungsexperten und die Frage antiklerikaler Schulreform4 Die Ausrufung der Zweiten Spanischen Republik am 14. April 1931 stellte die katholische Kindheits- und Gesellschaftsreform vor eine gänzlich neue Herausforderung. Sie musste Strategien entwickeln, um innerhalb einer politischen Ordnung, welche die kirchlichen Privilegien abschaffen wollte, ihre Ziele zu verwirklichen. Die Bildungspolitik der frühen 1930er Jahre war gekennzeichnet durch einen heftigen Schlagabtausch zwischen den links-republikanischen Kräften, die zunächst aus der Regierung heraus die Säkularisation des Schulwesens betrieben und diese in der Verfassung festschrieben, und der katholischen Kirche, die ihre herausragende Stellung im Bildungssystem zu verteidigen suchte. Doch welche Folgen hatten die Auseinandersetzungen für die katholische Kinderreform vor Ort? Die Eckpunkte der bildungspolitischen Konflikte sind inzwischen gut bekannt und bilden Elemente einer äußerst einflussreichen Interpretation der Zweiten Republik, in der diese als umfassendes, ambitioniertes, aber letztlich ohnmächtiges Modernisierungsregime beschrieben wird.5 Nach dieser Lesart entwarf die erste links-republikanische Regierung ein umfassendes Erneuerungsprogramm, dessen Umsetzung jedoch von materiellen Schwierigkeiten und der starken Position traditionaler Kräfte blockiert wurde. Die Bildungsreform war ein Kernprojekt der Republik, in dem zwei Hauptimpulse der republikanischen Agenda, das Ziel einer Neugestaltung der Gesellschaft durch Bildung und die Vorstellung, dass eine Erneuerung der Gesellschaft nur durch eine Befreiung der Menschen vom Einfluss der Kirche möglich sei, zusammenwirkten. Die nur begrenzten Erfolge republikanischer Bildungsreform, in deren Rahmen zwar eine Vielzahl neuer Schulen eingerichtet und die Lehrerbezahlung verbessert wurden, die aber bis 1936 weder das Problem der Kinder ohne Schulplatz lösen, noch die katholische Bildung zurückdrängen konnte, erscheinen als paradigmatisch für das Schicksal der Republik insgesamt.6 Nachdem sich die ältere historische Forschung der 1970er Jahre 4 5
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„Republicanizar la República“: Temas Políticas: La República a los Transfugas, Heraldo de Madrid, 23.5.1931. Siehe als neue Synthesen: Casanova, República; Santos Juliá (Hrsg.), República y Guerra en España (1931–1939), Madrid 2006. Als einflussreiche Darstellungen: Manuel Tuñón de Lara, La Segunda República, Madrid 1976; Paul Preston, Coming; Ders. (Hrsg.), Revolution and War in Spain, London 1985; Helen Graham, The Spanish Republic at War: 1936– 1939, Cambridge 2002. Als Gesamtschau: Bernecker, Geschichte Spaniens, S. 119–134. Eine ausgezeichnete Analyse des republikanischen Projekts liefert: Manuel Álvarez Tardío, Anticlericalismo y Libertad de Conciencia. Política y Religión en la Segunda República Española (1931–1936), Madrid 2002, bes. S. 11–72. Zur Bildungspolitik der Republik siehe: Mariano Pérez Galán, La Enseñanza en la Segunda República Española, Madrid 1975; An-
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intensiv mit den einzelnen Reformprojekten beschäftigt hatte, haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten besonders einige lokalhistorische Arbeiten den Forschungsstand ausgebaut, indem sie die Implementierungsversuche der republikanischen Politik vor Ort beleuchtet haben. Ihr Ergebnis ist, dass selbst in republikanischen Hochburgen wie der Region Alicante, in denen die links-republikanischen und sozialistischen Kräfte bis 1936 stets über starke parlamentarische Mehrheiten verfügten, die Erfolge der Reformer begrenzt waren. Vor allem gelang es selbst in den linken Hochburgen kaum, wie erhofft den Einfluss der Kirche im Bildungswesen zurückzudrängen und die Ordensschulen durch laizistische öffentliche Schulen zu ersetzen.7 Im Gegensatz zu den bisherigen Studien geht es an dieser Stelle weniger um eine erneute Auflistung von Gründen, welche eine Umsetzung des ambitionierten Reformprogramms verhinderten, als vielmehr um eine Analyse der Politik der maßgeblichen republikanischen Akteure in Madrid mit besonderer Aufmerksamkeit auf der Rolle des Antiklerikalismus. Dazu werden zunächst die allgemeinen Debatten um Religion und Bildung im republikanischen Lager nach Ausrufung der Republik im Sommer und Herbst 1931 dargestellt. Vor diesem Hintergrund wird daraufhin in detaillierten Analysen die städtische Bildungspolitik in zwei Zeitabschnitten untersucht, in denen jeweils die Frage des Vorgehens gegen die Kirche eine besondere Virulenz entfaltete. Die erste Phase umfasst den Zeitraum von Frühjahr bis Oktober 1933 und wurde durch die Auseinandersetzungen um das „Gesetz über religiöse Konfessionen und Orden“ (Ley de Confesiones y Congregaciones Religiosas) dominiert, das die Verfassungsforderungen nach einer Beschränkung der Ordensmacht im Bildungsbereich umsetzte. Nach heftigen öffentlichen Debatten wurde es am 2. Juni 1936 verabschiedet. Über seine Implementierung stritten die Parteien bis in den Herbst hinein intensiv.8 Die zweite Detailuntersuchung widmete
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tonio Molero Pintado, La Reforma Educativa en la Segunda República Española, Madrid 1977; Mercedes Samaniego Boneu, La Política Educativa de la Segunda República durante el Bienio Azañista, Madrid 1977; Sánchez Rodríguez, Batalla. Als Quellenbände: Manuel de Puelles Benítez, Historia de la Educación en España. Tomo III: De la Restauración a la Segunda República. Textos y Documentos, Madrid 1982; Antonio Molero Pintado, La Educación durante la Segunda República y la Guerra Civil (1931–1939), Madrid 1991. Die beste Lokalstudie ist: Mónica Moreno Seco, Conflicto Educativo y Secularización en Alicante durante la Segunda República (1931–1936), Alicante 1995. Siehe weiterhin: Juan Benvenuty Morales, Educación y Política Educativa en Cádiz durante la Segunda República (1931–1936), Cádiz 1987; José Manuel Cid Fernández, Iglesia, Sociedad y Educación en el Contexto de la Parroquia Rural Gallega durante el Periodo Republicano, in: Iglesia y Educación en España (Bd. 1), Palma de Mallorca 1986, S. 90–104; Joaquín Lara Larrazabal, Enseñanza Religiosa y Municipio, Sevilla: 1931–33, ebd., S. 195–204; María del Mar García Salmerón, Educación y República en Cuenca, 1931–1939, Cuenca 2003; Juan Martínez Leal, Los Socialistas en Acción. La II. República en Elche (1931–1936), Alicante 2005, S. 52–65. Siehe: Carmen Colmenar Orzaes/Juan Antonio Lorenzo Vicente, Debate Parlamentario para la Aprobación de la Ley de Confesiones y Congregaciones Religiosas de 1933. La
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sich der Zeit zwischen dem Sieg der Volksfrontkoalition in den Februarwahlen 1936 bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges im Juli 1936. Während die Frage der Säkularisierung des Bildungswesens in der Regierungszeit unterschiedlicher rechtsrepublikanischer Regierungen von November 1933 bis Februar 1936 in den Hintergrund getreten war, erlangte sie in dieser Phase neue Bedeutung. 1.1.1 Debatten am Beginn der Republik Im ersten Jahr nach Gründung der Republik am 14. April 1931 wurden die grundlegenden Eckpunkte republikanischer Bildungspolitik in der Verfassung kodifiziert und erste praktische antiklerikale Maßnahmen diskutiert und beschlossen. Eine Reihe von Verordnungen charakterisierte die Entwicklung in dieser frühen Phase, die sich als laizistische Revolution begreifen lässt. Am 6. Mai 1931 schuf die Übergangsregierung den obligatorischen Religionsunterricht ab, am 8. Oktober verbot die neue Regierung allen Personen ohne staatliche Lehramtsausbildung – und damit sehr vielen Ordensmitgliedern – das Unterrichten, am 12. Januar 1932 verbannte sie religiöse Symbole aus den öffentlichen Schulen und am 17. März verbot sie schließlich den Religionsunterricht an staatlichen Schulen. Besondere Bedeutung erlangten weiterhin der Artikel 26 der am 9. Dezember 1931 verabschiedeten Verfassung, welcher eine Auflösung des Jesuitenordens sowie ein Verbot aller religiösen Orden, im Bildungswesen zu arbeiten, dekretierte und der Artikel 43, welcher die Laizität der öffentlichen Schulen festschrieb. Tatsächlich löste die Regierung auf der Grundlage der Verfassung am 23. Januar den Jesuitenorden auf und verstaatlichte seine Besitztümer. Innerhalb weniger Monate verlor die Kirche nicht nur deutlich an Einfluss im öffentlichen Schulwesen, sondern, für die Katholiken fast noch schlimmer, es drohten auch einschneidende Eingriffe in ihr bis zum Frühjahr 1932 kaum angetastetes eigenes konfessionelles Bildungswesen.9 Secularización en la Enseñanza, in: Iglesia y Educación en España (Bd. 1), Palma de Mallorca 1986, S. 53–66. 9 Einen guten Überblick über die einzelnen Maßnahmen gibt: Moreno Seco, Conflicto, S. 34–39. Siehe weiterhin: José Ignacio Cruz Orozco, Laicismo, Iglesia y Educación en la Constitución Española de 1931, in: Iglesia y Educación en España (Bd. 1), Palma de Mallorca 1986, S. 105–15. Zur Religionspolitik der Republik und zur katholischen Reaktion darauf vgl. allgemein die ausgezeichnete Fallstudie: Mary Vincent, Catholicism in the Second Spanish Republic. Religion and Politics in Salamanca 1930–1936, New York 1996. Zu den ideologischen Konflikten und religionspolitischen Maßnahmen siehe weiterhin und aus Kirchensicht: Vicente Cárcel Ortí, Historia de la Iglesia en la España contemporánea (Síglos XIX y XX), Madrid 2002, S. 145–188; Ders., La Persecución Religiosa en España durante la Segunda República, 1931–1939, Madrid 1990; Francisco Martí Gilabert, Política Religiosa de la Segunda República española, Pamplona 1998; Gonzalo Redondo, Historia de la Iglesia en España, Bd. I: La República, Madrid 1993.
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Die republikanische Bildungspolitik war jedoch weniger einheitlich, als es diese Maßnahmen und populäre Interpretationen nahelegen. Welchen widerstreitenden Anforderungen sich republikanische Erzieher in der Praxis – und relativ losgelöst vom politischen Kontext – ausgesetzt sahen, zeigt paradigmatisch das Protokoll einer Versammlung des sozialistischen Lehrerverbandes in Madrid Anfang April 1931, also noch vor Gründung der Republik. Der Madrider Volksschullehrer Fermín Corredor skizzierte den Anwesenden ein für die republikanischen Reformer symptomatisches pädagogisches Dilemma. In der Nachbarschaft seiner Schule hatte ein Streik stattgefunden, der auf das lebhafte Interesse seiner Schüler gestoßen war. Diese spielten vor Schulbeginn Streikende und Streikbrecher. Corredor sah sich nun vor die Frage gestellt, ob er aus pädagogischen Gründen den Streik und das Kinderspiel im Unterricht zu ignorieren habe, oder aber diesen mit den Kindern besprechen müsse. Er kam schließlich zu dem, anscheinend von der Versammlung im Nachhinein begrüßten Ergebnis, dass er auf der einen Seite den Schülern seine Meinung nicht aufdrücken durfte, er aber andererseits das Kinderinteresse aufgreifen müsse. Er beschloss deshalb, den Schülern Gelegenheit zu geben, ihre Meinung zum Streik mitzuteilen, und diese zu respektieren, ohne selbst in irgendeiner Form auf die politischen Ansichten der Schüler einzuwirken.10 Dieser Bericht verhandelt exemplarisch Grundfragen republikanischer Bildungspolitik in ihrer Suche nach der Verbindung von politischer Aufklärung und dem Respekt vor der freien Entfaltung des Kindes. Schon auf der Ebene der nationalen Politik existierten während des Jahres 1931 durchaus unterschiedliche Haltungen hinsichtlich des richtigen Umgangs mit dem katholischen Bildungswesens. Während insbesondere die vehement antiklerikalen Radikal-Sozialisten sowie die ebenfalls äußerst kirchenfeindlich eingestellten Sozialisten für eine sofortige Auflösung der religiösen Orden, die Schließung ihrer Schulen und eine Enteignung ihres Besitzes eintraten, plädierten führende Politiker der Republikanischen Allianz des ersten Regierungschefs Manuel Azaña sowie die gemäßigt-republikanische Radikale Partei trotz eindeutig antiklerikaler Ziele in der Praxis für einen moderaten Weg der Säkularisierung. Im Vorfeld der Verfassungsberatungen im September 1931 verhandelte die provisorische Regierung intensiv mit dem Vatikan, um einen Kompromiss zwischen republikanischen
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Weniger hilfreich, da recht oberflächlich und keine neuen Aspekte einführend: Alberto Rosselli, La Persecuzione dei Cattolici nella Spagna Repubblicana 1931–1939, Cieti 2008. Zur religiösen Frage im Prozess der Verfassungsgebung siehe besonders: Maria del C. de Frías García, Iglesia y Constitución. La Jerarquía Católica ante la II. República, Madrid 2000; F. de Meer Lecha-Marzo, La Cuestión Religiosa en las Cortes Constituyentes de la II. República, Pamplona 1974. Vgl. schließlich auch: Arturo Mori, Crónica de las Cortes Constituyentes de la Segunda República Española, Bd. 3: La Religión – La Familia – La Enseñanza, Madrid 1932. El Congreso de la Asociación General de Maestros. En la casa del Pueblo, Heraldo de Madrid, 4.4.1931.
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und kirchlichen Interessen in Bildungsfragen zu erreichen.11 Sie wollten an die im Dekret vom Mai 1931 vorgegebene Richtung anknüpfen. Religion sollte nicht gänzlich aus der Schule verbannt, aber die Wahlmöglichkeiten von Eltern und Lehrern verbessert werden. Die staatliche Aufsicht über das private, konfessionelle Schulwesen sollte ausgebaut, die Ordensschulen aber nicht verboten werden. Die unterschiedlichen Positionen finden sich auch in der republiknahen Presse. Neben radikalen Forderungen standen mäßigende Stimmen, die verlangten, „den Respekt vor den Überzeugungen anderer zu den höchsten Graden der Generosität und Hochherzigkeit zu führen“. In der gemäßigt-republikanischen El Sol wechselten sich im August und September Kommentare für eine scharf antiklerikale Politik mit Kommentaren, die für eine kompromissbereite Politik plädierten, ab. Die republikanische Frauenzeitschrift Mujer kritisierte zwar kirchliche Forderungen nach einer Bewahrung des Status quo, verurteilte jedoch in gleichem Maße radikale antiklerikale Positionen und mahnte „ein Maximum an Toleranz“ auf beiden Seiten an, um zu einer Kompromisslösung der Probleme zu gelangen.12 Letzten Endes gab vor allem der Druck aus den Basisgliederungen der republikanischen Parteien den Ausschlag für den Sieg der radikalen Positionen in den Verfassungsberatungen. Für die lokalen Parteifunktionäre und ihre Wählergruppen verkörperte der Antiklerikalismus die Achse eines umfassenden gesellschaftlichen Reformprogramms. Er war ein Symbol der republikanischen Revolution. An ihm Abstriche vorzunehmen, hieß für die Basisaktivisten, das ganze Projekt der Republik in Frage zu stellen.13 Die Ursachen der unterschiedlichen Haltungen sind sicherlich zunächst in verschiedenen strategischen Beurteilungen zu finden. Während die radikalen Antiklerikalen meinten, nur durch ein entschiedenes und augenblickliches Vorgehen den kirchlichen Einfluss zurückdrängen zu können, vertrauten die kompromissbereiten Kräfte auf die Anziehungskraft eines erneuerten öffentlichen Schulwesens, das dank seiner pädagogischen Überlegenheit über kurz oder lang das Privatschulwesen zur Bedeutungslosigkeit degradieren würde. Doch lassen sich über strategische Erwägungen hinaus auch konzeptionelle Differenzen erkennen. Die beiden republikanischen Meinungsgruppen zogen unterschiedliche Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen der neuen Kinder11
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Álvarez Tardío, Anticlericalismo, S. 49–72, zsf. S. 70; Cruz Orozco, Laicismo, S. 107–9. Zur radikalen Position siehe exemplarisch: El partido radical socialista de Madrid, a la opinión pública, HdM, 20.4.1931; Reforma Pedagógica, Crisol, 23.4.1931. M. Ciges Aparicio, Sobre la Escuela Única, El Sol, 22.8.1936; Martin Luis Guzman, Kommentar: Doctrina católica y doctrina republicana, El Sol, 10.9.1931; Del Momento: El problema religioso, Mujer, 17.10.1031. Siehe auch: Doctrina: Definiciones en materia de enseñanza, El Sol, 30.6.1931; Eugenio Montes, Bajo el signo del laicismo: Commemoración de Jules Ferry, El Sol, 17.7.1931. Dagegen: Como las golondrinas de Becquer, Heraldo de Madrid, 20.5.1931; Han sido detenidos algunos frailes salesianos, por suponérseles complicados en un suceso grave, Heraldo de Madrid, 25.5.1931. Ranzato, Eclipse, S. 129f.
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III. Aushandlungen
wissenschaften und den neuen öffentlichen Anforderungen an Kinderpolitik. Die bildungspolitischen Differenzen zwischen republikanischen Bildungspolitikern beruhten auf den politischen Ambivalenzen der neuen Kinderpsychologie und der urbanen Kinderkultur. Die antiklerikale Bildungspolitik hatte sich von der Jahrhundertwende bis in die 1930er Jahre deutlich radikalisiert. Einerseits waren es gerade neue Auffassungen von Bildung als das „ganze Kind“ und gerade auch seine Psyche und Emotionen umfassende Prozesse, welche der antiklerikalen Bildungspolitik in den Augen vieler Republikaner ihre Dringlichkeit gaben. Die ältere Kritik katholischer Bildung als traditionsverhaftet und als Bremse gesellschaftlichen Fortschritts erweiterte sich in den 1920er Jahren unter dem Einfluss der neuen Kinderwissenschaften immer mehr zu einer Kritik religiöser Persönlichkeitsbildung. Diese, so die neuen Vorwürfe, stünde nicht mit den Grundsätzen moderner Hygiene in Einklang und deformiere Körper und Seele der Kinder. Die neue Kritik wird gut in dem Dekret des provisorischen Generaldirektors für das Primarschulwesen und Pädagogen Rudolfo Llopis vom 22. Mai 1931 sichtbar, in dem er zwar religiöse Symbole an den Schulen erlaubte, wenn ein Elternwille bestände, jedoch die Dekorierung der Klasssenzimmerwände mit religiösen Drucken und Abbildungen als „antihygienisch“ verbat.14 Die Beschreibung der katholischen Schulen als unhygienische Orte, als schmutzig, dunkel und kalt, erhielt im Anschluss an Ramón Pérez de Ayalas berühmte Schilderung des Lebens in einem Jesuitenkolleg A.M.D.G. von 1911 in der antiklerikalen Propaganda eine immer größere Bedeutung. Eine propagandistische Reportage über den nach Kriegsbeginn im Juli 1936 von republikanischen Kräften besetzten Konvent María Inmaculada in Madrid, in dem sich ein von Nonnen geleitetes Mädcheninternat befunden hatte, stellte besonders die vermeintlich katastrophalen hygienischen Bedingungen des Internatslebens dar. Die bürgerlichen Reformerinnen, welche die Kinder nach Kriegsausbruch befreiten, hätten angesichts des erschreckenden Gestanks der Schlafsäle zunächst zurückweichen müssen. Die 95 Mädchen seien schlecht ernährt und gekleidet worden und hätten keinen angemessenen Platz zum Spielen gehabt. Erst die Kriegsrepublik ginge nun daran, sie mit „Ernähung und Hygiene zu kurieren“.15 Der Hygienediskurs verband eine „fortschrittliche“ Orientierung mit tief verankerten moralischen Überzeugungen und politischen Emotionen. Mehr noch als in hygienischen Mängeln erblickten die antiklerikalen Politiker in der Deformation der kindlichen Psyche durch eine dogmatische und auf Angst gegründete Erziehung einen Skandal. Schon 1924 hatte ein 14 15
La Enseñanza Religiosa, El Sol, 22.5.1931. Elena Fortún, El Convento incautado y las niñas que vivían al margen de la vida, Crónica, 6.9.1936. Zur Darstellungstradition siehe auch die umfangreichen Berichte über die Schulen in Spanien von Luis Bello. Etwa: Luis Bello: Visita de Escuelas: Seo de Urgel. Un maestro. 93 curas, El Sol, 28.1.1931.
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progressiver Pädagoge argumentiert, dass ein Vorgehen gegen die konfessionellen Schulen nicht zu rechtfertigen sei, wenn es lediglich um Fragen der fachlichen Ausbildung (instrucción) ginge. Da die Schulen jedoch auch einen Beitrag zur Persönlichkeitsentfaltung zu leisten hätten, müsse gegen die Ordensschulen eingeschritten werden. Eine freie Persönlichkeitsentfaltung sei nur gegen die Kirche und ihre Helfershelfer möglich.16 Um die Kinder wirksam vor jeder weltanschaulichen Einflussnahme zu schützen, so argumentierten viele republikanische Reformer, mussten sie nicht zuletzt dem kirchlichen Einfluss entzogen werden.17 Die Forderungen nach Kinderschutz förderten somit zunächst antiklerikale Positionen. Die im Rückblick recht tolerante Haltung der liberalen Partei nach der Jahrhundertwende, der es lediglich um eine Begrenzung katholischen Einflusses, nicht jedoch um eine umfassende Verbannung der Kirche aus dem Bildungswesen gegangen war, kontrastiert deutlich mit dem republikanischen Antiklerikalismus der 1930er Jahre, welche die konfessionelle Erziehung als Ganze auslöschen wollte.18 Neue Auffassungen richtiger Kinderentwicklung und Erziehung radikalisierten das antiklerikale Programm. Der radikale Bildungsantiklerikalismus war ein Kind der modernen Kinderpsychologie. Doch war der politische Einfluss des neuen Verständnisses von Kindheit keineswegs so eindimensional, wie die bisherige Darstellung nahelegt. Es trieb die antiklerikale Bildungspolitik nicht nur an und verlieh ihr Dringlichkeit, sondern bremste paradoxerweise die Politisierung von Kindheit gleichzeitig ab. Die gemäßigteren Reformer argumentierten nämlich, dass Kindheit nicht nur vor kirchlichen Einflüssen, sondern vor allen politisch-weltanschaulichen Zugriffen bewahrt werden müsse. Sie sprachen einer kategorialen Trennung von Kindheit und Politik das Wort und damit gleichzeitig einer klaren Unterscheidung der Zuständigkeitsbereiche von Kinderexperten und Politikern. Ein Aufsatz in der Revista de Pedagogía am Vorabend des Bürgerkriegs forderte beispielsweise „die freie Entwicklung des spirituellen Lebens der Kinder zu schützen. [. . . ] Wir müssen das Kind vor jeder möglichen Gewalteinwirkung auf seine Entwicklung – sei sie dogmatisch oder politisch – bewahren; wir müssen verhindern, dass es zu einem Instrument der miteinander in Streit liegenden Konfessionen und Parteien wird.“19
Während die links-republikanische Zeitschrift La Libertad im August 1934 ein Gesetz, das die Teilnahme von Kindern unter 16 Jahren an politischen 16 17 18 19
Blas Cabrera, La reforma de la segunda enseñanza, in: RdP 3 (1924), S. 180–86. Martin Luis Guzman, Kommentar: Doctrina católica y doctrina republicana, El Sol, 10.9.1931. Zum Wandel der politischen Ziele siehe: Álvarez Tardío, Anticlericalismo, S. 15–17. Notas del mes, in: RdP 174, Juni 1936. Ganz ähnlich äußerte sich auch der bekannte Anarchist Ángel Pestaña in einem Zeitungskommentar vom Mai 1936, in dem er forderte „die Kinder aus den politischen Kämpfen fernzuhalten, ihre Rechte zu respektieren, die unbestreitbar unveräußerlich sind und über den parteipolitischen Passionen stehen“, zit. nach: De acuerdo con Pestaña, Atenas 61, Mai 1936.
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Demonstrationen verbot, scharf kritisierte und meinte, dass die Demokratie die Beteiligung von Heranwachsenden fördern und diese nicht beschränken solle, sprach sich auch El Sol immer wieder gegen eine politische Vereinnahmung der Kinder und ihre Teilnahme an politischen Veranstaltungen aus. Im Oktober 1933 erklärte die Zeitung beispielsweise anlässlich von Straßenunruhen in der Hauptstadt: „Die Zeit der Schülerbataillone (batallones escolares) ist vorbei [. . . ] und das soll auch so bleiben.“20 Die deutlichste Verteidigung von Schule und Kindheit als der Tagespolitik enthobene Räume findet sich jedoch in einem Leitartikel von Ende März 1936, in dem die Zeitung die Schule vor Politisierungsversuchen von rechts und links zu schützen versuchte. Zwar habe die Schule die Aufgabe, Staatsbürger zu modellieren, doch gerade diese Aufgabe verbiete es, die Schule für engere politische Interessen zu vereinnahmen: „ Die Schule muss die Schule aller und die Schule für alle sein [. . . ] Die Politik als solche, auch wenn es sich um die weiseste und klügste handelt, stellt notwendigerweise eine Störung dar [. . . ] der Einfluss aller schädlichen äußeren Einflüsse auf die Schüler muss verhindert werden.“21 In der politischen Konsequenz förderte diese Auffassung eine Professionalisierung von Kinderexperten und Lehrern als politisch unabhängige, alleine pädagogischem und psychologischem Wissen unterworfene Fachleute und begrenzte den bildungspolitischen Zugriff auf Kinder. Zudem lenkte sie das bildungspolitische Interesse weg von der Kirche als Hauptgegner republikanischer Reform. Der klerikale Einfluss auf das Bildungswesen war zwar schädlich, doch stellte er in dieser Sicht nur eine Facette des sehr viel allgemeineren Problems der Voraussetzungen freier, autonomer Persönlichkeitsentwicklung dar. Dies macht ein Interview mit dem Sozialisten Andrés Saborit, dem einflussreichsten kommunalen Bildungspolitikers Madrids der republikanischen Jahre und Vorsitzenden des städtischen Ausschusses für Primarbildung, aus dem Jahr 1932 deutlich, in dem er zu den Leitsätzen in der Erziehung seiner Tochter Stellung nahm. Saborit erklärte, dass er diese nicht habe taufen lassen und sie – wie viele Angehörige des links-republikanischen Bürgertums Madrids – an der liberalen, laizistisch orientierten Reformschule Instituto-Escuela eingeschrieben habe. Zugleich achte er darauf, „nicht ihre Psyche (espíritu) zu deformieren und [sie, T.K.] ohne antiklerikale Vorurteile“ zu erziehen.22
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Los niños en los actos políticos, El Sol, 31.10.1933; La Juventud y la Política, La Libertad, 30.8.1934. La Escuela en la calle, El Sol, 21.3.1936. Encuestas de Crónica: ¿Cómo educa o piensa usted educar a sus hijas? Crónica, 27.3.1932.
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1.1.2 Republikanische Bildungsdebatten und kommunale Bildungspolitik im Jahr 1933 Ein Wechsel der Betrachtungsebene von den allgemeinen republikanischen Bildungsdebatten hin zur Bildungspolitik zeigt, dass neben kinderpsychologischen Erwägungen im lokalen Raum weitere Faktoren einer praktischen Implementierung der antiklerikalen Gesetze im Wege standen. Eine genauere Untersuchung der Beratungen über das „Gesetz über die religiösen Konfessionen und Kongregationen“, das am 2. Juni 1933 verabschiedet wurde, zeigt dies. Das Gesetz verfügte eine Schließung der katholischen Sekundarschulen zum 1. Oktober und der Primarschulen zum 1. Januar 1934 und setzte damit die nationale Bildungsverwaltung als auch die lokalen Schulpolitiker unter enormen Zugzwang. Die Ausarbeitung eines Gesetzes, das die Rechte der religiösen Orden endgültig bestimmte, war als ausstehender Verfassungsauftrag die wichtigste, aber auch heikelste bildungspolitische Aufgabe nach der Verabschiedung der Verfassung. Das Gesetz besaß deshalb so große Bedeutung, da es die allgemeinen Verfassungsvorschriften mit konkreten Inhalten füllen und damit den genauen Spielraum, den die Kirche im Bildungsbereich erhalten sollte, festlegen musste.23 Einen ersten Gesetzentwurf legte der Bildungsminister im Oktober 1932 den Cortes, dem nationalen Parlament, vor. In den Beratungen dieses Entwurfes im zuständigen Justizausschuss des Parlaments erlebten die Auseinandersetzungen des Herbstes 1931 zwischen einem moderateren republikanischen Flügel und radikalen Antiklerikalen eine Neuauflage.24 Es sah zunächst so aus, als wenn sich die radikalen antiklerikalen Gruppen wiederum durchsetzen könnten. Sie traten für einen sehr weitgehenden Gesetzentwurf ein, der nicht nur den religiösen Orden als Institutionen, sondern auch den einzelnen Ordensmitgliedern als Einzelpersonen jegliche Tätigkeit im Bildungs- und Erziehungswesen verbot und die Schulgebäude der religiösen Orden verstaatlichte.25 Es war vor allem eine Frustration über die geringen Fortschritte republikanischer Gesellschaftsreform im Allgemeinen und der Bildungsreform im Speziellen, die den Kontext der radikalen Forderungen vieler Ordensgegner im Frühjahr 1933 bildete. So argumentierte der bekannte Kolumnist Luis Bello schon im Dezember 1932 für eine sofortige Schließung der katholischen Schulen, da die religiösen Orden die gegenwärtige unklare Rechtslage 23 24 25
Einen allgemeinen Überblick über das Gesetzgebungsverfahren geben: Martí Gilabert, Política Religiosa, S. 129–133; Payne, Spain´s first democracy, S. 84. Erste Überblicke über die Gesetzesdebatten geben: Colmenar Orzaes/Lorenzo Vicente, Debate; Moreno Seco, Conflicto, S. 39–53. Siehe besonders: Actas de la sesión celebrada por la Comisión de Justicia, 27.4.1933, ACD, Comisión de Justicia 481/43. Weiterhin: Prosiguen las campañas de „Luz“ contra los Religiosos, Atenas 26, 15.1.1933; La enmienda del Sr. Fernández Clérigo, Atenas 27, 15.2.1933; Las Congregaciones religiosas y la enseñanza, ABC, 8.2.1933; M. Nuñez de Arenas, Hacia la sustitución, El Sol, 30.6.1933.
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III. Aushandlungen
„zu ihren Gunsten ausnutzen, wie sie nur können“ und ein halbes Jahr später beschrieb El Sol die Stimmungslage vieler Republikaner angesichts der fortgesetzten Vitalität der katholischen Bewegung als „überdrüssig“ (harto). Kurz zuvor hatte die republiknahe Revista de Pedagogía gefordert, dass die Republik auch angesichts von Verzögerungen und Improvisationen „verpflichtet ist, den Enthusiasmus und den Elan der ersten Momente aufrecht zu erhalten“.26 Angesichts des kaum geminderten Einflusses der Kirche und einer abnehmenden Reformbegeisterung sahen sich Verfechter einer Republikanisierung der Schulen wie der Vorsitzende des Justizausschusses des nationalen Parlaments Baeza Medina unter großem Zeitdruck, zumal aus den Bevölkerungsgruppen, als deren politische Vertreter sich die Republikanischen Parteien und die Sozialistische Partei sahen, erste deutliche Anzeichen des Unmuts über das schleppende Voranschreiten des Schulausbaus die Madrider Parlamentarier erreichten. Die Radikalen argumentierten, dass, wenn die Ersetzung der religiösen durch Staatsschulen nicht bald in Angriff genommen werde, die Gelegenheit, das klerikale Problem zu lösen, auf lange Zeit dahin sei: „Eine Verschiebung würde einem Aufschub (demora) auf unbegrenzte Zeit gleichkommen“.27 Die Radikalität der Gesetzesvorschläge stand in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Gefühl vieler Reformer, in eine politische Defensivposition geraten zu sein. Es galt, auf der Stelle und mit einem radikalen Schnitt das Bildungswesen umzugestalten. Nur vor dem Hintergrund dieser Befürchtungen ist das erfolgreiche Beharren der radikalen Antiklerikalen auf einem äußerst knappen, unrealistischen Zeitplan erklärbar. Zwar mag es zunächst erstaunen, dass die Reformer vollständig von den konkreten Möglichkeiten, die Ordensschulen vor Ort zu ersetzen, absahen. Im Grunde jedoch beruhte diese Politik auf einer durchaus realistischen Lageanalyse. Tatsächlich hatten die Befürworter einschneidender Maßnahmen gegen die religiösen Orden im Winter und Frühjahr 1933 deutlich Mühe, im links-republikanischen Lager Mehrheiten für ihre Positionen zu rekrutieren. Zwar besaß kaum ein republikanischer Akteur größere Sympathien für die Kirche, doch waren den Bildungspolitikern nach fast zwei Jahren Tätigkeit die immensen praktischen Probleme einer Verdrängung der Kirche aus dem Bildungsbereich schmerzhaft bewusst geworden. In einem Auftritt vor dem Justizsausschuss der Cortes im April 1933 erläuterte der Bildungsminister Fernando de los Ríos höchstpersönlich die Argumente, welche gegen ein rasches 26
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Bello zit. nach: Hispánicus, En torno al Ministerio de Instrucción Pública, Atenas 25, 15.12.1932; Notas del mes: El momento actual, in: RdP 125, Mai 1932. Siehe auch: Luis Bello, La Declaración del Episcopado, El Sol, 4.6.1933; El mítin de las colgaduras, El Sol, 24.6.1933. Als konkretes Fallbeispiel einer Frustration republikanischen Reformwillens aufgrund katholischer Obstruktion in Cádiz siehe: Carrusel, Ellas, 10.7.1932. Stellungnahme Baeza Medina, Actas de la sesión celebrada por la Comisión de Justicia, 27.4.1933, ACD, Comisión de Justicia 481/43.
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Vorgehen gegen die Ordensschulen sprachen, und plädierte vehement gegen eine Terminfestlegung im Gesetzestext. Er führte hauptsächlich finanzielle Gründe an. Allein eine Schließung der katholischen Primarschulen, so seine Berechnungen, würden zusätzliche Kosten von 55 bis 60 Millionen Peseten im Jahr verursachen. Sie mache die Einstellung von 7 000 neuen Lehrern notwendig, um die derzeit 350 000 an 3 851 Schulen von den religiösen Orden betreuten Primarschüler weiterhin angemessen pädagogisch zu betreuen. Zusätzlich zu dem Lehrergehalt in Höhe von 35 Millionen Peseten müssten die Kommunen 24 Millionen Peseten für die Anmietung und Erstausstattung von Schulgebäuden sowie die Dienstwohnungen der Lehrer aufbringen. Alleine eine Substitution der weiterführenden konfessionellen Schulen durch neue staatliche institutos hielt das Ministerium in kürzerer Zeit für realisierbar. Hier waren nach Berechnungen des Ministers 70 neue Schulen und 350 Gymnasiallehrer nötig, um die 218 religiösen colegios zu ersetzen. 28 Ein kaum zu lösendes Problem stellte insbesondere die Raumfrage dar, die bis 1936 immer mehr in den Mittelpunkt der Debatten über die Auflösung der konfessionellen Schulen rückte. Ganz abgesehen von finanziellen Faktoren und der ebenfalls wichtigen Frage des Mangels an ausgebildeten Lehrern sprach ein ernster Mangel an für den Schulunterricht geeigneten Gebäuden gegen eine sofortige Schließung der Ordensschulen. Zwar hatten Staat und viele Kommunen seit 1931 ehrgeizige Programme zum Neubau öffentlicher Schulen aufgelegt, doch hielt die Einweihung neuer Schulgebäude kaum mit dem Anstieg der Schülerpopulation Schritt. Wie oben beschrieben, verfügten in Madrid und Barcelona 1936, nach mehreren Jahren intensiver Neubauaktivität, weiterhin mehrere Zehntausend Kinder über keinerlei Schulplatz. Eine Schließung der katholischen Privatschulen hätte die Zahl der Kinder, für die Schulraum geschaffen werden musste, weiter drastisch erhöht. Angesichts der an sich schon exorbitanten Probleme, die der Ausbau des öffentlichen Schulwesens bedeutete, so lässt sich die Position der Pragmatiker zusammenfassen, könne sich die Republik den Verzicht auf die Ordenserziehung trotz aller weltanschaulichen Bedenken schlichtweg nicht leisten.29 Es sprachen somit gewichtige praktische Gründe gegen eine kurz- und mittelfristige Schließung der konfessionellen Schulen. Die internen Beratungen über den Gesetzentwurf im Frühjahr 1933 waren durch einen hartnäckigen Kampf der beiden hier ausgeführten Positionen geprägt. Während die Mitglieder des Justizausschusses mehrheitlich der radikalen Position anhingen, versuchten der Bildungsminister und mit ihm die Bildungsverwaltung mäßigend auf das Gesetzgebungsverfahren einzuwirken und vor allem die Nennung konkreter Termine zu vermeiden. Während die 28 29
Ebd. Vgl. für die Debatten auch: Comisión Permanente de Justicia, Reunión del día 16 de Febrero de 1933, ACD, Comisión de Justicia 480/36, sowie die unterschiedlichen in der Akte enthaltenen Eingaben und Änderungsanträge.
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III. Aushandlungen
radikalen Angeordneten sich immer mehr von einer Enteignung der Ordensgebäude eine Lösung der Schulfrage erhofften, schreckte der Bildungsminister de los Ríos davor zurück. Er tat dies weniger aus durchaus gewichtigen rechtlichen Vorbehalten, sondern weil er hohe Entschädigungsforderungen fürchtete und zudem „nicht aufs Neue die religiöse Frage öffnen [wollte, T.K.], was gefährliche Folgen haben könnte.“30 Das schließlich verabschiedete Gesetz stellte einen Kompromiss der beiden Lager dar. Es verzichtete auf eine Enteignung der Ordensgebäude, schrieb aber die von den Radikalen geforderten knappen Fristen für die Säkularisation in dem Gesetz fest. Um diese einzuhalten, verfügte das Ministerium bereits am 7. Juni die Einrichtung einer für die Substitution zuständigen Junta und die Schaffung von gemischten Kommissionen (comisiones mixtas) auf kommunaler Ebene, welche in Zusammenarbeit mit dem Ministerium die konkrete Ersetzung anleiten und überwachen sollten.31 Obwohl es auf den ersten Blick wie ein Sieg der radikalen Antiklerikalen aussah, veranschaulichte das Ordensgesetz eher ihre Schwäche. Sie konnten sich zwar weiterhin auf parlamentarische Mehrheiten stützen, die Umsetzung der Bildungspolitik jedoch kaum wirkungsvoll beeinflussen. Das Beharren auf den vollkommen unrealistischen Fristen des Gesetzes muss daher zuallererst als politisches Protestsignal der radikalen Kirchengegner verstanden werden, dass sie nicht bereit waren, vor den immensen Problemen zu kapitulieren. Der Umstand jedoch, dass sie keinerlei Überlegungen darüber anstellten, wie das Ordensgesetz umgesetzt werden sollte, und in der Folgezeit der fast vollständigen Wirkungslosigkeit des Gesetzes weitgehend ohnmächtig zusahen, zeigt ihre faktische Marginalisierung. Das Ordensgesetz stellte den letzten verzweifelten Versuch der radikalen republikanischen und sozialistischen Kräfte dar, Einfluss auf die bildungspolitische Praxis zu nehmen. Es war zugleich der erste Schritt dieser Kräfte auf das Gebiet einer von dieser Praxis weitgehend abgekoppelten, deshalb allerdings nicht minder wirkungsmächtigen Symbolpolitik. Auch wenn antiklerikale Einstellungen in bürgerlich-republikanischen Kreisen und in der Arbeiterbewegung – paradoxerweise gerade auch aufgrund dieses politischen Scheiterns – äußerst einflussreich blieben, für die bildungspolitischen Praktiker rückten sie, wie gleich am Beispiel Madrids gezeigt werden soll, zunehmend in den Hintergrund. Das Verbot der Ordenserziehung war für sie 1933 kein Grund zum Feiern, sondern bedeutete eher eine lästige Vorgabe, die ihre ohnehin schwierige Aufgabe weiter verkomplizierte. Die geringe Bedeutung des Antiklerikalismus in der realen Bildungspolitik der Zweiten Republik zeigt sich ganz besonders deutlich, wenn wir uns der kommunalen Ebene zuwenden. Die große Mehrheit der Akteure republi30 31
Actas de la sesión celebrada por la Comisión de Justicia, 27.4.1933, ACD, Comisión de Justicia 481/43. Colmenar Orzaes/Lorenzo Viscente, Debate, S. 64.
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kanischer Schulreform vor Ort führte in der Praxis keinen Krieg gegen das katholische Bildungswesen, auch wenn die republikanischen Lokalpolitiker keine großen Sympathien für die konfessionellen Schulen hegten. Sie waren keine Agenten einer Radikalisierung antiklerikaler Politik, sondern im Gegenteil eher Puffer, welche die politische Stoßkraft radikaler Initiativen dämpften. Eine ganze Reihe von Autoren hat inzwischen die fast vollständige administrative Wirkungslosigkeit des Ordensgesetzes in einzelnen Orten und Kommunen herausgestellt. Während in den meisten Regionen mit stärkerem katholischen Einfluss die Kommunen das Dekret zur Einrichtung der comisiones mixtas schlicht ignorierten, erreichten diese selbst in den republikanischen Hochburgen, wo sie tatsächlich gegründet wurden, nur sehr wenig. Kaum eine Ordensschule wurde im Herbst 1933 geschlossen.32 Die historische Forschung hat in diesem Zusammenhang jedoch übersehen, dass es keineswegs nur äußere Faktoren wie die fehlenden finanziellen Mittel und der erbitterte Widerstand der Kirche waren, welche die Umsetzung des Gesetzes verhinderten. Vielmehr trug wesentlich auch die Prioritätensetzung der städtischen Akteure zu dem Scheitern der Vorgaben bei. In den lokalpolitischen Expertenkreisen Madrids, wie sie sich im Städtischen Ausschuss für Primarerziehung konstituierten, aber auch unter den bildungspolitischen Wortführern im Madrider Stadtrat, dominierten im Sommer 1933 eindeutig die Pragmatiker. Trotz der massiven Präsenz der Ordensschulen in der Stadt spielte ihre Schließung in den Stadtratsdebatten des Jahres 1933 nur eine sehr untergeordnete Rolle. In der Stadtversammlung sorgte allein die Frage, ob der Orden der Mildtätigen Schwestern (Hermanas de la Caridad) in seiner Leitung des städtischen Kinderheimes für Mädchen abgelöst werden sollte, im Frühjahr 1933 für einige Diskussionen. Nachdem selbst in dieser verhältnismäßig einfach zu lösenden Frage keine Einigung erzielt werden konnte – nicht zuletzt weil eine Ersetzung der Nonnen die städtischen Finanzierungskosten von jährlich 16 000 auf 97 000 Peseten hätten anwachsen lassen – wurde das Thema jedoch auf unbestimmte Zeit vertagt. Es ist ein bezeichnender Beleg für die geringe praktische Bedeutung des Antiklerikalismus in der Madrider Bildungspolitik, dass bis in den Frühsommer 1936 noch nicht einmal das religiöse Personal einer einzigen städtischen Einrichtung ausgetauscht wurde.33 Diese 32
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Siehe vor allem den zusammenfassenden Bericht des Ministeriums von Anfang 1934: Sustitución de la Segunda Enseñanza, o.D. (Januar 1934), ACD, Comisión de Instrucción Pública 570/1, Siehe weiterhin die Korrespondenz der lokalen Kommissionen mit dem Madrider Ministerium: Mappe: Sustitución Enseñanza Ordenes Religiosas, AGA 5/1.03, 31/6089. Die Aktivität der meisten Kommissionen beschränkte sich auf die Aufstellung von Listen von Ordensschulen sowie der Besichtigung möglicher Ersatzgebäude. Zur Einschätzung aus katholischer Sicht: A nuestros lectores, Atenas 33, Okt. 1933. Die beste lokalpolitische Detailanalyse liefert Moreno Seco, Conflicto, S. 49–53. Siehe weiterhin: Benventuy Morales, Educación, S. 130–34; Lara Larrazabal, Enseñanza, S. 195–201. Siehe zu den Debatten: Sesión Ordinaria, 17.2.1933, AVM, Libros de Actas del Exmo.
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geringe Bedeutung zeigt sich weiterhin daran, dass das Ordensgesetz in seinen Konsequenzen für die städtische Schulpolitik in keiner einzigen Sitzung des Stadtrates im Juni und Juli 1933 erörtert wurde.34 Auch jenseits des Stadtrats unternahmen die Madrider Verantwortlichen nur halbherzige Schritte, um den Vorgaben des Gesetzes genüge zu tun. Zwar kam es bereits am 6. Juni zu einer Besprechung von staatlichen und städtischen Vertretern unter der Leitung des nationalen Generaldirektors für das Primarschulwesen, um die Folgen des Ordensgesetzes zu beraten. Die Besprechung hatte jedoch kaum praktische Konsequenzen. Die Teilnehmer einigten sich lediglich darauf, sich einen Überblick über die auf dem Stadtgebiet angesiedelten Ordensschulen zu verschaffen und eine Statistik derjenigen Privatschüler zu erstellen, deren Eltern sich bereit erklärten, sie an einer öffentlichen Schule anzumelden. Zudem wurde eine Kommission mit dem vagen Auftrag gegründet, „eine angemessene Lösung für das Problem der Substitution vorzuschlagen.“35 Noch deutlicher indes wird die äußerst begrenzte praktische Relevanz des politischen Antiklerikalismus in Madrid, wenn man die Arbeit des Städtischen Ausschusses für Primarerziehung als dem wesentlichen lokalen Akteur republikanischer Schulreform betrachtet. Der Ausschuss widmete sich der Frage der Umsetzung des Ordensgesetzes sehr verhalten. Ein Drängen des Gremiums in Richtung einer Schließung der religiösen Schulen gab es zu keinem Zeitpunkt. Die Protokolle weisen eher auf eine Haltung der wenig begeisterten Erfüllung einer notwendigen Pflicht hin. Zwar ging der Ausschuss nicht soweit, das Gesetz und seine Ausführungsbestimmungen offen zu boykottieren, dazu stimmten die Linksrepublikaner und Sozialisten zu sehr mit seiner generellen Zielrichtung überein. Doch erhielten beide nur einen nachgeordneten Platz auf der Agenda. So wurde die Substitutionsfrage auf der ersten Sitzung nach der Verabschiedung des Gesetzes am 19. Juni nur als fünfter Tagesordnungspunkt und deutlich dilatorisch behandelt.36 Auch in der praktischen Vorbereitung der Schulschließungen legten die Madrider Lokalpolitiker nur wenig Elan an den Tag. Die städtische Junta für die Ersetzung der religiösen Schulen tagte selten und beschloss auf den wenigen Treffen eher symbolische Maßnahmen, die in ihrer Summe fast auf eine stillschweigende Obstruktion des Gesetzes hinausliefen. Auf der Sitzung am 10. Juli wurde beispielsweise lediglich beschlossen, beim städtischen Finanzdezernenten nachzufragen, in welcher Größenordnung zusätzliche
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Ayuntamiento 1933; Sesión ordinaria, 9.6.1933, ebd. Bis zum Mai 1936 leiteten die Hermanas de la Caridad das Kinderheim: Intereses de Madrid: Se van a hacer obras de importancia en el Colegio de la Paloma, El Sol, 6.6.1936. Vgl. die entsprechenden Sitzungen in: AVM, Libros de Actas del Exmo. Ayuntamiento 1933. Leider sind die handschriftlichen Stadtratsprotokolle für die restlichen Monate des Jahres 1933 nicht überliefert. La sustitución de las escuelas servidas por religiosos en Madrid, El Sol, 7.6.1933. Junta Municipal de Primera Enseñanza, Sesión Extraordinaria, 19.6.1933, AVM, Instrucción Pública 29/445/21.
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finanzielle Mittel für die Anschaffung von Schulmöbeln für die neu einzurichtenden Schulen zur Verfügung ständen. Bezeichnenderweise erfolgte erst zwei Monate später eine Antwort der Finanzbehörde mit dem angesichts der angespannten Haushaltslage wenig überraschenden negativen Bescheid, dass der Schulhaushalt für das Jahr schon restlos aufgebraucht und eine zusätzliche Kreditaufnahme nicht möglich sei.37 Die geringe Bereitschaft, an der Umsetzung des Gesetzes mitzuwirken, wird verständlich, wenn man sich die gestiegenen Ansprüche an die Arbeit der städtischen Bildungspolitiker seit 1931 vergegenwärtigt. Die Tätigkeit war darauf gerichtet, in kurzer Zeit das Madrider Schulwesen so auszubauen, dass es nicht nur Schulplätze für alle Kinder der Stadt bot, sondern auch den enorm gestiegenen Forderungen an moderne Bildung und Erziehung genügte. Um den hohen Ansprüchen an Kinderräume zu entsprechen, waren die neuen republikanischen Schulen in Madrid oft mit Schwimmbädern und ähnlichen Einrichtungen ausgestattet und glichen dadurch, wie ein Kommentator 1936 kritisch bemerkte, in ihrem Aussehen „Palästen von Neureichen“.38 Die umfangreichen Tagesordnungen des Ausschusses für Primarbildung legen ein Zeugnis davon ab, unter welchem enormen Handlungsdruck die lokalen Bildungspolitiker standen. Im Frühjahr 1933 verfolgten der Madrider Ausschuss und sein einflussreicher Vorsitzender Andrés Saborit weiterhin ein äußerst anspruchsvolles Programm des Neubaus von Grundschulen in Form der mehrklassigen escuelas graduadas und der Ausstattung der städtischen Schulen mit Mobiliar und Unterrichtsmaterial. In den Frühjahrsmonaten nahm zudem die Herrichtung städtischer Kindererholungsheime im Gebirge und an der See und die Organisation der Ferienfreizeiten einen großen Teil der Arbeitskraft des Ausschusses in Anspruch.39 Diese Aufgaben brachten zahllose Probleme mit sich, verursachten hohe Kosten und wurden zudem unter einem großen Zeitdruck durchgeführt, da sich der Ausschuss gewaltigen Erwartungen der öffentlichen Meinung gegenübersah. So schickte die Stadt Madrid in Reaktion auf öffentliche Kritik am vermeintlich zu langsamen Fortschritt der Bautätigkeit bereits Ende August eine Kindergruppe in ein Ferienheim im 37 38
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Junta Municipal an den städtischen Architekten Giner de los Ríos, 10.7.1933, AVM, Instrucción Pública 29/451/61; Interventor Municipal an Junta Municipal, 18.10.1933, ebd. Vgl. zu den einzelnen Problemen: Una charla con don Pedro Rico, primer alcalde de la República en el Consejo madrileño, Crónica, 10.5.1931; Lorenzo Luzuriaga, La Enseñanza en España de 1922 a 1932, in: RdP 121, Jan. 1932. Am Ende der Republik gerieten die aufwendigen Schulbauten der Anfangsjahre angesichts des weiterhin existierenden gravierenden Mangels an Schulplätzen zunehmend in die Kritik: M. Nuñez de Arenas; Lo Urgente y algo más. Problemas de cultura española, El Sol, 24.3.1936 (dort Zitat); Notas del Mes, in: RdP 170, Feb. 1936. Siehe etwa: Junta Municipal de Primera Enseñanza, Actas de la sesión ordinaria, 5.6.1933, AVM, Instrucción Pública 29/445/21. Zum historischen Kontext siehe: Pozo Andrés, Urbanismo; Dies, Escuelas para pobres.
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nahe gelegenen Cercedilla, obwohl der Aufbau des Ferienheimes noch nicht abgeschlossen war.40 Im Rahmen der hektischen Aufbautätigkeit musste – bei aller grundsätzlichen Sympathie für das Ziel einer Säkularisierung des Bildungswesens – das Ordensgesetz vom Juni 1933 den maßgeblichen Akteuren als störende, zusätzliche Aufgabe erscheinen. Auch die Verdrängung der Erziehungsorden aus der weiterführenden Bildung, welche nach dem Gesetz bereits zum 1. Oktober erfolgen sollte, erhielt in Madrid keine Priorität. In einem Kraftakt gelang es der Stadt Madrid zwar tatsächlich einerseits, im Herbst 1933 fünf neue institutos zu errichten, doch wurden andererseits keinerlei praktische Schritte unternommen, um einer Schließung der religiösen colegios näher zu kommen. Die lokale Schulpolitik inkorporierte somit die Gesetzesbestimmungen in ihre bisherige, auf die Ausweitung von Schulplätzen konzentrierte Politik, ohne es zu einer tatsächlichen Konfrontation mit der Kirche kommen zu lassen. Die forcierte Politik der Schulgründungen blieb dabei nicht ohne Folgekosten. Nicht nur lagen drei der fünf neuen Institute aufgrund der städtischen Raumnot in demselben Stadtteil, in dem überdies bereits eine öffentliche weiterführende Schule existierte, sondern sie befanden sich zudem zum Teil in für den Schulunterricht ungeeigneten Gebäuden.41 Die Konzentration auf die bloße Fertigstellung der Räumlichkeiten führte zudem zu eklatanten Versorgungsmängeln an den Schulen, von denen viele im Winter 1933/34 ohne Heizmaterial auskommen mussten. Auch wenn ihre Sichtweise eindeutig parteiisch war, lag die katholische Bildungszeitschrift Atenas nicht ganz falsch, als sie im Dezember 1933 den Zustand des öffentlichen Schulwesens in der Hauptstadt als „Chaos“ beschrieb. Die Madrider Stadtregierung war mit den Gehaltszahlungen für ihre Lehrer zwei Monate im Rückstand und viele Schulen – landesweit sollen es 15 000 gewesen – waren nur provisorisch besetzt.42 1.1.3 Ausbleibende Radikalisierung: Bildungspolitik nach der Regierungsübernahme der „Volksfront“ im Frühjahr 1936 Die hier erkennbare Prioritätensetzung der links-republikanischen Lokalpolitiker zungunsten antiklerikaler Maßnahmen drückte auch der dritten Phase 40 41 42
Intereses de Madrid, El Sol, 24.8.1933. Sustitución de la Segunda Enseñanza, o.D. (Januar 1934), ACD, Comisión de Instrucción Pública 570/1. Caos en la Enseñanza Española, Atenas 35, Dez. 1933; Argus, De Actualidad Pedagógica: España, Atenas 39, April 1934. Zu den Versorgungsproblemen: Junta Municipal de Primera Enseñanza, Sesión Extraordinaria, 16.1.1934, AVM, Instrucción Pública 29/445/22. Im darauffolgenden Winter traten die Probleme erneut auf: Rafael Martínez Gandia, Unos magníficos grupos escolares donde hay de todo...menos calefacción. En las escuelas de Madrid los niños tienen frío..., Crónica, 2.12.1934.
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antiklerikaler Debatten im Frühjahr und Frühsommer 1936 seinen Stempel auf. Zwar nahm nach dem Sieg des Volksfrontbündnisses, das neben linksrepublikanischen Gruppen und Sozialisten auch die Kommunisten mit einschloss, in den Februarwahlen der Druck auf die nationale wie lokale Politik zu, gegen die religiösen Ordensschulen aktiv zu werden. Von einer antiklerikalen Radikalisierung der bildungspolitischen Akteure kann jedoch erneut nur sehr bedingt gesprochen werden. Der wichtigste Unterschied zum Jahr 1933 bestand vielmehr darin, dass radikale Reformkräfte seit dem April 1936 durch eine Reorganisation der lokalen Bildungspolitik vorübergehend zu mehr politischem Einfluss gelangten, ohne dass sie diesen allerdings in mehr als nur symbolische Erfolge hätten ummünzen können. Betrachtet man die bildungspolitischen Maßnahmen des Frühjahres 1936 und die Rolle des Antiklerikalismus in ihnen genauer, so müssen verbreitete, aber kaum auf Quellenstudien beruhende Urteile der historischen Forschung zur Bildungspolitik der Volksfront entschieden korrigiert werden. Von einem oft behaupteten deutlichen Willen der republikanischen Bildungspolitiker, die religiöse Bildung zu unterdrücken, lässt sich weder auf der nationalen, noch auf der städtischen Ebene sprechen. Anders als es viele historische Darstellungen nahelegen, führte die Bildungspolitik im Frühjahr 1936 nicht zu einer offenen Verfolgung der Ordenserziehung. Aufgrund ihrer Konzentration allein auf die religiöse Frage und auf öffentliche Absichtserklärungen hat die Forschung übersehen, dass die Schließung der Ordensschulen nur eines der Ziele der republikanischen Bildungspolitik unter mehreren war und zudem in einem deutlichen Widerspruch zu anderen bildungspolitischen Interessen stand.43 Zum besseren Verständnis der politischen Dynamik im Frühjahr 1936 bie43
Zum Forschungsstand: Martí Gilabert, Política Religiosa, S. 258–64. Die bisherigen Forschungen werden in ihrer Analyse eines die Bildungspolitik pauschal dominierenden Antiklerikalismus den vielschichtigen Entwicklungen des Frühjahrs 1936 nicht gerecht. Stanley Payne (Collapse, S. 251f., 363) etwa interpretiert die Politik gegenüber den Privatschulen als Teil eines Zusammenbruchs republikanischer Ordnung im Frühjahr 1936. Als Beleg für seine These, dass seit Mai „mehr und mehr katholische Schulen geschlossen wurden“, was zu einer „Krise des spanischen Bildungssystems“ geführt habe, führt er in bezeichnender Weise lediglich Mutmaßungen des britischen Historikers R.A.H. Robinson aus dem Jahr 1970 an (The Origin´s of Franco´s Spain, London 1970, S. 226f.) Robinson erwähnt zwar, wie gleich näher ausgeführt wird, zu Recht, dass Schulinspektoren teilweise auf eigene Faust Privatschulen schlossen, verschweigt aber, dass es sich hierbei keineswegs um ein Massenphänomen handelte und die republikanische Regierung mit Hilfe der Polizei, wie selbst die katholische Atenas feststellte, diese Maßnahmen in fast allen bekannten Fällen wieder zurücknahm. Kurzum, die offizielle Politik gegenüber den katholischen Schulen war weit komplexer als dies die bisherige Forschung zugesteht. Zwar radikalisierten sich Teile des republikanischen Bildungsmilieus, doch dürfen gegenläufige Tendenzen nicht unberücksichtigt bleiben. Ein fast identischer Bezug auf Robinson findet sich schon in: Burnett Bolloten, The Spanish Civil War. Revolution and Counterrevolution, New York 1991, S. 14f. Siehe weiterhin: Julio de la Cueva, El Anticlericalismo en la Segunda República y la Guerra Civil, in: Emilio La Parra López/
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tet sich die Teilung des Zeitraums in eine Phase von Februar bis Anfang Mai und eine Phase von Mai bis Juli an. Nach ihrem Wahlsieg wollten die linksrepublikanischen Bildungsreformer sowohl auf nationaler Ebene wie in Madrid zunächst möglichst unmittelbar an ihre Politik der ersten Reformjahre anknüpfen. Wie vor 1934 sahen sie sich einem immensen Reformdruck ausgesetzt, der ihrer Ansicht nach in der Zwischenzeit eher weiter gewachsen, denn zurückgegangen war. Anfang Juni 1936 berichtete der Vorsitzende des Madrider Stadtrats García Cortés über die Lage der Schulbildung in der Stadt. Zwar konnte er als Erfolg der städtischen Schulpolitik vermelden, dass die Quote der Kinder ohne Schulplatz seit 1931 von 37,9 auf 32,1 Prozent zurückgegangen war, doch hatte sich aufgrund der hohen Migration in die Stadt die absolute Zahl der Kinder ohne Schulplatz von 32 415 auf 61 910 fast verdoppelt. Angesichts einer unzureichenden statistischen Erfassung lag nach der Einschätzung vieler Zeitgenossen die wahre Zahl der unbeschulten Kinder sogar noch weit darüber.44 Um diese immense Kinderpopulation ausreichend mit Schulen zu versorgen, waren – unter Einbezug der katholischen Privatschüler – nach Berechnungen der Stadtverwaltung 227 neue mehrklassige Grundschulen und die Einstellung von 2 000 zusätzlichen Lehrern notwendig, was einmalige Kosten von 84 Millionen Peseten und laufende jährliche Kosten von 10 bis 12 Millionen Peseten nach sich ziehen würde.45 Neben hohen Kosten sah sich die Politik auch mit neuen Ansprüchen von Lehrerverbänden konfrontiert. Die Ausbildungskampagne der Republik hatte das am Anfang der Republik bestehende Problem eines Lehrermangels weitgehend gelöst, mittelfristig jedoch das Ende 1935 spürbare neue Problem eines Überschusses an Neulehrern geschaffen. So forderte eine „Vereinigung arbeitsloser Lehrer der Region Salamanca“ (Agrupación Salamantina de Maestros sin Colocación) Anfang Januar 1936, den Zugang zu den Lehrerseminaren zu begrenzen, da bereits in der Gegenwart 12 000 Lehrer auf ihre Anstellung warteten.46 Schließlich mussten sich die republikanischen Bildungspolitiker einem umfangreichen Katalog an Missständen zuwenden, zu denen Vetternwirtschaft, ungenügende Schulbücher und mangelhafter Unterricht an den weiterführenden Schulen ebenso gehörten wie eine vermeintlich unzureichende Berücksichtigung neuer hygienischer und kinderpsychologischer
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Manuel Suárez Cortina (Hrsg.), El Anticlericalismo Español Contemporáneo, Madrid 1998, S. 211–301, hier S. 258; Cárcel Ortí, Historia, S. 163f. Siehe zur Bevölkerungsentwicklung Madrids in den frühen 1930er Jahren: Julía, Madrid, bes. S. 59–63. Allein während der 1920er Jahre zogen 240 000 Menschen in die Hauptstadt. De Enseñanza, El Sol, 9.6.1936; Aumento de Escuelas, El Sol, 10.6.1936. Siehe auch: Intereses de Madrid, El Sol, 29.5.1936. Zur vergleichbaren Situation in Barcelona: T.R., En Barcelona hay 50.000 niños sin escuela, Crónica, 5.4.1936. Agrupación Salmantina de Maestros sin Colocación, El Sol, 2.1.1936. Siehe auch: A todos los maestros sin colocar de plan 14, El Sol, 9.1.1936.
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Erkenntnisse in der Schulpraxis. Zum Jahresbeginn 1936 kritisierte beispielsweise El Sol: „Es ist nicht tolerierbar, dass in Madrid vielköpfige Gruppen von Schülern aufgrund des Raummangels auf der Strasse auf ihren Unterricht warten müssen; [. . . ] dass der Turnunterricht und die pädagogischen Spiele in dunklen, unhygienischen Kellerräumen stattfinden; dass es nicht ausreichend geräumige Orte an der freien Luft gibt für die gesunde Verausgabung der Schüler in einem Alter, dessen spezifische Schwierigkeiten ihre Lösung im Sport finden“.47
Die neue Bildungsadministration sah sich somit im Februar 1936 vielstimmigen Forderungen gegenüber. In den Augen ihrer Protagonisten musste sich die politische Überlegenheit der neuen Regierung gerade in der Bildungspolitik beweisen. In unserem Kontext muss nun festgehalten werden, dass die ersten Überlegungen und Maßnahmen der neuen Bildungsadministration kaum antiklerikale Stoßrichtungen aufwiesen. Bis Anfang Mai spielte die Frage der Schließung der Ordensschulen in der nationalen Bildungspolitik keine nennenswerte Rolle. Zwar gab es immer wieder Lippenbekenntnisse zu den Zielen des Ordensgesetzes, doch erarbeiteten die Bildungsexperten des Ministeriums keine Pläne, wie dieses umzusetzen sei.48 Auch die unterschiedlichen republiknahen Lehrerverbände drängten zunächst kaum darauf, die religiöse Frage in Angriff zu nehmen.49 Neben den weiterhin äußerst wichtigen praktischen Fragen des Neubaus von Schulen bestimmten in den ersten Wochen der neuen Regierung Überlegungen die bildungspolitische Debatte, wie der Zugriff der nationalen, republikanischen Bildungsadministration auf Lehrer und Schulen verbessert werden könne. Die Durchsetzung republikanischer Reformen im öffentlichen Schulwesen, weniger das Ausgreifen auf die Privatschulen beschäftigte die Bildungspolitiker. Verschiedene Vorschläge wurden hierzu intensiv diskutiert. So sollten die Ausbildung der Lehrer weiter verbessert und den staatlichen Schulinspektoren zusätzliche Eingriffsmöglichkeiten in den Schulalltag gegeben werden. Wichtige Auswirkungen für die Madrider Lokalpolitik besaß schließlich die Entscheidung vom 26. März, die kommunalen Ausschüsse für das Primarschulwesen zu Spezialräten für Primarkultur (Consejos Especiales de Cultura Primaria) umzugestalten, in denen neben Stadtverordneten auch Vertreter der Inspektorenschaft, der Lehrer und der Eltern vertreten sein sollten. Das kommunale Bildungswesen sollte dadurch einer breiteren demokratischen Kontrolle unterstellt, Forderungen verschiedener Gesellschaftsgruppen nach Mitwirkung befriedigt und gleichzeitig die 47 48 49
Urgencias en la Segunda Enseñanza, El Sol, 3.1.1936. Siehe auch: El Desorden en la Instruccion Publica, El Sol, 17.1.1936. Siehe etwa: Notas del Mes, RdP 170, Feb. 1936; M. Nuñez de Arenas, Lo Urgente y algo más. Problemas de cultura española, El Sol, 24.3.1936. Gestiones de la Nacional, El Sol, 14.3.1936; De la visita al ministro de la Confederación Nacional de Maestros, El Sol, 20.3.1936.
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Kooperation der verschiedenen Interessensgruppen verbessert werden.50 Schließlich stritten Bildungspolitiker und öffentliche Meinung seit April intensiv um die Einführung eines einheitlichen Schulabschlusszertifikats am Ende der Volksschulzeit (Certificado de Estudios Primarios), mit der die Qualität der Primarausbildung gewährleistet werden sollte.51 Es ist unbestreitbar, dass alle diese Fragen auch die katholischen Privatschulen betrafen und katholische Experten vermuteten dementsprechend hinter einzelnen Beschlüssen immer wieder antiklerikale Motive. Atenas hielt beispielsweise die Idee der Abschlusszertifikate für durchaus bedenkenswert und bemerkte, dass einige Mitglieder der Fachkommission der FAE in den Überlegungen keine Gefahr für die katholische Bildung gesehen hätten. Doch setzte sich im Verband schließlich doch die Meinung durch, dass es sich um eine verdeckte Attacke gegen die religiösen Schulen handele, da der Staat sich ein „brutales Monopol“ in der Vergabe der Zertifikate vorbehalte und dadurch indirekt die Privatschulen benachteilige.52 Tatsächlich mögen antiklerikale Überlegungen eine gewisse Rolle gespielt haben, doch deuten die vorliegenden Quellen darauf hin, dass das Ziel ein Allgemeineres war. Es ging nicht primär darum, die katholischen Schulen besserer staatlicher Kontrolle zu unterstellen – auch wenn dies einen durchaus erwünschten, positiven Nebeneffekt bilden sollte. Vielmehr sollten alle Schulen – und gerade auch die öffentlichen – effektiver kontrolliert und ihre Unterrichtsstandards erhöht werden.53 Antiklerikale Einstellungen beeinflussten in den ersten zwei Monaten die neue Bildungspolitik sehr viel weniger, als von der historischen Forschung oft impliziert. Sie waren nicht verschwunden, aber sie befanden sich in einem Stadium der Latenz. Ein wichtiger Grund hierfür waren sicherlich die frustrierenden Erfahrungen mit der Substitutionspolitik im Sommer und Herbst 1933. Die praktischen Probleme einer Schließung der Ordensschulen sowie die sich aus einer Ersetzung ergebenden Folgefragen der Unterbringung und pädagogischen Betreuung der Privatschüler ließen die Mehrheit der links-republikanischen Bildungsexperten vor einer erneuten offenen Attacke gegen das katholische Schulwesen zurückschrecken. 50
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Luis Santillano, Kommentar: Escuelas, El Sol, 14.3.1936; Disposiciones de Instrucción Pública, El Sol, 30.3.1936; Un circular del ministerio a inspectores y maestros, El Sol, 29.3.1936; La enseñanza en Madrid, El Sol, 4.4.1936; Noticias, Boletín de la Asociación de Maestros de las Escuelas Nacionales de Madrid 19, 1.4.1936. Siehe nur: Notas del mes, in: RdP 172, April 1936; El Certificado de Estudios Primarios, El Sol, 7.4.1936; Lo que han de saber los niños, El Sol, 15.5.1936; Luis Santullano, Los Examenes, El Sol, 10.6.1936. Hispánicus, Arrecia la persecucción contra la enseñanza privada, Atenas 60, April 1936; El Certificado de Enseñanza primaria, ebd. In den Zeitungskommentaren der liberalen Presse zu der Zertifikatsfrage wurde denn auch das Problem der Privatschulen kaum angesprochen. Siehe etwa: Lo que han de saber los niños, El Sol, 15.5.1936; La situación en la enseñanza, in: RdP 173, Mai 1936.
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Ende April trugen dann jedoch vor allem drei Faktoren dazu bei, die Frage der Ordensschulen erneut in den Mittelpunkt der nationalen Bildungsdebatten zu rücken. Zunächst machte sich nach zwei Monaten intensiver Reformdebatten eine erste Desillusionierung über die neue Bildungspolitik in republikanischen Expertenkreisen breit. Der Elan des Neuanfangs, so schien es vielen, hatte kaum praktische Konsequenzen nach sich gezogen. Die Revista de Pedagogía stellte beispielsweise in ihrer Ausgabe vom Mai fest, dass der Impuls des Neuanfangs „in den letzten Wochen etwas paralysiert worden ist“. Damit ergebe sich die Gefahr, dass die Regierung die „gerechtfertigten Forderungen von Experten und Bevölkerung“ enttäusche.54 Die Frustrationen über die vermeintlich fortbestehenden Unzulänglichkeiten der staatlichen Bildungspolitik führten im Juni auch zum Rücktritt des Bildungsministers Marcelino Domingos, dem die regierungkritische Atenas mit schadenfrohem Unterton attestierte, viel versprochen, aber wenig gehalten zu haben.55 Zweitens führte die Mitte April durchgeführte Reorganisation der kommunalen Bildungsausschüsse dazu, dass radikale antiklerikale Positionen vor Ort ein stärkeres politisches Gewicht erhielten. In Madrid lässt sich dies deutlich zeigen. Es waren die neu in die Lokalpolitik eintretenden Mitglieder des kommunalen Ausschusses, welche von der Stadtregierung ein Vorgehen gegen die Privatschulen forderten.56 Sie repräsentierten dabei diejenigen Teile des links-republikanischen Lagers, die angesichts der vielfältigen Hindernisse republikanischer Reformpolitik immer stärker zu der Überzeugung gelangt waren, dass nur eine radikale, auf sofortige Schließung und Enteignung der Ordensschulen konzentrierte Politik den gordischen Knoten im Bildungsbereich sprengen könnte. Es ist jedoch fraglich, ob, drittens, ohne die antiklerikalen Straßenkrawalle von Anfang Mai 1936 das Thema der Ordenserziehung größere praktische Bedeutung gewonnen hätte. In den ersten Tagen des Monats durchlief das Gerücht Madrid, dass im Arbeiterviertel Cuatro Caminos Nonnen vergiftete Süßigkeiten an Kinder verschenkt hätten. Am 4. Mai versammelte sich daraufhin eine große Menschenmenge vor dem von Salesianerinnen genutzten Colegio María Auxiliadora, drang in das Gebäude ein und brannte es nieder.57 Der populäre Protest erreichte zwar nicht die Stärke der Unruhen vom Mai 1931, doch schürte er in den republikanischen und sozialistischen Eliten Ängste, die städtischen Unterschichen als politische Klientel an radikalere politische Gruppen zu verlieren. Zwei Wochen später urteilte ein Kommentator von El Sol hellsichtig, dass „vielleicht in dieser neuen politischen Etappe die 54 55 56 57
Ebd. Del Momento, Atenas 62, Juni 1936. Consejo Especial de Cultura Primaria de Madrid, Actas de la sesión ordinaria, 15.4.1936, AVM, Instrucción Pública 29/445/24. Siehe zu dem Vorfall: de la Cueva, Anticlericalismo, S. 259, Cárcel Ortí, Historia, S. 164, der auch weitere antiklerikale Vorfälle im Frühjahr 1936 auflistet.
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III. Aushandlungen
tolerante Haltung [gegenüber den Ordensschulen, T.K.] weitergeführt worden wäre, gäbe es nicht von Zeit zu Zeit einen tumultösen Impuls, der unerfreuliche Vorkommnisse fürchten lässt.“58 Erst die Vorfälle vom 4. Mai veranlassten das Bildungsministerium zu einem deutlicheren Bekenntnis zur Schließung der Ordensschulen und zur Veröffentlichung eines Maßnahmenkatalogs. Zwar hatte ein Rundschreiben des Bildungsministers die Schulinspektoren schon am 28. März unter anderem aufgefordert, über die Laizität der Schulen zu wachen. Doch war dieser Auftrag nur einer in einer ganzen Reihe von Forderungen und bezog sich zudem allem Anschein nach vor allem auf eine Überprüfung der öffentlichen Schulen. Auch die Präsentation eines auf den ersten Blick radikal anmutenden Drei-Stufen-Plans im selben Monat, nach dem zunächst überall dort die religiösen Schulen geschlossen werden sollten, wo die staatlichen Schulen genügend Kapazitäten zur Aufnahme der ehemaligen Privatschüler besäßen, und im Anschluss in zwei weiteren Schritten die vollständige Schließung erreicht werden sollte, hatte nach den Erfahrungen des Sommers 1933, in dem eine ähnliche Aufforderung keine Ergebnisse erzielt hatte, eher symbolische Bedeutung.59 Der Plan war so offen formuliert, dass er eher als allgemeine Willensbekundung und Beschwichtigung der radikalen Antiklerikalen, denn als konkrete politische Maßnahme innerhalb einer breiter angelegten Strategie gewertet werden muss. Dafür spricht auch, dass er weder durch konkrete Bestimmungen noch durch finanzielle Zusagen, die für eine tatsächliche öffentliche Übernahme der katholischen Schulen nötig geworden wären, flankiert wurde. Schließlich zeigt auch eine Verordnung vom 21. April, welche die Schließung von religiösen Schulen, die in städtischen Gebäuden untergebracht waren, dekretierte, die weitgehend symbolische Funktion der Ordenspolitik des Bildungsministeriums. In Madrid zumindest entfaltete diese Verordnung keinerlei Wirkung, nicht zuletzt deshalb, weil keine Privatschule bekannt war, die städtische Räume nutzte.60 Erst am 6. Mai, zwei Tage nach den Madrider Ausschreitungen sah sich Marcelino Domingo gezwungen, vor Journalisten seine Pläne der Schließung der Ordensschulen zu konkretisieren. Er wiederholte seinen 3-Stufen Plan, der bisher keinerlei praktische Wirkung gezeitigt hatte, und beauftragte die Schulinspektoren „mit aller Eile“ bei den religiösen Schulen vorstellig zu werden und mit diesen über einen Verkauf oder eine Vermietung ihrer Schulräume zu verhandeln. Falls diese ablehnend reagierten, sollten sie sich nach anderen geeigneten Gebäuden für die Neugründung von Schulen für die ehemaligen Privatschüler umsehen.61 Es ist bezeichnend, dass selbst in der 58 59 60 61
Sustitución de la Enseñanza, El Sol, 20.5.1936. Dies übersieht etwa Martí Gilabert, Política Religiosa, S. 260f. Un circular del ministerio a inspectores y maestros, El Sol, 29.3.1936; Actas de la Comisión Gestora Municipal, Sesión Ordinaria, 24.4.1936, AVM, Libros de Actas 1936. Por la República laica: Sustitución de la enseñanza religiosa, El Socialista, 7.5.1936; La
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aufgeputschten Stimmung der frühen Maitage der Maßnahmenkatalog des Bildungsministers sehr moderat ausfiel. Zwar ist nicht zu leugnen, dass sich die Bildungspolitik nun offen gegen die katholischen Schulen richtete, doch tat sie es gleichsam mit Samthandschuhen und scheute vor entschiedenen Maßnahmen wie Enteignungen oder sofortigen Schulschließungen zurück. Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre mussten allen mit der Materie vertrauten Personen die Pläne, Ankündigungen und Dekrete des Bildungsministers als Farce erscheinen. Es war nicht zu erwarten, dass die religiösen Orden ihre Schulen freiwillig aufgaben, und der Schülerdruck auf die öffentlichen Schulen war so stark, dass an eine problemlose Integration der Privatschüler – die Bereitschaft der Eltern zum Schulwechsel einmal vorausgesetzt – in öffentliche Schulen kaum zu denken war. Überblickt man die vorgeschlagenen Maßnahmen des Ministeriums, gewinnt man den Eindruck einer großen Ratlosigkeit unter den maßgeblichen republikanischen Experten. Sie befanden sich in einer Zwickmühle. Einerseits wollten sie durch entschlossenes Handeln eine Erosion der populären Zustimmung zur Volksfrontregierung verhindern und wohl auch den Straßenprotesten und wilden Schulbesetzungen Einhalt gebieten, die in einigen Regionen erfolgten. Andererseits fürchteten sie aber eine weitere politische Eskalation im Konflikt mit der katholischen Rechten. Denn der einzig Erfolg versprechende Weg der Substitution führte über, geltendes Recht äußerst strapazierende, großflächige Enteignungen der religiösen Schulen. Die politischen Folgen einer solchen Maßnahme waren jedoch in der ohnehin politisch angespannten Lage des Frühsommers 1936 kaum abzuschätzen, ganz abgesehen davon, dass Verstaatlichungen den Überzeugungen vieler Politiker der republikanischen Parteien zuwiderliefen, dass Privateigentum ein unbedingt schützenswertes Gut darstellte. Während die öffentliche Meinung in den folgenden Wochen die Frage der Schulschließungen intensiv debattierte und es im spanischen Parlament am 4. Juni zu einer großen Debatte darüber kam, entschied sich die nationale Bildungsadministration für eine Symbolpolitik, die Entschlossenheit signalisieren sollte, ohne jedoch tatsächliche Maßnahmen gegen die Ordensschulen einzuleiten. Über die von Marcelino Domingo angekündigten Schritte hinaus plante das Ministerium im Wesentlichen die staatliche Aufsicht über die Privatschulen zu verstärken, und in einer ministeriellen Verordnung vom 7. Mai wurden die Kommunen aufgefordert, innerhalb von 14 Tagen Lösungsvorschläge in der Substitutionsfrage zu unterbreiten.62 Die an einer schnellen Säkularisation interessierten Redakteure der Lehrerzeitschrift Escuelas de España monierten angesichts dieser Politik folgerichtig im Juni „die außerordentliche Langsamkeit der Ersetzung der religiösen Bildung
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inspección de las localidades afectadas por la sustitución de la enseñanza, El Sol, 7.5.1936; Noticias, Escuelas de España 29, Mai 1936. Consejo Especial de Cultura Primaria de Madrid, Actas de la sesión ordinaria, 13.5.1936, AVM, Instrucción Pública 29/445/24.
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III. Aushandlungen
und Erziehung [. . . ]. Der Minister optiert für Beschwichtigung (sosiego)“, und auch El Sol beklagte die „Leichtfertigkeit“ mit der die Regierung die religiöse Frage angehe. Umgekehrt registrierte Atenas, die öffentlich eine alarmistische Rhetorik anschlug, im Detail erleichtert nicht nur die Verweigerung des Ministeriums gegenüber radikalen Stimmen, sondern auch die vergleichsweise Mäßigung der Verordnungen, die eher auf freiwillige Schritte der Orden setzten, diesen „genügend Autonomie“ ließen und weiterhin im Wesentlichen auf die, nach einer umfangreichen katholischen administrativen Reorganisation im Herbst 1933 de facto kaum mehr existierenden Schulen zielten, welche den religiösen Orden unmittelbar unterstanden.63 Den sehr begrenzten Ehrgeiz des Ministeriums, wirkungsvoll gegen die Ordensschulen vorzugehen, belegt mehr als alles andere die Bereitstellung eines Sonderetats von lediglich 16 Millionen Peseten für die Ersetzung der Schulen. Angesichts der allein für Madrid errechneten Kosten von 84 Millionen Peseten, die nötig gewesen wären, um den Schulmangel zu überwinden, war diese Summe kaum mehr als ein symbolischer Betrag.64 Nach der Parlamentsdebatte von Anfang Juni trat das Thema der religiösen Schulen wieder stärker in den Hintergrund der nationalen Politik, auch wenn sich nach wie vor wichtige republikanische Gruppen für eine Schließung der Ordensschulen einsetzen. Der nachlassende politische Druck auf das katholische Bildungssystem zeigte sich in einem spürbaren Rückgang der Berichterstattung in der Juni- und der Juli-Ausgabe von Atenas, welche die antiklerikalen Debatten und Beschlüsse sehr genau beobachtete.65 Die deutlichsten Konsequenzen hatten die antiklerikalen Maßnahmen im Mai 1936 in einigen Orten und Vierteln der großen Städte, in denen Lokalpolitiker im Zusammenspiel mit Demonstranten versuchten, putschartig einzelne konfessionelle Schulen zu besetzen. Die katholische Presse berichtete etwa über Vorfälle in Santa Cruz de Mudela (La Mancha) und Orense (Galizien), in denen jeweils der Bürgermeister und der Schulinspektor die örtlichen konfessionellen Schulen schlossen. Schon im Mai hatte Marcelino Domingo vereinzelte Schulschließungen in den Provinzen Alicante, Huesca, Málaga und Gerona erwähnt.66 Auch in einigen Vororten von Madrid versuchten lokale Funktionsträger auf eigene Faust katholische colegios zu sperren. So wollte der Bezirksbürgermeister des Arbeitervororts Puente de Vallecas das 63
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Noticias, Escuelas de España 30, Juni 1936; Dinero para la enseñanza, El Sol, 30.6.1936; Hispánicus, Arrecia la persecución contra la enseñanza privada, Atenas 60, April 1936; Hispánicus, Rumbo de la educación española, Atenas 61, Mai 1936. Consejo de Ministros: Se aprobá un crédito extraordinario de 16.000.000 de pesetas, El Sol, 27.6.1936; Dinero para la enseñanza, El Sol, 30.6.1936; Del Momento, Atenas 63, Juli 1936. Siehe etwa: Del Momento, Atenas 63, Juli 1936. Der Artikel weist lediglich auf die Budgetbeschlüsse zur Substitution hin. Hispánicus, En favor de la educación católica, Atenas 62, Juni 1936; Por la República laica: Sustitución de la enseñanza religiosa, El Socialista, 7.5.1936.
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Colegio del Niño Jesús de Praga beschlagnahmen und in Tetuán, ebenfalls ein stark durch die Arbeiterschaft geprägter Vorort, versuchte die Bezirksverwaltung, auf Druck der Bevölkerung die religiösen Schulen des Stadtteils zu besetzen. In allen diesen Fällen verhinderte jedoch die Bildungsverwaltung in Zusammenarbeit mit der Polizei die tatsächliche Enteignung der Schulen.67 In Santa Cruz de Mudela und Orense bildeten sich zudem rasch Elterngruppen, die in Madrid erfolgreich gegen das Vorgehen der lokalen Machthaber protestierten.68 Im Ganzen kam es in Madrid nur zu zwei Schließungen pädagogischer Einrichtungen. Erstens wurden Ende April den Nonnen der Hermanas de la Caridad die Leitung des städtischen Kinderheimes für Mädchen entzogen, und zweitens wurden Anfang Mai die beiden, unter der Monarchie durch die Krone finanzierten Schulen Colegio de Nuestra Señora de Loreto und Colegio Santa Isabel unter nicht genau nachzuvollziehenden Umständen verstaatlicht.69 Auf der städtischen Handlungsebene lässt sich zwar mit der Gründung des Consejo Especial de Cultura Primaria Mitte April eine gewisse Verschärfung der städtischen Politik gegenüber den religiösen Orden feststellen, doch von einer durchgreifenden Radikalisierung kann auch hier keine Rede sein. In den ersten zwei Monaten nach den Februarwahlen hatte die erneute links-republikanische Mehrheit im städtischen Ausschuss für das Primarschulwesen an ihre Politik der Jahre 1931 bis 1934 angeknüpft. Die Teilnehmer der ersten Sitzung nach den Wahlen, der wiederum Andrés Saborit als Präsident und stellvertretender Bürgermeister vorsaß, debattierten beispielsweise alleine die Frage der Realisierbarkeit ambitionierter Pläne für Schulneubauten, nach denen bis zum Jahrestag der Republikgründung am 14. April vier neue mehrklassige Volksschulen gebaut werden sollten. Auch in den folgenden Sitzungen wurden vor allem der Ausbau des öffentlichen Schulwesens, Material- und
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Somit kann ein Blick auf die bildungspolitischen Auseinandersetzungen das differenzierte Urteil von Rafael Cruz stützen, dass es, anders als von der Forschung lange Zeit angenommen, im Frühjahr 1936 keineswegs zu einem Zusammenbruch politischer und polizeilicher Ordnung unter dem Ansturm radikaler Bewegungen kam: Rafael Cruz, En el Nombre del Pueblo. República, Rebelión y Guerra en la España de 1936, Madrid 2006, bes. S.176–80. Siehe auch: Ders., Old Symbols, New Meanings: Mobilising the Rebellion in the Summer of 1936, in: Chris Ealham/Michael Richards (Hrsg.), The Splintering of Spain. Cultural History and the Spanish Civil War, 1936–1939, Cambridge 2005, S. 159– 76. Hispánicus, Rumbo de la educación española, Atenas 61, Mai 1936; Hispánicus, En favor de la educación católica, Atenas 62, Juni 1936. Zum Scheitern der Substitutionsversuche im Sommer 1936 siehe auch Moreno Seco, Conflicto, S. 55; Benventuy Morales, Educación, S. 135. Pego, La sustitución de las religiosas, El Sol, 25.4.1936; Vida municipal: Sustitución de la enseñanza, El Socialista, 8.5.1936; Sustitución de la Enseñanza, El Sol, 20.5.1936. Es konnte leider nicht festgestellt werden, ob die beiden Schulen während der Republik weiter mit öffentlichen Geldern betrieben worden waren.
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III. Aushandlungen
Ausstattungsfragen und schließlich die Organisation der jährlichen Kinderferienkolonien diskutiert.70 Eine Änderung trat erst mit den organisatorischen Veränderungen von Mitte April ein. Es waren die neuen Mitglieder des Spezialrates, welche in zwei Sitzungen am 15. und 29. April das Thema der Privatschulen neu in die Diskussion einführten. Doch obwohl mit diesen Forderungen die Frage der religiösen Schulen erneut auf die Tagesordnung der lokalen Politik gesetzt wurde, fällt doch auf, dass selbst die radikaleren Kräfte des Rates vergleichsweise gemäßigte Forderungen stellten. So forderten drei Mitglieder am 15. April, in einem Antrag an den Bildungsminister, die Bezahlung der Privatschullehrer derjenigen der Lehrer öffentlicher Schulen anzugleichen und Privatschulen mindestens dreimal im Schuljahr inspizieren zu lassen. Alleine die Forderung vom 29. April, dass zukünftig keine Privatschule eröffnet werden dürfe, die nicht genauestens eine hygienisch-pädagogische Inspektion bestanden habe, ließ Spielräume für radikale Maßnahmen und stand in der Kontinuität des widersprüchlich politisch-hygienischen Diskurses republikanischer Kindheitsreform.71 Insgesamt jedoch zielten die einzelnen Anträge in Übereinstimmung mit der nationalen Politik der Monate März und April im Wesentlichen auf eine bessere Kontrolle der Schulen. Eine sofortige Schließung der Privatschulen beantragten noch nicht einmal die schärfsten Säkularisierungsbefürworter des städtischen Ausschusses. Insgesamt prägte in den Monaten bis zum Bürgerkrieg wie im Sommer 1933 eine Politik der Verzögerung die Arbeit der lokalpolitischen Experten und insbesondere seines Vorsitzenden Saborit. So wurde die Aufforderung des Bildungsministeriums vom 7. Mai an den städtischen Rat, Lösungsvorschläge für die Substitution der religiösen Schulen zu unterbreiten, ohne Diskussion an die Distriktbürgermeister und Schulinspekteure weiter gereicht und Ende Juni forderte das Gremium über den Bürgermeister den Bildungsminister auf klarzustellen, wie die geplante periodische Inspektion der Privatschulen zu gestalten sei.72 Auch in diesen letzten Sitzungen vor Kriegsbeginn spielten religiöse Fragen also nur eine untergeordnete Rolle und nahmen nur einen kleinen Teil der Sitzungen ein. Wie wenig Fragen der Säkularisation die Arbeit der maßgeblichen lokalen Bildungspolitiker bestimmten, zeigt ein Beschluss vom 8. Juli. Dieser forderte zunächst die Distriktbürgermeister auf, Listen mit den Privatschulen ihres Distrikts zu erstellen. Mehr als 5 Jahre nach Gründung der Republik war noch nicht einmal den zuständigen lokalen Experten Zahl und 70 71 72
Junta Municipal de Primera Enseñanza, Sesión Extraordinaria, 26.2.1936, AVM, Instrucción Pública 29/445/24; Sesión Ordinaria, 4.3.1936, ebd.; Sesión Ordinaria, 25.3.1936. Consejo Especial de Cultura Primaria de Madrid, Actas de la sesión ordinaria, 15.4.1936, AVM, Instrucción Pública 29/445/24; Sesión Ordinaria, 29.4.1936, ebd. Consejo Especial de Cultura Primaria de Madrid, Actas de la sesión ordinaria, 13.5.1936, AVM, Instrucción Pública 29/445/24; Sesión Ordinaria, 24.6.1936, ebd.
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Lage der katholischen Schulen in der Stadt bekannt. Zudem sollten diese Aufstellungen keineswegs die Grundlage eines Verbotes dieser Schulen bilden, sondern lediglich dazu beitragen, „besser die Aktivität dieser privaten Bildungs- und Erziehungszentren zu garantieren“.73 Sicherlich waren auch die lokalen republikanischen Akteure an einer besseren pädagogischen Kontrolle der Privatschulen interessiert. Weitergehende Initiativen spielten in den lokalpolitischen Expertenkreisen jedoch keine Rolle. Die verhaltene Politik gegenüber den kirchlichen Schulen hing nicht nur mit den Problemen des Schulausbaus und den Erfahrungen des Sommers 1933 zusammen. Auch an einer ganz anderen Front waren die Bildungsexperten Madrids im Sommer 1936 bemüht, Konflikte eher zu schlichten, als weiter anzustacheln. Schon vor dem Sieg der Volksfront hatten Elternvereinigungen, die im Umkreis einzelner Schulen entstanden waren, versucht, ihre Interessen gegenüber der Lehrerschaft auf neue Weise zu Gehör zu bringen. In vielen Fällen kam es dabei zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Schulleitung und Elternvertretern. Im nächsten Kapitel werden diese Konflikte genauer betrachten, doch müssen sie an dieser Stelle schon erwähnt werden, da sie ein Problem für die Lokalpolitiker darstellten. Im Februar 1936 sah sich der städtische Ausschuss für Primarkultur beispielsweise mit der Eskalation eines Streites zwischen der Direktorin der Volksschule Gómez de Baquero und dem Vorstand der Elternvereinigung der Schule konfrontiert. Nachdem der Ausschuss noch in seiner alten, das heißt gemäßigt-republikanischen Besetzung zunächst für die Direktorin Partei ergriffen und der Elternvereinigung die Abhaltung von Versammlungen im Schulgebäude untersagt hatte, nahm der neue links-republikanisch dominierte Ausschuss eine vermittelnde Position ein und mahnte in seiner Sitzung vom 4. März die Direktorin, sich um ein besseres Verständnis zwischen Lehrern und Elternvertretern zu bemühen.74 Im Kern ging es hier um die Frage, wie viel Mitspracherechte die Kommune den Eltern und gerade auch Eltern aus der Arbeiterschaft im Bereich von Schule und Unterrichtsgestaltung zugestehen wollte. Die links-republikanischen Bildungsexperten sahen sich dabei in der Zwickmühle, einerseits die Schule gegen Zumutungen von außen schützen zu wollen, andererseits aber auch die Interessen der Eltern, welche eine wichtige Wählergruppe bildeten, nicht ignorieren zu können. In dieser Situation musste die Perspektive einer weiteren politischen Aufladung von Bildungsfragen als Gefährdung des fragilen Gleichgewichts zwischen Lehrer- und Elterninteressen erscheinen. Der städtische Rat hatte deshalb kein Interesse an einer nur schwer zu kontrollierenden Mobilisierung von Teilen der Bevölkerung gegen die katholischen 73 74
Especial de Cultura Primaria de Madrid, Actas de la sesión ordinaria, 8.7.1936, AVM, Instrucción Pública 29/445/24. Junta Municipal de Primera Enseñanza, Sesión Ordinaria, 12.2.1936, AVM, Instrucción Pública 29/445/24; Sesión Ordinaria, 4.3.1936, ebd. Zu den Konflikten siehe auch: Rosalía Prado, La escuela y la familia, Escuelas de España 30, Juni 1930.
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III. Aushandlungen
Schulen, zumal die wilden Besetzungen in den Stadtteilen Cuatro Caminos, Puente de Vallecas und Tetuán gezeigt hatten, wie schwierig es war, Basisinitiativen zu unterdrücken. Zusammenfassend entfalteten die antiklerikalen Programme auf der lokalen Ebene somit sowohl 1933 als auch im Frühjahr 1936 nur eine äußerst beschränkte Wirkung. Trotz allgemeiner Sympathien für eine Zurückdrängung der Kirche aus dem Bildungswesen taten die kommunalen Bildungspolitiker wenig, um die antiklerikalen Bestimmungen der Verfassung und des Ordensgesetzes von 1933 in die Praxis umzusetzen. Selbst in einer Stadt wie Madrid mit ihrer deutlichen sozialistisch-republikanischen Mehrheit und ihren engen Beziehungen zur nationalen Politik wirkten die politischen Experten eher als Bremse und Puffer radikaler Maßnahmen. Zwar lassen sich einige lokale Faktoren nennen, die konfliktverschärfend wirkten. Hierzu muss vor allem der eklatante Raummangel gezählt werden. Angesichts des Gebäudenot, der hohen Kosten und der langen Dauer von Schulneubauten warfen republikanische Reformer immer wieder begehrliche Blicke auf die Schulgebäude der religiösen Orden. Doch fanden insgesamt antiklerikale Forderungen unter den lokalpolitischen Experten selbst in der politisch aufgeheizten Stimmung des Frühjahres 1936 kaum Gehör. Vereinzelte kalte Enteignungen wurden zudem durch die Ordnungskräfte schnell aufgehoben. Insgesamt zeigt die Bildungspolitik somit nicht das oft gezeichnete Bild einer Republik, die von extremen Gruppen zerrieben in politischem Chaos versinkt. Die gerade in katholischen Geschichtsbüchern vertretene These, dass die Februarwahlen eine staatlich angeleitete politische Verfolgung kirchlicher Bildungseinrichtungen entfacht hätten, muss differenziert werden. Zwar setzte unzweifelhaft die antiklerikale Rhetorik eines Teiles der republikanischen Presse politische Dynamiken in Gang, doch bieten die lokalen Verantwortlichen weniger das Bild antiklerikaler Revolutionäre als das einer pragmatisch handelnden lokalen Expertenschicht, die in einer politisch schwierigen Situation sehr kühl Kosten und Nutzen einzelner Maßnahmen abwog. Die religiöse Frage trat in den Augen dieser Akteure hinter ihnen sehr viel dringlicher erscheinende Fragen des Schulbaus und der Verbesserung der pädagogischen Methoden zurück. Gerade Experten wie der über lange Jahre die Madrider Schulpolitik koordinierende Andrés Saborit entwickelten in der Praxis eine pragmatische Haltung gegenüber den konfessionellen Schulen. Es war allerdings eine verhängnisvolle Schwäche der republikanischen Reformer, dass sie sich bemüßigt sahen, eine Doppelstrategie von antiklerikaler Rhetorik und pragmatischer Politik zu wählen. Diese Politik drohte, sowohl das katholischnationale Lager dauerhaft vom politischen Regime der Republik zu entfremden, als auch diffuse Erwartungen nach einem revolutionären Neuanfang bei den Anhängern der Republik zu verstärken, die die republikanische Administration weder einlösen konnte noch wollte. Doch muss auch festgehalten werden, dass es auf der lokalen Ebene in Madrid durchaus Ansätze eines
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praktischen Kompromisses gab, die auf lange Sicht eine bildungspolitische Verständigung zwischen Kirche und den republikanischen Kräften erlaubt hätten. Der Militärputsch vom Juli 1936 begrub jedoch diese Möglichkeiten und veränderte die Machtkonstellation auf republikanischer Seite zugunsten der radikalen Antiklerikalen.
1.2 Die Verteidigung der christlichen Schule und das Scheitern katholischer Organisationen im Bildungsbereich Katholische Politik in den 1930er Jahren war zu einem großen Teil Bildungspolitik. Die Säkularisierung des Bildungswesens setzte auf katholischer Seite eine intensive Suche nach geeigneten Abwehrstrategien in Gang. Die Ordensschulen standen im Mittelpunkt des Versuches einer umfassenden Mobilisierung von Eltern und Lehrern für die katholische Sache. Die republikanischen Attacken initiierten eine neue Debatte über die Ziele und Formen katholischer Bildungspolitik. Die Notwendigkeit publizistischer Kampagnen gegen die republikanische Politik und einer intensiven Lobbyarbeit führten zum raschen Bedeutungszuwachs der neuen gesamtkatholischen Bildungsorganisationen und vor allem der FAE als Schaltzentrale katholischer Bildungspolitik. Doch welche Erfolge hatten die Kampagnen und die Gründung neuer Verbände, nachdem, wie im ersten Teil erläutert, eine Organisation des katholischen Erziehungsmilieus in den 1920er Jahren nur sehr schleppend in Gang gekommen war? Bildete sich in und um die Schulen ein homogener, politisierter, anti-republikanischer Block von Erziehungsexperten und Eltern oder verpufften die katholischen Initiativen angesichts anders gelagerter Interessen der lokalen Akteure? Wie veränderten sich schließlich die Strategien katholischer Gesellschaftsreform unter der Republik? Vielen Zeitgenossen blieb nicht verborgen, dass der politische Druck auf die Kirche diese zu einer neuen Beschäftigung mit Bildungsfragen führte. Eine Kommentatorin von El Socialista bemerkte im Frühjahr 1933 etwa bitter, dass die republikanische Politik bislang eher der Kirche in die Hände gespielt habe: „Vor der Erklärung der Laizität der Staatsschulen wurde die katholische Religion in diesen weitgehend vernachlässigt. [. . . ] Heute ist dies nicht mehr so. Die Kirche hat auf den Peitschenschlag des Laizismus reagiert. [. . . ] Was sie früher vernachlässigt hatte, kultiviert sie wieder“.75 Die gleiche Analyse eines engen Zusammenhanges von politischem Konflikt und neuer katholischer Initiative zog auch Atenas, die in der politischen Verfolgung gar ein Instrument göttlicher Vorsehung entdeckte, das zu einer Revitalisierung ka75
Matilde de la Torre, La República declaró laica la enseñanza, El Socialista, 20.1.1933.
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III. Aushandlungen
tholischer Bildung beigetragen habe.76 Die Republikgründung beschleunigte die rasche Etablierung der FAE als Generalstab der katholischen Bildungsbewegung und die Zentralisierung katholischer Bildung und Erziehung. Die Zeitschrift Esto charakterisierte die Arbeit der FAE 1934 wie folgt: „Die FAE hat als Ziel, die katholischen Organisationen miteinander zu verbinden. Ihre Aktivität erstreckt sich über ganz Spanien und sie strebt danach, über die höheren Studien der Katholischen Pädagogik zu unterrichten“; und der katholische Schulführer von 1934 bezeichnete die FAE als „einziges für kulturelle Angelegenheiten verantwortliches Unternehmen des spanischen Katholizismus“.77 Die FAE entwickelte schnell Formen einer modernen bildungspolitischen Öffentlichkeitsarbeit. Sie traktierte das Bildungsministerium mit Eingaben und verschickte regelmäßig Rundbriefe und fertig formulierte Artikel zur Bildungspolitik an etwa hundert Zeitungen in ganz Spanien. Nach eigenen Angaben des Verbandes war die Breitenwirkung der ersten Pressemitteilungen im konservativen und nationalen Pressespektrum enorm. Alle wichtigen Zeitungen druckten diese an häufig prominenter Stelle ab. Die Vereinigung merkte bald, dass besonders eine sachliche Detailkritik einzelner Gesetzesdebatten Anklang fand und in der Bildungsadministration durchaus ernst genommen wurde. Aufgrund des öffentlichen Einflusses der FAE hielt es das Bildungsministerium 1934 sogar für geboten, den zweiten Gesetzentwurf zur Reform der weiterführenden Bildung dem Verband im Vorfeld mit Bitte um Stellungnahme zuzuschicken.78 Neben der Lobbyarbeit auf nationaler Ebene versuchte die FAE durch Flugblätter und Broschüren die öffentliche Meinung im katholischen Sinn zu beeinflussen. Wiederum nach eigenen Angaben verteilte die Vereinigung von ihrer Gründung im Frühjahr 1930 bis in den Sommer 1934 hinein sieben Millionen Flugblätter und mehr als eine Million Broschüren. Während eines Monats sollen allein in Madrid 25 000 Flugschriften am Tag verteilt worden sein.79 Die Öffentlichkeitsarbeit zeichnete sich insgesamt durch eine Kombination von schriller Kritik an den republikanischen Regierungen mit vielfältigen Sachvorschlägen „mit einer gewissen modernen Ausrichtung“ aus.80 76 77
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Movimiento Educativo, Atenas 35, Dez. 1933. E. Estevez-Ortega, Enseñar al que no sabe, Esto, 1.3.1934; Nuestro Intento, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1934/35, Madrid 1934, S. 7. Zu Selbstdefinition und Zielen der FAE während der Republik siehe: Fines de la FAE, ebd., S. 11; La obra de la FAE, ebd., S. 12–19. Zur organisationspolitischen wie intellektuellen Bedeutung der FAE siehe nur: Asamblea de Padres de Familia en Octubre, Los Hijos del Pueblo, 1.9.1932. G.A., Tercera Semana de Estudios Pedagógicos en Madrid (29.12.1933–6.1.1934), in: Razón y Fe 104, 1934, S. 392–395, hier S. 393f.; La obra de la FAE, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1934/35, Madrid 1934, S. 12f. G.A., Tercera Semana de Estudios Pedagógicos en Madrid (29.12.1933–6.1.1934), in: Razón y Fe 104, 1934, S. 392–395, hier S. 394; La obra de la FAE, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1934/35, Madrid 1934, S. 16f. Ebd. (Zitat). Die Attacken wandten sich vor allem in militanter Form gegen das Frei-
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Neben der informationspolitischen Beeinflussung einer breiten Öffentlichkeit organisierte die FAE praktische Maßnahmen zur Verteidigung der Ordensschulen. Sie koordinierte vor allem 1933 die Gründung der Sociedad Anónima de Enseñanza Libre (Aktiengesellschaft für freie Bildung und Erziehung, SADEL) als neuer Auffang- und Leitungsgesellschaft für die religiösen Ordensschulen, mit deren Hilfe das Ordensgesetz vom Juni 1933 erfolgreich umgangen und ein Fortbestehen der Schulen gesichert wurde. SADEL führte die Schulen unter formaler Leitung von Laien fort, während de facto die religiösen Orden ihre Hoheit über die Schulen behielten. Im Schuljahr 1934/35 unterstanden SADEL mehr als 50 Schulen, die von 19 600 Schülern besucht wurden. In ihrem Aufsichtsrat saß neben prominenten Pädagogen und Leitungsmitgliedern der FAE wie Rufino Blanco auch der Führer der bedeutenden katholischen Partei CEDA, Antonio Gil Robles.81 Weiterhin koordinierte die FAE die Gründung lokaler Bündnisse katholischer Honoratioren, die sich dem Aufbau neuer konfessioneller Grundschulen als Konkurrenz zu den Staatsschulen widmeten. Sie unterstützte schon 1931 in Madrid die Gründung von Kommissionen auf der Ebene der Pfarrgemeinden, welche zunächst religiöse Unterweisung für Kinder der nun laizistischen öffentlichen Schulen in deren Freizeit organisierten. Im Verlauf des Jahres 1932 entstanden in Madrid auf Initiative der Juntas Diocesanas para las Escuelas zahlreiche Kurse, die sich anscheinend zunächst vor allem an die Schüler weiterführender Schulen richteten.82 Bald jedoch rückte der Auf- und Ausbau eines eigenen katholischen Volksschulwesens in den Mittelpunkt der Kommissionstätigkeit. Eine Vereinheitlichung der Bestrebungen erfolgte im September 1932 mit der Einrichtung eines Bildungsrates auf Diözesanebene.83 Um nicht von den Bestimmungen des Ordensgesetzes betroffen zu werden, reorganisierte dieser sich am 24. Juli 1933 in Form der
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maurertum als vermeintlichen Drahtzieher der laizistischen Bildungsreform und der religiösen Verfolgungen. Siehe nur als Beispiel: Prueba aplastante de la sumisión a la Masonería, Los Hijos del Pueblo, 14.7.1932. Zu den spanischen Freimaurern, ihren Zielvorstellungen und ihrer Bedeutung in der Republik siehe jetzt die gründliche Untersuchung: Luis P. Martín, Los Arquitectos de la República. Los Masones y la Política en España, 1900–1936, Madrid 2007. Pérez Galan, Enseñanza, S. 295–97. Die katholische Presse debattierte verständlicherweise diesen Umstand vor 1936 immer nur in verklausulierter Form: La Redacción: A nuestros lectores, Atenas 33, Okt. 1933. Zur Sichtweise der kirchenkritischen Gegner: Saneamiento de la enseñanza privada, Informaciones, 14.10.1936. Auch die Organisation selbst trat nur selten an die Öffentlichkeit: Becas escolares a favor de los huérfanos de las víctimas de la revolución, Ellas, 18.11.1934. Eine Aufstellung von Mitte 1934 über die von SADEL geleiteten Schulen bietet: Rückumschlag, Anuario de educación y enseñanza católica en España 1934/35, Madrid 1934. Siehe auch: Payne, Spain´s First Democracy, S. 86. Organización de la instrucción religiosa para alumnos del bachillerato, Atenas 25, 15.12.1932. Las mujeres españoles en las obras sociales y benéficas, Ellas, 29.5.1932; Nueva etapa escolar, Ellas, 18.9.1932; Noticiario Breve, Atenas 24, 15.11.1932; A. de H., La obra ejemplar
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III. Aushandlungen
Crusados de la Enseñanza (Kreuzritter der Bildung und Erziehung), die sich unter der Leitung des umtriebigen Rufino Blanco und unter dem Protektorat des Bischofs von Madrid-Alcalá der Gründung und Finanzierung katholischer Volksschulen sowie der Lehrerbildung widmeten. Nach Angaben von El Debate betrieb die Organisation am Anfang des Schuljahres 1934/35 in der Stadt und Provinz Madrid 274 Schulen, die von 13 887 Schülern besucht wurden. Die Organisation umfasste demnach deutlich mehr Schulen als die in den 1930er Jahren schon auf eine lange Tradition zurückblickende Asociación Católica de Señoras, die, ebenfalls an die FAE angebunden, zur selben Zeit in Madrid 66 Schulen mit 11 263 Schülern unterhielt.84 Dem viel beachteten öffentlichen Schulausbau stand somit eine nicht unerhebliche Erweiterung des katholischen Schulwesens in der Hauptstadt gegenüber. Dessen Stärke wie Schwäche bestand in seiner finanziellen Abhängigkeit von Spenden wohlhabender und weniger wohlhabender Privatpersonen. Die Öffentlichkeits- und Organisationsarbeit wurde durch Bemühungen, Lehrer, aber auch Eltern zu besseren Vermittlern katholischer Bildung und Erziehung auszubilden, begleitet. Der unmittelbare Anlass für die Schulungsinitiative lag in dem neuen Bedarf an Katechisten nach der Abschaffung des staatlichen Religionsunterrichts sowie an geeigneten Lehrern für die neuen katholischen Schulen. Die Anwerbung von Pädagogen, die den neuen pädagogischen Anforderungen der FAE genügten, stellte sich jedoch als so schwierig heraus, dass die Ausbildung geeigneter Erzieher bald zu einer Hauptaufgabe der FAE und ihrer lokalen Helfershelfer wurde.85 Jenseits der staatlichen Lehrerseminare wollten die Reformer eine eigene katholische Schicht von Bildungsexperten heranbilden. Anfang 1934 erläuterte Atenas: „Es ist wichtig, dass das katholische Lager mit größerer Aktivität praktische Studien zu Bildungs- und Erziehungsfragen unternimmt. [Wir brauchen, T.K.] eine unruhige Neugier angesichts der neuen Tatsachen der Welt der Bildung und Erziehung.“86 Besondere Bedeutung erlangten die seit Januar 1933 jährlich durchgeführten pädagogischen Wochen der FAE als Heerschauen des katholischen Erziehungsmilieus und Popularisierungsforen der neuen katholischen Reformpädagogik.87 Die Abwehr der Säkularisierung
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de una ilustre dama que ha consagrado su vida a una institución llena de excepcional interés, Esto, 20.9.1934. Las Escuelas Católicas y los Cruzados de La Enseñanza, La Enseñanza Católica, Beiheft 458, Sept. 1933; Para las Escuelas Católicas, La Enseñanza Católica 464, März 1934; E. Estevez-Ortega, Enseñar al que no sabe, Esto, 1.3.1934; Movimiento Educativo, Atenas 46, Dez. 1934. Die Abgaben von El Debate zitieren Pérez Galan, Enseñanza, S. 297f.; Bernabé Bartolomé Martínez, Historia de la Acción Educadora de la Iglesia en España, Bd. 1, Madrid 1995, S. 192. Movimiento Educativo, Atenas 35, Dez. 1933. Mayor actividad. A nuestros educadores, Atenas 36, Jan. 1934. Zu den Kursen in Madrid siehe nur: Maestros y Maestras para escuelas Católicas, La Enseñanza Católica, Beiheft 458, Sept. 1933; Movimiento Educativo, Atenas 35, Dezember 1933. Cursos de verano para los directivos de Estudiantes católicos, Atenas 23, 15.10.1932; No-
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und die Reform der eigenen Bildungs- und Erziehungstätigkeit waren auf das Engste miteinander verknüpft. Schließlich unternahm die FAE eine politische Mobilisierung der kirchennahen Bevölkerung zur Verteidigung der religiösen Orden und ihrer Schulen. Zu diesem Zweck hielt die Vereinigung allein bis Anfang 1934 mehr als 150 Versammlungen ab, vor allem jedoch forcierte sie die Gründung beziehungsweise die Expansion spezieller Vorfeldorganisationen.88 Doch trotz der umfassenden Anstrengungen blieb der Erfolg der bildungspolitischen Mobilisierungsbemühungen unter Lehrern, Eltern und einer breiteren Öffentlichkeit beschränkt, sieht man von einigen kurzen Hochphasen ab. Zudem unterschied sich in vielen Punkten das Interesse der tatsächlich aktiven Basiskatholiken von demjenigen der FAE-Spitze.Einen guten Einblick in die Dynamik und Grenzen des katholischen Protestes gegen die republikanische Bildungspolitik in Madrid in der Anfangsphase der Republik bietet eine Betrachtung der Asociación de familiares y amigos de religiosos (Vereinigung der Familienangehörigen und Freunde von Ordensmitgliedern, AFAR). Im ersten Jahr der Republik versuchte die FAE die Vereinigung als großes Schutzbündnis der religiösen Orden und ihrer Schulen zu popularisieren und ihre scharf antiliberale Zeitschrift Los Hijos del Pueblo (Kinder des Volkes) als Kampagnenblatt gegen die republikanische Bildungsreform zu platzieren.89 Die AFAR warb insbesondere um die Mitgliedschaft von Eltern und konnte zunächst ein gewisses Wachstum verzeichnen. Ende September 1931 gründete sich die Regionalorganisation Neukastillien, die auch Madrid umfasste, Ende Oktober existierten Gebietsorganisationen in fast allen spanischen Regionen und im November erfolgte die Gründung einer nationalen Föderation, welche den Einzelgliederungen jedoch sehr weitgehende Autonomie einräumte.90 Anfang November besaß der Verband nach eigenen Angaben 15 aktive Untergliederungen mit 70 000 Anhängern. Schwerpunkte der Tätigkeit waren wie bei allen katholischen Organisationen der Zeit vor allem Nordspanien und insbesondere Altkastillien, das Baskenland und Navarra.91 In den folgenden Monaten berichtete die AFAR in ihrem Presseorgan immer
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ticiario breve, ebd.; Movimiento de cultura religiosa, Atenas 25, 15.12.1932. Zur Tätigkeit auf der nationalen Ebene siehe nur als Beispiel für das Jahr 1935: Rufino Blanco y Sánchez, Semanas pedagógicas, Atenas 58, Feb. 1936. In der Retrospektive: Nuestras Semanas de Educación, III. Anuario de la Enseñanza Privada en España. Curso 1943–1944, S. 143– 152. La obra de la FAE, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1934/35, Madrid 1934, S. 16f. Editorial, Los Hijos del Pueblo, 17.9.1931. Una nueva Asociación en Castilla la Nueva, Los Hijos del Pueblo, 23.9.1931; Asociación de familiares y amigos de religiosos, Los Hijos del Pueblo, 29.10.1931; Una Confederación Nacional de Asociaciones de Familiares y Amigos de Religiosos, Los Hijos del Pueblo, 19.11.1931. Zur Öffentlichkeitsarbeit: Un manifiesto de la AFAR, Los Hijos del Pueblo, 29.10.1931. Situación actual de la AFAR de Castilla la Nueva, Los Hijos del Pueblo, 5.11.1931.
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III. Aushandlungen
wieder an prominenter Stelle über Mobilisierungserfolge und steigende Mitgliedszahlen. Ende 1931 soll die Valencianische Organisation 1 500 Anhänger umfasst haben und die Provinzorganisation Salamanca zählte sogar 4 043 Mitglieder und besaß Stützpunkte in 221 Dörfern. In Madrid konnte der Verband nach eigenen Angaben seine Mitgliederzahl vom Herbst 1931 bis zum April 1932 auf 4 000 Mitglieder vervierfachen.92 Doch dürfen diese Erfolgsmeldungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Aufschwung der Organisation schon im Frühjahr 1932 deutlich nachließ, nachdem weitergehende Maßnahmen gegen die religiösen Orden mit Ausnahme der Jesuiten ausgeblieben waren. Die Verbandszeitschrift berichtete kaum mehr über Aktivitäten der Basisgliederungen und publizierte keine Mitgliederzahlen mehr. Der Artikel zum ersten Geburtstag des Madrider Verbandes im September 1932 fiel angesichts des nachlassenden Elans denn auch sehr verhalten aus und betonte vor allem die Standhaftigkeit und Ausdauer der Verbandsarbeit, die sich immer mehr auf grelle publizistische Attacken gegen die Freimaurerei beschränkte.93 Seit Herbst 1932 spielte die AFAR keine Rolle mehr im öffentlichen Leben Madrids. Ihr Niedergang lässt sich als Scheitern einer rein politischen, von konkreten Elterninteressen absehenden Mobilisierung gegen die Bildungspolitik der Republik interpretieren. Größeren organisatorischen Erfolg hatte der katholische Elternverband, der, wie oben beschrieben, erst nach mehreren Anläufen im Jahr 1930 eine dauerhafte Form angenommen hatte und bis 1932 konkurrierende Elternvereinigungen unter seinem Dach zusammenführte.94 Es waren dann aber die Gründung der Republik und die antiklerikale Bildungsreform, die ihn für einige Jahre zu einem mitgliederstarken Interessenverband machten. Nachdem er im Sommer 1931 Tausende von Unterschriften gegen die bildungspolitischen Bestimmungen des Verfassungsentwurfs gesammelt hatte, trat er in der Folge vor allem als Verteidiger des katholischen Schulwesens und als wichtiger Akteur seiner Reorganisation hervor. Er versammelte Eltern konfessioneller Schulen zur Verteidigung der Bildungseinrichtungen, 92
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Zur gleichen Zeit bezifferte die Föderation ihre Anhängerschaft in ganz Spanien auf sensationelle 400 000 Personen. Diese Zahl muss jedoch als fiktiv betrachtet werden. Sie wird an keiner Stelle regional differenziert und in der Folgezeit nicht wiederholt. Allgemein lag die Zahl der zahlenden Mitglieder (socios de cuota) zudem deutlich unter den im Text genannten Anhängerzahlen. La AFAR de Valencia cuenta con 1.500 afiliados, Los Hijos del Pueblo, 26.11.1931; La AFAR salmantina tiene 4.043 socios, Los Hijos del Pueblo, 10.12.1931; La AFAR madrileña cuenta con 17 delegaciones, Los Hijos del Pueblo, 24.12.1931; Un éxito de intervención de la AFAR de Murcia, Los Hijos del Pueblo, 7.4.1932. Nuestro primero aniversario, Los Hijos del Pueblo, 15.9.1932. Para la reforma de la Segunda enseñanza, ABC, 21.6.1930; Las ponencias de los padres de familia, ABC, 29.6.1930; La reforma de la Segunda enseñanza. Un documento de la Confederación Nacional de Padres de Familia, ABC, 10.7.1930. Zur Einbindung konkurrierender Organisationsversuche siehe: Asamblea de Aspiraciones, Aspiraciones, 16.1.1932; Nuestra Asamblea y la Asociación Padres de Familia, Aspiraciones, 5.3.1932.
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übernahm oft die formale Leitung von Schulen und organisierte die Aus- und Fortbildung katholischer Lehrer. 95 ,96 Der innere Zusammenhalt des Verbandes blieb allerdings prekär. Wie wenig noch im April 1932 von festen Organisationsstrukturen gesprochen werden kann, zeigt sich in der Vorbereitung der wichtigen nationalen Verbandsversammlung, die vom 5. bis 8. Mai in Madrid stattfand und die trotz der zu diesem Zeitpunkt sich bereits über mehrere Jahre erstreckenden Aufbauarbeit immer noch als „vorbereitendes Treffen der Bewegung, die es zu schaffen gilt“ angekündigt wurde.97 Der Kongress, an dem 5 500 Personen aus ganz Spanien teilnahmen, erläuterte unter anderem einen Aktionsplan für Madrid und seine Provinz, der neben der Organisation von Spendensammlungen für den Aufbau katholischer Primarschulen die Gründung von Juntas de enseñanza cristiana (Juntas für christliche Bildung und Erziehung) zur Verteidigung der katholischen Schulen auf Parochialebene vorsah.98 Die Formung des Verbandes zu einer nationalen, schlagkräftigen Organisation schlug jedoch fehl. Mobilisierungserfolge blieben stets zeitlich und räumlich begrenzt. Nachdem in Madrid die Elternvereinigung im Sommer 1932 einige Aktivität entfaltet und in Reaktion auf Aufrufe katholischer Reformer Untergruppen um katholische Schulen herum gebildet hatte, erreichte die Arbeit der Elternvereinigungen im Frühjahr 1933 im Kampf gegen die Ordensgesetzgebung ihren Höhepunkt. Eine Versammlung gegen das Ordensgesetz am 25. Juni konnte 5 000 Personen mobilisieren.99 Nach Angaben von Atenas waren zu diesem Zeitpunkt 7 111 der 31 000 Familien, die Kinder auf den katholischen Privatschulen der Stadt hatten, Mitglieder des Verbandes. Insgesamt existierten nach Angaben der FAE im Sommer 1933 in Spanien ungefähr 300 Lokalverbände mit insgesamt 50 000 Mitgliedern.100 95
Siehe nur für Initiativen in Madrid: Las asociaciones católicas de Madrid, 25.8.1931, ACD, Comisión de Constitución 580/5. Vgl. weiterhin: Católicos de la Ciudad de Cádiz, 24.8.1931, ebd. Zur Tätigkeit in der Folgezeit: Movimiento Pedagógico, Atenas 21, 15.6.1932; Asamblea confederal, Atenas 23, 15.10.1932; Confederación Católica de Padres de Familia, Atenas 31, 15.6.1933. Es war leider nicht möglich, interne Überlieferungen der Elternverbände ausfindig zu machen. Somit muss zum jetzigen Zeitpunkt offen bleiben, ob die Überlieferung zumindest der Dachorganisation und des Madrider Verbandes über die Wirren des Bürgerkrieges erhalten geblieben sind. 96 Asamblea de Aspiraciones, Aspiraciones, 16.1.1932; Nuestra Asamblea y la Asociación Padres de Familia, Aspiraciones, 5.3.1932. Zur Positionierung der Zeitschrift siehe: Carmen Velacoracho, Llamamiento a las derechas, Aspiraciones, 16.1.1932; Estatutos de ASPIRACIONES, ebd. 97 De Padres de Familia, ABC, 21.4.1932; Asamblea de Padres de Familia, ABC, 6.5.1932; Asamblea de Padres de Familia, 8.5.1932; La Asamblea de Padres de Familia, ABC, 10.5.1932. 98 Asamblea de Padres de Familia, ABC, 8.5.1932. 99 Suscripción para Escuelas Católicas, ABC, 22.5.1932; Noticiario breve, Atenas 32, 15.7.1933. 100 Daneben existierte noch ein gesonderter Verbandszweig mit dem umständlichen Namen Agrupación Obrera de Defensa y Libertad de los Padres de Familia en la Educación
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III. Aushandlungen
Doch die katholischen Elternverbände überschritten schon im Frühjahr 1933 den Zenit ihrer ohnehin begrenzten Mobilisierungsfähigkeit.101 Wie schwierig es für die Katholische Aktion war, Eltern selbst in den Hochphasen der politischen Kulturkämpfe um Religion, Laizismus und Bildung längerfristig politisch zu mobilisieren, zeigt sich schon daran, dass die Kampagnen gegen die Ordensgesetze 1933 an vielen Orten bereits als ein Wiederaufleben der Elternvereine beschrieben wurden. Deren Aktivität war nach einer ersten Phase der Aktivität Ende 1931 vielerorts anscheinend schnell zum Erliegen gekommen.102 Nach Verabschiedung der Bildungsgesetze und der faktischen Pattsituation in Fragen der Ersetzung der religiösen Schulen auf der lokalen Ebene ließen die Aktivitäten der Elternvereinigung wiederum deutlich nach. Eine Anschlusskampagne im Winter 1933/34 entfaltete kaum größere Mobilisierungskraft. Zwar blieben die professionellen Funktionäre an der Verbandsspitze weiter aktiv, hielten Bildungsabende ab, organisierten Lehrerfortbildungen und betrieben eine intensive Lobbyarbeit, wobei sie von einem kleinen Zirkel hoch motivierter Elternvertreter unterstützt wurden.103 Doch wirkten die Verbände kaum mehr über diese kleinen Gruppen überzeugter Aktivisten in eine breitere mediale Öffentlichkeit hinein.104 Die
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de sus Hijos (Arbeitervereinigung zum Schutz und zur Freiheit der Familien in der Erziehung ihrer Kinder), der Arbeiterfamilien organisierte, deren Kinder katholische Schulen besuchten. Dieser Zusammenschluss, der im März 1933 4 000 Mitglieder gezählt haben soll, blieb allerdings weitgehend auf das Madrider Arbeiterviertel Puente de Vallecas beschränkt. Los Padres de Familia acuden al Congreso de los Diputados, Atenas 27, 15.2.1933; Más protestas contra la Ley de Congregaciones, Atenas 28, 15.3.1933; Confederación Católica de Padres de Familia, Atenas 31, 15.6.1933. Zur Bandbreite der Aktivitäten im Frühjahr 1933 außerhalb von Madrid siehe: Información de la Confederación de Asociaciones de Padres de Familia, ABC, 15.2.1933; Informes facilitados por la Confederación de Asociaciones de Padres de Familia, ABC, 18.2.1933; En Mitines y Asambleas..., ABC, 28.2.1933. Die gravierenden Organisationsprobleme bestanden auch 1933 weiter. Ein führender Vertreter der FAE wies schon im Frühjahr explizit auf die „Notwendigkeit, sich zu vereinigen und einheitlich zu handeln“ hin und benannte damit ein Grundproblem der Elternvereine: Hispánicus, En torno al Ministerio de Instrucción Pública, Atenas 28, 15.3.1933. Hispánicus, En torno al Ministerio de Instrución Pública, Atenas 27, 15.2.1933; Movimiento Educativo, ebd. Las Asociaciónes Padres de Familia, Atenas 35, Dez. 1933. Vgl. weiterhin exemplarisch: Enrique Herrera Oria, La Asamblea de Padres de Familia en Granada, Atenas 52, Juni 1935. Eine Recherche in der elektronischen Datenbank von ABC ergibt beispielsweise für die Zeit vom 1. März 1933 bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges nur mehr zwei Treffer für das Stichwort „Asamblea de Padres de Familia“ (17.7.1934, 16.1.1935). Beide Berichte beziehen sich nicht auf die Madrider Organisation. Selbst Atenas, das Sprachrohr der katholischen Bildungsbewegung berichtete nach dem Frühjahr 1933 kaum mehr über lokale Aktionen der Elternverbände. Lediglich die Organisation in Navarra entfaltete, folgt man der Berichterstattung, in den letzten Jahren der Republik nennenswerte Aktivität. Siehe etwa: La Asamblea de Pamplona, Atenas 49, März 1935.
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Abwehr der Gefahr einer unmittelbaren Säkularisierung des Schulwesens und die mittelfristige Rettung der katholischen Schulen senkten den Anreiz, sich für die katholische Sache zu engagieren, deutlich. Wie der Elternverband entfaltete auch die Vereinigung katholischer Lehrer zu keinem Zeitpunkt die organisatorische Strahl- und Anziehungskraft, welche sich die katholischen Reformer von ihr erhofft hatten; sie blieb ein zwar nicht unbedeutender, aber doch auf einen engen Kreis kirchennaher Lehrer beschränkter Interessenverband, der es an Einfluss nicht mit dem mitgliederstarken allgemeinen Volksschullehrerverband und auch nicht mit den linksrepublikanisch orientierten Verbänden aufnehmen konnte. Nachdem der Lehrerverband in den Anfangsmonaten der Republik kaum sichtbar gewesen war, unternahm die FAE seit Herbst 1932 einen neuen Anlauf der sowohl politischen als auch pädagogischen Organisation von Volksschullehrern. Atenas richtete zum Schuljahr 1932/33 eine neue Sektion für Lehrer ein, in der Artikel für einen Zusammenschluss der ihrer Meinung nach zu isoliert voneinander tätigen katholischen Erzieher warben und auf eine „Erneuerung“ des Lehrerstandes drängten: Es müssten „neue Lehrer heroischen Typs“ herangebildet werden.105 Um diese Ziele zu erreichen, veranstaltete die FAE Fortbildungskurse und -reisen und regte im Frühjahr 1933 die Gründung eines neuen Dachverbandes Federación Católica de Maestros (Föderation katholischer Lehrer) an, der die fortbestehende Trennung in Verbände von Lehrern an öffentlichen Schulen und Assoziationen von Privatschullehren aufheben sollte. Ein großer Kongress zu Ostern 1933 gab den Startschuss dazu, „durch eine grundlegende Erneuerung eine neue effektive und mitreißende Organisation“ zu schaffen.106 Die Föderation unter ihrem Präsidenten Félix de Mora Granados war eng an die FAE angebunden – Enrique Herrera und Isidro Almazán saßen im Beirat des Verbandes – wurde mit umfassenden Eingriffsrechten in die einzelnen lokalen und regionalen Verbände ausgestattet und hatte das Ziel, die kirchennahe Lehrerschaft zu einigen und sie stärker als zuvor pädagogisch zu bilden.107 Allerdings blieb die Wirkung des organisatorischen Neubeginns beschränkt, nicht zuletzt aufgrund der weiter bestehenden sehr unterschiedlichen beruflichen Interessen der unterschiedlichen Lehrergruppen. Der Aufbau lokaler und regionaler Untergliederungen zog sich hin und noch 105
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Una nueva Sección. Al Magisterio Católico. Deseos y propósitos, Atenas 23, 15.10.1932; Paquita Montilla, De nuestros días ¡Renovarse! ebd.; J.M. Gómez Lozano, Al pasar....Maestros Nuevos, ebd. Federación católica de los Maestros españoles, La Enseñanza Cristiana, Beilage 451, Febr. 1933; La Enseñanza Católica, ebd.; Luis Ibánez, Sobre Federación, La Enseñanza Cristiana 453, Apil 1933. Siehe zur Lage Anfang 1936: Clausura de la Asamblea de Maestros Católicos, Ya, 4.1.1936. Siehe etwa: Asamblea de la Federación Católica de los Maestros españoles, Atenas 47, Jan. 1935; Asamblea de la Federación Católica de Maestros Españoles, Atenas 57, Jan. 1936.
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III. Aushandlungen
im Januar 1936 kämpfte die Föderation um die öffentliche Anerkennung als bildungspolitisch ernstzunehmender Akteur.108 Besser als die zumeist knappen Erfolgsmeldungen charakterisierten wiederkehrende Klagen über die schwer zu durchbrechende Selbstisolierung der kirchennahen Lehrer die Organisationsentwicklung. Während die Welt „zu neuen Formen des Zusammenschlusses voranschreite“, so bedauerte Isidro Almazán im April 1933, verspürten die katholischen Lehrer nicht „die vitale Bedeutung der Vereinigung. [. . . ] Die Lehrer der katholischen Schulen kennen in ihrer Mehrheit noch nicht einmal die Organisationen, welche ihre natürlichen Interessenverbände sein sollten.“109 Vieles deutet zudem darauf hin, dass die meisten Mitglieder in ihrer Organisation vor allem einen sozialen Zusammenschluss Gleichgesinnter erblickten.110 Dieser Umstand war wesentlich dafür verantwortlich, dass sich die neue Föderation weitgehend auf interne Versammlungen und von der FAE durchgeführte Fortbildungsarbeit beschränkte und kaum öffentlich hervortrat.111 In der Analyse von Organisation, Kampagnen und Mitgliedschaft der AFAR, des katholischen Elternverbandes und schließlich des katholischen Lehrerverbandes zeigen sich die Möglichkeiten, vor allem aber das Scheitern einer politischen Mobilisierung des katholischen Erziehungsmilieus. Zwar gelang der Kirche die Entfachung breiter Protestbewegungen von Eltern gegen die Schließung der religiösen Privatschulen, doch diese Bewegungen umfassten nur einen kleinen Teil der Elternschaft und verebbten jeweils kurze Zeit nach dem Wegfall des unmittelbaren Mobilisierungsanlasses. Schon im Frühjahr 1932 kritisierte Aspiraciones, dass zwar viele Katholiken über die republikanischen Gesetze klagten, sich aber nur die wenigsten dazu bereit fänden, offensiv für die katholische Sache einzustehen.112 Auch die wiederkehrenden Warnungen der Redaktion von Atenas im Herbst 1933 vor politischer Sorglosigkeit und davor, die Gefahren für die Kirche nicht ernst zu nehmen und nach dem praktischen Scheitern des Ordensgesetzes erneut in Passivität zu verfallen, deuten auf deutliche Grenzen der Bereitschaft hin, sich dauerhaft für die katholische Bewegung zu engagieren.113 Eine wichtige Erklärung für diese Grenzen liegt in Interessenkonflikten und unterschiedlichen Zielvorstellungen innerhalb der katholischen Bil108 109 110 111 112 113
Siehe etwa: Movimiento Educativo, Atenas 50, April 1935; Asamblea de la Federación Católica de Maestros Españoles, Atenas 57, Jan. 1936. Isidro Almazán, Ante la Escuela laica. Instrucciones necesarias, Atenas 29, 15.4.1933. Siehe etwa den Bericht über die Madrider Vereinigung: La Enseñanza Católica, El Magisterio Español, 14.4.1931. Magisterio. Momento societario, Atenas 30, 15.5.1933. Siehe weiterhin: Movimiento Educativo, Atenas 45, Nov. 1934; Del momento, Atenas 60, April 1936. Sendra, Menos lamentos y más obras, Aspiraciones 7, 27.2.1932. Sehr ähnlich: ¡La crisis del valor! Aspiraciones 8, 5.3.1932; Llamamiento, Aspiraciones 14, 14.4.1932. La Redacción: A nuestros lectores, Atenas 33, Okt. 1933; Señores: y ahora ¡A empezar! ¡Hablaremos de política! Atenas 34, Nov. 1933.
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dungsbewegung. Dies lässt sich anschaulich an der im Herbst 1932 intensiv geführten Debatte darüber darstellen, ob die katholischen Bewegung sich eher für die Einrichtung eigener katholischer Volksschulen oder aber für die Beeinflussung der Staatsschulen durch die Ausbildung einer neuen Generation aktiv-christlicher Lehrer einsetzen sollte. Diese Debatte knüpfte in vielem an die Auseinandersetzungen der 1920er Jahre zwischen den Verfechtern eines Ausbaus der Ordensschulen zu einem konkurrierenden Schulsystem und den Befürwortern einer Missionierung des öffentlichen Schulwesens an, erhielt angesichts der Säkularisierung der öffentlichen Schulen nach 1931 jedoch eine neue politische Bedeutung. Auf der einen Seite gab es starke Kräfte unter den katholischen Aktivisten Madrids, die für den Aufbau eines parallelen katholischen Volksschulwesens plädierten, in das auch die katholisch gesinnten Lehrer der öffentlichen Schulen überwechseln sollten. In einem Kampf der Systeme sollte das katholische Bildungswesen seine Überlegenheit zeigen und die öffentlichen Schulen langfristig marginalisieren. Demgegenüber wollte die FAE die öffentlichen Volksschulen nicht den republikanischen Kräften überlassen, machte in einer realistischen Einschätzung auf die immensen materiellen Kosten aufmerksam, die ein eigenständiges Schulsystem verursachen würde, und zweifelte, ob genügend Lehrer bereit seien, an die katholischen Schulen zu wechseln. Statt eines offenen Machtkampfes und eines in ihrem Verständnis bloß äußeren, organisatorischen Sieges befürworteten sie, in der Konsequenz der sich seit 1900 durchsetzenden Reformposition, die Strategie einer allmählichen Missionierung der öffentlichen Schulen durch eine neue Generation christlicher Pädagogen. Katholische Volksschulen sollten nur dort gegründet werden, wo Schulen fehlten, und ansonsten im Primarbereich eher als Modelleinrichtungen fungieren, in denen neue pädagogische Vermittlungsformen erprobt und präsentiert werden sollten114 Statt einer Strategie der defensiven Abschottung innerhalb eines katholischen Lagers verfochten die maßgeblichen Reformer den Plan einer offensiven Mission des Bildungswesens. Das Scheitern einer dauerhaften Mobilisierung von Bildungsexperten und Eltern hatte bedeutende Auswirkungen auf die bildungspolitischen Strategien der katholischen Reformer. Im Lauf der Republik sahen sie immer mehr von dem Ziel der Entfachung einer breiten öffentlichen Protestbewegung ab und legten den Hauptimpuls ihrer Tätigkeit auf die langfristige Ausbildung einer neuen katholischen Elite. Erzieher wie Heranwachsende sollten durch intensive Schulung und Ausbildung zu aktiven Katholiken und Vermittlern katholischer Politik gemacht werden. Statt eines bildungspolitischen Umstur114
Siehe als Zusammenfassungen der Debatten: A. Martínez de la Nava, Más de la Escuela Católica. Del mal al bien, Atenas 24, 15.11.1932; A. Martínez de la Nava ¿Muchas Escuelas? ¿Buenas Escuelas? Atenas 25, 15.12.1932; Escuelas católicas, Atenas 26, 15.1.1933; Escuelas católicas, Atenas 28, 15.3.1933; La creación de Escuelas católicas, Atenas 32, 15.7.1933.
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zes plante die FAE in den letzten Jahren der Republik einen langen Marsch durch die Institutionen, um eines Tages aus dem Inneren der Bildungsverwaltung und des Staatsapparates heraus eine religiöse Neuordnung der Gesellschaft zu erreichen. Die Bildungspolitik verlagerte sich auf den Bereich der Aus- und Weiterbildung des eigenen pädagogischen Personals. Auf diese Weise sollte dem „Mangel an Männern, die sich auf der Höhe der Zeit bewegen“ begegnet werden: „Zuerst die Vorbereitung des Personals, danach das Einwirken auf die öffentliche Meinung“.115 Zugleich zielten die katholischen Reformer darauf, durch eine pragmatisch angelegte Bildungspolitik der Kirche Gestaltungsspielräume im Bildungsbereich zu erhalten. Im Einzelfall war die FAE durchaus bemüht, als bildungspolitischer Akteur ernst genommen zu werden und die Bildungspolitik der unterschiedlichen Regierungen im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu beeinflussen. Die Reformer versuchten, durch einen hartnäckigen Kampf im Detail den Spielraum der katholischen Schulen und Lehrer möglichst weitgehend auszudehnen und juristische Schlupflöcher und vage Formulierungen dazu zu nutzen, die Säkularisierung des Bildungswesens aufzuhalten.116 Diese Strategie wurde durch die republikanische Politik begünstigt, die, wie gesehen, vor radikalen Eingriffen in das katholische Schulwesen zurückschreckte. In der Praxis begann sich die katholische Bildungsbewegung somit allmählich, an die republikanische Realität anzupassen. Ein politischer Regimewechsel wurde zwar als äußerst wünschenswert erachtet, doch war dieser nicht das Entscheidende. Nicht zuletzt die Auffassung, dass die Herrschaft der liberalen Erzieher über das Bildungsministerium auch während der kirchenfreundlichen Diktatur Primo de Riveras fortbestanden habe, bestärkte die Reformer in der Ansicht, dass der Kampf gegen die Säkularisierung in Staat und Schule nicht, oder zumindest nicht allein mit politischen Mitteln zu gewinnen sei, sondern der Ausbildung einer neuen Riege von Erziehern, Eltern und Schülern bedurfte.
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Señores: y ahora ¡A empezar! ¡Hablaremos de política! Atenas 34, Nov. 1933. Siehe weiterhin: Semana de estudios pedagógicos, Atenas 26, 15.1.1933; Instituto Pedagógico, Atenas 34, Nov. 1933; Realidades, Atenas 43, Okt. 1934; Zur Bedeutung der Schulungen im Jahr 1935 siehe: Rufino Blanco y Sánchez, Semanas pedagógicas, Atenas 58, Feb. 1936. Siehe nur die differenzierte Debatte des Projektes der Bildungszertifikate im Frühjahr 1936: Hispánicus, Arrecia la persecucción contra la enseñanza privada, Atenas 60, April 1936; El Certificado de Enseñanza primaria, Atenas 60, April 1936.
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1.3 Auf der Suche nach der „integridad profesional“. Lehrer und sozialpädagogische Kinderexperten unter der Zweiten Republik117 Welche Resonanzen fanden die katholischen Vorstellungen von Gesellschaftsreform in weiteren Kreisen der Kinderexperten? Anhand einer etwas genaueren Untersuchung der Lehrerschaft sowie medizinisch-sozialpädagogischer Kinderspezialisten soll das Mit- und Gegeneinander von professionellen und politischen Interessen detaillierter entschlüsselt werden. Wie wir gesehen haben, gelang es weder den republikanischen Kräften noch der katholischen Kirche, eine Mehrheit der Lehrer für ihre politischen Projekte zu gewinnen. Eine Durchsicht der Zeitungen der verschiedenen Lehrerverbände zeigt schnell, dass allgemeine politische Fragen selbst in den Hochzeiten politischer Spannungen stets nur einen Teil der Debatten bestimmten. Zwar politisierten sich – verstärkt seit den 1920er Jahren – bestimmte Lehrergruppen, doch eine allgemeine Polarisierung der Lehrerschaft in zwei weltanschauliche Lager lässt sich nicht feststellen. Die Lehrerschaft war nicht unpolitisch, doch war ihre Haltung zur Republik sehr viel komplexer, widersprüchlicher und im Zeitverlauf dynamischer als das Theorem einer einfachen Polarisierung nahe legt. Die besonderen Erfahrungen von politischem Wandel und Bildungsreformen förderten insbesondere ein professionelles Selbstverständnis als Kinderexperten, das quer zu den parteipolitischen Konflikten lag, beziehungsweise auf unterschiedliche Weise politisch aufgeladen werden konnte. Zunächst darf eine tatsächlich zu beobachtende Politisierung von Teilen der Lehrerschaft nicht außer Acht gelassen werden. Diese wurde durch einen Generationenkonflikt zwischen Junglehrern und -lehrerinnen ohne eigene Schule (maestros interinos) und den im Besitz einer festen Lehrerstelle und Schule befindlichen Pädagogen (maestros proprietarios) befördert. Gerade die während der Republik ausgebildeten Junglehrer besaßen zumeist eine bessere, an der neuen Pädagogik orientierte Ausbildung. Viele von ihnen verinnerlichten das republikanische Reformprogramm und wurden, so schien es zumindest ihren älteren Kollegen, bei der Besetzung von Inspekteurs- und Leitungsstellen an den Schulen bevorzugt. Gleichzeitig blieb ihre berufliche Zukunft unsicher, viele mussten lange auf eine Festanstellung warten und wurden deutlich schlechter bezahlt als ihre älteren Kollegen. Trotz der Neugründung zahlreicher Schulen war 1935 die Arbeitslosigkeit von jungen Lehrern und Lehrerinnen ein großes Problem.118 117 118
Zitat: De Política, El Magisterio Español, 14.4.1931. Siehe hierzu bes.: La Asamblea de la Asociación Nacional, Boletín de la Asociación de Maestros de las Escuelas Nacionales de Madrid 12, 1.5.1934; Noticias, Escuelas de España 20, Aug. 1935, S. 392; Actividades de la Asociación Nacional del Magisterio, Es-
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Diese generationellen Konflikte führten vor allem in den letzten Jahren der Republik zu Spannungen innerhalb des überparteilichen Volksschullehrerverbandes (Asociación Nacional del Magisterio Primario), der in den frühen 1930er Jahren 18 bis 20 000 Mitglieder besaß. Gruppen von Junglehrern drängten auf eine Reform der „archaischen Struktur und des traditionellen Geistes“, den sie an der Verbandsspitze ausmachten.119 In ihre Kritik mischten sich generationelle Interessen mit weitergehenden pädagogischen und gesellschaftspolitischen Reformprogrammen. Im September 1935 beklagte etwa die verbandskritische Redaktion der reformorientierten Lehrerzeitschrift Escuelas de España, dass der Verband die Interessen der jungen Lehrer und Lehrerinnen, die ihren Anspruch auf eine Lehrerstelle in den staatlichen Abschlussprüfungen (oposiciones) der Jahre 1928, 1931 und 1933 erworben hatten, nicht beachte. Als Resultat verweigerten sich viele einer Mitarbeit im Verband, dessen jüngste Mitglieder deshalb bereits um die 40 Jahre alt seien.120 Doch die Konflikte gingen über die, für die Betroffenen allerdings äußerst wichtigen, materiellen Fragen hinaus. Angesichts der neuen kinderpsychologischen und pädagogischen Erkenntnisse wollten Gruppen von Junglehrern den Lehrerverband und die Lehrerschaft allgemein von einer bloßen Standesvertretung zu einem pädagogischen Reforminstrument umgestalten, das sich aktiv in die Erneuerung von Schule und Gesellschaft einschalten sollte. Aus dem Umkreis dieser Lehrergruppen gründete sich beispielsweise in Madrid im Sommer 1935 eine Vereinigung der Freunde der Volksbildung (Asociación de Amigos de Enseñanza Popular), die angesichts des wahrgenommenen Reformstaus in der staatlichen Bildungspolitik eigene Modellschulen gründen wollte. Gleichzeitig sollten diese Schulen arbeitslosen Junglehrern Beschäftigung geben. Deutlich zeigt sich die Politisierung von Gruppen in der Lehrerschaft auch in der politischen Aufladung berufsständischer Wahlen, etwa den Vorstandwahlen des Madrider „Haus des Lehrers“.121 Die generationellen Konflikte in der Lehrerschaft begünstigten gerade in den großen Städten den Aufschwung linksorientierter Konkurrenzorganisationen zum allgemeinen Volksschullehrerverband wie sie die Confederación Nacional de Maestros (Nationale Lehrerkonföderation) und der Federación de Trabajadores de la Enseñanza (Förderation der Bildungs- und Erziehungs-
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cuelas de España 21, Sep. 1935; Agrupación Salmantina de Maestros sin Colocación, El Sol, 2.1.1936. Die Grundlagen dieser Konflikte skizziert sachkundig: Pozo Andrés, Educadores. Asamblea de la Nacional, in: Escuelas de España 17, Mai 1935, S. 243–45. Zu den Mitgliederzahlen dort sowie in: Asociación Nacional del Magisterio, in: RdP 126, Juni 1932. Actividades de la Asociación Nacional del Magisterio, Escuelas de España 21, Sep. 1935. AEP, Escuelas de España 20, Aug. 1935, S. 392. Zu den pädagogischen Reformforderungen siehe auch: Agrupación Salmantina de Maestros sin Colocación, El Sol, 2.1.1936. Zu den Vorstandswahlen siehe die retrospektive Schilderung: Stellungnahme Antonio Garcia Izquierdo, 10.12.1940, Fallakte Dorotea G., AGA 5/1.30, 32/13152.
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arbeiter, FETE), welche beide der Sozialistischen Partei nahestanden und neben kleinen Gruppen linker Veteranen gerade Junglehrer ansprachen.122 In Madrid lässt sich die seit 1933 öffentlich sichtbare Asociación de Maestros de las Escuelas Nacionales de Madrid (Vereinigung der Lehrer der staatlichen Schulen Madrids) diesen links-republikanisch orientierten Organisationen zurechnen. Diese Gruppierungen hatten schon 1931 tiefgreifende pädagogische Reformen im Sinne der neuen Pädagogik eingefordert und mit Rudolfo Llopis den ersten Generaldirektor für das Primarschulwesen gestellt.123 In den folgenden Jahren entwickelten sie sich zu scharfen Kritikern eines ihrer Ansicht nach zu schleppenden Verlaufs der Bildungsreformen. Auf der Gründungsversammlung einer laizistischen Liga de la Enseñanza (Bildungs- und Erziehungsliga) kritisierten etwa linke Pädagogen schon Anfang 1932, dass viele öffentliche Schulen in Madrid nicht nur weiter ihren Schülern religiöse Inhalte vermittelten, sondern allgemein in „ihrem Unterricht fortfahren, als ob es die spanische Republik nicht gebe“.124 Die Frustration darüber, dass sich die republikanischen Reformen noch nicht einmal in den öffentlichen Schulen der Hauptstadt umsetzen ließen, verband sich in den folgenden Jahren mit der Kritik am allgemeinen Volksschullehrerverband. Vor dem doppelten Hintergrund politischer wie persönlich-beruflicher Blockadeerfahrungen avancierten die links-republikanischen Lehrergruppen zu den stärksten Befürwortern radikaler republikanischer Reformen und eines entschiedenen Vorgehens gegen die Ordenserziehung. Im Frühjahr 1936 waren vor allem sie es, die beim Bildungsminister intensiv für sofortige Maßnahmen gegen die religiösen Ordensschulen eintraten.125 Die Politisierungstendenzen dürfen nicht unterschätzt werden. Doch stand ihnen eine Reihe von Faktoren gegenüber, welche einer weltanschaulichen Polarisierung der Lehrerschaft entgegenwirkten. Dabei kam es auch hier zu Allianzen und Konfliktlinien, die sich einer simplen Klassifizierung in moderne und traditionelle, laizistische und katholische Pädagogen widersetzen. Zunächst wirkten gemeinsame Standesinteressen gegenüber der Bildungsverwaltung, etwa hinsichtlich der Regelung der Auswahl und Ver122
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Die FETE soll Anfang 1933 7 000 Mitglieder in ganz Spanien gehabt haben: V.Z., La géstion ministerial: ¿Han triunfado las izquierdas o las derechas? El Magisterio Español, 3.1.1933. Als erste Ansätze der bisher kaum erforschten Geschichte der Lehrerverbände siehe: Francisco de Luís Martín, Historia de la FETE, Madrid 1997; Ders., La FETE en la Guerra Civil Española (1936–1939), Barcelona 2002. Siehe nur die programmatischen Forderungen: Sesión de clausura de la Asamblea de la Confederación Nacional de Maestros, El Magisterio Nacional, 2.1.1932; Federación Castellano-leonesa del Magisterio, El Magisterio Español, 2.1.1932. Liga de Enseñanza, El Magisterio Nacional, 12.1.1932. Siehe auch: José Pla Arnandis, Necesidad de la Cooperación, El Magisterio Nacional, 19.1.1932. Die enttäuschten Reformhoffnungen dieser Gruppe formuliert sehr plastisch: V.Z., La géstion ministerial: ¿Han triunfado las izquierdas o las derechas? El Magisterio Español, 3.1.1933. Weiterhin: Al margen de la ley, Atenas, Mai 1936; Hispánicus, Rumbo de la educación española, Atenas 61, Mai 1936.
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setzung von Lehrern, als einigendes Band über weltanschauliche Grenzen hinweg.126 Darüber hinaus beförderten ähnliche Erfahrungen im Alltag einen Schulterschluss. Vor allem der sich nach 1931 verfestigende Eindruck, gestiegenen Anforderungen seitens der öffentlichen Meinung, der staatlichen Bildungsreformer und der Elternschaft ausgesetzt zu sein, ohne adäquate Mittel zur Bewältigung dieser Anforderungen zu erhalten, einte viele Pädagogen und förderte die Entstehung eines defensiv ausgerichteten Korpsgeistes. So sahen sich viele Lehrer seit 1931 einer neuen Überwachung durch die Schulinspekteure ausgesetzt, deren Stellung als Transmissionsriemen der republikanischen Erneuerungspolitik durch die neue Bildungsadministration deutlich gestärkt wurde.127 Zugleich bürdeten ihnen neue didaktische Ansprüche der Bildungsverwaltung wie etwa die Aufforderung, anders als in der Vergangenheit die einzelnen Schulstunden vorzubereiten, um bessere pädagogische Resultate zu erziehen, neue Arbeit auf. Ein Lehrer errechnete empört, dass er um dieser Forderung unter den aktuellen Umständen Genüge zu tun, täglich fast zehn Stunden arbeiten müsste, wobei in dieser Zeitangabe das als notwendig erachtete persönliche Studium zur Weiterbildung noch nicht einmal eingerechnet sei.128 Schließlich standen viele Lehrer auch der Zusammenlegung ihrer Kleinstschulen, die sie als einzige Lehrkraft sehr autonom leiten konnten, in mehrklassige Volksschulen skeptisch gegenüber, bedeutete es doch in der Praxis eine neuartige Unterordnung unter einen Schulrektor oder eine Schulrektorin.129 Parallel zu den neuen Anforderungen und Kontrollansprüchen der Bildungsverwaltung und der Inspekteure wuchs gerade an den städtischen Schulen Madrids der Druck auf die Lehrer seitens der Elternschaft und der städtischen Presse. Die Erzieher nahmen dies häufig als ungerechtfertigte Einmischung in ihren Tätigkeitsbereich war. Doch darüber hinaus trug die neue Sensibilität der publizistischen Öffentlichkeit in Fragen von Kindheit und Erziehung dazu bei, dass das Verhalten von Lehrern genauer beobachtet und auf neue Weise öffentlich und skandalträchtig wurde. So führten die hygienischen Zustände einer Volksschule Anfang 1932 ebenso zu einem wahren „Presseskandal“ in Madrid wie das Verhalten eines Volksschullehrers, 126
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Siehe etwa die Forderungen: Asamblea de la Asociación de Catedráticos de Institutos Nacionales, La Enseñanza, 9.1.1932; En nuestra casa, Presentación del frente único, BdAMM 10, 1.3.1934. Zu den sich daraus ergebenden Konflikten in der Interaktion von Inspekteuren und Lehrern siehe: Inspectores y maestros, Atenas 34, Nov. 1933; Martí Ferrándiz, Utopías. Siehe auch die ältere Arbeit: Alfredo Jiménez Equizabel, La Inspección de Primera Enseñanza en la Segunda República Española (1931–1936), Salamanca 1984. Dos recortes interesantes, El Magisterio Español, 3.1.1933. Siehe etwa die ambivalente Haltung selbst eines reformbefürwortenden Lehrers: Félix Arranz, De la labor en las unitarias: Lo que hago en mi escuela, Boletín de la Asociación de Maestros de las Escuelas Nacionales de Madrid 18, 1.1.1936. Weiterhin: Agrupación de Directores de Escuelas graduadas de seis ó más Secciones, El Sol, 10.1.1936.
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der einen Schüler zur Strafe für das Werfen von Schneebällen im Winter mit kaltem Wasser abgeduscht haben sollte.130 Auch wenn beide Fälle für die betroffenen Lehrer keine dienstrechtlichen Konsequenzen nach sich zogen, werfen sie doch ein Licht auf neue, für die Lehrer so ungewohnte wie belastende öffentliche Eingriffsversuche in das Binnenleben von Schulen. Zu den oft als ungerechtfertigte Zumutungen empfundenen neuen Ansprüchen an die Lehrer trat auch eine Enttäuschung über die mit großen Erwartungen begleiteten praktischen Reformmaßnahmen. Die Kritik an den Reformen, die aufgrund ihrer Ausrichtung auf den Neubau von Schulen die materielle Stellung der Lehrer zunächst weniger als erhofft verbesserten und zudem zu vielen Alltagsproblemen führten, nahm zu. Lehrervertreter beklagten unfertige Gebäude, fehlendes Mobiliar und Heizmaterial sowie Chaos und Vetternwirtschaft in der Besetzung von Lehrerstellen. Die forcierte Säkularisierungspolitik erhöhte, wie gezeigt, zumindest im Herbst 1933 die praktischen Probleme, da sie einen zusätzlichen Impuls für einen Neubau von Schulen leistete, ohne dass in ausreichendem Maße materielle und personelle Kapazitäten in den Kommunen für diese Aufgabe existierten. Trotz intensiver und oft aufopferungsvoller Tätigkeit waren die lokalen Bildungsverwaltungen und städtischen Planungsbehörden heillos überlastet.131 Der reale oder auch bloß angenommene Druck auf die Madrider Lehrer führte zusammen mit der Ernüchterung angesichts der zahlreichen Folgeprobleme des scharfen Reformtempos bald zu einer deutlichen Distanzierung gegenüber der republikanischen Ordnung. Anfangs war die Republik zunächst bis weit in konservative Lehrerkreise hinein begrüßt worden, da sie nicht nur eine bessere Bezahlung, sondern auch eine Aufwertung von Bildungsfragen und eine Steigerung des sozialen Prestiges des Lehrerberufes versprachen.132 Doch die Erfahrungen der Bildungspolitik erschwerten bei einer großen Gruppe der Lehrerschaft, vielleicht sogar bei ihrem überwiegenden Teil, eine emphatische Identifizierung mit der Republik als Staatsform. Jenseits der Kreise politisierter Pädagogen versuchten die meisten Lehrer, eine professionelle Distanz zu parteipolitischen Fragen zu wahren und eine moderate Position zwischen pädagogischen Avantgardisten und Traditionalisten zu finden. Der Lehrerverband von Cordoba fasste wohl die Meinung vieler Lehrer zusammen, als er Anfang 1932 formulierte: „Wir fühlen die Unruhe der Erneuerung; aber seien wir umsichtig in der Aufnahme des Neuen, 130
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A la Junta Municipal de Primera Enseñanza, 4.2.1932, AVM, Instrucción Pública 29/453/53; Secretario del Ayuntamiento an Junta Municipal de Primera Enseñanza, 27.1.1933, AVM, Instrucción Pública 29/450/22. Nach einer internen Untersuchung konnte die Junta die zuerst in der anarchistischen Zeitschrift La Tierra geäußerten Vorwürfe nicht bestätigen. Siehe nur: Caos en la Enseñanza Española, Atenas 35, Dez. 1933. Siehe etwa: Al Comenzar Nuevo Año, El Magisterio Español, 2.1.1932; Al Comenzar el Año, El Magisterio Español, 3.1.1933; ONIHOM, Prudencia en las innovaciones, El Magisterio Cordobés 204, 30.1. 1932.
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III. Aushandlungen
verachten wir nicht unhinterfragt und pauschal das Alte.“133 Die Verbandspolitik des allgemeinen Volksschullehrerverbandes stärkte diese Positionund war bis in den Sommer 1936 hinein um Überparteilichkeit bemüht. Schon am 14. April 1931, dem Tag der Republikgründung, proklamierte die Verbandszeitschrift El Magisterio Español, ihre Aufgabe sei „es lediglich, solche Dinge zu studieren, auszuführen und zu propagieren, welche die Primarlehrer als Klasse betreffen, als Berufsverband (cuerpo profesional), welche die Beachtung aller Politiker verdient.“134 Das Pochen auf der „integridad profesional“, auf der Einheit des Berufsstandes, entsprach einerseits dem durch die turbulente politische Geschichte der vergangenen Jahre gestärkten Interesse, eine zukünftige Verhandlungsposition gegenüber dem Staat nicht durch eine eindeutige politische Positionierung zu gefährden. Es folgte andererseits aber auch organisationsegoistischen Interessen, wollte doch die Vereinigung auch unter dem neuen Regime ihre hegemoniale Position als Dachverband und Sprachrohr möglichst aller Lehrer und örtlichen Lehrerverbände wahren. Es gelang dem Verband tatsächlich bis zum Bürgerkrieg, durch eine betont unpolitische Haltung den Großteil der Lehrer an sich zu binden. Er erreichte diese Einbindung auch durch eine überraschende publizistische Liberalität. El Magisterio Español berichtete nicht nur in gleichem Maße von den Veranstaltungen der katholischen und der linken Lehrerverbände, sondern publizierte darüber hinaus sowohl Kommentare streng katholischer als auch sozialistischer Lehrer, so lange sich diese auf Bildungsfragen beschränkten und keine antiklerikalen Forderungen stellten.135 Selbst seine schärfsten Kritiker, welche dem Verband fehlende Dynamik, Konzept- und Ideenlosigkeit vorwarfen, mussten 1935 zugeben, dass die meisten Lehrer sich ihm sehr verbunden fühlten und seine Ausrichtung „am besten den Gemeinschaftsgeist (espíritu societario) der öffentlichen Lehrerschaft wiedergibt“.136 Viele Lehrer distanzierten sich vom republikanischen Programm der Gesellschaftsreform, ohne allerdings damit zu Regimegegnern zu werden. Sie entwickelten ein Selbstverständnis als unpolitische Bildungs- und Erziehungsexperten beziehungsweise betonten dieses auf neue Weise und konnten sich dabei durchaus auf Forderungen republikanischer Pädagogen nach einer Trennung von Politik und Schule berufen, die oben erläutert wurden. Das Beharren auf Professionalität und Überparteilichkeit half vielen Lehren in sehr praktischer Weise, Eingriffe seitens der Eltern und der Politik in ihren
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Ebd. De Política, El Magisterio Español, 14.4.1931. Vgl. nur Libros y Revistas: Historia Sagrada, El Magisterio Español, 6.2.1932; V.Z., La géstion ministerial: ¿Han triunfado las izquierdas o las derechas? El Magisterio Español, 3.1.1933. Asamblea de la Nacional, in: Escuelas de España 17, Mai 1935, S. 243–45.
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Verantwortungsbereich abzuwehren und sich selbst der Öffentlichkeit als Bewahrer nationaler Kultur und Einheit zu präsentieren. Weiterhin weisen auch Berührungspunkte zwischen den verschiedenen Lehrerverbänden und ihren Vertretern, die es auf der lokalen Ebene selbst 1936 noch gab, auf Grenzen gesellschaftlicher Polarisierung hin. Das „Haus des Lehrers“ existierte bis zum Bürgerkrieg als, wenn auch politisch umkämpfte, überparteiliche Einrichtung, und es gab auch gemeinsame Veranstaltungen der lokalen Lehrerbünde. Am 29. Januar folgten beispielsweise Vertreter der meisten Verbände einer Einladung der FAE zu einer gemeinsamen Diskussion im Madrider Ateneo. Neben Vertretern der FAE und der ebenfalls katholischen Junta de Defensa de Madrid traten auch Funktionäre der sozialistischen FETE und der Asociación de Amigos de la Enseñanza Popular auf. Zwar existierten selbstverständlich erhebliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den Gruppen, doch der Umstand, dass eine solche Veranstaltung kurz vor den Volksfrontwahlen überhaupt möglich war und das Publikum einem Berichterstatter zufolge allen Rednern applaudierte, deutet darauf hin, dass gemeinsame Berufsinteressen politische Differenzen deutlich abschwächen konnten.137 Der Eindruck einer politisch nicht eindeutig festgelegten Mehrheit der Lehrer sowie von Berührungspunkten zwischen den politischen Flügeln der Lehrerbewegung wird bestärkt durch eine Durchsicht von politischen Säuberungsakten, die das Franco-Regime nach Kriegsende anfertigte. Jeder Lehrer, der im franquistischen Staat weiterbeschäftigt werden wollte, musste sich einer, oft langwierigen und beschämenden politischen Überprüfung unterziehen, in der seine religiöse und regimetreue Einstellung anhand von Zeugenaussagen und Dokumenten kontrolliert wurde. Die Akten sind zur Beurteilung der Zeit vor 1936 sehr vorsichtig zu verwenden, da es im Interesse der Antragsteller lag, sich als unpolitisch darzustellen.138 Doch erlauben sie trotz aller Limitierungen einige Aussagen im Kontext der uns interessierenden Fragen. Zunächst fällt bei einer Durchsicht der Fallakten Madrider Lehrer und Lehrerinnen auf, wie gut sich oft Pädagogen über politische Lagergrenzen hinweg kannten. Beurteilungen linker Sympathien verdächtigter Lehrer durch katholische Pädagogen veranschaulichen, dass man sich in der 137 138
En el Ateneo de Madrid, BdAMM 18, 1.1.1936. Die beste Arbeit zu den Säuberungen ist: Pont Sastre, Magisterio. Siehe weiterhin: José Aquíles Pettenghi Lachambre, La Escuela Derrotada. Depuración y Represión del Magisterio en la Povincia de Cádiz (1936–1945), Cádiz 2005; Juan Manuel Fernández Soria u. a., Maestros Valencianos bajo el Franquismo. La Depuración del Magisterio, 1939– 1944, Valencia 1999; Ders./María del Carmen Agullo Díaz, La Depuración Franquista del Magisterio Primario, in: Historia de la Educación 16 (1997), S. 315–50; Francisco Morente Valero, La Escuela y el Estado Nuevo. La Depuración del Magisterio Nacional (1936–1943), Valladolid 1997; Alejandro Mayordomo Pérez, El Magisterio Primario en la Política Educativa de la Posguerra (1939–1945), in: Julio Ruiz Berrio (Hrsg.), La Educación en la España Contemporánea. Cuestiones Históricas, Madrid 1985, S. 263–72.
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III. Aushandlungen
Stadt trotz ideologischer Differenzen häufig begegnete und gut übereinander Bescheid wusste.139 Darüber hinaus berichten die Akten vielfach auch von einem gegenseitigen Respekt vor den professionellen Leistungen des Anderen trotz unterschiedlicher politischer und religiöser Einstellungen. So hielt die Madrider Säuberungskommission dem 58jährigen Lehrer José María Nosti Fúster im März 1941 zwar vor, atheistisch und Mitglied der republikanischen Partei Izquierda Républicana sowie weiterer linker Verbände gewesen zu sein, doch hob sie als milderndes Element seinen Respekt vor andersdenkenden Lehren unter der Republik hervor.140 Dieser Respekt war auch unter den führenden Pädagogen der beiden weltanschaulichen Lager anzutreffen. Der Vordenker der FAE Domingo Lázaro pflegte beispielsweise freundschaftlichen Kontakt zu Professoren des Freien Bildungsinstituts und lud sie zu Vorträgen an seine Schule, das Colegio de Nuestra Señora del Pilar, ein.141 Besonders jedoch zeigt eine Durchsicht der einzelnen Fallakten, wie fließend überhaupt die Grenzen zwischen katholischen und liberalen Positionen vor 1936 in vielen Fällen waren. Die klare Abgrenzung eines linksrepublikanischen und eines katholisch-traditionalistischen Lagers wird in dieser Perspektive als eine nachträgliche Erfindung der franquistischen Verfolgungspolitik erkennbar, welche ein praktisch-politisches wie ideologisches Interesse daran hatte, klare Frontlinien zu schaffen. Zwei Beispiele sollen dies illustrieren. Die 1879 geborene Lehrerin Dorotea G. musste sich nach Kriegsende einer sehr genauen Überprüfung unterziehen, da sie während des Bürgerkrieges als Erzieherin in einer Kinderkolonie an der Levante gearbeitet hatte und vor dem Herannahen der franquistischen Truppen mit den ihr anvertrauten Kindern nach Frankreich geflohen war, bevor sie im April 1939 nach Spanien zurückkehrte. Die eingeholten Gutachten enthielten jedoch zur Irritation der Säuberungskommission sehr unterschiedliche Bewertungen ihrer politischen und religiösen Einstellungen. Während einige Zeugen Dorotea G. als Person mit dezidiert „linken Ansichten“ beschrieben, betonten andere im Gegenteil ihre religiösen und nationalen Überzeugungen. Ein falangistischer Lehrer gab sogar 1941 zu Protokoll, dass sie in den Vorstandswahlen des „Hauses des Lehrers“ in Madrid 1935 den Kandidaten des katholischen Lehrerverbandes unterstützt habe.142 Nun kann nicht ausgeschlossen werden, dass einige der Zeugenaussagen Gefälligkeitszeugnisse waren, welche der Pädagogin eine Bestrafung ersparen wollten, doch die detaillierten Schilderungen legen insgesamt eher nahe, dass die Schwierigkeiten ihrer politischen Zuordnung daher rührten, dass sich Dorotea G. vor 1936 139 140 141 142
Schriftliche Aussage (Aval), Don Ricardo Urbano Melchor, Maestro de la Institución del Divino Maestro, 19.7.1941, AGA 5/1.30, 32/13157. Stellungnahme Commisión Depuración del Magisterio Madrid, 20.3.1941, Fallakte Fall: José María N. F., AGA 5/1.30, 32/13152. Salvaverri, Lázaro, S. 8, 227. Siehe die einzelnen Schriftstücke in der Fallakte Dorotea G., AGA 5/1.30, 32/13152.
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in einem Zwischenbereich zwischen den politisch-weltanschaulichen Polen bewegt und versucht hatte, religiöse Überzeugungen mit einer Aufgeschlossenheit für die neue politische Situation und neue pädagogische Ansätze zu verbinden. Noch besser dokumentiert ist der Fall der Pädagogin Dolores G., die 32 Jahre lang die Volksschule Concepción Arenal in Madrid als Direktorin geleitet hatte, und sich nach dem Bürgerkrieg ebenfalls mit dem durch mehrere Zeugenaussagen untermauerten Vorwurf konfrontiert sah, linken Überzeugungen anzuhängen und eine Sympathisantin des Freien Bildungsinstituts gewesen zu sein. Letzteres war nach 1939 ein sehr ernster Vorwurf, der den Entzug der Lehrerlaubnis zur Folge haben konnte. Tatsächlich gab Dolores G. offen zu, an Vorträgen und Konferenzen des berühmten liberalen Pädagogen und Leiters der ILE Manuel Cossío teilgenommen zu haben. Sie wehrte sich aber dagegen, von ihrem professionellen Interesse an neuen pädagogischen Methoden auf ihre politischen Einstellungen zu schließen – was tatsächlich eine grundlegende Operation der franquistischen Verfolgungsbehörden in der politischen Säuberung der Lehrerschaft bildete. Vielmehr erklärte sie: „Ich habe immer an allen Kursen und Vorträgen teilgenommen, die mir für meine persönliche Bildung und berufliche Weiterbildung nützlich erschienen“.143 Dass Dolores G. trotz dieser Aussage, die in den Augen des Säuberungskomitees wie eine Selbstbezichtigung klingen musste, keine Bestrafung erfuhr, lag nicht nur an ihrem Alter und dem in unserem Kontext signifikanten Hinweis, dass mit ihr auch viele führende Vertreter der katholischen Bildungsbewegung den Vorträgen Cossíos beigewohnt hatten, sondern an ihren kaum zu bezweifelnden Meriten als mutige Katholikin in den republikanischen Jahren. So hatte sie, wie mehrere Zeugen glaubhaft versicherten, vor 1936 nicht nur katholische Zeitschriften bezogen, sondern sie konnte gegenüber dem Ausschuss plausibel belegen, dass sie sich dem Kruzifix-Beschluss der Republik so lange wie möglich verweigert, eng mit dem örtlichen Pfarrer zusammengearbeitet und ihre Schüler jedes Jahr auf die Kommunion vorbereitet hatte.144 Ein Interesse für neue, nach 1939 politisch verdächtige Erziehungsmethoden und eine katholische Überzeugung waren für die Schulleiterin kein Widerspruch gewesen. Die Fallakte von Dolores G. zeigt stellvertretend erstens, dass es im pädagogischen Mikrokosmos von Madrid auch Bekanntschaften über weltanschauliche Grenzen hinweg gab, die erst der Kriegsbeginn gewaltsam zerstörte. Sie weist zweitens darauf hin, dass die Haltungen vieler Lehrer in den republikanischen Jahren sehr viel komplexer waren, als es die bislang dominierenden dichotomischen Modelle erwarten lassen. Sie enthält schließlich, drittens, An143 144
Stellungnahme Dolores G., 4.10.1940, ebd. Siehe auch die weiteren Schriftstücke in dieser Akte. Siehe besonders die Stellungnahme des Geistlichen Jesús Tores Losada vom 25.8.1939, ebd.
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III. Aushandlungen
haltspunkte dafür, dass das professionelle Ethos als Erzieher und Erzieherin in der Lehrerschaft ein deutliches Gegengewicht zu Politisierungstendenzen bildete. Trotz aller Gegensätze, die nicht verschwiegen werden dürfen, agierten die Erzieher beider Lager in einem sehr ähnlichen Koordinatensystem. Die Unterschiede in Einzelfragen zwischen ihnen erscheinen oft geringer als die Kluft, die beide Gruppen von traditionellen Erziehungsvorstellungen sowie von den im nächsten Kapitel verhandelten Interessen der meistem Eltern trennte. Noch deutlicher als in der Lehrerschaft zeigt sich die Bedeutung politische Uneindeutigkeit professioneller Überzeugungen unter medizinischen und sozialpädagogischen Kinderexperten. Zunächst kann festgestellt werden, dass viele Experten die publizistischen Lagergrenzen immer wieder überschritten. Der Mediziner Cesár Juarros (1879–1942), der sich seit der Jahrhundertwende als einer der führenden Experten im Bereich der Kindermedizin einen Namen machte, publizierte beispielsweise Artikel zur richtigen Kinderpflege sowohl in dezidiert katholischen und monarchistischen Zeitschriften als auch in der linksliberalen Presse. Im Jahr 1931 trat er in die Politik ein und kandidierte in den ersten Wahlen der Zweiten Republik für das republikanisch-sozialistische Bündnis in Madrid. Doch dieses links-republikanische Bekenntnis hielt die militant-katholische Illustrierte Esto im Jahr 1934 nicht davon ab, ihm ebenfalls ihre Spalten zu öffnen und seine Expertise zu loben.145 Einen ähnlichen Fall stellt der Mediziner Enrique Suñer Ordoñez (1878– 1941) dar, der ähnlich wie Juarros für eine Reform der Säuglings- und Kinderpflege eintrat. Suñer ordnete sich deutlich dem katholischen Reformspektrum zu, trat auf zahlreichen Tagungen der FAE als Redner auf und schrieb immer wieder für Atenas. Doch seine Ansichten zur Kinderpflege fanden auch im linksliberalen Spektrum Beachtung, wie ein Aufsatz von ihm in der republiknahen Zeitung La Voz Anfang Juli 1936 belegt. Die politische Polyvalenz seiner fachlichen Schriften zeigt auch sein populärer Elternratgeber von 1933, der religiöse und moralische Themen gegenüber medizinisch-pädiatrischen Diskussionen vollständig in den Hintergrund rückte, dagegen aber sozialbiologische Argumente entfaltete, die auch für republikanische Kreise anschlussfähig waren.146 Die in allen politisch-publizistischen Lagern wach145
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Nuestros Colaboradores: Dr. César Juarros, RdEF 33, Dez. 1918; Ders., Pro Infantia: La Crianza del Hijo: 1. Justificación, RdEF 19, Sept. 1917; Encuestas de Crónica: Cuáles son, a su juicio, los seis problemas más urgentes que debe resolver el Gobierno provisional de la República? Doctor Juarros, Crónica, 24.5.1931; Candidatos, El Sol, 20.6. 1931; Doctor César Juarros, Una Institución Meritísma: La Escuela Nacional de Anormales, El Mundo Gráfico, 4.7.1934; KAY, La Vida de nuestros hijos: Puericultura, Ciencia Moderna, Esto, 25.10.1934; La vida de nuestros hijos: La educación debe empezar con la primera sonrisa, dice el doctor Víctor Pauchet, Esto, 15.11.1934. Siehe nur: Enrique Suñer, Herencia y eduación (I), Atenas 35, Dez. 1933; Enrique Suñer, Los derechos del niño y los deberes de los padres (Campañas de La Voz: En España cada cinco minutos muere un niño, Teil 5), La Voz, 6.7.1936; Suñer, Salud.
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sende Nachfrage nach Expertenwissen und das Interesse an gemeinsamen Problemen dienten hier als Brücke über politisch-weltanschauliche Grenzen hinweg. Professionelles Wissen konnte auch als Basis für einen Wechsel politischer Affiliationen im Übergang von der Republik in den Frühfranquismus hinein dienen. Ein gutes Beispiel hierfür ist A. Muñoyerro Pretel, der in den letzten Jahren der Republik Professor an der staatlichen Schule für Kinderpflege und Leiter der Beratungsstelle für Kinderhygiene der Provinz Madrid war, eine herausgehobene Position, die er auch nach Beginn des Bürgerkrieges inne hatte. Wie Suñer beteiligte er sich im Sommer 1936 zudem mit einem Beitrag an einer Artikelserie von La Voz. Trotz dieser exponierten Tätigkeit unter der Republik bedeutete für ihn der Übergang zum Franquismus keinen Karriereknick oder gar politische Verfolgung. Schon Ende 1941 beteiligte er sich als prominenter Redner an einer Kampagne der falangistischen Frauenvereinigung gegen die Kindersterblichkeit, Ende 1942 war er Generalsekretär der Gesellschaft für Kinderpflege (Sociedad de Pediatria) und 1953 gehörte er dem Vorstand der Vereinigung der Kindermediziner (Agrupación de médicos puericultures) an.147 Selbst Kinderexperten, die sich deutlicher als Muñoyerro Pretel politisch vor 1936 pro-republikanisch exponiert hatten, schafften es nach 1939, ihre alte Tätigkeit fortzusetzen, wenn auch erst nach einer mehr oder minder langen Phase der Entbehrungen und Unsicherheit. José Mallart, vor 1936 ein prominenter Autor der wissenschaftlichen Zeitschrift des vom Franquismus verketzten Freien Bildungsinstituts und während des Bürgerkriegs sogar kurzzeitig Leiter des Psychotechnischen Instituts von Madrid, wurde zwar zunächst durch das franquistische Regime seiner Stellung enthoben, konnte aber 1943 wieder auf seinen alten Posten zurückkehren.148 Und selbst sein ehemaliger Vorgesetzter, der Kinderpsychologe José Germain, der zum engeren Umfeld der liberal-progressiven Revista de Pedagogía gehörte und zunächst gegen Kriegsende ins Ausland geflohen war, kehrte Mitte der 1940er Jahre nach Spanien zurück und übernahm sofort wieder eine hohe Funktion in den staatlichen psychologischen Instituten.149 Es sind intensivere Detailstudien nötig, um die Expertenkontinuität und 147
148
149
A. Muñoyerro Pretel, Jefe del Servicio Provincial de Higiene Infantil de Madrid: Cuidados higiénicos del niño pequeño, La Voz, 17.7.1936; La campaña contra la mortalidad infantil, ABC, 7.10.1941; Ofensiva. Bisemenario Nacional-Sindicalista, Cuenca, Año 1, Nr. 50, 22.11.1942, S. 7; Agrupación de médicos puericultures, ABC, 11.11.1953. Vgl. auch zum weiteren Kontext: Modesta Salazar Agulló u. a., La Salud Materno-Infantil durante el Franquismo. Notas Bibliométricas sobre el Programa „Al servicio de España y del Niño Español“, in: Asclepio. Revista de Historia de la Medicina y de la Ciencia 59 (2007), S. 285–314. Siehe Francisco Pérez Fernández, José Mallart en la Psicología Española. Balance de una Andadura Intelectual, in: Revista de Psicología General y Aplicada 56 (2003), S. 149– 156, bes. S. 152. Ebd. Siehe auch: Notas, RdP 123, März 1932.
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III. Aushandlungen
fluktuation über die unterschiedlichen politischen Regimewechsel der 1920er bis 1940er Jahren genauer bestimmen zu können, doch zeigen die genannten Beispiele namhafter Kinderexperten, dass es im Bereich der Kinderpsychologie und Kindermedizin selbst für exponierte liberale Experten keine unüberwindlichen Hürden für eine berufliche Kontinuität gab. Dies deutet nicht nur darauf hin, dass die Kinderpflege und Kinderpsychologie als wenig politische Berufsfelder angesehen wurden, sondern auch darauf, dass sich die Vorstellungen dessen, was Kindermedizin und Kinderpsychologie zu leisten hätten, unter der Republik und im frühen Franquismus nicht grundlegend voneinander unterschieden. Schließlich existierte auch bei den mit der Aufsicht über Kinder unmittelbar beschäftigten Sozialpädagogen des Madrider Jugendgerichts eine gewisse personale Kontinuität über die politischen Zäsuren hinweg. Trotz einer Organisationsreform 1932 veränderte die Republikgründung das Personalgefüge des Kindergerichtes kaum. Der Ende 1928 tätige Vorsitzende Fransisco García Molinas hatte auch Ende 1932 noch sein Amt inne und wurde im folgenden Jahr von Luís San Martín Adeva abgelöst, der 1928 bereits den herausgehobenen Posten des bevollmächtigen Sekretärs (secretario habilitado) besetzt hatte und bis zur Niederlage der Republik im Bürgerkrieg das Gericht leitete. Erst das Franco-Regime setzte mit Ramón Alberola einen neuen Vorsitzenden ein.150 Unterhalb der Führungsebene lassen sich neben Fällen einer wohl auch politisch bedingten Personalfluktuation ebenfalls personelle Kontinuitäten feststellen, die anders als im Fall des Vorsitzenden auch das Kriegsende überspannten. Neben dem Sekretär des Tribunals, der zumindest zwischen 1936 und 1940 kontinuierlich am Gericht tätig war, betrifft dies in wichtiger Weise die Delegierte Elisa Barraquer y Cerero, die bereits 1929 für das Tribunal Eltern besucht, unter der Obhut des Gerichts stehende Kinder beobachtet und Gutachten für das Gericht abgefasst hatte. Sie behielt über alle Regimewechsel ihre Stellung und stieg, obwohl sie während der gesamten Kriegsjahre im Tribunal tätig gewesen war, 1941 sogar zur Hauptdelegierten (delegada jefe) auf.151 Der Agent des Gerichtes Vicente Fernández Gil, der Nachforschungen zu Kindern und ihren Familien anstellte, arbeitete ebenfalls durchgängig von mindestens Frühjahr 1929 bis mindestens August 1940 am Gericht.152 Diese partielle personelle Kontinuität 150
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152
Virgilio de la Pascua, Instituciones españoles: El tribunal tutelar para niños, Estampa, 13.11.1928; José Montero Alonso, Cómo se juzga a los niños en el Tribunal Tutelar de Menores, Crónica, 16.10.1932; En el Tribunal Tutelar de Menores, ABC, 23.1.1940; Schriftstücke in: AGA, 7/14.2, Nr. 131 (1936). Siehe nur: Beschluss, 20.11.1929, AGA, 7/14.2, Nr. 7, Fallakte 273/1929; Informe Delegada del Tribunal, Elisa Barraguer, 1.1.1937, AGA, 7/14.2, Nr. 137, Fallakte 4/1937; Comparecencia, Madrid 24.7.1941, ebd. Zur Kontinuität des Sekretärs, dessen Namen in den Akten leider nicht entziffert werden konnte, über den Bürgerkrieg hinweg siehe nur die Fallakte 112/1936, AGA 7/14.2, Nr. 130. Siehe nur: Informe del Agente Investigador D. Vicente Fernandez-Gil Robles, 2.4.1929,
1. Kinderexperten zwischen Politik, Kindheitsreform und Profession
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kann in doppelter Weise gedeutet werden. Einerseits konnten die jeweils neuen Regime anscheinend nur schwer auf den Sachverstand und das praktische Wissen der Gerichtsangestellten verzichten, zumal viele Fälle sich über viele Jahre und somit auch über die politischen Regimewechsel hinzogen. Andererseits deutet die Kontinuität aber auch darauf hin, dass die Angestellten in erster Linie als professionelle Experten und weniger als politische Exekutoren gesehen wurden, auch wenn in der historischen Retrospektive diese Grenze schwer zu ziehen ist. Das Verständnis des Tribunals als der Politik enthobene Einrichtung entsprach auch der Selbstsicht des Gerichts. Darauf deuten zumindest Auseinandersetzungen im Bürgerkrieg mit politischen Verbänden über die Entscheidungsgewalt in Kinderangelegenheiten hin, in denen das Gericht seine professionelle Kompetenz immer wieder betonte und erfolgreich gegen politische Eingriffsversuche behauptete.153 Die Selbst- und Fremdwahrnehmung als unpolitische Kinderexperten konnte in vielen Fällen eine Brücke zwischen der Tätigkeit unter der Republik und der Integration in den Franquismus bilden. Gleichzeitig zeigen diese Beispiele wiederum, dass die Politisierung von Kinderexperten nur die eine Seite der Medaille war. Vielmehr wuchs auch während der republikanischen Jahre eine Gruppe von Kinderexperten, die sich in deutlicher Distanz zur Politik in der Epoche weltanschaulicher Bürgerkriege verstand – oder zumindest verstehen konnte. Eine Lesart des neuen psychobiologischen Kinderdiskurses als Programm hygienischer Sozialreform und nationaler Ertüchtigung bildete zudem eine inhaltliche Schnittmenge zwischen republikanischen und katholischen Reformentwürfen, die biographische Umorientierungen erleichterte.
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AGA 7/14.2, Nr. 7, Fallakte 273/1929; Informe Vicente Fernandez Gil, Agente del Tribunal Tutelar de Menores, 20.8.1940, AGA 7/14.2, Nr. 130, Fallakte 112/1936. Siehe etwa: Juez de Menores an General, Comandante General de la Plaza, 29.8.1938, AGA 7/14.2, Nr. 141, Fallakte 94/1938.
2. Neue Familien? Eltern, Kindheitsreform und Konkurrenzgesellschaft Die katholischen Reformer versuchten nicht nur unterschiedliche Kinderexperten als Vorkämpfer einer christlichen Erneuerung Spaniens zu gewinnen. Vielmehr bemühten sie sich auch, unmittelbar auf das Familienleben Einfluss zu nehmen und die Familien zu Keimzellen und Protagonisten einer neuen christlichen Gesellschaftsordnung zu machen. In diesem Unterfangen stießen sie aber nicht nur auf republikanische Konkurrenzprojekte von Familienreform, sondern auch auf sich rapide wandelnde mediale Darstellungen von Familie und familiärer Kindheit. Die Republikgründung wurde in diesen Repräsentationen nicht nur als politischer Neuanfang, sondern auch als fundamentale Herausforderung des Einzelnen und der Familie beschrieben. Es sei erstrebenswert, so die Botschaft, Familienleben und politisches System in ein neues Gleichgewicht zu bringen. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit dem Aufeinanderprallen von Familienreformbewegungen, öffentlich-medialem Familiendiskurs und den Interessen und Hoffnungen Madrider Mittelschichtfamilien. Es geht darum, die Reichweite und die Konsequenzen katholischer Kindheits- und Familienreform in den frühen 1930er Jahren zu bestimmen und gegenläufige Wandlungsprozesse von Familie zu identifizieren. Lässt sich in den spanischen Mittelschichten die Herausbildung neuer katholischer Familien mit besonderen Umgangsformen und einem besonderen Lebensstil erkennen oder blieben die Reformimpulse ein politisches Oberflächenphänomen? Politisierte sich der private Raum der Familie in den politisch turbulenten Jahren der Zweiten Republik oder wurde er durch ganz andere Dynamiken geprägt? Es geht im Folgenden nicht, oder nur ganz am Rande, um eine Geschichte der Familienpolitik, also um das Ringen um die rechtliche Regulierung von Familie und ihre praktischen Wirkungen. Eine solche Untersuchung würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Vielmehr wird in drei Schritten nach den Wechselwirkungen von politischen Gesellschaftsreformprojekten und urbanen familiären Lebenswelten gefragt. Zunächst wird der Wandel katholischer Familienreformprojekte verfolgt und diese mit republikanischlaizistischen Konkurrenzprojekten verglichen. Im Anschluss wird anhand einer Analyse der Debatten über Familie in populären Zeitschriften nach der Reichweite der Reformkonzepte und nach alternativen Thematisierungen von Familie in der urbanen Öffentlichkeit gefragt. In einem letzten Schritt wird das Verhalten einzelner Familien angesichts von politischen Reformansprüchen, neuen Kindheitsbildern und neuen politischen Rahmenbedingungen skizziert. Insbesondere wird die Bedeutung der Republikgründung für Fa-
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III. Aushandlungen
milien beziehungsweise einzelne Familienmitglieder untersucht. Insgesamt werden die Auseinandersetzungen um eine neue Form des Zusammenlebens in den Familien als Teil einer allgemeinen Suche nach einer der neuen Zeit angemessenen Staats- und Gesellschaftsordnung verstanden. Jede Arbeit, die sich historischen Familienkulturen zuwendet, steht vor einem Quellenproblem. Während sich gesellschaftliche Debatten über Familie recht gut nachvollziehen lassen, ist es schwierig, Familien selbst „zum Sprechen zu bringen“. Die historische Bürgertumsforschung hat dieses Manko durch einen intensiven Gebrauch von Autobiographien, Tagebüchern und Briefen auszugleichen versucht.1 Dieser Weg wurde in dieser Arbeit nicht gewählt. Dies beruht auf einem primären Interesse an den Schnittpunkten, an denen politische Reformimpulse und allgemeine Interessen und Bilder von Familien aufeinandertrafen. Populäre Zeitschriften und Illustrierte geben einen Einblick in eine publizistische Öffentlichkeit, die zwar auch, aber keineswegs ausschließlich durch weltanschauliche Reformprogramme bestimmt wurde. Vielmehr eröffnen sie einen Zwischenraum zwischen dem politischen Feld im engeren Sinne und der Handlungsebene der Familie. Um auch diese praktische Handlungsebene, also die Interessen, Bedürfnisse und Hoffnungen von Familienmitgliedern selbst in den Blick zu bekommen, werden Akten des Madrider Jugendgerichts herangezogen. Dieses seit Mitte der 1920er Jahre tätige Gericht beschäftigte sich zwar in erster Linie mit delinquenten Kindern und Jugendlichen, wurde aber von Anfang an auch in Familienstreitigkeiten vielfältiger Art gehört. Die Akten ermöglichen in vielen Fällen sehr detaillierte Einblicke in das Leben vieler Madrider Familien, auch und gerade von bürgerlichen Familien. Auch wenn die Unterlagen keine allgemeine Repräsentativität beanspruchen können, lassen sich aus ihnen wertvolle Einsichten hinsichtlich der Reaktionen von Familien auf Reformanforderungen und die sich wandelnden gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen gewinnen. Sie geben Einblick in ein über den Einzelfall hinausweisendes Vokabular, mit dem Eltern ihren Interessen, Befürchtungen und Wünschen Ausdruck verliehen.
1
Vgl. aus der Fülle der Forschung nur: Andreas Gestrich u. a. (Hrsg.), Geschichte der Familie, Stuttgart 2003; Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999; Jack Goody, Geschichte der Familie, München 2002; Habermas, Frauen und Männer; Leonore Davidoff u. a., The Family Story. Blood, Contract and Intimacy 1830–1960, Amsterdam 1998; Budde, Weg ins Bürgerleben. Zum bisher weniger erforschten 20. Jahrhundert: Stearns, Anxious Parents; David I. Kertzer/Marzio Barbagli (Hrsg.), The History of the European Family. Vol. 3: Family Life in the Twentieth Century, New Haven und London 2003. In Spanien hat die historische Familienforschung leider kaum Fuß gefasst. Eine Ausnahme stellt die Arbeit von Pilar Muñoz López dar: Amor y Sangre. Wichtige Hinweise finden sich auch in Borrás Llop, Historia, S. 21–55.
2. Neue Familien? Eltern, Kindheitsreform und Konkurrenzgesellschaft
323
2.1 Weltanschauliche Familienreformprojekte: Unterschiede und Gemeinsamkeiten Die Reform der Familie bildete ein zentrales Mittel und Ziel katholischer Kindheits- und Gesellschaftsreform im 20. Jahrhundert. Insbesondere nach dem Verlust an bildungspolitischem Einfluss nach Gründung der Zweiten Republik und angesichts der drohenden Säkularisierung des Schulwesens erschien das Einwirken auf Mittelschichtenfamilien als einer der wenigen Erfolg versprechenden Wege für die Kirche, ihre gesellschaftspolitischen Ziele mittelfristig zu verwirklichen.2 In der Politik einer Rechristianisierung Spaniens „von unten“standen die Familie und familiäre Kindererziehung auf besondere Weise im Mittelpunkt des kirchlichen Interesses. Die katholischen Gesellschaftsreformer entwarfen neue Idealbilder der christlichen Familie und familiärer Erziehung, vor der die zeitgenössische Gegenwart nicht anders als unzureichend erscheinen musste. Pädagogen wie der in Spanien viel gelesene Belgier Jules Renault klagten nach der Jahrhundertwende immer wieder über Missstände selbst in bekennenden christlichen Familien und darüber, dass „die Familie für ihre pädagogische Mission nicht immer gut vorbereitet“ sei. Nicht nur drückten sich viele Eltern vor ihrer Erziehungsverantwortung, die sie Priestern und Lehrern zuschöben, sondern sie hätten auch überhaupt völlig falsche Vorstellungen davon, was richtige, zeitgemäße Erziehung bedeute.3 Wie auch die Einführung der Begriffe „pedagogía familiar“ und „educación familiar“ in die katholischen Debatten unterstreicht, ging es den katholischen Reformern entgegen ihren öffentlichen Behauptungen, die traditionelle Familie gegen liberale Attacken verteidigen zu wollen, nicht um die Bewahrung eines Status Quo, sondern um eine aktive Umgestaltung der Mittelschichtenfamilien.4 Die katholischen Reformer standen jedoch von Anfang an vor dem Problem, geeignete Wege zur Beeinflussung der Familien zu finden. Im Gegensatz zu den republikanischen Kräften standen sie staatlichen Eingriffen skeptisch gegenüber. Die kirchliche Doktrin sah die Familie als gottgewollte, naturrechtlich legitimierte Einheit an, die dem Staat in der Kindererziehung vorgeordnet 2
3 4
Für den deutschen Fall sind in den vergangenen Jahren einige gute Studien zu Familiendebatten und Familienpolitik der katholischen Kirche erschienen: Rebecca Heinemann, Familie zwischen Tradition und Emanzipation. Katholische und sozialdemokratische Familienkonzeptionen in der Weimarer Republik, München 2004; Lukas Rölli-Alkemper, Familie im Wiederaufbau. Katholizismus und katholisches Familienideal in der Bundesrepublik Deutschland, 1945–1965, Paderborn 2000. Jules Renault, Eduquemos al Niño (Nueva Bibliotéca Pedagógica, 9), Madrid 1930, S. 16. El Arte de Educar: Condiciones para la Educación en la Familia, El Pilar 3, 1923; Josefina Oloriz, De educación familiar, BIT 254, Mai 1936. Siehe auch die Ermahnung des Erzbischofs von Toledo, Isidro Gomá y Tomás an die Eltern Ende 1934: „Denkt daran, nicht nur christliche Kinder zu formen, sondern auch christliche Staatsbürger“. Doctor Gomá, La escuela laica es atea, inmoral, antisocial, Ellas, 30.12.1934.
324
III. Aushandlungen
sei. Sie vertrat ein Subsidiaritätsprinzip, nachdem der Staat nur in die Bereiche eingreifen sollte, die Familie und Kirche nicht selbstständig zu gestalten in der Lage waren. Ein Hauptthema der katholischen Familiendebatten seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts war dementsprechend die Verteidigung des Elternrechts, über die Erziehung ihrer Kinder unabhängig vom Staat zu entscheiden.5 Nach 1931 schwand zudem der Einfluss der Kirche auf familienpolitische Entscheidungen rapide, so dass die katholischen Reformer auch aus praktischen politischen Gründen versuchen mussten, auf anderen Wegen auf Familien einzuwirken. Bis in die 1930er Jahre wählten die katholischen Reformer vor allem zwei Mittel der Einflussnahme. Zunächst steigerten sie die Publikation und die Verbreitung von Erziehungsratgebern und Elternzeitschriften. Neben überregionalen Zeitschriften wie der 1916 gegründeten Revista de Educación Familiar und periodischen Ratgebern wie dem Guia Internacional Ilustrada del Escolar Hispano-Americano von 1915, waren es im besonderen Maße Schulzeitschriften, welche die Funktion von Elternratgebern mit übernahmen. Die Zeitschrift El Pilar des bedeutenden Madrider Marianistenkollegs richtete bald nach ihrer Gründung eine eigene Sektion ein, die sich der pädagogischen Schulung der Eltern widmete.6 Daneben strebten die katholischen Reformer, wie oben beschrieben, die flächendeckende Gründung von katholischen Elternvereinen an, die auch als Selbst- und Weiterbildungseinrichtungen von Familien dienen sollten. Domingo Lázaro skizzierte Ende 1923 die Arbeitsweise solcher Círculos de Padres de Familia wie folgt: „Diese für und durch Eltern gegründete Einrichtungen sind wirkliche Schulen der Familienerziehung. In ihnen werden regelmäßig kinderhygienische, kinderheilkundliche und pädagogische Themen verhandelt. Richtig ausgerichtet und ausgestattet mit Studieninstrumenten (Bibliothek, Zeitschriften) und mit einer Beratungsstelle [. . . ] können sie Vätern und Müttern unermessliche Vorteile bringen.“7
Die Selbstorganisation der Eltern mit kirchlicher Beratung sollte eine Elite neuer christlicher Familien hervorbringen, die dann über ihr Vorbild und ihren gesellschaftlichen Einfluss weitere Familien zur spirituellen Erneuerung anleiten würden.8 Ein Vergleich katholischer Familienreform mit republikanischen Konkurrenzprojekten hilft, den kirchlichen Zugriff auf Familien und Kinder in seinen Konturen besser zu verstehen. Die Reformprojekte unterschieden sich vor allem hinsichtlich der Haltung zum Staat als familienpolitischem 5
6 7 8
Die Formulierungen dieser Position sind Legion. Vgl. nur: V. Minteguiaga, Por los derechos de la paternidad y de la infancia. La educación cristiana en la familia, in RyF 28, Sep. 1910, S. 195ff:, La familia y la educacion, Atenas 22, 15.7.1932. La Redacción, El Pilar 2, 1923. El Arte de Educar: Lo que han de saber los padres, El Pilar 6, 1923. Asamblea de Padres de Familia, ABC, 17.11.1931; Los padres de familia: Queda constituida la Confederación Nacional, HdP, 19.11.1931; Asamblea de Padres de Familia en Octubre, HdP, 1.9.1932.
2. Neue Familien? Eltern, Kindheitsreform und Konkurrenzgesellschaft
325
Akteur. Die liberalen und progressiven Reformer sahen in dem Aufbau öffentlicher Beratungsstellen den besten Weg, auf Familien einzuwirken. Wie oben beschrieben, richteten sie in den Großstädten beispielsweise Mütterberatungsstellen ein, die neben der Ausgabe von Säuglingsnahrung Mütter durch intensive Beratung zu einer hygienischeren und an neuen pädagogischen Erkenntnissen orientierten Kindererziehung überreden sollten. Auch die Jugendgerichte entfalteten sozialreformerischen Elan und besaßen die rechtlichen Mittel, um in Familien einzugreifen. Ihre Agenten besuchten Familien, berieten diese, beobachteten als gerichtliche Vormunde von Kindern die Familienentwicklung und besaßen die Macht, Kinder aus Familien herauszunehmen.9 Mit Beginn der Zweiten Republik versuchte die links- republikanische Regierung durch eine umfassende Neugestaltung des zuletzt im Zivilgesetzbuch von 1889 geregelten Familienrechtes, das familiäre Zusammenleben zu rationalisieren. Die neue Verfassung legte die Rechtsgleichheit der Ehepartner auch hinsichtlich der Kindererziehung fest, führte die Möglichkeit der Ehescheidung ein und verbesserte die Stellung unehelicher Kinder.10 Näher an den katholischen Methoden der Familienreform standen die Einrichtung von Ratgeberseiten in republiknahen Zeitungen und Zeitschriften. Wohl aufgrund der größeren Konzentration auf den Staat war dagegen die republikanische Ratgeberliteratur sehr viel weniger entwickelt als die katholische. Schließlich versuchten einige öffentliche Schulen in Madrid in den frühen 1930er Jahren, über pädagogische Eltern- und Mütterabende – in der Grupo Escolar Joaquín Costa fanden diese im August 1931 sogar zweimal in der Woche statt – Einfluss auf die Familien zu nehmen. Ihre Entstehung verdankte sich dem Wunsch der Pädagogen, das Bewusstsein der Familien in einen besseren Einklang mit den fortschrittlichen Schulen zu bringen.11 Die staatlichen Institutionen und Regelungen sollten die Familien unterstützen, traten jedoch in progressiver Vorstellung in latente Konkurrenz zu den Familien. Es war die tiefe Überzeugung vieler republikanischer Erneuerer, dass im Zweifelsfall der Staat Kinder besser erziehen und ihre Bedürfnisse besser befriedigen könne als die Eltern. So tadelte die liberale Tageszeitung El Sol 9
10
11
José de las Casas Pérez, Una Institución generosa, Crónica, 23.2.1930. Zur Arbeit des Jugendgerichts siehe die umfangreichen Quellenbestände: AGA, 7/14.2 (Tribunal Tutelar de Menores de Madrid). Siehe zu diesen Entwürfen: Bajo la signa de la mujer y de la bondad, Crónica, 26.4.1931; Juan Ferragut, Problemas de España: El derecho al divorcio y la igualdad de los hijos ante la ley, Crónica, 24.5.1931; Debe implantarse el divoricio en España? Estampa, 6.6.1931; Pedro Massa, La semana política. Crisis y divorcio, Crónica, 25.10.1931; Pedro Massa, La vida política: Ley de divorcio y disolución de los jesuítas, Crónica, 14.2.1932. Siehe insgesamt die detaillierte Analyse: Richard Lezcano, El divorcio en la Segunda República, Madrid 1979. Rosario del Olmo, La directora del Grupo Escolar Joaquín Costa nos habla del funcionamiento de esta Institución, Mujer, 22.8.1931.
326
III. Aushandlungen
im Frühjahr 1931 Eltern, die ihren Kindern Angst vor einem Krankenhausaufenthalt einflößten und damit Krankheiten verschlimmerten und Heilung erschwerten, statt Vertrauen in die öffentlichen Institutionen zu hegen. Und der bekannte Journalist Antonio Zozaya meinte Ende 1934 sogar: „In dem Maße, in dem sich mit der Intensivierung der Kultur die Ansprüche an die Erziehung erhöhen, ist die Familie, die in einem zunehmenden Prozess der Auflösung begriffen ist, immer weniger geeignet, diese zu leiten. Um einen gewöhnlichen Menschen (hombre elemental) zu erziehen, reicht die rudimentäre Pädagogik der Familie aus; aber heutzutage, um zivilisierte Menschen (hombres cultos) zu formen, braucht es eine höher entwickelte Kunst, einen größeren Umfang an Mitteln, die nur die Gesellschaft [. . . ] und der Staat mit seiner Macht bereitzustellen in der Lage ist.“12
Die Steigerung der Ansprüche an die Kindererziehung ließ die real existierenden Familien immer mangelhafter erscheinen. Allerdings gab es im republikanischen Spektrum auch Gegentendenzen, wie etwa eine Neufassung des Gesetzes zu den Kindergerichten vom 25. August 1932 zeigt, das festlegte, dass Kinder wenn möglich stets in Familien (régimen familiar) anstatt in großen Kinderinstitutionen untergebracht werden sollten.13 Dennoch überwog insgesamt in der republikanischen Öffentlichkeit ein Vertrauen in die erzieherischen Fähigkeiten des Staates. Der bekannte progressive Pädagoge Antonio Ballesteros plädierte 1934 sogar dafür, die Elternrechte in der Schulaufsicht drastisch zu beschränken, um auf diese Weise die seit Beginn der Republik deutlich gestiegene, aber nach Meinung des Erziehers fehlgeleitete Einflussnahme der Eltern auf das Schulgeschehen zurückzudrängen.14 Die hier aufgezeigten Unterschiede lassen sich leicht in das Bild eines antagonistischen Gegenübers von katholischen und republikanischen Reformbewegungen einpassen. Doch existierten auch eine ganze Reihe erstaunlicher Gemeinsamkeiten zwischen den ideologischen Lagern. Trotz deutlicher Unterschiede in der gesellschaftspolitischen Zielrichtung und hinsichtlich der Bewertung der Rolle des Staates als familienpolitischer Agent strebten sowohl liberale als auch katholische Reformer eine Erneuerung der spanischen Familie sowie eine Rationalisierung des familiären Lebens an und hielten dazu Eingriffe in reale Familien für sinnvoll und notwendig. Beide Lager versuchten, ihren Zugriff auf die Familienwirklichkeit zu vergrößern. Katholische wie liberale Reformer wollten traditionelle Vorstellungen von Kindheit und Erziehung ausrotten und bezogen das Familienleben auf größere gesellschaftsreformerische Projekte. Die Hoffnung, dass aufgeklärte Eltern einen familienegoistischen Blick auf das eigene Fortkommen und das ihrer Kindes überwinden und „sich mit den höchsten und weitesten gesellschaft12
13 14
Antonio Zozaya, Del ambiente y de la vida: Niños fugitivos, El Mundo Gráfico, 7.11.1934. Para las madres: El niño en la clínica, El Sol, 28.4.1931. Ähnlich auch: Teresa de Escoriaza, Página de la Mujer, El Mundo Gráfico, 22.12.1931. Siehe die Erläuterungen: Ministro de Justicia a las Cortes Constituyentes, 27.6.1932, ACD, Comisión Justicia 480/23. A. Ballesteros, La comprobación del trabajo escolar, RdP 13 (1934), S. 392–95.
2. Neue Familien? Eltern, Kindheitsreform und Konkurrenzgesellschaft
327
lichen Interessen identifizieren und sich diesen unterordnen“ würden, einte Reformer über die weltanschaulichen Fronten hinweg. 15 Auch hinsichtlich konkreter Reformvorstellungen gab es Gemeinsamkeiten, die auf der ähnlichen Rezeption des neuen regenerationistischen Kindheitsdiskurses beruhten. Beide Lager traten für eine Popularisierung der modernen Hygienebewegung und Kinderpflege in den Familien ein. Ratgeber jeglicher politischer Couleur plädierten für eine angemessene Durchlüftung der Wohnungen, eine Säuglingsernährung nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und für eine schlichte, bequeme Kindermode. Die Nähe der Reformforderungen zeigt sich nicht zuletzt daran, dass es, es ist oben darauf hingewiesen worden, vielfach dieselben Kinderexperten waren, die sich sowohl in katholischen als auch in progressiven Publikationen zu Fragen der Kinderhygiene und Säuglingspflege äußerten.16 Einig waren sich die Familienreformer auch in der Forderung nach einem verstärkten Interesse der Eltern an dem Aufwachsen ihrer Kinder. Beide Seiten griffen seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts die spätestens seit der Aufklärung verbreitete Ammenkritik auf und kritisierten, wobei sie sich ebenfalls in eine lange historische Tradition einreihten, Eltern, die aufgrund weltlicher, urbaner Vergnügungen ihre Kinder vernachlässigten. Väter und Mütter, so forderten liberale wie katholische Ratgeber unisono, müssten der Erziehung ihrer Kinder mehr Zeit widmen und dafür ihre außerhäuslichen Geschäfte zurückstellen. Hintergrund dieser Appelle war die Auffassung, dass nur die Eltern selbst, nicht jedoch bezahlte Kindermädchen oder Erzieher eine den gesellschaftspolitischen Zielsetzungen entsprechende Bildung und Erziehung der Kinder gewährleisten könnten.17 Die neuen Vorstellungen von Kindheit förderten die Wiederaufnahme klassischer Topoi der Elternkritik und gaben ihnen eine neue Dringlichkeit. Neben den gesundheitlichen Schäden traten immer mehr auch die vermeintlichen seelischen Gefahren einer Trennung von Eltern und Kindern hervor. Katholische Pädagogen fürchteten in diesem Zusammenhang besonders eine spirituell-religiöse Vernachlässigung,
15 16
17
Rodríguez García, Lo que debe saber, S. 8. Zu den Anfängen der Reformbewegungen am Ausgang des 19. Jahrhunderts vgl. auch: Muñoz López, Sangre, S. 285–89. Zur katholischen Bewegung vgl. nur die zahlreichen Beiträge in der Revista de Educación Familiar. Seit der Nummer 19 vom September 1917 publizierte der Mediziner César Juarros eine zwölfteilige Serie von Artikeln zur Kinderpflege unter dem Titel „La Crianza del Hijo“. In den 1930er Jahren veröffentlichte Juarros dann sowohl in der republikanischen als auch in der katholischen Presse und diente beiden Reformlagern als Referenzpunkt. Vgl. La Mujer, El Niño y el Hogar, El Sol, 4.6.1933; Doctor César Juarros, Una Institución Meritísma: La Escuela Nacional de Anormales, El Mundo Gráfico, 4.7.1934; KAY, La Vida de nuestros hijos: Puericultura, Ciencia Moderna, Esto, 25.10.1934. Siehe etwa: Pro Infantia: La Crianza del Hijo: 2. La lactancia y sus reglas, RdEF 20, Okt. 1917; Manuel de Tolosa Latour, Nuestros Hijos, Blanco y Negro, 4.1.1902; A.R. Bonnat, La tirania del ama, El Mundo Gráfico, 27.12.1911; E. Gonzalez Fiol, Quando los niños lloran . . . , Esfera, 16.5.1914.
328
III. Aushandlungen
welche Eltern durch fehlende Hinwendung zu ihren Kindern vermeintlich heraufbeschworen.18 Schließlich ähnelte sich auch die Aufwertung der familiären Stellung des Kindes im katholischen wie im republikanischen Erziehungsmilieu. Hatten Heranwachsende nach der Meinung der Benimmfibeln des 19. Jahrhunderts im Hintergrund des Familienlebens zu stehen, billigten ihnen die Reformer beider Lager nun größeren Eigensinn und eine prominentere Rolle in der Familie zu. Domingo Lázaro argumentierte etwa 1924, dass eine neue permissivere Haltung gegenüber den Kindern in der Familie sehr wohl mit einer christlichen Überzeugung korrespondiere und forderte die Eltern auf, ihre Kinder als vollwertige Personen zu respektieren und nicht nur Respekt von ihnen zu erwarten. Kritikern, die in solchen Appellen „liberalistische Dogmen“ und eine Unterminierung elterlicher Autorität sahen, hielt er entgegen, dass die moderne, auf ein stärker egalitäres Miteinander in der Familie ausgerichtete Haltung „nicht weniger christlich als das traditionelle Vorgehen, aber humaner, rationaler und sogar segensreicher für die Eltern selbst [sei]. Heute leben Eltern und Kinder mehr zusammen, während sie früher getrennte Leben voneinander führten“.19 Es herrschte über die Lagergrenzen hinweg Konsens, dass Kinder vermehrte familiäre Gestaltungsspielräume erhalten müssten. Zweierlei ist bisher deutlich geworden. Erstens schlug sich das intensivierte Interesse katholischer Reformgruppen an der Familie als Mittel religiöser Kindheits- und Gesellschaftsreform in Bemühungen nieder, mit Hilfe von Publikationen und Elternvereinen das Familienleben auf neue Weise zu beeinflussen. Zweitens konnte festgestellt werden, dass jenseits grundsätzlich differierender Zielvorstellungen, die katholischen und progressiven Reformer im Einzelnen viele Ansichten teilten. Erneut zeigt sich an dieser Stelle, dass sich die Auseinandersetzungen zwischen ihnen nicht als Konflikt zwischen liberaler Moderne und katholischer Tradition begreifen lassen, sondern besser als Konfrontation verschiedener Spielarten der Moderne zu verstehen sind. Beide Lager fochten für eine stärkere Berücksichtigung der Erkenntnisse moderner Kinderpflege in der Familie sowie für eine Abkehr von autoritärdistanzierten Umgangsweisen zwischen Eltern und Kindern. Diese Umgangsweisen erschienen nun als unpersönlich und die emotionalen Bedürfnisse des Kindes ignorierend. Zudem minderten sie langfristig den elterlichen Einfluss und damit mittelbar auch den Einfluss der Gesellschaftsreformer auf die Heranwachsenden. Jenseits der politischen Kulturkämpfe lässt sich somit eine zweite, quer zu diesen liegende Spannungslinie ausmachen, welche die neuen Expertengruppen beider weltanschaulicher Lager in eine Auseinandersetzung mit realen Familien und ihren vermeintlich schädlichen Lebensstilen und Erziehungsformen stellte. 18 19
El Arte de Educar, El Pilar 2, 1923. El Arte de Educar: La Autoridad en la Familia, El Pilar 10, Juni 1924.
2. Neue Familien? Eltern, Kindheitsreform und Konkurrenzgesellschaft
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2.2 Ein neues Miteinander. Familienreform in der medialen Öffentlichkeit der Zweiten Republik Die gesellschaftliche Reichweite sowohl der katholischen als auch der republikanischen Familienreform war begrenzt. In der Presseöffentlichkeit der 1930er Jahre bildeten sich zunächst tatsächlich zwei politische Familienmodelle aus, die grob den beiden Reformströmungen zugeordnet werden können. Gerade die katholischen Zeitschriften waren eng in die katholischen Mobilisierungskampagnen eingebunden. Doch konnten die Reformer nur Teilbereiche der Öffentlichkeit prägen, ihre publizistische Reichweite war begrenzt. Die Zeitschriften nahmen zwar politische Reformimpulse auf, gaben ihnen jedoch eine je spezifische Form. Von den politisch-weltanschaulichen Familienkulturen kann zudem ein drittes Familienmodell unterschieden werden, das nicht eindeutig parteipolitisch zugeordnet werden kann, aber in der Zeitschriftenöffentlichkeit eine wichtige Rolle spielte. Die publizistischen Debatten über Familie kreisten in den 1930er Jahre intensiv um die Frage einer Neuordnung des Innenlebens der familiären Gemeinschaft als Reaktion auf die politischen Umwälzungen. In der linksliberalen Presse erhielt mit Gründung der Zweiten Republik 1931 ein Vorstoß Verbreitung, der auf eine – wie es explizit hieß – „Republikanisierung der Republik“ (republicanizar la República) gerichtet war, also auf eine inhaltliche, lebensweltliche Ausfüllung der demokratischen Staatsform.20 Der Madrider Stadtverordnete Andrés Saborit erklärte beispielsweise, es müsse nun eine neue Generation geschaffen werden, „die sich der neuen Staatsform würdig erweise“ und eine soziale Aktivistin sah es als Aufgabe der Familien an, „ihre Kinder in einem demokratischen und weit gefassten liberalen Sinn zu erziehen und [. . . ] sie zu Staatsbürgern, die sich ihrer Pflichten bewusst sind, zu formen.“21 In diesem Kontext entfalteten sich in den beiden Anfangsjahren der Republik Projekte einer Neuordnung familiärer Beziehungen im republikanischen Geist. Eine Erneuerung der Familie sollte die Erneuerung des politischen Systems begleiten und verstärken. Ein wichtiges Thema der republikanischen Debatten war die Erneuerung der Partnerschaft von Mann und Frau jenseits der vermeintlich erstarrten Konventionen bürgerlicher Ehe. Die Chancen einer Wiederbelebung der Institution Ehe wurde insbesondere in den Ratgeberspalten von El Mundo Gráfico und Crónica viel diskutiert.22 Doch gingen die Initiativen über eine Erneuerung der Geschlechterbeziehungen hinaus und zielten auf die Heraus20 21
22
Temas Políticas: La República a los Transfugas, Heraldo de Madrid, 23.5.1931. Encuestas de Crónica: ¿Cómo educa o piensa usted educar a sus hijas? Crónica, 27.3.1932; Hacia el porvenir: ¿Cual debe ser la labor de las mujeres en la República? Crónica, 17.5.1931. Siehe hier nur als frühes Beispiel: Eva, Crónica, 19.4.1931; María Martínez Sierra, la insigne escritora, da en el Ateneo un curso sobre política y feminismo, Crónica, 17.5.1931.
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III. Aushandlungen Abbildung 14: „Vater und Kind: Was können Sie uns von Ihrem Kind erzählen, Herr Schriftsteller?“ Crónica, 3.7.1932.
bildung eines neuen, die republikanische Staatsform spiegelnden familiären Miteinanders. Die führende liberale Tagszeitung El Sol forderte beispielsweise Ende Mai 1931, einen Monat nach Ausrufung der Republik, dass „die Arbeit in der Familie kollektiv angegangen werden soll, wobei jeder seine Aufgabe übernimmt.“ Das familiäre Miteinander solle sich „im Geist einmütiger Kameradschaft zwischen allen Mitgliedern des Hauses vollziehen“.23 Nicht nur das Verhältnis der Ehegatten zueinander, auch das Verhältnis zu den Kindern sollte sich von einem hierarchisch und distanzierten Verhältnis zu einer, wie es nun immer wieder hieß, kameradschaftlichen, innigen Beziehung wandeln. Deutlich zeigt sich dies in Neuentwürfen der VaterKind Beziehung, die besonders in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückte, da die Mutter-Kind Beziehung traditionell bereits als innige Gemeinschaft imaginiert wurde. Schon im Sommer 1931 hatte ein Artikel in El Sol Väter aufgefordert, sich zum gegenseitigen Nutzen mehr um ihre Kinder zu kümmern. Im Umgang mit ihnen seien „die Härten unseres Charakters abzufeilen und jede Regung niederzuhalten, die nicht mildes Verständnis ausdrückt“.24 Die linksliberale Zeitschrift Crónica druckte im Laufe des Jahres 1932 eine mehrteilige Artikelserie, in der Journalisten der Illustrierten über ihr Verhältnis zu ihren Kindern Auskunft gaben. Die Artikel geben somit Einblicke in das öffentliche Bild linksliberaler Vaterschaft Anfang der 1930er Jahre. Alle interviewten Väter waren bemüht, sich von den als autoritär und distanziert empfundenen Umgangsformen ihrer Vätergeneration abzugrenzen und ein neues partnerschaftliches Modell der Eltern-Kind Beziehung zu entwerfen. Nicht nur erlangten die Kinder neue Freiräume in der Familie, sondern sie wurden auch als spirituelle Erneuerer des persönlichen und Familienlebens der Eltern wahrgenommen. Dem Journalist José Montero Alonso erschien sein Kind, das ihn vertraulich mit „Pepe“ anredete, beispielsweise als „kleiner 23 24
Los Niños: Trabajo y Disciplina, El Sol, 26.5.1931. Vida de Sociedad: Paternidad, El Sol, 1.8.1931. Zur traditionellen Vaterrolle in bürgerlichen Familien siehe: Muñoz López, Sangre, S. 291–95.
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Freund und Kamerad“. Er hoffte in der Zukunft mit seinem Sohn eine innige geistige Union zu formen: „Vater und Sohn, Kameraden, Seelen, die sich nichts verbergen und die zu einer vollständigen, innigen Gemeinschaft des Strebens, der Freude und der Traurigkeit verschmelzen.“25 In ähnlicher Weise erhoffte der Journalist Angel Lázaro, dass eines Tages „es mein Sohn ist, der mich erzieht, der mir den Weg weist, wenn ich beginne, ihn nicht mehr klar zu sehen [. . . ] und mein Sohn mich erlöst“.26 In diesen Äußerungen und Projektionen lassen sich Ansätze einer spezifisch links-republikanischen Familienkultur erkennen, welche die Republikgründung als Ansporn einer inneren Reform der bürgerlichen Familie verstand und eng mit den Projekten progressiver Reformer in Verbindung stand. In der katholischen Presse bildete sich dagegen eine alternative Position von Familienreform heraus, die das Programm einer intensiven Rechristianisierung der spanischen Familie übernahm, das die katholischen Reformer propagierten. Angesichts der politischen Attacken gegen die Kirche plädierten viele Artikel für eine neue religiöse Mobilisierung der Familie. Eine Autorin der militant-katholischen Frauenzeitschrift Aspiraciones schrieb etwa im März 1932, dass auf den Müttern in der gegenwärtigen Situation eine hohe Verantwortung laste: „Wenn sie auch immer schon ihre erzieherische Mission mit Gewandtheit und Wachsamkeit ausgeübt haben, so gilt es heute die Aufmerksamkeit zu verdoppeln [. . . ]. Von ihrem Handeln in der Erziehung der Kinder kann die Zukunft Spaniens abhängen.“27 Im gleichen Jahr rief ein Kommentator die Leserinnen von Ellas dazu auf, sich für die „Rekonstitution des Heims (hogar) und der Familie einzusetzen, die sich in der Gesellschaft unserer Zeit unglücklicher Weise in einer Krise befinden.“28 Die katholische Presse gab der Familienreform jedoch eine deutlich defensivere Ausrichtung, als es die führenden Reformer taten, und fürchtete insbesondere eine Unterminierung der familiären Gemeinschaft durch die als bedrohlich wahrgenommene Selbstständigkeit urbaner Kinder. Neben den republikanischen Gesetzen drohte ein innerfamiliärer und gesamtgesellschaftlicher Machtzuwachs der Kinder die christliche Familie zu sprengen. Besonders plastisch beschreibt ein langer Artikel in Ellas ein neues Unbehagen gegenüber vermeintlich zu weitgehenden Freiheiten der Kinder. In der Gegenwart, so die Autorin, sorge die Aufforderung nach Unterordnung unter die elterliche Autorität unter den Heranwachsenden nur mehr für „große Erheiterung“: „Das kleine Fräulein von heute [. . . ] will auch Freiheit; sie will sich nicht unterordnen. [. . . ] Heute hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass 25 26 27 28
José Montero Alonso, El Padre y el niño, Crónica, 10.7.1932. Angel Lazaro, El Padre y el niño, Crónica, 12.6.1932. Siehe weiterhin: Juan G. Olmedilla, El Padre y el niño, Crónica, 19.6.1932; Pedro Massa, El Padre y el niño, Crónica, 3.7.1932. Pilar Palacios de Hijas, Las madres y el momento, Aspiraciones, 5.3.1932. Luis Sáinz de los Terreros, La arquitectura moderna y el hogar, Ellas, 14.8.1932. Siehe auch: I.J. (Ibañez Jaso), La familia, La Familia 301, Jan. 1933.
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III. Aushandlungen
man Kinder nicht zwingen oder zurechtweisen darf.“29 Diese Äußerungen lassen sich als Abwehr des tatsächlich feststellbaren Wandels der Kinderleitbilder in der Öffentlichkeit beschreiben. Die neu-katholische Richtung von Familienreform griff die mit diesem Wandel verbundenen Ängste auf. Diese defensive Ausrichtung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Aufrufe ebenfalls auf eine Erneuerung der christlichen Familie zielten. Auch die katholische Presse grenzte sich von älteren familiären Umgangsformen ab. Zwar wollte sie das Konzept der Autorität nicht aufgeben, doch gab sie ihm eine andere Ausformung. An die Stelle einer bloß äußerlichen Unterwerfung der Kinder unter die väterliche Autorität sollte eine neue organische, das heißt von allen Familienmitgliedern innerlich akzeptierte elterliche Autorität einen neuen familiären Zusammenhalt begründen. Die Erneuerung des Familienmodells zeigte sich vor allem an den Debatten um eine Erneuerung der Mutterrolle. Angesichts der neuen Herausforderungen an die Familie dürften die Frauen nicht mehr „einfältig, kleinmütig und ignorant“ sein, sondern müssten aktiv nach Bildung und außerhäuslicher Tätigkeit suchen: „[W]eit davon entfernt, ein Hindernis für den familiären Zusammenhalt zu sein, wird der Wunsch nach Arbeit und Bildung diesen festigen und zementieren“.30 Insgesamt kam es in der katholischen Öffentlichkeit zu einer Kombination aus einer Abwehr neuer vermeintlicher Destabilisierungsversuche der Familie mit der Aufnahme katholischer Reformpositionen, welche auf eine neue organische Ordnung der Familie zielten. Wie in der Untersuchung der Expertengruppen, muss auch an dieser Stelle die begrenzte Reichweite der politisch-weltanschaulichen Reformprojekte festgestellt werden. Sowohl die links-republikanischen als auch die katholischen Projekte einer Erneuerung der Familie markierten öffentlichkeitswirksame Fluchtpunkte der Familiendebatten, doch dominierten sie diese nicht. Deutlich mehr Raum nahm eine dritte Reformposition ein, die zugespitzt als aufstiegsorientiert-konkurrenzgesellschaftliche beschrieben werden kann und einen deutlichen sozialdarwinistischen Einschlag aufwies. Sie verband eine spezifische Rezeption des Modells psychobiologischer Kindheit als Anforderung, die im Kind angelegten Energien und Begabungen zu entwickeln, mit einer Neubestimmung der Familie als Zweckgemeinschaft zur Unterstützung der individuellen Karrierewege ihrer Mitglieder. Ein Großteil der Kommentatoren, die sich publizistisch zur Familie äußerten, sahen die Gründung der Republik weder als Aufforderung, mehr familiäre Demokratie zu wagen, noch als Appell, christliche Familien als Bollwerk gegen die Republik zu positionieren. Vielmehr nahmen sie den Regimewechsel vor allem als Wegfall traditioneller Schranken und als weiteren Schritt in der Durchsetzung einer ungehemmten Konkurrenzgesellschaft wahr. In 29 30
F. Manjarrés, Colaboración: Lo que era y lo que debe ser la familia cristiana, Ellas, 13.11.1932. Carmen Carriedo de Ruiz, ¿Puede discutirse? Aspiraciones, 30.1.1932.
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den Jahrzehnten nach 1900 hatten klassische bürgerliche Karrieremuster, die im Falle der Söhne oft mit der Reihenfolge der Geburt verbunden gewesen waren, zunehmend ihre soziale Verbindlichkeit eingebüßt.31 Dieser Wandel eröffnete nach Meinung vieler Kolumnisten der nachwachsenden Generation neue Möglichkeiten sozialen Aufstiegs und ihnen bis dahin verschlossen gebliebener Karrieren, setzte sie aber auch neuen Belastungen aus. Der Wandel der Arbeitswelt forderte von den Familien vor allem anderen, ihre Mitglieder mit den notwendigen Ressourcen für ein erfolgreiches Bestehen in dem gesellschaftlichen Kampf um Status und Reichtum auszustatten. Im uns besonders interessierenden kirchennahen Spektrum des Bürgertums erlangte diese Strömung karriereorientierter Familienneuordnung mindestens ebenso große, wenn nicht größere Bedeutung als christliche Reformappelle. Seit den 1910er Jahren hatten populäre Zeitschriften allgemeine Forderungen nach einer Neuordnung der Familien in allgemeiner Form unterstützt. Im Frühjahr 1914 veröffentlichte die Zeitschrift Esfera beispielsweise einen langen Artikel zu Elternpflichten, in denen sie gegen das Ammenwesen polemisierte und die Eltern zu einer größeren Sorgfalt in der Kinderpflege und Kindererziehung aufrief. In wortgewaltiger Weise verurteilte auch der Kommentator Antonio Zozaya in der gemäßigt-liberalen, die Republik unterstützenden El Mundo Gráfico die Abgabe elterlicher Autorität an Dritte und forderte die Eltern auf, für ihre Kinder „zu leiden“.32 In den 1920er Jahren flossen in die medialen Familiendebatten dann zunehmend hygienische Forderungen ein. Isabel de Palencia forderte beispielsweise Anfang 1926 in Blanco y Negro eine Berücksichtigung der „,modernen Wissenschaft“ in der Wohnungsgestaltung und Hausarbeit, durch die die Familie auf eine neue Grundlage gestellt werden könne. Die Hygienebewegung gebe einen „großen Impuls zur Lösung der materiellen Probleme der Haushaltsführung: Sauberkeit, Auswahl und Zubereitung der Mahlzeiten und die Verfertigung von Kleidung, sowie den gesamten Bereich der Körperhygiene“. Sie mache zudem eine bessere Ausbildung der Frauen für ihre Aufgabe als Haushaltsvorstände notwendig. Dass es notwendig sei, den Müttern neues kinderpflegerisches und pädagogisches Wissen an die Hand zu geben, wurde in der illustrierten Presse, und gerade solcher konservativer Ausrichtung, zu einem Gemeinplatz.33 Diese Artikel stehen exemplarisch für eine breitere, politisch polyvalente Strömung, die eine biologisch-hygienische Regeneration der spanischen Familie als Grundlage einer Regeneration Spaniens entwarf. 31 32
33
Vgl. zu den älteren Mustern: Muñoz López, Sangre, S. 333–35. E. Gonzalez Fiol, Quando los niños lloran, Esfera, 16.5.1914; Antonio Zozaya, Del Ambiente y de la vida: ¿Incorregibles? El Mundo Gráfico, 22.12.1920. Ein Jahr später forderte ein weiterer Artikel in El Mundo Gráfico die Ausweitung elterlicher Sorge auch auf die kindliche Gefühlswelt: Julián Fernandez Piñero, La Educación Amorosa, El Mundo Gráfico, 21.12.1921. Isabel de Palencia, El Hogar Español: La Jornada de un Ama de Casa, Blanco y Negro, 10.1.1926; Notas femeninas: Por Amor al Niño, por Regina, Blanco y Negro, 9.1.1927.
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III. Aushandlungen Abbildung 15: Pädagogische und hygienische Reform des Kinderzimmers, Blanco y Negro, 27.3.1932.
Zu den biologisch-hygienischen Reformforderungen trat ebenfalls in den 1920er Jahren das Element der Ertüchtigung der Kinder für das Berufsleben und verband sich mit ihnen zu einem wirkmächtigen Modell, das die Familiendebatten in den gemäßigt-republikanischen und konservativen Illustrierten der 1930er Jahre dominieren sollte. Die Wahrnehmung der republikanischen Gesellschaft als Leistungsgesellschaft bildete den Referenzrahmen dieses Modells. Mütter – von Vätern war meist nur am Rande die Rede – müssten alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um ihren Kindern einen Startvorteil im Leben zu sichern. In einer Vielzahl von Artikeln in El Mundo Gráfico hielt beispielsweise die Kolumnistin Teresa de Escoriaza Mütter dazu an, aus ihren Kindern „starke Persönlichkeiten“ zu machen und sie „zum Triumph im Leben anzustacheln“: Sie müssten ihre Kinder lehren, „bis zum Sieg zu kämpfen [. . . ] und ihnen Kraft und Tapferkeit vermitteln“. Die Kinder sollten lernen, selbst Armut „nicht als Hindernis, sondern als Stimulus zu sehen, um im Leben zu triumphieren“.34 Um diese Erziehungsziele zu erreichen, müssten die Eltern ihren Kindern Freiräume für eigene Erfahrungen geben. Vor allem aber dürften sie sie nicht durch falsch verstandenes Mitgefühl und Verzärtelungen 34
Teresa de Escoriaza, Página de Mujer: Epistolario, El Mundo Gráfico, 16.11.1932. Siehe auch: Dies., Página de Mujer: Epistolario, El Mundo Gráfico, 9.5.1934; Dies., Página de Mujer: Epistolario, El Mundo Gráfico, 20.5.1936.
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in einem Stadium der Unselbstständigkeit und des Müßiggangs gefangen halten. Falsch verstandene Mutterliebe habe „mehr als alles andere dazu beigetragen, die Welt mit unnützen, wenn nicht sogar für die Gesellschaft gefährlichen Wesen zu füllen“.35 Diese Vorstellung von Familie als Ertüchtigungsanstalt für das Leben grenzte sich deutlich gegenüber älteren, vermeintlich sentimentalistischen Erziehungsformen ab und wies einige deutliche Berührungspunkte mit den links-republikanischen Erneuerungsprogrammen auf. So sollten in der modernen Familie alle Familienmitglieder einander als Gleiche gegenübertreten, die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Erziehung aufgehoben werden und schließlich der Vater auf neue Weise einen kameradschaftlichen Kontakt zu seinen Kindern suchen. Doch diese Nähe darf nicht über die deutlich unterschiedlichen Ziele hinwegtäuschen. Die Neuansätze sollten weniger harmonischere, menschlichere, authentischere Gemeinschaften schaffen, als vielmehr der besseren Vorbereitung der Kinder auf den Lebenskampf dienen. Väter sollten beispielsweise gerade zu ihren Töchtern neue Kontakte aufbauen, da sie die Pflicht hätten, diese „auf das Leben vorzubereiten.“ Aufgrund ihrer Erfahrungen in der urbanen Welt, könnten sie besser als die Mütter den Heranwachsenden wichtige Einsichten über die Funktionsweisen der modernen Industrie- und Leistungsgesellschaft vermitteln. Das neue Interesse der Väter für ihre Töchter sei notwendig, da „die modernen Mädchen sich vor die Aufgabe gestellt sehen, die der Frau neu geöffneten Lebenswege zu beschreiten. [. . . ] Wege, deren Stolpersteine ihre Väter im Gegensatz zu ihren Müttern kennen.“36 Es ging im Miteinander von Vater und Tochter nicht um die Befriedigung bisher vernachlässigter emotionaler Bedürfnisse und auch nicht um die Formung neuer christlicher Persönlichkeiten, als vielmehr um die Anleitung der Heranwachsenden, sich im gesellschaftlichen Leben durchzusetzen. Das neue Ziel der Ertüchtigung der Kinder für den Kampf des Lebens in einer sich modernisierenden Leistungsgesellschaft hatte wichtige Auswirkungen auf die familiäre Stellung der Frauen. Diese wurden aufgefordert, die Zeit, die sie aufgrund einer positiv bewerteten Technisierung des Haushalts gewan35
36
Dies., Página de Mujer: Epistolario, El Mundo Gráfico, 16.11.1932. Siehe auch: Dies., Página de la Mujer, Epistolario, El Mundo Gráfico, 1.8.1934. Das erzieherische Programm de Escoriazas wies damit deutliche Ähnlichkeiten zu Autorinnen wie Johanna Harrer in Deutschland auf, deren Erziehungsratgeber sowohl während des Nationalsozialismus als auch in der frühen Bundesrepublik Bestseller waren: Gudrun Brockhaus, Lockung und Drohung. Die Mutterrolle in zwei Ratgebern der NS-Zeit, in: Miriam Gebhardt/Clemens Wischermann (Hrsg.), Familiensozialisation seit 1933 – Verhandlungen über Kontinuität, Stuttgart 2007, S. 49–68. Teresa de Escoriaza, Página de la Mujer, Epistolario, El Mundo Gráfico, 12.9.1934. Zur Angleichung der Erziehung von Mädchen und Jungen: Dies., Página de la Mujer, Epistolario, El Mundo Gráfico, 4.7.1934. Zu Forderungen nach neuen Umgangsweisen in der Familie: Dies., Página de la Mujer, Epistolario, El Mundo Gráfico, 31.10.1934.
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III. Aushandlungen
nen, in ihre persönliche Weiterbildung zu investieren. Teresa de Escoriaza forderte von den bürgerlichen Müttern, auf denen das Joch der Hausarbeit sehr viel weniger als auf vorangegangenen Frauengenerationen lastete, die ihnen neu zur Verfügung stehende Zeit als „Ratgeberin, Helferin, Beschützerin“ ihres Mannes und ihrer Kinder zu nutzen und „soviel Wissen zu erwerben, wie für diese Aufgaben notwendig ist“.37 Eine bessere Bildung, so die Argumentation, würde sie in die Lage versetzen, nicht nur die familiäre Gemeinschaft durch ihren Sachverstand enger aneinander zu binden, sondern auch ihre Kinder besser zu instruieren. Die neuen Anforderungen an Familie hatten insgesamt ambivalente Folgen für die Frauen. Einerseits eröffneten sie Müttern aus der Mittelklasse neue Chancen, sich über den Bereich der materiellen Versorgung hinaus neues gesellschaftliches Prestige und Selbstwertgefühl als kompetente Familienmanagerin zu erringen, als hygienische Fachfrau richtigen Wohnens und Kleidens, als psychologische Expertin der emotionalen Bedürfnisse der Familie und als Lehrerin ihrer Kinder. Auf der anderen Seite konfrontierte das leistungsgesellschaftliche Familienbild Frauen jedoch mit erhöhten, kaum einzulösenden Anforderungen. Sie wurden auf neue Weise für das emotionale Wohl und das berufliche Voranschreiten ihrer Kinder verantwortlich. Der Tagesablauf einer idealen bürgerlichen Mutter umfasste 1926 nicht nur den Messebesuch vor dem Frühstück und die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse ihrer Familie, sondern auch die eigene Fortbildung durch den Besuch von Vorträgen und Ausstellungen, vor allem aber die ständige Sorge um die bestmögliche physische und geistige Entwicklung ihrer Kinder. Es sei notwendig, so eine Journalistin, „den Kindern bei den Hausarbeiten zu helfen, ihre Klavierübungen zu überwachen, mit ihnen Gespräche zu führen und an ihren Spielen teilzunehmen, mit dem Ziel, die kleinen Herzen umfassend zu erforschen und kennen zu lernen.“38 Am Ende der Republik erhielt dieses Familienprojekt angesichts der als krisenhaft wahrgenommenen Zeitumstände eine zusätzliche heroische Note. Die Familien mussten nun nicht mehr nur richtige Einstellungen und Eigenschaften ihrer Mitglieder für die bürgerliche Karriere in einer kapitalistischen, meritokratischen Gesellschaft trainieren, sondern zudem eine stoische Haltung gegenüber den Gesellschaftskrisen der Zeit überhaupt einüben. Anfang Juni 1936 schrieb Teresa de Escoriaza: „Nicht der blinde Glaube [. . . ] und auch nicht die christliche Resignation, die den Kopf gegenüber Widerständen senken und mit Geduld seine Konsequenzen ertragen lässt, sind heute als ästhetische Toniken genügend wirkungsvoll, um den niederreißenden und destruktiven Kräften zu widerstehen, die uns einhüllen und fortreißen. Statt die Heranwachsenden zu lehren, die Augen zu schließen, sollen sie lernen, sie zu öffnen; anstatt den Kopf 37 38
Dies., Página de la Mujer: Epistolario, El Mundo Gráfico, 12.1.1932. Isabel de Palencia, El Hogar Español: La Jornada de un Ama de Casa, Blanco y Negro, 10.1.1926.
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Abbildung 16: Die Mutter als Familienmanagerin. „Am Vorabend des Weihnachtstages“, Crónica, 21.12.1930.
senken zu lassen, müssen sie genötigt werden, dem Schicksal die Stirn zu bieten. Sie müssen lernen zu sehen, zu widerstehen, zu kämpfen und zu siegen.“39
De Escoriaza rief Eltern zu einer heroischen Persönlichkeitsbildung auf. Sie sollten ihre Kinder in die Lage versetzen, den gesellschaftlichen und geistigen Verwerfungen der Vorbürgerkriegsjahre stoisch und „realistisch“ die Stirn zu bieten und sie persönlich erfolgreich zu bewältigen. Dieser Appell fußte weiterhin auf regenerationistischen Vorstellungen selbstständiger, widerspenstiger Kindheit als Erziehungsziel, doch wurde diese nicht mehr wie noch in den 1920er Jahren in einen optimistischen Rahmen nationaler Widergeburt und individuellen Aufstiegs gestellt, sondern als einzige Hoffnung gezeichnet, die Stürme der Zeit charakterlich unbeschadet zu überstehen. Die hier skizzierte Haltung wies Anknüpfungspunkte über das gesamte politische Spektrum hinaus auf. Es ließ sich mit Vorstellungen linksrepublikanischer Familienreform ebenso verbinden wie mit konservativen und katholischen Projekten. Besondere Wirkmacht entwickelte sie jedoch neben der gemäßigt-republikanischen auch in einer dezidiert katholischen Teilöffentlichkeit, wie ein Blick auf die militant-katholische Zeitschrift Esto zeigt. 39
Teresa de Escoriaza, Página de la Mujer, Epistolario, El Mundo Gráfico, 3.6.1936.
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III. Aushandlungen
Im Jahr 1934 vertraten viele Autoren der Illustrierten sehr ähnliche Positionen wie die moderate Republikanerin Teresa de Escoriaza. So argumentierte etwa ein Kommentator, „moderne Eltern“ hätten die Pflicht, nicht nur auf die körperliche Ertüchtigung ihrer Kinder zu achten, sondern auch die Aufgabe „mithilfe von geeigneten Denksport-Übungen (ejercicios de gimnasia mental) die Intelligenz ihrer Kinder zu wecken und zu stärken. [. . . ] Es gibt eine Unzahl unterhaltender Spiele, deren Ziel das Training der [. . . ] mentalen Agilität ist, die in der Zukunft eine der besten Qualitäten des Studenten sein wird und noch später das magische ,Sesam-Öffne Dich‘, das alle Türen des Erfolgs öffnet.“40
Ein anderer Kommentar, der zudem eine intensive Beschäftigung der Väter mit den Errungenschaften der Kinderpflege anmahnte, argumentierte ganz ähnlich: Im Gegensatz zu dem verfehlten, weil den Charakter der Heranwachsenden korrumpierenden Traum vergangener Generationen, ihren Kindern ein kleines Vermögen zu hinterlassen, müssten die modernen Eltern „ihr Kind in eine lebendige Sparbüchse verwandeln [. . . ]. Die Eltern von heute sind dann wirkliche Eltern, wenn sie [. . . ] ihr Vermögen in persönliche Begabungen (dotes personales), in körperliche, moralische und mentale Pfandstücke investieren, mit denen sie ihre Kinder schmücken.“41 Auch die Journalisten von Esto plädierten für eine intensivere Zuwendung zum Kind und eine Anwendung neuer kinderpsychologischer Erkenntnisse, um diesen einen Vorsprung im Leben zu sichern. In den neuen Zeiten erschienen persönliche Fähigkeiten und Kenntnisse sowie eine erfolgsorientierte Arbeitseinstellung auch in der militant-katholischen Öffentlichkeit als Schlüssel zum Erfolg im Leben und als wichtigste Ziele zeitgemäßer Kindererziehung. Kritik an einer solchen Ausrichtung, wie sie in der Zeit des Ersten Weltkriegs noch katholische Erziehungsexperten geäußert hatten, die Eltern verurteilten, weil sie vermeintlich nur die Karriere ihrer Kinder, nicht aber deren Seelenheil im Blick hatten, waren in den frühen 1930er Jahren nicht mehr zu vernehmen.42 Vielmehr zeigen Unterlagen des Madrider Jugendgerichts, dass die Sorge um eine Ausbildung der Kinder in den Mittelschichten weit verbreitet war und ein zentrales Motiv in Familienkonflikten darstellte. Nachdem es bei einem Jungen eine krankhafte Versagensangst in der weiterführenden Schule diagnostiziert hatte, meinte das Kindergericht sogar 1934 eine Madrider Familie ermahnen zu müssen, ihren Sohn nicht mit Schulaufgaben zu überfordern: „Lassen Sie ihn nur das lernen, was er wirklich lernen kann, ohne von ihm übermäßige Anstrengungen zu fordern.“43 40 41
42 43
KAY, La Vida de nuestros hijos: Jugando, Esto, 1.11.1934. KAY, La Vida de nuestros hijos: Puericultura, Ciencia Moderna, Esto, 25.10.1934. Siehe auch: La vida de nuestros hijos: La educación debe empezar con la primera sonrisa, dice el doctor Víctor Pauchet, Esto, 15.11.1934; KAY, La vida de nuestros hijos: „Jardineras“ de niños, Esto, 13.12.1934. Bonifacio Sedeño de Oro, La verdadera educación, RdEF 1, Jan. 1916. Informe Regina Lagos, 6.4.1934, AGA 7/14.2, Nr. 101, Fallakte 171/1934. Siehe auch:
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Die Debatten um Familie in den Medien gehorchten zusammenfassend keineswegs durchgängig oder auch nur mehrheitlich den Imperativen von politisch-weltanschaulichen Expertengruppen. Sie boten vielmehr auch Diskussionen Platz und trieben sie voran, die quer zu den politischen Reformprogrammen standen, deshalb aber nicht weniger bedeutend und einflussreich waren. Republikanische Überlegungen einer Demokratisierung der Familie als Beitrag zur Stabilisierung der spanischen Republik hatten nur eine begrenzte Reichweite und fanden noch nicht einmal im gesamten republikanischen Meinungsspektrum Zuspruch. Sie blieben das Projekt einer Minderheit. Gleiches traf jedoch auch auf die kirchlichen Pläne einer christlichen Familienreform als Teil einer umfassenden Rechristianisierung der Gesellschaft zu, die nur in der engeren katholischen Fachpresse partiell rezipiert wurden. Es ist bezeichnend für ihre geringe gesellschaftliche Attraktivität, dass selbst in der Zeitschrift Esto, die als publizistisches Organ der Katholischen Aktion zu betrachteten ist, eine dezidiert religiöse Familienreform kaum eine Rolle spielte. Lediglich in einem engeren kirchennahen Milieu fand das Konzept von Familie als christlich-moralischem Bollwerk gegen die Republikanisierung der Gesellschaft eine gewisse Popularität. In einer weiten medialen Öffentlichkeit war es jedoch ein sozialhygienisch unterfüttertes Konzept von Familie als Ressource individuellen Aufstiegs in einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft, das über die politischen Lagergrenzen hinweg die meiste Resonanz erzielte und sich als Modell zur Bündelung von Erfahrungen und Ängsten angesichts des politischen Neubeginns und später der politischen Krisen anbot. Es griff viele Forderungen neuer Kinderpflege und Pädagogik auf und forderte ein engeres Miteinander von Eltern und Kindern, darf aber nicht als Element einer Liberalisierung oder gar Demokratisierung der Familien verstanden werden. Es war vielmehr politisch polyvalent. Es ließ sich mit dem politischen System der Republik vereinbaren, doch erforderte es dieses System nicht. Es wäre zudem zu diskutieren, ob seine Vorstellung der Gesellschaft als meritokratische Konkurrenzgesellschaft des Kampfes von Individuen nicht eher demokratieskeptische Obertöne aufwies. Auf alle Fälle stellte es neue Anforderungen an die Familien, welche von den einzelnen Familienmitgliedern als persönliche Chancen, aber auch als Zumutungen begriffen werden konnten. Die Anforderungen wirkten, wie zu zeigen wird, auf die katholische Bewegung und das katholische Bildungswesen in Form spezifischer Ansprüche von Eltern an die Bildung ihrer Kinder zurück. Sie waren ein Faktor in den Debatten über die gesellschaftspolitischen Aufgaben katholischer Schulen, denen sich der vierte Teil dieser Arbeit zuwendet.
Schreiben Cayetana A. an Júez, Tribunal Tutelar de Menores, 12.3.1936, AGA 7/14.2, Nr. 131, Fallakte 428/1936.
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III. Aushandlungen
2.3 Die Republik als Chance und Zumutung: Familienleben zwischen 1931 und 1936 Welche Wirkung hatten Reformprogramme und mediale Modelle neuer Familien auf Madrider Eltern? Auf der Basis einer schwierigen Quellenlage lassen sich drei Entwicklungen herausarbeiten, welche die Haltung zu den republikanischen Reformen, die Stellung zu der katholischen Familienpolitik, schließlich familieninterne Konflikte betreffen. Erstens boten sich katholische Positionen als Sprachrohr für diejenigen Eltern an, welche in der republikanischen Familienpolitik eine Herabminderung ihrer Rechte oder eine Gefährdung ihres gesellschaftlichen Status sahen. In ihrer Verteidigung der Elternrechte gegen staatliche Zugriffe gab die katholische Bewegung verbreiteten Ressentiments in den Mittel- und auch den Unterschichten gegen die als Zumutungen wahrgenommenen Folgen republikanischer Bildungspolitik eine politische Stimme. Nur ein kleiner Teil der Madrider Eltern unterstützte die republikanischen Reformen im Familien- und Bildungsbereich offensiv. Im Einzelnen zeigt sich vielmehr mehrheitlich ein eigensinniges Verhalten gegenüber den politischen Reformansprüchen. Viele Familien nutzten die neuen Rechte und Angebote, soweit sie ihnen hilfreich erschienen, verweigerten sich jedoch weitergehender politischer Einbindung. Exemplarisch wurde schon auf die neuen Säuglingsstationen verwiesen, welche die Mütter als Verteiler kostenloser Milch durchaus frequentierten, deren kinderpflegerische Beratung sie aber kaum in Anspruch nahmen.44 Es war jedoch vor allem der Bereich der Schulpolitik, in dem Elternwünsche und die Interessen der republikanischen Reformer aufeinanderprallten. In den 1930er Jahren erhielten die seit längerem schwellenden Konflikte zwischen Reformern und Eltern eine neue politische Note in dem Maße, in dem die republikanischen Reformer nun tief in das Bildungssystem einzugreifen und das alltägliche Leben an den Schulen umzugestalten versuchten.45 Die Widerstände der Eltern beschränkten sich nicht auf die Kritik von Einzelmaßnahmen, sondern äußerten sich als generelles Unverständnis gegenüber einer Schulreform, die sie als Eingriffe in Elternrechte und als kulturelle Zumutung verstanden. Im Juni 1936 stellte die Schulleitern Rosalía 44 45
Siehe etwa: José de las Casas Pérez, Una Institución generosa, Crónica, 23.2.1930. Zur älteren Elternkritik: Martín Chico y Suárez, Cooperación del alumno en la obra educativa, El Magisterio Español, 27.6.1900; Constancio Romeo, Sobre Educación. Necesidad de que la Educación sea libertaria (Continuación), Revista Blanca 54, 15.9.1900. Auf die katholische Elternkritik, wie sie etwa der Lehrer und Pfarrer Bonifacio Sedeño de Oro in Madrid 1916 formulierte, ist oben schon hingewiesen worden: La verdadera educación, RdEF 1, Jan. 1916. Siehe auch: J. Fesser, Consideraciones generales sobre educación musical (VI), RdEF 15, April 1917; Domingo Lázaro, La educación en la familia y por la familia, RdEF 30, Sep. 1918.
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Prado nach jahrelanger Arbeit für eine Erneuerung der spanischen Schule desillusioniert fest, dass in der Madrider Elternschaft immer noch ein „atavistisches Misstrauen gegen die pädagogischen Neuerungen“ existiere. Die wünschenswerte Zusammenarbeit von Lehrern und Eltern werde von „vielen Problemen und ernsthaften Schwierigkeiten“ getrübt. In der großen Masse der Eltern „herrsche hinsichtlich allem, was sich auf die körperliche und intellektuelle Erziehung der Kinder bezieht, große Ignoranz, irrige Ansichten und Vorurteile. Ihr kann nur ein äußerst begrenztes Vertrauen in Erziehungsangelegenheiten entgegengebracht werden.“ Schon zwei Monate früher hatte sie bitter den „unheilvollen Graben, der Schule und Familie voneinander trennt“, und die Unkenntnis der Eltern auf dem Gebiet der Kinderpsychologie beklagt.46 Die Meinung von Prado teilten viele republikanische Reformer. Ein Pädagoge beschwerte sich 1935, dass viele Eltern die Schule verachteten und ihre Erneuerungsmission nicht verständen. In Schule und Lehrern erblickten sie nur zusätzliche Belastungen ihres Lebens. Die liberale Pädagogin María Arbós meinte schließlich sogar, die einzige Möglichkeit, eine wahrhaft republikanische Schule zu etablieren, sei es, bewusst mit allen rückständigen Eltern („la gente vieja“) zu brechen.47 Vor dem Hintergrund dieser Skepsis erklärt sich die Kritik vieler republiknaher Pädagogen an den dezentral organisierten Elternverbänden Amigos de la Escuela, die als Hybrid aus Elternvereinigungen und schulischen Elternbeiräten seit der Gründung der Republik einen ungeahnten Aufschwung genommen hatten. Diese Verbände, so erklärte der Lehrer Julio Sánchez, könnten einen großen Gewinn für das Schulleben darstellen, aber auch von großem Übel sein und die Arbeit der Lehrer deutlich erschweren.48 Auf konkrete Konfliktfälle zwischen Eltern und Lehrer ist oben bereits hingewiesen worden. Drei Bereiche können besonders herausgestellt werden, in denen sich die Widerstände der Eltern gegenüber den republikanischen Reformen in besonderer Weise konzentrierten. Zunächst, dies ist in Teilen schon bekannt, stießen die säkularisierenden Maßnahmen, insbesondere die Abhängung der Kruzifixe in den Klassenräumen auf Protest, in Madrid jedoch anscheinend deutlich weniger als in den katholisch geprägten Mittel- und Kleinstädten Nordspani46
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Rosalia Prado, La escuela y la familia, Escuelas de España 30, Juni 1936; Rosalia Prado, Los grupos escolares de Madrid. Puericultura psicológica, Escuelas de España 28, April 1936. L. Vega, Nuestra Escuela, Escuelas de España 14, Feb. 1935; María Sánchez Arbós, Labor actual en los Grupos escolares, Escuelas de España 20, Aug. 1935. Aufschlussreich sind in dieser Beziehung auch die Tagebuchaufzeichnungen von Sánchez Arbós der Jahre 1933 bis 1936: Fragmentos de un Diario, 1933–1936, in: Dies., Una Escuela Soñada. El Grupo Escolar Francisco Giner. Textos. Hg. von Elvira Ontañón/Víctor M. Juan Borroy, Madrid 2007, S. 67–131 (siehe etwa den Eintrag vom 14. Juni 1934). Julio Sánchez, Las asociaciones de amigos de la escuela, RdP 13 (1934), S. 439–442; Rosalia Prado, Los grupos escolares de Madrid. Puericultura psicológica, Escuelas de España 28, April 1936.
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III. Aushandlungen
ens.49 Zweitens trafen die Maßnahmen, eine klassenübergreifende Einheitsschule an die Stelle des sozial deutlich differenzierten Schulwesens zu setzen, auf Widerspruch in den Mittel- und Oberschichten – und dies nicht nur auf konservativer, katholischer Seite, sondern auch unter Liberalen. Diese Vorbehalte zeigt schon die wiederkehrende Kritik liberaler Reformer daran, dass viele liberal gesinnte Eltern gegen ihre politische Überzeugung ihre Kinder auf eine katholische Privatschule schickten. Der Madrider Schulleiter Virgilio Hueso beschrieb Anfang 1936 ganz offen, dass „die vermögenden Eltern – und vor allem die Mütter – nicht wollen, dass ihre Kinder die gleiche Erziehung und Ausbildung wie die armen Kinder erhalten“. Die demokratische Überwindung der Klassengrenzen in der Erziehung gestaltete sich in der Praxis schwierig. So blieb die republikanische Modellschule in Valencia, die das Gebäude der aufgelösten Jesuitenschule am Ort übernommen hatte, wie ihre Vorgängerin eine rein bürgerliche Institution, ja der dünne Zaun, der den Pausenhof der Lehranstalt von der angrenzenden Volksschule trennte, wurde sogar 1933 unter republikanischer Regie durch eine hohe Mauer ersetzt.50 Drittens stießen die Koedukation und eine liberalere Kleiderordnung auf Skepsis und Ablehnung. Selbst in den politisch mehrheitlich republikanischprogressiv wählenden Metropolen Madrid und Barcelona verweigerten sich viele Eltern der Einführung gemischtgeschlechtlicher Klassen und teilweise, aufgrund der lockeren Kleidung, auch der Gymnastik als Unterrichtsfach. Ein Schuldirektor in Barcelona stellte in der Elternschaft verbreitete „Zweifel und Widerstände“ gegen die Einführung der Koedukation an seiner Schule fest, und die Madrider Schulleiterin María Arbós sah sich nach 1931 angesichts der breiten Ablehnung gezwungen, die Gemeinschaftserziehung sehr langsam, zunächst über die Aufnahme von Geschwisterkindern, einzuführen, und hoffte, allmählich ihre Akzeptanz erhöhen zu können.51 49 50
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Siehe nur: La escuela laica, El Magisterio Nacional, 23.1.1932. Vgl. weiterhin: Vincent, Catholicism, S. 171–90. Viriglio Hueso, Cómo se hace una escuela graduada, RdP 169, Jan. 1936; Diario de Sesiones de las Cortes Constituyentes, Nr. 292, 11040–42. Siehe weiterhin: Luis Bello, Problemas familiares: La educación del hijo, in: BILE 54 (1930), S. 272f. Aus katholischer Sicht: Ante el Congreso de Educación Católica. El Debate, 22.4.1924; Blanco Calvo, La escuela laica y la escuela católica, Ellas, 27.11.1932. Die Attraktivität der Ordensschulen auch in liberalen Kreisen und auch noch während der Republik zeigt plastisch eine Anzeige des Augustinerkollegs in El Escorial in liberalen Tageszeitungen: Werbung: Colegio de El Escorial de PP Agostinos, El Sol, 30.9.1931. José Casanovas Clota, La coeducación en la escuela, in: RdP 12 (1933), S. 487–493; María Sánchez Arbós, La Coeducación, in: Dies., Escuela Soñada, S. 158–62. Siehe auch: Rosario del Olmo, La directora del Grupo Escolar Joaquín Costa nos habla del funcionamiento de esta Institución, Mujer, 22.8.1931. Zu Elternprotesten gegen den Sportunterricht: Ligeritas de ropa, Aspiraciones, 23.1.1932. Die Koedukation wurde vom Bildungsministerium 1931 eingeführt, am 1. August 1934 auf Druck der Kirche ausgesetzt, nach dem Sieg der Volksfront im Frühjahr 1936 wieder eingeführt. Siehe: Se reestablece la coeducación, Atenas 60, April 1936.
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Es war nun die katholische Reformbewegung, welche die reformkritischen Elterninteressen partiell aufgriff. Katholische Publikationen prangerten nicht nur immer wieder die antiklerikale Stoßrichtung der Bildungsreform an, sondern versuchten auch, darüber hinausgehend Elterninteressen Ausdruck zu verleihen. Die erste nationale Zusammenkunft der katholischen Elternverbände im November 1931 kritisierte beispielsweise die geplante Einführung der Einheitsschule als Eingriff in Eltern- und Kinderrechte und thematisierte dabei besonders die neuralgische Frage der Karrierechancen: „Es darf auf keinen Fall [. . . ] dem Heranwachsenden vorgeschrieben werden, welchen Beruf er ausüben soll, sondern diese Wahl muss jedem einzelnen nach seinen Neigungen und Fähigkeiten überlassen werden, gebührend beraten von seinen Eltern [. . . ], die niemals durch den Staat ihrer legitimen Rechte beraubt werden dürfen.“52
Die katholischen Bildungspolitiker versuchten hier, Eltern jenseits religiöser Fragen im engeren Sinne für sich zu gewinnen und ihren Vorbehalten gegenüber den neuen Gesetzen politischen Ausdruck zu verleihen. In diesem Sinne muss auch die Forderung der Versammlung nach einem nationalen Stipendienwerk für bedürftige Kinder verstanden werden, mit welcher die Katholiken ein eigenes Modell individueller sozialer Mobilität nach Eignung und Leistung gegen das republikanische Modell der Einheitsschule stellten. Doch obwohl die katholische Kritik an den republikanischen Reformen an Elterninteressen anknüpfen konnte, stießen, das ist die zweite Erkenntnis, die genuin religiösen Reformbemühungen unter den Eltern nur auf ein zwiespältiges Echo. Die meisten katholisch orientierten Madrider Eltern arrangierten sich, so scheint es, mit dem 1933 auf der lokalen Ebene geschlossenen stillschweigenden Nichtangriffspakt hinsichtlich der katholischen Schulen. Die immer nur temporäre Bereitschaft von Eltern, im Rahmen der Katholischen Aktion tätig zu werden, hing auch mit einer von den kirchlichen Zielen deutlich unterschiedlichen Motivlage der Mehrheit der Eltern in der Verteidigung der religiösen Bildungseinrichtungen zusammen. Zwar engagierten sich viele Eltern für einen Erhalt der katholischen Schulen, doch sie taten dies in der Mehrheit nicht primär aus religiösen Gründen. Katholische Intellektuelle bemängelten immer wieder, dass das Seelenheil ihrer Kinder in den Entscheidungen auch der meisten sich als katholisch definierenden Eltern kaum eine Rolle spielen würde. Statt auf die Qualität der religiösen Unterweisung zu achten, so bemerkte ein Kommentator bitter, gehe es den Eltern in der Schulwahl primär darum, ihren Kindern „jede Art von Annehmlichkeiten“ zu bieten.53 Diese Klage verzerrt die Elterninteressen in der Schulwahl, doch ist die Beobachtung der geringen Rolle religiöser Motive zutreffend. Schon 1918 hatte Domino Lázaro den Aufschwung der religiösen Internate wesentlich auf den 52 53
Los padres de familia: Queda constituida la Confederación Nacional, Los Hijos del Pueblo, 19.11.1931. Manuel Rodríguez Rodríguez, Las Residencias de Estudiantes, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1935/36, Madrid 1935, S. 31–34, hier S. 33.
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III. Aushandlungen
Umstand zurückgeführt, dass die Eltern die Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder abschieben wollten. Diese hätten oft keine Zeit, sich um ihren Nachwuchs selbst zu kümmern, wollten ihn aber auch nicht den Gefahren urbanen Lebens aussetzen. Das katholische Internat sei in diesem Fall eine naheliegende Lösung.54 Hinzu traten Karrieregesichtspunkte als überragender Faktor der Schulwahl. Bildungseinrichtungen wurden als vermeintlicher Türöffner zu bestimmten Berufsfeldern ausgesucht.55 Aus der ambivalenten Haltung der Elternschaft sowohl gegenüber der republikanischen wie gegenüber der katholischen Gesellschaftsreform darf jedoch nicht das Bild einer unpolitischen und homogenen urbanen Mittelschicht abgeleitet werden. Wie in einem dritten, auf das Binnenleben von Familien konzentrierten Abschnitt gezeigt werden soll, griffen die verschiedenen Familienangehörigen immer wieder die unterschiedlichen Reformsprachen auf und verbanden sie mit spezifischen eigenen Interessen. Die Fronten zwischen den Reformlagern zogen sich durch einzelne Familien hindurch. Anstatt von lebensweltlich klar getrennten kulturellen Lagern lässt sich eher von einer situativen Aktualisierung der weltanschaulichen Positionen innerhalb einzelner Familien und Familienverbände sprechen.56 Während sich eine Polarisierung der Eltern in unterschiedliche Familienkulturen nur sehr begrenzt beobachten lässt, kam es sehr wohl in einzelnen Familien zu einer Spaltung in Modernisierungsbefürworter und Modernisierungsgegner, Gewinner und Verlierer des politischen Wandels hin zur Demokratie. Die Spaltung musste nicht parteipolitisch aufgeladen sein; Hinweise einer Spaltung von Familien entlang parteipolitischer Bruchlinien gibt es in den Quellen kaum. Eher handelte es sich um unterschiedliche Entwürfe von Lebensläufen, um unterschiedliche Bewertungen der Chancen und Zumutungen, mit denen die urbane Gesellschaft der frühen 1930er Jahre Familien konfrontierte. Über einen langen Zeitraum stabile Kleinfamilien stellten in den Mittelschichten in den frühen 1930er Jahren eher die Ausnahme dar. Der Tod eines Ehegatten, Trennungen der oft sehr jung verheirateten Eheleute, ohne dass dies notwendigerweise eine erst nach 1931 mögliche rechtliche Scheidung nach sich gezogen hätte, aber auch temporäre Trennungen aufgrund der Verlagerung der beruflichen Tätigkeit ins Ausland: unvollständige Familien bilden zumindest in den Akten des Madrider Jugendgerichts die Regel. Dies hat sicherlich viel mit der Quellengattung zu tun: Die Wahrscheinlichkeit von Waisen, Halbwaisen und von Kindern aus getrennt lebenden Familien in den 54 55 56
Domingo Lázaro, La educación en la familia y por la familia, in: RdEF 30, Sep. 1918. Muñoz López, Sangre, S. 335. Die Akten des Jugendgerichts, die für die folgende Analyse herangezogen werden, geben selbstverständlich nur einen begrenzten Einblick in das Innenleben einzelner bürgerlicher Familien, auf die sich die Untersuchung hier konzentriert. Doch gerade da die beteiligten Familienmitglieder in ihren schriftlichen und mündlichen Aussagen ein Interesse daran hatten, Unterschiede zu betonen, können sie als Gradmesser für eine kulturelle Spaltung von Madrider Familien der Mittelschicht herangezogen werden.
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Aufmerksamkeitsbereich des Jugendgerichtes zu kommen, war größer als im Fall von Heranwachsenden aus Familien mit zusammenlebenden Eltern. Doch deuten die sehr hohe Zahl unvollständiger Familien in den Akten ebenso wie in veröffentlichte Lebenserinnerungen über das Aufwachsen in den 1930er Jahren doch darauf hin, dass sehr viele Madrider Eltern und Kinder die Erfahrung von durch Todesfälle oder persönliche Differenzen auseinanderfallenden Familien machten. Für die Kinder bedeutete dieser Umstand einen häufigen Wechsel der familiären Umgebung, wobei die temporäre oder langfristige Unterbringung bei Verwandten, zumeist den Großmüttern, Onkeln oder Tanten keine Seltenheit war.57 Die Haltungen der Eltern zur republikanischen Ära müssen vor dem hier knapp skizzierten Hintergrund verstanden werden. Die Republik schien generell vielen Müttern, Vätern und Kindern neue Chancen zu eröffnen. Der Regimewechsel konnte als Anregung einer Selbstreform und eines neuen verbesserten familiären Lebens verstanden werden. Angesichts des in den 1920er Jahren gestiegenen Wohlstandes und den mit dem Wirtschaftswachstum verbundenen neuen beruflichen Möglichkeiten war für viele Angehörige von Mittelschichtenfamilien eine Rezeption regenerationistischer Familienbilder und der neuen Kinderkultur attraktiv. Die nach Einschätzung der Sozialarbeiterin des Jugendgerichts wohlhabende Familie eines Angestellten des städtischen Telegraphenamtes hatte ihre Wohnung beispielsweise tatsächlich entsprechend den Vorgaben der medialen Kindheitsexperten gestaltet. Die Wohnung war hygienisch eingerichtet und jedes Kind besaß ein eigenes Zimmer, mit Schreibtisch und Bücherregal, was nach Ansicht der Sozialarbeiterin zeigte, das „die Eltern keine Opfer scheuen, um ihren Kindern die besten Arbeitsmöglichkeiten bereit zu stellen.“ Ein hochrangiges Offiziersehepaar hatte sich schon in den 1920er Jahren medizinischen Rat für die bestmögliche Erziehung seiner Pflegetochter geholt. Überzeugt von der schwächlichen Konstitution des Mädchens konsultierten die Eltern immer wieder einen Kinderarzt und versuchten darüber hinaus, in ihrer Wohnung „geeignete Umstände für die körperliche und geistige Gesundheit des Mädchens“ herzustellen und „ihr das Leben mit Kleidung, Spielzeug und anderen Gegenständen“ zu versüßen.58 Es waren nicht zuletzt die Kinder selbst, welche die neuen Chancen bürgerlicher und allgemein städtischer Kindheit wahrnahmen, das nächste 57
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Siehe nur als plastisches Beispiel für einen ständigen Wechsel der familiären Umgebung eines 1936 8-jährigen Mädchens: Aussage Nicolàs L. A., 7.3.1936, AGA 7/14.2, Nr. 130, Fallakte 241/1936; Die Klärung der Frage, was mit den Kindern unter diesen Umständen geschehen sollte, stellte ein zentrales Moment in der Tätigkeit des Madrider Jugendrichters dar. Siehe auch als autobiographische Thematisierung: Fernando Fernán-Gómez, El Tiempo Amarillo. Memorias, Bd.1, Madrid 1990. Informe Regina Lagos, 6.4.1934, AGA 7/14.2, Nr. 101, Fallakte 171/1934; Don Luis Bermudez de Castro y Tomás an Júez Tribunal Titular de Menores, 14.1.1930, AGA 7/14.2, Nr. 13, Fallakte 52/1930.
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III. Aushandlungen
Kapitel wird darauf weiter eingehen. Bis weit in die Unterschichten hinein entwickelten Kinder eine „Kinoleidenschaft“ und traten als Konsumenten moderner Unterhaltungsgüter auf. Ein 14-Jähriger Junge veräußerte 1934 etwa seine Schulbücher, um mit dem so erworbenen Geld ein Fahrrad und ein Radio zu kaufen, und für einen 15-Jährigen war es im März 1936 nichts Außergewöhnliches, nach Schulschluss um 17 Uhr nach einem kurzen Imbiss mit der Familie Abzüge selbst geschossener Fotos aus einer Drogerie abzuholen und sich anschließend mit Freunden im Kino zu treffen.59 Oftmals griffen Kinder auch das neue Vokabular politischer Freiheit und Kinderrechte auf und erklärten wie ein 14-Jähriger im Sommer 1936 seiner Mutter, dass „ihm niemand etwas zu befehlen habe und er dorthin gehen dürfe, wohin er wolle.“60 Auf der anderen Seite weckten die mit den neuen Familienmodellen verbundenen Anforderungen und die von vielen Bildungsreformern eingeforderten Freiheiten der Kinder aber auch neue Ängste. Viele Menschen nahmen sie als Überforderung der eigenen Person und des familiären Zusammenhalts wahr. Der Modernisierungsdruck schien ihnen angestammte Rechte und Kompetenzen streitig zu machen und sie sahen in der republikanischen Familienpolitik eher die Risiken persönlichen Scheiterns und der Auflösung der Familien. Sie fanden es schwer, gegenüber ihren Kindern eine neue Rolle zwischen Lehrer und Freund einzunehmen und fürchteten, dass ihre Kinder allmählich familiärer Kontrolle entglitten. Angesichts der politischen Umwälzungen, der Wirtschaftskrise und den weltpolitischen Konflikten waren ihrer Ansicht nach weniger die Freisetzung kindlicher Energien, welche die neue Kinderkultur propagierte, und ein neues Miteinander in der Familie als eine Einhegung der Kinder und ihre Unterordnung unter die elterliche Autorität das Gebot der Stunde. Sehr deutlich lässt sich dies an den immer wieder an das Jugendgericht herangetragenen Elternwünschen ablesen, ihr Kind je nach Einkommen entweder in ein städtisches Kinderheim oder aber in ein katholisches Internat zu geben. Immer wieder wird in Fällen familiärer Konflikte oder kindlicher Verhaltensauffälligkeiten von Eltern eine Separierung der Kinder in geschlossenen Einrichtungen als Lösung ins Feld geführt. Diese Forderung hatte in der Regel zwei Ursachen. Entweder sahen sich die Eltern oder der allein erziehende Elternteil nicht mehr in der Lage, das eigene Kind zu disziplinieren, das sie oft als
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Aussage Vater N., 13.2.1934, AGA 7/14.2, Nr. 101, Fallakte 171/1934; Diligencias Previas, 7.3.1936, AGA 7/14.2, Nr. 130, Fallakte 338/1936; Aussage Miguel C. C., 7.3.1936, ebd. Der Junge wurde irrtümlicher Weise von der Polizei festgenommen, nachdem er auf dem Weg zur Drogerie in eine Auseinandersetzung demonstrierender Arbeiter geraten war. Teodora C. G. an Júez, Tribunal Tutelar de Menores, o.D. (26.9.1936), AGA 7/14.2, Nr. 101, Fallakte 172/1934. Ähnlich: Informe Luis S. del Castillo, 22.3.1934, AGA 7/14.2, Nr. 101, Fallakte 180/1934.
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„unerziehbar“ (incorregible) beschrieben.61 So erschien beispielsweise Mitte Januar 1936 Julio P. vor dem Gericht und erklärte, dass seine Erziehungsbemühungen gegenüber der 11-jährigen Emilia Josefa gescheitert seien, die er erst im letzten Jahr aus dem Wunsch heraus, ein eigenes Kind zu haben, adoptiert hatte. Er schlug vor, das Kind in ein städtisches Heim einzuweisen. Erst wenn das Mädchen „ein normales Verhalten an den Tag lege und sich ihm und seiner Frau gegenüber als Tochter verhalte“, wolle er sie wieder zu sich nehmen.62 In einem anderen Fall brachte ein Vater seinen 15-jährigen Sohn in den Jahren 1935 und 1936 gleich mehrfach vor den Jugendrichter, nachdem dieser ihn und seine Frau verbal und tätlich attackiert und dadurch auch seine zwei jüngeren Geschwister gegen die Eltern aufgewiegelt hatte. Wie ernst das Gericht diese Klagen nahm, zeigt sich daran, dass es den Jungen für 20 Tage in die städtische Erziehungsanstalt (reformatorio) im Stadtteil Carabanchel einwies.63 Natürlich mag das Bekenntnis elterlicher Ohnmacht vor dem Jugendgericht in vielen Fällen andere und zusätzliche Motive wie etwa materielle Not kaschiert haben, doch deutet die Häufung der Fälle und die Bestätigung der Lagebeschreibung durch eigene Untersuchungen des Gerichts darauf hin, dass Kindererziehung unter der Republik für viele Eltern ein solches Problem darstellte, dass sie öffentliche Hilfe aufsuchten. Die kindlichen Energien erschienen vielen Eltern nicht nur als förderungswürdig, sondern auch als beunruhigend, drohten sie doch immer wieder das als fragil wahrgenommene familiäre Zusammenleben zu unterminieren. Neben dem Problem, mit den eigenen Kindern fertig zu werden, brachten Eltern die Unterbringung in einem Heim oder Internat auch sehr häufig dann ins Gespräch, wenn sie sich von ihren Ehepartnern getrennt hatten und ein Aufwachsen ihres Kindes beziehungsweise ihrer Kinder in der Familie des ehemaligen Ehegatten missbilligten. Die Option Internat lag in Familienstreitigkeiten immer nahe, wobei es anscheinend in der Regel – aber nicht ausschließlich – die Väter waren, die für eine Internatsunterbringung plädierten. Anfang 1932 klagte etwa ein Vater, dass seine getrennt von ihm mit einem anderen Mann lebende Frau ein schlechtes Vorbild für seine Tochter sei, die sich unter ihrer Obhut befand. Er verlangte, seiner Frau das Sorgerecht abzuerkennen, und erklärte sich bereit, die gemeinsame Tochter in das Internat Hispano Francés des katholischen Ordens der Religiosas de María Teresa zu geben und die nicht unbeträchtlichen monatlichen Kosten in Höhe von 120 Peseten zu übernehmen. Auf diese Weise könnten sowohl er als auch seine
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Siehe etwa: Diligencias Previas, 10.6.1931, AGA 7/14, Nr. 23, Fallakte 570/1931; Aussage Maria G. P., 27.7.1932, AGA 7/14.2, Nr. 62, Fallakte 30/1932. Diligencias Previas, 11.1.1936, AGA 7/14.2, Nr. 130, Fallakte 63/1936; Aussage Julio P. G., 6.2.1936, ebd.; Aussage Julio P. G., 7.5.1936, ebd. Aussage Antonio G., 10.3.1935, AGA 7/14.2, Nr. 91, Fallakte 358/1933.
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Frau ihre Tochter regelmäßig sehen.64 In einem anderen Fall wollte ebenfalls im Frühjahr 1932 eine 26-jährige Mutter aus wohlhabender Familie ihre Tochter zumindest so lange auf ein Internat geben, bis nach Inkrafttreten des neuen Scheidungsrechtes die Trennung von ihrem Ehemann rechtskräftig sei.65 Zumindest für einen Teil der Eheleute erschien gegenüber den mit einer Trennung verbundenen Unruhen und Streitigkeiten ein katholisches Internat als bessere Option. Der Wunsch, Kinder in eine stabile, behütete Umgebung zu geben, war oft deutlich stärker als die Sorge, die Kinder von ihren Eltern zu trennen.66 Selbst die neuen republikanischen Schulen sahen sich gezwungen, aufgrund des deutlichen Elternwillens und entgegen der ursprünglichen Planungen Internatszweige zu eröffnen.67 Oftmals verliefen die Fronten zwischen Modernisierungsbefürwortern und -gegnern durch einzelne Familien. Pointiert beschreiben dies die Erinnerungen des Künstlers Fernando Fernán-Gómez an seine engsten Familienangehörigen: „Meine Mutter war Monarchistin [. . . ]. Meine Großmutter war liberal und sozialistisch – ohne den Widerspruch zwischen diesen beiden Begriffen zu bemerken [. . . ]. Sie hasste die Priester und verehrte San Antonio“.68 Dieses Zitat zeigt zugleich, dass die Frontstellungen zwar politische Dimensionen besaßen, doch die Beteiligten sich oft in sehr eklektizistischer Weise politischer Sprachen und Begriffe bedienten. Die Fronten innerhalb der Familien hatten weiterhin oft insofern eine geschlechterpolitische Dimension, als die neuen Rechte und Freiheiten der Frauen eine wichtige Rolle in den Familienkonflikten spielten. Besonders eindrücklich lassen sich die unterschiedlichen Haltungen gegenüber den neuen Möglichkeiten urbaner Kindheit und urbanen Familienlebens in einem Streit zweier getrennt lebender Ehegatten um die Schauspiel- und Kinokarriere ihrer Tochter erkennen.69 Ende 1935 wandte sich ein Vater an das Madrider Gericht und klagte, dass seine geschiedene Frau ihre Schutzpflicht gegenüber ihrer gemeinsamen 16-jährigen Tochter Elvira verletzt habe. Die Ehepartner 64 65 66
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Zu den familiären Auseinandersetzungen und den Vorschlägen siehe die umfangreiche Überlieferung: AGA 7/14.2, Nr. 62, Fallakte 24/1932. Maria Dolores d. V., Al Tribunal Tutelar de Niños, 7.1.1932, AGA 7/14.2, Nr. 62, Fallakte 25/1932. Siehe etwa: Acta de Comparecencia, 30.9.1929, AGA 7/14.2 1929/291; Vernehmung Maria B. M., 27.1.1930, AGA 7/14.2, Nr. 13, Fallakte 122/1930; Informe del Agente Investigador, o.D. (1932), AGA 7/14.2, Nr. 62, Fallakte 24/1932. Zur Nachbürgerkriegszeit: Domingo R. F. an Tribunal Tutelar de Menores, 2.12.1939, AGA 7/14.2, Nr. 154, Fallakte 1939/1500. Als literarisches Motiv: José Santugini, Un cuento para los niños: ¡El Coco! Crónica, 1.12.1929. Siehe etwa: Los Institutos en las Grandes Ciudades, El Sol, 22.8.1931; Un internado moderno en el Instituto de Zaragoza, El Sol, 2.10.1931; Campaña de „El Liberal“, Atenas 23, 15.10.1932. Fernán-Gómez, Tiempo Amarillo, S. 170. Siehe zum Folgenden die umfangreiche Überlieferung in: AGA 7/14.2, Nr. 130, Fallakte 15/1936.
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hatten sich schon bald nach Elviras Geburt Anfang der 1920er Jahre entfremdet und ihre gemeinsame Wohnung aufgegeben. Die Mutter hatte sich als Modedesignerin ein neues und unabhängiges Leben aufgebaut und auch versucht, als Schauspielerin Fuß zu fassen. Sobald ihr dies rechtlich möglich war, reichte sie einen Antrag auf Scheidung ein. Die Mutter, die nach einem für das Jugendgericht erstellten Bericht ein „etwas freizügiges Leben“ führte, ließ auch der bei ihr aufwachsenden Tochter viele Freiheiten und pflegte, soweit es die Quellen erkennen lassen, einen partnerschaftlichen Erziehungsstil. So nahm sie die Tochter entgegen den unausgesprochenen Normen der Zeit und zum Entsetzen des Vaters mit in Cafés und Bars. Der Vater hatte sich nach eigener Aussage schon in den 1920er Jahren intensiv darum bemüht, die Tochter zu sich zu nehmen, doch hatte es die Mutter stets verstanden, ihn begünstigende Gerichtsurteile – Kinder über drei Jahre wurden nach dem Familienrecht von 1889 im Fall von Trennungen dem Vater zugesprochen – zu umgehen. Nachdem sich die rechtliche Lage mit der Einführung des neuen Scheidungsrechtes für ihn verschlechtert hatte, wandte er sich an das Kindergericht, um unter Verweis auf die vermeintliche moralische Korruption der Tochter durch ihre Karriere als Model und Schauspielerin doch noch das Sorgerecht für diese zu erhalten. Die Mutter habe Elvira unrechtmäßigerweise erlaubt, für Werbeplakate zu posieren und als Schauspielerin in anzüglichen Filmen mitzuwirken. Er ersuchte das Gericht, der Mutter das Sorgerecht abzuerkennen, ihm die Tochter zu überantworten und dieser die Schauspielerei zu verbieten. Er habe vor, Elvira für „eine Zeit der Umerziehung“ in ein Internat zu geben. Neben Sorgerechtsfragen ging es hier im Kern um die Frage nach angemessenen kindlichen Lebensentwürfen und Rechten. Die angerufene Mutter wehrte sich vehement gegen die erhobenen Vorwürfe, indem sie nicht nur auf die ihres Erachtens moralisch einwandfreie Handlung des Spielfilms verwies, sondern allgemein das Recht ihrer Tochter, in Filmproduktionen mitzuwirken und in der Öffentlichkeit aufzutreten, verteidigte. Zwei unterschiedliche Ansichten der Ehegatten über Kindheit und Familie werden hier erkennbar. Einerseits erfolgte eine unterschiedliche Abwägung von Schutz- und Entfaltungsrechten des Kindes. Während der Vater den Schutz des Kindes vor möglicher Ausbeutung höher gewichtete, hob die Mutter das Recht ihrer Tochter auf die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit hervor. Darüber hinaus gibt der Fall der kindlichen Schauspielerin Elvira Einblicke in innerfamiliäre Demokratiegewinner und -verlierer. Während die Mutter auch im Namen ihrer Tochter die neuen Chancen von Mädchen und Frauen im öffentlichen Raum, welche die Zweite Republik eröffnete, ausnutzen wollte, sah sich der Vater als Demokratieverlierer, fürchtete er doch eine Entfremdung von seiner Tochter und den Verlust seines gesellschaftlichen Prestiges als Familienoberhaupt. Während in diesem Fall die Frau den gesellschaftlichen Wandel als Chance begriff, waren es in anderen Fällen Männer, welche auf eine Neugestaltung
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III. Aushandlungen
familiären Lebens drängten. Nach Aussage seiner Ehefrau, die nach dem Bürgerkrieg eine steile Karriere im franquistischen Hilfswerk Madre y Niña (Mutter und Tochter) durchlief und ihrem Ehemann das Sorgerecht aberkennen lassen wollte, hatte der Zahnarzt Tomás C. unter der Republik eine ausgesprochen religionsfeindliche Haltung an den Tag gelegt. Er wollte seine drei Kinder nicht taufen lassen, verweigerte die Teilnahme an ihrer Erstkommunion und plante, sie an der Deutschen Schule in Madrid einzuschreiben, ohne sie dort am Religionsunterricht teilnehmen zu lassen. Nur mit Mühe gelang es der Mutter nach eigener Aussage, sich gegen ihren Ehemann durchzusetzen und die Kinder auf katholische Schulen zu geben. Jenseits des innerfamiliären Streits um religiöse Erziehung zeichnen die Quellen ein Bild von Tomás C. als Vater, der einerseits seinen Kindern eine möglichst gute Ausbildung vermitteln wollte – nach Aussage der Mutter gab er ihnen „Novellen und alle Arten von Büchern in die Hand“ – andererseits aber neue Umgangsformen mit seinen Kindern anstrebte und ihnen größere Freiheitsrechte zugestand.70 Es bleibt unklar, wie stark die familiären Konflikte vor 1936 ausgeprägt waren und inwieweit die Trennung der Familie während des Bürgerkriegs auf vorangegangene Ehekonflikte zurückzuführen ist. Doch lassen sich auch in diesem Fall unterschiedliche Haltungen innerhalb einer Familie zu Fragen der Kindererziehung und des Lebenslaufes in der urbanen Stadtgesellschaft Madrids erkennen. Während es in der republikanischen Zeit zu einer Art Pattsituation zwischen den Eheleuten gekommen war, verschob der franquistische Sieg im Bürgerkrieg die familiären Machtverhältnisse paradoxerweise zugunsten der Frau. Sie nutzte die neuen politischen Rahmenbedingungen der Diktatur, um im Herbst 1939 zeitgleich eine Scheidungsklage vor dem Kirchentribunal von Madrid als auch eine Sorgerechtsklage vor dem Jugendgericht einzureichen. Angesichts der massiven Vorwürfe der Irreligiosität und ihrer Regimenähe konnte sie in beiden Fällen von einem fast sicheren Erfolg ausgehen. Der Frühfranquismus bedeutete somit nicht nur das Ende liberaler Frauenemanzipation und eine deutliche rechtliche Schlechterstellung der Frauen, sondern eröffnete zumindest einigen Frauen auch neue Spielräume, sofern sie ihre ideologische Nähe zum Regime beweisen konnten. Wie im ersten Fallbeispiel war es auch in diesem Fall der Mann, der die staatlichen Eingriffe in seine Familie als Angriff auf seine überkommene Autorität als Familienvorstand und Schwächung seiner sozialen Stellung beklagte, allerdings in diesem Fall unter den politisch völlig andersartigen Bedingungen der Franco-Diktatur. Den Beschlüssen der Kirchen- und Jugendgerichte ohnmächtig ausgesetzt, von denen er sich regelrecht „belagert“ fühlte und die seiner Frau Recht gaben, entschied er sich 70
María G. L. an Júez, Tribunal Tutelar de Menores, 18.10.1939, AGA 7/14.2, Nr. 154, Fallakte 1495/1939; Tomás C. an Ramón Alberola y Such, Júez, Tribunal Tutelar de Menores, 20.4.1940, ebd.; Informe Delegada Flores, 1.5.1940, ebd.; Acuerdo Tribunal Tutelar de Menores, 29.5.1940, ebd.
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im Jahr 1940, nach Chile zu emigrieren. Die Kinder des Ehepaares gingen zu diesem Zeitpunkt alle auf katholische Internate. Ein letztes Beispiel vermag die kulturelle und politische Aufladung innerfamiliärer Konflikte im Madrid der Zweiten Republik beleuchten. Im März 1936 reichte die vermögende, in den besseren Schichten Madrids gut vernetzte 74-jährige Doña Cayetana A. eine Beschwerde gegen den Mann ihrer verstorbenen Nichte, Pedro M., ein, da er ihrer Meinung nach durch seinen unmoralischen Lebenswandel ihre Großnichte Consuelo schädige. Eigene Nachforschungen des Gerichts und umfangreiche Zeugenbefragungen ergaben, dass die beiden Familienhälften schon seit längerer Zeit verfeindet waren. Doña Cayetana hielt dem Vater ihrer Großnichte vor allem sein vermeintliches Leben als Bohemien in einer Gesellschaft von „Toreros und Abenteuersuchenden“ vor. Über dieses Leben vernachlässige er die Erziehung seiner Tochter und misshandele diese sogar. Agenten des Gerichtes konnten in ihren Nachforschungen die Vorwürfe nicht bestätigen, doch sind diese in kulturhistorischer Perspektive aufschlussreich, da sie in Vielem an die neuen Leitbilder von Kindheit und Erziehung anknüpfen. Die Großmutter stellte ihre Nichte Consuelo in ihrer Anklage als gleich mehrfach bedroht dar. Nicht nur behindere der Vater durch seine pädagogische Sorglosigkeit eine Entfaltung ihrer Persönlichkeit und verbaue ihr letzten Endes Karrierechancen, sondern die Konfrontation des Mädchens mit der Erwachsenenwelt von Toreros und Spielern sowie die emotionalen Misshandlungen (malos tratos) durch den Vater drohten auch unwiderrufliche Schäden in der Kinderseele zu hinterlassen. Es war vor diesem Hintergrund wenig erstaunlich, dass die Großmutter wiederholt die Unterbringung von Consuelo in einem katholischen Internat forderte, zuletzt Anfang Juni 1936 am Vorabend des Bürgerkrieges.71 Interessanterweise brachte ein Agent des Gerichtes ebenfalls die Internatsoption ins Spiel. Auch er sah die Kinderpersönlichkeit von Consuelo bedroht, allerdings nicht durch die sich als Fiktion herausstellenden Misshandlungen des Vaters, sondern durch den innerfamiliären Streit der beiden Familienzweige. Es gelte, so urteilte er, Consuelo aus dem ihre kindliche Psyche gefährdenden „Ambiente aus Intrigen und Hass zu befreien“. Er regte an, den Streitparteien vorzuschlagen, „das Kind in einer friedlichen Umgebung erziehen zu lassen, [. . . ] um auf diese Weise zu verhindern, dass die Heranwachsende die Umgangsweisen der beiden Familienzweige kennen lernt.“72 Beide Streitparteien sowie das Gericht griffen somit auf die neue Sprache der Kinderpsychologie zurück, um ihre Forderungen zu legitimieren. Es muss in diesem Fall offen bleiben, ob die interfamiliären Differenzen auch politische Dimensionen hatten. Sie zeigen jedoch wiederum, dass die 71
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Información sumaria, 19.3.1936, AGA 7/14.2, Nr. 131, Fallakte 428/1936; Cayetana A. an Júez, Tribunal Tutelar de Menores, 8.6.1936, ebd. Siehe auch die umfangreichen weiteren Schriftstücke in der Akte. Informe, Luis S. del Castillo, 26.6.1936, AGA 7/14.2, Nr. 131, Fallakte 428/1936.
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III. Aushandlungen
neuen Zeiten innerhalb derselben Familie sowohl als Chance wie auch als Bedrohung begriffen werden konnten. Hoffnungen, ein neues, besseres Verhältnis zu ihren Kindern aufzubauen und ihnen den Weg in eine erfolgreiche Zukunft zu ebnen, mischten sich in im Einzelnen vielfältigen Kombinationen mit Ängsten vor einer Deformation des Kindes in der Großstadt und dem Wunsch nach einer besseren Kontrolle des Aufwachsens. Hinsichtlich der Frage nach den Chancen der Demokratie im Spanien der frühen 1930er Jahre ergibt ein Blick auf Familien einen ambivalenten Befund. Zwar fanden gegen die Republik gerichtete familienreformerische Forderungen keine Mehrheit, aber den republikanischen Kräften gelang es bis 1936 ebenfalls nicht, über die Popularisierung neuer demokratischer Familienmodelle der neuen Staatsform eine stabile gesellschaftliche Grundlage und Akzeptanz zu verschaffen. Insgesamt deutet das Zurücktreten des republikanischen Familienmodells in den öffentlichen Debatten seit 1933 darauf hin, dass die pessimistische Sichtweise, die Ängste vor einer Überforderung der Familien und einer Korruption der Kinder gegen Ende der Republik die Oberhand gewannen. Damit lockerten sich die Bindungen der Familien zur republikanischen Staatsform und verliehen tendenziell Bewegungen – keineswegs nur auf der politischen Rechten – Legitimität, die für eine neue Ordnung und eine Einhegung von Kindheit eintraten.
3. Kommerzielle Kinderzeitschriften zwischen Kindheitsreform und Kinderinteressen Kinderzeitschriften wurden in Spanien seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem populären Massenmedium und zu einem wichtigen Bestandteil bürgerlich-urbaner Kindheit. In unserem Untersuchungskontext sind sie von Interesse, da sie Knotenpunkte darstellten, an denen sich Kinderreformprojekte von Erwachsenen mit kommerziellen Interessen der Zeitschriftenverleger und Lesewünschen von Kindern trafen, die über ihr Konsumverhalten auf die Inhalte der Zeitschriften einwirkten. Wie sich in diesem dynamischen Kontext die Kinderpresse und ihre Inhalte veränderten, kann deshalb wichtige Aufschlüsse über die Reichweite und Wirkungen der Gesellschaftsreformprojekte liefern und umgekehrt die politischen Folgen der Kommerzialisierung urbaner Kinderkulturen entschlüsseln helfen. Wie veränderte sich die didaktische Ausrichtung der Zeitschriften? Politisierten sich die Kinderzeitschriften in den Jahren vor dem Bürgerkrieg oder bildete sich im Gegenteil eine von politischen Einflüssen weitgehend freie Kinderunterhaltungskultur heraus? Die Zeitschriften geben nur bedingt Einblicke in die Lebenswelten realer Kinder, wohl aber in Projektionen, Fantasien und Wünsche von Erwachsenen und Kindern im Wandel. Insbesondere thematisieren sie immer wieder in fiktionaler Form das Verhältnis von Erwachsenen und Kindern. Die historische Wissenschaft hat die breite Vielfalt von Kinderzeitschriften, die bürgerliche Erbauungsblätter ebenso umfasste wie Comics, Humor- und Rätselhefte, als Quelle bisher kaum beachtet und ihre Erforschung bislang den Literaturwissenschaften und insbesondere dem spezialisierten Feld der Kinderbuchforschung überlassen.1 Neben einigen allgemeinen Abhandlungen zur spanischen Kinderliteratur, die am Rande auch Kinderzeitschriften 1
Vgl. zur neueren Literatur zu Deutschland: Reiner Wild (Hrsg.), Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur, Stuttgart, 3. vollst. überarb. und erw. Aufl. 2008; Ders. (Hrsg.), Gesellschaftliche Modernisierung und Kinder- und Jugendliteratur, St. Ingbert 1997; Norbert Hopster u. a. (Hrsg.), Kinder- und Jugendliteratur 1933–1945. Ein Handbuch (2 Bde.), Stuttgart 2001, 2005; Birte Tost, Moderne und Modernisierung in der Kinder- und Jugendliteratur der Weimarer Republik, Frankfurt/Main 2005; Gisela Wilkending, Mädchenliteratur der Kaiserzeit. Zwischen weiblicher Identifizierung und Grenzüberschreitung. Hg. in Verb. mit Solke Kirch u. a., Stuttgart 2003; Helga Karrenbrock, Märchenkinder-Zeitgenossen. Untersuchungen zur Kinderliteratur der Weimarer Republik, Stuttgart 1995; Klaus Doderer, Literarische Jugendkultur. Kulturelle und gesellschaftliche Aspekte der Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland, Weinheim 1992. Zu den USA: Elbert, Enterprising Youth; Levander, American Child; Schmunk Murray, Children’s Literature; Gilian Avery, Behold the Child. American Children and their Books, 1621–1922, Baltimore 1994. Zu Frankreich: Brown, Critical History. Zu Russland/
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III. Aushandlungen
behandelt, existieren zum spanischen Fall zwei bibliographische Arbeiten, welche die Entwicklung der Kinderzeitschriften abbilden.2 Anders als in der literaturwissenschaftlichen Kinderliteraturforschung kann es im Folgenden nicht um die detaillierte Einzelanalyse der Zeitschriften, ihrer Inhalte und deren Verortung in literarischen Traditionen gehen. Vielmehr bildet die Literaturgeschichte den allgemeinen Hintergrund, vor dem die Beziehungen von Kindheit, Gesellschaft und Politik in den Zeitschriften untersucht werden. Als Vorbild können einige neuere Arbeiten dienen, die es unternommen haben, Kinderliteratur als geschichtliche Produktivkraft zu bestimmen. Die Historikerin Julia Mickenberg hat beispielsweise überzeugend argumentiert, dass Kinderbücher der 1950er Jahre in den USA demokratisch-progressiven Werten der 1930er Jahre einen wenig beachteten Entfaltungsraum gaben. Sie wurden von Zensurmaßnahmen und konservativen Einhegungsversuchen, welche die allgemeine Kultur des Landes im Kalten Krieg prägten, wenig behelligt und bildeten somit wichtige Tradierungsmedien zwischen der linksprogressiven Politik der 1930er Jahre und den politischen Jugendbewegungen der 1960er Jahre, die von der historischen Forschung in der Regel übersehen werden.3 Gemeinsam ist innovativen Arbeiten wie der von Mickenberg, dass sie nach den Wechselwirkungen von Politik und Kinderliteratur fragen und in kommerziellen Publikationen für Kinder alternative kinderkulturelle Überlieferungsstränge aufdecken, die gleichsam hinter dem Rücken offizieller kultureller Normen und Werte wirkten. Die Untersuchung von Kinderkultur kann somit helfen, gegenläufige, in der normativen pädagogischen Literatur der Zeit nicht thematisierte Entwicklungen von Kindheit und Kinderkultur in den Blick zu bekommen.4 Die wenigen Arbeiten, die sich in kulturhistorischer Perspektive mit der Kinderpresse beschäftigt haben, sind bislang zu sehr konträren Bewertungen
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Sowjetunion: Evgeny Steiner, Stories for Little Comrades. Revolutionary Artists and the Making of Early Soviet Children’s Books, Seattle 1999. García Padrino, Libros; José Altabella, Las Publicaciones Infantiles en su Desarrollo Histórico, Madrid 1964; Bravo Villasante, Historia. Bibliographisch: María Purificación Arango González, La Prensa Infantil Española de 1833 a 1923. Phil. Diss., Madrid 1989; Alejandro Martínez García/Ricardo Miguel Feito, Catálogo de las Publicaciónes Periodicas Infantiles Españolas desde 1798 a 1936, Madrid 1977. Mickenberg, Learning, bes. S. 7. Vgl. als weitere überzeugende Darstellungen und Analysen: Catriona Kelly, Comrade Pavlik. The Rise and Fall of a Soviet Boy Hero, London 2005; James Alan Marten, Lessons of War: The Civil War in Children’s Magazines, Wilmington/ Del. 1998. Vgl. auch die Hinweise in: Hans-Heino Ewers, Kinderliteratur als Medium der Entdeckung von Kindheit, in: Imbke Behnken/Jürgen Zinnecker (Hrsg.), Kinder – Kindheit – Lebensgeschichte. Ein Handbuch, Seelze-Velbert 2001, S. 48–62. In dieser Hinsicht muss meiner Meinung nach auch die These von Jean-Louis Guereña korrigiert werden, der aus einer Kontinuität der Benimmfibeln bis in die 1950er Jahre hinein eine Kontinuität des gesellschaftlichen Zugriffs auf Kinder ableitet. Die Kinderzeitschriften stellten jedoch spätestens am Ende der 1920er Jahre ein neues bedeutendes Massenmedium dar, dessen tatsächlicher Einfluss auf Kinder wohl weit höher einzuschätzen ist als derjenige der Fibeln: Guereña, Alfabeto, bes. S. 166–68.
3. Kinderzeitschriften zwischen Kindheitsreform und Kinderinteressen
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des Wandels im 20. Jahrhundert gekommen. Eine Interpretation geht davon aus, dass es im Verlauf der ersten Jahrhunderthälfte zu einer didaktischen Domestizierung einer zunächst deutlich von anarchischen, volkskulturellen Traditionen bestimmten literarischen Kinderkultur kam. Der Aktionsradius der literarischen Kinderfiguren wurde immer mehr auf das Haus und die Familie beschränkt, Elemente der Subversion und die Darstellung von Gewalt nahmen deutlich ab. Im Gegensatz zu dieser Interpretation betont ein anderer Forschungsstrang eher eine Entpädagogisierung der Kinderpresse in den 1920er Jahren und eine Freisetzung und Aufwertung von Kinderfiguren gegenüber der Erwachsenenwelt.5 Die folgenden Ausführungen können keine umfassende Analyse der Kinderpresse bieten, sondern bezwecken allein die Identifizierung einiger grundlegender Trends. Um die große, bisher noch nicht durch die Forschung gegliederte Materialfülle der etwa 25 zwischen 1874 und 1936 in Madrid verbreiteten Zeitschriften, die in Bibliotheken auffindbar waren und die in einigen Fällen mehrere Jahrzehnte umspannten, sinnvoll bändigen zu können, war eine Beschränkung des Zugriffs nötig. Diese bestand darin, jeweils die ersten Nummern der Zeitschriften durchzusehen und ein besonderes Augenmerk auf die Vorworte, die Aufteilung in Rubriken sowie schließlich auf die wichtigsten Fortsetzungsgeschichten zu legen. Die meisten Zeitschriften der 1920er und 1930er Jahre versuchten gezielt, literarische Figuren als Markenzeichen und Identifikationspunkte für die Leserschaft zu entwickeln, an denen sich Veränderungen der Kinderbilder, der didaktischen Programme und Leserwünsche besonders gut ablesen lassen. Die populärsten Kinder-Protagonisten dieser Geschichten wie das Mädchen Célia, der Hase Roenueces oder Pipo und seine Hündin Pipa wurden wie die ebenfalls seit den 1930er Jahren äußerst populäre Mickey Mouse zu innerhalb Spaniens weit über Kinderkreise hinaus bekannten Gestalten, die in Theaterstücken und Kinofilmen dargestellt wurden und als Spielzeugfiguren bürgerliche Kinderzimmer bevölkerten.6 5
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Die Interpretationen sind allerdings bislang kaum explizit formuliert worden. Zur Domestizierungsthese: Daniel Greenstone, Frightened George. How the Pediatric-Educational Complex Ruined the Curious George Series, in: Journal of Social History 38 (2005), S. 221– 28. In weiterer Perspektive: Stearns/Haggerty, The Role of Fear. Eher Momente der Freisetzung betonen dagegen: Helga Karrenbrock, „Revolution im Bücherschrank der Kinder“. Zur Synchronisierung von Kindheit in den Kinderromanen der Neuen Sachlichkeit, in: Reiner Wild (Hrsg.), Gesellschaftliche Modernisierung und Kinder- und Jugendliteratur, St. Ingbert 1997, S. 124–39; Anaïs González Suescun, Una Nueva Propuesta de Lectura Infantil. La Colección Infantil Kiriki, las Famosas Aventuras de un Niño Bolcheviki (1920), in: Cultura escrita y sociedad 5 (2007), S. 111–28. Célia, die Protagonistin einer von 1929 bis 1936 laufenden Fortsetzungsgeschichte von Elena Fortún, wurde zu einer der bekanntesten fiktiven Kinderfiguren der neuesten spanischen Geschichte. Ihre dauerhafte Popularität über einzelne Generationen hinweg zeigt sich nicht nur im dauerhaften Erfolg der aus den Einzelgeschichten zusammengestellten Bücher, sondern prägnant auch darin, dass das spanische Staatsfernsehen Anfang der
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III. Aushandlungen
Im Folgenden werden zunächst das Genre der erbaulichen Kinderpresse des späten 19. Jahrhunderts beschrieben und anschließend einige wichtige Veränderungsimpulse benannt, welche die Kinderpresse seit dem Ersten Weltkrieg grundlegend veränderten. Vor allem die Kommerzialisierung der Presse wird als wesentlicher Faktor in der Herausbildung eines neuen Modells von Kinderzeitschrift herausgestellt. In einem letzten Schritt geht es schließlich um politische Überformungen und politische Konnotationen der neuen Kindermagazine.
3.1 Die frühen Kinderzeitschriften als Mittel bürgerlich-moralischer Reform Der Erste Weltkrieg bildete in Spanien eine deutliche Zäsur in der Geschichte der Kinderpresse. Die neuen Kinderzeitschriften, die während und nach dem Ersten Weltkrieg erschienen, unterschieden sich in ihrem Inhalt deutlich von den Journalen, die bis dahin das Bild geprägt hatten. Eine erste Welle von Zeitschriften, die noch nicht Projekte großer Verlage waren, sondern der Initiative von Einzelpersonen entsprangen, hatte seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts Kinderunterhaltung als Mittel bürgerlich-moralischer Selbst- und Gesellschaftsreform zu nutzen versucht.7 Die vor allem in Madrid und Barcelona angesiedelten erbaulichen Zeitschriften wollten die schulische und familiäre Erziehung ergänzen und dazu beitragen, Kinder auch jenseits des Schulunterrichts zu bilden. In der Vorstellung der Zielsetzung seiner Zeitschrift La Niñez, die von 1879 bis 1882 erschien, schrieb der Schriftsteller und Journalist Manuel Ossorio y Bernard (1839–1904): „Wir wollen eine Zeitschrift machen, die der beste Freund der Kinder ist, die unterhaltend erzieht (instruya deleitándo) und die ein unparteiischer Führer ist, welche sie [die Heranwachsenden, T.K.] zum Guten führt, ihren Verstand
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1990er Jahre die Mädchenfigur zum Mittelpunkt einer sechsteiligen Fernsehserie machte: José Luis Borau, Célia, TVE 1, 5.1–9.2.1993. Pipo und Pipa waren die Protagonisten der Kinderseiten der Illustrierten Estampa, welche ihre Abenteuer in Comicform von 1928 bis 1936 publizierte. Sie bildeten schon Ende 1930 die Hauptfiguren eines Theaterstücks und 1936 eines Kurzfilms von Adolfo Aznar nach dem Drehbuch ihres Erfinders Salvador Bartolozzi. Siehe: Luis G. de Linares, Un interviú con los actores del Teatro Pinocho para niños en el Español, Estampa, 3.1.1931; Werbeanzeige, Estampa, 21.12.1935. Zur Popularität der Figuren siehe auch: Juan G. Olmedilla, El Padre y el niño, Crónica, 19.6.1932; Luisa Trigo, 4000 niños en la feria del libro, Estampa, 13.6.1936. Zur Frühzeit siehe Borras Llóp, Historia, S. 54; Colette Rabaté, Juegos y Educación en algunas Revistas Infantiles Madrileñas de Mediados del Siglo XIX, in: Historia de la Educación 12–13 (1993–94), S. 365–82.
3. Kinderzeitschriften zwischen Kindheitsreform und Kinderinteressen
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entwickelt und die reinen und noblen Gefühle ihrer Seele bewahrt“.8 Ganz ähnlich, allerdings in Form eines fiktiven Dialoges, umriss der Schriftsteller und Journalist Carlos Frontaura (1835–1910), der schon 1870 in Madrid eine Zeitschrift mit dem gleichen Titel publiziert hatte, in der ersten Nummer seiner Barceloneser Zeitschrift Los Niños im Jahr 1883 die Ziele seines Unternehmens. Die Zeitschrift sollte der „intellektuellen und moralischen Entwicklung“ der Kinder dienen. Anhand der Gespräche und Erlebnisse einer fiktiven Kindergruppe, deren Darstellung das Zentrum der Zeitschrift bildete, sollten die jungen Leser lernen, „gute Eigenschaften zu imitieren und schlechte Eigenschaften zu meiden“.9 Die Zeitschriften arbeiteten intensiv an der Durchsetzung eines neuen bürgerlich-moralischen kindlichen Selbst. Die Charakterformung sollte allerdings anders als in der Schule von den Kindern unbemerkt auf unterhaltende Art und Weise, damit aber auch wirksamer geschehen. Die unterhaltenden Elemente der Zeitschriften waren kein Zweck an sich, sondern dienten – und damit ordneten sich die Magazine einer langen literarischen Tradition ein – didaktischen Zielen, indem Sie die Kinder für die Zeitschriften interessierten und die Aufmerksamkeit für die moralischen Lehren gewährleisteten. Sie waren der Honig, um die Medizin der Moralreform schmackhaft zu machen.10 Das Programm der bürgerlichen Persönlichkeitsbildung bestimmte Aufbau und Inhalte der Zeitschriften. Im Mittelpunkt standen moralische Parabeln, die fast sämtliche Seiten der Journale einnahmen. Fast alle Geschichten erörterten moralische Einsichten, die den Kindern in narrativer Form verständlich gemacht werden sollten. Die Erzählungen beschrieben stets eine exemplarische Verhaltens- und Einstellungsänderung eines Kindes als Resultat einer Einsicht in eigene Fehler.11 In einer Geschichte in Los Niños wird ein Mädchen María beispielsweise für ihren Hochmut, sich zum Dreikönigstag nur ein ganz bestimmtes Geschenk zu wünschen, welches das Budget ihrer Mutter übersteigt, dadurch bestraft und zur Einsicht geführt, dass die Mutter das für ein Geschenk beiseite gelegte Geld einer armen Familie gibt: „Das nächste Mal, meine Tochter, wirst du nicht so hochmütig und launisch sein und deine Mutter nicht durch deine Undankbarkeit belasten“. Tatsächlich 8
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Presentación, La Niñez 1, Jan. 1879. Zum moralisch-pädagogischen Charakter der frühen Kinderzeitschriften siehe auch: Borrás Llop, Historia, S. 54. Dort findet sich auch eine Auflistung der frühen Zeitschriften. Carlos Frautera, Diálogos de niños, Los Niños 1, 1.1.1883. Bereits in ihren identischen Untertiteln „Zeitschrift für Bildung, Erziehung und Erholung“ deuteten La Niñez und Los Niños ihr Reformprogramm an. Als weiteres Beispiel für das didaktisch-moralische Modell von Kinderunterhaltung vgl. Para los Niños, El Colegio (Sevilla) 2, 31.12.1887. Zur Zeitschrift siehe auch: Ana Martínez Arancón, Ciudadanos del mañana. La Revista Los Niños y la educación cívica, in: Historia de la Educación 24 (2005), S. 291–308. „Wir werden versuchen, zu bilden, aber unterhaltend, so dass das Kind es nicht bemerkt.“ A. Anguiz, Recreos infantiles. Sección del desarrollo intelectual, Los Niños 1, 1.1.1883. Als gutes Beispiel: Los Reyes Magos, La Niñez 1, Jan. 1879.
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III. Aushandlungen
sieht María ihr fehlerhaftes Verhalten ein und gelobt Besserung, woraufhin die Mutter sie mit Liebkosungen tröstet.12 Religion war als Fundament moralischer Ordnung ein integraler Bestandteil kindlicher Persönlichkeitsreform. Sie gab den Kindern eine moralische Rahmenordnung vor, anhand derer sie ihr Handeln ausrichten konnten. Viele Erzählungen stellten die Autorität göttlicher Gebote heraus, indem sie etwa das Gebot des freien Sonntags oder die Pflicht des Gehorsams gegenüber den Eltern erläuterten. Andere Geschichten sollten den Kindern helfen, ihren angeborenen Egoismus zu überwinden und Mitleid und Caritas zu lernen. Insgesamt präsentierten die Zeitschriften die Befolgung der religiösen Gesetze als ein zentrales Mittel der Arbeit an der eigenen Persönlichkeit.13 Die Geschichten legten weiterhin nahe, dass eine kindliche Selbstreform nur durch Eingriffe von Erwachsenen erfolgreich sein kann. Es sind stets Erwachsene, die Kinder auf ihre Fehler aufmerksam machen und ein Umdenken einleiten. In den frühen Kinderzeitschriften erschienen Kinder immer als Protagonisten zweiter Ordnung, deren Handeln in einer von Erwachsenen kontrollierten und strukturierten Umgebung erfolgte. Sie waren Erwachsenen vollständig untergeordnet. Erst durch deren Eingreifen wurden sie aus einem Zustand selbstbezogenen, kreatürlichen Handelns herausgehoben und moralisch geläutert. Besonders deutlich zeigt dies die Dreikönigsgeschichte El Regalo de los Reyes (Das Geschenk der Könige), in welcher die Kinder Fernando, Ernesto und Camilia Objekte einer verborgenen Versuchsanordnung ihres Vaters sind, dem sie, obwohl er anfänglich ihre Hoffnungen auf Geschenke enttäuscht, aufs Wort gehorchen. Sie beklagen sich nicht, als sie am Dreikönigsmorgen in ihren Schuhen statt Spielzeug zunächst nur moralischchristliche Sinnsprüche finden. Als sie am Ende, durch die Sinnsprüche geläutert, dann doch noch Spielzeug erhalten, findet sich die Tochter sofort bereit, ihre Geschenke unter den armen Kindern der Nachbarschaft zu verteilen.14 Die moralische Persönlichkeitsbildung wurde umrahmt von Abhandlun12
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Diálogos de niños, Los Niños 2, 15.1.1883. Diesen Läuterungsgeschichten sind immer wieder abschreckende Geschichten gegenübergestellt, die die Folgen unmoralischen Verhaltens in drastischen Bildern von persönlichem Leid und Zerfall beschreiben. Siehe nur: Enrique el Envidioso. Comedia en un acto y en verso, La Niñez 2, Jan. 1879; Aventuras de Periquito: I. Periquito angelito, Los Niños 4, 15.2.1883. Vgl. nur: Marmontel, Moral religiosa , La Niñez 1, Jan. 1879; Sanctificat las fiestas, La Niñez 2, Jan. 1879; Conversaciones de un padre a sus hijos: Sobre Historia Sagrada, La Niñez 7, März 1879; Caridad, Los Niños 1, 1.1.1883; A. Anguiz, Jesús, Los Niños 7, 1.4.1883. Schon ihre Namen, deren Anfangsbuchstaben auf die drei christlichen Kardinaltugenden Fé, Esperanza, Caridad (Glaube, Hoffnung, Liebe) verweisen, kennzeichnen die Kinder als ideale Wesen: Eusebio Blasco, Cuento: El Regalo de los Reyes, Blanco y Negro, 12.1.1901. Vgl. weiterhin: Los Reyes Magos, Blanco y Negro, 1.1.1893; Mauricio López Roberts, Cuento de Reyes, Blanco y Negro, 7.1.1905; Julita y su muñeca. Cuento de Año Nuevo, Blanco y Negro, 7.1.1905; Vicente Medina, Como mi niña, Blanco y Negro, 4.1.1908.
3. Kinderzeitschriften zwischen Kindheitsreform und Kinderinteressen
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gen zu patriotischen, geographischen und naturwissenschaftlichen Themen. La Niñez publizierte beispielsweise in den ersten Ausgaben in Form von Briefen populäre Traktate über volkswirtschaftliche Themen, in denen die Konzepte von Angebot und Nachfrage erläutert wurden, sowie Aufsätze über Heraldik. Los Niños vermittelte den Kindern Informationen über bedeutende Schlachten der Reconquista und erklärte ihnen die Planetenbewegungen.15 Diese Artikel nahmen jedoch eine deutlich untergeordnete Rolle ein. Die Information über Phänomene der Welt trat gegenüber der moralischen Läuterung zurück. Die erbaulichen Zeitschriften waren integraler Bestandteil der im ersten Teil dieser Arbeit besprochenen bürgerlich-christlichen Kinderreformbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Anders als es seit den 1920er Jahren der Fall sein sollte, setzte die Kinderpresse noch keine eigenen Akzente oder bildete gar einen Gegenpol zu den bürgerlichen Erneuerungsbemühungen. Sie war allerdings ebenso wie die Reformbewegung als solche politisch keineswegs eindeutig aufgeladen, wie eine Abhandlung über unterschiedliche Bootsarten in Los Niños belegen kann. Diese kam auch auf das Schicksal von Galeerensklaven zu sprechen und pries dabei am Ende das Glück individueller Freiheit. Diese Beschreibung legt nahe, dass das Programm moralischer Persönlichkeitsreform nicht nur an religiös-konservative, sondern durchaus auch an liberale Gesellschaftsentwürfe anschlussfähig war. Jeder unternehmungslustige Mensch, so der Autor, müsse damit rechnen, „ohne selbst Schuld daran zu haben, einige Monate seines Lebens in Ketten zu verbringen“.16 Das hier dargestellte Modell wirkte in das 20. Jahrhundert hinein. Auch nach der Jahrhundertwende gegründete Magazine wie etwa die vom Madrider Philanthropen Ángel Bueno geleitete Zeitschrift Madrileñillos, die unter verschiedenen Namen zwischen 1910 und 1927 erschien, führten das Programm moralisch-bürgerlicher Selbstreform fort, wenn auch im Unterschied zu den älteren Magazinen das Thema des sozialen Ausgleichs stärker akzentuiert wurde. Ein Nachruf auf den Herausgeber fasste die Bemühungen der kostenlosen Zeitschrift in diesem Sinne zusammen: Sie habe die schwierige Aufgabe unternommen, „vollkommene Staatsbürger zu schmieden, Menschen, die der Gesellschaft nützlich sind [. . . ]. Indem sie Kultur und Tugenden säte, führte sie die reichen Kinder den leuchtenden Pfad entlang zur Liebe der armen Kinder.“17 Seit dem Ersten Weltkrieg wirkten jedoch allmählich auch 15
16 17
Cartas á un niño sobre la economía política, La Niñez 7, März 1879; Notas, La Niñez. 2, Jan. 1879; Teodoro Baró, La Batalla de las Naves de Tolosa (I), Los Niños 1, 1.1.1883; El Paso de Vénus delante del sol, ebd. Julian Bastinos, Viajes Pintorescos, ebd. Para Mayorcetes y Mayores: Labor educativa de D. Angel Bueno, Madrileñillos, Número póstume, Nov. 1927. Weitere Zeitschriften, die dieses Programm in jeweils unterschiedlichen Ausprägungen verfolgten waren: Los Niños (Madrid) (1870–77), El Buen Amigo (1900–1904), Heraldo de los Niños (1900), Album de los Niños (1900–1901). Vgl. als plastisches Beispiel nur die Geschichte Al Despertar aus der ersten dem Verfasser zugänglichen
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III. Aushandlungen
neue Impulse auf Format und Inhalte der Kinderzeitschriften ein. Ein Wandlungsprozess wurde angestoßen, welche das Gesicht der Kinderzeitschriften binnen weniger Jahre radikal verändern sollte.18 Zunächst sollen hier die Auswirkungen von zwei bereits bekannten Anstößen kurz beschrieben werden: der Impuls der Kinderpsychologie sowie der Impuls der Debatten über eine Erneuerung der Kinderliteratur als literarisches Genre. Unter dem Einfluss der neuen Kinderpsychologie veränderte sich der didaktische Impetus der Zeitschriften. Gemäß dem neuen Leitmodell des psychobiologischen Kindes sollte an Stelle der Vermittlung moralischer Verhaltensmodelle dem kindlichen Geist nun mithilfe der Kinderpresse Regenerationsmöglichkeiten und Entwicklungsfreiheit gewährt werden. Neben beziehungsweise an die Stelle von Moral und Belehrung sollten Imagination, Fantasie und Freude treten. Das Vorwort von ABC Infantil, einem Ableger der bedeutenden monarchienahen Tageszeitung, aus dem Jahr 1916 lässt die allmählichen Verschiebungen in der Konzeption der Zeitschriften gut erkennen. Die Zeitschrift stand einerseits noch deutlich in der Tradition der frühen Restaurationsjahre. Sie wollte nach eigenen Angaben die nachwachsenden Generationen anhand einer „moralischen und staatsbürgerlichen Bildung“ für die Zukunft rüsten. Dies wird etwa in der Einführung der väterlichen Figur des Pintipolín sichtbar, der das Idealbild des belehrend-wohlmeinenden Erwachsenen verkörperte. Seine 90 Jahre verliehen ihm eine „Autorität, welche seine Ratschläge euch nützlich und nachahmungswürdig“ machen, wie die Zeitschrift ihren Lesern erläuterte. Er beschenkte gute Kinder und versuchte schlechte Kinder „durch ermahnende Worte (pláticas) auf den rechten Weg der Tugend und der Arbeit zu bringen, damit aus ihnen Menschen werden, die sich selbst und der Gesellschaft nützlich sind“.19 Neu waren Verweise auf die kindliche Aktivität im Vorwort und das Verständnis von Kindheit als gesonderter Entwicklungsetappe, dem die Zeitschrift dadurch zu entsprechen versprach, dass sie sich auf die Augenhöhe der Heranwachsenden begeben wollte.20 Auch eine Abhandlung über „böse Kinder“ (niños malos) in der ersten Nummer belegt die Rezeption neuen psychologischen Wissens und damit einhergehender Versuche einer Neudefinition von Kindheit. Sie argumentierte für eine Neukonzeptionalisierung von Boshaftigkeit nicht als moralisches Personenmerkmal, sondern als eine Art Krankheit, welche unter anderem durch „Umwälzungen im Organismus, durch defiziente
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Nummer der Zeitschrift: Madrileñillos 43, 15.1.1913. In dieser Geschichte erläutert eine Mutter ihrer lernwilligen Tochter anhand eines Lichtstrahls die Vorteile von Wissen und dessen göttliche Herkunft. Erste vorsichtige Ansätzen von Wandel an der Jahrhundertwende erwähnt: Borras Llóp, Historia, S. 54. Pintipolín se presenta, ABC Infantil 1, 16.1.1916. Al Público, ABC Infantil 1, 16.1.1916.
3. Kinderzeitschriften zwischen Kindheitsreform und Kinderinteressen
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Entwicklung oder durch gestörte Sekretionen der inneren Drüsen, die bedeutende Veränderungen im Wachstum und in der mentalen und affektiven Funktionsweise hervorrufen“, bedingt sei. Neues Wissen und pädagogische Methoden, so die optimistische Wendung könnten dazu beitragen, die Zahl der niños malos deutlich zu reduzieren und aus ihnen nützliche Staatsbürger zu machen.21 Einen zweiten Erneuerungsimpuls stellte die breite fachöffentliche Debatte über eine Erneuerung der Kinderliteratur dar, in der die didaktischmoralische Gestaltung von Geschichten verworfen und demgegenüber die Förderung der kindlichen Imagination zu neuen Leitzielen der Dichtung für Kinder erhoben wurde. Nach dem Willen der Herausgeber von Januar 1928 sollte beispielsweise Macaco „angenehm (ameno) und unterhaltend“ sein: „Wir beabsichtigen, [des Kindes, T.K.] Fantasie mit Geschichten anzuregen und seine Freude mit komischen Bildergeschichten (historietas).“22 Dass diese Neuformulierung der Ziele nicht notwendigerweise einen Verzicht auf eine didaktische Formung der Kinder bedeutete, zeigt der anschließende Vergleich der Zeitschrift mit einem Garten, „in dem der Verstand der Kinder wächst und ihre Seele angenehme Sachen mit einem Lächeln lernt“.
3.2 Die Kommerzialisierung der Kinderpresse in den 1920er Jahren und der wachsende Einfluss von Kinderinteressen Jenseits dieser wissenschaftlich und literarisch induzierten Neuerungen waren es vor allem zwei parallele Entwicklungen, welche die Kinderzeitschriften in grundlegender Weise veränderten, so dass die Magazine im Jahr 1936 kaum mehr Ähnlichkeiten mit den Zeitschriften des ausgehenden 19. Jahrhunderts hatten. Einerseits kommerzialisierte sich die Kinderpresse im Verlauf der 1920er Jahre. Kommerzielle Interessen an möglichst hohen Einnahmen gewannen in den Magazinen der Großverlage, die zunehmend den Markt für Kinderprodukte entdeckten, gegenüber didaktisch-reformerischen Interessen deutlich an Boden.23 Die Konkurrenz verschiedener Zeitschriften um Leser führte in diesem Zusammenhang zu einer immer stärkeren Orientierung an den Interessen der heranwachsenden Leserschaft. Zweitens lassen sich neue politische Formungsversuche der Kinderpresse erkennen und zwar 21 22 23
Manuel de Tolosa Latour, Los Niños Malos, ABC Infantil 1, 16.1.1916. Siehe auch: La Condeza de Pardo Bazán, ¿Qué es un niño? ebd.; Dr. Calatraveño, Los niños, ebd. La Redacción, Padres que tenéis hijos, Macaco 1, 29.1.1928. Siehe als Fallbeispiele: Julio Ruiz Berrio u. a., La Editorial Calleja. Un agente de modernización educativa en la Restauración, Madrid 2002; González Suescun, Nueva propuesta, S. 114–17.
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III. Aushandlungen
sowohl von republikanisch-progressiver wie von katholischer Seite aus. Beide Entwicklungen wiesen viele Berührungspunkte und Verflechtungen auf, sollen aber hier zum besseren Verständnis zunächst getrennt voneinander behandelt werden, bevor am Schluss des Kapitels ihr Verhältnis zueinander erörtert wird. Im Laufe der 1920er Jahre entwickelte sich die Kinderpresse zu einem Massenmedium mit wöchentlichen Auflagen von mehreren hunderttausend Exemplaren. Grundlage des quantitativen Wachstums war die Entdeckung von Kindern als Konsumenten durch Verlagshäuser und die großen spanischen Medienunternehmen.24 Die neue Aufmerksamkeit für Kinder zeigte sich plastisch in der Einrichtung von Kinderseiten in den großen Illustrierten und in Werbeanzeigen, die sich dezidiert auch an Kinder wandten. Viele Zeitschriften und auch einige Zeitungen führten schon im Jahrzehnt nach 1900 gesonderte Kinderseiten ein, die sie groß bewarben. Die erfolgreichste Gründung dieser Frühzeit war die populäre, im gleichen Verlag wie ABC erscheinende Kinderbeilage Gente Menuda, die teils als Beilage von Blanco y Negro, teils als selbstständige Zeitschrift bis 1936 existierte. Während die frühen Konkurrenzblätter von Blanco y Negro auf dem Markt der populären Illustrierten, El Mundo Gráfico und Esfera, während der Dauer ihres Bestehens keine eigenen Kinderseiten publizierten, versuchten die Ende der 1920er Jahre neu auf den Markt drängenden Blätter, auch durch die Aufnahme von Kinderseiten und die direkte Ansprache von Kindern als Zeitungsleser sich auf dem Zeitschriftenmarkt gegen die etablierten Journale zu behaupten. Die Edelillustrierte Cosmópolis enthielt schon in ihrer ersten Nummer Ende 1927 eigene Seiten für Kinder. In der Vorstellung dieser Seiten warb sie sowohl um die Gunst der Kinder, denen sie Unterhaltung versprach, als auch um Erwachsene, denen eine Entlastung in der Kinderaufsicht in Aussicht gestellt wurde. Die Zeitschriftenlektüre würde die Kinder ablenken und zum häuslichen Frieden beitragen. Die neue Zeitschrift Crónica empfahl sich ihren Lesern Ende 1929 sogar als „Zeitschrift, die sich vornimmt für die Kleinen genauso wie für die Großen da zu sein“, und unterstrich diesen Anspruch dadurch, dass sie bereits in der ersten Ausgabe ein Preisausschreiben für Kinder organisierte. In den 1930er Jahren wandte sie sich in Werbeanzeigen direkt an Kinder und forderte diese auf: „Kinder, kauft jede Woche Crónica, in der ihr die Geschichten findet, die Elena Fortún, Antonio Robles, Piti Bartolozzi für Euch schreiben“.25 Auch die 1928 eingeführte Estampa warb mit einer Kinderseite um junge Leser und versuchte von deren Kaufkraft zu profitieren. 1935 legte sie ihnen etwa den Kauf des Buches „Pipo und Pipa unter Wilden, das Euch sehr gefallen wird“, 24 25
Als guter erster Überblick: Cruz Seoane/Dolores Sáiz, Historia, S. 196f., 315–17, 388f. Aus zeitgenössischer Sicht: J. Polo Benito, Pro Infancia, Pro Infancia 1, 19.3.1931. K-Nete, Para Bebé: Saludo, Cosmópolis, 1.12.1927; 1er concurso infantil de „Crónica“, Crónica, 17.11.1929; Werbung, Crónica, 24.2.1935. Ähnlich: Werbung, Crónica, 6.1.1935.
3. Kinderzeitschriften zwischen Kindheitsreform und Kinderinteressen
363
nahe. Selbst das altehrwürdige Verbandsorgan der spanischen Lehrerschaft El Magisterio Español sah sich genötigt, Kinder zu umwerben und gestaltete 1932 eigene Kinderseiten.26 Die Orientierung an Kindern als Konsumenten war keineswegs auf die liberale und republikanische Presse beschränkt, sondern erstreckte sich auch auf kirchennahe und antirepublikanische Blätter. So richtete die katholische Frauenzeitschrift Aspiraciones ebenso eine Kinderseite ein wie die an ein Massenpublikum gerichtete katholische Illustrierte Esto, die wie Crónica sich in ihrer Werbung auch an Kinder richtete. Schon in ihrer Präsentation hatte sie Wert darauf gelegt, sich als Zeitschrift für die ganze Familie zu präsentieren: „Esto wird von Erwachsenen gelesen werden. [. . . ] Aber sie kann auch in die Hände von Kindern gelegt werden als mächtiges Werkzeug literarischer, artistischer und moralischer Erziehung.“27 Mit der Ansprache von Kindern als Medienkonsumenten reagierten die Zeitschriften, das legen die Werbebotschaften nahe, auf eine verstärkte Nachfrage ihrer Leser aus den Mittelschichten. Um als vollwertige Zeitschrift in der Öffentlichkeit wahrgenommen und akzeptiert zu werden, war Anfang der 1930er Jahre eine Einbeziehung der Kinder als Lesepublikum unabdingbar. In einem anderen Kontext zeigt auch die Einrichtung spezieller Kinderprogramme im Radio, dass Kinder am Ende der 1920er Jahre als integraler Teil städtischer Öffentlichkeit verstanden wurden, die einer eigenen Ansprache bedurften und danach verlangten.28 Im Zuge der Entdeckung von Kindern als Medienkonsumenten versuchten die großen Verlagshäuser erstmals im Umfeld des Ersten Weltkriegs, eigenständige Kinderzeitschriften auf dem Zeitungsmarkt zu etablieren und profitabel zu machen. Um 1910 erkannten die großen Pressehäuser, etablierte Verlagshäuser wie Calleja, Hernando oder Hijos de Santiago Rodríguez sowie neue Verlage wie Juventud, Espasa-Calpe, Cenit oder CIAP allmählich die kommerziellen Chancen, welche die bis dahin kaum berücksichtigten Heranwachsenden in einer Gesellschaft mit einem hohen Kinderanteil als Marktsegment boten. In einem wahren Gründungsboom erschienen innerhalb weniger Jahre Dutzende neuer Kindermagazine, von denen es allerdings die Mehrheit nicht schaffte, eine genügend große Leserschaft dauerhaft an sich zu binden. Die innovative Zeitschrift Pulgarcito existierte nur 1916 und auch zwei Kinderblätter des Verlages Prensa Popular, Bebé und Caperucita, erlebten 1918 beziehungsweise 1924 nicht ihren ersten Geburtstag. Eine Reihe ambitionierter Zeitschriften der späten 1920er Jahre wie Macaco (1928–30), das kurzzeitig eine Auflage von 20 000 Exemplaren erreichte, Macaquete (1930–31), das im November 1930 nach Aussagen seiner Herausgeber eine 26 27 28
Werbung, Estampa, 21.12.1935; Index, El Magisterio Español, 2.1.1932; Werbung: Ahora, Estampa, 7.11.1931. Werbung Esto, 10.5.1934; Presentación, Esto, 4.1.1934. „Lolín“ y „Bobito“ ante el micrófono, Crónica, 12.2.1933; Unión Radio Madrid, El Sol, 23.4.1936.
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III. Aushandlungen
Auflage von 80 000 Heften druckte, und El Perro, el Ratón y el Gato (1930–31) konnten sich ebenfalls nicht dauerhaft auf dem Markt durchsetzen. Das letztgenannte Magazin wurde 1931 in die Illustrierte Cosmópolis als Kinderbeilage inkorporiert.29 Demgegenüber stellte Gente Menuda über lange Jahre hinweg ein Erfolgsmodell dar, auch wenn ihr häufiger Wechsel von einer Beilage von Blanco y Negro zur Publikation als selbstständige Zeitschrift und zurück darauf hindeutet, dass die Herausgeber mit den erreichten Erfolgen nicht zufrieden waren. Doch gehörte Gente Menuda zu einer kleinen Anzahl von Zeitschriften, die außerordentliche Verkaufserfolge erzielten und über lange Zeiträume hinweg Zugang zu den Kinderzimmern fanden. Die erfolgreichste dieser Zeitschriften war die in Barcelona von 1917 bis 1938 gedruckte T.B.O., die als erste Bildgeschichten in Spanien popularisierte und dabei so erfolgreich war, dass ihr Name zur spanischen Gattungsbezeichnung von Comics überhaupt wurde (tebeos). Im Sommer 1931 feierte die Redaktion mit einem großen Fest die Steigerung ihrer Auflage auf wöchentlich 100 000 Exemplare und 1936 betrug die Auflage sogar 230 000 Hefte.30 Für einige Jahre ebenfalls sehr erfolgreich und gefeiert war die Madrider Zeitschrift Pinocho (1925–31), die wie viele Kinderjournale nach einer Märchenfigur benannt wurde. Auch das auf katalanisch erscheinende En Patufet (1904–1938) konnte sich lange Jahre halten und im Jahr 1927 eine Auflage von 42 000 Heften erzielen, nicht zuletzt, weil es Kindern Hilfestellungen beim Lernen der katalanischen Sprache bot und deshalb gerne in katalanischen Schulen verwendet wurde. Einen raschen Erfolg verzeichnete schließlich das 1935 erstmals erscheinende Magazin Mickey, das hauptsächlich amerikanische Comic-Strips abdruckte und schnell einen Spitzenplatz in der Gunst der Heranwachsenden erreichte.31 Viele Hinweise deuten auf die rasch steigende Bedeutung von Kinderzeitschriften im Leben spanischer Mittelschichtenkinder hin. Die Kinderzeitschriften lagen in Leihbibliotheken, Privatschulen, Kinderheimen und dem Vorraum des Madrider Jugendgerichts aus, und bürgerliche Eltern bestätigten immer wieder, dass die neuen Kinderzeitschriften die Lieblingslektüre ihrer Kinder bildeten. Eine Kinderzeichnung in der katholischen Schulzeitung El Pilar von Mitte 1935 zeigte einen Postboten, der einer Kinderfigur zwei Bündel überreicht, welche mit den Zeitschriftennamen Mickey und Jeromín versehen sind. Dieses Bild belegt ebenso wie der Umstand, dass die fiktionalen Protagonisten der Zeitschriften die Wände vieler Kinderzimmer schmückten, die enge Einflechtung der kommerziellen Presse 29 30
31
Alle Informationen aus: Martínez García, Catálogo; Cruz Seoane/Dolores Sáiz, Historia, S. 388f. Banquete ofrecido por la casa editorial de T.B.O. a la redacción y personal de imprenta, con motivo de haber sobrepasado este popular semenario infantil la tirada de cien mil ejemplares, Crónica, 8.7.1931; Cruz Seoane/Dolores Sáiz, Historia, S. 316. Ebd., S. 316, 388, 513.
3. Kinderzeitschriften zwischen Kindheitsreform und Kinderinteressen
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in die kindlichen Lebenswelten.32 Die Zeitschriften stellten neben Eltern und Schule ein wichtiges Medium des Weltbezuges bürgerlicher Kinder dar. Das Umwerben der Kinder als Medienkonsumenten erhöhte dabei schon jenseits einzelner Inhalte ihre gesellschaftliche Stellung. Ihre Meinung zählte am Straßenkiosk, der das Madrider Straßenleben der Zwischenkriegszeit prägte, und die Medienunternehmen hatten darauf Rücksicht zu nehmen. Die neue kommerzielle Ausrichtung auf Kinder als Konsumenten hatte Folgen für Gestaltung und Inhalte der Zeitschriften. Im Konkurrenzkampf der verschiedenen Magazine versuchten Herausgeber zunehmend, den Interessen und Vorlieben ihrer minderjährigen Leser möglichst weitgehend entgegenzukommen, um sie als Käufer zu halten. Neue Zeitschriften wie Chiquitín 1913 oder Pulgarcito 1916 erklärten es offen zu ihrem Ziel, sich jenseits aller didaktischen Erwägungen an den Interessen ihrer kindlichen Leserschaft auszurichten.33 Deutlich zeigt sich die neue Ausrichtung an den Interessen von Kindern in Werbeanzeigen für die neuen Magazine. Anzeigen für Gente Menuda warben beispielsweise mit „interessanten Artikeln, phantastischen Geschichten, Merkwürdigkeiten“ und versprachen die Verlosung von monatlich 300 Preisen unter ihren Lesern.34 Alle neuen Zeitschriften bemühten sich seit dem Ersten Weltkrieg, mit ihren Lesern eine reziproke Kommunikationsbeziehung aufzubauen, indem sie regelmäßige Wettbewerbe organisierten, Preise auslobten, Leserbriefseiten einrichteten und die Kinder zur Einsendung eigener Geschichten und Zeichnungen einluden. An einem Wettbewerb der Zeitschrift Estampa im Sommer 1936 beteiligten sich beispielsweise 22 000 Kinder. Einige Zeitschriften wie Mickey und Gente Menuda versuchten sogar, durch Anreize und Vergünstigungen ihre Leserschaft in Kinderclubs wie der Gesellschaft „Freunde von Roenueces“ zu organisieren. Ein von der US-amerikanischen Filmgesellschaft MetroGoldwyn-Mayer gegründeter Laurel&Hardy Kinderclub besaß im Sommer 1936 immerhin 40 000 spanische Mitglieder.35 32
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Virgilio de la Pascua, Instituciones españoles: El tribunal tutelar para niños, Estampa, 13.11.1928; Dionisio Correas, Educación y Beneficiencia: Los Asilos de „El Pardo“ (II.), BdAMM 12, 1.5.1934, S. 9–15; Elena Fortún, Las buenas obras, Crónica, 6.1.1935; Juan G. Olmedilla, El Padre y el niño, Crónica, 19.6.1932; Salvador Valverde, El Padre y el niño, Crónica, 17.7.1932; Como redactan y pintan los „peques“, El Pilar 59, Juni 1935; Papa Noel, Sinrazón divina del niño, Crónica, Sondernummer Neujahr 1936; J.M.A. Los que huyen del dolor de la guerra, El Mundo Gráfico, 23.9.1936. El Saludo de „Chiquitín“, Chiquitín, 4.1.1913. Ähnlich: Pulgarcito te saluda, Pulgarcito 1, 13.2.1916. Gente Menuda, Blanco y Negro, 16.1.1909; Gente Menuda, Blanco y Negro, 25.1.1910. Veintidós mil niños han intervenido en el último concurso de ESTAMPA y 103 han acertado, Estampa, 13.6.1936; A los Amigos de Chiquitín, Chiquitín 1, 4.1.1913; Colaboración de los Niños, Pulgarcito 1, 13.2.1916; Regalos de Pulgarcito, ebd. Für die 1930er Jahre siehe z. B.: Correspondencia/Sorteo/Regalos, Mickey, 23.3.1935. Zu den Kinderclubs: Club Mickey, ebd.; Correspondencia de „Gente Menuda“, Blanco y Negro 27.3.1932 (Nach Angaben der Zeitschrift ging die Initiative zur Gründung einer „Sociedad infan-
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III. Aushandlungen
Die neue Marktorientierung der Zeitschriften schlug sich auch in Versuchen nieder, über einen niedrigen Preis die Leserschaft über die bürgerlichen Schichten auszudehnen, die zunächst die Hauptlesergruppe bildeten. Während Macaco und auch El Perro, el Ratón y el Gato mit ihrer edlen Aufmachung und ihrem Preis von 30 beziehungsweise 40 spanischen Cent deutlich ein bürgerliches Publikum anvisierten, war T.B.O. schon 1917 mit einem Kampfpreis von nur 5 Cent und dem Anspruch angetreten, „für alle Geldbeutel erschwinglich zu sein“.36 Ganz ähnlich postulierte auch Macaquete Ende 1930 den Anspruch, eine „sehr populäre Zeitschrift“ zu machen: „Das heißt für das Volk, und deshalb muss sie billig, sehr billig“ sein.37 Die kommerzielle Ausrichtung an den Leserinteressen veränderte in Form einer „leisen kulturellen Revolution“ Erscheinungsbild und Inhalte der Kinderpresse grundlegend und eröffnete den Kindern neue Bilderwelten, Präsentationen von Kindheit in der Welt und Rollenvorbilder.38 In den 1910er Jahren setzte eine intensive Suche nach neuen kommerziell erfolgreichen wie kulturell innovativen Formen von Kinderunterhaltung ein.39 Diese äußerte sich augenfällig in einer Aufwertung graphischer Elemente, die durch die Einführung billigerer Drucktechniken begünstigt wurde. Seit der Zeit des Ersten Weltkrieges ergänzten Bildgeschichten die Textgeschichten zunehmend, bevor sie diese in den erfolgreichsten Zeitschriften T.B.O. und Mickey in den 1930er Jahren fast vollständig zurückdrängten. Sehr deutlich wird der Zusammenhang zwischen Ausweitung der Leserschaft und der Aufnahme graphischer Erzählformen im Übergang von der gediegenen Macaco zur populären Macaquete, die beide zum Verlagshaus der Illustrierten Estampa gehörten, aber unterschiedliche Zielgruppen ansprachen. Während in Macaco Textbeiträge noch deutlich überwogen, standen in der Folgezeitschrift Bildgeschichten eindeutig im Mittelpunkt.40 Weiterhin verschoben die Magazine ihre Akzente von Moral auf Unterhaltung. Die erste Ausgabe von T.B.O. erschien 1917 nur ein Jahr nach der Gründung von ABC Infantil, doch trennte sie hinsichtlich ihres Programms Welten von dem patriotisch-moralischen Magazin. In der Präsentation der neuen Zeitschrift betonten die Herausgeber, sie „wollten den Geist der Heranwachsenden weder durch schwierige Probleme noch durch ernste Lehren
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til Amigos de Roenueces, el simpático conejo“ von Madrider Kindern aus); Una reunión internacional infantil en Paris, Crónica, 20.9.1936. 1935 kostete die Zeischrift10 Cent: La Redacción, T.B.O., T.B.O. 1, o.D. (1917); Titelseite Nr. 817, T.B.O., o.D. (1935). Mickey war mit 15 Cent etwas teurer: Titelseite, Mickey 3, 23.3.1935. Salutación, Macaquete 1, 8.11.1930. Den Begriff verwendet zurecht González Suescun, Nueva propuesta, S. 113. Ebd., S. 112f. Siehe etwa La familia Tomillo, Macaquete 1, 8.11.1930. Eine der ersten Bildgeschichten in Fortsetzugsform war „El vuelo de Perico“, Gente Menuda, 1.1.19111. Zum Wandel vgl. auch García Padrino, Libros, S. 199f.
3. Kinderzeitschriften zwischen Kindheitsreform und Kinderinteressen
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(doctrinas) ermüden“. Nach dem Schultag, so rechtfertigte die Zeitschrift die Abkehr von moralischen Lehren, bedürfe der kindliche Geist „vollständiger Erholung (reposo), [. . . ] etwas, das den Geist ablenkt und erweitert. Etwas Oberflächliches, Einfaches, Freudiges und Witziges (chistoso)“.41 Macaquete ging sogar noch einen Schritt weiter und erklärte sich ihren Lesern gegenüber „bereit, jede Klasse von Streichen (travesuras) zu begehen, um Euch zu unterhalten“. Die Zeitschrift El Perro, el Ratón y el Gato grenzte sich sogar selbstironisch gegenüber der älteren moralischen Kinderpresse ab, indem sie sich als „schlechten Schüler“ dieser Presse bezeichnete.42 Die Veränderungen in Gestaltung und Zielen gingen einher mit drei inhaltlichen Neuerungen. Erstens öffneten sich die Kinderzeitschriften der internationalen Unterhaltungskultur und besonders dem Film und seinen populären Darstellern. Schon 1916 hatte das innovative wie populäre Magazin Charlot – Charlot ist die spanische Bezeichnung für Charlie Chaplin – das Genre der Filmmagazine für Kinder in Spanien etabliert. In den folgenden Jahren fand es viele Nachahmer wie Charlotín, Max Linder (beide 1917), Fatty (1919), Tom Mix (1927), Rin Tin Tin (1928) und Charlot, El Rey de la risa (1928), die allesamt die aufstrebende Kinokultur für Kinder aufbereiteten.43 Aber auch in der allgemeinen Kinderpresse spielte die Berichterstattung über Hollywood und die Welt des Showbusiness eine zunehmende Rolle, die oftmals auf speziellen Kinoseiten konzentriert wurde. Macaquete etwa enthielt eine Sektion Cine-Baby, die über berühmte Kinder in Film, Gesellschaft und Sport berichtete. Gleich die erste Ausgabe der Zeitung informierte über den „jüngsten Reiter Englands“ und einen Rennradfahrer im Kindesalter.44 Mit der Öffnung hin zu einer internationalen Unterhaltungskultur flossen auch die oben erörterten neuen Kinderbilder in die Magazine ein. Reportagen gaben Einblicke in das Leben verführerisch selbstständiger Kinder, die in der Welt reisten, vor großem Publikum auftraten, Geld verdienten und damit die traditionellen Grenzen zwischen Kindern und Erwachsenen unterminierten oder zumindest brüchig erscheinen ließen. Grenzüberschreitungen hin zur Erwachsenenwelt bildeten insgesamt ein wiederkehrendes Element der neuen Presse. Bilder rauchender Kinder, von Kindern in Erwachsenenkleidung und von Heranwachsenden, die Erwachsenentätigkeiten ausführten, spielten mit der Missachtung etablierter gesellschaftlicher Rollen. Die Grenzen zwischen
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Letztere könnten sogar – dies war eine revolutionäre Wendung gegen die moralischen Programme der älteren Zeitschriften – „durch verdrehte Interpretationen die Jugend auf schädliche Wege führen“: La Redacción, T.B.O. 1, o.D. (1917). Salutación, Macaquete 1, 8.11.1930; Saludos, El Perro, el Ratón y el Gato 1, 31.5.1930. Zum Erfolg dieser Zeitschriften: González Suescun, Nueva Propuesta, S. 117. Cine-Baby, Macaquete 1, 8.11.1930. Zu ähnlich konzipierten Seiten: Visitas de Roenueces, Hablando con Baby Le Roy que todavía no habla, Gente Menuda, 6.1.1935.
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III. Aushandlungen
Kinder- und Erwachsenenwelten lösten sich auf den Unterhaltungsseiten der Kinderzeitschriften immer wieder auf.45 Die Entwicklung der Kinderpresse war eingebettet in internationale Trends, die in Spanien intensiv wahrgenommen und aufgegriffen wurden. Die kommerziellen Kinderzeitschriften orientierten sich zunehmend an ausländischen, besonders US-amerikanischen Vorbildern und begannen am Ende der 1920er Jahre auch damit, erfolgreiche amerikanische Comicserien und Bildgeschichten einzukaufen und abzudrucken. Doch auch jenseits dieser direkten Beeinflussung lassen sich in anderen Ländern ganz ähnliche Entwicklungen feststellen. In der Weimarer Republik erfolgte beispielsweise, auch beeinflusst von Ideen der Neuen Sachlichkeit, eine neue affirmative Darstellung modernen Großstadtlebens und unabhängiger, widerspenstiger Kindheit.46 Weiterhin setzten sich zwei neue Genres von Geschichten in den Magazinen durch, drängten die Moralgeschichten in den Hintergrund und unterminierten das überkommene Bild des tugendhaften Kindes und die Repräsentation des Kindes als Erwachsenen unterlegen und einer Anleitung bedürftig. Die Durchsetzung dieser beiden Genres in allen Zeitschriften lässt darauf schließen, dass gerade sie es waren, welche die Popularität der Magazine unter Kindern begründeten. Es lohnt sich deshalb, beide etwas genauer zu betrachten. Das erste neue Genre waren Abenteuergeschichten, in denen Kinderfiguren immer wieder und oft auch durch eigenes Verschulden mit Situationen konfrontiert werden, aus denen sie sich ohne die Hilfe Erwachsener durch Witz, Geschick und Mut befreien müssen. Die Geschichten spielen mit Bedrohungssituationen – häufig ist die Handlung in exotischen Ländern angesiedelt, in denen es von wilden Tieren und Eingeborenen wimmelt –, feiern aber gleichzeitig den Erfindungsreichtum und die Weltgewandtheit ihrer Protagonisten. Ein frühes Beispiel dieses neuen Geschichtentypus ist die Bildgeschichte „El Vuelo de Perico“ in Gente Menuda, die in Form einer Fortsetzungsgeschichte die Abenteuer eines Pagen beschreibt, der aus Vorwitz ein Flugzeug startet und dadurch in ferne Länder katapultiert wird. In diesen ist er beständig Gefahren ausgesetzt, die er jedoch mit Glück und Geschick überwindet.47 Auch die erste Nummer von Pulgarcito von 1916 beinhaltete eine Abenteuergeschichte, in der der Junge Juanito sich heimlich mit einer Droschke zum Bahnhof bringen lässt, um mit einem Zug in die weite Welt aufzubrechen. Kurz vor Abfahrt des Zuges wird er jedoch von einem Polizisten entdeckt 45 46 47
Vgl. als explizite Thematisierung das Herausgeber-Vorwort der Heftserie Kiriki vom 29.4.1920, zitiert nach González Suescun, Nueva Propuesta, S. 116f. Helga Karrenbrock, Weimarer Republik, in: Wild (Hrsg.), Kinder- und Jugendliteratur, S. 241–59; Dies., Revolution. Umfassend: Dies., Märchenkinder. El vuelo de Perico, Gente Menuda, 1.1.19111; El Vuelo de Perico (Continuación), Gente Menuda, 6.1.1911.
3. Kinderzeitschriften zwischen Kindheitsreform und Kinderinteressen
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und abgeführt. Die Schlusswendung der Geschichte kann als Beleg eines Unbehagens der Zeitschriftenmacher angesichts des neuen Genres interpretiert werden. Die Selbstständigkeit der Kinderfigur wird am Ende durch die Bestätigung erwachsener Autorität ebenso eingehegt, wie die Öffnung für das neue Genre der Abenteuergeschichte durch die moralische Schlusspointe abgefedert wird.48 Ende der 1920er Jahre waren solche Beschränkungen jedoch nicht mehr erforderlich. Das Genre fand weite Verbreitung. Große Popularität erlangte beispielsweise die von Salvador Bartolozzi verfasste Bildergeschichte „Abenteuer von Pipo und Pipa“, die in Fortsetzungsform in der Illustrierten Estampa von Januar 1928 bis in den Bürgerkrieg hinein wöchentlich abgedruckt wurde. Anhand dieser populären Geschichte und weiterer Beispiele lassen sich vier allgemeine Unterschiede des neuen Genres gegenüber den älteren moralisch-didaktischen Geschichten benennen. Erstens fehlte den Bildergeschichten sehr weitgehend die moralische Grundierung. Sie besaßen keinen appellativen Charakter und orientierten sich stark am neuen Typus von komplexeren Fantasiegeschichten, welche die neuen Kinderliteraten zur gleichen Zeit popularisierten. Zweitens gab es in den Geschichten keine Erwachsenen als Beschützer, Ermahner und Ratgeber. Schon die erste Episode von „Pipa und Pipo“ machte diesen Bruch deutlich: „Pipo und Pipa sind ein Junge und eine Hündin, die eines schönen Tages beschlossen, alleine loszuziehen, um die Welt zu erobern“.49 Kinder sind in den Abenteuern von Pipo und Pipa eigenständig, mutig und weltgewandt, während Erwachsene zumeist entweder als dümmliche oder brutale Gegner oder als schwache Figuren auftauchen, die der Hilfe der Kinder bedürfen. In der in Macaquete unmittelbar nach dem Vorwort publizierten und im Mittelalter spielenden Bildergeschichte „Rasgo de Nobleza“ von 1930 rettet ein Junge etwa durch couragiertes, unerschrockenes Handeln seinen in einer Schlacht verletzten Vater, indem er ihn versteckt und durch die Reihen der Feinde in ein Kloster bringt.50 Drittens weitete sich der Raum der Geschichten über die familiäre Wohnung und deren nächste Umgebung aus. Die Geschichten sind zumeist in fernen exotischen Ländern, teilweise auch in einem modernen urbanen Milieu angesiedelt. Pipo und Pipa durchschreiten gleich in der ersten Episode einen dichten Dschungel und werden von zwei „Wilden“ gefangen genommen. In weiteren Episoden reisen sie durch „das Land der Kannibalen“, besuchen China und den Nordpol und entdecken das fantastische „Land der Wunder“. Viertens, schließlich, eignen sich die Kinderfiguren spielerisch moderne Technik und Verkehrsmittel an. Sie werden als erfindungsreiche Meister 48 49 50
Lo que le pasó a Juanito – por darselas de hombrecito, Pulgarcito 1, 13.2.1916. Aventuras de Pipo y Pipa, Estampa, 3.1.1928. Hervorhebung durch den Verfasser. Rasgo de Nobleza, Macaquete, 1, 8.11.1930. Ähnlich auch: El sacrificio, ebd.; 20.000 kilometros de viaje aereo, ebd.
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III. Aushandlungen
moderner Apparate gezeichnet. Fast alle Geschichten durchziehen positive Bezüge zur Industriemoderne. Flugzeuge, Schnellboote, Laboratorien. Diese Entwicklung kam erst im Verlauf der 1920er Jahre wirklich zum Durchbruch, aber sie war in Ansätzen schon in den Jahren des Ersten Weltkrieges sichtbar.51 Es braucht kaum erwähnt zu werden, dass die Abenteuergeschichten an längere literarische Traditionen anknüpften, an die Abenteuerromane von Jules Verne, Robert Louis Stevenson und Emilio Salgari, sowie auch von den „dime-novels“, den Groschenromanen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, beeinflusst wurden.52 Wichtiger als die genaue Bestimmung von Vorläufern und Einflussquellen ist in unserem Kontext jedoch die Beobachtung eines Wandels des Abenteuergenres in den Kinderzeitschriften. Die Geschichten der späten 1910er und 1920er Jahre wiesen zumeist einen deutlich unernsten Zug auf. Sie ahmten ihre literarischen Vorbilder gleichzeitig nach und ironisierten sie. Obwohl etwa Pipo und Pipa laufend neuen Gefahren ausgesetzt werden, bleibt der Erzählton stets ein distanziert-heiterer. Sowohl die Heldenrolle der Protagonisten als auch die Gefahr selbst werden komisch gebrochen. Die Geschichte gibt dem Leser durch die bewusst nicht-realistische, verfremdende graphische Gestaltung, konstante Überzeichnungen der Personen- und Situationsbeschreibungen und selbstreferentielle Kommentare zudem stets deutliche Signale, dass es sich um eine fiktive Narration handelt, und schafft somit eine Distanz zwischen Leser und Handlung. In den letzten Jahren der Republik setzten sich dagegen besonders in den populären Illustrierten T.B.O. und Mickey neue Abenteuergeschichten durch, die zumeist aus den USA übernommen wurden und teilweise auf das Genre der Superheldenliteratur voraus weisen. Diese Geschichten unterscheiden sich von den bisher besprochenen Geschichten darin, dass sie zumeist erwachsene Protagonisten haben, die zudem über bedeutende körperliche Kräfte verfügen. Die Geschichten weisen deutlichere Bezüge zur realen Welt und konkreten Orten auf. Sehr eng am Vorbild der Groschenromane orientiert, fehlt ihnen zudem jegliche ironische Brechung und erzählerische Leichtigkeit. Die dargestellten Bedrohungen sind existentieller Natur und die Geschichten düster eingefärbt. Plastisch lässt sich der Wandel der Abenteuergeschichten an der Zeitschrift T.B.O. verfolgen. Schon das erste Heft von 1917 enthält eine Abenteuergeschichte, die jedoch deutlich fantastische und komische Elemente aufweist. Der Protagonist, Caballero Catán, jagt zunächst Löwen und kommt an51 52
Los niños aficionados al arte de la fotografía, Chiquitín 1, 4.1.1913. Ironisch: Los inventos maravillosos del sabio doctor Charlamucho, ebd. Die Popularität von Groschenromanen unter spanischen Heranwachsenden und die literarischen Referenzgrößen beschreibt: Alf. Iniesta, Notas de un maestro, Más sobre lo lírico, Atenas 30, 15.5.1933.
3. Kinderzeitschriften zwischen Kindheitsreform und Kinderinteressen
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schließend mit seinem Flugzeug der Sonne so nah, dass er schmilzt. Seine Körpertropfen, die am Nordpol herabregnen, kristallisieren sich jedoch wieder in seine Körperform, die von Polarforschern entdeckt und in einer Hütte aufgetaut wird. Am Ende der Episode tanzt Caballero Catán fröhlich am Feuer, nachdem er den Forschern einen ordentlichen Schreck eingejagt hat.53 Fast zwanzig Jahre später haben sich die Abenteurgeschichten in T.B.O. deutlich gewandelt. In einer Nummer des Jahres 1935 finden sich zwei Geschichten. Die erste schildert unter dem Titel „43 Tage in der Macht chinesischer Banditen“ die Entführung der 19-Jährigen Miss Pawley „am 7. September des vergangen Jahres“ durch chinesische Gangster, die Lösegeld fordern und damit drohen, sie zu verstümmeln und zu erschießen. Nach angstvollen Stunden kommt es am Ende der Geschichte durch Vermittlung eines japanischen Offiziers zu einem Kompromiss. Die Banditen geben sich mit weniger Geld als gefordert zufrieden und lassen Miss Pawley frei. Auch die zweite Geschichte mit dem Titel „Der König der Affen“ spielt in China und handelt von der Kaperung eines europäischen Schiffs durch Piraten. Die Bande, die eine Entführung weiterer Europäer plant, zwingt den gefangenen Kapitän John Breston, ihr Schiff durch gefährliche Wasser zu steuern. Dieser kann sich erst dadurch befreien, dass er das Schiff kentern lässt und seinen Bewacher erdrosselt.54 Neben dem Abenteuergenre bildeten komische Geschichten, in denen Kinderfiguren Erwachsene kurzzeitig übertölpelten, das neue Hauptgenre der Kinderpresse. In zumeist grotesker und nicht selten brutaler Weise inszenierten sie in Slapstick-Manier eine temporäre Umkehrung der Machtverhältnisse zwischen Kindern und Erwachsenen. Im Mittelpunkt der Geschichten steht häufig ein Moment der Verletzung des erwachsenen Körpers und der Zerstörung der erwachsenen Weltordnung. Das Genre nahm deutliche Anleihen beim Picaroroman und populären, karnevalesken Ritualen, erreichte in seiner massenmedialen Form Spanien jedoch vor allem über das Vorbild der US-amerikanischen Kinderpresse. Ein frühes Beispiel des Genres stellt die Geschichte „El Botijo“ dar, die 1916 in der Zeitschrift Pulgarcito erschien. In ihr erzählt ein Ich-Erzähler von Gymnasiastenstreichen, die er mit seinen neun- bis zwölfjährigen Klassenkameraden beging. Im Mittelpunkt steht die Malträtierung eines Schusterehepaares durch die Kinder, in deren Verlauf eine Fensterscheibe zerstört wird. Die Geschichte endet damit, dass die erboste Schusterehefrau mit einem Hammer nach den Kindern schlägt, zu deren Schadenfreude jedoch statt des Kopfes eines der Kinder ein großes rundes Gefäß zertrümmert.55 Die Drastik der Darstellung wird in diesem 53 54
55
Aventuras muy maravillosos del Caballero Catán, T.B.O. 1, o.d. (1917). El rey de los monos, T.B.O. 817, o.D. (1935). Zu ähnlichen Geschichten in der Zeitschrift Mickey: Jim el Temerario (por Alex Raymond), Mickey 4, 30.3.1935; En busca de aventuras (por H.A. Fonsky), ebd.; La mina de Platino (por Bocquet), Mickey 5, 6.4.1935. El botijo, Pulagarcito 1, 13.2.1916.
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III. Aushandlungen Abbildung 17: „Familie Thymian“ (Ausschnitt), Macaquete, 8.11.1930.
Fall noch durch die Rückverlagerung der Geschichte in die Vergangenheit und die explizite Situierung der Geschichte in eine Tradition volkstümlicher Jugendstreiche abgemildert, doch markiert diese Geschichte hinsichtlich der Hierarchieverschiebung zwischen ohnmächtigen Erwachsenen und machtvollen Kindern sowie des völligen Fehlens einer moralischen Schlusswendung einen deutlichen Bruch mit dem 1916 noch vorherrschenden moralpädagogischen Muster. In der ein Jahr später erscheinenden T.B.O. stellten solche komischen Geschichten schon ein wesentliches und nun vor allem graphisch gefasstes Element dar. Gleich in der ersten Ausgabe erschien die Bildergeschichte „Una excursión desastrosa“ (Ein katastrophaler Ausflug), in der eine bürgerlich gekleidete Familie zunächst mit ihrem Auto gegen einen Baum fährt und anschließend mit einem Ochsenkarren, den sie als Ersatzgefährt genommen hat, umstürzt. Das letzte Bild zeigt die Familie kopfüber zu Boden fallend.56 Anfang der 1930er Jahre war das Genre fest etabliert. Macaquete etwa enthielt in jedem Heft eine Doppelseite kurzer graphischer Witzgeschichten mit wiederkehrenden Charakteren, deren Titel wie etwa „La Familia Tomillo“ (Familie Thymian), „Travesuras de Paquito, el de la cara de pito“ (Streiche von Paquito, dem Pfeifengesicht) oder „Don Futraque y Chilindrina“ schon im Titel ihren komischen Charakter deutlich machten.57 In der ersten Nummer beschließt etwa Paquito, „um seinem Spitznamen Ehre zu machen“ dem ahnungslosen Don Florencio „einen mordsmäßigen Schrecken“ einzujagen, was 56 57
Una excursión desastrosa, T.B.O. 1, o.D. (1917). Macaquete 1, 8.11.1930.
3. Kinderzeitschriften zwischen Kindheitsreform und Kinderinteressen
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Abbildung 18: „Die Rache des Krokodils“, Macaquete, 20.12.1930.
ihm tatsächlich mit Hilfe eines plötzlich auftauchenden Luftballons gelingt. Die erste Geschichte von „Tolito y sus amigos“ (Tolito und seine Freunde) erzählt davon, wie Tolito mit seinen Freunden auf einem Holzschiff auf einem Spielplatz so lange Zigaretten raucht, bis sie sich wie richtige Seereisende erbrechen müssen, was auf dem letzten Bild graphisch deutlich in Szene gesetzt wird.58 Wie drastisch Erwachsenen in den Geschichten oft mitgespielt wird, zeigt die Titelgeschichte der Nummer 817 von T.B.O. aus dem Jahr 1935. In ihr legt ein exotischer Schlangenbeschwörer den „jähzornigen Koko Thero“, einen blonden Mann herein, indem er den Rüssel eines Elefanten als Schlange tarnt. Als Koko Thero die Schlange mit einem Stock vertreiben will, wird er von dem Elefanten gepackt und mit dem Kopf voran in den Boden gestampft.59 In zwei weiteren Geschichten derselben Nummer wird ein Forscher von Einheimischen hereingelegt und landet am Ende in einem Kessel über lodernden Flammen, und in Abwandlung des Zauberlehrlingsmotivs wirft ein Roboter zunächst die Katze seiner Besitzer in einen kochenden Topf, schleudert dann die dicke Ehefrau mit Weizensäcken zusammen in den Keller, wo diese unsanft auf ihr Gesicht fällt, und zerstört am Ende mit einer Spitzhacke das Haus der Familie. Die komischen Geschichten hatten immer Erwachsene im Mittelpunkt, 58 59
Tolito y sus amigos, Macaquete 3, 22.11.1930. Un Chasco Fatal, T.B.O. 817, o.D. (1935).
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III. Aushandlungen
wobei der Kontext oft die Familie war, in der die Erwachsenen dann häufig als Witzfiguren mit dicken Bäuchen und runden Köpfen dargestellt wurden. Kinder werden am Ende der Geschichten zwar häufig zur Rechenschaft gezogen, aber erst nachdem die Erwachsenenwelt plastisch bloßgestellt und die etablierten Hierarchien von Kinder- und Erwachsenenwelt temporär umgestürzt worden sind. Die Komik der Zeitschriften richtete sich teilweise auch gegen die Hochkultur, die persifliert wurde. Exemplarisch hierfür ist eine Fotomontage mit Gedicht unter dem Titel „Villancico“ in Macaquete von Dezember 1930. Auf jeweils eine Strophe eines Villancico, eines frommen Weihnachtsgedichts, folgt eine korrespondierende Strophe, die jene lächerlich macht. So heißt es etwa: „Diese Nacht ist die Heilige Nacht / und ich möchte mich besaufen / aber da ich keine Knete habe / müsst ihr mich einladen.“60 Die Komik ist in diesem Fall jedoch eingehegt, und eine versöhnliche Wendung am Schluss lässt erkennen, dass hier keine Fundamentalkritik an den älteren kulturellen Formen vorgenommen werden soll. Doch gerade in seiner Mischung aus Subversion und Affirmation ist dieses Gedicht charakteristisch für viele der komischen Geschichten. Sie spielten mit Grenzüberschreitungen, taten dies aber auf eine fiktive Weise, insofern als mit dem Beginn jeder neuen Geschichte die herrschende Ordnung wieder installiert war. In dieser Struktur weisen die Geschichten viele Ähnlichkeiten mit der von Michail Bachtin herausgearbeiteten karnevalsken Form und volkstümlichen Ritualen auf. Sie bleiben in ihrer spielerischen Subversion der Erwachsenenwelt uneindeutig. Überschaut man die Entwicklung der Kindergeschichten von den Moralgeschichten in den Zeitschriften La Niñez und Los Niños um 1880 zu den Abenteuer- und Slapstickgeschichten in Macaquete, T.B.O. und Mickey in den 1930er Jahren, so zeigt sich deutlich der fundamentale Wandel von Kinderunterhaltung in dieser Zeit. Allerdings fügen sich die Zeitschriften nicht vollständig in ein klares Vorher-Nachher-Schema. Das Genre der Moralgeschichten existierte in der Kinderpresse der 1920er und 1930er Jahre am Rande weiter, wenn auch in veränderter Form und in reduziertem Umfang. Die erste Ausgabe von Macaquete beinhaltete etwa eine Geschichte „El Sacrificio“ (Das Opfer), in der ein Kind seinen Vater rettet, aber zu bescheiden ist, ihm dies zu gestehen.61 Selbst Mickey enthielt Moralgeschichten wie etwa „El hueso encantado“ (Der verzauberte Knochen), in der ein Tier seinen Kinder-Besitzer durch eine praktische Lektion lehrt, immer gut zu Tieren zu sein.62 Die Hybridität der Zeitschriften zeigt sich auch im Hinblick auf die Ansprache von Mädchen. Mädchen als eigenständige Zielgruppe wurden erst spät entdeckt. Anders als in anderen Ländern etablierten sich in Spanien vor 1936 keine eigenen Mädchenzeitschriften, doch fügten Illustrierte und 60 61 62
Villancico, Macaquete, Extranummer, 20.12.1930. El Sacrificio, Macaquete 1, 8.11.1930. El hueso encantado, Mickey 3, 23.3.1935.
3. Kinderzeitschriften zwischen Kindheitsreform und Kinderinteressen
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Kinderzeitschriften am Ende der 1920er Jahre teilweise eigene Mädchenseiten ein, nachdem sich die Zeitschriften zuvor implizit hauptsächlich an Jungen gewandt hatten.63 Die Mädchenseiten zeichneten ein ambivalentes Bild des modernen Mädchens. Einerseits blieben sie stärker als die allgemeinen, eher an Jungen gerichteten Seiten dem didaktisch-moralischen Modell verhaftet – die erwähnte Geschichte „El hueso encantado“ erschien symptomatischerweise auf den Mädchenseiten von Mickey. Auch Inhalte wie Haushalts-, Kleidungs- und Kochratschläge verweisen auf ältere Traditionen sich an Mädchen richtender Ratgeberliteratur.64 Andererseits zeichneten die Mädchenseiten jedoch ein neues weltoffenes, mondänes Bild vom Mädchenleben. Deutlich wird dies in der Figur Nille, die das bürgerliche Glanzmagazin Cósmopolis Ende 1927 als Identifikationsfigur für junge Leserinnen entwarf. Nille, so die Selbstdarstellung, sei eine Seite für Mädchen, die sich „ein wenig wie señoras fühlen“. Zwar standen die Konfektion von Puppenkleidern und die Vermittlung von Kochrezepten im Mittelpunkt, doch weibliche Kindheit wurde hier nicht moralisch aufgeladen und auf familiäre Werte bezogen. Vielmehr sollten die Mädchen über die Welt der Mode Wege erfolgreicher Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit erlernen. Die Darstellungen von Mädchen waren deutlich geschlechtsspezifisch geprägt, aber sie entwarfen nicht länger eine Welt der Demut, Bescheidenheit und Häuslichkeit, sondern eine Welt selbstbewussten Auftretens und bürgerlicher Repräsentation.65 Die wahrscheinlich populärste Verkörperung des neuen selbstbewussten, weltgewandten Mädchens, die von Elena Fortún geschaffene Figur der Célia, überschritt einige Jahre später sogar noch weitgehender als Nille die tradierten Grenzen bürgerlichen Mädchenlebens.
3.3 Politische Überformungsversuche und gegenläufige Tendenzen Die neuen Formen und Inhalte entwickelten eine solche Popularität, dass keine Zeitschrift sich ihnen entziehen konnte. Parallel zur Kommerzialisierung, in Verbindung und in Reaktion auf diese, lassen sich jedoch neue politisch-ideologische Überformungsbemühungen der Kinderpresse feststellen. In den 1920er Jahren entstanden neue Versuche, Kindheit 63
64 65
Zum Verzicht auf eigene Mädchenzeitschriften und die bisherige Vernachlässigung der Mädcheninteressen siehe: La Redacción, Padres que tenéis hijos, Macaco 1, 29.1.1928. Angesichts der Schwierigkeiten, Kinderzeitschriften dauerhaft am Markt zu etablieren, dürften zunächst weniger ideologische denn finanzielle Gründe gegen die Gründung eigener Mädchenzeitschriften gesprochen haben. Siehe etwa: Marujita. Página para las niñas, Mickey 4, 30.3.1935. Siehe nur: Nille, Cosmópolis 1, Dezember 1927; Nille, Cosmópolis 2, Jan. 1928.
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III. Aushandlungen
über Kinderzeitschriften zu formen. Es können hauptsächlich ein national-regenerationistischer, ein liberal-republikanischer und ein katholischer Zugriffsversuch voneinander unterschieden werden, die den Wandel der Kinderpresse auf unterschiedliche Weise mit vollzogen, akzentuierten und mit neuen Persönlichkeitsreformprojekten verknüpften. Diese drei, an der Schnittstelle von populärer Unterhaltungskultur und politischen Kindheitsprojekten zu verortenden Strömungen sollen hier etwas genauer beschrieben und hinsichtlich ihrer Bedeutung und Unterschiede diskutiert werden. Der Fokus liegt wiederum auf katholischen Formungsversuchen, ihrer Gestalt, ihrem Wandel und ihren Erfolgen. Die ersten einflussreichen Versuche einer politischen Überformung der neuen Kinderunterhaltungskultur trugen einen national-regenerationistischen Charakter und lassen sich in den 1920er Jahren lose mit dem Gesellschaftsprojekt der Diktatur Primo de Riveras verbinden. Ansätze dieser Richtung finden sich schon 1916 in ABC Infantil. Der Erste Weltkrieg verlieh einer nationalen Reform von Kindheit und einer besseren Formung der nachwachsenden Generationen eine neue Bedeutung, wollte man im zukünftigen Konkurrenzkampf der Nationen bestehen: „Die Schwärze dieses europäischen Krieges weist uns darauf hin, dass es sehr notwendig ist, den zukünftigen Generationen große Dosen von Patriotismus zu injizieren, damit sie das Vaterland in der Zukunft vergrößern, es mächtiger, unabhängiger und glücklicher machen“.66 Es waren dann jedoch in besonderer Weise das Magazin Macaco, aber auch die frühen Kinderseiten von Estampa, welche eine Verbindung von nationalpatriotischer Gesellschaftsreform und einer neuen populären Kinderunterhaltungskultur herstellten. Das Kindermagazin erklärte es in seinem Vorwort zum Hauptziel, patriotische Gefühle in seinen Lesern wecken zu wollen und versuchte dies vor allem über Bastelseiten, in denen die Kinder „alle Waffengattungen unseres Heeres und alle Schiffe unserer Kriegsmarine“ ausschneiden und sammeln konnten.67 Daneben enthielt Macaco auch Geschichten, die politische Bezüge aufwiesen. In der ersten Nummer erschien beispielsweise eine Geschichte „Orejaslargas“ (Langohr), die als Parabel der Entwicklung der zeitgenössischen ländlichen Unterschichten und als Kritik linker Landarbeiterbewegungen gelesen werden kann. Ein Hase, der aus der Unfreiheit eines Bauernhofes flieht, wird von Kaninchen mit Bajonetten, die sich als Mitglieder der „U.G. de C.E.“, also vermutlich der „Einheitsgewerkschaft spanischer Kaninchen“, zu erkennen geben, festgenommen und zur Exekution abgeführt, nachdem er unwissend Thymian von einem gewerkschaftseigenen Feld gefressen hat.68 Auch Autoren wie Antonio Robles, der sich in den 1930er Jahren und besonders während des Bürgerkriegs zu dem wichtigsten Kinderautor 66 67 68
Al Público, ABC Infantil 1, 16.1.1916. La Redacción, Padres que tenéis hijos, Macaco 1, 29.1.1928. Fiorella, Orejaslargas, Macaco 1, 29.1.1928.
3. Kinderzeitschriften zwischen Kindheitsreform und Kinderinteressen
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der politischen Linken entwickelte, publizierte während der Diktatur mindestens eine Geschichte, die nationalistisch-regenerative Züge trug. In dieser Geschichte fährt ein Junge nach Übersee, um seinen von Eingeborenen ermordeten Großvater zu rächen, der sich als Eroberer um Spanien verdient gemacht hat.69 Der national-regenerative Impetus stieß in den Zeitschriften jedoch auf deutliche Grenzen. Die explizite Thematisierung politischer Themen war die Ausnahme. Ein allgemeiner Patriotismus bildete zwar immer wieder den Gegenstand von Geschichten und Artikeln, doch war dieser oft politisch mehrdeutig. Die Geschichte „Mambrú se fué a la guerra“ (Mambrú zieht in den Krieg) von Ende 1930 beschreibt beispielsweise einen spanischen Adeligen als tapferen Krieger und Beschützer des Landes. Sein Auszug in den Krieg gegen die Feinde des Vaterlandes – der erst von Kindern ermöglicht wird, die ihn durch Musik und Lyrik von seinen Depressionen heilen – erscheint aber zweischneidig. Das Ende der Geschichte behandelt nicht die kriegerischen Heldentaten Mambrús, sondern die Trauer der zurückgebliebenen Kinder, die ihren Beschützer und Förderer verloren haben.70 Die Kinderzeitschriften der späten 1920er Jahre können nur bedingt als nationale Mobilisierungsorgane für die Ziele der Diktatur verstanden werden. Propagandaorgane des Regimes waren sie zu keinem Zeitpunkt. Ein zweiter politischer Impuls lässt sich unterscheiden, der enge Bezüge zu republikanischen Politikentwürfen aufwies. Zunächst muss festgehalten werden, dass auf der literarischen Linken das ältere Modell bürgerlicher Selbstreform in veränderter Form weiterwirkte. Geschichten, die eine Läuterung widerspenstiger Kinder beschreiben, finden sich auch in republikanischen Illustrierten der 1930er Jahre. In der Geschichte „El Mago y la Escuela“ von Elena Fortún in Crónica beispielsweise erfahren die Kinder einer Schulklasse, die einen alten Lehrer bis in den Tod quälen, an der eigenen Haut, was Quälerei bedeutet, nachdem ein Zauberer, der die verwaiste Lehrerstelle übernimmt, sie in Tiere verwandelt und peinigt. Nach der Rückverzauberung haben sie ihre Lektion gelernt und werden zu vorbildlichen Schülern. Eine Anfang 1936 veröffentlichte Geschichte zum Dreikönigstag weist dieselbe Grundstruktur auf. Ein angeberisches Kind erhält keine Geschenke, sondern nur das Versprechen der Könige, bei Besserung im nächsten Jahr besser bedacht zu werden.71 Doch stellten solche Moralgeschichten nur einen kleinen Teil der Narra69 70 71
Antonio Robles, Cuento infantil: La Gorra de la estatua, Crónica, 15.12.1929. Mambrú se fué a la guerra, Macaquete, Extranummer, 20.12.1930. Elena Fortún, El mago y la esuela, Crónica, 22.12.1935; Etheria Artay, Cuento para los niños: Los Juguetes del niño embustero, Crónica, 12.1.1936. Siehe auch: Carmen F. de Lara, Cuento Infantil: La princecita cruel, Crónica, 11.10.1931; Enrique Moreno, Cuento para niños: Manolo, Crónica, 20.3.1932. Auch der Typus der Geschichten, welche Kinder zur Nächstenliebe und Unterstützung armer Kinder aufriefen, findet sich in Crónica: Lolin y Bobito. La plegaría de Lolin, Crónica, 25.12.1932.
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III. Aushandlungen
tionen dar. Einen größeren Einfluss auf die Gestaltung der Kindermagazine zwischen dem Ersten Weltkrieg und 1931 hatten liberale Positionen, welche die Kinderzeitschriften als Schutz- und Förderzonen kindlicher Imagination gegenüber der realen urbanen Welt entwarfen. Durch die Förderung kindlicher Fantasie sollte die kindliche Persönlichkeit gestärkt (fortalecer) und die im Kind angelegte Aktivität angeregt werden. Die neue Literatur sollte im Kind die „suchende und schaffende Energie (acción buscadora y creadora), die von ihnen in der Zukunft erwartet wird“, entwickeln.72 Die Kinderpresse sollte den Kindern eine Schutzzone bieten, in der sie solange zu starken, in sich ruhenden Persönlichkeiten reifen konnten, bis sie bereit zur Eroberung der realen Welt waren. Teilweise lassen sich hinter solchen, politisch wenig spezifischen Forderungen weitergehende republikanische Gesellschaftsreformprogramme erkennen. Gerade indem die Kinder von der unzureichenden Gegenwart möglichst lange isoliert würden und in einer geschützten Sphäre ihre positiven Anlagen ungestört ausbildeten, so die Argumentation, könnten sie in der Zukunft eine zivilisatorische Mission ausüben und eine bessere, humanere Gesellschaft errichten. Die Erneuerung der Kindermagazine konnte in dieser Hinsicht dazu beitragen, Ideale in den Kindern zu verankern, die ihnen als Leitwerte in der späteren Konfrontation mit der brutalen Realität dienen konnten.73 Als zukünftige Apostel weltumspannenden Friedens (apósteles de paz mundial) etwa hatten sie die Streitigkeiten der Erwachsenen zu beenden und eine neue Friedensordnung zu etablieren.74 Es lag in der Logik dieses Verständnisses von Kinderkultur, dass eine politische Gestaltung der Zeitschriften ebenso unterblieb wie die Gründung parteinaher Kindermagazine. Eine explizite politische Popularisierung republikanischer Politik und Gesellschaftsreform findet sich jenseits eines allgemeinen Pazifismus kaum. Lediglich in der kurzlebigen, von Antonio Robles redigierten Zeitschrift El Perro, el Ratón y el Gato, welche die größte ideologische Nähe zur ersten links-bürgerlichen Regierung der neuen Demokratieaufwies, lassen sich Spuren eines politischen Republikanismus finden. Dies trifft etwa auf eine kurze Geschichte mit dem Titel „Los juguetes del Rey malo“ (Die Spielzeuge des bösen Königs) zu, in welcher ein König Krieg führt, aber durch den Umgang mit Spielzeug seine Kinderseele zurückgewinnt und
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José Mallart, Protección del niño contra la desviación intelectual producida por cierta literatura imaginativa, in: BILE 50 (1926), S. 145–47. Siehe als manifestartige Erläuterung: J.S.R., Antoniorrobles, Crónica, 19.1.1930. Eine wichtige Vertreterin dieser Position war die einflussreiche liberale Pädagogin María Sánchez Arbós. Siehe zur Person: Víctor M. Juan Borroy, La Escuela de María Sánchez Arbós, in: María Sánchez Arbós, Escuela soñada, S. 17–36. Carlota Kett, La lectura de nuestros niños (II. Teil), in: BILE 50 (1926), S. 257–261, hier: S. 261. Siehe auch: José Mallart, Protección del niño contra la desviación intelectual producida por cierta literatura imaginativa, in: BILE 50 (1926), S. 145–47.
3. Kinderzeitschriften zwischen Kindheitsreform und Kinderinteressen
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dem Krieg abschwört.75 In deutlichem Kontrast zu den militärisch-patriotischen Bastelbögen von Macaco publizierte die Zeitschrift über viele Ausgaben hinweg Figuren eines fiktiven Dorfes, welche zusammengenommen eine sehr vollständige Abbildung der spanischen Gesellschaft präsentieren wollten. In der Beschreibung der einzelnen Figuren lässt sich eine gewisse, ironisch gebrochene Verklärung von Kindern und Angehörigen der Unterschichten erkennen, während die Oberschichten, die lokalen Autoritäten und Sicherheitskräfte dezent lächerlich gemacht werden, ohne dass die Karikatur aber in eine politische Anklage übergreifen würde. Der Dorfpriester wird beispielsweise ebenso wie die Gattin des Bürgermeisters als naschsüchtig beschrieben und die örtlichen Militärangehörigen erscheinen als einfältig, wenn auch harmlos.76 Mit dem Ende der Zeitschrift nach wenigen Monaten verschwand jedoch auch das Modell einer republikanischen Kinderzeitschrift. Das Scheitern republikanisch geprägter Kinderunterhaltung ist wohl vor allem auf die kostspielige „bürgerliche“ Gestaltung der Zeitschrift zurückzuführen, die kommerziell nicht mit den populären Blättern konkurrieren konnte. Erst nach Beginn des Bürgerkrieges politisierte sich die Kinderpresse in der republikanischen Zone rasch. Die Kinderseiten der Illustrierten bezogen sich nun in vielfacher Weise auf den Krieg. Die Volksfrontregierung in Barcelona publizierte nun wöchentliche Sonderseiten für die populäre T.B.O. mit dem Titel „Floreal. Revista Infantil Semanal publicada bajo el signo de la escuela nueva unificada” (Wöchentliche Kinderzeitschrift, publiziert im Zeichen der neuen Gemeinschaftsschule).77 Im Krieg verschaffte sich damit eine Position neues Gewicht, welche eine unmittelbarere politische Mobilisierung von Kindern forderte, während die Unterstützung von Zeitschriften, die der Tagespolitik enthoben und alleine auf die kindliche Phantasie ausgerichtet waren, drastisch zurückging. Anders als auf der politischen Linken bildete die Gründung einer eigenen populären Kinderzeitschrift für die katholischen Reformer seit den katholischen Kongressen der 1890er Jahre ein wichtiges Ziel. Erste Experimente eines neuartigen religiösen Zugriffs auf Kinder durch eigene Zeitschriften, wie sie etwa die Zeitschrift Album de los Niños im Jahr 1900 darstellte, hatten jedoch keinen dauerhaften Erfolg. Die Zeitschrift stand fest in der Tradition erbaulicher Selbstreform, unterschied sich aber von früheren Kinderzeitschriften dadurch, dass sie Religion in Form von religiösen Moralgeschichten, Infor75 76
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Los juguetes del Rey malo, El Perro, el Ratón y el Gato 2, 7.6.1930. Todo el pueblo de Villacaballo en Cartón, El Perro, el Ratón y el Gato 1, 31.5.1930. Leider stellte die Zeitschrift vor Ausrufung der Zweiten Republik ihr Erscheinen ein, so dass keine Analyse der republikanischen Epoche möglich ist. Siehe nur: Floreal, in: T.B.O. 1006, o.D. (August 1936). Zu den Illustrierten siehe etwa den Wandel der Serie „Pipo y Pipa“ nach Juli 1936 in Estampa. Vgl. auch García Padrino, Libros, S. 399–468.
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III. Aushandlungen
mationen zu Heiligen und Aufrufen zu karitativem Handeln deutlicher in den Vordergrund stellte.78 Trotz des Scheiterns erster Versuche betonten katholische Reformer immer wieder die Notwendigkeit eines eigenständigen Kindermagazins. Hinsichtlich der inhaltlichen Ausrichtung einer solchen Zeitschrift rangen Anfang der 1930er Jahre zwei Positionen miteinander, wie auf den Seiten der im März 1931 gegründete Zeitschrift Pro Infancia deutlich wird. Das Magazin stand deutlich in der moralisch-didaktischen Tradition, nahm jedoch auch Impulse der neuen Kinderliteratur sowie der kommerziellen Kinderpresse auf. So richtete die Zeitschrift eine Leserbriefseite ein und veranstaltete Preisausschreiben. In unserem Kontext wichtig ist jedoch eine bald nach Gründung der Republik einsetzende Auseinandersetzung im Herausgeberkreis über den Charakter der Zeitung. Ein Flügel um die Chefredakteurin Carmen Fernández de Lara forderte einen deutlich katholisch-patriotischen Schwerpunkt in den Inhalten. Diese Position kam in einer längeren Abhandlung zum Ausdruck, welche eine Stärkung des kindlichen Patriotismus forderte, um den vermeintlichen „Niedergang spanisch-nationaler Gefühle“ in der Bevölkerung aufzuhalten.79 Demgegenüber versuchte ein anderer Teil des Herausgebergremiums, das Journal als zwar grundsätzlich christlich orientiertes, aber in politischen Fragen zurückhaltendes und dezidiert kindorientiertes Blatt zu positionieren. Dieser Flügel bemühte sich auch, eine neutrale und anfangs sogar wohlwollende Haltung gegenüber dem politischen Regime der Zweiten Republik als Leitlinie der Zeitschrift durchzusetzen. In einer Art Grundsatzerklärung erklärten seine Vertreter im Dezember 1931: „Wir hatten uns niemals vorgenommen, eine fromme Zeitschrift zu machen; aber doch eine ehrliche Zeitschrift [. . . ] mit religiösen Themen gewidmeten Seiten, wann immer es die Gelegenheit anrät. [. . . ] Was uns nicht geraten erscheint, ist Pro Infancia eine politische Stoßrichtung zu geben. [. . . ] Wir wollen eine Zeitschrift für Kinder machen; uns selbst zu Kindern machen [infantilizarnos nosotros mismos], damit wir näher an unseren kleinen Freunden sind; und der Versuch erscheint uns kriminell, die kleinen Seelen mit dem hässlichen Virus der Politik zu infizieren, der die Erwachsenen vergiftet“.80
Die katholischen Kinderautoren diskutierten somit in ganz ähnlicher Weise und mit sehr ähnlichen Argumenten wie die liberal-republikanischen Reformer die Frage der politisch-weltanschaulichen Gestaltung von Kindermagazinen. Forderungen nach einer politischen Mobilisierung der Kinder gegen die laizistische Republik standen Positionen gegenüber, die auf der Basis der neuen Kinderpsychologie allein durch eine Abschottung der Kinder gegenüber politischen Angelegenheiten eine Korruption der Kinderseelen meinten ver78 79 80
Prácticas Religiosas, Album des los Niños 13, 10.7.1900; X., Inocencia y Esperanza, 7.7.1900, ebd. La hora del Patriotismo infantil, Pro Infancia, 20.4.1931. Advertencia a nuestros suscriptores y lectores, Pro Infancia, 10, Dez. 1931. Siehe auch schon: Nuestra Posición, Pro Infancia, 3, 30.5.1931.
3. Kinderzeitschriften zwischen Kindheitsreform und Kinderinteressen
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hindern zu können. Mit dem Rücktritt der Chefredakteurin im Herbst 1931, die ihren Kollegen eine Förderung des Laizismus vorwarf, konnte sich die zweite Richtung zwar zunächst durchsetzen, doch erwies sich ihr Erfolg bald als Pyrrhussieg. Aufgrund fehlender Unterstützung musste die Zeitschrift ihr Erscheinen einstellen. Jenseits der politischen Debatten hatte das Scheitern von Pro Infancia jedoch auch inhaltliche Gründe. Keine der beiden Herausgeberpositionen verstand es letztendlich, einer breiteren kindlichen Leserschaft adäquate Angebote zu unterbreiten. In ihrer Gestaltung war die Zeitschrift trotz einzelner Innovationen zu sehr an den alten moralisch-didaktischen Modellen orientiert, als dass sie auf dem dynamischen kommerziellen Markt der Kindermedien hätte dauerhaft konkurrieren können. Wesentlich erfolgreicher war dagegen die Kinderzeitschrift Jeromín, die von 1929 bis 1936 in enger Verbindung mit der Katholischen Aktion in wöchentlicher Auflage erschien. Die Redaktion behauptete in der hundertsten Nummer der Zeitschrift 1931, die auflagenstärkste Kinderzeitschrift zu sein, und tatsächlich soll, nach allerdings schwer nachprüfbaren Angaben, die Zeitschrift 1932 etwa 100 000 Exemplare je Ausgabe und damit ebenso viele wie die populäre T.B.O. verkauft haben.81 Selbst wenn diese Zahlen zu hoch gegriffen sind, war Jeromín doch der aufwändigste wie erfolgreichste Versuch, Kinder über die populäre Unterhaltungskultur für die katholische Sache zu gewinnen. Die Zeitschrift hatte einen deutlich missionarischen Gestus. Sie rief ihre Leser nicht nur dazu auf, ihre Freunde zum Kauf des Magazins zu überreden, sondern auch sich in lokalen Vereinen als Untergliederungen einer Liga Nacional Jeromista zusammenschließen und ständige Werbung für Jeromín zu betreiben.82 Anders als seine Vorgänger und Konkurrenten im katholischen Feld ließ Jeromín die erbauliche Tradition weitgehend hinter sich und öffnete sich radikal der neuen Kinderunterhaltungskultur und ihren Genres. Die Zeitschrift versuchte weltanschauliche Botschaften nicht gegen, sondern über die neue Kinderunterhaltungskultur zu vermitteln. Zwar druckte die Zeitung weiterhin Moralgeschichten ab – in einer „exemplarischen Geschichte“ von Anfang 1930 lernt beispielsweise ein Junge durch die harte Erziehung seines Vaters, mildtätig mit armen Kindern zu sein – doch erschienen diese Geschichten nur mehr sporadisch und bildeten nicht den Kern des publizistischen Unternehmens.83 Religion spielte, anders als es aufgrund seines kirchlichen Hintergrunds zu 81 82
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Hemos llegado al número 100, Jeromín 100, o.D. (1931); Francisco Tadeo Juan, Introducción, Flechas y Pelayos Semenario Nacional Infantil [Faksimile], Madrid, o.J., S. 17. Cruzada Jerominista del Buen Hablar, Jeromín 100, o.D. (1931). Siehe auch: Amiguitos de Jeromín, Jeromín 40, Jan. 1930. Vgl. auch die Werbeanzeige: Jeromín: El mejor juguete y el mejor amigo de los niños, El Debate 3.7.1934. Narraciones ejemplares, Jeromín 40, Jan. 1930. Dies gilt auch für die Kinderseiten der Illustrierten Aspiraciones, Ellas und Esto. Vgl. etwa: Amado L. Angaron, Cuentos para niños: Las tres damas del castillo, Esto, 10.5.1934.
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III. Aushandlungen
erwarten gewesen wäre, keine übermächtige Rolle in dem Magazin. Nur in zwei Rubriken stand sie in den Jahren 1930 und 1931 im Mittelpunkt. Einerseits warb die Zeitschrift Anfang 1931 im Rahmen einer „Cruzada Jerominista del Buen Hablar“ (Jeremistischer Kreuzzug des Guten Sprechens) für eine christliche Selbstreform der Zeitungsleser. Die Leser sollten sich in Wettbewerben, in denen sich jeweils zwei Kinder über einen bestimmten Zeitraum hinweg beobachteten, gegenseitig zu einer sowohl sprachlich wie moralisch korrekten Ausdrucksweise erziehen.84 Andererseits versuchte die Rubrik „La Mejor Ciencia“ (Die höchste Wissenschaft) religiöse Fragen in einer für Kinder anschaulichen Form aufzubereiten. Sie erläuterte beispielsweise die Lehren „Im Tode verliert alles außer der Tugend seinen Wert“, „Es gefällt Gott nicht, wenn man sündig oder mit wenig Hingabe betet“ oder „Die Undankbarkeit der Kinder gegenüber ihren Eltern ist eine schlimme Sünde“.85 Des Weiteren tauchten religiöse Themen zwar auch in den Geschichten und Bildergeschichten, die den Hauptteil der Zeitschrift ausmachten, auf, bildeten allerdings nur selten deren Kern. Eine Ausnahme in dieser Hinsicht bildet eine Erzählung, in der das heroische Kind Jeromín aufbricht, um in einem Schneesturm Rettung für seine Not leidende Familie zu holen, sich auf der Rückreise jedoch verirrt und nur dank der Hilfe der Heiligen Könige, die ihm erscheinen, nach Hause findet.86 Die Regel waren eher Geschichten, in denen Kinder ein moralisch einwandfreies Verhalten zeigten, ohne dass Religion mehr denn in Nebensätzen, etwa in der Anrufung Gottes um Unterstützung vor einem Abenteuer, auftauchte oder relevant für die Handlung gewesen wäre. Ein gutes Beispiel hierfür ist eine bebilderte Detektivgeschichte mit komischen Elementen, in welcher der Junge Pérez und seine kluge Hündin Chispa den Halunken Cuco überführen. Dieser klagt am Ende der Erzählung im Gefängnis darüber, „dass er in seiner Kindheit niemanden hatte, der ihn lehrte, ehrlich und furchtsam gegenüber der göttlichen wie der menschlichen Gerechtigkeit zu sein“.87 Es ist bezeichnend für die Dynamik der neuen Kinderkultur, dass sich in den Jahren der Republik ein nochmaliger Rückgang religiöser Inhalte in Jeromín erkennen lässt. Im Jahr 1935 waren die beiden Rubriken „La Mejor Ciencia“ und „Cruzada del Buen Hablar“ aus der Zeitschrift verschwunden, und es finden sich auch keine expliziten Aufrufe zur christlichen Selbstreform mehr. Eine Formung der Kinder wurde nur mehr auf indirektem Wege, über das Vorbild der kindlichen Protagonisten der vielen Geschichten angestrebt, wobei auch hier kaum mehr eine offene Thematisierung von Religion stattfand. Dies legt den Schluss nahe, dass offene religiöse Unterweisung bei den 84 85 86 87
Cruzada Jerominista del Buen Hablar, Jeromín 102, o.D. (1931). La Mejor Ciencia, Jeromín 40, Jan. 1930; La Mejor Ciencia, Jeromín 41, 12.1.1930; La Mejor Ciencia, Jeromín 100, o.D. (1931). Maravillosa Historia de Jeromín, Jeromín 41, 12.1.1930; Aventuras de Pérez, „Chispa“ y „Cuco“, Esto, 26.7.1934; 9.8.1934; 16.8.1934; 23.8.1934. Siehe auch: Niños heróicos: La señal, Jeromín 40, Jan. 1930.
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Käufern der Zeitschrift wenig populär war und Jeromín nicht wegen, sondern eher trotz seiner katholischen Prägung gekauft und gelesen wurde. Die geringe Rolle religiöser Themen bedeutet jedoch nicht, dass Jeromín unpolitisch gewesen wäre. Ein heroischer Nationalismus und ein heroischnationales Kindermodell traten in der Zeitschrift sehr viel deutlicher zu Tage als in anderen Kinderzeitschriften. Die Propagierung patriotischer, für Spanien opferbereiter und tugendhafter Kinderhelden stellte den wesentlichsten politischen Impuls der katholischen Zeitschrift dar. Das Modellkind der Geschichten von Jeromín und Esto ist zwar ebenso wie die Kinder in anderen Magazinen selbstständig und weltgewandt, wird aber anders als in den meisten Geschichten der linksliberalen Kindheitserneuerer stärker als moralisch vorbildlich und eindimensional heroisch gezeichnet. Es weist dabei deutliche Überschneidungen zu den Helden der „realistischen“ Abenteuergeschichten der 1930er Jahre auf und agiert oft in einem militärisch geprägten Kontext. Kinder treten immer wieder als Retter ihrer Familien und insbesondere schwacher Erwachsener auf. Sie nehmen Opfer und Entbehrungen heroisch auf sich, zeigen ungewöhnlichen Mut in jeder Situation und verhalten sich dabei stets christlich tugendhaft. In der schon erwähnten Bildergeschichte „La señal“ rettet nach einem Schiffbruch der kleine Tomás seinen Vater und weitere Matrosen, indem er zu einem Wasserflugzeug schwimmt, ein Beiboot mit Benzin in Brand setzt und auf diese Weise ein Schiff auf ihre verzweifelte Lage aufmerksam macht.88 In einer weiteren, im Untertitel als exemplarisch gekennzeichneten Fortsetzungsgeschichte mit dem Titel „Amor filial“ (Elternliebe), deren undeutlicher Hintergrund der Marokkokrieg ist, schmuggelt sich der Sohn eines von „Mauren“ entführten Militärkommandanten an Bord eines Flugzeugs, das zur heroischen Rettung aufbricht. Hinter der feindlichen Front befreit der Junge dann eigenhändig seinen Vater, indem er seine Wächter niederschlägt, und eilt danach noch einem anrückenden Rettungstrupp, der in ein Feuergefecht mit den „Mauren“ verwickelt ist, zur Hilfe.89 Wieder in einer anderen Bildergeschichte rettet ein Junge die Tochter eines Indianerhäuptlings aus einem reißenden Fluss und kann auf diese Weise einen Indianerangriff auf seine Familie, die in ihrem Blockhaus Zuflucht gefunden hat, abwehren.90 Auch in andere katholische Publikationen hielt dieses heroische Kindermodell Einzug. In den bebilderten „Aventuras de Piñoncito“, die Anfang 1932 in Aspiraciones erschienen, meldet sich der Protagonist, ein kleines Pinienkernwesen, freiwillig, Medizin für ein krankes Königskind aus dem Inneren eines Wals zu besorgen, nachdem er festgestellt hat, dass „nur er, so unbedeutend er auch scheinen mochte“, in der
88 89 90
Ebd. Narraciones ejemplares: Amor filial, Jeromín 41, 12.1.1930; Jeromín 42, 19.1.1930. Niños heróicos: Asaltados por los indios, Jeromín 102, o.D. (1931). Die Beispiele ließen sich leicht weiter fortsetzen.
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III. Aushandlungen
Lage war, den gefährlichen Auftrag zu erfüllen. Im Fortlauf der Geschichte überwindet er seine Angst und besteht erfolgreich mehrere Prüfungen.91 Das hier erkennbare Bild des männlichen Kindes als mutiger, selbstloser und tugendhafter Retter bildete ein dominantes Erzählmuster von Kindheit in Jeromín. Es knüpfte dabei an ältere Vorläufer in der Regenerationsbewegung um 1900 an. Neben Kontinuitäten fallen aber rasch Unterschiede ins Auge. Die Geschichte „El niño soldado“, die in der Reformzeitschrift La Escuela Práctica 1897 erschien, handelt zwar beispielsweise auch von einem Kind, das mit dem Heer in den Krieg zieht und dort den Soldaten durch seine Weigerung, vor dem heranrückenden Feind zu fliehen, ein Beispiel gibt.92 Jedoch handelt es sich in diesem Fall um einen Verteidigungskrieg, und das Kind gibt in der Geschichte zwar ein moralisches Exempel, ist ansonsten aber nicht in die Kriegshandlungen involviert und trägt auch keine Waffen. Im Gegensatz zu den Geschichten der 1930er Jahre ist die Kinderfigur hier vor allem Symbol. Demgegenüber zeichnet sich Jeromín durch eindeutig positive Bezüge zu Militär und Krieg aus. Die häufige Situierung der Geschichten in Kriegs- oder zumindest Kampfsituationen ist eine Besonderheit des katholischen Blattes. Deutliche Ähnlichkeiten scheint es in dieser Hinsicht zu kinderliterarischen Strömungen im italienischen Faschismus gegeben zu haben, die von einer zukünftigen Forschung genauer zu untersuchen wären.93 Dies führt uns zum zweiten grundsätzlichen Unterschied zwischen Jeromín und anderen Kinderzeitschriften der 1920er und 1930er Jahre. Die soziale Umwelt, in der sich die Kinder bewegen, ist durch eine klare moralisch aufgeladene Freund-Feind Dichotomie geprägt, die kaum in Frage gestellt wird. Die Kinder kämpfen als Verteidiger einer gerechten Ordnung gegen das Böse, wobei dieser Kampf oft insofern politische Züge trägt, als er in patriotischen Auseinandersetzungen gegen die äußeren Feinde beziehungsweise gegen proletarische Protestbewegungen besteht. Die Situierung einer heroischen Geschichte im spanisch-marokkanischen Krieg ist bereits erwähnt worden. Eine andere Bildergeschichte aus dem Jahr 1935 handelt von einem Jungen Víctor, der sich in den Wirren der Französischen Revolution gegen die Terrorherrschaft der Revolutionäre durchsetzen muss und verfolgte Adelige rettet.94 Die Bezüge dieser in mehr als 20 Kapiteln erzählten Fortsetzungsgeschichte zur 91 92 93
94
Página de los niños, Aventuras de Piñoncito, Aspiraciones, 23.1.1932 und 30.1.1932. El niño soldado, La Escuela Práctica, 15.1.1897. Leider fehlt es an Vorstudien, um hier zu einer umfassenden Aussage zu kommen. Die Beobachtung bezieht sich hier auf die Analyse von: Panzini, El niño de acero, Blanco y Negro, 13.1.1929. Vgl. auch die Hinweise zur Kinderliteratur im Nationalsozialismus: Petra Josting, Faschismus, in: Reiner Wild (Hrsg.), Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur, Stuttgart 2008, S. 276–94; Hopster, Kinder- und Jugendliteratur; Winfred Kaminski, Heroische Innerlichkeit. Studien zur Jugendliteratur vor und nach 1945, Frankfurt/Main 1987. Bajo el Imperio del Terror. Aventuras de unos muchachos en el París Revolucionario, Jeromín 295, 3.1.1935.
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aktuellen Politik Spaniens im Umfeld der Oktoberaufstände vom Herbst 1934, welche katholische Kreise als Revolutionsversuch in der Tradition von 1789 sahen, sind nicht zu übersehen. Neben solchen Geschichten mit explizit politischen Verweisen existierte ein weiterer, gerade am Ende der Republik in der Zeitschrift populärer Geschichtentypus, dessen politische Bezüge weniger eindeutig sind. Er handelt von machtlosen Waisenkindern, die von unbarmherzigen Erwachsenen gepeinigt werden. In der Bildergeschichte „El Secreto del Viejo Caserón“ (Das Geheimnis des alten Hauses) muss der Waisenjunge Tomás sich als Diener in einem Wirtshaus verdingen, wo er nicht nur von seinem Arbeitgeber sondern auch von hochmütigen Gästen malträtiert wird. In einer Episode schlägt ihn ein Gast mit einer Reitgerte so lange auf den Kopf, bis er im Straßenstaub zusammenbricht. Nur ein Mädchen Anita, das selbst als Waise adoptiert worden ist, zeigt ihm gegenüber Mitgefühl.95 Die Fortsetzungsbildergeschichte „Compañeros de Circo“ (Kameraden des Zirkus), die in derselben Ausgabe erschien, ist ganz ähnlich aufgebaut. Hier quält der Drahtseilartist Bepo seinen Schüler Antonio und verweigert ihm in einer Folge wegen vermeintlichen Ungehorsams das Essen und schlägt ihn brutal. Nur die Artistentochter Rosa hält zu Antonio und bringt ihm heimlich Essen, nachdem Bepo ihn in einen Zirkuswagen gesperrt hat.96 Kindheit erscheint in diesen Geschichten bedroht und deformiert durch grausame, kalte Erwachsene, gegen die die Kinder nur durch gegenseitige Unterstützung und Schläue anzukommen vermögen. Auch wenn sie politisch nicht eindeutig sind, fügen sich diese Geschichten doch in eine kritische katholische Sicht des zeitgenössischen, republikanischen Regimes als tyrannisch und kinderfeindlich ein. Ein weiteres Kennzeichen der Geschichten in Jeromín besteht darin, dass sich die Kinder am Ende der Geschichten bereitwillig in eine, oft durch ihre Hilfe, wiederhergestellte gerechte erwachsene Ordnung einfügen. Kinder treten in Jeromín als autonome Akteure auf, doch sie verlassen nie den Rahmen einer akzeptierten Ordnung der Erwachsenenwelt. Stereotyp enden die Geschichten mit einer Belohnung der kindlichen Heroen durch prestigeträchtige Erwachsene. Gonzalito, der Held der Geschichte „Amor filial“ wird beispielsweise mit „Viva España“-Grüßen in der heimischen Garnison empfangen und erhält am Ende einen Orden durch einen General, der ihn lobt: „Dieses ist der Preis, mit dem Spanien seine tapferen und aufopferungsvollen Söhne auszeichnet.“ Das spanische Offizierskorps und seine Kriegsführung werden hier genauso vorbehaltlos positiv dargestellt, wie Adelige, Fürsten und Könige in vergleichbaren Geschichten.97 In einer anderen Erzählung rettet ein Junge 95 96 97
El secreto del Viejo Casarón, Jeromín 296, 10.1.1935. Compañeros de Circo, ebd. Vgl. auch: El Castillo de los Misterios, Jeromín 346, 26.12.1935. Narraciones ejemplares: Amor filial, Jeromín 42, 19.1.1930. Vgl. weiterhin nur: Niños heróicos: Benito, Jeromín 41, 12.1.1930.
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III. Aushandlungen
einen abgestürzten Piloten, der ihm daraufhin verspricht, aus ihm einen Starpiloten zu machen, und in einer fast identischen Geschichte birgt ein Junge einen Mann mit Hilfe eines Motorradreifens aus einem Fluss. Dieser stellt sich als Inhaber einer Motorradwerkstatt heraus, nimmt den tapferen Junge in die Lehre und trägt so zur Verwirklichung des Lebenstraums des Helden, als Mechaniker zu arbeiten, bei.98 Besonders deutlich lassen sich die Besonderheiten katholisch-nationaler Kindergeschichten anhand der Fortsetzungsbildergeschichte „Toti y Tito“ aufzeigen, die 1934 in der katholischen Illustrierten Esto erschien und deutlich an erfolgreichen Vorgängern wie „Pipo y Pipa“ orientiert ist.99 Auch Toti und Tito bilden ein Gespann aus einem heroischen Jungen und einem Hund, die alleine auf Abenteuersuche gehen und sich aus gefährlichen Situationen immer wieder dank ihrer Tapferkeit und Schläue befreien können. Ähnelt so die Grundstruktur der Episoden stark den politisch weniger eindeutigen Geschichten Salvador Bartolozzis, so weist die Serie einige spezifische Charakteristika auf. Zunächst fehlt ihr die ironische Dimension von „Pipo y Pipa“, die Gefahren sind existentieller und realistischer. So werden die Protagonisten beispielsweise in einer Episode als Gefangene des bösen Piraten Kakibul gezwungen, mit verbundenen Augen ein Minenfeld zu durchschreiten. Die Abenteuer bewegen sich zudem deutlicher in einer Umwelt des Krieges und der Gewalt. Kriegerische Ereignisse wie Belagerungen und moderne Kriegsgegenstände wie Dynamit, Waffen und Kanonenboote bilden zentrale Elemente der Geschichten. In enger Verbindung mit dieser Ausrichtung sind die Geschichten eindeutiger als moralischer Kampf zwischen Gut und Böse entworfen, schon unmittelbar im ersten Bild wird der „Kampf gegen die Bösen“ als Thema der Reihe angesprochen. Während Pipo und Pipa eher als Schlichter erwachsenen Streits auftreten und fortwährend die aus den Fugen geratene Welt der Erwachsenen in Ordnung bringen müssen, stehen Toti und Tito fest auf Seiten der guten Erwachsenen. Toti zeichnet sich durch die klassischen Attribute militärischer Helden wie Tapferkeit, Furchtlosigkeit, Edelmut aus und bildet dadurch einen deutlichen Kontrast zu seinen Gegenspielern, die als moralisch böse gekennzeichnet sind und oft durch ihre physiognomische Gestaltung als „rassisch minderwertig“ erscheinen sollten. Der Hauptgegenspieler der ersten Geschichte, der Pirat Kakibul, ist äußerst grausam und skrupellos und seine afrikanischen Helfer erscheinen als dehumanisierte Schergen, die „mit Gesichtern wie Tigern“ die weißen Helden belauern. Anders als in „Pipo y Pipa“ finden die Abenteuer schließlich gleichsam unter erwachsener Aufsicht statt. Die gute Zauberin Cebollín verfolgt die Heldentaten von Toti und Tito in ihrer Glaskugel und lässt den beiden immer 98 99
Niños heróicos: El niño aviador (de Puck), Jeromín 100, o.D. (1931); Niños heróicos (de Puck), Un salvamiento, Jeromín 101, o.D. (1931). Toti y Tito. Cinetín de Aventura, Esto, 19.4.1934. Die Serie erschien in jeder der folgenden Ausgaben der Zeitschrift im Jahr 1934.
3. Kinderzeitschriften zwischen Kindheitsreform und Kinderinteressen
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wieder wichtige Ratschläge und Hinweise zukommen. Auch unterstellen sich Toti und Tito im Verlauf der Geschichten immer wieder erwachsenen Autoritäten. Sie dienen sich beispielsweise einem König, dessen Tochter entführt worden ist, als Knappen an und ordnen sich in der Verfolgung des Piraten dem erfahrenen Kanonenbootkapitän Enri Haslon unter. Nur ausnahmsweise finden sich auch offene politische Parabeln wie die 1935 erschienene Erzählung „Una treta de Jupiter“ (Eine List Jupiters). In der Geschichte, die als Parabel auf die Entwicklung der Zweiten Republik gelesen werden kann, gibt Jupiter dem Drängen zweier Volksstämme nach, ihnen die Entscheidungsfindung über das Wetter zu überlassen. Diese können jedoch mit der gewonnenen Freiheit nichts anfangen und zerstreiten sich heillos, woraufhin Jupiter am Ende der Geschichte unter lautem Gelächter die Herrschaft wieder übernimmt.100 Solche politischen Parabeln stellten jedoch eine Ausnahme dar, entsprachen sie doch in ihrer Struktur zu sehr dem älteren didaktischen Typus von Erzählungen, die die katholische Kinderzeitschrift in Einklang mit anderen populären Blättern der Zeit gerade überwinden wollte. Doch bedeutet dieser Befund wie auch die erstaunlich geringe Rolle, die religiöse Themen in der Zeitschrift spielten, nicht, dass Jeromín keine gesellschaftspolitische Agenda besessen hätte. Die positiven Bezüge zu einem spanischen Patriotismus, zum Militär und zu etablierten sozialen Autoritäten positionierten das Magazin deutlich auf der politischen Rechten. Zudem vermittelten die Geschichten unterschwellig ein dichotomisches Weltbild einer konstanten Bedrohung von Kindern und guten Erwachsenen durch Kräfte des Bösen, welche deutliche, oft rassistisch gefärbte Züge ausländischer Kräfte und der Unterschichten tragen. Doch darf die Wirkmacht dieser nationalistischen Imprägnierung von Kindern nicht überschätzt werden. Selbst in der katholischen Presse von Jeromín bis Esto war ihr Einfluss begrenzt. Andere Tendenzen in den Zeitschriften wirkten ihr entgegen. Auch Jeromín war bereit, sich an anders gelagerten Leserwünschen zu orientieren und die populären, latent subversiven Elemente der neuen Kinderunterhaltungskultur zu übernehmen. Das Magazin weist somit eine unterschwellige Ambivalenz zwischen der Stützung hierarchischer sozialer Ordnung und ihrer spielerischen Subversion aus. Vergleicht man die Ausgaben von 1930 und 1935, nahm letztere Tendenz während der Jahre der Zweiten Republik sogar noch zu. Während viele Geschichten das tugendhafte, heroische Kind glorifizierten und es in einen hierarchischen Gesellschaftsrahmen stellten, feierten andere Geschichten in denselben Heften den temporären Zusammenbruch sozialer Ordnung und die Macht der Kinder über Erwachsene. Dies zeigt besonders gut die Serienbildergeschichte „Teresa, Niña Traviesa“ (Teresa, das ungezogene Mädchen), die sowohl 1931 als auch 1935 einen festen Bestandteil der Zeitschrift bildete. Die lange Laufzeit der Serie 100
Una treta de Jupiter, Jeromín 295, 3.1.1935.
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III. Aushandlungen
kann als Indiz ihrer Popularität gewertet werden. Die Serie handelt von Teresa, der es immer wieder gelingt, durch Vorwitz und Einfallsreichtum Erwachsene auszutricksen und ihren Willen durchzusetzen. So lässt sie durch einen Trick einem Dieb einen Stock auf die Nase knallen, drapiert einen Sessel so, dass ihre Mutter glaubt, sie lerne, während Teresa in Wahrheit auf der Straße spielt, entwickelt eine ingeniöse Methode, um gleichzeitig zu spielen und ihrer Tante mit dem Kaminholz zu helfen und rächt sich an einer Freundin ihrer Mutter, die sie unsanft vor die Tür setzt, indem sie eine Schnur an der Fußmatte befestigt und die Freundin damit zu Fall bringt.101 Gerade im Jahr 1935 füllen komische Geschichten mit einem subversiven Subtext einen großen Teil der Zeitschrift. In der ersten Nummer des Jahres 1935 erschien zum Beispiel eine Bildergeschichte über einen Vater, der vor seinem Sohn beim Angeln angeben will, am Ende aber einen kleineren Fisch angelt als dieser und wütend-komisch einen Schuh nach seinem Kind wirft, als dieses ihn auslacht. Weiterhin enthält die Nummer eine Bildergeschichte über eine schlaue Hausangestellte, die ihre faule Arbeitgeberin zur Mithilfe bei der Hausarbeit veranlasst, ohne dass diese sich dessen bewusst wird. Auch die Seriengeschichte „Hazañas al Alimón de Tarugo y Perdigón“ (Gemeinsame Heldentaten von Tarugo und Perdigón) handelt von zwei ungezogenen Kindern, die einem Paar dümmlicher Männer Streiche spielen.102 Die Slapstick-Bildergeschichte „Cascarilla“ aus dem Jahr 1931 verdeutlicht exemplarisch, wie eng subversive Elemente und gesellschaftspolitische Aussagen miteinander verschränkt sind. Sie zeigt wie ein Kind seinen Vater mit seinen Launen malträtiert. Im Verlauf der Geschichte schlägt sich der Mann seinen Kopf an einer Schublade, kracht mit einem Tisch auf die Erde und wird von seinem Sohn mit einem Spiegel auf den Kopf geschlagen. Als am Ende die Mutter ins Zimmer kommt, muss der Mann schließlich noch gute Miene zum bösen Spiel machen.103 Einerseits lässt sich dieser Comic als lustvoll-subversive Zerstörung familiärer Ordnung verstehen, doch besaß er andererseits auch eine konservative, gesellschaftskritische Aussage, indem er als Kritik einer übermäßigen elterlichen Nachgiebigkeit gegenüber ihren Kindern gelesen werden kann. Ebenso besaß die oben erwähnte Geschichte der faulen Arbeitgeberin als Subtext eine Kritik an einer unchristlichen Haltung gegenüber Untergebenen und bürgerlichen Ehefrauen, die die Hausarbeit vernachlässigten. Ob die kindlichen Leser diese Anspielungen und Verweise der Witzgeschichten allerdings rezipierten, erscheint höchst fraglich. Jeromín erweist sich somit als ausgesprochen hybrides Gebilde. Insgesamt zeichnet sich die Zeitschrift durch einen höheren Grad an politischweltanschaulicher Formungsabsicht aus als die eindeutiger kommerziellen 101 102 103
Siehe die Geschichten von Teresa, la Niña Traviesa, in: Jeromín 100, o.D. (1931); Teodoro del Gado, Pesca Mayor; Jeromín 295, 3.1.1935; La Domestica Ingeniosa, ebd.; Hazañas al Alimón de Tarugo y Perdigón, ebd. Cascarilla, Jeromín 101, o.D. (1931), 102, o.D. (1931); 295, 3.1.1935; 297, 17.1.1935.
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Zeitschriften, und ihre Geschichten weisen ein höheres Maß an Bezügen zu nationaler Politik und christlicher Moral auf. Sie partizipierte an der Neuausrichtung der populären Kinderkultur, versuchte dieser aber ein spezifisches weltanschauliches Gepränge zu geben. Während sie den Wandel hin zu neuen Kindheitsmodellen ebenso wie die kommerziellen und republikanischen Konkurrenzblätter mit vollzieht, unterscheidet sie sich in der Darstellung vorbildlicher Kinder, ihren Gesellschaftsschilderungen sowie hinsichtlich der Strukturierung des Verhältnisses von Kindern und Erwachsenen. Die Innovation von Jeromín besteht darin, dass die Zeitschrift versuchte, durch die Umgestaltung des populären Unterhaltungsgenres der Abenteuergeschichte und durch die bereitwillige Aufnahme subversiv-komischer Geschichten erfolgreich zu sein. Leider liegen keine Quellen zu den Absichten und Bewertungen der Redakteure der Zeitschrift vor, doch lässt sich ihr Vorgehen so deuten, dass sie – abgesehen von beruflichen und materiellen Interessen an einem Erfolg der Zeitschrift – nicht länger gegen die neue Kinderunterhaltungskultur, sondern durch sie Kinder zu beeinflussen versuchten. Dies war aber nicht möglich ohne eine Veränderung beziehungsweise Verschiebung der gesellschaftspolitischen Ziele und ohne ein Entgegenkommen gegenüber den Kinder- bzw. Käuferinteressen. Die Zeitschrift stand in einem dauernden Spannungsverhältnis zwischen einer politisch-religiösen Formungsabsicht und einer für deren Erfolg notwendigen Berücksichtigung von Wünschen der Kinder, die unabhängige, selbstbewusste Kindervorbilder forderten und an einer Ermächtigung von Kinderfiguren gegenüber Erwachsenen interessiert waren. Sie formte dabei im Anschluss an das populäre Abenteuergenre ein neues Bild aktiven, militanten Nationalismus aus, das auf Eigeninitiative, moderner Technik und Kampf beruhte. Religiöse Themen vermochte die Zeitschrift dagegen nicht in ihrer Leserschaft zu popularisieren und stellte deren Propagierung deshalb zurück. Die katholisch-nationalen Kindheitsentwürfe fanden interessanterweise zu einem gewissen Grad auch in die eindeutiger kommerziellen Kinderzeitschriften Eingang. Diese waren in den 1930er Jahren in einem bestimmten Maße offen für religiöse Themen, ohne sie aber in einen politisch-moralischen Rahmen zu stellen. Die Zeitschrift Mickey publizierte etwa zu Ostern 1935 einen Abschnitt aus dem Lukasevangelium und druckte einen Bastelbogen, anhand dessen die Leser die Kreuzigung Jesus nachstellen und -spielen konnten.104 T.B.O. publizierte 1935 eine Bildergeschichte mit dem Titel „Catalina de Siena“, welche den Kampf der Nonne Catalina gegen ihre weltlichen Widersacher und ihren Opfertod beschreibt.105 Während Religion jedoch eher ein sporadisches und kaum mit den katholischen Bildungsprogrammen verknüpftes Element der Zeitschriften bildete, existierten deutlichere Berührungspunkte zwischen den kommerziellen und den katholischen Journalen 104 105
Evocación de Semana Santa: La Crucificación del Señor, Mickey 4, 30.3.1935. Catalina de Siena, T.B.O. 817, o.D. (1935).
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III. Aushandlungen
hinsichtlich der Verbreitung heroischer, opferbereiter und tragischer Kinderbilder. Viele Geschichten der rein kommerziellen Zeitschriften kennzeichnet ebenfalls ein patriotischer Grundzug. Auch sie feiern kindlichen Heldenmut in Zeiten konstanter Bedrohungen.106 Allerdings war dieses Modell politisch keineswegs eindeutig festgelegt und kein exklusives Merkmal nationaler oder konservativer Kindheitsdiskurse. So wies etwa auch „Pipo y Pipa“ eine dualistische Struktur von gut und böse auf, die allerdings vor Juli 1936 kaum politisch aufgeladen war. Nach Beginn des Bürgerkriegs bildete das heroische Kinderbild jedoch auch ein bevorzugtes – allerdings nicht das einzige – Erzählmuster von Kindheit auf der republikanischen Linken, wie etwa die Weiterführung der „Pipo y Pipa“-Geschichten zeigt, in denen sich Pipo als tapferer Milizionär in die Kriegshandlungen stürzt.107 Einige Ergebnisse lassen sich festhalten: Im Zusammenspiel von neuen kinderwissenschaftlichen, kommerziellen und politischen Impulsen veränderte sich die mediale Kinderunterhaltungskultur grundlegend. Die Impulse wiesen ähnliche Stoßrichtungen auf und wirkten aufeinander ein. Die Zeitschriften wollten in je unterschiedlichem Grade Kindheit gestalten, feierten aber auch symbolisch das autonome Kind und seine Macht gegenüber der Erwachsenenwelt. Zusammen trugen sie zur Durchsetzung der Figur des selbstständigen, widerspenstigen Kindes in der populären Unterhaltungskultur bei. Damit einher ging eine Infragestellung des Verhältnisses von Kindern zu Erwachsenen. Erwachsene wurden nicht mehr nur als väterliche Ratgeber und allmächtige Überwacher präsentiert, sondern traten oft eher in der Rolle von Freunden oder als komische Gestalten auf, wenn sie nicht ganz in den Hintergrund rückten. In grundlegender Weise zeichneten sich die Zeitschriften durch eine Hybridität zwischen neuen Versuchen didaktischer Einflussnahme auf Kinder einerseits und des Eingehens auf spielerisch-subversive Kinderinteressen andererseits aus. Zwei Folgen des Wandels für die katholische Zeitschriftenpolitik lassen sich benennen. Erstens traten diejenigen Aspekte des katholischen Programms von Gesellschaftsreform in den Vordergrund der Zeitschriften, die sich als besonders kompatibel mit den neuen populären Genres erwiesen. Im Falle der katholischen Reformer waren dies besonders heroisch-nationalistische Motive und eine Glorifizierung militärischer Autoritäten. Zweitens setzten sowohl die regenerationistischen wie die kommerziellen Impulse der populären Kinderunterhaltungskultur eine schwer einzuhegende, widersprüchliche Dynamik in Gang. Die Darstellung widerspenstiger Kindheit und die sub106
107
Siehe etwa: José María Huertas Ventosa. De los tiempos que fueron. El niño en la ciudad sitiada, Mickey 5, 6.4.1935; Ders., Cuentos vividos: La chica de la casuca, Mickey 8, 27.4.1935. Siehe nur: Aventuras de Pipo y Pipa: Pipo se hace miliciano, Estampa, 31.10.1936; Aventuras de Pipo y Pipa: El Bautismo de Sangre de Pipo, Estampa, 7.11.1936. Vgl. insgesamt: Kössler, Children, S. 101–32.
3. Kinderzeitschriften zwischen Kindheitsreform und Kinderinteressen
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versiven Subtexte der neuen Kinderkultur forderten sehr unterschiedliche Reaktionen heraus. Von den Heranwachsenden konnte sie als Aufforderung zu einem selbstbewussten Auftreten gegenüber Erwachsenen, aber auch als Anstoß zu einer aktiven Einmischung in die Gesellschaft interpretiert werden. Unter den Erwachsenen konnten sie umgekehrt Sorgen vor einer zu weitgehenden Selbstständigkeit der Kinder, die sich erwachsener Kontrolle entzogen, wecken. Die katholischen Reformer schließlich sahen sich genötigt, in ihren täglichen Interaktionen mit den Kindern auf die Existenz dieser Kinderkultur Rücksicht nehmen zu müssen. Vor dem Hintergrund neuer Repräsentationen selbstständiger, weltgewandter Kinder mussten auch die Umgangspraktiken an den Schulen als den zentralen Kinderformungsstätten der Kirche auf den Prüfstand gestellt werden.
IV. Schulen der Diktatur, Schulen der Demokratie? Katholische Schulgesellschaften im Wandel
IV. Schulen der Diktatur, Schulen der Demokratie?
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Kaum eine andere katholische Institution hat so unterschiedliche und leidenschaftliche Bewertungen erfahren wie die konfessionelle Schule und besonders das katholische Internat. Während kirchennahe Autoren die Einrichtungen als Orte wahrer christlicher Gemeinschaft feierten, sahen antiklerikale Kritiker des frühen 20. Jahrhunderts in ihnen elitäre, dabei aber freudlose, gefängnisartige Institutionen, in denen die Kinderpersönlichkeiten deformiert und zu einer scheinheiligen Frömmigkeit erzogen würden.108 Unbestritten ist dagegen der bis in das 21. Jahrhundert anhaltende Erfolg der katholischen Privatschule in Spanien und allen andern katholisch geprägten Ländern. Bis in die Gegenwart erziehen die Schulen große Teile der Kinderpopulationen dieser Länder und sind insbesondere bei Eltern aus den Ober- und Mittelschichten als Erziehungsstätten beliebt.109 Die zu literarischen Topoi geronnenen Schilderungen des Schullebens von Befürwortern wie Kritikern haben eine historische Erforschung der konfessionellen Schulen und ihres Wandels bislang kaum befördert. Während das öffentliche Schulwesen und viele pädagogische Reformschulen des 20. Jahrhunderts intensiv untersucht worden sind, hat sich die historische Forschung jenseits einer verdienstvollen katholischen Traditionsgeschichte bisher kaum für diese Schulen interessiert. Unterschwellig herrscht in ihr das Bild einer zumindest bis in die 1960er Jahre wandlungsresistenten, damit aber auch historisch wenig interessanten Institution vor. Auch in einer sich in den vergangenen Jahrzehnten fast zu einer eigenen geschichtswissenschaftlichen Subdisziplin entfaltenden historischen Katholizismusforschung haben die konfessionellen Schulen wenig Beachtung gefunden.110 Anders als es die Forschung vermuten lässt, erlangten die Schulen für die katholische Kirche und die kirchennahen Bildungsreformer der ersten Jahrhunderthälfte eine außerordentliche, kaum zu überschätzende Bedeutung. Sie bildeten für die Kirche Schmelztiegel neuer religiöser Persönlichkeiten und Laboratorien christlicher Gesellschaftsordnung. Die Bedeutung der Schulen stieg sogar noch im Zeitverlauf in dem Maße, in dem sich die Grenzen katholischer Gesellschaftsmission in der Bildungspolitik, unter Kinderex108
109
110
Siehe nur die beiden äußerst erfolgreichen, in ihrer Darstellung jedoch konträren fiktiven Darstellungen des Lebens in einem Jesuitenkolleg: Luis Coloma, Pequeñeces, Bilbao 1891; Ramón Pérez de Ayala, A.M.D.G., Madrid 1910. Zu Spanien siehe nur die Berichte des Sonderteils „La Reforma Educativa“ in: El País, 12.11.2005 (bes. die Tabelle „La Enseñanza en centros públicos, concertados y privadas). Im Landesdurchschnitt besuchten 2005 mehr als 30 Prozent aller spanischen Schüler eine private, und das heißt in der Regel konfessionelle Bildungseinrichtung. Eine Ausnahme im spanischen Fall bieten: Ostolaza Esnal, Religión; Dies./Fullana, Escuela; Frances Lannon, The Socio-Political Role of the Spanish Church. A Case Study, in: Journal of Contemporary History 14 (1979), S. 193–210. Die besten Ergebnisse einer kirchennahen Schulgeschichte sind: Revuelta González, Colegios; Lull Martí, Jesuitas y Pedagogía. Zu den Defiziten der Forschung siehe auch: Alejandro Tiana Ferrer, La Escuela Privada, in: Jean-Louis Guereña u. a. (Hrsg.), Historia de la Educación en la España Contemporánea. Diez Años de Investigación, Madrid 1994, S. 117–39.
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IV. Schulen der Diktatur, Schulen der Demokratie?
perten, Lehrern und Eltern sowie in der medialen Kinderkultur deutlich abzeichneten. Im Unterschied zu den begrenzten Einflussmöglichkeiten auf Familienerziehung und der in ihren Wirkungen unsicheren, widersprüchlichen Einflussnahme auf die städtische Öffentlichkeit und die Kindermedien besaßen die kirchennahen Pädagogen eine sehr weitgehende Kontrolle über die Schulen als sozialem Raum. Die Schulen boten ihnen anderswo nicht existierende Chancen, eine große Zahl von Heranwachsenden intensiv und über einen langen Zeitraum hinweg religiös zu formen. Die katholischen Bildungseinrichtungen dürfen nicht allein als Instrumente religiöser Menschenbildung verstanden werden, über welche die Kirche vollständige Kontrolle besaß. Die Schulen waren vielmehr Orte der Interaktion und Aushandlung, in denen kirchliche Interessen auf die Wünsche und Erwartungen von Eltern und Kinder trafen. Zudem waren die kirchlichen Interessen in der Praxis keineswegs eindeutig oder konstant. Es gilt die Schulen als sozialen Mikrokosmos in den Blick zu nehmen, als Orte des Aufeinandertreffens der neuen Programme kirchlicher Gesellschaftsreform, neuen durch die mediale Öffentlichkeit vermittelten Anforderungen an Kindheit und Kindererziehung sowie Elternwünschen und Kinderinteressen.111 Im Mittelpunkt dieses abschließenden Teils der Studie steht die Frage nach dem Wandel der Schulen und seinen politischen Implikationen. Bildeten sich die konfessionellen Bildungseinrichtungen zu Laboratorien totalitärer Gemeinschaft aus, in denen eine Gesellschaftsordnung im Kleinen vorgedacht, gestaltet und erprobt wurde, welche nach 1936 ein Modell für die Diktatur Francos bildete? Waren die katholischen Schulen, welche unbestreitbar große Teile der zukünftigen franquistischen Eliten ausbildeten, somit Schulen der Diktatur und von Diktatoren? Oder aber lassen sich vielmehr im Gegenteil Prozesse einer Liberalisierung und Demokratisierung des Schullebens erkennen, mit Folgewirkungen auch jenseits der Schulmauern und über die Zäsur des Putsches vom Sommer 1936 hinaus? Bildeten also die katholischen Schulen vor 1936 eher Lernorte der Demokratie, in deren geschlossenem Raum neue Konzepte demokratischen Zusammenlebens gleichsam im Verborgenen ausprobiert wurden, während zur selben Zeit die katholischen und rechtsgerichteten Bewegungen, welche die Institutionen stützten, autoritäre Gesellschaftspolitik betrieben?
111
Siehe die Überlegungen von Tenorth, Erziehungsutopien, hier S. 177.
1. Religion und Karriere. Der Wandel der katholischen Privatschulen vor dem Bürgerkrieg Zunächst nähert sich die Darstellung in vier Schritten den katholischen Schulen der Vorbürgerkriegszeit. Erstens wird das Modell der katholischen Privatschule als soziale Institution, wie sie sich in der Restaurationsmonarchie im späten 19. Jahrhundert ausbildete, im gesellschaftlichen und schulhistorischen Kontext der Zeit verortet. Angesichts des besonderen Interesses der Kirche an der Sekundarbildung steht hier vor allem der Wandel der weiterführenden Bildungseinrichtungen im Mittelpunkt. Zweitens werden die Einflüsse neuer Kindheitskonzeptionen und Elterninteressen auf die Gestaltung der Schulen untersucht. Drittens bezieht die Darstellung Veränderungen in der religiöser Bildung und Erziehung auf einen Wandel des Schulregimes und der Schulgesellschaften. Beförderte die neue religiöse Persönlichkeitspolitik einen Abbau von Hierarchien an den Schulen sowie eine Liberalisierung der Schulgemeinschaft oder verstärkte sie eher Trends eines Wandels der Schulen zu totalitären Disziplinar- und Kontrollgesellschaften? In einem vierten Schritt werden in diesem Kontext anhand von drei konkreten Reformschulen beziehungsweise Schulverbünden unterschiedliche Modelle katholischer Erziehungsmoderne einander gegenübergestellt und verglichen. Die katholischen Schulen unterstanden unterschiedlichen religiösen Orden mit eigenen pädagogischen Traditionen. Neben den mit Abstand am besten erforschten Jesuitenkollegs werden insbesondere die nahe des Madrider Stadtzentrums gelegene marianistische Schule Colegio de Nuestra Señora del Pilar, die sich ebenfalls an eine gesellschaftliche Elite richtete, sowie die Schulen der Institución Teresiana betrachtet, die Einblicke in den Wandel katholischer Mädchenbildung geben. Die Untersuchung konzentriert sich auf Madrider Schulen, nimmt aber, soweit sich dies als sinnvoll erweist, auch Schulen in anderen Städten in den Blick. Aufgrund seiner Bedeutung als Reformschule, der ihm zuteil werdenden innerkatholischen Aufmerksamkeit und der guten Quellenlage wird insbesondere die Entwicklung des Jesuitenkollegs San José in Valladolid näher geschildert, das von 1932 bis Ende 1936 in der portugiesischen Grenzstadt Curía im Exil tätig war. Aufgrund der schwierigen Quellenlage liegt der Akzent der Darstellung vor allem auf einigen sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden strukturellen Veränderungen der Bildungseinrichtungen. Wann immer möglich, wird jedoch das allgemeine Bild durch Detailanalysen vertieft. Die folgenden Ausführungen beruhen im Wesentlichen auf einer Auswertung von etwa zwanzig Schulzeitungen, welche die einzelnen Schulen für die Schülereltern, für ihre Alumni, teilweise auch für eine breitere katholische Öffentlichkeit anfertigten.
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IV. Schulen der Diktatur, Schulen der Demokratie?
Seit den 1920er Jahren arbeiteten Schüler vermehrt an den Publikationen mit. Die Zeitungen hatten sehr unterschiedliche Ziele. Sie stellten Chroniken des Schullebens dar, die über Feiern, Exkursionen, Sportwettkämpfe, Auszeichnungen sowie über die Tätigkeit der an den Schulen existierenden Vereinigungen informierten, versuchten jedoch auch in pädagogischer Absicht auf die Elternschaft und Schüler einzuwirken. Schließlich bildeten sie an einigen Schulen auch Kommunikationsforen und Sprachrohre der Schülerschaft selbst. Hinsichtlich der Auswahl und des Umfangs der behandelten Themen existieren wichtige Unterschiede zwischen den Publikationen, wobei Veränderungen in der Gestaltung und Themenwahl selbst bereits Indizien eines Wandels der Schulen darstellen.1 Orientierten sich die ersten erhaltenen Zeitschriften des ausgehenden 19. Jahrhunderts noch deutlich an pädagogischen Fachblättern, so gaben die Zeitschriften der 1920er und 1930er Jahre sehr viel genauere Einblicke in den schulischen Mikrokosmos. Neben den Schulzeitungen wurden auch Schulchroniken, Artikel über Schulen in der pädagogischen und populären Presse sowie Werbeanzeigen der Schulen ausgewertet. Schließlich wurde versucht, die offiziöse Sichtweise der Schulzeitschriften durch eine gewisse Berücksichtigung von Autobiographien zu ergänzen. Trotz intensiver Bemühungen war es nicht möglich, Zugang zu Schularchiven zu erhalten.2 Auch die Korrespondenz der Schulleitungen mit den übergeordneten Ordensleitungen, die in vielen Fällen in den Ordensarchiven in Rom lagern, wurde aus arbeitsökonomischen Gründen nicht herangezogen. Dies erschien vertretbar, da einige Studien gute Einblicke in die Inhalte der Korrespondenz geben.3 Der notgedrungene Verzicht auf interne Unterlagen der Schulen hat deut1
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Zur Bedeutung der Schulzeitschriften als Quelle siehe auch: Enrique Lull Martí, Prensa Escolar y Educativa Católica en Vísperas de la II. República. La Revista Auras del Colegio, de los Jesuitas de Valencia (1917–1936), in: Anales de Historia Contemporánea 15 (1999), S. 339–48. Anfragen bei verschiedenen Schulen in Madrid und außerhalb von Madrid blieben ergebnislos. Neben der Zurückhaltung der Schulen, Forscher an ihre Überlieferung zu lassen, muss zudem als Grund berücksichtigt werden, dass wohl die meisten Madrider Privatschulen im Zuge der Besetzung durch republikanische Kräfte im Bürgerkrieg ihre Überlieferung verloren. Schließlich dürfte zur Zeit kaum ein Schularchiv geordnet sein. Ein Forscher aus den Reihen der Societas Jesu, der im Archiv des in dieser Arbeit besonders interessierenden Jesuitenkollegs San José in Valladolid gearbeitet hat, fand dieses nach eigener Aussage ungeordnet und für die Epoche vor dem Bürgerkrieg von geringem Wert. Siehe E-Mail Jesús Sanjosé an Enrique Lull, o.D. (Mai 2008), Kopie im Besitz des Verfassers. Der Autor der bislang einzigen, wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Studie zu einer Schule musste die von ihm benutzten Archivalien zunächst mühsam ordnen: Lull Martí, Jesuitas y Pedagogía, S. 49. Siehe etwa: Revuelta González, Colegios; Enrique Gudin de La Lama, Los Colegios de La Salle en Asturias durante el primer tercio del Siglo XX, in: Historia de la Educación 18 (1999), S. 267–300; Luis García Iglesias, Renovación de los Colegios de Jesuitas en la España Contemporánea, in: XX Siglos 5–7 (1994–1996), Nr. 19: S. 104–13; Nr. 21: S. 93– 105; Nr. 24: S. 63–77; Nr. 28: S. 19–30; Nr. 29: S. 93–106; Salvaverri, Lázaro.
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liche Kosten. Die Grenzen der Quellengattung Schulzeitungen dürfen nicht verschwiegen werden. Sie dienten in erster Linie der möglichst positiven Außendarstellung der Schulen. Konflikte fanden in ihnen so gut wie nie Erwähnung. Zudem geben sie in der Regel die Sichtweise der Schulleitungen wieder, während sich Schülerinteressen in ihnen zumeist nur gefiltert wiederfinden. Allerdings gibt eine aufmerksame, kritische Lektüre der Zeitschriften doch wichtige Einblicke in das Innenleben der Schulen, zumal wenn sie durch autobiographische Erinnerungen ergänzt werden. Ein blinder Fleck stellt die Frage von Sexualität und sexuellen Übergriffen an den Internatsschulen dar, welche die Debatten um katholische Bildungseinrichtungen am Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts dominieren. In historischer Perspektive ist es bedauerlicherweise jedoch zur Zeit so gut wie unmöglich, dieses Thema angemessen zu behandeln. Zwar steht außer Frage, dass sexueller Kindesmissbrauch in den katholischen Schulen der ersten Jahrhunderthälfte vorkam – autobiographische Darstellungen sprechen ihn mehr oder minder offen immer wieder an – doch fällt es über diesen allgemeinen Befund hinaus aufgrund der mangelhaften Quellenlage schwer, historische Entwicklungen herauszuarbeiten. Wie kaum anders zu erwarten, weisen die autobiographischen Erinnerungen darauf hin, dass die Schulen Missbrauchsfälle äußerst diskret behandelten und oft selbst die übergeordneten Ordensleitungen nur sehr vage informierten.4
1.1 Die katholischen Internate des 19. Jahrhunderts als pädagogische Innovation Die katholischen Internate stellten am Ausgang des 19. Jahrhunderts pädagogische Reformeinrichtungen dar. Als erste Einrichtungen in Spanien offerierten sie eine über die reine fachliche Instruktion hinausgehende umfassende
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Einen konkreten Missbrauchsfall und den diskreten Umgang damit, der in einer Versetzung des betroffen Paters aus Gesundheitsgründen endete, beschreibt: Fernando Vizcaíno Casas, La Boda del Señor Cura, zitiert nach: Obras Completas 1, Barcelona 1986, S. 49– 55. Die ältere autobiographische Literatur, selbst wenn sie äußerst kirchenkritisch war, berührte das Thema weniger explizit. Der Schriftsteller Rafael Alberti erwähnt in seinen Memoiren beispielsweise lediglich einen Jesuitenpater, der in „der Einsamkeit seiner verschlossenen Zelle die irregeleiteten Seelen seiner Schüler fester als notwendig an sein schmerzendes Herz drückte“: La Arboleda Perdida, Barcelona 1980 (Erste Auflage 1959), S. 35f. Eine Auswertung der Ordensarchive zum Thema sexueller Missbrauch steht noch aus. Die besten historischen Überlegungen zum Thema finden sich in: Robert A. Orsi, Material Children: Making God’s Presence real for Catholic Boys and Girls and for Adults in Relation to them, in: Ders., Between Heaven and Earth. The Religious Worlds People Make and Scholars who Study Them, Princeton 2005, S. 74–108.
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Persönlichkeitsbildung und dies nach festen, für die Eltern überprüfbaren Statuten und mit einem spezialisierten, einsatzbereiten Lehrkörper.5 Um die Anziehungskraft der konfessionellen Schulen für große Teile der spanischen Mittelschichten zu verstehen, ist es hilfreich zunächst einen Blick auf die öffentlichen weiterführenden Schulen zu werfen. Die institutos, die alleine befugt waren, staatliche Prüfungen abzunehmen und das bachillerato, das spanische Abiturdiplom, auszustellen, hatten bis in die Zeit der Zweiten Republik hinein mit Schulen im zeitgenössischen Verständnis wenig gemein. In Organisation und Selbstverständnis waren sie an den Universitäten ausgerichtet. Der Unterricht fand in Form von Vorlesungen in Hörsälen statt, woran heute noch die in einigen alten Schulen erhaltenen hörsaalähnlichen Schulräume erinnern. Eine Anwesenheit war für die eingeschriebenen Schüler nicht obligatorisch. Für die Versetzung relevant waren einzig die Abschlussprüfungen am Jahresende. Die Mehrheit der Eltern zog es denn auch vor, ihre Kinder als sogenannte Externe entweder zu Hause oder aber in einer der vielen Privatakademien unterrichten zu lassen, die von Privatpersonen als kommerzielle Unternehmen betrieben wurden und sich im Laufe des 19. Jahrhunderts einen wichtigen Teil des Bildungsmarktes erobert hatten.6 Diese Akademien wie auch die expandierenden konfessionellen Schulen konnten sich wahlweise in die institutos „inkorporieren“, wenn sie bestimmte, durch eine staatliche Approbation bestätigte Bildungsstandards nachweisen konnten. Mit der Inkorporation ließen die Privatschulen eine gewisse staatliche Aufsicht zu, erwarben im Gegenzug jedoch das Privileg, eigene Lehrer in die öffentlichen Prüfungskommissionen entsenden und dadurch Einfluss auf den Verlauf der Prüfungen nehmen zu können.7 Dieses System führte dazu, dass an den bis zur Gründung der liberalen Reformschule Instituto-Escuela 1918 beiden einzigen Madrider Instituten Cardenal Cisneros und San Isidro die Zahl externer Schüler die Zahl der regulären Schüler bei Weitem überstieg. Im Schuljahr 1875/76 standen beispielsweise 546 „offiziellen“ Schülern am Instituto Cardenal Cisneros 1 907 externe Schüler gegenüber, wovon 204 5
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Vgl. auch Ostolaza Esnal, Religión. Zu pädagogischen Innovationen der katholischen Schulen in Frankreich vgl. Curtis, Educating sowie die Fallstudien: J.W. Padberg, Colleges in Controversy. The Jesuit School in France from Revival to Suppression, 1815–1880, Cambridge/Mass. 1969; John W. Bush, Education and Social Status: The Jesuit College in the Early Third Republic, in: French Historical Studies 9 (1975), S. 125–40; John W. Langdon, The Jesuits and French Education: A Comparative Study of Two Schools 1952–1913, in: History of Education Quarterly 18 (1978), S. 49–60. Insgesamt existierten 1888 in Madrid 305 solcher privater Kleinst-Akademien, an denen insgesamt 574 Lehrer arbeiteten. Etwas mehr als die Hälfte davon waren Mädchenschulen: Ruíz de Azúa, Enseñanza, S. 575. Zur Funktionsweise der Institutos siehe: Viñao Frago, Escuela, S. 139–44; Miguel de Castro y Marcos, Legislación de Instrucción Pública, referente a los Institutos Generales y técnicos, Madrid 1921. Zum Verfahren der Inkorporation siehe: Manuel Barbadillo, El Colegio Marianista de Cádiz. Fundación (1888–1892) y Primeros Años (1892–1898), Madrid 1998, S. 167.
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Schüler zu Hause unterrichtet wurden. Dass bis zum Ende des Jahrhunderts trotz Bevölkerungszunahme die Zahl der „offiziellen“ Schüler sank, liefert ein Indiz für die abnehmende Akzeptanz des akademischen Unterrichtsmodells in den bürgerlichen Mittelschichten. Die beiden Madrider Einrichtungen verloren bis 1900 etwa ein Viertel ihrer regelmäßig anwesenden Schüler.8 Im Schuljahr 1925/26 hatte sich der Anteil der Externen gegenüber den 1870er Jahren von 78 auf nun 88 Prozent erhöht, bei einer gleichzeitigen deutlichen Expansion der Schülerzahlen von 2 453 auf 9 214. 1 089 „offiziellen“ Schülern (12 Prozent) standen nun 8 125 Externe gegenüber, wovon die große Mehrheit der Letzteren (5 455) in inkorporierten Schulen unterrichtet wurde. Die Relationen unterschieden sich nur wenig hinsichtlich der Geschlechter. Mädchen stellten Mitte der 1920er Jahre 14 Prozent aller Sekundarschüler. Ihr Anteil an den „offiziellen“ Schülern lag mit 17 Prozent (204 Personen) etwas, aber nicht signifikant höher als der Anteil der Jungen (11 Prozent). 9 Schon in den 1870er Jahren formierte sich Kritik am Unterricht der staatlichen, weiterführenden Bildungsinstitute, eine Kritik, die sich oft an den besseren Noten und niedrigeren Durchfallquoten der Privatschüler in den Abschlussprüfungen entzündete. So sah sich die Leitung des Instituto Cardenal Cisneros 1875 genötigt, die durchschnittlich schlechteren Prüfungsergebnisse der „offiziellen“ Schüler vor der Elternschaft zu rechtfertigen. Angesichts der großen Schülerzahlen, so die Argumentation, sei das Institut leider nicht in der Lage, die individuellen Lernfortschritte der Schüler zu überprüfen und besitze auch nicht die notwendigen Disziplinierungsmittel, um die Schüler zu eigenständiger Arbeit anzuhalten. Die Direktion gestand offen ein, dass die öffentlichen Schulen einen deutlichen Wettbewerbsnachteil gegenüber den Privatschulen besaßen.10 Die Kritik an den staatlichen Instituten riss bis in die 1930er Jahre nicht mehr ab. Besonders in den 1920er Jahren entwarfen Bildungspolitiker in Reaktion darauf immer wieder Pläne einer zeitgemäßen Erneuerung der Institute. Ein Reformer meinte etwa 1924: „Es ist viel hinsichtlich der grundlegenden Defekte unserer öffentlichen Sekundarschulen geschrieben und geredet worden, und es existiert fast Einstimmigkeit darüber, dass diese Defekte auf falsche Vorstellungen der kindlichen Entwicklung im Sekundarschulalter zurückzuführen sind, Vorstellungen, welche [die Institutos, T.K.] zu Vorläufern der Universität anstatt zu einer Verlängerung der Primarschule machen“.11 Auch die Standesvereinigung der Sekundarschullehrer forderte hartnäckig die Gründung 8 9 10 11
Memoria acera del Estado del Instituto del Noviciado de Madrid durante el Curso de 1876 a 1877, S. 11, Archivo Instituto Cardenal Cisneros; Ruíz de Azúa, Enseñanza, S. 572. Memoria del Estado del Instituto Cardenal Cisneros durante el Cursco de 1925 a 1926, Archivo Instituto Cardenal Cisneros. Memoria acera del Estado del Instituto del Noviciado de Madrid durante el Curso de 1876 a 1877, S. 17–19, Archivo Instituto Cardenal Cisneros. Blas Cabrera, La reforma de la segunda enseñanza, in RdP 3 (1924), S. 180–86, hier S. 180f.
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neuer Institute, da aufgrund der hohen Schülerzahlen ein aktiver Beitrag der Schüler, wie ihn viele Pädagogen forderten, in der Gegenwart nicht realisiert werden könne. In bitteren Worten beklagten sie Ende 1928: „[D]ie heutige Struktur der spanischen institutos [. . . ] macht jede auf eine kollektive, geistige Orientierung zielende Arbeit vollkommen unmöglich.“12 In der Praxis geschah allerdings wenig. Da die Reformpläne hohe Investitionen des Staats sowohl in neue Gebäude als auch in mehr Lehrer erforderten, verliefen sie immer wieder im Sande. Doch nicht nur die öffentlichen Schulen, auch die Privatakademien, die in der frühen Restaurationszeit noch einen Großteil der Privatschüler unterrichtet hatten, konnten nach 1900 immer weniger mit den pädagogischen Innovationen der katholischen Schulen mithalten. Eine Auflistung der 44 im Jahr 1877 über die am Institut Cardenal Cisneros inkorporierten Schulen zeigt, dass die überwiegende Mehrheit von ihnen (35 Schulen) weniger als 50 Schüler unterrichtete – 19 Schulen unterrichteten sogar weniger als 20 Schüler. Es handelte sich um Klein- und Kleinstschulen unter der Leitung einzelner Pädagogen.13 Die kleine Zahl von Lehrern wie Schülern machte die Akademien anfällig für häufige Wechsel und pädagogische Unbeständigkeit. Ein katholischer Beobachter analysierte dies im Jahr 1887 sehr genau: „An einem Tag gründen sie sich, sie modifizieren ihre Statuten, verändern sich, sie ziehen um, wechseln den Eigentümer, den Schulleiter, das Personal, und schließlich verschwinden sie wieder“.14 Tatsächlich ging der Aufstieg der katholischen Ordensschulen mit einem Niedergang dieser kleinen Bildungsunternehmen einher. Die katholischen Privatschulen besaßen eine Reihe von Innovationsvorteilen, die ihren Aufstieg begünstigten und vorantrieben.15 Zunächst konnten sie, anders als die Privatakademien, ihrer Kundschaft eine höhere institutionelle Stabilität und günstigere Preise anbieten, da sie den Ordensmitgliedern, die als Lehrer arbeiteten, kein Gehalt zahlen brauchten. Sie waren deshalb sowohl für Familien aus den Mittelschichten als auch für Industrieunternehmer interessant, die zur besseren Qualifizierung der örtlichen Arbeitskräfte die 12
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La Redacción, Una Explicación, El Instituto 3/4, Dez. 1928. Siehe auch: Una Carta abierta, El Instituto 1, Jan. 1928. Zu der sich in niedrigen Schülerzahlen äußernden mangelnden Attraktivität der Institutos für das spanische Bürgertum siehe auch: Ángel Mato Díaz/ Aida Terrón Bañuelos, Un Ejemplo de Espacio Escolar Cerrado. El Colegio de „La Inmaculada“ de Gijón, in: Historia de la Educación 12–13 (1993–94), S. 245–72, hier S. 252. Colegios incorporados durante el curso 1877–1878, in: Memoria acera del Estado del Instituto del Noviciado de Madrid durante el Curso de 1876 a 1877, Archivo Instituto Cardenal Cisneros. Simón Fons, Sección Doctrinal: Las Instituciones morales y pedagógicas, in: El Colegio 2, 31.12.1887. Siehe schon als klassische Darstellung der Innovationsleistung katholischer und besonders jesuitischer Bildungseinrichtungen in Frankreich seit der Frühen Neuzeit: Emile Durkheim, Die Entwicklung der Pädagogik. Zur Geschichte und Soziologie des gelehrten Unterrichts in Frankreich, Weinheim und Basel 1977, S. 210–231.
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Einrichtung kostenloser Volksschulen finanzierten. Tatsächlich wäre die Expansion der Ordensschulen nicht möglich gewesen ohne die Initiative und das Geld bürgerlicher Mäzene oder Zusammenschlüsse von Eltern, welche an die einzelnen Orden herantraten und mit ihnen Verträge zur Niederlassung am Ort aushandelten. Die Marianisten, welche 1907 aufgrund der starken Nachfrage des wachsenden Madrider Bürgertums das Madrider Colegio de Nuestra Señora del Pilar eröffneten, erhielten beispielsweise nach der Jahrhundertwende so viele Anfragen aus unterschiedlichen Städten und Regionen, Schulen zu gründen, dass der Orden sich außer Stande sah, allen zu entsprechen.16 Ein weiterer Wettbewerbsvorteil der konfessionellen Schulen stellte ihre nachfrageorientierte Ausrichtung dar. Die Mannigfaltigkeit der Nachfrage nach Schulen korrespondierte vorteilhaft mit der Vielfalt der Bildungsorden. Die Konkurrenz zwischen ihnen hatte schon früh zu einer starken Differenzierung der Orden hinsichtlich ihrer Bildungsinhalte und der umworbenen sozialen Zielgruppe geführt. Grob lassen sich Orden wie die Jesuiten oder die Marianisten, die sich hauptsächlich an die gesellschaftliche Elite wandten, von Orden wie den Salesianern und Piaristen unterscheiden, die vor allem berufsorientierte Bildung für die unteren Mittelschichten und Unterschichten anboten. Je nachdem ob es sich um Männer- oder Frauenorden handelte, widmeten sich die Orden der Jungen- oder Mädchenbildung. Weiterhin existierten gewisse Unterschiede in der politischen Positionierung der einzelnen Orden. Während einige Gemeinschaften, wie die aus Frankreich stammenden Marianisten, eine Reputation, politisch gemäßigte Positionen zu vertreten, besaßen, sprachen andere Orden und insbesondere die Jesuiten ein deutlich konservativeres, nationalistischeres politisches Spektrum an. Die Elternschaft war sich der Unterschiede zwischen den Orden in dieser Hinsicht sehr bewusst, wie die intensiven Debatten unter bürgerlichen Eltern in San Sebastian darüber zeigen, ob eher die Jesuiten oder die Marianisten eingeladen werden sollten, in der Stadt eine weiterführende Schule zu errichten.17 Wie groß die weltanschauliche Bandbreite im Einzelfall sein konnte und als wie anpassungsfähig an regionale Besonderheiten sich das katholische Bildungssystem erwies, zeigt der Fall des Baskenlands und Navarras. Dort gelang es der Kirche bezeichnenderweise, gleichzeitig sowohl das spanisch-patriotisch orientierte städtische Bürgertum als auch die bürgerlichen Anhänger eines baskischen Nationalismus als Bildungskunden zu gewinnen. Während etwa die Jesuiten erstere Gruppe umwarben, sprach das Kolleg Nuestra Señora del
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75 años abiertos a la sociedad. Colegio del Pilar (Madrid) 1907–1982, Madrid 1983, S. 22f.; El Pilar, Cien años de historia, 1907–2007, Madrid 2007, S. 14f. Siehe weiterhin: Gudin de la Lama, Colegios, S. 271; Mato Díaz/Terrón Bañuelos, Ejemplo, S. 252. Die Entscheidung fiel nach Verhandlungen mit beiden Orden schließlich auf die Marianisten, da die Jesuiten auf Vorbehalte im liberalen und progressiven Bürgertum der Stadt stießen: Ostolaza Esnal, Religión, S. 216f.
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Buen Consejo der Kapuziner in Lecároz (Navarra) die baskisch sprechenden und regionalnationalistisch orientierten Schichten an.18 Auch die Möglichkeit, Eltern Internate als Schulform anbieten zu können, trug zur Attraktivität der katholischen Bildungseinrichtungen bei. Zwar hatte es Internate auch in vergangenen Jahrhunderten gegeben, ihren Siegeszug traten sie jedoch in Reaktion auf eine große Nachfrage in den bürgerlichen Schichten erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts an. Die Jesuitenkollegs der Frühen Neuzeit waren beispielsweise grundsätzlich kostenlose Tagesschulen gewesen. Ihre Schüler, im pädagogischen Sprachgebrauch „Externe“ genannt, waren am Abend in ihr Elternhaus zurückgekehrt.19 Im Zuge der Neugründung von Kollegs im Spanien der Restaurationszeit hatte sich die traditionsorientierte jesuitische Ordensleitung zunächst für die Wiederaufnahme dieses Modells ausgesprochen. Erst die Notwendigkeit, nach dem Verlust ihres Grundbesitzes und weiteren Vermögens in den Säkularisationswellen des vorangegangenen Jahrhunderts neue Finanzierungsquellen für den Orden zu erschließen, vor allem aber die Nachfrage der bürgerlichen Sponsoren nach Internaten bewog den Orden nach langen Debatten dazu, ihre Kollegs in der modernen Internatsform zu organisieren.20 Die Nachfrage nach der Internatsform beruhte auf unterschiedlichen Motiven. Einerseits kam diese Struktur der Einrichtungen Eltern entgegen, an deren Wohnort keine geeignete Schule existierte, die lange tägliche Transportwege ihrer Kinder vermeiden wollten oder die allgemein eine Trennung von ihren Kindern als vorteilhaft erachteten. Andererseits trug sie angesichts der hohen von den Eltern zu tragenden Kosten wesentlich dazu bei, soziale Exklusivität an den Schulen herzustellen, was einen weiteren wichtigen Vorteil der konfessionellen Schulen für viele Eltern begründete.21 Die Popularität der Internatsform hing eng mit einem weiteren Innovationsmerkmal der katholischen Schulen zusammen. Sie versprachen eine über die rein fachliche Instruktion hinausreichende Bildung, welche auch bürgerliche Umgangsformen und eine intensive moralische Formung umfasste. Die Schulen kamen damit neuen Forderungen nach einer umfassenden, auch Körper, Seele und Emotionen beachtenden Bildung und Erziehung viel besser entgegen als die staatlichen Schulen und Privatakademien. Schließlich war die Unterrichtsorganisation an den katholischen Schulen aufgrund der besseren finanziellen Ausstattung derjenigen der öffentlichen Schulen überlegen. Während die Lehrer an den prestigeträchtigen institutos sich beschwerten, nicht genügend auf die individuellen Schüler eingehen zu 18 19
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Prägnant: Ostolaza Esnal, Religión, S. 256f. Zur Abneigung der frühneuzeitlichen Jesuiten gegen die Internatsform siehe schon Durkheim, Entwicklung, S. 222, der unter anderem mit dieser Beobachtung die These zurückweist, die Ursprünge der Internatsschule lägen im Klostermodell. Iglesias, Renovación, Teil IV, S. 63f. Ebd., S. 64.
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können, stand gerade die Formung des Einzelnen im Mittelpunkt vieler religiöser Schulen. Um diese möglichst weitgehend zu gewährleisten, führten selbst im Primarbereich tätige Bildungsorden eine Anzahl pädagogischer Innovationen in Spanien ein. So waren etwa die kostenlosen La Salle-Schulen im Unterschied zur großen Mehrzahl der öffentlichen Volksschulen schon am Ende des 19. Jahrhunderts mehrklassig aufgebaut, was einen altersgemäßen Unterricht sowie die Aufnahme neuer Fächer in den Unterrichtskanon ermöglichte. Die auf Bildung spezialisierten Orden produzierten zudem eigene Unterrichtsmaterialien, die in ihrer Qualität die öffentlichen Lehrbücher oft übertrafen.22 Insgesamt traf somit ein neues Bildungsangebot der Kirche, das aufgrund der Verfolgungserfahrungen in den Jahrzehnten nach der Französischen Revolution eine umfassende Erneuerung erfahren hatte, auf eine quantitativ und qualitativ gestiegene Bildungsnachfrage der spanischen Ober- und Mittelschichten. Im Ergebnis bildete sich in der Restaurationszeit eine enge Symbiose zwischen den urbanen, bürgerlichen Schichten und den katholischen Schulen unterschiedlicher Art heraus. Drei Ergebnisse gilt es vorläufig festzuhalten. Erstens stellten entgegen einem historischen Alltagsverständnis die katholischen Schulen pädagogisch innovative Einrichtungen dar, die besser als die öffentlichen Schulen in der Lage waren, neue Bildungswünsche aus Industrie und Bürgertum zu befriedigen. Zweitens waren religiöse und weltanschauliche Motive nur zwei unter mehreren Faktoren, welche die Entscheidung von Eltern beeinflussten, ihre Kinder auf katholische Privatschulen zu schicken. Weiter oben ist schon ausführlich dargelegt worden, dass auch viele kirchenferne Eltern selbst in den Jahren der Republik ihre Kinder einer katholischen Einrichtung anvertrauten. Vor der Einrichtung der bahnbrechenden Instituto-Escuela als reformorientierter weiterführender Schule in Madrid am Ausgang des Ersten Weltkrieges standen bildungsorientierte liberale Eltern in Madrid nicht vor der Frage, ihre Kinder entweder auf katholische oder säkulare Schulen zu geben, sondern vor dem Problem, welche der katholischen Schulen sie wählen sollten.23 Drittens, schließlich, zeigt schon die Entstehung der meisten Privatschulen, dass diese die Interessen ihrer Sponsoren und der Eltern als zahlende Bildungskunden berücksichtigen mussten, zumal sie zumindest in den größeren Städten in einem intensiven Konkurrenzkampf um zahlungskräftige Schüler standen. Die Schulgebühren stellten die wichtigste Einnahmequelle der Bildungsorden dar, die als Privatunternehmen auf dem Bildungsmarkt tätig waren. In den dreißiger Jahren mussten Eltern jährlich zwischen 1 000 und 2 000 Peseten zahlen, wollten sie ihr Kind auf eine der besonders prestigeträchtigen Privatschulen schicken. 22 23
Siehe etwa Gudin de la Lama, Colegios, S. 272–79. Zur Instituto-Escuela siehe: Luis Palacios, Instituto-Escuela. Historia de una renovación educativa, Madrid 1988; José María López Sánchez, Die Anfänge der Wissenschaftsförderung in Spanien im 20. Jahrhundert, in: AfS 43 (2003), S. 463–74.
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Zum Vergleich: Ein einfacher Angestellter verdiente oft nicht mehr als 150 Peseten monatlich.24 Zwar besaßen gerade renommierte Schulen aufgrund der großen Nachfrage nach Aufnahme eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den Wünschen ihrer Klientel, doch längerfristig ließen sich die Wünsche der Eltern schwer umgehen, zumal diese in den größeren Städten zwischen einem reichhaltigen katholischen Schulangebot wählen konnten. Die Marianisten in Cadiz sahen sich beispielsweise um 1910 aufgrund der hinter ihren Erwartungen zurückbleibenden Zahl der Anmeldungen gezwungen, eine ganze Reihe von Änderungen in der inneren Ordnung ihres Internats vorzunehmen und in Reaktion auf Elternwünsche externe Tageschüler von den Internatsschülern deutlicher zu trennen, die zunächst zusammen unterrichtet worden waren. Selbst die angesehenen Jesuiten reagierten ganz ähnlich auf einen Rückgang an Aufnahmeanträgen nach 1900, indem sie, wie später genauer geschildert wird, Änderungen in ihren Schulordnungen vornahmen.25 In seiner Autobiographie schildert der Schauspieler und Regisseur Fernando Fernán-Gómez die Elternmacht gegenüber den Schulen deutlich. Nachdem ihm ein junger Lehrer der Madrider Maristenschule San José eine heftige Ohrfeige gegeben hatte, meldete ihn seine Familie kurzerhand von der Schule ab und schickte ihn auf ein anderes religiöses Kolleg.26 Es ist wichtig, sich diese Punkte zu vergegenwärtigen, will man den Wandel der katholischen Schulen in den Jahrzehnten nach 1900 verstehen. Die konfessionellen Einrichtungen waren stets mehr als kirchliche Sozialisationszentren und religiöse Kaderschmieden.
1.2 Vom monastischen zum urbanen Schulmodell: Veränderungen nach 1914 Die katholischen Schulen wandelten sich auf vielfältige Weise zwischen Jahrhundertwende und dem Beginn des Bürgerkrieges 1936. Zwei wesentliche Grundtendenzen des Wandels lassen sich zunächst unterscheiden. Erstens lässt sich eine Abkehr vom monastischen Modell als Orientierungsrahmen des Schullebens und eine Öffnung gegenüber der neuen urbanen bürgerlichen Lebenswelt erkennen. Zweitens schlugen sich Veränderungen im Programm religiöser Persönlichkeitsbildung auf das Schulleben nieder. Beide 24
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Vgl. die Anzeigen im Anuario de educación y enseñanza católica en España 1934/35 und 1935/36. Zum späten 19. Jahrhundert: Revuelta González, Colegios, S. 170–78. Zum Angestelltengehalt: Informe: Menor José Luís B. T., 27.12.1933, AGA 7/14.2, Nr. 62, 10/1932. Barbadillo, Colegio Marianista, S. 251–53; Iglesias, Renovación, Teil IV, S. 69. Das Thema der richtigen Schulwahl war anscheinend ein Dauerthema in der Familie: Fernán-Gómez, Tiempo Amarillo, S. 153f. Siehe auch die Memoiren des Psychiaters Carlos Castillo del Pino, Pretérito Imperfecto. Autobiografía, Barcelona 1997, S. 99f.
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Entwicklungen veränderten in wechselseitiger Durchdringung Schulregime und Schulgesellschaften grundlegend. Wenden wir uns zunächst der ersten Veränderungstendenz zu. Die Präsentation der Schulen gegenüber einer breiteren bürgerlichen Öffentlichkeit in Werbeanzeigen und Broschüren gibt einen ersten Hinweis auf die Reichweite des Wandels der Ordensschulen. Seit dem Ausgang der 1910er Jahre griffen die Schulen in ihren Selbstbeschreibungen immer mehr auf ein Vokabular der Modernität zurück. Schon 1916 empfahl die katholische Revista de Educación Familiar ihren Lesern all diejenigen Ordensschulen, die „den gegenwärtigen Anforderungen und den Fortschritten des modernen Lebens am besten entsprechen“ und bei Neugründungen von Ordensschulen in Madrid wurde in den folgenden Jahren nie zu erwähnen vergessen, dass sie in ihrer Gestaltung „alle modernen Errungenschaften berücksichtigen“ und „alle Anforderungen der modernen Gesellschaft erfüllen“.27 Auch in den 1930er Jahren gaben sich die Schulen in Werbeanzeigen, scheinbar unbeeindruckt von den heftigen politischen Konflikten um ihre Existenz, ein ausgesprochen modernes Image. Das Madrider Kolleg Colegio de la Asunción Santa Isabel wies beispielsweise darauf hin, dass es „den Anforderungen der modernen Welt“ entspräche und versprach den Eltern eine Erziehung, die „umfassender und moderner [ist, T.K.], als es noch vor einigen Jahren üblich war“.28 Versucht man, den in den Anzeigen behaupteten Wandel genauer zu bestimmen, so lassen sich zunächst vier Entwicklungen ausmachen, welche das Schulleben tiefgreifend veränderten. Erstens rezipierten die Schulleitungen intensiv die neue Hygienebewegung und versuchten, ihre Schulen den neuen hygienischen Anforderungen der wissenschaftlichen Kinderpflege anzupassen. In den Schulgründungen vor der Jahrhundertwende hatten hygienische Faktoren noch kaum eine Rolle gespielt. Vielmehr war eine gewisse Unwirtlichkeit der Lebensbedingungen an den Schulen sogar erwünscht gewesen, da sie sich gut in das asketische, monastische Modell einfügten, welches den Bezugspunkt der Schulen darstellte. Die Gründer des Jesuitenkollegs in Gijón, das in seiner massiven Bauart einer Festung oder einem Gefängnis ähnelte, hatten sich beispielsweise für einen „bescheidenen“ Bau entschieden und bewusst auf „jeglichen Luxus und Zurschaustellung“ verzichtet.29 Die Gebäude verfügten in der Regel weder über Heizungen noch über warmes Wasser und die Schulleitungen betrachteten die Frostbeulen und Erkältungskrankheiten, welche die Mehrzahl der Schüler in den Wintermonaten heimsuchten, in ers27
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División de la Revista, RdEF 1, Jan. 1916; Anzeige: Colegio de Nuestra Señora de Guadalupe, in: RdEF 23, Jan. 1918; Crónicas Octubre: El colegio modelo, in: Revista Calasancia 10 (1922), S. 939–54, hier S. 939. Anzeige Colegio de la Asunción Santa Isabel, Madrid, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1935/36, Madrid 1935. Mato Díaz/Terrón Bañuelos, Un ejemplo de espacio, S. 255. Siehe auch Yetano, Enseñanza, S. 83f.
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ter Linie als pädagogisch sinnvolle Übungen in Selbstkasteiung (mortificación) und Selbstüberwindung. Doch mit dem Bedeutungsgewinn moderner Hygiene entzündete sich eine ordenskritische und bald auch eine binnenkatholische Kritik an den materiellen Lebensbedingungen an den Schulen. Die Beschreibung der klobigen, düsteren und feuchten Gebäude entwickelte sich bald zu einem der einprägsamsten Motive antiklerikaler Schulkritik. Pérez de Ayala beschrieb in seiner berühmten Darstellung des Lebens an einem Jesuitenkolleg vor dem Ersten Weltkrieg beispielsweise immer wieder „die Nacktheit und Dunkelheit der Mauern und Wände“, die „im Halbschatten liegenden Klassenräume“ und die „düsteren und feindlichen Gänge“.30 In Reaktion auf die anschwellende Kritik veränderten die Orden spätestens seit dem Ersten Weltkrieg die Gestaltung ihrer Schulen. Die Privatschulen der 1930er Jahren hatten hinsichtlich ihrer Einrichtung nur noch wenig gemein mit den Schulen der Jahrhundertwende, insbesondere wenn sie die gut verdienenden Mittel- und Oberschichten ansprechen wollten. Die neuen Schulen priesen vielmehr besonders ausführlich ihr hygienisches, gesundes Ambiente und ihre klimatisch vorteilhafte Lage. Wie die meisten Schulen betonte etwa das Colegio San Miguel, in seiner Einrichtung höchsten Wert auf hygienische Forderungen gelegt zu haben. Die Schule erfüllte „alle gesundheitlichen Bedingungen, die gefordert werden können“. Auch das Colegio Lestonnac in Barcelona erklärte, mit seinen „luft- und lichtdurchfluteten Klassenzimmern“ und parkähnlichen Außenanlagen „den neuesten Erkenntnissen der Hygiene“ zu entsprechen.31 Welchen Stellenwert hygienische Fragen in der Schulgestaltung bekommen hatten, zeigt sehr gut die ausführliche Selbstbeschreibung der 1922 eingeweihten neuen Piaristenschule in Madrid, in der Fragen der Gesundheitspflege einen großen Raum einnahmen. Durch bauliche Vorrichtungen wie etwa die Vermeidung spitzer Winkel, in denen sich Staub ablagern könnte, erreiche die Schule „dauerhaft eine Sauberkeit und Hygiene, die höchsten Ansprüchen genügt“. In der Gestaltung der Schule habe die höchste Aufmerksamkeit vor allem darauf gelegen, „alle Räume mit Licht und ausreichender Belüftung“ zu versorgen und in der Planung der Klassenzimmer mit ihren großen Glasscheiben habe man Wert darauf gelegt, „dass das Licht von der linken Seite in den Raum tritt, wie es die Hygieniker und Pädagogen raten“. Das Licht falle somit immer günstig auf die Schreibhefte der rechtshändigen Kinder. Und sollte einmal ein Kind krank werden,
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Siehe etwa Pérez de Ayala, A.M.D.G, S. 238, Anzeige Colegio de San Miguel, Madrid, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1934/35, Madrid 1934; Anzeige Colegio Lestonnac, Barcelona, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1935/36, Madrid 1935. Siehe auch schon die Beschreibung Gaziels des 1898 erbauten Jesuitenkollegs in Sarriá: Tots els camins duen a Roma. Història d´un destí. 1893–1914, Barcelona 1958, S. 63–69 (zitiert nach Yetano, Enseñanza, S. 274–79).
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existiere ein Krankenzimmer, das „alle Annehmlichkeiten und hygienischen Erfordernisse vereint, wie sie in den besten Sanatorien anzutreffen sind“.32 Die körperliche Gesundheit und das körperliche Wohlbefinden des Kindes erhielten seit dem Ersten Weltkrieg in einem raschen Wandel einen neuen Stellenwert. Dazu gehörte auch, dass die meisten Schulen allmählich Heizungen, warmes Wasser und Elektrizität einführten. Dies geschah in unterschiedlichem Tempo vor allem während der 1920er Jahre. Am Ende des Jahrzehnts wollte und konnte kaum eine Schule mehr auf diese Errungenschaften verzichten. Das Colegio de Nuestra Señora de Guadalupe verfügte schon 1918 über Heizung, warmes Wasser und Telefon und das 1921 eingeweihte neue Gebäude des Colegio Nuestra Señora del Pilar besaß ebenso Heizung und Warmwasser wie das Jesuitenkolleg San José in Valladolid. Sehr spät, nämlich erst 1929, erhielt demgegenüber das renommierte Madrider Jesuitenkolleg Nuestra Señora del Recuerdo warmes Wasser.33 Wie sehr sich auch das öffentliche Bild des Lebens im Internat gewandelt hatte, zeigt eine ganzseitige Werbeanzeige einer Seifenfirma vom Frühjahr 1936, die in Form einer Bildergeschichte einen luxuriösen Baderaum eines Kollegs mit Badewanne und einer Gruppe von Jungen in Bademänteln zeigt, die so mit der Körperpflege beschäftigt sind, „dass sie weder die Rufe ihrer Mitschüler noch die Stimme ihres Lehrers hören“.34 Eine zweite Entwicklung führte an den Schulen zu einer Verlagerung des Schulregimes von Disziplinierungsgeboten zu Forderung nach Aktivierung der Schüler. Neues kinderpsychologisches Wissen und der politische Regenerationismus veränderten die Rahmenbedingungen des Schülerlebens an den Schulen deutlich. Ein an den Schulen der Jahrhundertwende wirkungsmächtiges älteres Sozialisationsmodell hatte auf der Vorstellung beruht, dass sich eine innere Ordnung der Kinderseele und der Kinderpersönlichkeit in einem osmotischen Prozess durch eine stabile äußere Ordnung erreichen lasse. Auf der Grundlage dieser Überzeugung hatten gerade die Jesuitenkollegs versucht, das Leben und die Bewegungen der ihnen anvertrauten Schüler bis in das kleinste Detail zu determinieren und zu überwachen. Die Schulgemeinschaft sollte eine in ihren Strukturen und Abläufen perfekte Ordnung bilden, welche von den Schülern im Laufe ihrer Schulzeit anverwandelt werden sollte. Die Kinder sollten einerseits eine bis ins Detail hierarchische Gesellschaftsordnung akzeptieren lernen, andererseits aber auch eine innere geistige Ordnung der Verstandesherrschaft über Emotionen und Triebe ausbilden. Dazu hielten es die Schulen für notwendig, jegliche spontanen Äußerungen der Kinder, die gleichsam als Revolte gegenüber der rationalen Herrschaft des Geistes er32 33 34
Crónicas Octubre: El colegio modelo, in: Revista Calasancia 10 (1922), S. 939–54, hier S. 942–45. Siehe auch; Lull Martí, Jesuitas y Pedagogía, S. 419–24. Anzeige Colegio de Nuestra Señora de Guadalupe, in: RdEF 23, Jan. 1918; El Pilar, Cien años, S. 50; Iglesias, Renovación, Teil IV, S. 70f. Página Infantil de la Perfumería Gal, El Mundo Gráfico, 27.5.1936.
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schienen, zu unterdrücken. Der Tagesablauf und die erlaubten körperlichen Bewegungen der Kinder wie der Lehrer waren streng geregelt. Kommandos von Glockentönen, Händeklatschen oder Pfiffen gaben dem Schulleben seinen Takt vor. Die Bewegungen erfolgten in der Regel im Kollektiv mit genau festgelegter Körperhaltung und vor der Brust verschränkten Armen. Schüler durften niemals alleine durch das Schulgebäude gehen und hatten selbst dann um Erlaubnis zu fragen, wenn sie ein Stück Papier aufheben wollten. Umblicken war ebenso untersagt, wie die Hände in den Hosentaschen zu vergraben. Schließlich prägte ein umfassendes Schweigegebot das Schulleben nach monastischem Modell.35 Dieses Modell prägte auch im 20. Jahrhundert noch das Leben an vielen Schulen, vor allem in der Provinz.36 Doch stieß es sich immer mehr mit den Anforderungen der neuen Kinderwissenschaften, welche die kindliche Energie, ihre Erhaltung und Vermehrung in den Mittelpunkt des Erziehungsprozesses stellten. Das monastisch-asketische Internatsmodell geriet als „Gefängnisregime“ auch unter katholischen Pädagogen in die Kritik.37 Das strenge, militärähnliche Reglement wurde aufgeweicht, der körperliche Drill abgeschwächt und den Schülern vermehrt die Möglichkeit zu freier Bewegung und Spiel eingeräumt. Diese Entwicklung verlief in den Schulen der verschiedenen Orden in unterschiedlichem Tempo. In den Jesuitenkollegs, in denen Veränderungen des Schulreglements, des frühneuzeitlichen Ratio Studiorum, aufgrund seiner bis in die Frühe Neuzeit zurückreichenden Tradition hohe mentale Hürden in den Weg gestellt waren, veränderten sich die Verhaltensanforderungen an die Schüler und die disziplinarischen Maßnahmen besonders langsam.38 Doch deutete sich auch hier seit den 1920er Jahren ein Wandel an, der nicht nur in einer allmählichen Abmilderung der Strafen und der Entlastung der Schüler vom rigiden Tagesplan bestand, sondern auch in vermehrten Forderungen prominenter Jesuiten, durch eine Gewährung von mehr Freiräumen eine stärkere Identifizierung der Schüler mit ihrer Schule und der katholischen Religion zu erreichen. Eine scharfe Kritik am existierenden Schulregiment äußerte etwa der bekannte Jesuit Ángel Ayala in seinem Buch Nuestros Colegios (Unsere Schulen) von 1931. Dort argumentierte er, dass die Unterdrückung von Eigeninitiative, die Monotonie des Tagesablaufes und die strenge Disziplin die Entwicklung der Kinder beeinträchtigen könnten, auf alle Fälle jedoch die Übernahme von 35
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Revuelta González, Colegios, insb. S. 531f.; 545–47; Yetano, Enseñanza, S. 122–25, 250f. Siehe auch die zeitgenössischen Berichte: Gaziel, Tots, S. 75 (zitiert nach: Yetano, Enseñanza, S. 315). P.M. Quera, S.J., La estela de una institución centenaria, S. 81–90 (zitiert nach: Yetano, Enseñanza, S. 318–25). Siehe etwa die Erinnerungen Castilla del Pinos an seine Schulzeit Anfang der 1930er Jahre im salesianischen Kolleg von Ronda: Pretérito Imperfecto, insb. S. 105–11. Siehe oben und als umfassende Kritik: Enrique Herrera Oria, La crisis de hombres en España, Atenas 22, 15.7.1932. Lull Martí, Jesuitas y Pedagogía, S. 219–222; Iglesias, Renovación, Teil IV, S. 68f.
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Verantwortung durch die Schüler nach Ende der Schullaufbahn erschwere. Ziel einer Reform der Schulordnungen müsse es sein, zu einem „Regime fortschreitender Freiheit“ zu gelangen.39 Diese Überlegungen entsprachen sehr weitgehend den Schulkonzeptionen von Enrique Herrera Oria, mit denen wir uns im ersten Teil dieser Arbeit genauer befasst haben. Ayala und Herrera Oria stehen für einen Reformflügel jesuitischer Bildung, welcher, auch aufgrund der politischen Erschütterung des Ordens durch sein Verbot 1932 über Reformen des Schullebens nachdachte. Dieses Nachdenken zog praktische Konsequenzen nach sich, die sich deutlich im Jesuitenkolleg San José von Valladolid beobachten lassen, das unter seinem innovativen Rektor Antonio Encinas seit 1927 zur bemerkenswertesten katholischen Reformschule der Vorbürgerkriegszeit aufstieg. Im portugiesischen Exil der Schule führte Encinas weitgehende Reformmaßnahmen ein, die ganz wesentlich das innere Regiment der Schule betrafen. Herrera Oria, der die Entwicklung der reformierten Jesuitenschule eng begleitete und ein ganzes Buch über ihre Pädagogik verfasste, erklärte 1934 enthusiastisch: „Hier werden für immer die Kasernensysteme napoleonischen Typs begraben. [Das Ziel ist es, T.K.] freie Kinder zu erziehen.“ Die Schule habe die Disziplin „der langen uniformierten Schülerreihen, der absoluten Stille, des strengen Strafregimes“ verabschiedet und setze ganz auf die freiwillige „innere Disziplin“ ihrer Schüler.40 Die Schulzeitschrift Nuevos Jovenes spiegelte diese Sicht, indem sie das Schulleben gegen die „Trübnisse eines kalten Kollegs früherer Tage“ abgrenzte.41 In der Reformschule durften sich die Schüler in den Pausen frei und individuell auf dem Schulgelände bewegen, mussten nicht mehr während des gemeinsamen Essens schweigen, sondern konnten sich sogar ihre Tischnachbarn selbst aussuchen. Eine Gruppe ehemaliger Schüler, die noch unter dem alten Schulregime erzogen worden war, bemerkte Anfang 1937 anlässlich eines Besuches in Portugal erstaunt: „Vierertische! Was für ein Unterschied zu den langen, schmalen Tischen, an denen wir alle schweigend in eine Richtung blicken und einer Lektüre lauschen mussten. Das hier ist ganz anders. Die Stunde des Essens ist die Stunde der Unterhaltung. Ein Tisch für vier, für vier selbst ausgewählte Freunde.“42 Revolutionär war auch der Umstand der Abschaffung der Inspektoren, spezieller Erzieher, welche die Schüler in ihrer Freizeit ständig beaufsichtigt hatten. Im neuen Kolleg San José durften sich die Schüler unbeobachtet von den Erziehern in ihren Einzelzimmern besuchen, den älteren Schülern war das Rauchen in den Zimmern gestattet und die Heranwachsenden konnten sogar Tiere auf ihren Zimmern halten. Auch die Exkursionen in kleinen Gruppen, anstatt der geordneten Spaziergänge in 39 40 41 42
Ángel Ayala, Nuestros Colegios, Madrid 1931, S. 17, 38, 46–49. Enrique Herrera Oria, El colegio nuevo de Curia. Técnica del sistema educativo, Madrid 1934, S. 8f. Las visitas de las familias, Nuevos Jovenes 25, 1.3.1936. Qué dicen los Antiguos, Nuevos Jovenes 34, 1.1.1937.
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Zweierreihen, verdeutlichen den radikalen Bruch der Schule mit dem älteren monastischen Modell.43 Die neue Bedeutung des Sports an den Schulen verweist nicht nur auf den Einflussgewinn hygienischer Forderungen nach Luft und Bewegung, sondern auch auf einen grundsätzlichen Wandel der Persönlichkeitsbildung. Anstatt extremer körperlicher Selbstkontrolle als Unterordnung aller Impulse unter die Herrschaft des Verstandes wurde die Aktivierung und Ertüchtigung des Schülerkörpers und der in ihm angelegten Energien zum vorrangigen Erziehungsziel. Die Schulen des ausgehenden 19. Jahrhunderts hatten eine Disziplinierung und Unterordnung des Kinderkörpers in genormte Bewegungsfolgen angestrebt. Selbst in den Pausen war den Schülern freie Bewegung, Laufen und Springen verboten gewesen. In deutlicher Abkehr von dieser Körperschulung nahmen die Ordensschulen nach 1900 unter dem Eindruck neuer kinderwissenschaftlicher und regenerationistischer Forderungen Leibesübungen in den Unterrichtsplan auf und öffneten sich dem Sport. Freie, selbstständige Bewegung erhielt einen neuen pädagogischen Stellenwert. Die Gründung von Fußballmannschaften und die Abhaltung von Fußballturnieren gehörte in den 1920er Jahren wie selbstverständlich zum Schulleben dazu und in den 1930er Jahren besaßen viele Schulen sogar eigene Tennisplätze und Schwimmbäder.44 Das Jesuitenkolleg San José in Valencia erwarb schon 1917 eine am Meer gelegene Villa, die es in den folgenden Jahren nach Art eines sportlichen Leistungszentrums ausbaute. Es verfolgte dabei das explizite Ziel, die körperliche Leistungsfähigkeit und sportlichen Talente seiner Schüler auf neue Weise zu fördern.45 Dass sich die Waage in Richtung einer Gewährung größerer Entfaltungsspielräume neigte, zeigen schließlich defensiv formulierte Beiträge von Schuldirektoren in den 1930er Jahren. Die Vertreter einer disziplinbetonten Erziehung sahen sich zunehmend in die Defensive gedrängt. Der Direktor des Barceloneser Colegio Bonanova erklärte beispielsweise in seiner Rede zum Abschluss des Schuljahres, den Schülerwunsch nach einem „Regime, das nicht unseren Expansions- und Freiheitstrieb einschränkt“, gut verstehen zu können, auch wenn die Schule diesem Trieb nicht gänzlich entsprechen 43
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Siehe: Magnífico día de campo, Nuevos Jovenes 4, 15.1.1935. Vgl. auch Luis Fernández Martín, S.J., Historia del Colegio San José de Valladolid, 1881–1981, Valladolid 1981, S. 216f.; Iglesias, Renovación, Teil IV, S. 73. Als autobiographische Beschreibung: Castilla del Pino, Pretérito Imperfecto, S. 123. Der Autor hebt immer wieder das rigide Disziplinarregime des andalusischen Kollegs hervor, erwähnt aber auch Freiräume auf nur locker beaufsichtigen Exkursionen und beim Sport. Zu den älteren Ansichten: Iglesias, Renovación, Teil IV, S. 70f. Zur Bedeutung des Fußballs an den Schulen siehe nur: Juan Ferrer Pi, 6 año, Vida escolar, El Salvador 35, Nov. 1921; Deportes: Cómo juegan los nuestros, Pilar 1, Jan. 1923. Zu den 1930er Jahren: Anzeige Colegio de la Asunción „Santa Isabel“, Madrid, Anuario de educación y enseñanza católica en España 1935/36, Madrid 1935; Anzeige Colegio Lestonnac, Barcelona, ebd.; Anzeige Colegio de Nuestra Señora de Loreto, Barcelona, ebd.. Lull Martí, Jesuitas y Pedagogía, S. 291–97.
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könne. Der prominente Pädagoge Rufino Blanco fühlte sich 1936 genötigt, Eltern und Lehrer daran zu erinnern, dass die Schule nicht nur Freude, sondern auch Schmerz beinhalten müsse, um die Schüler auf das Leben als Ganzes vorzubereiten.46 Die hier sichtbare Kritik an den, ihre Kinder vermeintlich verzärtelnde Eltern, die sich wie ein roter Faden durch die Schulzeitschriften der 1920er und 1930er Jahre zieht, deutet auf den Veränderungsdruck hin, den die öffentlichen Kindheitsdebatten auf die Schulen ausübten.47 Die praktischen Folgen der neuen Erwartungshaltung beschreibt der Psychiater Carlos Castilla del Pino sehr anschaulich in den Erinnerungen an seine Schulzeit im salesianischen Kolleg von Ronda in Andalusien. Er stellte am Ende der Republik einen deutlichen Rückgang an Strafen und eine höhere Toleranz in Bezug auf das Schülerverhalten fest. Seines Erachtens waren diese Maßnahmen dem Druck der urbanen Öffentlichkeit auf die Schule geschuldet.48 Sowohl die internen pädagogischen Debatten im Katholizismus als auch der Wandel öffentlicher Kindheitsbilder drängten in Richtung einer Umgestaltung des disziplinären Rahmens der Privatschulen. Ein dritter wichtiger Wandel an den Schulen bestand schließlich in der Aufwertung des Schülers als Individuum gegenüber der Forderung der Ein- und Unterordnung in eine hierarchische Ordnung. Die Leitung des Kollegs San José in Curía erklärte in bezeichnender Weise, dass es keine andere Schule in dem „Kult der Individualität jeden Kindes“ (culto individual de cada niño) mit ihm aufnehmen könne.49 Hatten die älteren Kollegs noch versucht, jede individuelle Äußerung des Kindes zu stutzen und in ihm Tugenden der Selbstverleugnung und Selbstlosigkeit zu fördern, war in den 1930er Jahren der Begriff der Individualität in den katholischen Schuldebatten deutlich positiv besetzt. Gegen Widerstände „die eigene Persönlichkeit triumphierend zu bestätigen“ wurde zu einem neuen Ziel der Schulerziehung.50 Die neue Wertschätzung von Individualität zeigt sich symptomatisch in der Verbreitung einer Einzelunterbringung der Schüler. Hatten in den Internaten zunächst große Schlafsäle das Bild bestimmt, so gestanden die Schulen den Kindern nach der Jahrhundertwende allmählich mehr Privatsphäre zu. Viele Jesuitenkollegs führten zunächst sogenannte camarillas ein, Abtrennungen der Kinderbetten durch Holzwände und ein Drahtgeflecht als Decke innerhalb großer Säle.51 Doch erwies sich dieses System nur als Zwischenschritt. Immer mehr Schulen gingen zur Einrichtung richtiger Einzelzimmer über. Sowohl das Colegio de Nuestra Señora de Guadalupe als 46 47 48 49 50 51
Rufino Blanco, Del Album de un curioso, in: Hogar Antoniano 45, April 1936. Siehe etwa auch: Totó o el arte de educar a los niños, Vida Colegial 10, März 1925. Castilla del Pino, Pretérito Imperfecto, S. 169f. Antonio González Quevedo, La educación motival de la voluntad, Atenas 57, Jan. 1936. En los umbrales de la Vida: Vidas inútiles, El Pilar 7, Jan. 1924. Zu den älteren Konzeptionen: Revuelta González, Colegios, S. 338f. Lull Martí, Jesuitas y Pedagogía, S. 431.
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auch die neuen Madrider Piaristenschule und das Jesuitenkolleg San José im Jahr 1935 warben mit individuellen Zimmern. Die Schulleitung der neuen Piaristenschule in Madrid erklärte sich 1922 explizit zum Gegner der großen Schlafsäle, welche zwar die Überwachung der Schüler erleichterten, aber dem natürlichen Instinkt jeder Mutter widersprächen, die Kinder ab etwa dem zwölften Lebensjahr räumlich zu separieren.52 Das Jesuitenkolleg San José ging schließlich noch einen Schritt weiter und erlaubte gegenseitige Besuche der Schüler untereinander in ihren Zimmern – die sogar über ein eigenes Bad verfügten – vor Eintreten der Nachtruhe, was ältere Schulen, zumeist aus einer diffusen Furcht vor sexuellen Kontakten zwischen den Zöglingen, verboten hatten.53 Eine ähnliche Entwicklung wie hinsichtlich der Schlafzimmer zeigt sich in Veränderungen der Kleiderordnungen. Die älteren Schulen betrieben eine Uniformierung der Schüler, die in der Pflicht, spezielle Schuluniformen zu tragen, ihren bildhaften Ausdruck fand. Nach der Jahrhundertwende lässt sich jedoch ein allmählicher Abschied von diesen am Militär orientierten Kleidernormen feststellen. Viele Schulen forderten nur mehr einfache Anzüge als Schulkleidung. Gruppenfotos von Schülern an reformorientierten Schulen der 1930er Jahre zeigen schließlich Kinder mit je individueller, nicht-standardisierter Kleidung und in lockerer Haltung.54 Auch in der pädagogischen Betreuung der Schüler zeigte sich ein neues Interesse am Einzelkind. Die Erprobung von Begabungen und eine individuelle Berufs- und Karriereberatung waren an den Eliteschulen, aber auch an vielen anderen katholischen Bildungseinrichtungen seit den 1920er Jahren ein fester Bestandteil des Schulprogramms. Viele Schulen öffneten im Verlauf der 1920er Jahre psychologische Beobachtungsstellen. Die Jesuitenschule in Valencia richtete etwa im Herbst 1926 ein eigenes psycho-pädagogisches Kabinett ein und auch das Kolleg in Saragossa besaß 1930 ein solches Kabinett und erstellte paidometrische Profile aller seiner Schüler.55 Andere Bildungsorden waren kaum weniger zögerlich in dem Aufgreifen angewandter Psychologie, Intelligenztests und Fragen der Laufbahnberatung. Das Colegio Nuestra Señora del Pilar besaß etwa Anfang der 1930er Jahre nicht nur ein Büro experi52
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Crónicas Octubre: El colegio modelo, in: Revista Calasancia 10 (1922), S. 939–54, hier S. 951; Anzeige: Colegio de Nuestra Señora de Guadalupe, in: RdEF 23, Jan. 1918; Dolores de Gortazar Serantes, Las Escuelas Pías de Villacarriedo: Un colegio modelo, in: Revista Calasancia 8 (1920), S. 286–888; Anzeige El Colegio de San José de Valladolid en Curía (Portugal), in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1935/36, Madrid 1935, S. 43–45. Iglesias, Renovación, Teil IV, S. 73. Siehe etwa: Foto, Ecos del Colegio, Juventud 19, Jan 1930; Doppelseite mit Gruppenbildern, Nuevos Jovenes 23, 15.12.1935. Zur Tradition der formalen Schuluniformen: Mato Díaz/Terrón Bañuelos, Ejemplo, S. 258f. Zur Abkehr davon: Iglesias, Renovación, Teil IV, S. 66f. Lull Martí, Jesuitas y Pedagogía, S. 330–46; Crónica del Colegio, El Salvador 135, März 1930; Hispánicus, La Pedagogía de la Religión. Con ocasión de un nuevo libro, Atenas 51, Mai 1935.
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menteller Psychologie, in dem medizinische und psychologisch-pädagogische Beobachtungen zu den einzelnen Schülern gesammelt wurden, sondern auch einen eigenen Laufbahnberater (Director de las carreras).56 Ein vierter wichtiger Wandlungsimpuls bestand schließlich in der Öffnung der Schulen gegenüber der urbanen Umwelt. Die Öffnungstendenzen waren vielschichtig und hatten mehrere Ursachen. Sie reagierten zum einen auf die antiklerikale wie binnenkatholische Kritik an einer vermeintlich weltfremden, zu sehr auf eine religiöse Laufbahn ausgerichteten Ausbildung an den älteren Schulen, welche die Schüler vermeintlich zu wenig auf das Leben jenseits der Schulmauern vorbereitete. Sie nahmen gleichzeitig mit dieser Kritik eng verbundene regenerationistische Impulse auf, die eine neue praktische, lebensnahe Bildung der nachwachsenden Generation forderten, kamen aber auch allgemeinen Ansichten der Öffentlichkeit entgegen, nach denen eine erfolgreiche Persönlichkeitsbildung nur durch einen möglichst engen Kontakt von Eltern und Kindern zu erreichen sei. Schließlich entsprachen die Öffnungstendenzen den Anforderungen neuer katholischer Persönlichkeitsbildung, weltgewandte Apostel zu erziehen. Zusammengenommen ebneten die Öffnungstendenzen den starken Kontrast zwischen der Welt der Schule und der Familie allmählich ein. Die Schulen rückten schon rein physisch an die Städte und das urbane Bürgertum heran. Die Schulgründungen des späten 19. Jahrhunderts waren zumeist bewusst außerhalb der Städte erfolgt und in ihrer Bauweise gegen ihre Umgebung abgeschirmt worden. Dies trifft besonders auf die meisten Jesuitenkollegs zu, die zwar in der Nähe urbaner Zentren, aber doch in einiger Entfernung zu ihnen entstanden. Vom Stadtzentrum zum Madrider Kolleg im Vorort Chamartín zu gelangen, erforderte um die Jahrhundertwende einige Anstrengungen. Gleich Klöstern wollten sie die Aufmerksamkeit der Schüler von der als korrumpierend angesehenen weltlichen Umgebung abziehen und ganz auf die Schule und deren Binnenleben konzentrieren.57 Zwar hatten einige Orden, in Madrid etwa die Piaristen, ihre Schulen schon im 19. Jahrhundert bewusst in den belebten Innenstadtvierteln gebaut, doch waren sie eine Ausnahme geblieben. Seit der Jahrhundertwende und besonders seit dem Ersten Weltkrieg verlagerten jedoch auch die prestigeträchtigen Orden ihre Schulen zunehmend in die Stadtzentren. Die Marianisten eröffneten 1921 beispielsweise ihr neues Kolleg inmitten des bürgerlichen Madrider Stadtteils
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Crónica, Pilar 2, o.D. (1923); Impresiones de los Ejercicios Espirituales, El Pilar 59, Juni 1935; Se reanudan las conferencias de cultura, ebd.; La admirable obra educadora de los Religiosos Marianistas, Hijos del Pueblo, 21.1.1932. Mato Díaz/Terrón Bañuelos, Ejemplo, S. 249; Revuelta González, Colegios, S. 314–16. Zur Inszenierung des Kontrastes von innen und außen vgl. auch die Schilderung des Ferienbeginns in: Coloma, Pequeñeces, S. 39–74
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Salamanca und auch die neuen Jesuitenkollegs in Madrid und Barcelona siedelten sich innerhalb der Städte an.58 Dieser Entwicklung lief eine Verlagerung der Schülerschaft von der Dominanz der „internen“ Internatsschüler zum Übergewicht „externer“ Tagesschüler parallel, wie sie sich seit spätestens den 1910er Jahren beobachten lässt. Diese Verschiebung ist als einer der bedeutendsten Faktoren der Öffnung der Schulen gegenüber ihrer Umwelt anzusehen. Die Entwicklung zeigt sich schon an den Jesuitenkollegs. In den Metropolen Madrid und Barcelona, die am Ende der 1920er Jahre über jeweils zwei Schulen verfügten, übertrafen die rein für Tagesschüler ausgelegten Neugründungen bald die älteren Internate hinsichtlich der Schülerzahl deutlich. So besuchten das ältere Kolleg in Chamartín im Schuljahr 1929/30 250 Schüler, während das neuere Kolleg Inmaculada de Areneros 495 Kinder umfasste.59 Im Kolleg San José in Valencia stieg seit der Jahrhundertwende die Zahl der Tagesschüler bis zur Mitte der 1920er Jahre ständig an, bevor es am Ende des Jahrzehnts wieder eine leichte Zunahme der Internatsschüler gab, was als Ausdruck einer neuen Sorge vor den Gefahren der Stadt für Kinder gedeutet werden kann, den langfristigen Trend aber nur wenig veränderte.60 Die Abkehr vom Modell des Internats beruhte wesentlich auf einer an der neuen Kinderpsychologie geschulten Kritik der abgeschlossenen Lebensform, welche insbesondere die emotionalen Folgen der langen Trennung der Kinder von den Eltern gegen das Internat ins Feld führte. Nachdem sich schon um die Jahrhundertwende erste katholische Pädagogen kritisch mit der Internatserziehung auseinandergesetzt hatten, setzte im Umkreis des Ersten Weltkrieges eine intensive Debatte über die Vor- und Nachteile der Internatsbildung in den katholischen Reformkreisen ein. In den meisten Darstellungen überwogen dabei deutliche Vorbehalte gegenüber den Internaten. Domingo Lázaro sah im Herbst 1918 zwar auch viele Vorteile der Internate für die Persönlichkeitsbildung, doch stellte er diesen die gravierenden Kosten gegenüber. So sah er im Internat etwa „den Leichengräber der nobelsten, delikatesten und großherzigsten Gefühle des Kindes“ und konstatierte einen ungesunden, hohen sozialen Gruppendruck in der Kindergemeinschaft, dem gerade die Kinder mit den besten Wesenszügen zum Opfer fielen. Insgesamt plädierte er dafür, eine „vielleicht exzessive Entwicklung“ der Internatsform in den vergangenen Jahrzehnten zu korrigieren.61 Eine Pädagogin war zwei Jahre früher in ihrem Urteil noch deutlich weiter gegangen als der Madrider Schulleiter und hatte Eltern in einem langen Artikel zwar geraten, ihre Kinder katholischen 58 59 60 61
El Pilar, Cien Años, S. 49–51; Iglesias, Renovación, Teil IV, S. 66. Lull Martí, Incautación, S. 141. Zur allgemeinen Entwicklung siehe v.a.: Iglesias, Renovación, Teil IV, S. 65f. Lull Martí, Jesuitas y Pedagogía, S. 195–203. Domingo Lázaro, La educación en la familia y por la familia (I.), RdEF 30, Sep. 1918; Ders., La educación en la familia y por la familia (III.), RdEF 32, Nov. 1918.
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Schulen anzuvertrauen, „aber selbstverständlich als Tagesschüler (externos)“. Besonders drastisch erklärte schließlich der Kindermediziner César Juarros in derselben katholischen Elternzeitschrift: „Jedes Ehepaar, das seine Kinder als Pensionäre (internos) auf ein Colegio schickt, begeht ein Kapitalverbrechen gegen die Kindheit. [. . . ] Kein Vater darf seine Kinder als Pensionäre anmelden, wenn er nicht ihre psychische Entwicklung, ihre Zukunft und ihr Lebensglück aufs Spiel setzen will.“62 Zwar gab es auch in den 1930er Jahren noch viele Verteidiger des Internats, nicht zuletzt in der Elternschaft selbst, doch standen diese unter einem verstärkten Rechtfertigungsdruck. Anders als vor der Jahrhundertwende wurde das Internat nicht mehr ohne Einschränkungen als beste Erziehungsform angesehen.63 Die Abkehr vom monastischen Modell der Isolierung der Kinder von der Gesellschaft führte auch zu einer Lockerung der Ferien- und Besuchszeiten für die Internatsschüler. In der frühen Restaurationszeit hatten diese von Oktober bis Anfang Juni acht bis neun Monate von der Außenwelt weitgehend abgeschottet gelebt. Doch seit der Jahrhundertwende führten immer mehr Schulen, vielfach auf Druck der Eltern, Ferienzeiten während des Schuljahres ein. Diese umfassten zunächst die Weihnachtszeit, die das Jesuitenkolleg in Sarriá bei Barcelona zum ersten Mal 1908 zur Ferienzeit erklärte, und Ostern. Später traten, wie etwa in den 1920er Jahren im Colegio Nuestra Señora del Pilar, auch die Faschingszeit und besondere Ferientage wie etwa der Feiertag der Entdeckung Amerikas, der 12. Oktober, hinzu. Zudem gewährten die Schulen ihren Schülern in den 1920er Jahren teilweise auch aufgrund besonderer Anlässe, wie dem Namenstag des Schulleiters, freie Tage, die sie mit ihren Familien verbringen durften.64 Ebenfalls erhielten die Familien mehr Zugang zu den Schulen, indem die anfangs auf den Sonntagnachmittag beschränkten Besuchsmöglichkeiten deutlich ausgeweitet wurden.65 Häufige Exkursionen und Ausflüge, die in den 1920er Jahren zu einer regelrechten pädagogischen Modeerscheinung wurden und die Schüler nicht nur an christliche Stätten, sondern auch an profane Orte wie Industriebetriebe oder Börsen führten, unterstreichen die Öffnungstendenzen. Es erschien den katholischen Erziehern nun als ein wichtiges Ziel, die Schüler in einen 62
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Asunción M. y O. de Urbina, Reflexiones sobre dirección y educación del niño desde su más corta edad, RdEF 2, Feb. 1916; Doctor César Juarros, La Crianza del Hijo: XI. Educación e Instrucción, RdEF 30, Sep. 1918. Siehe zu den internen Debatten des Jesuitenordens: Iglesias, Renovación, Teil IV, S. 65. Mato Díaz/Terrón Bañuelos, Ejemplo, S. 261 (Fn. 29); Zum Wandel siehe: Sección Religiosa, Revista Semanal del Colegio de Nuestra Señora de Valvanera 11, 12.1.1899; Noticias, El Colegial 23.1.1906; Crónica, El Pilar 1, Jan. 1923; Recuerdos del Año Escolar, Colegio de Nuestra Señora del Recuerdo (Madrid), Memoria del curso de 1926–1927, S. 32; Lull Martí, Jesuitas y Pedagogía, S. 193f. Zum alten Modell des streng limitierten Kontaktes zur Familie: Revuelta González, Colegios, S. 543. Zur Auflockerung der Besuchszeiten: Nuevos Jovenes 23, 15.12.1935; Iglesias, Renovación, Teil IV, S. 68. Zur pädagogischen Begründung einer stärkeren Einbeziehung der Eltern siehe nur: Cooperación, Juventud 21, März 1930.
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„unmittelbaren Kontakt mit der Realität“ zu bringen.66 Zu dieser Öffnung gehörte auch eine Erneuerung des Fächerkanons durch die Einführung ökonomischer Fächer und kaufmännischer Abschlüsse, die beispielsweise fast alle Jesuitenschulen im Verlauf der 1920er Jahre einführten. Nach Angaben des katholischen Schulführers existierten in Madrid im Schuljahr 1934/35 alleine 13 katholische Wirtschaftsschulen.67 War Schülern der Eintritt in ein katholisches Internat um die Jahrhundertwende noch wie ein „Schritt in eine andere Welt“ vorgekommen, der durch Übergangsriten wie den Schnitt der Haare und die Zuweisung neuer Kleidung betont worden war, so unterschied sich der Tagesablauf eines Tagesschülers am Madrider Kolleg Nuestra Señora del Pilar in den 1930er Jahren, der morgens zur Schule eilte, mittags zu Hause aß und sich nach Schulschluss mit Freunden traf, nur wenig von dem seiner Altersgenossen an staatlichen Sekundarschulen. Mit dem Aufstieg des Modells des Tagesschülers trat insgesamt die Rolle der Schule im Leben der Heranwachsenden zurück.68 Der hier anhand von vier Entwicklungen – Hygienisierung, Aktivierung, Aufwertung des Individuums, Öffnung gegenüber der urbanen Gesellschaft – beschriebene Wandel des Schulregimes muss als Ergebnis eines Anpassungsdrucks der Schulen an ihre urbane Umwelt und die Forderungen moderner Kinderpsychologie verstanden werden. Dieser Druck hatte zwei Hauptursachen. Einerseits entsprach er neuen Elterninteressen und den neuen Anforderungen an Kindheit, wie sie die mediale Öffentlichkeit formulierte und transportierte. Doch bliebe das Verständnis des dynamischen Wandels unvollständig, wenn nicht, andererseits, religiöse Motive für eine Erneuerung der Schulen berücksichtigt würden. 66
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Zusammenfassend: A. Martínez de la Nava, Las Excursiones Escolares, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1935/36, Madrid 1935, S. 81–7. Siehe weiterhin: Lull Martí, Jesuitas y Pedagogía, S. 298–313; Actividad modesta, Boletín Bononova 4, April 1934 zu „wiederholten Besuchen der Schulklassen in industriellen und kommerziellen Unternehmen“. Errechnet nach einer Auflistung katholischer Privatschulen in Spanien, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1934/35, Madrid 1934. Weiterhin: Museo Pedagógico Comercial, in: Revista Calasancia 4 (1916), S. 849f.; Lull Martí, Jesuitas y Pedagogía, S. 360–66. Zum alten Modell siehe auch die autobiographischen Aufzeichnungen: Gaziel, Tots, S. 75–78 (zitiert nach Yetano, Enseñanza, S. 315–318). Der typische Schultag eines Sechstklässlers in den 1930er Jahren beschreibt anschaulich: Labor Literaria de 6. Año, El Pilar 59, Juni 1935. Die oft nur kursorische Behandlung der eigenen Schulerfahrungen in Autobiographien deutet auf eine sinkende Bedeutung der Schule als Sozialisationsort im Leben zumindest von Großstadtkindern hin. Siehe explizit für das Barcelona der Nachkriegszeit: Juan Goytisolo, Jagdverbot. Eine spanische Jugend, München 1985, S. 133 („Nichts von dem, was im Klassenzimmer geschah oder gesagt wurde, hat mein Leben direkt oder indirekt beeinflusst. Ich lebte weiterhin für mich, fest eingebunden in die Familie.“). Zum Madrid der 1930er Jahre: Fernán-Gómez, Tiempo Amarillo, bes. Kap. VIII. Dies im Gegensatz zu den älteren Darstellungen eines Ramón Pérez Ayala, Manuel Azaña oder Rafael Alberti.
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1.3 Religion und Freiheit. Der Wandel der Schulgesellschaften Neue Ziele der religiösen Persönlichkeitsbildung bildeten einen zweiten, mit den bisher besprochenen Entwicklungen auf das Engste verzahnten und mächtigen Erneuerungsimpuls der katholischen Privatschule. Dieser Wandel ging weit über didaktische Veränderungen im Religionsunterricht hinaus. Da die Schulleitungen ihre Schulen in ihrer ganzen Struktur primär als religiöse Sozialisationsagenturen sahen, musste ein Wandel der religiösen Bildungs- und Erziehungsziele das gesamte Schulleben betreffen. Entsprechend nahmen Fragen der religiösen Persönlichkeitsbildung und den sich aus ihnen abzuleitenden Veränderungen des Schulregimes den weitaus größten Raum in katholischen Schuldebatten ein. Um die Bedeutung religiöser Persönlichkeitsbildung für die Schulgesellschaften zu verstehen, lohnt zunächst ein Blick auf die Religionsvermittlung an nicht-jesuitischen katholischen Privatschulen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. An ihnen dominierte deutlich jener Typus religiöser Bildung, der im ersten Teil als christlich-bürgerlicher beschrieben worden ist. Religiöse Bildung war an ihnen Teil einer weiter gefassten bürgerlich-moralischen Bildung, die sich von einer populären, vermeintlich unaufgeklärten Volksreligiosität abzugrenzen versuchte. So erklärte die aus den Lehrern der Schule bestehende Redaktion der Revista Semanal del Colegio de Nuestra Señora de Valvanera in ihrer ersten Nummer, unter anderem, dass die Zeitschrift „die Liebe zum Studium und zu den moralisch einwandfreien und angenehmen Büchern“ ebenso fördern, wie die religiöse Bildung ihrer Leser komplettieren wolle. Religiöse Formung taucht in der Einleitung der „literarisch-wissenschaftlichen Zeitschrift“, so der Untertitel, nur an nachgeordneter Stelle auf.69 Tatsächlich dominierten künstlerische und naturwissenschaftliche Abhandlungen die frühen Schulzeitschriften. Religiöse Themen wurden den Lesern in gelehrt-historisierender Weise präsentiert. Sie waren Gegenstand rationalen Wissens und sollten die religiösen Kenntnisse der Leser verbessern, ohne aber in ein die ganze Person umfassendes Programm religiöser Vervollkommnung oder apostolischer Mission eingebunden zu sein. So erläuterten verschiedene Artikel in den ersten Ausgaben der Revista Semanal del Colegio de Nuestra Señora de Valvanera vor allem die Entstehung, historische Entwicklung und religiöse Bedeutung christlicher Feste wie Allerheiligen und Epiphanias und interpretierten Bibelstellen, wobei die Ausführungen zumeist in abstrakten moralischen Geboten mündeten. So schloss eine Erläuterung von Johannes 16:5 etwa mit der Darlegung, dass „die Wahrheit nur in Gott liegt, und wir 69
La Redacción, A nuestros alumnos y demás lectores de esta revista, Revista Semanal del Colegio de Nuestra Señora de Valvanera 1, 1.11.1898. Siehe auch: La Redacción, A nuestros suscriptores, El Colegial 1, 8.12.1901; El Colegio (Sevilla) 2, 31.12.1887.
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sie deshalb in IHM suchen müssen [. . . ]. Wenn wir uns der Suche nach dieser ewigen Wahrheit widmen, wird unser Herz in ihr untrüglich Ruhe finden.“70 Ein neuer Impuls religiöser Persönlichkeitsbildung hatte seinen Ursprung in den Jesuitenkollegs. Anders als die bisher behandelten katholischen Schulen stellten sie die religiöse Prägung der Schülerpersönlichkeit in den Mittelpunkt ihrer Bildungsarbeit. In ihrem Versuch einer tief greifenden religiösen Formung der Kinder standen sie am Anfang einer Entwicklung, welche die katholischen Privatschulen bis 1936 und darüber hinaus prägen sollte, auch wenn die Formen und Ziele der religiösen Persönlichkeitsbildung einen wichtigen Wandel durchlaufen sollten. Anders als andere zeitgenössische konfessionelle Schulen strebten die Kollegs eine über intellektuelle Einsichten und die Aneignung einzelner Tugenden hinausgehende grundlegende habituelle Formung der Kinder an, die sich hinsichtlich ihres „totalisierenden Charakters“ in Ziel und Mitteln kaum von der Novizenausbildung des Ordens unterschied. Alle Lehrer sollten nicht nur Fachwissen vermitteln, sondern eine apostolische Mission erfüllen.71 Ein kurzer Blick auf die Art und Weise der religiösen Schulung an den älteren Kollegs soll helfen, den Wandel nach 1900 besser zu verstehen. Grundzug der jesuitischen Schulen war es, das ganze Schülerleben so weit wie möglich mit Religion zu imprägnieren. Dies versuchte der Orden im Wesentlichen auf drei Wegen. Erstens über die direkte Ansprache der Schüler im Religionsunterricht und in einer Vielzahl von Predigten, religiösen Vorträgen und Ermahnungen, zweitens über Memorierübungen, in denen die Schüler die wesentlichen Teile des Katechismus auswendig lernen mussten, und drittens, über eine Vielzahl frommer Praktiken, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wesentlich ausgebaut wurden. Ziel war es, das Leben der Schüler kontinuierlich von morgens bis abends durch devotionale Praktiken auf die göttliche Transzendenz zu beziehen. Gehörten der tägliche Messebesuch, Gebete vor jeder Schulstunde und die monatliche Beichte von Anfang an zu den Anforderungen der Schulen an ihre Schüler, so traten bis zum Jahrhundertende auch durch ältere Schüler angeleitete Gebete nach dem Aufwachen und vor der Nachtruhe, kurze Meditationen am Morgen sowie ein halbstündiges Rosenkranzgebet und spirituelle Lektüren am Abend hinzu. Einige Schulen führten zudem an die Gottesmutter Maria gerichtete Gebete zu jeder vollen Stunde ein. Über diese täglichen Praktiken hinaus stand die Aus-
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Sección Religiosa, Revista Semanal del Colegio de Nuestra Señora de Valvanera 26, 27.4.1899. Siehe weiterhin z. B.: Sección Religiosa, Revista Semanal del Colegio de Nuestra Señora de Valvanera 1, 1.11.1898; Sección Religiosa, Revista Semanal del Colegio de Nuestra Señora de Valvanera 3, 17.11.1898. Hierzu und zum Begriff: Revuelta González, Colegios, S. 297f., 304; Yetano, Enseñanza, S. 84f., 116–119, 134–40.
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richtung auf die göttliche Transzendenz an den vielen christlichen Feiertagen in sogar noch gesteigertem Maße im Mittelpunkt des Schullebens.72 Im letzten Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende erkannten jedoch viele jesuitische Pädagogen zunehmend die Grenzen einer solchen vermeintlich totalen religiösen Imprägnierung und begannen die vorherrschenden Methoden religiöser Persönlichkeitsbildung in Frage zu stellen. Oftmals wurde die Schuld an einem offensichtlichen Scheitern der christlichen Persönlichkeitsbildung auf die korrumpierenden Einflüsse der städtischen Moderne zurückgeführt. Ein jesuitischer Pädagoge am Kolleg in Valencia erklärte beispielsweise 1889: „Die Internatsschüler, und besonders die Älteren [. . . ] denken und sprechen dauernd von Freiheit, von Theaterspektakeln, von Nichtigkeiten, was deutlich zeigt, dass sie bis in die Haarspitzen hinein von dem schlechten weltlichen Geist verseucht sind, und dass sie mit großem Widerwillen alles das anhören, was wir ihnen über Frömmigkeit und das christliche Leben predigen.“73 Andere Katholiken waren jedoch nicht bereit, alleine der gesellschaftlichen Umwelt die Schuld für das Scheitern ihrer religiösen Bildung zu geben. Der Provinzleiter der Jesuiten in Toledo schrieb beispielsweise schon 1892 an die Ordensleitung: „Die Wurzeln der Frömmigkeit und des guten Benehmens sind nicht so tief verankert, wie sie es sein sollten; deshalb verhalten sich die Schüler, während sie in den Internaten wohnen, nicht so wie es Schülern des Ordens ansteht und erhalten [ihren Glauben, T.K.] nicht aufrecht, wenn sie das Internat verlassen.“74 Diese allgemeine Beobachtung verband er mit einer Kritik an den vielen religiösen Praktiken, die in einer zwar komplexen, aber letzten Endes nur oberflächlichen, nicht in den Kern der Schülerpersönlichkeit vordringenden Religiosität resultierten. An der Jahrhundertwende war zumindest einer intellektuellen Elite des Ordens klar, dass neue Wege der Persönlichkeitsbildung beschritten werden mussten, wollte man eine tiefere Identifizierung der Schüler mit dem christlichen Glauben und der katholischen Kirche erreichen. Die Beobachtung eines Mangels an Religiosität bei den Schülern wirkte in den folgenden Jahrzehnten als ständiger Stachel des Wandels religiöser Menschenbildung im Speziellen und des Schullebens im Allgemeinen. Das neue Leitmodell apostolischen Christentums ließ die existierende religiöse Bildung und Erziehung als unzureichend und formalistisch erscheinen. Es galt, religiöse Unterweisung auf ein aktives, apostolisch-missionarisches Handeln jenseits der Schulmauern auszurichten und starke Persönlichkeiten hervorbringen, die fähig waren, in einer Zeit tiefgreifender politischer Krisen zu bestehen. Zumindest eine Elite der Schülerschaft sollte zu christlichen Gesellschaftsmissionaren und
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Siehe detailliert: Revuelta González, Colegios, S. 318–49. Zit. nach ebd., S. 316. Zit. nach ebd., S. 352.
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Vermittlern religiösen Glaubens in einer religiös zweifelnden Bevölkerung geformt werden. 75 Die praktischen Auswirkungen auf die Schulgesellschaften dieser neuen Zielperspektive lassen sich zuerst in den Jesuitenkollegs der Jahrhundertwende erkennen, bevor sie im 20. Jahrhundert und besonders seit dem Ersten Weltkrieg auf breiter Front zum Durchbruch gelangten. Es setzte eine nachhaltige Dynamik ein, in der jeweils Reformmaßnahmen eingeführt, als unzureichend kritisiert und durch weitere Reformen ergänzt wurden. Die Schulen führten neue, auf eine innengeleitete Religiosität und ein offensives christliches Wirken ausgerichtete Methoden religiöser Vermittlung ein, experimentierten mit tendenziell egalitären Vergemeinschaftungsformen, setzten, zumindest im Rahmen religiöser Schülervereinigungen, die disziplinarischen Anforderungen herab und machten vermehrt Zugeständnisse an die Interessen und Autonomiewünsche der Schüler. Der Verfolgungsdruck der frühen 1930er Jahren setzte diesen Entwicklungen kein Ende, sondern verstärkte sie im Gegenteil. Zunächst gestalteten die katholischen Pädagogen die religiöse Vermittlung um. Der Akzent verschob sich hin zu einer individuellen Aneignung religiöser Inhalte und, eng damit verbunden, einer stärker egalitären Struktur religiösen Lernens. An die Stelle einer Unterordnung des Schülers unter eine vorgegebene religiöse Ordnung durch die Eingewöhnung von Routinen sollte die eigenständige Eroberung des christlichen Glaubens durch das individuelle Kind und seine freiwillige Assoziierung in religiöse Gemeinschaften treten. Angesichts der offensichtlichen Mängel der Memoriermethoden, aber auch der umfangreichen Devotionsübungen als Mittel der Persönlichkeitsbildung experimentierten die Schulen mit neuen Formen religiöser Vermittlung, welche eine aktive, freie Akzeptanz der religiösen Werte und Lebensweise durch die Schüler bezweckten. Es ist bezeichnend, dass sich katholische Pädagogen wie der Pionier moderner katholischer Mädchenbildung in Spanien, Pedro Poveda, schon früh gegen einen Zwang zur Teilnahme an religiösen Akten aus- und den Schülerinnen Wahlfreiheit zusprachen.76 Auch die Einführung des Padre Espiritual als geistiger Ansprechpartner und Seelsorger für die Kinder – zunächst nur an den jesuitischen Ordensschulen –stand in diesem Kontext. Diese Figur hatte in der jesuitischen Tradition nicht existiert, und um seine Einführung zunächst an den zentralspanischen, ab 1893 auch an den aragonesischen und katalanischen Schulen wurde unter den jesuitischen Pädagogen heftig gerungen. Dass er sich schließlich durchzusetzen vermochte, hatte zweierlei Ursachen. Einerseits entlastete er die Fachlehrer von der Aufgabe religiöser Vermittlungsarbeit, andererseits sollte er jedoch den Kindern auch einen anderen Zugang zu religiösen Fragen jen75 76
Eine längere Ausführung dieser Sichtweise findet sich in: X., El Arte de Educar: El Esfuerzo, Verdadera Palanca de Educación, El Pilar 9, Juni 1935. Pedro Poveda, Ejercicios de Piedad (1916), in: Poveda, Itinerario, S. 310.
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seits des dominierenden, aber immer mehr als unzulänglich diagnostizierten hierarchisch-disziplinierenden Zugangs gewähren. Um seine Position glaubwürdig zu machen, durfte er keine Disziplinierungsmaßnahmen vornehmen und musste ihm zugetragene Informationen vertraulich behandeln.77 Der Religionsunterricht sollte, wie es eine Denkschrift des einflussreichen katholischen Elternverbandes von 1935 erläuterte, „nicht mehr bloß eine auf den Verstand ausgerichtete Unternehmung“ sein, sondern die ganze Persönlichkeit des Schülers ansprechen. Die christlichen Wahrheiten sollten nicht mehr bloß verstanden, sondern auch gefühlt werden.78 Zu diesem Zweck wurde der Unterricht in den unteren Klassen thematisch entschlackt, auf die Vermittlung der als unabdingbar erscheinenden Grundlagen des christlichen Glaubens konzentriert und didaktisch gegliedert. Eine altersgerechte Vermittlung sollte eine feste Verankerung der Religion gewährleisten.79 Weiterhin gerieten Schülerinteressen auf neue Weise in den Blick. Dies zeigte sich am deutlichsten in einer Verlagerung des Unterrichts hin zur biblischen Geschichte als Hauptgegenstand des Religionsunterrichtes in den unteren Klassen. Die narrative Struktur des Alten und Neuen Testaments sowie die Attraktivität Jesus erschienen den kindlichen Interessen und Lebensumständen angemessener zu sein als die trockenen Merksätze des Katechismus.80 In den höheren Klassen stieg die Bedeutung der Apologetik in der religiösen Unterweisung, also die Auseinandersetzung mit Kirchenkritikern. Die Abwehr von Argumenten gegen die Kirche rückte in den Mittelpunkt religiöser Bildung, die nun in Anlehnung an ältere jesuitische Bildungsmethoden häufig in Form von Streitgesprächen zwischen zwei Rednern oder Schülergruppen erfolgte. Im Jesuitenkolleg von Saragossa existierte Anfang der 1920er Jahre eine Academía de Apologetica, die regelmäßig Veranstaltungen zur besseren religiösen Schulung durchführte und auch in den religiösen Lehrplänen der Schulen von 1930 nahm die Apologetik in den höheren Klassen eine zentrale Stellung ein.81 Im Leben des Reformkollegs in Curía spielten „apologetische Studien“ sogar eine noch bedeutendere Rolle. Ende 1935 bezeichnete die Schulleitung in der Erläuterung ihres Bildungsprogramms für die Eltern sogar die „feste apologetische Schulung“ als Basis jeglicher religiöser Bildungsanstrengungen. Entsprechend wählte sie Apologetik als 77 78
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Revuelta González, Colegios, S. 307–13. La Enseñanza Religiosa. Ponencia presentada a la V. Asamblea general de la Confederación Católica de Padres de Familia, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1935/36, Madrid 1935, S. 56–64. Ebd; D. Juárez, El estudio de la Religión en la segunda enseñanza, in: RyF 102, 1933, S. 370–85. Vgl. Catecismo Vivente, BIT 203, Dez. 1931. Crónica, 16. domingo lleno, El Salvador 26, Feb. 1921; Ignacio Cano Fernández, 1. Año, Vida Escolar: Crónica de Marzo, El Salvador 28, April 1921; Plan de Instrucción religiosa en el Colegio del Salvador, El Salvador 136, Abril 1930. Zum Bedeutungszuwachs der Apologetik im Laufe der 1920er Jahre siehe auch: Lull Martí, Jesuitas y Pedagogía, S. 453f.
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Überbegriff für den gesamten Religionsunterricht an der Schule. Die Schüler des 3. bis 6. Abiturjahrgangs erhielten wöchentlich vier Stunden Unterricht in Apologetik (clases de apologética). Zudem wurde die Fähigkeit zur Verteidigung des Glaubens immer wieder in großen Schulversammlungen auf die Probe gestellt, in denen sich ausgewählte Schüler gegen die von ihren Lehrern vorgebrachten Argumente der Kirchenkritiker zur Wehr setzten mussten. Im Februar 1935 mussten sie etwa Angriffe auf das Agieren der Kirche in der Geschichte parieren und „Fabeln der Kirchenfeinde“ wie die Existenz einer Päpstin oder die Beteiligung der Kirche an den Massakern an den Hugenotten argumentativ widerlegen. Schüler der dritten Abiturklasse, die das Privileg des Zugangs zur Schulbibliothek erhalten wollten, mussten in einer Prüfung Ende Februar jeden Jahres Argumente für die Existenz Gottes beibringen und erklären, wieso die Auferstehung Christi ein eindeutiges Zeichen seiner Göttlichkeit sei.82 Ziel dieser Maßnahmen war es, eine Schülerelite von Katechisten heranzubilden, die in öffentlichen Debatten jenseits der Schulmauern den liberalen Kirchenkritikern argumentativ standhielten und offensiv für das Christentum zu werben in der Lage waren. Diese Ausbildung war in Curía besonders zentral, doch war sie auch an anderen Schulen sichtbar.83 Die Neuausrichtung religiöser Erziehung zeigt sich auch in Schüleraufsätzen und Briefen zu christlichen Themen, welche die Schulzeitungen seit Ende der 1920er Jahre veröffentlichten. Sie bestanden nicht länger in gebildeten Explikationen christlicher Tugenden, sondern entwarfen Bilder einer Märtyrerreligion, die wesentlich durch persönliche Opfer, Qualen und Leid gekennzeichnet war. Ein Schüler beschrieb etwa in einem Brief eine von ihm und seinen Freunden inszenierte Aufführung des 1886 uraufgeführten Stückes Santo Dominguito de Val der Dichterin María del Amparo Arnillas de Font In seiner Beschreibung der Aufführung legt er besonderes Gewicht auf das Leiden des „von Juden gefolterten“ Märtyrers, beschreibt dessen Verstümmelung in allen Einzelheiten und stellt den entsetzlichen Grausamkeiten die gottergebene Leidensfähigkeit des Heiligen gegenüber. Schon einige Jahre vorher hatte die Schulzeitung El Pilar eine Geschichte veröffentlicht, in der der Junge Jaime von einem antiklerikalen Hetzer mit blasphemischen Reden herausgefordert wird. Später in der Geschichte opfert dieser sein Leben, um den Widersacher vor einem herannahenden Zug zu retten, der daraufhin zum Christentum konvertiert. Wieder eine andere Geschichte handelt von den Schrecken eines revolutionären Aufstandes in einem spanischen Dorf, in dem sich der Kinderheld zunächst den Revolutionären anschließt, dann aber unter großen Gefahren und Entbehrungen auf die Seite der Kirche überwech-
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La Vida en Curía, Nuevos Jovenes 7, 28.2 1935; Acto de Apologética, Nuevos Jovenes 6, 15.2.1935; Círculo de Apologética, Nuevos Jovenes 9, 31.3.1935. Siehe zur schulübergreifenden Bedeutung apologetischer Erziehung: Congreso Catequístico de Zaragoza, III. Nacional: Convocatoria, El Salvador 136, April 1930.
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selt.84 Diese Geschichten müssen im Kontext der weiter oben beschriebenen neuen Verbreitung von Abenteuergeschichten in Kinderzeitschriften gesehen werden, die Einfluss auch auf die Schulzeitschriften hatten. Doch sie waren auch eng mit dem neuen Persönlichkeitsmodell des tatkräftigen und aufopferungsbereiten christlichen Missionars verbunden, ein Modell, das sie in der Schülerschaft zu popularisieren halfen. Die Geschichten korrespondierten mit religiösen Praktiken wie dem Schwur aller Schüler des Madrider Jesuitenkollegs Nuestra Señora del Recuerdo im Jahr 1927, „sich als Soldaten anzubieten, die gerne ihr Leben zur Verteidigung Jesus Christus und der heiligen Kirche lassen“.85 Die Neuausrichtung religiöser Erziehung blieb nicht auf den Religionsunterricht und religiöse Geschichten beschränkt. Vielmehr erschien es den kirchennahen Erziehern notwendig, dem gesamten Schulleben eine neue ganzheitlich-religiöse Prägung zu geben. Drohte eine Verfachlichung des Unterrichts religiöse Themen mehr und mehr aus dem Fachunterricht zu verbannen und auf den Religionsunterricht zu konzentrieren, so galt es nun, wie der katholische Elternverband 1935 erläuterte, „zusätzliche Wege der religiösen Unterweisung der Schüler“ jenseits des eigentlichen Unterrichts zu finden.86 Hierzu gehörte zunächst die Aufwertung einzelner etablierter religiöser Praktiken wie des Abendmahls als Zeichen bewusster Introspektion und spirituellen Reinigung. Viele Schulen forderten ihre Schüler auf, jenseits der obligatorischen monatlichen Kommunion an weiteren Tagen das heilige Sakrament zu empfangen. An der Madrider Marianistenschule Nuestra Señora del Pilar beteiligten sich ausgewählte Schülergruppen 1924 an zusätzlichen sogenannten Sühne-Abendmahlen und 1930 entschied sich eine Gruppe von Schülern am kostenlosen Madrider Colegio de San Luís der Salesianer, im Monat Mai zusammen mit ihren Lehrern jeden Morgen um sieben Uhr dreißig die Kommunion zu empfangen. Nach der Genehmigung des täglichen Abendmahls durch Papst Pius X. im Jahr 1905 verbreitete sich an einigen Schulen sogar die intensive Praxis der täglichen Kommunion. Am Madrider Jesuitenkolleg Nuestra Señora del Recuerdo empfing immerhin eine „außerordentliche Gruppe von Schülern“ täglich das Abendmahl im Schuljahr 1926/27.87 84
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Carta de Rafael de los Ríos (5. año) al Padre Pedro J. Blanco, El Salvador 134, Feb. 1930; Tomás de Martín Barbadillo, Heroismo, El Pilar 9, Mai 1924; Cuento: El genio de Peluso, Juventud 23, Mai 1930. Recuerdos del Año Escolar, Colegio de Nuestra Señora del Recuerdo (Madrid), Memoria del curso de 1926–1927, S. 15. La Enseñanza Religiosa. Ponencia presentada a la V. Asamblea general de la Confederación Católica de Padres de Familia, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1935/36, Madrid 1935, S. 56–64. Ecos de la Congregación, El Pilar 2, o.D. (1923); Legión Viril; Ecos del Colegio, Juventud 24, Juni 1930; ¡A Vencer! Nuevos Jovenes 29, 25.7.1936; Recuerdos del Año Escolar, Colegio de Nuestra Señora del Recuerdo (Madrid), Memoria del curso de 1926–1927,
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Weiterhin riefen die Schulen gerade ihre jüngeren Schüler zu einem aktiven Christentum im Alltag auf. Beispielhaft hierfür ist die Kampagne gegen Blasphemie, welche das Colegio de San Luís 1930 organisierte. Die Schulleitung forderte die Heranwachsenden auf, aktiv mit einem „Gelobt sei Gott“ gegen obszönes Sprechen in der Öffentlichkeit aufzutreten, andere Kinder zurechtzuweisen und so einen kleinen Beitrag zur Zurückdrängung des Atheismus zu leisten.88 Diese Kampagne richtete sich mehr noch als an kirchenkritische Kreise an die Schüler selbst, die durch diese Übung in öffentlichem Bekenntnis in ihrer apostolischen Persönlichkeitsbildung gefördert werden sollten. Die Schüler sollten lernen, dass die Kirche sich in einem weltumspannenden Kampf befand, in den sie sich früher oder später einreihen mussten. Es war schließlich insbesondere die Ausweitung der religiösen Exerzitien (ejercicios espirituales) über den Jesuitenorden hinaus, welche im Zuge einer Verlagerung der religiösen Unterweisung von devotionalen Riten und bürgerlichem Wissen hin zu einer innengeleiteten Religiosität neue christliche Persönlichkeiten hervorbringen sollten, während der Messebesuch, die Devotionsübungen und verpflichtenden Gebete von den Pädagogen immer mehr als bloß äußerliche Zeichen von Religiosität gewertet wurden. Die Exerzitien stellten nach Meinung der tonangebenden katholischen Pädagogen das wichtigste Mittel dar, um eine „tiefgreifende religiöse Mentalität“ der Schüler zu erreichen.89 Die Exerzitien waren als spezifisches Element jesuitischer Tradition seit dem 16. Jahrhundert keine Neuerfindung des 19. Jahrhunderts, doch bildeten sie das vielleicht wirkmächtigste Mittel des religiösen Eingriffs in die Kinderpsyche. Die Jesuitenkollegs hielten schon am Ende des 19. Jahrhundert regelmäßig Exerzitien kurz nach Beginn des Schuljahres ab, um die Schüler in einem Akt der spirituellen Läuterung von den weltlichen Dingen der Ferienzeit zu trennen und ganz auf die geistige Welt der Internate zu konzentrieren. Prediger trachteten zunächst danach, durch plastische Beschreibungen der Gottesstrafen für ein sündiges Leben die Kinder zu erschüttern, bevor sie am Ende der Exerzitien die Heilshoffnungen beschrieben. Die spirituellen Übungen dauerten zumeist mehrere Tage, während derer ein Schweigegebot bestand. In Nachahmung der Jesuitenkollegs organisierten in den 1920er und 1930er Jahren alle weiterführenden Schulen Meditationstage und mehrtägige spirituelle Exerzitien, die ganz der Intensivierung des religiösen Bewusstseins gewidmet waren. Predigten wechselten sich mit Zeiten individueller Einkehr und Gebeten ab.90 Es kann an dieser Stelle nicht im Detail verfolgt werden, wie
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S. 28; Revuelta González, Colegios, S. 334. Zur Beichte als einer „Technik des Selbst“ siehe auch: Berthold Unfried, „Ich bekenne“. Katholische Beichte und sowjetische Selbstkritik, Frankfurt/Main 2006, bes. S. 128–143. Para los niños, Juventud 20, Feb. 1920; Antiblasfema, Juventud 21, März 1930. Vgl. etwa Z., La Instrucción Religiosa en los centros de segunda enseñanza, El Pilar 60, Nov. 1935. Der Begriff der „innengeleiteten Person“ ist der Arbeit von Riesman, Lonely Crowd, entnommen. Siehe auch: Reckwitz, Hybride Subjekt, S. 12. Zur Verbreitung siehe nur: Crónica, Pilar 1, Jan. 1923; Ecos del Colegio, Juventud 27, Sep.
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sich Form und Inhalte der Exerzitien veränderten, doch deuten Bestrebungen in den beiden Jahrzehnten vor Ausbruch des Bürgerkrieges, sie von Formalismus zu befreien und zu wirklich tief greifenden Erfahrungen zu machen, darauf hin, wie wichtig die Orden sie als Mittel der Persönlichkeitsbildung nahmen.91 Die Verbreitung der Exerzitien gibt schon einen ersten Hinweis darauf, dass sich mit den Verschiebungen in den Inhalten religiöser Bildung auch die Art religiöser Vergemeinschaftung an den Schulen veränderte. Eine aktive Beteiligung der Schüler (auto-formación) an ihrer religiösen Bildung trat in den Mittelpunkt religiöser Vermittlungsstrategien. Die katholischen Schulen griffen das reformpädagogische Gebot einer Aktivierung der Schüler auf und wandten es auf die religiöse Persönlichkeitsbildung an. Die devotionalen Praktiken verloren als bloßer Nachvollzug äußerer Formen an Prestige, auch wenn sie bis zum Ende unseres Untersuchungszeitraums nicht aus dem Schulleben verschwanden. Die Bildung von religiösen, vorbildlichen Schülergruppen erhielt als Mittel religiöser Formung Bedeutung. Seit der Jahrhundertwende und insbesondere seit den 1920er Jahren vervielfachten sich an den Schulen Gemeinschaften, welche das religiöse und soziale Leben der Kinder jenseits des Unterrichts auf neue Weise zu gestalten trachteten. Hier sind zunächst Versuche zu erwähnen, die Schüler auch über das Ende ihrer Schullaufbahn hinaus christlich zu organisieren und zu formen. Am Ende der 1910er Jahre entstanden zu diesem Zweck innerhalb weniger Jahre an den meisten Schulen Ehemaligenorganisationen (Asociaciones de Antiguos Alumnos), die sich teilweise auch zu schulübergreifenden Verbänden entlang der Ordensgrenzen zusammenschlossen und am Ende der 1920er Jahre ein wichtiges Bindeglied zwischen den Schulen und den politischen Organisationen der Katholischen Aktion bildeten. Die Schulzeitschriften, ein weiteres Mittel religiöser Formung und Gemeinschaftsbildung, entstanden zur selben Zeit und waren anfangs oft als Informationsblätter für die Ehemaligen konzipiert. Besonders an Festtagen der Schulen traten die Ehemaligenverbände auf, veranstalteten Soireen und hielten Sitzungen ab.92 Überblickt man die Tätigkeit der Vereinigungen der Antiguos Alumnos, so fällt jedoch auf, dass sie zwar durchaus erfolgreich waren, Orte katholischer Geselligkeit zu bilden, dass sie aber kaum als christliche Fortbildungs- und Propagandainstitutio-
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1930; Aus – gefilterter – Schülerperspektive: Alfonso Guijarro (6. Klasse), Impresiones de los Ejercicios Espirituales, El Pilar 59, Juni 1935. Ein Bericht über die Exerzitien in der Karwoche am Jesuitenkolleg in Saragossa behauptete etwa Anfang der 1920er Jahre, dass „die Heranwachsenden in ihnen fanden, was wir oft vermisst haben: Wirkliche, entwickelte Exerzitien“: R.C. de la Anunciación de Nuestra Señora y S. Luis Gonzaga, El Salvador 28, April 1921. Zur Gründung und Tätigkeit siehe etwa: La Asociación de Antiguos Alumnos, El Salvador 24, Dez. 1920; La Asociación de Antiguos Alumnos, Pilar 6, o.D. (Ende 1923); El año nuevo. Para la revista, para la Agrupación, para el Colegio y para cada uno en particular, Juventud 19, Jan. 1930.
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nen wirkten, als die sie die Vordenker der katholischen Gesellschaftsreform gestalten wollten. Beispielhaft hierfür sind die Theaterabende, welche die Ehemaligenvereinigung der Madrider Piaristenschulen 1930 im Teatro de la Princesa durchführte. Diese Abende waren geprägt durch populäre Theaterstücke der Zeit – etwa der Gebrüder Quinteros – Revuestücke und Musik von Gitarren- und Bandolinengruppen. Religiöse Stücke oder gar Reden lassen sich bei einer Durchsicht der Programme nicht entdecken. Auch wiederkehrende Ermahnungen der Verbandsleitungen an die Mitglieder, „uns religiös und wissenschaftlich weiterzubilden“ deuten darauf hin, dass beides nur eine untergeordnete Rolle in den Vereinigungen spielte.93 Die wichtigste Form neuer Persönlichkeitsformung über Gemeinschaftsbildung waren die marianischen Kongregationen (congregaciones marianas), welche ausgewählte Gruppen von Schülern jenseits des Klassenzimmers versammelten. In einem prestigeträchtigen Rahmen sollten sich die Kinder in den nach Altersstufen und Schülerstatus – es existierten getrennte Kongregationen für Tagesschüler und Pensionäre – getrennten Kongregationen christlich weiterbilden, durch karitative Akte Praktiken christlichen Lebens habitualisieren und ihren Glauben durch gemeinschaftliche spirituelle Erlebnisse vertiefen. Durch ihren elitären Status als Gemeinschaften einer Schülerelite sollten sie eine Vorbildfunktion für die übrige Schülerschaft ausüben und diese zugleich durch die mit ihnen verbundenen Zeremonien und Symbole anziehen. Die Kongreganten sollten als vorbildliche Christen ihre Mitschüler zur Nachahmung anhalten.94 Die Kongregationen waren schon im 16. Jahrhundert im Jesuitenorden eingeführt worden, wurden aber zwischen 1870 und 1890 an den jesuitischen Schulen wiederbelebt und breiteten sich nach dem Ersten Weltkrieg, nachdem sie einige Jahrzehnte an Bedeutung eingebüßt hatten, rasch über die Jesuitenschulen hinaus aus.95 Die Schulen des marianistischen Ordens führten beispielsweise die Kongregationen im Verlauf des Jahres 1921 ein, nachdem sich besonders ein Lehrer der Schule in Vitoria für ihre Gründung eingesetzt hatte. Die Hoffnung des Ordens war es, durch die neuen Gemeinschaften „wirkungsvoll zur religiösen Bildung der Schüler beizutragen“ und durch das gute Vorbild der Kongreganten deren „Kameraden auf den richtigen Weg zu bringen“. Die Bedeutung, welche die Erziehungsorden den Kongregationen als „bevorzugtem Mittel religiöser 93
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Siehe nur: Cuardo artistico: Velada en el Teatro de la Princesa, ebd.; Programas de las veladas que se celebrarán en la calle de la Madera, 40, los días 2, 16 y 23 del corriente mes de Marzo, Juventud 21, März 1930. Zu den Ermahnungen: El Comité de Redacción, A los Antiguos, El Pilar 8, März 1924; Agustín Cao Palma, Hacia una Federación: ¡¡Toque de alerta!! Juventud 24, Juni 1930. Revuelta González, Colegios, S. 342–47; Ders., De las Congregaciones Marianas a las Comunidades de Vida Cristiana, in: XX Siglos 6 (1995), S. 30–42; Mary Vincent, Gender and Morals in Spanish Catholic Youth Culture: A Case Study of the Marian Congregations 1930–1936, in: Gender & History 13 (2001), S. 273–97. Siehe zur allgemeinen Entwicklung: Lull Martí, Jesuitas y Pedagogía, S. 87–92, 528–38.
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Bildung“ zuwiesen, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Schulzeitschriften jeweils prominent über ihre Tätigkeit berichteten.96 In den 1920er und 1930er Jahren war die Tätigkeit der Kongregationen, welche die Kirche auch jenseits der Schulen zu einem wichtigen Instrument katholischer Vergemeinschaftung von Laien ausbaute, durch das Spannungsverhältnis zwischen zwei Tendenzen gekennzeichnet. Einerseits verfolgten sie in Kontinuität zum ausgehenden 19. Jahrhundert weiterhin ein wissenschaftlich-künstlerisches Bildungsprogramm. So sollten die neu gegründeten Kongregationen an der Schule in Vitoria Anfang der 1920er Jahre den Schülern erlauben, „ihre religiöse und moralische Bildung zu vervollkommnen und gleichzeitig ihren Verstand mit literarischem und naturwissenschaftlichem Wissen zu zieren“.97 Am Jesuitenkolleg El Salvador im Saragossa traten die Kongregationen Anfang der 1920er Jahre öffentlich vor allem mit „Vorträgen zu den Wissenschaften und harmonischen, brillianten Gedichten“ an die Schulöffentlichkeit und auch am Colegio de Nuestra Señora del Pilar in Madrid hatten die Auftritte der Kongregationen zu dieser Zeit die Form bürgerlicher Repräsentations- und Bildungsveranstaltungen mit einem festen Protokoll, Reden, Gedichtsrezitationen und Musik.98 Doch neben diese Aktivitäten trat immer mehr die Mobilisierung der Schüler für über die Schulmauern hinaus gehende religiöse Aktionen und Kampagnen in den Mittelpunkt der Vereinigungen.99 Schon die Kongregationen in Vitoria zeichneten sich, so wollten es zumindest sympathisierende Beobachter an der Madrider Schwesterschule sehen, nach ihrer Entstehung durch ein „ausgeprägtes apostolisches Leben“ aus, das sich auch in „religiös begeisterten Briefen“ an Schwestergemeinschaften an anderen Schulen äußerte, und ein Chronist des Jesuitenkollegs San José in Valladolid bemerkt sachkundig, dass die Schulleitung in den 1930er Jahren den Kongregationen „ihren rein kulturellen Charakter nahm“ und sie mit einem „unternehmenden, apostolischen Geist“ ausstattete.100 In den frühen 1930er Jahren nahm die Bedeutung praktischer religiöser Tätigkeit weiter zu. So sah es die Mädchenschule Jesús-María de San Gervasio in Barcelona 1935 als primäres Ziel der Gemeinschaften an, „in den Herzen der Mädchen die Flamme religiösen Eifers und religiöser kari-
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Vida Religiosa: La Congregación, Vida colegial 1, Dez. 1922; Ecos de las Congregaciones (El Secretario), Pilar 1, Jan. 1923. Zitat: Lull Martí, Jesuitas y Pedagogía, S. 87. Auch Enrique Herrera Oria sah in den Kongregationen „exzellente Mittel“, um aktive Christen zu formen: La crisis de hombres en España, Atenas 22, 15.7.1932. Vida Religiosa: La Congregación, Vida colegial 1, Dez. 1922. Los jovenes Congregantes; El Salvador 25, Jan. 1921; Luis Felipe Vivanco, Ecos de las Congregaciones, Pilar 7, Jan. 1924. Zur Entwicklung an den Jesuitenschulen siehe Lull Martí, Jesuitas y Pedagogía. S. 532f., der auf umfangreiche Bemühungen einer Neuausrichtung der Kongregationen in den Jahren 1919–1921 hinweist. Ecos de las Congregaciones, El Pilar 1, Jan. 1923; Fernández Martín, Historia. S. 218.
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tativer Spiritualität zu entzünden“.101 Schon 1930 hatte das Kolleg El Salvador die Ziele und Aufgaben der Kongregationen rein religiös definiert. Es ging um „ein marianisches Leben, die Höherentwicklung der christlichen Tugend und einen praktisch wirksamen Eifer in der Vermittlung des Katechismus.“102 Ziel war es, nicht nur fromme Vereinigungen zu schaffen, sondern Zusammenschlüsse auserwählter, apostolischer Persönlichkeiten, welche als religiöse Avantgarde ihre Mitschüler mit sich ziehen und auch über die Schulgrenzen hinaus wirken sollten.103 Viele Kongregationen formten sich seit Mitte der 1920er Jahre zu politischen Jugendgruppen der Katholischen Aktion an den Schulen um. An den Jesuitenkollegs El Salvador wie San José (Valencia) nahmen die Kongregationen an Veranstaltungen der örtlichen Katholischen Aktion teil und das exilierte Kolleg in Curía nannte die „Annäherung an die weltumspannende Bewegung der Katholischen Aktion“ sogar als ein Hauptziel der Tätigkeit der Vereinigungen: „Jeder gute Kongregant in Curía bereitet sich vor, um zur Renaissance (resurgimiento) christlichen Lebens in Spanien beizutragen und ein brauchbares Mitglied der Katholischen Aktion zu werden“.104 Die Kongregationen wandelten sich von Vereinigungen bürgerlicher Selbstbildung und Repräsentation zu apostolischen Missionsgemeinschaften. Allerdings wies die Vergemeinschaftungsform der marianischen Kongregationen an den Schulen zwei grundlegende Widersprüche auf, welche ihre Funktion als Schmelztiegel neuer christlicher Persönlichkeiten in Frage stellten. Zunächst betraf dies die Frage nach der Anzahl der Kongreganten. Während die Vereinigungen ursprünglich nur eine ausgewählte Schülerelite zusammenführen sollten, wollten die Schulen jedoch möglichst vielen Schülern die intensivere und persönlich verpflichtendere religiöse Schulung zukommen lassen, welche die Kongregationen zu bieten schienen. Zudem existierte ein unterschwelliger Druck der Elternschaft, möglichst vielen Schülern den Prestigegewinn einer Zugehörigkeit zu den Kongregationen zu ermöglichen. Beide Faktoren führten dazu, dass es an vielen Schulen zu einer Aufweichung der Aufnahmebedingungen kam, so dass an ihnen Mitte der 1920er Jahre fast alle Schüler Mitglied der Kongregationen waren. Dieser Umstand lief jedoch der religiösen und sozialen Funktion der Kongregationen, Orte verdichteter Religiosität und soziale Vorbilder im Schulleben zu sein, zuwider. Kritiker bemängelten denn auch eine „Vermassung“ der 101
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Anzeige Colegio de Jesús-María, de San Gervasio, Barcelona, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1935/36, Madrid 1935. Siehe auch: Congregaciones, Juventud 28, Okt–Nov. 1930. Carta del Alumno Fernando Marzo a Eugenio Zurbitu, El Salvador 136, Abril 1930. Lull Martí, Jesuitas y Pedagogía, S. 92. Carta del Alumno Fernando Marzo a Eugenio Zurbitu, El Salvador 136, Abril 1930; Lull Martí, Jesuitas y Pedagogía, S. 536f.; Congregación Mariana de San Luís Gonzaga, Nuevos Jovenes 7, 28.2.1935; Aufruf, Nuevos Jovenes 9, 31.3.1935. Zur engen Verknüpfung von Kongregation und den katholischen politischen Jugendverbänden siehe auch: Consigna Quincenal de la Legión, Nuevos Jovenes 28, 10.7.1936.
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Vereinigungen, eine Abkehr vom Ziel der intensiven religiösen Schulung und ihre Degeneration zu rein repräsentativen Verbänden.105 Ein zweiter Widerspruch betraf die Aufnahmekriterien und in weiterer Perspektive die Frage nach der Stellung der Kongregationen im hierarchischen Gefüge der Schulen. Puristen kritisierten, dass nicht wie vorgesehen der religiöse Eifer des einzelnen Schülers über eine Aufnahme bestimmte, sondern vor allem seine Noten, so dass in der Praxis die Aufnahme mehr als Belohnung für gute schulische Leistungen denn als religiöse Auszeichnung erfahren wurde.106 Tatsächlich belegen Berichte in den Schulzeitungen, dass viele Kongreganten die Teilnahme am Leben der Vereinigungen als lästige Pflicht betrachteten, der sie sich möglichst zu entziehen trachteten. So beschwerte sich ein Erzieher des Marianistenkollegs in Madrid 1924 über die geringe aktive Beteiligung vieler Schüler. Viele wöchentliche Zusammenkünfte musste der erwachsene Leiter aufgrund der Verweigerung der Schüler, Beiträge vorzubereiten, ganz alleine bestreiten. Manche Kongreganten hätten es zudem vorgezogen, ins Kino zu gehen, anstatt zu einem, in den Weihnachtsferien angesetzten Treffen, zu erscheinen. Und auch die Schulleitung der Piaristenschule bemängelte 1930, dass „der Einsatz und der Enthusiasmus der Kongreganten, an den Veranstaltungen der Kongregation teilzunehmen“, zu wünschen übrig lasse.107 Vor dem Hintergrund dieser Kritik häuften sich in den 1920er Jahren Forderungen nach einer christlichen Erneuerung der Kongregationen. Ein reformorientierter Pädagoge am Valencianer Jesuitenkolleg forderte in diesem Sinne, dass die Vereinigungen vollständig auf das innere Leben der Schüler auszurichten seien und der Beitritt auf einer freiwilligen Entscheidung der Heranwachsenden beruhen müsse. Bezeichnenderweise waren es zudem gerade die Protagonisten einer religiösen Intensivierung des Schullebens und einer christlichen Elitenbildung, welche für ein stärker egalitäres und weniger durch Zwang geprägtes inneres Leben der Gruppen eintraten. Um den religiös-formativen Charakter der Vereinigungen durchzusetzen, so ihr Argument, sei es notwendig, die Kongregationen zu aus der Schuldisziplin herausgehobenen Orten zu machen, in denen die normalen Disziplinierungsmittel der Schule suspendiert werden sollten. Nur so ließe sich eine wahre christliche Gemeinschaft der Schüler erzeugen.108 Diese Reformvorstellungen bildeten die 105
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Revuela González, Colegios, S. 346; Lull Martí, Jesuitas y Pedagogía, S. 532f. Zwar existierten an vielen Schulen auch den Kongregationen an die Seite gestellte religiöse Organisationen für die gesamte Schülerschaft, die Apostolado de la Oración genannt wurden, doch entfalteten diese kaum selbstständige Aktivität und scheinen bloße Pflichtverbände gewesen zu sein. Ebd. Pedro. G. Ormaechea, El Secretario de la Sección de Pilar, Ecos de la Congregación, Pilar 8, März 1924; Sección Religiosa, Juventud 28, Okt–Nov. 1930. Siehe auch: Luis Felipe Vivanco, Ecos de las Congregaciones, Pilar 7, Jan. 1924. Lull Martí, Jesuitas y Pedagogía, S. 92.
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Grundlage von radikal anmutenden Renovationsversuchen in der Mitte der 1920er Jahre. Die Leitung des Kollegs San José in Valencia löste beispielsweise 1925/26 alle Kongregationen auf und bildete sie nach exklusiveren Kriterien neu. Langfristig waren diese Bemühungen jedoch nur partiell erfolgreich und ließen die Kritiker nicht verstummen.109 Die Schulen und die katholische Bewegung diskutierten deshalb intensiv weitere Instrumente jenseits der Kongregationen, eine aktive Religiosität der Heranwachsenden zu fördern. Gewisse Bedeutung gewann der Versuch, Missionssektionen als gesonderte Gruppen engagierter Christen innerhalb der marianischen Kongregationen oder aber als separate Vereinigungen an den Schulen zu etablieren. Der Missionsgedanke und Berichte über katholische Missionen außerhalb von Europa spielten in den 1920er und 1930er Jahre eine wichtige Rolle. Dies war weniger den schnelleren Kommunikationswegen und der Möglichkeit geschuldet, über das Medium Film die Arbeit der christlichen Missionare plastischer als bisher den Kindern in Spanien zu präsentieren, als vielmehr dem Umstand, dass die Figur des Missionars als Vorbild für die Persönlichkeitsbildung an Relevanz gewann. Nach Art der Missionare sollten auch die katholischen Schüler spätestens mit dem Schulabschluss in die Welt gehen und der Entchristlichung Spaniens entgegentreten. Am Kolleg El Salvador berichteten Schüler von einer Vielzahl von „Vorträgen, Briefen, Filmen und anderen Dingen, die uns von den Missionen erzählen.“ Viele Schulen abonnierten eines der vielen an Heranwachsende gerichtete Missionsblätter, welche nicht nur über die Arbeit mit Kindern in Übersee informierten, sondern auch als Kommunikationsmedien der Missionsgruppen an den katholischen Schulen dienten.110 Das Colegio Nuestra Señora del Pilar veranstaltete öfter Basare und Lotterien, in denen Geld für die Missionsarbeit gesammelt wurde, und veröffentlichte in der Schulzeitung Bilder derjenigen Schüler, die sich durch besonderen Einsatz in der Missionsarbeit ausgezeichnet hatten. Wie an anderen Schulen auch, existierte in Curía in den 1930er Jahren eine aktive Schülergruppe Apostolado de las Misiones, welche Spendensammlungen durchführte, Filmvorführungen organisierte und brieflichen Kontakt mit Missionsschulen unterhielt.111 Ähnlich wie die Missionsgruppen sollten an einigen Schulen auch spezielle „Propagandasektionen“ eine rein schulbezogene Tätigkeit der Kongregationen durchbrechen und ihre Mitglieder an ein christliches Wirken außerhalb der Schulen gewöhnen. Die 109 110
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Ebd., S. 534f. Carta del Alumno Fernando Marzo al RP Eugenio Zurbitu, El Salvador 136, Abril 1930. Als Beispiel für eine Missionszeitschrift siehe: Ecos de mit Colegio (Salamanca). Siehe zur Zielsetzung etwa: Miriam, Para Juventud Misionera, Ecos de mi colegio 94, Jan. 1936. Zur Allgegenwart von Berichten aus der Missionsarbeit siehe weiterhin: Recuerdos del Año Escolar, Colegio de Nuestra Señora del Recuerdo (Madrid), Memoria del curso de 1926–1927, S. 31. Crónica, El Pilar 2, o.D.; Crónica 8, März 1924; Foto, El Pilar 59, Juni 1935; La Vida en Curía, Nuevos Jovenes 7, 28.2.1935.
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Propagandisten besuchten Krankenhäuser, traten aber vor allem als Katechisten an den kostenlosen katholischen Primarschulen und in Sonntagsschulen der Pfarreien auf.112 War die Arbeit der Missions- und Propagandagruppen noch eng in das Programm der Kongregationen eingebunden, stellten die sogenannten „Studienzirkel“ (círculos de estudio) ein grundlegend neues Instrument religiöser Persönlichkeitsbildung dar. Diese Zirkel haben ihren Ursprung in der katholischen Jugendbewegung Frankreichs des ausgehenden 19. Jahrhunderts, erfuhren in Spanien aber erst in den 1920er Jahren eine späte, dafür aber umso machtvollere Rezeption.113 In den Studienzirkeln kamen ein- oder mehrmals in der Woche außerhalb des eigentlichen Unterrichts ausgewählte Gruppen von Schülern zusammen, um über die gemeinsame Lektüre und Diskussion religiöser Texte ihren Glauben zu vertiefen. Die Zirkel fanden unter Aufsicht eines Priesters statt, brachen aber in ihrer deutlich egalitären Ausrichtung mit der hierarchischen Schulstruktur. Nach den Worten ihrer Verfechter sollten sie „Zusammenkünfte von Freunden und Kameraden“ sein. Zwar erschien die Anwesenheit eines geistlichen „Experten“ bei den Schülerdiskussionen weiterhin als unentbehrlich, doch wurde seine Rolle dezidiert als die eines primus inter pares festgelegt. Um erfolgreich zu sein, mussten „Freiwilligkeit und Freiheit“ sowie „Freundschaft und Vertrauen“ die bestimmenden Merkmale der Zusammenkünfte sein. Im Unterschied zu Predigten und Vorträgen, welche „in so vielen Fällen den Ohren des Hörers schmeicheln und seine Gefühle bewegen, aber kein wirkliches Verständnis herbei führen und deshalb kaum langfristige Auswirkungen auf seinen Willen haben“, sollten die ernsthaften und offenen Diskussionen, die auch Zweifeln Raum gaben, ein tiefgreifendes und persönliches Verständnis der christlichen Wahrheiten ermöglichen.114 Die Leitung des unter dem Tarnmantel einer säkularen Akademie fortbestehenden Madrider Kollegs Nuestra Señora de las Maravillas wählte 1935 jeweils fünfzehn Schüler aus jeder Klasse aus, um einmal in der Woche „in freier Atmosphäre“ religiöse Fragen zu debattieren. Die Schulverwaltung war mit den Ergebnissen der Studiengruppen zufrieden und versuchte, so viele Schüler wie möglich für sie zu gewinnen.115 In Curía verfügte der Studienzirkel über eine eigene Bibliothek und ein Studierzim112 113
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Lull Martí, Jesuitsas y Pedagogía, S. 531. Feliciano Montero, Juventud y Política. Los Movimientos Juveniles de Inspiración Católica en España: 1920–1970, in: Studia Historica. Historia Contemporánea 5 (1987), S. 106– 21, hier S. 106f. Gute Beschreibungen der Funktionsweise der Zirkel finden sich in: Círculos de Estudios, Juventud 27, Sep. 1930; Sergarte, Los Circulos de Estudios en un colegio, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1935/36, Madrid 1935, S. 72–77; J. Perez Balsera, Maneras de celebrar Círculos de Estudio, La Flecha 44, Jan. 1936. Zur Einführung in Spanien siehe auch: Gudin de la Lama, Colegios, S. 286–88; Sergarte, Los Circulos de Estudios en un colegio, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1935/36, Madrid 1935, S. 72–77.
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mer mit Arbeitsbänken, an denen die Teilnehmer sich auf die Sitzungen vorbereiten und Exposés ausarbeiten konnten. Die Arbeit im Studienzirkel, so die überbordende Hoffnung der Schulleitung, werde sie darauf vorbereiten, „in der Zukunft diejenigen katholischen Intellektuellen (polemistas) zu sein, die in der Presse, vom Lehrpult, in Versammlungen (mítin) und überall unsere heilige Religion zu erklären und zu verteidigen wissen.“116 Die Studienzirkel waren ein Dauerthema der katholischen pädagogischen Diskussion der 1930er Jahre. Die katholischen Reformer betrachteten es als eines der wichtigsten Mittel moderner Persönlichkeitsbildung. In der Zeitschrift des allgemeinen Katholischen Jugendverbandes La Flecha bildeten sie im ersten Halbjahr 1936 ein Hauptthema, das einen Großteil der Druckseiten einnahm.117 Die katholischen Erzieher vor dem Bürgerkrieg hofften, eine aktivere religiöse Identifizierung der Schüler durch eine Abkehr von hierarchischen Lehrmethoden und Disziplinierungsmaßnahmen und die Bildung egalitärer Lern- und Interaktionsräume zu erreichen. Die Studienzirkel sollten Defizite der marianischen Kongregationen ausgleichen. Obwohl sie von den katholischen Pädagogen nicht nur an den Schulen, sondern auch in Jugendgruppen und anderen Vereinigungen propagiert und an unterschiedliche Bildungsniveaus angepasst wurden, setzten ihre grundsätzlich intellektuelle Prägung und ihr elitärer Anspruch ihrer Breitenwirksamkeit jedoch deutliche und gewollte Grenzen.118 Um auch andere Schülerkreise auf neue Weise christlich zu formen, führten die Schulen deshalb weitere Organisationsformen ein, welche den Akzent weniger auf Verstandesarbeit und mehr auf praktische Tätigkeit legten. Vor diesem Hintergrund ist die Etablierung der katholischen Pfadfinderbewegung an den katholischen Einrichtungen in den frühen 1930er Jahren zu verstehen. Diese verfolgten ebenso wie die Ehemaligenorganisationen, Kongregationen und Studienzirkel das Ziel einer sowohl freiwilligen wie aktiven christlichen Selbstformung. Die Pfadfinder repräsentierten das neue Ideal katholischer Disziplin, die nicht von außen oktroyiert, sondern internalisiert war und auf einem tieferen religiösen Verständnis beruhte. Gerade in Zeiten, in denen das öffentliche Auftreten der Katholiken aufgrund der laizistischen Gesetzgebung stark erschwert war, strahlten die vermeintlich selbstdisziplinierten Pfadfinder eine hohe Anziehungskraft aus. Um eine aktive Identifizierung der Kinder mit dem katholischen Glauben zu erreichen, waren die Pädagogen bereit, ihnen ein bisher unbekanntes Maß an Autonomie zuzugestehen.119 116 117 118
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Circulos de Estudios, in: Nuevos Jóvenes 7, 28.2.1935. Siehe nur die Chronik aus den einzelnen Untergruppen: De las dicocesis, La Flecha 44, Jan. 1936. Siehe nur den Bericht über die Studienzirkel in der Madrider katholischen Jugendorganisation Juventud Antoniona: Manuel Vigil y Vazquez, Selección, Hogar Antoniano 43, Feb. 1936. Hispánicus, Los Exploradores o „Boy-Scouts“ en un colegio católico, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1935/36, Madrid 1935, S. 22–27.
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Die Gründung von Pfadfindergruppen an den katholischen Schulen verweist auf eine letzte grundlegende Entwicklung der Schulen. Der neue persönlichkeitspolitische Zugriffsversuch auf Kinder ging mit einer nationalpatriotischen Durchdringung der Schulen und Schüler einher. Viele Schulen hatten schon um die Jahrhundertwende von ihrer spanisch-patriotischen Ausrichtung keinen Hehl gemacht, doch standen sie noch nicht für die Gesamtheit der Schulen. Nach der Machtergreifung Primo de Riveras 1923 versuchte die kirchliche Hierarchie die Schulen auf neue Weise zu Agenten nationaler Gesinnungsbildung zu formen. In einem Rundbrief vom 17. Mai 1924 forderte der Bischof von Madrid-Alcalá in diesem Sinne alle Orden auf, den Religionsunterricht in spanischer Sprache abzuhalten. Er wandte sich damit vehement gegen „jene Schulen, und oft sind es diejenigen, die sich für die elegantesten halten, in denen man ein wenig den patriotischen Teil der Bildung und Erziehung vergisst“.120 Die Kritik richtete sich vor allem gegen die ursprünglich aus Frankreich stammenden Orden in Spanien, die nach dem Verbot katholischer Privatschulen in Frankreich 1904/05 einen großen Zustrom an Lehrkräften aus dem Nachbarland erhalten hatten. Auch auf Wunsch vieler Eltern, „welche glauben, dass derjenige eleganter ist, besseren Geschmack verrät und mehr soziale Distinktion erreicht, der seine Kinder „auf ausländische Weise“ (a la extranjera) erziehen lässt“, wie der Madrider Bischof kritisierte, unterrichteten viele Schulen auf Französisch und verboten es ihren Schülern sogar teilweise, auf dem Schulhof Spanisch zu reden. Durch diese Maßnahmen würden jedoch, so fürchtete der Bischof, ungewollt „antipatriotische Dispositionen“ unter den Kindern verstärkt, da sie die spanische Sprache ausländischen Sprachen unterlegen hielten. Auch andere katholische Autoren kritisierten, dass viele Oberschichtenkinder, welche die zukünftigen Eliten stellten müssten, in einer nicht-nationalspanischen Atmosphäre von „Misses und Fräuleins“ erzogen würden.121 Mit dem Versuch einer neuen religiösen Formung der Heranwachsenden, geriet diese stärker kosmopolitisch ausgerichtete Erziehung in die Kritik. Der neue Christ sollte gleichzeitig ein spanischer Christ sein. Seit dem Ende der 1920er Jahre lässt sich in diesem Kontext auch eine zunehmend politisch-militärische Aufladung religiöser Persönlichkeitsbildung beobachten, die sich in den Beschreibungen idealer Schülerpersönlichkeiten niederschlug. Die Schulzeitungen bezeichneten diese nun vermehrt als „Soldaten Christi“, als „Kreuzritter des 20. Jahrhunderts“ oder als „Phalanx von Erneuerern“. El Pilar ermunterte seine Leser 1935 wie 120
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Circular del Prelado de la Diócesis de Madrid-Alcalá, acerca del uso de lenguas extranjeras en los Colegios Católicos, in: Revista Calasancia 12 (1924), S. 498–501. Zum älteren Patriotismus siehe etwa: Mario Pascual y del Río, Tradición gloriosa, El Colegial 1, 8.12.1901. Circular del Prelado de la Diócesis de Madrid-Alcalá, acerca del uso de lenguas extranjeras en los Colegios Católicos, in: Revista Calasancia 12 (1924), S. 498–501; P.A. Villanueva, La Educación patriótica: El Niño, in: Revista Calasancia 12 (1924), S. 747– 51.
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folgt: „Vorwärts! Schüler von El Pilar, junge Katholiken, ergreift das Schild und führt das Schwert, in der Verteidigung eures göttlichen Führers“.122 Allerdings waren diese Beschreibungen ambivalent. Sie verweisen zwar auf eine Politisierung der Heranwachsenden und auch auf den Bedeutungszuwachs militärischer Vorbilder und Organisationsformen an den Schulen. Doch verbargen sich hinter der militanten Rhetorik oftmals in der Zwischenzeit etablierte Aufrufe zur Selbstreform. Die Stoßrichtung des im zitierten Aufsatz ausgerufenen „Kreuzzuges“ zielte beispielsweise hauptsächlich auf einen inneren Kampf der Schüler gegen in ihnen tobende Passionen. Die schulische Pfadfinderbewegung stand im Brennpunkt der widersprüchlichen Haltung der Schulen gegenüber einer Politisierung und Militarisierung der Heranwachsenden innerhalb des antirepublikanischen Lagers. Die Pfadfinderei hatte bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg an einer ganzen Anzahl katholischer Schulen Madrids, darunter auch den Piaristenschulen San Antón und San Miguel, Eingang gefunden. Neben einer Befürwortung aufgrund ihrer vermeintlich „großen pädagogischen Bedeutung“ traf sie jedoch in dieser Zeit auch auf starke Vorbehalte der Schulleitungen. Diese befürchteten einerseits eine zu weitgehende Unabhängigkeit der Gruppen und forderten deshalb nicht nur die Unterstellung der Pfadfindergruppen unter die Schuldisziplin, sondern auch deren dreifache erwachsene Kontrolle durch einen Lehrer, den Gruppenleiter und die Eltern. Andererseits befürchteten sie eine schädliche Konkurrenz der Pfadfinder in Hinblick auf bereits existierende fromme Schülervereinigungen.123 Trotz der Vorbehalte konnte sich die Pfadfinderbewegung jedoch an den Piaristenschulen etablieren, ohne allerdings eine prominente Rolle im Schulleben einzunehmen. Sie traten einige Jahre als dekorierendes Element am Rande von Schulfesten auf, bevor ihre Tätigkeit Anfang der 1920er Jahre zum Erliegen kam.124 Erst in den 1930er Jahren entdeckten die katholischen Schulen die Pfadfinderei auf neue Weise. Angesichts der auch physischen Bedrohung von Kirche und Ordensschulen sahen sie in den uniformierten Pfadfindern neben den beschriebenen Vorteilen einer christlichen Selbstbildung der Schüler Potentiale einer zumindest symbolischen Gegenwehr gegen die äußeren Anfeindungen. 122 123
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Siehe nur: Un Pensamiento Cristiano, El Pilar 59, Juni 1935. Zur Diskussion siehe: R. Gutiérrez, Actualidad pedagógica (Los Boy-Scouts), in: Revista Calasancia 1 (1913), S. 516–17; E. Fuentes, Los Scouts y la pedagogía moderna, in: ebd., S. 656–67; E. Fuentes, Los Scouts Católicos y los Exploradores de España, in: ebd., S. 784– 95. Zu diesem Zeitpunkt konkurrierten zwei katholische Pfadfinderbünde in Spanien. Während die Exploradores de España sich nach dem Gebietssystem organisierten, allen Kindern offen standen und deshalb von den Piaristen als zu wenig katholisch abgelehnt wurden, bestand die Asociación Católica de Scouts Españoles aus Untergruppen in den Schulen. Diese besaßen eine sehr weitgehende Autonomie gegenüber dem Gesamtverband und erlaubten der Schulleitung eine bessere Kontrolle der Gruppen. Crónicas Mensuales, in: Revista Calasancia 2 (1914); La fiesta de la raza en Villacarriedo, in: Revista Calasancia 8 (1920), S. 469.
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Das Colegio de Nuestra Señora del Pilar brüstete sich anlässlich einer Messe mit vierhundert katholischen Pfadfindern am 28. April 1935 in Madrid damit, ein wesentlicher Förderer der Bewegung in der Hauptstadt gewesen zu sein. Ihr aktivistischer Gestus und ihre vormilitärischen Rituale waren wesentliche Elemente ihrer neuen Attraktivität. Die Pfadfindergruppen, so erläuterte der katholische Schulführer von 1935, erziehe „die zukünftigen Staatsbürger, die sich in kommenden Jahren für Gott und Vaterland opfern werden müssen“.125 Die Pfadfinder waren gerade an den reformorientierten Schulen sehr aktiv. Die Beschreibungen ihrer vor allem praktischen und körperlichen Aktivitäten am Kolleg San José deutet dabei darauf hin, dass sie vor allem diejenigen Schülergruppen ansprachen, welche sich nicht zu den intellektuell-religiösen Gemeinschaften hingezogen fühlten oder in diese aufgrund ihrer Schulleistungen nicht aufgenommen wurden.126 Angesichts der Skepsis vieler Eltern, aber auch kritischer Katholiken bemühte sich die Schulleitung jedoch gleichzeitig, die neue Bewegung sowohl von den traditionellen Batallones Infantiles als auch von säkularen Jugendgruppen abzugrenzen. Zudem blieb bis zum Beginn des Bürgerkrieges ihre Aktivität strikt auf die Schulen und ihr Umfeld beschränkt. Sie waren zu keinem Zeitpunkt paramilitärische Jugendverbände, die sich in eine aktive Auseinandersetzung mit gegnerischen Jugendgruppen begaben.127 Allerdings sollte der Beginn des Bürgerkrieges deutlich machen, dass der Schritt von den Pfadfindergruppen hin zur bewaffneten Auseinandersetzung oft ein kleiner war. Die Pfadfindergruppen weisen in ihrer widersprüchlichen Mischung aus Autonomie und freiwilliger Aktivität einerseits, rigoroser Disziplin und religiös-patriotischer Selbstmobilisierung andererseits auf unterschiedliche, potentiell widersprüchliche Stoßrichtungen katholischer Kinderreform an den Schulen hin. Im folgenden Kapitel sollen diese Stoßrichtungen, aber auch die Grenzen katholischer Persönlichkeitsreform genauer diskutiert werden.
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Hispánicus, Los Exploradores o „Boy-Scouts“ en un colegio católico, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1935/36, Madrid 1935, S. 22–27; La promesa de los „Scouts-Hispanos“, El Pilar 59, Juni 1935. Siehe auch: Colegios y Colegiales, Esto, 12.7.1934. Indizien hierzu enthält der Bericht: Fiebre de estudio, Nuevos Jovenes 23, 15.12.1935. Die Schulzeitung umfasste 1935 jeweils eine ganze Seite mit Berichten über die Pfadfindergruppen der Schule. Siehe auch: Carlos Sancho Bellido, Una interviú con el Jefe de los Exploradores, ebd. La promesa de los „Scouts-Hispanos“, El Pilar 59, Juni 1935.
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1.4 Zwischen Kreuzzug und Kino. Typen neuer Schulen und die Widersprüche religiös-politischer Mobilisierung Bis hierhin wurde die Dynamik der Persönlichkeitsbildung an den katholischen Schulen im Wesentlichen als einheitlicher Prozess beschrieben. Diese Darstellung muss nun erweitert und differenziert werden. Es lassen sich im Übergang von den 1920er zu den 1930er Jahren unterschiedliche Modelle neukatholischer Schulen unterscheiden, in denen jeweils andere Stoßrichtungen katholischer Persönlichkeitsbildung dominierten. Bisher haben wir uns hauptsächlich mit Jungenschulen beschäftigt. Die deutlich bessere Überlieferungslage von diesen Schulen ist ein Indiz dafür, dass die katholischen Pädagogen sich in der Praxis zunächst mit der Reform der Schulen für Jungen beschäftigten. Allerdings bedeutet dieser Befund nicht, dass die Reformen die Mädchenschulen nicht erreicht hätten. Die Mädchenschulen vollzogen den Wandel religiöser Persönlichkeitsbildung mit.128 Auch Werbeanzeigen von Mädcheninternaten unterstreichen die Modernität ihrer Schulen und die Adaptation neuer, schülerzentrierter Unterrichtsformen. So betonte die katholische Mädchenschule Nelly’s School in Barcelona die Verwendung „der modernsten Unterrichtsmethoden“ und betonte, „dass die Individualität der Schülerinnen stets respektiert und stimuliert wird“.129 Und das ebenfalls in Barcelona beheimatete Colegio de Nuestra Señora de Loreto warb nicht nur mit einer Schulordnung, „welche für die Schülerinnen in höchstem Grade angenehm ist“ und mit Gärten und Tennisplätzen zur körperlichen Betätigung, sondern bot sogar wahlweise Klassen an, die der Pädagogik Maria Montessoris folgten. Das Madrider Instituto del Sagrado Corazón unterrichtete selbst in der Sektion für Schülerinnen aus der Arbeiterschaft nach reformpädagogischen Konzepten, in diesem Fall denjenigen des französischen Reformpädagogen Decroly, und wollte seine Sekundarschülerinnen darauf vorbereiten, „wie es die modernen
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Weiterhin muss zugestanden werden, dass sich die dargestellte Intensivierung religiöser Bildung stärker an ältere Kinder an weiterführenden Schulen denn an Primarschüler richtete. Doch auch im Primarbereich ist das Bestreben nach einer neuen Form aktiver Religiosität der Schüler deutlich erkennbar. Spirituelle Exerzitien und marianische Kongregationen führte das Colegio El Pilar beispielsweise schon für die Schüler seiner Primarstufe ein und eine neue, stärker an den Interessen der Schüler ausgerichtete religiöse Unterweisung konnte sich auch an vielen kostenlosen Schulen für Arbeiterkinder durchsetzen. Pedro. G. Ormaechea, Ecos de la Congregación, El Pilar 8, März 1924; Catecismo Vivente, BIT 203 (Dez. 1931). Anzeige Nelly´s School, S.A., Barcelona, in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1935/36, Madrid 1935.
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Zeiten verlangen, an Universitäten zu studieren und Berufskarrieren zu verfolgen“.130 Ein genauerer Blick auf die Mädchenschulen der Institución Teresiana vermag Auswirkungen und Besonderheiten des Wandels an den katholischen Mädcheninstitutionen herauszustellen. Zunächst muss festgehalten werden, dass sich die Ziele und Formen apostolischer Mobilisierung an den „Häuser“ (casas) genannten Reformschulen der Theresianerinnen wenig von denjenigen an den bisher betrachteten Jungenschulen unterschieden. Kurze Stichpunkte können an dieser Stelle als Belege genügen. Wie die Jungenschulen hatten die Mädchenschulen das doppelte Ziel, einerseits ihren Schülerinnen eine Allgemeinbildung zu vermitteln, welche zumindest einem Teil von ihnen die Aufnahme eines Universitätsstudiums ermöglichen sollte, andererseits aber auch „Apostel Marias“ (apóstoles marianos) heranzubilden.131 Mit dieser doppelten Ausrichtung grenzten sich die Schulen in zweifacher Weise von älteren Modellen frommer, auf eine Zukunft als Ehefrau ausgerichteter Mädchenbildung ab. Gerade in den 1930er Jahren häuften sich die Aufforderungen an die Schülerinnen, in der Öffentlichkeit missionierend zu wirken und damit ein neues Feld weiblicher Aktivität zu erobern. Die apostolische Ausrichtung der Erziehung schlug sich in einer Gebotsliste nieder, welche die zweite nationale Versammlung ehemaliger Schülerinnen Januar 1931 verabschiedete. Sie machte die Akzeptanz von sieben Geboten zur Voraussetzung für den Beitritt zur Anfang der 1920er Jahre gegründeten Vereinigung. Darunter befanden sich die Gebote, aktiv am Leben der Pfarreien mitzuwirken, die katholische Religion zu verteidigen, die eigenen Schülerinnen, Bekannte und Verwandte vom Besuch unmoralischer Veranstaltungen abzuhalten und sie zur Übernahme christlicher Verhaltensweisen zu bewegen.132 Neue Ausbildungsziele und die apostolische Ausrichtung der Schulen führten wie an den Jungenschulen zu einer Öffnung gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt. Die Schulen führten häufige Exkursionen auch in Industriebetriebe der jeweiligen Region durch und boten ihren Schülerinnen die Möglichkeit, an kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen. Die Madrider Schülerinnen besuchten im Schuljahr 1924/25 etwa „so viele Ausstellungen
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Anzeige Colegio de Nuestra Señora de Loreto, ebd.; Luisa M. de Aramburu, Colegios y Colegiales: El Pensionado del Sagrado Corazón, Esto, 9.8.1934. Siehe auch: Para las hijas del obrero. Dos aspectos del Colegio de Jesús y María en San Gervasio, Los Hijos del Pueblo, 29.10.1931. Por la rendija (Crónica de nuestras casas), Mi Revista 3, Dez. 1934; Josefa Segovia, Una subida al Calvario, BIT 254, Mai 1936. Siehe auch schon: Crónica de los Internados Teresianos en el año escolar 1924/25, S. 220, Archiv der Institución Teresiana, Madrid. La segunda Asamblea de Antiguas Alumnas, BIT 194, Jan. 1931. Siehe auch: Josefa Segovia, Sembradoras de bien, Mi Revista 3, Dez. 1934; Nuestro Labor en el Curso 1925/26, Archiv der Institución Teresiana, Madrid, S. 223.
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wie es der Mühe lohnte“.133 Andererseits führte die Institución mit Ausnahme der marianischen Kongregationen die wichtigsten neuen religiösen Bildungstechniken ein. Religiöse Exerzitien in der Karwoche und oft auch im Oktober, die oft von Jesuiten geleitet wurden, waren in den 1920er und 1930er Jahren ein fester Bestandteil des Schuljahres und in den 1930er Jahren etablierten sich auch die Studienzirkel in den Häusern. Die Pädagogin María de Echarri forderte in diesem Sinne 1931 die Einrichtung „wirklicher Studienzirkel, in welche die Schülerinnen eingreifen“.134 Die Theresianischen Schulen standen dabei nicht alleine. In den 1930er Jahren existierten auch in den katholischen Jugendverbänden Madrids spezielle Studienzirkel für Mädchen.135 Glichen diese auf ein öffentlich bekennendes und missionierendes Christentum ausgerichteten Aktivitäten sehr weitgehend allgemeinen Entwicklungen an den Jungenschulen, so lassen sich doch auch einige spezifische Akzente erkennen. Zunächst betraf dies die Schwerpunktsetzung der apostolischen Arbeit. Die Institución richtete erstens früh missionarische Verbände an den Schulen ein (Juventudes Teresiana Misionaria), welche über Spendensammlungen, Fürbitten, Lotterien und Briefe die christliche Missionsarbeit vor allem in Japan unterstützten und eine größere Bedeutung als an den Jungenschulen erhielten. Zweitens nahm die karitative Propagandaarbeit eine herausgehobene Bedeutung ein. Die Schulen organisierten einmal im Jahr einen Aktionstag, an dem die Schülerinnen in Krankenhäusern, Gefängnissen, Schulen, aber auch den Arbeitervororten der Städte religiöse Medaillen, Bilder und Hefte verteilten, Almosen verschenkten und Bilder der Jungfrau Maria aufhängten.136 Drittens schließlich bemühten sich die Schulleitungen, im Einklang mit den Frauenverbänden der Katholischen Aktion, zu denen vielfältige und enge Beziehungen existierten, „Kampagnen für christliche Bescheidenheit“ an den Schulen ins Leben zu rufen. Die Schülerinnen sollten durch ein Eintreten für dezente Kleidung für eine öffentlich sichtbare Rechristianisierung wirken.137 Jenseits dieser Akzente versuchten die Schulen jedoch auch, sich zu egalitär ausgerichteten neuen Gemeinschaften umzubilden. In Abgrenzung zu den kalten Internaten klassischen Typs, wollten sie utopisch anmutende Orte der 133 134
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Siehe die Berichte der einzelnen Schulen in: Crónica de los Internados Teresianos en el año escolar 1924/25, Archiv der Institución Teresiana, Madrid. María de Echarri, De Sociología, BIT 200, August/Sep. 1931. Siehe auch: María de Echarri, Temas para Círculos de Estudios Sociales, BIT 250, Jan. 1936; Crónica de los Internados Teresianos en el año escolar 1926/27, Archiv der Institución Teresiana, Madrid; Adviento, Mi Revista 2, Dez. 1934. Círculo de Estudios de la Sección Femenina, Hogar Antoniano 43, Feb. 1936; Círculo de Estudios de la Sección Femenina, Hogar Antoniano 45, April 1936. Siehe etwa: Nuestro Labor en el Curso 1925/26, Archiv der Institución Teresiana, Madrid, S. 223. Nuestro Labor en el Curso 1925/26, Archiv der Institución Teresiana, Madrid, S. 223. Zur anhaltenden Bedeutung des Themas siehe auch: La Segunda Asamblea de Antiguas Alumnas, BIT 194, Jan. 1931.
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Nähe, des Friedens und der Nächstenliebe bilden. Wärme (calor) und Liebe (amor) sowie der enge Bezug zu Maria als primärer himmlischer Ansprechpartnerin bildeten die zentralen Bezugspunkte des Schullebens: „Lasst uns versuchen, Liebe zu säen und den Hass auszurotten.“138 Wie sich die Führungspersonen der Institution die Ausbildung neuer Gemeinschaft konkret vorstellten, lässt sich plastisch dem in der Institutszeitschrift abgedruckten Bericht einer Erzieherin aus ihrer Grundschulklasse entnehmen. In dieser Klasse wurde ein Mädchen hinter dem Rücken der Lehrerin von Klassenkameradinnen drangsaliert. Der Vorfall hatte auch eine soziale Komponente, da die Haupttäterin der reichsten Familie am Ort angehörte, während das Opfer aus einfachen Verhältnissen kam. Der Lehrerin gelang es nun die gestörte Harmonie dadurch wiederherzustellen, dass sie die Übeltäterinnen vor einem Marienbild beichten und schwören ließ, die Außenseiterin in ihre Gemeinschaft aufzunehmen.139 Sie versuchte in ihrer Klasse eine christliche, durch Maria symbolisierte Ordnung als egalitäre Gemeinschaft gegenseitiger Zuneigung zu errichten, in der die soziale Herkunft keine Rolle spielt. Der apostolische Impuls und diese egalitäre Ausrichtung hatten widersprüchliche Folgen für das Leben der Schülerinnen. Sie eröffneten ihnen Freiräume und Mitwirkungsmöglichkeiten am Schulleben und bedingten eine im Vergleich zu den Jesuitenkollegs deutlich abgemilderte Form der Disziplinierung. So pries die Institutszeitschrift etwa eine katholische Reformschule der italienischen Pädagogin Alicia Franchetti, in welcher „jede Pedanterie, jede Gewalt und jeder degradierende Zwang“ vermeintlich verbannt war.140 Zudem waren die Schulleitungen offener für Impulse der Schülerinnen, die zumindest partiell in die Entscheidungsfindung in Schulangelegenheiten einbezogen wurden. In Jaén etwa trafen sich schon im Schuljahr 1924/25 Erzieherinnen und Mädchen einmal in der Woche, um anstehende Projekte zu besprechen. Allerdings blieb die formale Hierarchie des Instituts von solchen Experimenten unberührt.141 Dass die Schulen größere Freiräume gewährten, lässt sich außer an der Öffnung hin zu den städtischen Gesellschaften, in welche die Schülerinnen immer wieder Ausflüge unternehmen durften, an zwei Umständen erkennen.. Einerseits bewerteten die Schulleitungen turbulentes, ausgelassenes Treiben positiv als Ausdruck kindlicher Lebensenergie und tolerierten es. An der Schule im asturischen Oviedo organisierten die Schülerinnen zu Karneval 1925 sogar komische Sketche, in denen auch Mit138
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María de Echarri, De Sociología, BIT 200, August/Sep. 1931. Siehe etwa auch den Jahresbericht des Internats in Jaén: Crónica de los Internados Teresianos en el año escolar 1924/25, Archiv der Institución Teresiana, Madrid S. 211f. Elena Rodríguez Pascual, De la vida escolar: No hay mal que por bien no venga, BIT 186, Mai 1930. Antonio Gil Muñiz, Páginas pedagógicas. Una escuela „serena“ y una educadora „franciscana“, BIT 189, Aug. 1930. Crónica de los Internados Teresianos en el año escolar 1924/25, Archiv der Institución Teresiana, Madrid, S. 212.
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schülerinnen und Lehrerinnen karikiert wurden, ohne dass die Schulleitung einschritt.142 Das Zugeständnis von Freiräumen zeigt sich noch deutlicher in der 1934 gegründeten Schülerinnenzeitschrift Mi Revista, die reihum von den Mädchen jeweils einer Schule gestaltetet wurde. Freiräume lassen sich hier sowohl in den Beschreibungen des Schulalltags erkennen als auch in den recht weit gefassten Grenzen dessen, was thematisiert werden durfte. Ironisch gefärbte Beschreibungen des Schullalltags stellen die Schulordnung keineswegs als hartes Disziplinarregime dar. Aus Zeitnot nicht gemachte Betten, das Verpassen der Morgenwäsche und das verspätete Erscheinen zum Mittagessen nach dem Tischgebet aufgrund lebhafter Unterhaltungen im Waschraum waren demnach keine ahndenswerten Delikte. Ebenso ist es für die Autorinnen möglich zu bekennen, dass sie in der Schulkappelle weniger für ihr Seelenheil als für gute Noten beten.143 Gleichzeitig ließ die Institutsleitung die Publikation von Meinungsäußerungen der Schülerinnen zu, auch wenn diese von der Schulideologie und den ansonsten anzutreffenden idealisierenden Schilderungen des Schullebens abwichen. Viele Artikel konzentrieren sich auf die Nöte der Mädchen, den Rhythmus des Schullebens einzuhalten, zu dem sie immer wieder eine Haltung ironischer Distanz einnehmen. Die Schulzeitschrift bildete nicht nur ein Mittel religiöser Gemeinschaftsbildung, sondern auch ein Sprachrohr der Schülerschaft, in der sie auch von der Schulideologie abweichende Blickpunkte äußern konnte, solange diese grundsätzlich anerkannt wurde. Allerdings wurden die Freiräume durch sehr hohe Ansprüche an die Selbstdisziplinierung der Mädchen erkauft.144 Insgesamt war das Schulleben, wie es in der Schulzeitschrift seinen Niederschlag fand, durch ein spannungsreiches Amalgam von apostolischer Mobilisierung und einem durch ein klares Freund-Feind Schema strukturierten religiös-politischen Weltbild einerseits, der Rezeption kindzentrierter Erziehungsvorstellungen und Elementen der neuen medialen Kinderkultur andererseits geprägt. Diese komplexe Mischung lässt sich ausgezeichnet anhand der Berichte und Geschichten der Schülerinnen studieren. Die Theresianischen Einrichtungen verschlossen sich keineswegs der neuen medialen Kinderkultur. Die Schulleitungen führten an Feiertagen den ihnen anvertrauten Kindern mit den hauseigenen Filmprojektoren nicht nur Filme mit religiösen oder naturwissenschaftlichen Themen vor, sondern auch amerikanische Unterhaltungsproduktionen wie Mickey Mouse, Felix the Cat und Our Gang (La Pandilla, Die kleinen Strolche).145 142 143
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Ebd., S. 208, S. 211f. Catecismo Viviente, BIT 203, Dez. 1931. Anita Sigler/María Rosa González (5. Jahrgangsstufe, Sevilla), Bildergeschichte, o.T., Mi Revista 3, Dez. 1934. Siehe auch: Hermanas Requena, Aventuras espeluznantes de unas pobres estudiantes, Mi Revista 1, Okt. 1934. Siehe hierzu nochmals: Crónica de los Internados Teresianos en el año escolar 1924/25, Archiv der Institución Teresiana, Madrid, S. 211f. Die langen Berichte in der Schulzeitung deuten auf den Eindruck hin, den diese Filme unter den Schülerinnen machten: Carmen Valls Fernández (4. Jahrgangsstufe, Cordoba),
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Die selbstverfassten Geschichten der Schülerinnen greifen diese Elemente und vor allem auch das Modell des widerspenstigen, selbstbewussten Kindes auf, das oftmals im Mittelpunkt der Handlung steht. Eine Erzählung handelt etwa von Rosita, einem „ungezogenen, sehr ungezogenen Mädchen“, das von zu Hause wegläuft, da es der ständigen Zurechtweisungen durch ihre Eltern müde ist. Eine andere, aus der Ich-Perspektive erzählte Geschichte handelt ebenfalls von einem Ausbruch, diesmal aus der Schule selbst: „Ungezogenes Mädchen, das ich bin, kletterte ich über das Gitter und befand mich bald außerhalb“ des Schulgeländes.146 Wie die Figur Célia von Elena Fortún handeln die Geschichten von abenteuerlustigen und zunächst unangepassten Mädchen oder Figuren und beschreiben, ebenfalls in Anlehnung an die populären Kindergeschichten der Zeit, in oft drastischer Form abenteuerliche Begebenheiten. Allerdings werden sie im Gegensatz zu ihren literarischen Vorbildern am Ende stets religiös-moralisch eingehegt. Die Protagonistinnen geraten zumeist in Not, aus der sie sich nur mit Hilfe religiöser Gestalten retten können, oder bekommen in phantastischen Reisen in das Fegefeuer, die an Dantes Göttliche Komödie erinnern, durch dort leidende Kinder exemplarisch die drastischen Strafen für irdisches Fehlverhalten vor Augen geführt. Diese Erlebnisse bewirken eine deutliche Verhaltensänderung. Am Ende schwören die Mädchen in den selbst geschriebenen Geschichten ihren Eltern und Lehrerinnen, bessere und folgsame Kinder zu werden.147 Die Widersprüche des apostolischen Modells werden exemplarisch in der Konfrontation der Konzeption der Schule als idealer Gemeinschaft und der Erzieherinnen als apostolische, ganz in ihrer Arbeit aufgehenden Heilsgestalten mit den Realitäten der Dorfschule sichtbar, an der viele Absolventen der Institution unterrichteten. Ein Bericht über eine Reise zu ehemaligen Schülerinnen in der Provinz zeigt indirekt die Spannungen, welchen die Absolventinnen ausgesetzt waren. Er kritisiert mit abwertenden Beschreibungen sowohl solche Lehrerinnen, die, vom Dorfleben isoliert, ein unerfülltes, langweiliges Leben führten, als auch solche, die sich zu sehr mit ihrer gesellschaftlichen Umwelt einließen und dadurch ihre christliche Mission aus den Augen verloren. Die hohen Ansprüche an die Persönlichkeit der Schülerinnen ließen sich äußerst schwer in konkreten sozialen Situationen in praktisches Handeln umsetzen.148 Der Widerspruch zwischen hohen normativen Anforderungen an die Schülerinnen und der gleichzeitigen Gewährung von partiellen Frei- und Ausdrucksmöglichkeiten wurde vor
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De la Flor al Fruto, Mi Revista 2, Nov. 1934; Carmen Niño (3. Jahrgangsstufe, Grundschule, Córdoba), Cartita Infantil a las pequeñas de todas las casas, Mi Revista 3, Dez. 1934. Oella Viñas, (3. Jahrgangsstufe, Santander), Un sueño provechoso, Mi Revista 4, Jan. 1935; Enriqueta Buces (1. Jahrgangsstufe, Santander), Durmiendo, ebd. Siehe zu diesem narrativen Modell auch: Extraordinario viaje de Poum y Patapouf (Conclusión), Mi Revista 2, Nov. 1934. Sección de Antiguas Alumnas, BIT 183, Feb. 1930.
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Beginn des Bürgerkrieges nicht aufgelöst. In ihm war sowohl die Möglichkeit einer allmählichen Entkoppelung von intensiver Religiosität und Schullalltag als auch die Möglichkeit einer weiteren Intensivierung des Zugriffs auf die Schülerinnen unter Wegfall der Freiheitsspielräume enthalten. Die widersprüchlichen Folgen des apostolischen Impetus in den Schulgesellschaften, welche durch Forderungen und Wünsche von Eltern und Öffentlichkeit verstärkt wurden, lassen sich auch im Fall des Colegio de Nuestra Señora del Pilar in Madrid erkennen. Der Wandel der innerstädtischen Schule repräsentiert dabei einen gemäßigten, liberaleren Entwicklungspfad katholischer Schulen, in welchem eine Ausrichtung auf die Forderungen der urbanen Öffentlichkeit gegenüber Ansätzen politischer Mobilmachung überwog, auch wenn Letztere durchaus an der Schule anzutreffen waren. Die Durchsetzung apostolischer Persönlichkeitsbildung stärkte auch hier die Stellung und die Freiräume der Schüler. Die marianistischen Kollegs, die bei ihrem Vordringen nach Spanien in vielen Städten als politisch gemäßigte Alternative zu den Jesuitenkollegs gesehen worden waren, hatten von Anfang an keine so rigide Schulordnung besessen wie die Jesuiten und gewährten ihren Schülern auch deutlich früher mehr Entfaltungsmöglichkeiten. Ein Absolvent des Madrider Kollegs Nuestra Señora del Pilar erinnerte sich, dass schon am Anfang der 1910er Jahre der „fröhliche Lärm einer auf keine Weise versklavten Jugend“ das Schulleben charakterisiert habe. Früher als die Jesuitenschulen förderte diese Schule freie Bewegung und befürwortete im Einklang mit der neuen Kinderwissenschaft lautes, exaltiertes Fußballspielen auf dem Pausenhof als notwendige Kompensation der konzentrierten Stille des Unterrichts.149 Und die Schulleitung hieß es zwar nicht gut, dass eine Gruppe von Schülern Ende 1924 „einen halben Tumult“ veranstaltete, um von der Direktion einen freien Nachmittag gewährt zu bekommen, ahndete das Schülerverhalten jedoch nicht. Die Grenzen geduldeter Meinungsäußerungen waren im Vergleich zum strengen Regime der frühen Jesuitenkollegs weiter gefasst.150 Bis in die 1930er Jahren erweiterten sich die geduldeten Freiräume und die Sagbarkeitsregeln weiter, wie Berichte über Schülerstreiche, das Schwänzen der Schule, um Theater- oder Kinoaufführungen mitzuverfolgen, aber auch defensive Klagen der Schulleitung über undisziplinierte Schüler und deren Eltern belegen. Die Ansicht vieler Eltern, dass „die Schule ein Paradies auf Erden sein solle, in der alles ohne Schwierigkeiten und Arbeit zu erreichen sei“, behindere die Durchsetzung selbst elementarer Verhaltensregeln.151 Die „Luft der Unabhängigkeit und Freiheit, die sich allerorten atmet“, ließ sich auch von 149 150
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Ramón Pastor y Mendívil, Añoranzas, Pilar 1, Jan. 1923; Crónica, El Pilar 7, Jan 1924. Crónica, El Pilar 7, Jan 1924. Siehe zu einem zwar kritisierten, aber geduldeten Klamauk von Schülern auf einer Schulfeier auch: Vida Religiosa: La Congregación, Vida Colegial 1, Dez. 1922. Z., El Arte de Educar: El Esfuerzo, Verdadera Palanca de Educación, in: El Pilar 60, Nov. 1935.
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der in der Nähe des Stadtzentrums gelegenen Schule nicht fernhalten, wenn man diese nicht von ihrer städtischen Umwelt abkapseln wollte.152 Wie weit sich die Räume des Sagbaren erweitert hatten und das alte Schulmodell in Frage gestellt wurde, zeigt exemplarisch eine in der Schulzeitung veröffentlichte Erzählung des Schülers R. Gambra, deren Protagonist die ungezogen-naive Fantasiefigur Boliche ist. In einer Episode der langen Geschichte wird Boliche in die Schule gegeben, da seine Eltern ihn nicht mehr zu disziplinieren vermögen. Aber auch der Klassenlehrer vermag es nicht, Boliche zu zähmen. Dieser verballhornt dessen Namen zu „Pfeife“, steht nicht auf, wenn er angesprochen wird, unterlässt es, die vorgeschriebenen Höfflichkeitsformeln in seinen Antworten zu verwenden und zeigt sich insgesamt selbstbewusst und unbeeindruckt von der Autorität des Lehrers.153 Die Schulleitung mag, abgesehen von der komischen und literarischen Qualität des Textes, gerade diese Geschichte zum Abdruck ausgesucht haben, weil sie ex negativo die geltenden Normen unterstreicht. Doch weist die Geschichte insofern eine subversive Ebene auf, als ein widerspenstiges, gegen die Schulnormen gerichtetes Verhalten als zumindest denkbar dargestellt und in der Erzählperspektive aus der Sicht Boliches, der durchaus als Sympathieträger angelegt ist, auch eine Kritik an den existierenden Normen mitschwingt. Diese Deutung wird dadurch gestützt, dass schon in den 1920er Jahren die Schulzeitung von Schülern auch als Sprachrohr von Schülerinteressen genutzt werden konnte. So kritisierte etwa der jugendliche Chronist des Schullebens die neu eingeführten Zwischenprüfungen im Dezember 1923 in sehr deutlichen Worten als unnötig und „kaum verdaulich“.154 Neben einer Zunahme an Freiräumen milderte sich auch die hierarchische Ordnung der Schulgesellschaft ab. Die Madrider Schule versuchte die Unterschiede zwischen internen Pensionären und externen Tagesschülern, zwischen reich und weniger reich zu verringern, welche der Schriftsteller und Jesuitenschüler Rafael Alberti im Rückblick auf seine Schulzeit vor dem Ersten Weltkrieg als wahre Klassenunterschiede beschrieb. Die Schulzeitung publizierte Artikel, welche die Bedeutung von Kameradschaft und Freundschaft aller Schüler jenseits ihres familiären Hintergrundes beschworen.155 Auch wenn in Anekdoten wie diesen viel Wunschdenken mitgeschwungen haben mag, zeigen sie doch ein Bemühen der Schulleitung, die Schüler zu einer Gemeinschaft der Gleichen zu formen. Sie stand damit im Madrid der 1920er Jahren nicht allein. Die katholische Lehrerbildungsanstalt unterrichtete beispielsweise Schulgeld zahlende und vom Schulgeld befreite Schüler 152 153 154 155
X., Un Pensamiento Cristiana. Nuevo Curso, ebd. R. Gambra (4. Jahrgangsstufe), Maravillosa Historia de Boliche. Narración semifantástica, semicómica, semitrágica, El Pilar 59, Juni 1935. Crónica, El Pilar 7, Jan. 1924. Ramón Pastor y Mendívil, Añoranzas, El Pilar 1, Jan. 1923; Alberti, La arboleda perdida, S. 37.
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bewusst zusammen und die Ehemaligenorganisation des Piaristenordens war stolz auf den in ihr herrschenden „demokratischen Geist“.156 Einen vielleicht noch wichtigeren Anschub zu einem Wandel der Hierarchien unter den Schülern stellte die Einführung von Sport- und später Pfadfindergruppen dar. In den älteren Schulen bestimmten vor allem die schulischen Leistungen zusammen mit dem Prestige der Herkunftsfamilien die Stellung der Schüler. Eine Durchsicht der erhaltenen Namenslisten des Jesuitenkollegs in Chamartín bei Madrid zeigt deutlich, dass die Spitzenpositionen zumeist von einer kleinen Schüleraristokratie eingenommen wurden, welche beispielsweise sowohl die Klassenbesten als auch die Vorsitzenden der marianischen Kongregationen und Führer der Jahrgangsbrigaden waren.157 Diese Hierarchie wurde am Colegio Nuestra Señora del Pilar seit den 1920er Jahren auf zweierlei Weise geschwächt. Zum einen führte die Fußballbegeisterung dazu, dass über die Schulmannschaften, welche häufige Partien gegen die Fußballer anderer Schulen austrugen, auch solche Schüler innerschulisches Prestige erlangten, welche nicht zur etablierten Schüleraristokratie gehörten. Ein Fußballturnier, so bemerkte El Pilar im Mai 1924 gleichzeitig hellsichtig wie irritiert, „verwandelt gewöhnliche Kinder in Heroen für einen Tag“, wobei oft „das sportlerische Können in umgekehrtem Verhältnis zu den intellektuellen Fähigkeiten“ stünde.158 Visuell sichtbar wird die Entstehung einer alternativen Prestige-Ordnung an den Schülerfotos in den Schulzeitungen. Neben Bildern der Kongregationen und ihrer Leiter druckten die Journale immer mehr auch Fotos der Fußballmannschaften mit ihren Kapitänen ab. Der Aufschwung der Pfadfinderbewegung, in deren interner Hierarchie intellektuelle Fähigkeiten ebenfalls keine entscheidende Rolle spielten, hatte ähnliche Konsequenzen. Bei der großen Messe im Hof des Kollegs am 12. Oktober 1935, dem Namenstag der Schulpatronin, standen herausgehoben aus der Masse der Schüler neben den neun Ehrenträgern der Kongregationen mit ihrer Fahne, der traditionellen Schülerelite, auch zwei Leiter der Pfadfindergruppen ebenfalls mit Fahne, welche den Priester während der Messe unterstützten.159 Sicherlich dürfen die Grenzen der Egalisierung der Schulgesellschaften nicht übersehen und die Bedeutung der Entstehung alternativer Hierarchien nicht überbewertet werden. Bis 1936 handelte es sich eher um vorsichtige Trends denn um einen durchschlagenden Wandel. Doch blieben, auch wenn man die egalitäre Struktur der Studienzirkel mit hinzuzieht, die Öffnung der Schulen sowie auch die religiöse Mobilisierung 156 157
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Institución del Divino Maestro, BDM 3, Nov. 1929; La Asociación de Antiguos Alumnos del Colegio de S. Anton, Los Hijos del Pueblo, 17.12.1931. Siehe noch die detaillierten Listen der Ämter und Funktionen der Schüler, welche fast die Hälfte der Schulchronik einnehmen: Recuerdos del Año Escolar, Colegio de Nuestra Señora del Recuerdo (Madrid), Memoria del curso de 1926–1927. Crónica, El Pilar 9, Mai 1924. La Fiesta del Pilar en el Colegio, El Pilar 60, Nov. 1935.
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nicht ohne Folgen für die Struktur der Schülergesellschaft. Der Wandel der Schule stellte ältere Hierarchien in Frage, schwächte diese ab und ersetzte sie partiell durch neue Gliederungsprinzipien. Die widersprüchliche Dynamik katholischer Schulentwicklung erfuhr ihre größte Zuspitzung im Jesuitenkolleg San José von Valladolid, dessen Schulleben in der Mitte der 1930er Jahre deshalb hier etwas genauer behandelt werden soll. Nach der Ausweisung der Jesuiten aus Spanien Anfang 1932 verlagerte das Kolleg seine Niederlassung bis 1937 in die portugiesische Grenzstadt Curía. Die Schule verkörpert, dies im Gegensatz zum Colegio Nuestra Señora del Pilar, in besonderer Weise die Amalgamierung aus apostolischreformpädagogischer und militant-nationalistischer Persönlichkeitsbildung. Das Kolleg war wie die anderen Jesuitenschulen eine Bildungsanstalt der spanischen Eliten. Seine Finanzkraft – Eltern mussten für die acht Monate des Schuljahres 1 500 Peseten bezahlen – war so groß, dass es in Portugal eine großzügige Anlage mit fünf Hotels, Parkanlagen, einem großen See und Sportstätten dauerhaft mieten konnte. Neben der Kernschülerschaft aus der Region Valladolid schickten auch Eltern aus anderen Landesteilen, darunter Madrid, ihre Kinder in die portugiesische Grenzstadt. Beim Ausbruch des Bürgerkrieges umfasste das Internat, nachdem im Schuljahr 1935/36 noch die Schüler des ebenfalls geschlossenen Kollegs aus dem galizischen Vigo hinzugekommen waren, 530 Kinder, im Schuljahr zuvor waren es 400 gewesen und 1932 in Valladolid 430, von denen 80 mit nach Curía aufbrachen.160 Zwei Merkmale kennzeichneten das Internat. Einerseits orientierte es sich offen an der neuen Erziehungsbewegung und den berühmten Reformschulen der Zeit wie dem britischen Eton oder der französischen L´Ecole des Roches. Diese Orientierung zeigte sich vor allem an einer deutlichen Reduktion äußerer Disziplinierungsmittel und der Überwachung der Schüler. Das Schweigegebot der jesuitischen Tradition wurde ebenso außer Kraft gesetzt wie die strenge Disziplinarordnung. Die Schulleitung war stolz darauf, in der Erziehung gänzlich ohne Strafen auszukommen und wies einen neuen Lehrer an der Schule an: „In Bezug auf Strafen: Sie strafen nicht.“ Ziel war es, ein „Regime größtmöglicher Freiheit“ an der Schule zu errichten.161 Hintergrund dieser Maßnahmen, deren im Zeitkontext revolutionärer Charakter kaum überbetont werden kann, war der Versuch, eine äußere disziplinarische Ordnung durch eine in jeder Schülerpersönlichkeit selbst verankerte innere Disziplin zu ersetzen, die nach Auffassung der Schulleitung um den Pater Encinas sich jedoch nur in einer das Kind ansprechenden, ihm Freiräume und 160
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Als Überblick: Fernández Martín, Historia, S. 216–224; El antiguo y el nuevo Colegio de S. José, Nuevos Jovenes 34, 1.1.1937. Siehe auch die detaillierte Beschreibung der Anlage und Gebäude: La Vida en Curía, Nuevos Jovenes 23, 15.12.1935. Zu den Vorbildern: Herrera Oria, Nuevo Colegio, S. 8f.; Fernández Martín, Historia, S. 216f. Zum Aspekt der Freiheit und der Strafen: Antonio González Quevedo, La educación motival de la voluntad (II.), Atenas 58, Feb. 1936.
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IV. Schulen der Diktatur, Schulen der Demokratie?
Freude gewährenden Umgebung herausbilden könne. Wie andere neuere katholische Schulen distanzierte sich das Internat explizit von „der Depression alter und kalter Kollegs“, was sich auch daran zeigte, dass die Schule Eltern zu allen Zeiten willkommen hieß, um, nicht zuletzt aus pädagogisch-politischen Motiven, eine möglichst enge Verbindung zwischen Internat und Familien herzustellen.162 Als im Januar 1937 inmitten der Bürgerkriegswirren eine Gruppe ehemaliger Schüler das soeben wieder in Valladolid eingerichtete Kolleg besuchte, fiel ihr sofort der Unterschied des Schulregimes, das zu diesem Zeitpunkt weiterhin demjenigen der Vorbürgerkriegsjahre entsprach, zu ihrer eigenen Schulzeit auf. Sie fanden „mehr Freude, mehr Komfort (bienestar), aber weniger äußeren Zwang, mehr Freiheit vor; verbunden mit einer intensiveren und aufgeklärteren Bildung in Frömmigkeit, in der Furcht Gottes und den übernatürlichen Prinzipien; und eine mehr auf den Einzelnen zielende Bildung und Erziehung, mehr durch den Einzelnen und für den Einzelnen. Das Vertrauen, mit dem [die heutigen Schüler behandelt werden, T.K.] macht sie neidisch, sie hätten es sich auch für sich gewünscht.“163
Die Schulleitung unternahm den Versuch, der Schulgesellschaft eine neue organisch-hierarchische Ordnung zu geben, in welcher formale Autoritätsverhältnisse und Rollenmuster durch sich im persönlichen Kontakt der Individuen ergebende Führungs- und Gehorsamsstrukturen ersetzt werden sollten. Die Schulleitung bemühte sich von Anfang an, die Hierarchien zwischen Erziehern und Schülern abzumildern. Dies zeigt sich besonders deutlich in der Aufwertung des von Erziehungsaufgaben freigestellten Padre Espiritual gegenüber dem für die äußere Schulordnung zuständigen Padre Prefecto in Curía, aber auch in der Neugestaltung des Religionsunterrichts nach dem Modell der Studienzirkel, in denen die Schülerinterventionen gegenüber den Erläuterungen des Lehrers aufgewertet wurden.164 Aber auch die häufigen Beteuerungen der „innigen Harmonie (compenetración), die zwischen den Schülern und Patern besteht“ und des „neuen affektiven Bandes, welche Erzieher und Zöglinge zu einer Familie formt, in welcher ebenso eine Identität der Interessen wie der Freuden und Schmerzen herrscht“ deuten auf diese Zielperspektive hin. Das neue Leitbild einer organischen Einheit der Schulgemeinschaft vermittelt auch die Beschreibung eines Gottesdienstes, in dem die Gebete und Gesänge der Teilnehmenden „zu einer einzigen Stimme verschmolzen“.165 Die Reformmaßnahmen und neuen Leitbilder waren eng verbunden mit dem Hauptziel des Internats: Der Ausbildung einer neuen religiös-politischen 162 163 164 165
Las visitas de las familias, Nuevos Jovenes 25, 1.3.1936. Qué dicen los Antiguos, Nuevos Jovenes 34, 1.1.1937. Der Kriegsbeginn hatte in dieser Hinsicht bis Anfang 1937 noch keine Veränderung eingeleitet. Fernández Martín, Historia, S. 218. Pascuas felices, Nuevos Jovenes 4, 15.1.1935; Efemérides del Colegio, Nuevos Jovenes 4, 15.1.1935; Los exploradores en Fátima, Nuevos Jovenes 5, 31.1.1935.
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Elite Spaniens, welche das Land aus den Klauen der laizistisch-marxistischen Republik befreien würde. Das Internat sah sich an der Frontlinie des Kampfes um eine Wiedergeburt des wahren Spaniens und seinen Schülern fiel die Aufgabe zu, als Führer des verwirrten und schwachen spanischen Volkes diesen Kampf anzuführen. Ihr Beispiel, so die Hoffnung, würde die im Prinzip christliche, aber durch die Republikaner verängstigte und ideologisch verwirrte Bevölkerungsmehrheit mitreißen. Anzeigen, Berichte und die Schulzeitung selbst wiederholten immer wieder das Ziel der Schule, „Freiwillige für den Kampf für das Gute heranzubilden“, „die Eroberung des Vaterlandes für Jesus Christus“ vorzubereiten und „die verlorene Gesellschaft zu erlösen“. Die „neuen Jugendlichen“ von Curía „werden dem Vaterland den Glauben zurückgeben, der die Seele erhebt, die Tugend, welche das Heimatland erneuert, die Gerechtigkeit, welche den Frieden schmiedet“.166 Die pädagogischen Reformen waren Teil der Intensivierung politisch-religiöser Persönlichkeitsbildung. Das Schulleben in den letzten Jahren vor dem Bürgerkrieg war durch eine ständige Suche nach neuen Möglichkeiten religiöser Persönlichkeitsprägung gekennzeichnet. Mit immer neuen Maßnahmen versuchte die Schulleitung die Gefahren einer religiösen Routine zu vermeiden und die Schüler zu immer neuen Anstrengungen der Selbstreform anzustacheln. Die Gewährung von Freiheiten war in diesem Prozess gleichzeitig Mittel, Anreiz und Ziel. Die Schule reformierte die seit den 1920er Jahren ergriffenen Maßnahmen der religiös-politischen Persönlichkeitsbildung weiter. Zusätzlich zu den spirituellen Exerzitien, den marianischen Kongregationen, den Missionsvereinigungen, den Studienzirkeln und Pfadfindergruppen symbolisierten Mitte der 1930er Jahre vor allem zwei neue Vereinigungen die religiöse Bildung an der Schule. Auf der einen Seite rief die Schulleitung für die älteren Schüler eine Legión Viril (Mannhafte Legion) ins Leben, der im Frühjahr 1935 38 der 150 Schüler des Abschlussjahrgangs angehörten. Die Angehörigen der Legion verpflichteten sich, morgens zehn Minuten vor ihren Mitschülern aufzustehen und die so gewonnene Zeit für eine stille Meditation zu nutzen. Im Jahr 1936 versammelten sie sich zusätzlich vor der Morgenmesse, um in der Unterredung mit einem Geistlichen ihr Verhalten während des folgenden Tages zu bedenken und sich in einem christlichen Lebenswandel zu bestärken.167 Auch die Einrichtung von Renovación Escolar (Erneuerung der Schule) zielte auf eine weitere Intensivierung und Verbesserung christlichen Lebens166
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Anzeige El Colegio de San José de Valladolid en Curía (Portugal), in: Anuario de educación y enseñanza católica en España 1935/36, Madrid 1935, S. 43–45; Lo nuevo que encuentro en Curía: Renovación Escolar, Nuevos Jovenes 6, 15.2.1935; ¿Serán estos? Nuevos Jovenes 27, 31.5.1936. Siehe auch: Fernández Martín, Historia, S. 222. La Vida en Curía, Nuevos Jovenes 7, 28.2.1935; Legión Viril, Nuevos Jovenes 25, 1.3.1936; A los Caballeros de la Legión Viril: ¡En pie! ¡Adelante! Nuevos Jovenes 28, 10.7.1936.
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wandels. Das Kennzeichen dieser neuen Vereinigung, die ähnlich wie die Kongregationen aus einzelnen Sektionen mit jeweils einem Vorsitzenden und einem Leitungskollegium bestand und ein eigenes Abzeichen besaß, war die Selbstregierung der Schüler. Die Überwachung durch Erwachsene sollte für die Mitglieder der oberen Jahrgangsstufen weitgehend durch das eigene Gewissen und Ermahnungen durch die anderen Gemeinschaftsmitglieder ersetzt werden. Je mehr sie einen religiösen und auf ernsthafte Arbeit angelegten Lebenswandel erreichten, umso mehr Freiheiten sollten sie genießen. Durch die schrittweise Übertragung religiöser Verantwortung und Freiheit wollte die Schulleitung besonders Sorge dafür tragen, dass die Schüler nach dem Schulabschluss weiterhin das an der Schule trainierte religiöse Leben beibehielten. Renovación Escolar war in diesem Sinne der konsequente Endpunkt neuer religiöser Persönlichkeitsbildung, wie sie die katholischen Schulen seit der Jahrhundertwende immer weiter entfaltet hatten. Die Schulleitung sah es etwa als wichtigen Erfolg des neuen Zusammenschlusses an, dass seine Angehörigen die Gebete betonter, lauter und reflektierter als vormals aussprachen, was sie als Indiz einer erneuerten, tieferen Religiosität werteten.168 Auch jenseits dieser neuen organisatorischen Formen war das Schulleben auf eine konstante Selbstreform der Schüler ausgerichtet. Die Schulleitung schuf in allen Facetten des Schullebens Wettbewerbssituationen, welche den einzelnen Schüler zu immer weiteren Anstrengungen der Selbstbildung anstacheln sollten. In der Pfadfinderbewegung entfachte der Schuldirektor beispielsweise einen wöchentlichen Wettbewerb zwischen den einzelnen Gruppen um die „Fahne der Rasse“ (Bandera de la Raza), in welchem die jeweils fleißigste und aktivste Sippe die Fahne für den Zeitraum einer Woche eroberte. Eine in der Schulzeitung wiedergegebene Anekdote, wie sich Schüler in ihrer Freizeit gegenseitig zu intensiverem Lernen drängten, verweist sehr deutlich auf die Ziele der Erzieher.169 Ein weiteres Beispiel für diese, in vielen Punkten an Strategien kommunistischer Regime erinnernde Praxis, stellt die „Kampagne Pro Studium“ im Dezember 1935 dar. Diese bestand aus der Mitteilung, dass anders als in den Vorjahren der Notendurchschnitt des ersten Trimesters an die Eltern geschickt würde und sich dieser dadurch verbessern lasse, dass die Wochennoten der letzten Wochen vor den Weihnachtsferien jeweils doppelt, dreifach und schließlich sogar vierfach in die Gesamtnote einflössen. Ein Erfolg in der Vorweihnachtswoche war also viermal so viel wert wie eine gute Note in einer normalen Schulwoche. Gleichzeitig brachte die Schulleitung große Tafeln an zentralen Orten des Schulkomplexes an, auf denen jeweils die Fort- und Rückschritte der einzelnen Schüler in Form von Graphen dargestellt wurden. Tatsächlich meinte die Schulleitung einen deutlich größeren Studienelan während der 168 169
Vino el lunes, Nuevos Jovenes 6, 15.2.1935; Renovación Escolar, Nuevos Jovenes 25, 1.3.1936; Renovación Escolar, Nuevos Jovenes 11, 30.4.1935. Una Anécdota, Nuevos Jovenes 23, 15.12.1935.
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Kampagne erkennen zu können.170 Selbst vor den Freizeitaktivitäten machte der Wettbewerbsgedanke nicht halt. Die Schule organisierte in regelmäßigen Abständen Sportwettkämpfe, in denen die jesuitischen Erzieher ein „höchst wirkungsvolles Erziehungsinstrument“ sahen.171 Inhaltlich hatte die kontinuierliche Mobilisierung der Schüler einen deutlichen Schwerpunkt auf einer Aneignung politischen und apologetischen Wissens. Die Ausbildung an der Schule sollte die Schüler nicht nur zum Universitätsstudium befähigen, sondern ihnen gleichzeitig die nötigen Voraussetzungen einer politischen Karriere und Agitatorentätigkeit geben. In diesem Sinne bestimmten apologetische Themen den Religionsunterricht von der ersten Klasse an.172 Deutlich zeigt sich die neue aktuell-politische Ausrichtung dann in den Studienzirkeln der letzten beiden Jahrgangsklassen. Der Studienzirkel des fünften, vorletzten Jahrgangs behandelte im Schuljahr 1935/36 ausschließlich Themen der „Sozialen Aktion“, während der Abschlussjahrgang sich ganz dem politischen Thema der „Katholischen Aktion“ widmete. Die Sitzungen zur „Sozialen Aktion“ dienten vor allem der Auseinandersetzung mit dem Marxismus und daraus folgenden Fragen wie: „Was will der Sozialismus?“, „Die Kirche und der Klassenkampf “, „Die Familie und der Sozialismus“ und „Die soziale Frage in Mexiko“.173 Auch in den in Curía regelmäßig stattfindenden politischen Debatten, die in verkürzter Form auch zu den Hauptmahlzeiten abgehalten wurden und dort das Vorlesen frommer Bücher ablösten, widmeten sich die Schüler hauptsächlich aktuellen Fragen. So mussten die Schüler an einem Abend die Verfassung der spanischen Republik aus der Perspektive der päpstlichen Enzykliken diskutieren, wobei eine Gruppe die undankbare Aufgabe übernahm, die republikanischen Grundsätze mit Argumenten zu verteidigen.174 Neben der intellektuellen Auseinandersetzung mit der politischen Lage in Spanien beeinflussten Formen vormilitärischer Erziehung zunehmend das Schulleben. Diese Entwicklung lässt sich wiederum in besonderem Maße an der Entwicklung der Pfadfindergruppen beobachten, welche sich in ihrem elitären, heroischen Selbstverständnis und ihrer Formensprache mit Fahnenappellen, Aufmärschen, körperlichen Ertüchtigungsübungen, asketischer Haltung, Sprechchören und Nachtwachen deutlich am Vokabular paramilitärischer und faschistischer Gruppierungen orientierten, auch wenn die Schulleitung immer wieder den eindeutig katholischen Charakter der Organisation betonte.175 Militärische Symbolik griff dabei immer wieder auf 170 171 172 173 174 175
Fiebre de estudio, ebd. Sección Deportiva: Campeonato de Foot-Ball, ebd. Fernández Martín, Historia, S. 218. El Colegio y la Acción Católica, Nuevos Jovenes 23, 15.12.1935. La Constitución Española ante las Encíclicas Pontificias, Nuevos Jovenes 6, 15.2.1935. Siehe nur: Los exploradores en Fátima, Nuevos Jovenes 5, 31.1.1935; Domingo de Pascua, Nuevos Jovenes 11, 30.4.1935; El gran día de la Inmaculada, Nuevos Jovenes 23, 15.12.1935.
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das ganze Schulleben über, wie ein einstudierter dialogischer Schulappell an Ostern 1935 verdeutlicht, in welchem die gesamte Schülerschaft geschlossen und im Chor auf Fragen des Schulleiters antwortete und sich dabei als Garde Spaniens und moderne Apostel bezeichnete. In Momenten wie diesen zeigt sich eine politische Aktivierung der Schüler an der Schule, die sich kaum mehr von derjenigen genuin politischer Bewegungen und Parteien unterschied.176 Tatsächlich bestanden enge Bezüge zwischen der Schule und politischen Gruppierungen. Einerseits forderte die Schulleitung ihre Schüler auf, in den langen Ferienmonaten an ihren Heimatorten nicht nur sich als aktiv bekennende Katholiken hervorzutun, indem sie in der Messe demonstrativ die ersten Reihen besetzten und den Pfarrer in seinen Pflichten unterstützten, sondern auch katholische politische Jugendgruppen zu bilden. Glaubt man den in der Schulzeitung abgedruckten Briefen, kamen viele Schüler diesen Aufforderungen tatsächlich nach. Umgekehrt bemühten sich die allgemeinen katholischen Jugendverbände in den 1930er Jahren, an den katholischen Schulen weiter Fuß zu fassen. Die verfügbaren Informationen deuten jedoch darauf hin, dass ihnen dies erst im Frühjahr 1936 in größerem Umfang gelang.177 Die Öffnung der Schulen zur politischen Rechten hatte allerdings für die Schulen auch negative Folgen. Die politische Fragmentierung der spanischen Rechten begann sich in den Schulen widerzuspiegeln und damit die Geschlossenheit der Schulgemeinschaft zu untergraben. In Curía vollzog die Schülerschaft die Fraktionierung des rechten Spektrums in die katholische Acción Popular, die militant monarchistische Renovación Española, die karlistischen Requetés und die Falange nach.178 Die Schulleitung beschritt einen äußerst schmalen Grad zwischen einer dezidiert katholisch-politischen Mobilisierung der Schüler bei gleichzeitiger Verweigerung, für eine bestimmte politische Formation Partei zu ergreifen. Die Ausrichtung der Bildung und Erziehung in Curía blieb nicht ohne Wirkung. Wie unten etwas näher erläutert wird, ging nach Beginn des Bürgerkriegs die politische Aktivität vieler Schüler unmittelbar in einen Einsatz für die Aufständischen unter Franco über, deren Truppen sich viele Schüler anschlossen. Aber auch die jüngeren Schüler, die nicht den Streitkräften beitraten, begannen an ihren Heimatorten politische Gruppen zu gründen. Es scheint dabei von ortspezifischen Faktoren abgehangen zu haben, ob sich diese Gruppen unter dem Namen katholischer Organisationen oder der Falange organisierten. Die Grenzen
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178
Domingo de Pascua, Nuevos Jovenes 11, 30.4.1935. Vgl. auch die Erinnerungen Castilla del Pinos: Pretérito Imperfecto, S. 168–70. Frutos del Colegio, Nuevos Jovenes 4, 15.1.1935; Colegio Nuevo y Nueva Juventud, Nuevos Jovenes 17, o.D. (Sommer 1935); Ecos de Sociedad, Nuevos Jovenes 29, 25.7.1936; La Juventud y las Escuelas Católicas, La Flecha 43, Dez. 1935; De las diocesis, La Flecha 47, April 1936. Fernández Martín, Historia, S. 222.
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waren fließend und ihre Namensgebung sagt wenig über Ausrichtung und Aktivität der Gruppen aus. Die drei hier etwas intensiver betrachteten Schulen zeigen eine ordens- und schulübergreifende Veränderungsdynamik katholischer Bildungseinrichtungen, aber im Einzelnen auch unterschiedliche Ausformungen, welche die Bandbreite katholischer Kinderpolitik vor Augen führen. Die städtischen Mädchenschulen der Institución Teresiana und die Marianistenschule Nuestra Señora del Pilar verbanden eine Reform religiöser Persönlichkeitsbildung, ausgerichtet auf ein apostolisches Handeln, mit einer gewissen Duldung beziehungsweise einem Aufgreifen der neuen urbanen Kinderkultur. Während die Thesianerinnen den Hauptakzent dabei auf die Bildung neuer katholischer Gemeinschaft legten, stand bei den Marianisten stärker die Ausrichtung auf eine Karriere in der bürgerlichen Gesellschaft im Vordergrund. Demgegenüber öffnete sich das fernab der Großstädte angesiedelte Jesuitenkolleg San José eher vormilitärischen Formen von Gemeinschaftsbildung. Dies stand nicht im Gegensatz zu dem Umstand, dass seine Umgestaltung schulischer Gemeinschaft diejenigen der beiden anderen Institutionen noch übertrafen. Die Einführung pädagogischer Innovationen ging einher mit einer deutlichen Politisierung des Schullebens. Moderne Erziehung und militantes, apostolisches Ziel wurden hier wie in der gesamten katholischen Pädagogik der frühen 1930er Jahre nicht als entgegengesetzt, sondern als komplementär verstanden. Die Expansion der katholischen Schulen zugunsten der Privatakademien und der häuslichen Erziehung führte allgemein dazu, dass im frühen 20. Jahrhundert deutlich mehr Kinder eine intensive religiöse Bildung und Erziehung erfuhren als jemals zuvor. Eine von Katholiken mit Sorge beobachtete Entkirchlichung der spanischen Gesellschaft ging also mit einer neuen religiösen Formung wichtiger Teile der nachwachsenden Generationen einher. In weiterer Perspektive werden zudem unterschiedliche Entwicklungspotentiale der Schulen sichtbar. Einerseits lassen sich neben der religiösen Mobilisierung und jenseits der dichotomischen Weltsicht, welche das christliche Spanien klar von einer breiten Front von Gegnern abgrenzte, im Schulalltag gerade der Madrider Schulen Tendenzen einer zunehmenden Versöhnung mit der gesellschaftlichen, städtischen Umwelt erkennen, auch und gerade während der Zeiten einer politischen Belagerung der Schulen in den frühen 1930er Jahren. Auch Veränderungen der inneren Schulstrukturen mit seinen Tendenzen einer Abschwächung der Hierarchien und neuen Möglichkeiten der Meinungsäußerung lassen eine weitere Entwicklung in Richtung eines demokratischeren Schulverständnisses möglich erscheinen. Diese Tendenzen gesellschaftlicher Öffnung und protodemokratischer Experimente existierten vor 1936 noch mehr als Potentiale, als dass sie die Schulwirklichkeiten umfassend formten. Dennoch war die Entwicklungsrichtung unverkennbar, wenn auch nicht unumkehrbar. Doch existierten andererseits auch Tendenzen einer politisch antirepublikanischen und vormilitärischen Durchdringung des
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Schullebens, die wie insbesondere am Beispiel des Kollegs San José erläutert wurde, viele Anknüpfungspunkte zum politischen Programm der aufständischen Militärs boten und auf die Herrschaftsordnung der nationalen Zone verwiesen. Die katholischen Privatschulen waren hybride Gebilde, in denen die hier dargestellten Tendenzen eine widersprüchliche Mischung eingingen, sich gegenseitig verstärkten, aber auch hemmten. Insgesamt darf die Rhetorik der Schulen nicht den Blick auf einige grundlegende Widersprüche und Grenzen der neuen religiösen Persönlichkeitsbildung verstellen, welche dem katholischen Zugriff auf die Heranwachsenden deutliche Grenzen setzten. Einige dieser Widersprüche sollen abschließend diskutiert werden. Zunächst ist bereits deutlich geworden, dass die Zielperspektive der Persönlichkeitsbildung keineswegs einheitlich war. Insbesondere die Frage, ob die Schulen zuvorderst eine kurzfristige Heranführung der Schüler und Schülerinnen an die politischen Organisationen des Katholizismus leisten oder aber eher durch eine intensive religiöse wie fachliche Sozialisation diese langfristig zu einer neuen katholischen Elite ausbilden sollten, wurde in den 1920er und frühen 1930er Jahren intensiv diskutiert. Einerseits, wir haben dies am Beispiel des Kollegs San José deutlich gesehen, wollten die Orden Führungsnachwuchs für das katholische politisch-soziale Verbandsnetzwerk ausbilden. Andererseits strebten die Schulen jedoch die Formung einer neuen christlichen Gesellschaftselite an, welche nicht durch eine politische Konfrontation, sondern durch einen langen Marsch durch die Institutionen von Staat und Gesellschaft langfristig auf friedlichem Weg den spanischen Staat und Gesellschaft verändern sollten. So erläuterte etwa der Provinzialleiter des Jesuitenordens für Kastilien „die Notwendigkeit die Universitätsposten zu erobern“.179 Während in San José die erste Ausrichtung überwog, war es im Fall des Colegio Nuestra Señora del Pilar die zweite. So riet die marianistische Schulleitung bezeichnenderweise den Abschlussschülern zwar, sich an der Universität einer katholischen Vereinigung anzuschließen, diese sollte aber, so die Ermahnung, unpolitischen Charakters sein.180 In dieser unterschiedlichen Ausrichtung spiegelten sich unterschiedliche politische Strategien gegenüber der Zweiten Republik, ohne dass jedoch eine eindeutige Zuordnung der Schulen zu der einen oder anderen Strategie möglich wäre. Unmittelbar mit den Spannungen um die Zielrichtung religiöser Bildung verbunden, war die Frage nach dem Verhältnis von religiöser Persönlichkeitsformung und fachlicher Ausbildung an den Schulen, welche unterschiedliche Anforderungen an die Schulen seitens Kirche und Elternschaft berührte. Eine überdurchschnittliche fachliche Qualifikation war stets ein Hauptziel der Schulen, da es ein wichtiges Moment ihres Prestiges und ein wichtiges 179 180
Vino el lunes, Nuevos Jovenes 6, 15.2.1935. Alfonso Guijarro (6. Jahrgangsstufe), Impresiones de los Ejercicios Espirituales, El Pilar 59, Juni 1935.
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Kriterium der Schulwahl durch die Familien bildete. Sie setzte der religiösen Formung jedoch implizit Grenzen. In bestimmten Zeiten des Jahres, besonders vor den wichtigen Abschlussprüfungen im Juni, rückte die fachliche Bildung notgedrungen in den Vordergrund. Dies umso mehr, als, wie weiter oben dargestellt, die meisten bürgerlichen Eltern einer neuen religiösen Charakterreform eher gleichgültig gegenüberstanden und die katholischen Schulen vor allem aus Distinktionsgründen aufgrund ihres sozialen Prestiges und ihres Versprechens einer kontrollierten Moderne auswählten. Deutlich wird die doppelte Ausrichtung der Schulen in den Exerzitien am Colegio Nuestra Señora del Pilar, die auch zu den Hochzeiten der religiösen Kulturkämpfe der 1930er Jahre neben der Läuterung der Persönlichkeit stets auch Elemente praktischer Berufsberatung enthielten. Im Herbst 1935 wurden die Schüler des Abschlussjahrgangs zunächst zwei Tage mit Grundfragen christlichen Glaubens konfrontiert, bevor in den folgenden drei Tagen Fragen konkreter Lebensplanung in Form einer Laufbahnberatung diskutiert wurden. Ein Pater Florentino erläuterte den Heranwachsenden Möglichkeiten, einen ihren Anlagen gemäßen Beruf zu finden und stellte unterschiedliche Berufsfelder mit ihren Vor- und Nachteilen vor.181 Das Konzept der neuen christlichen Gesellschaftselite stellte einen Versuch dar, beides, religiöse Interessen der Kirche und Karriereinteressen der Schüler, zusammenzubringen, doch setzten die Notwendigkeiten des Fachunterrichtes gerade an den Schulen mit reduziertem Internatsbetrieb der religiösen Vermittlung deutliche Grenzen. Die Bildung von religiösen Foren jenseits des eigentlichen Unterrichts in der Freizeit muss vor diesem Hintergrund auch als Versuch verstanden werden, zugleich den Anforderungen der Fach- wie der religiösen Bildung zu genügen. Doch nicht nur unterschiedliche, latent konkurrierende Zielperspektiven verbieten es, die konfessionellen Schulen als totale religiöse Institutionen zu bezeichnen. Auch das neue Modell christlicher Persönlichkeitsbildung, wie es an den Schulen implementiert wurde, wies eine Reihe inhärenter Widersprüche auf. Vor allem war die Haltung gegenüber einer selbstständigen religiösen Suche der Kinder uneindeutig. Einerseits sollte sie bewusst gefördert werden, andererseits beschnitten die Erzieher sie in der Praxis jedoch immer dann, wenn Grundfragen katholischen Glaubens berührt wurden. In diesem Sinne lässt sich zumindest die herausgehobene Stellung des erwachsenen Leiters der Studienzirkel verstehen, der nach einer ausführlichen Erörterung der Zirkel „dafür sorgt, dass Zweifel stets geklärt werden, ohne fehlerhaften Interpretationen Raum zu geben [. . . ] und dass die Debatte einen ruhigen und sicheren Verlauf nimmt.“182 Selbst die Schulzeitschriften besonders reformorientierter Schulen ließen grundsätzliche Kritik an den Schulleitungen und deren religiösen Vorgaben nicht zu, auch wenn sich, wie gezeigt, der Spielraum 181 182
Ebd. Siehe auch: Domingo Sanmartí (6. Jahrgangsstufe), Recuerdos de nuestros Ejercicios Espirituales, El Salvador 36, Dez. 1921. El Celador Mayor, Sobre Círculos de Estudios, Hogar Antoniano 1, Juni 1932.
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des Sagbaren für die Schüler deutlich erhöhte. Darüber hinaus führte die Schaffung egalitärer Gemeinschaften innerhalb des hierarchisch organisierten Schulganzen in der Praxis ebenfalls zu kaum lösbaren Widersprüchen. Da für die Schulleitungen grundsätzliche Interessendifferenzen zwischen Schülern und Erziehern nicht vorstellbar waren, war der Selbstregierung der Schüler praktisch enge Grenzen gesetzt. Weiterhin hatte die Öffnung der Schulen für die katholischen Reformer widersprüchliche Folgen. Einerseits bildete sie einen notwendigen Teil neuer Persönlichkeitsbildung, in welcher eine Konfrontation mit den gesellschaftlichen Realitäten als unabdingbar erschien. Andererseits ermöglichte sie den Schülern, insbesondere nach der Durchsetzung des Modells des Tagesschülers als Normalfall, sich dem Zugriff durch die Schulen zu entziehen. Zudem wirkten so mehr als zuvor die ihren eigenen Erziehungszielen zuwiderlaufenden Ansprüche der urbanen Öffentlichkeit in die Schulen hinein. Die Differenzierung der Schülerschaft in eine religiös-soziale Avantgarde und eine breite Masse über die Instrumente religiöser Vergemeinschaftung und Studienzirkel zeitigte ebenfalls höchst widersprüchliche Resultate. Die katholischen Reformer wählten bewusst die Differenzierung der Schülerschaft, um zumindest eine Elite von Schülern zu neuen Christen zu bilden und in der Erwartung einer Vorbildwirkung der privilegierten Avantgarde. Die Orden rechtfertigten diese Differenzierung mit dem theoretischen Konzept der Nacheiferung (emulation), nach der sich die Mehrheit der Schüler in ihrem Verhalten an den herausragenden starken Schülerpersönlichkeiten orientieren würde. Die Beispiele der Fußballgruppen und Pfadfinder deuten jedoch darauf hin, dass sich die nicht berücksichtigten Schüler anderen Aktivitäten zuwandten und das Mehr an Religiosität der Schülerelite durch ein Weniger in der größeren Schülergruppe erkauft wurde. Zudem gab es schon früh Stimmen, die statt einer vorteilhaften Beeinflussung der Schüler untereinander, umgekehrt gerade den sozial am wenigsten vorteilhaften Schülern den größten Einfluss an den Schulen zusprachen und vor diesem Hintergrund die Internatsform als ganze in Zweifel zogen: „Unglücklicherweise sind es nicht die durch ihre intellektuellen Fähigkeiten oder die Güte ihrer Ansichten herausragenden Schüler, welche den Ton angeben. Hier, wie in der Politik, sind es zumeist diejenigen, die am wenigsten Qualifikationen dazu haben. Die Kaziken der Schule sind in der Regel die aufdringlichsten und unverschämtesten, die rücksichtslosesten, die engstirnigsten und gewalttätigsten [Schüler, T,K.], diejenigen mit den radikalsten und abwegigsten Ansichten.“183
Diese Beurteilung war selbstverständlich parteiisch und wird den beschriebenen Schülern sicher kaum gerecht. Doch jenseits der Frage nach ihrem Wahr183
Domingo Lázaro, La educación en la familia y por la familia (III.), RdEF 32, Nov. 1918. Hervorhebung im Original. Lázaros Beschreibung findet sich in kirchenkritischen Autobiographien gespiegelt. Siehe etwa Manuel Azaña, El jardín de los frailes, Madrid 1927, S. 33f.; Goytisolo, Jagdverbot, S. 137.
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heitsgehalt deutet sie sehr deutlich auf die Existenz von Prestigeformen und Loyalitäten an den Schulen hin, die quer zu den von der Schulleitung etablierten meritokratisch-religiösen Unterteilungen der Schüler standen und von den Erziehern kaum beeinflusst werden konnten. Eine gleichsam natürliche Diffusion von Religiosität von der religiösen Schülerelite in die breite Masse der Heranwachsenden hinein muss vor diesem Hintergrund als äußerst zweifelhaft erscheinen. Dies umso mehr, als der intellektuelle Charakter der neuen religiösen Organisationsformen, die sich in vielem an den Praktiken heutiger universitärer Seminare orientierten, ihre Attraktivität deutlich minderte. Darauf deuten die Schwierigkeiten, die freiwillige Studienzirkel in katholischen Jugendverbänden dauerhaft zu installieren, ebenso hin, wie Beobachtungen des Katholischen Jugendverbandes, dass „die Jugendlichen Aktionen wollen“ und bei deren Ausbleiben dem Verband bald wieder den Rücken kehrten.184 Angesichts des hohen Arbeitsaufwandes an Lektüre und der Verfertigung von Vorträgen und Texten war die Mitarbeit in den neuen religiösen Gemeinschaften für viele, vielleicht sogar die meisten Teilnehmer eher eine anstrengende Pflicht, denn ein spirituell erfüllendes Erlebnis. Schließlich muss auf einen fundamentalen Widerspruch in der religiösen Persönlichkeitsbildung in der Gruppe der religiös aufgeschlossenen Schüler selbst verwiesen werden. Die religiöse Dynamik kannte keinen festen Endpunkt. Sie zielte auf eine immer weiter zu treibende Daueraktivierung und Dauerreform der Persönlichkeit, welche die stete Gefahr einer Überforderung der Schüler und eines Nachlassens religiösen Elans als Konsequenz mit sich zog. Viele Autobiographien erzählen von anfänglichen Versuchen, die Vorgaben der Schulen perfekt zu erfüllen, gefolgt von Glaubenskrisen und einem deutlichen Nachlassen der inneren Beteiligung am religiösen Schulleben.185 Einige Indizien bestätigen die Grenzen katholischer Mobilisierungsfähigkeit an den Schulen. So empfing am Colegio Nuestra Señora del Pilar Anfang der 1920er Jahre oft deutlich weniger als die Hälfte der Schüler freiwillig die Kommunion. Im Festgottesdienst zu Ehren der Schulpatronin am 12. Oktober 1922 waren es beispielsweise nur 370 der 1 500 Schüler. Und selbst in der religiös aufgeputschten Atmosphäre des Kollegs San José 1935 gab es immer noch eine Minderheit von Schülern, die sich der täglichen Kommunion verweigerten.186 Sehr deutlich zeigen sich die Grenzen religiöspolitischer Mobilisierung anhand der katholischen Jugendorganisationen, etwa der bereits im Jahr 1911 gegründeten, dem Franziskanerorden nahe stehenden Antonianischen Jugend (Juventud Antoniano), einem wichtigen 184 185 186
Manuel Vigil y Vazquez, Selección, Hogar Antoniano 43, Feb. 1936; Victor García Hoz, Organisación, La Flecha 48, Mai 1936. Alberti, Arboleda, S. 32f., der sich erinnert, im ersten Schuljahr ein „fast vorbildlicher Schüler“ gewesen zu sein. Siehe weiterhin: Azaña, Jardín, S. 105–116. Crónica, El Pilar 1, Jan. 1923; La Vida en Curía, Nuevos Jovenes 7, 28.2.1935.
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Teil der Katholischen Jugendbewegung im Madrid der 1930er Jahre. In ihm traf sich eine Gruppe katholischer Jugendlicher, die sich tatsächlich sehr weitgehend an den Vorgaben der Kirche zur religiösen Selbstbildung orientierte, in ihrer Zeitschrift in drastischen Worten die Republik angriff und sich als Teil einer „militanten Kirche“ und „stattliche und kriegerische Soldaten“ bezeichnete.187 Doch selbst diese Gruppe klagte in den Hochzeiten politischer Mobilisierung im Frühjahr 1936 über die Apathie nicht nur der Masse der katholischen Jugendlichen, sondern auch vieler Mitglieder. „Diese Juventud Antoniano leidet manchmal an Unentschiedenheit und Lauheit“, so bemerkte einer ihrer Leiter Ende Februar 1936 bitter: „Auf eine Zeit regelmäßiger Sitzungen der Studienzirkel folgen einige wenig glückliche Wochen, in denen die Kontinuität zerbricht und die Wirksamkeit dieser Einrichtung in Gefahr gerät. Und das Gleiche lässt sich hinsichtlich der religiösen Praktiken (vida piadosa) des Verbandes und dessen anderen Aktivitäten feststellen.“188 Der Verband sah in dieser Situation nur den Ausweg, als elitärer Zusammenschluss von Auserwählten (selectos) die Propagandaarbeit unter den Heranwachsenden gegen alle Hindernisse weiter zu verstärken. Der allgemeine, fest in der Katholischen Aktion verankerte katholische Jugendverband sah sich im Frühjahr 1936 vor die gleichen Probleme gestellt. Nur eine kleine Minderheit der katholischen Privatschüler Madrids trat ihm bei. Die Verbandsführung stellte sogar ihr Bemühen um eine populäre katholische Jugendzeitschrift ein, da sie ihre eigene Mobilisierungskraft als ungenügend ansah. Der Jugendverband erklärte im April 1936, zur Hochzeit politischen Parteienstreits in Spanien, frustriert: „Die religiöse Ignoranz unserer Jugend ist überwältigend. [Es, T.K.] existiert eine absolute Unwissenheit hinsichtlich der christlichen Moral [. . . ]. Wir leben in der Wüste“.189 Auch wenn diese Aussagen eine engere Verbandssicht spiegeln, zeigen sie doch auch, dass sich die katholischen Jugendverbände im Frühjahr 1936 keineswegs als Sprachrohr einer breiten Jugendbewegung verstanden, sondern eher als eine dem Zeitgeist trotzende kleine und belagerte Elite. Die Reform religiöser Persönlichkeitsbildung an den Schulen blieb nicht ohne Erfolg. Es bildeten sich tatsächlich Gruppen von Heranwachsenden, die 187 188 189
F. Puchades, Docente omnes (Enseñad a todos), Hogar Antoniano 2, Juli 1932. Siehe weiterhin: F. Puchades, Las dos banderas, Hogar Antoniano 4, Sep. 1932. Manuel Vigil y Vazquez, Selección, Hogar Antoniano 43, Feb. 1936. Ähnlich: „Ante nuestra boda de plata“, Hogar Antoniano 46, Mai 1936. D. Santos Beguiristain, El Apostolado de la Juventud de la Acción Católica, La Flecha 47, April 1936; Acción católica en los colegios y escuelas, La Flecha 46, März 1936; Editorial: Una obra de todos para todos, La Flecha 44, Jan. 1936. Vgl. auch: Chiaki Watanabe, Confesionalidad Católica y Militancia Política. La Asociación Católica Nacional de Propagandistas y la Juventud Católica Española (1923–1936). Phil. Diss., Madrid 2003; Ders., La Politización de los Jóvenes Católicos durante la II. República, in: Feliciano Montero (Hrsg.), La Acción Católica en la II. República, Alcalá de Henares 2008, S. 73–87.
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sich eng mit den politisch-religiösen Zielen der katholischen Kirche identifizierten, sich als exklusive Gemeinschaften christlicher Kämpfer stilisierten und aktiv im öffentlichen Leben für die katholischen Positionen eintraten.190 Doch dürfen die inneren Widersprüche und Grenzen der Reformen nicht übersehen werden. Selbst in den weiterführenden katholischen Privatschulen erhielt nur eine kleine Gruppe von Schülern eine intensive religiöse Ausbildung wie sie die pädagogischen Vordenker für notwendig erachteten, um gegen den Ansturm der laizistischen Kräfte bestehen zu können. Die intellektuelle Religiosität der Studienzirkel und Kongregationen vermochte nie mehr als eine Minderheit der Schüler längerfristig zu mobilisieren. Sogar zu den Hochzeiten religiös-politischer Spannungen in Spanien war nur eine Minderheit von Kindern bereit, sich für die Partizipation an einem militanten, apostolischen Katholizismus zu entscheiden. Die Schulen selbst waren nicht nur Ausbildungsstätten religiöser Apostel, sondern auch fachliche Bildungseinrichtungen, welche sich über die guten Noten ihrer Schüler vor den staatlichen Prüfungskommissionen ebenso Sorgen machten wie über deren religiöse Haltung. Über den intensiven Kontakt zu den bürgerlichen Familien – und verstärkt durch Öffnungsprozesse seit dem Ersten Weltkrieg – wirkte die neue öffentliche Kinderkultur auf die konfessionellen Schulen ein. Diese versuchten sie für sich zu nutzen, mussten deren Eigenlogik jedoch auch Tribut zollen.
190
Siehe hierzu auch die parallelen Beobachtungen zum Katholischen Jugendverband: Watanabe, Confesionalidad, S. 377f.
2. Die große Ernüchterung. Katholische Bildung und Privatschulen im Bürgerkrieg und im frühen Franquismus Der Putsch der Generäle gegen die Republik im Juli 1936 veränderte die Rahmenbedingungen des Aufwachsens und der Persönlichkeitsbildung grundlegend. Dies betraf einerseits materielle Aspekte der Versorgung, die sich mit Kriegsbeginn bald rapide verschlechterte, sowie familiäre Aspekte. Viele Kinder wurden durch den gewaltsamen Tod des Vaters oder beider Elternteile durch Kriegshandlungen oder Säuberungsaktionen zu Halbwaisen oder Waisen. Andererseits, und in unserem Kontext wichtiger, löste sich die Konfrontation zwischen den katholisch-nationalen und laizistisch-republikanischen Erziehungsmilieus, welche den Wandel von Bildung und Erziehung seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts wesentlich bestimmt hatte, in den beiden Kriegszonen zugunsten einer umfassenden Hegemonie des einen oder des anderen Lagers auf. Die folgenden Abschnitte bezwecken keine Gesamtgeschichte der Kindheit im Bürgerkrieg und in der Nachkriegszeit.1 Vielmehr fragen sie nach den Auswirkungen des Krieges und der neuen bildungspolitischen Machtverhältnisse auf die katholische Bildungsbewegung und die katholischen Schulen. Es interessiert vor allem die Frage der Kontinuität und des Bruches der öffentlich-medialen Kinderkultur sowie der katholischen Persönlichkeitsbildung. Durch die Beantwortung dieser Frage soll die langfristige Wirkmacht der geschilderten Entwicklungen in ersten Ansätzen erkundet werden. Bedeutete die Etablierung der franquistischen Diktatur das Ende der urbanen Kinderkultur und der katholischen Reformbewegung oder bestanden diese kaum verändert fort? Eine Beantwortung dieser Frage gibt auch Hinweise für eine Geschichte der Franco-Diktatur und besonders zur Sozialgeschichte ihrer Herrschaft. Das Kapitel gliedert sich in zwei Teile. Zunächst wird anhand einer Fallstudie zum Jesuitenkolleg San José die Auswirkungen des Krieges auf bürgerliche Kinder aus regimenahen Familien sowie auf das Schulregime untersucht. In welchem Maße gliederten sich die Heranwachsenden, gliederte sich die Schule in die nationalistischen Kriegsanstrengungen ein? Welche Konsequenzen hatte der Krieg für die Ordnung und Organisation des Schullebens? Im Anschluss 1
Vgl. als ersten Ansatz einer solchen Geschichte: Kössler, Children. Siehe auch, mit einem Schwerpunkt auf den im Ausland exilierten Kindern: Sierra Blas, Palabras Huérfanas; Alted Vigil, Niños; Dies., Historia y Memoria de los Niños de la Guerra (en el Siglo XX), Madrid 2003.
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IV. Schulen der Diktatur, Schulen der Demokratie?
wird kurz auf die franquistische Kinderkultur eingegangen und die Art und Weise der kulturellen Integrationsversuche von Kindern in die franquistische Herrschaftsordnung erörtert. In einem zweiten, längeren Teil weitet sich der Blick auf das katholische Erziehungsmilieu und seine Bildungsreformer. Die Forschungsliteratur zum Franquismus hat katholische Bildung und Erziehung als Teile des diktatorischen Unterdrückungsapparates analysiert, dessen Ziel die ideologische Formierung und autoritäre Unterwerfung der Bevölkerung und damit die Sicherung der überkommenen Gesellschaftsstrukturen und traditionalen Herrschaftsformen war. Die katholische Kontrolle über das Bildungswesen erscheint somit als wichtiger Sperrriegel gesellschaftlichen wie politischen Wandels.2 Diese Deutung kollidiert jedoch mit neueren Erkenntnissen über die soziale Mobilisierungskraft des spanischen Katholizismus im Bürgerkrieg. Die Kirche stellte, wie die britische Historikerin Mary Vincent überzeugend argumentiert hat, keineswegs nur einen verlängerten Arm der traditionellen Eliten dar, sondern war auch der Bezugspunkt einer bedeutenden politischen Basismobilisierung, die nur mühsam von der Kirchenhierarchie kontrolliert und kanalisiert werden konnte.3 Angesichts dieser konträren Einschätzungen verspricht eine detaillierte Untersuchung der katholischen Bildungsdebatten neue Erkenntnisse über die Rolle, innere Kohärenz und Dynamik des Katholizismus in der franquistischen Diktatur.
2.1 Mobilisierung und Demobilisierung: Katholische Schulgesellschaften im Bürgerkrieg Der Beginn des Bürgerkrieges fiel in die Schulferien. Die meisten Schüler des Kollegs San José in Curía verbrachten ihre Ferien an ihren Heimatorten in Spanien. Von dort hatten viele in den Wochen vor dem Militärputsch wie schon im vorangegangenen Sommer von der Gründung katholischer Jugendgruppen und öffentlichen Präsentationen der katholischen Scouts berichtet. Diese Aktivität bildete die Grundlage für die unmittelbar mit Kriegsbeginn einsetzende freiwillige Inkorporierung vieler Schüler in die nationalistische Mobilisierung. In Briefen an ihre Lehrer berichteten Schüler von ihrer aktiven Mitarbeit bei der Gründung von katholischen Milizen, Falangeverbänden beziehungsweise deren Jugendgruppen, deren Tätigkeit und Rituale sie 2 3
Siehe nur: Bernecker, Geschichte Spaniens, S. 196–98; Ders., Spaniens Geschichte seit dem Bürgerkrieg, München 1984, S. 71f. Vincent, Spanish Civil War. Vgl. auch: Francisco Javier Caspistegui, „Spain´s Vendée“: Carlist Identity in Navarre as a Mobilising Model, in: Chris Ealham/Michael Richards (Hrsg.), The Splintering of Spain. Cultural History and the Spanish Civil War, 1936–1939, Cambridge 2005, S. 177–95.
2. Katholische Bildung und Schulen im Bürgerkrieg und Franquismus
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an die Pfadfinderverbände in Curía erinnerte. Ob die Schüler vor Ort sich der Falange anschlossen beziehungsweise diese gründeten oder aber katholische Jugendgruppen (Juventudes de Acción Popular, JAP), hing anscheinend eher von örtlichen Konstellationen ab, denn von grundlegend unterschiedlichen politischen Programmen. So berichtete ein Schüler aus Galicien, dass „wir JAPisten und Faschisten mit unseren jeweiligen Gewehren durch die Straßen marschieren“ und ein anderer Schüler bemerkte, ebenfalls aus Galicien, dass er „hier bereits viele aus Curía im Blauhemd“ der Falange gesehen habe.4 Die Einbeziehung vieler Schüler in die nationalistische Kriegsmobilisierung endete nicht im Beitritt zu Jugendgruppen. Gerade viele der älteren Schüler, die im letzten Schuljahr etwa 14 bis 15 Jahre alt waren, und vor allem viele ehemalige Schüler drängten in die Milizen und an die Front. Der Schüler Juan Escudero berichtete in einem Brief von seiner Teilnahme an einer Militäraktion gegen „die Roten“ und ein anderer versicherte einem Lehrer, dass, falls die Kommunisten nach Orense kämen, ihnen dort die Hälse durchgeschnitten würden.5 Viele Briefeschreiber berichteten von Auseinandersetzungen mit ihren Vätern darüber, sich freiwillig für die nationalistischen Milizen und Streitkräfte melden zu dürfen. Bald auch trafen in Curía die ersten Meldungen von Gefallenen ein, welche in der Regel die Namen von ehemaligen, teilweise aber auch von aktuellen Schülern enthielten. Schon Mitte August wusste die Schulleitung von einer ganzen Anzahl von Schülern, die an der Front gegen die Republik kämpften. Auch einige Lehrer meldeten sich freiwillig zum Kriegsdienst.6 Es fällt auf der Grundlage der begrenzt vorliegenden Informationen schwer, das genaue Ausmaß der Freiwilligenmeldungen zu bestimmen. Da die Berichterstattung nach dem September 1936 über Schüler im Militär deutlich zurückging, kann jedoch davon ausgegangen werden, dass gerade aufgrund des Alters der Schüler das Phänomen auf einige Schüler des Abschlussjahrgangs begrenzt war. Die Schulleitung hatte aber ein Interesse daran, deren Einsatz groß herauszustellen, da dieser Einsatz auch die Leistung der Schule im nationalistischen Kampf aufwertete. Der Krieg prägte das Schulleben bald intensiv. Der Geographielehrer Padre Blanco vollzog mit seinen Schülern im Geographieunterricht vor jeder Stunde die Truppenbewegungen nach und teilte seine Schüler zu Prüfungen regelmäßig in „Kommunisten“ und „Antikommunisten“. Auch der Padre de los Ríos öffnete seine Klassen dem Krieg und ließ seine Schüler militärische Haltungen üben.7 Darüber hinaus bestimmten die wechselnden Kriegsereignisse das Schulleben. Die Schlacht um Madrid im Winter 1936/37 begleiteten die Schü4 5 6 7
¡España en pie! Nuevos Jovenes 30, 15.8.1936. Siehe daneben vor allem die Einzelberichte in: Noticias de nuestros colegiales y sus familias, Nuevos Jovenes 31, 15.9.1936. Ebd. De última hora, Nuevos Jovenes 30, 15.8.1936. Por las clases, Nuevos Jovenes 35, 1.2.1937.
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ler des Abschlussjahrgangs mit außerordentlichen morgendlichen Gebeten und an bestimmten Sonntagen mit unterbrechungslosen Rosenkranzgebeten. Nach der Eroberung Malagas durch die franquistischen Truppen feierte die Schule ein großes patriotisches Fest mit Umzügen und Gesängen.8 Das Kolleg San José fügte sich hiermit in eine Entwicklung ein, welche alle Schulen des Machtbereichs der aufständischen Generäle erfasste. Themen des Krieges wie die Eroberung Toledos bestimmten den Unterricht und das Schulleben richtete sich auf den Krieg aus. Die Schulen hielten Siegesparaden ab, beteiligten sich an Wohlfahrtskampagnen für arme Kinder und schneiderten Kleider für Soldaten.9 Insgesamt förderte die Schulleitung zunächst die Inkorporation der Schüler in den Krieg durch eine Rhetorik des Kampfes und des Opfers, die in direkte Aufrufe mündete, sich der nationalen Sache anzuschließen. So erklärte die Schulzeitschrift am 15. September auf ihrer Titelseite: „Genug der Worte, Schüler von Curía: [. . . ] Um zur Ernte beizutragen, gib dein Opfer: gib dein Blut. Bis zum Tod? Sterben für Gott und Vaterland heißt leben.“ Und zu Beginn des neuen Schuljahres ließ die Direktion alle Schüler in der Schulkapelle schwören, für Christus notfalls zu sterben.10 Die apostolische Aktivierung der Schüler und die Rhetorik von Kampf und Opfer, welche das Kolleg in den Vorkriegsjahren mit gekennzeichnet hatten, ließen einen Einsatz für die Kriegsanstrengungen der nationalen Seite als folgerichtig erscheinen. Die Schule hatte zumindest den Ernstfall eines offenen Kampfes schon vor Kriegsbeginn rhetorisch eingeübt und intensiv beschworen. Der Krieg stellte somit zunächst keinen Bruch der religiösen Schulkultur dar. Hinsichtlich des Schulregimes von San José veränderte der Kriegsbeginn zunächst erstaunlich wenig. Die Schulleitung war im ersten Kriegsjahr bemüht, das spezifische pädagogische Programm der Schule in seiner Mischung aus intensivierter religiöser Schulung und begrenzten Freiräumen möglichst unverändert weiterzuführen. Die neuen Organisationsformen wie die Pfadfindergruppen wie auch die Renovación Escolar bestanden fort. In einem langen Artikel erläuterte die Direktion Anfang 1937 das Konzept von Renovación Escolar noch einmal den neuen Eltern und unterstrich damit dessen prominente Bedeutung in ihrer Schulkonzeption.11 Die Schaffung eines freundlichen, nicht-repressiven Lernraums, die Förderung der Eigeninitiative und Selbstregierung der Heranwachsenden sowie das Zugeständnis gewisser Freiheiten als Prämierung eines selbstdisziplinierten religiösen Lebens bilde8 9
10 11
El distintivo del Colegio, Nuevos Jovenes 33, 1.12.1936; Renovación Escolar en Mondariz, Nuevos Jovenes 34, 1.1.1937; Viva España, Nuevos Jovenes 36, Mai 1937. Vgl. etwa die unterschiedlichen Artikel in Ecos de mi colegio (Salamanca) 100, Okt. 1936; ABC (Sevilla), 2.10., 3.11.1936; Luis Castro, Capital de la Cruzada. Burgos durante la Guerra Civil, Barcelona 2006, S. 170. Los Colores de tu Bandera, Nuevos Jovenes 31, 15.9.1936; Colegio del Apóstol Santiago en Mondariz, Nuevos Jovenes 32, 1.11.1936. Renovación Escolar en Mondariz, Nuevos Jovenes 34, 1.1.1937.
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ten auch nach dem Juliaufstand der Generäle Eckpunkte des Schulregimes. Schließlich brachen auch die Experimente mit neuen Leistungsanreizen nicht ab. Im Frühjahr 1937 führte das Kolleg das Instrument der „Idealnote“ (nota ideal) ein, die es für jeden Schüler zu ermitteln gelte und nicht seine intellektuellen Fähigkeiten als solche, sondern vielmehr seinen individuellen Leistungshorizont abstecke. Auf großen Plakaten wurden im Kolleg die Idealnoten festgesetzt und die wöchentliche Entwicklung der Schüler in ihre Richtung verzeichnet. Ziel war es, auch weniger begabten Kindern einen Anreiz zum Lernen zu geben und den Lernwillen gegenüber den vermeintlich angeborenen intellektuellen Fähigkeiten auf neue Weise zu prämieren.12 Diese Versuche, das Schulregime möglichst nahtlos über den Kriegsbeginn hinweg zu erhalten, stießen sich jedoch nach der Rückkehr der Schule nach Valladolid auf im Einzelnen schwer zu benennende neue Ansprüche des Regimes. Seit 1937 lässt sich als Resultat eine schrittweise Aufhebung der pädagogischen Innovationen feststellen. Eine wichtige Grundlage dieses pädagogischen roll-back war zunächst ein institutioneller und personeller Wandel. Im Herbst 1936 verschmolz das Kolleg San José im Seebad Mondariz für einige Monate aus praktischen Gründen mit der galicischen Jesuitenschule Apóstol Santiago aus Vigo, da der Aufenthalt in Portugal während des Krieges immer schwieriger wurde. Zudem wandelte sich spätestens nach der Rückkehr nach Valladolid im Januar 1937 die Zusammensetzung der Schüler- und Lehrerschaft, auch wenn ein Grundstock an Schülern und Erziehern dem Kolleg erhalten blieb. Die Schülerzahl in Valladolid stieg binnen eines Jahres bis in das Frühjahr 1938 von etwa 440 auf 700 Schüler, da es ein wichtiges Auffangbecken vieler Heranwachsender aus Madrider Schulen war, deren Familien die Flucht in die nationale Zone gelungen war.13 Schon diese wachsende Schülerzahl, die Zusammenlegung des Lehrkörpers, aber auch die nun für die neuen pädagogischen Ziele ungeeignet erscheinenden alten Schulgebäude waren einer Beibehaltung oder gar eines Ausbaus des im abgeschiedenen Curía etablierten reformorientierten Schulregimes nicht förderlich. Hinzu kam, dass die Schule in Valladolid sehr viel direkter unter der Beobachtung der Kirche als auch des neuen Regimes stand als in Portugal.14 Im Laufe des Jahres 1937 vollzog sich vor diesem Hintergrund ein Bedeutungsverlust der schuleignen Organisationen zugunsten einer stärkeren Einbindung der Schule in das franquistische System. Die Schülerorganisationen mit gewissen Autonomierechten verschwanden allmählich aus dem Schulleben. Die lange Beschreibung von Renovación Escolar in Mondariz im Januar 1937 hatte schon deutlich defensive Züge getragen und in Valladolid wurde 12 13
14
La Nota Ideal, Nuevos Jovenes 36, Mai 1937. El Nuevo Curso, Nuevos Jovenes 37, 1.3.1938. 250 Schüler befanden sich im Januar 1937 weiterhin in Mondariz. Zum organisatorischen Wandel: El antiguo y el nuevo Colegio de S. José, Nuevos Jovenes 34, 1.1.1937; Los Dos Colegios, Nuevos Jovenes 35, 1.2.1937. García Iglesias, Renovación, S. 73f.
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die Organisationsform dann tatsächlich nicht mehr aufgegriffen, wenn man das Schweigen der Schulzeitung in diesem Punkt richtig deutet. Die Legión Viril, die nach Kriegsbeginn in Vergessenheit geraten war, wurde zwar im Mai 1937 kurzzeitig unter dem Namen Los amigos de Jesús in Valladolid wiedergegründet, doch konnte auch sie sich nicht dauerhaft in der Schule etablieren.15 Der Bedeutungsverlust dieser Organisationsformen entsprach nicht nur der Aufwertung von Autorität und Disziplin im Krieg, sondern auch dem impliziten Bedeutungsverlust des Leitbilds eines apostolischen, gesellschaftspolitisch aktiven Christentums an der Schule, wie er sich in den marianischen Kongregationen und Studienzirkeln erkennen lässt, die zwar weiter bestanden, aber ebenfalls ihre Rolle als Motoren einer apostolischen Persönlichkeitsbildung allmählich, wenn auch keineswegs vollständig einbüßten. Im Mai 1937 sollten die Studienzirkel zwar weiterhin Themen der Katholischen Aktion verhandeln und die Kongregationen hatten nach Kriegsbeginn ihre soziale Tätigkeit für Unterschichtenkinder deutlich ausgeweitet, doch das Schweigen der Schulzeitschrift zu beiden Institutionen in der Folgezeit deutet auch in diesen Fällen auf einen Bedeutungsverlust und das Anknüpfen an traditionellere Tätigkeitsfelder, insbesondere der Organisation ritueller Frömmigkeit an den Schulen, hin. Im März 1938 beschrieb etwa ein Kongregant die Erweiterung des Bildes der Jungfrau Maria als Teil der Tätigkeit der Kongregation. Zur gleichen Zeit wurden die Studienzirkel mit dem „literarischen Leben“ des Kollegs in Verbindung gebracht.16 Der Bedeutungsrückgang der schuleigenen Schülergemeinschaften korrespondierte mit einem vermehrten Einfluss des Militärs und der Falange an der Schule. Nach Kriegsbeginn schloss sich das Kolleg eng an die neuen militärischen Machthaber an. Dies zeigte sich zunächst in der symbolischen Eroberung der Schule durch Franco, dessen Bild sich in der Schule einen Platz neben dem Kruzifix und dem Bild Marias erstritt. Ein Bild Francos erschien zum ersten Mal im Januar 1937 auf der Titelseite der Schulzeitung, schmückte aber bald die wichtigsten Räume der Schule. Auch die Hakenkreuzfahne wehte anlässlich von Feiern am Schulgebäude. Offiziere der nationalen Streitkräfte und Führer der Falange traten 1938 regelmäßig an Festtagen als Redner in der Schule auf und ermunterten die Schüler zum Kampf für das Vaterland. Das Totengedenken für gefallene ehemalige Schüler inkorporierte eine uniformierte Ehrengarde der falangistischen Kadetten.17 Deutlich sichtbar wird die Eingliederung der Schule in den neuen Staat 15 16
17
„Los amigos de Jesús“, Nuevos Jovenes 36, Mai 1937. La Congregación Mariana, ebd.; Un Congregante, Luz en la noche, Nuevos Jovenes 37, 1.3.1938; El Nuevo Curso, ebd. Siehe auch: Un Congregante, Flores de preocupaciones, Nuevos Jovenes 41, 1.5.1938. Hojas de mi diario: Mondariz, Nuevos Jovenes 34, 1.1.1937; Javier Mendiguchía y Miguel Grávalos, ¡Franco, Franco, Franco! Nuevos Jovenes 37, 1.3.1938; Colegio de Guerra, Nuevos Jovenes 39, 1.4.1938.
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anhand der Entwicklung der Pfadfindergruppen, die seit dem Frühjahr 1937 immer mehr als Konkurrenz zum neugegründeten faschistischen Jugendverband Flechas y Pelayos erscheinen mussten. Die Defensive, in welche die katholischen Pfadfinder gedrängt wurden, zeigte sich zunächst an einer Namensänderung. Seit Mai 1937 taucht in der Schulzeitung der Begriff des Scouts (Explorador) nicht mehr auf. Die Gruppen bestanden jedoch weiter, auch wenn die Zeitungen des Schuljahres 1937/38 nicht mehr in so prominenter Form wie zuvor von ihnen berichteten.18 Spätestens im Frühjahr 1938 erscheinen sie als „Milizen“ der Schule eine prekäre Zwischenstellung zwischen enger Anbindung an die Falange und einer gewissen Autonomie eingenommen zu haben. Die Schulzeitung erwähnt einerseits die Fortführung der sonntäglichen Exkursionen, andererseits aber auch Paraden der Milizgruppen zu den Klängen der Falangehymne, die von einem faschistischen Würdenträger abgenommen wurden. Bilder der Schulschwadrone aus dem Frühjahr 1938 zeigen Kinder in Uniformen, die den faschistischen Gruß ausführen. Das Eindringen der Falange in die Schule zeigt schließlich auch die Teilnahme mehrerer hundert Schüler an einem Aufmarsch der faschistischen Partei in Valladolid am 19. April, bei dem auch der Schulrektor sowie zwei weitere Lehrer sprachen.19 Das Kolleg San José stand bei dieser Einordnung in das neue Regime nicht alleine. In der galicischen Jungenschule Colegio del Apóstol Santiago hatte sich Ende 1937 die Mehrheit der Schüler den falangistischen Flechas unter Führung des Offiziers José González Ferrades angeschlossen. Deren Organisationsstruktur mit escuadras, falanges und centurias mit jeweils eigenen Anführern und Verbindungsoffizieren wirkte in die Schule hinein. Die Flechas trafen sich einmal in der Woche in ihrer „Salon-Kaserne“, die mit Bildern von Franco und dem Falange-Gründer José Antonio Primo de Rivera geschmückt war. Auf den Sitzungen erörterten ihnen erwachsene Falangisten das politische Programm der Organisation und gaben Order für die folgende Woche aus. In der unterrichtsfreien Zeit nahmen die Jungen an einer Vielzahl von Aktivitäten teil, die von der Teilnahme an Aufmärschen über vormilitärische Übungen bis hin zu Manövern reichten.20 Auch jenseits der katholischen Eliteschulen setzte der Kriegsbeginn eine Mobilisierung von Kindern für die Kriegsparteien in Gang. Beide neuen Kriegsregime bemühten sich, einen kindlichen Enthusiasmus zu entfachen und zu kanalisieren. Wie auf republikanischer Seite schlossen sich auch in der nationalen Zone in den ersten Kriegstagen und Wochen viele Heranwachsende spontan den vielen Milizen an, welche an die Front drängten. Tatsächlich 18 19
20
Siehe etwa: Por Dios y por España, Nuevos Jovenes 36, Mai 1937. El Nuevo Curso, Nuevos Jovenes 37, 1.3.1938; Nuestro Onomástico, Nuevos Jovenes 39, 1.4.1938; Bild: Dos de las escuadras saludan, ebd.; Colegio de Guerra, Nuevos Jovenes 41, 1.5.1938. Cadetes y Flechas en un Colegio, in: Atenas 78, Feb. 1938.
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IV. Schulen der Diktatur, Schulen der Demokratie?
gelang es zunächst einer größeren Anzahl von Jugendlichen, an den Kampfhandlungen teilzunehmen. ABC publizierte im September 1936 sogar auf seiner Titelseite ein Bild des „jüngsten“ Mitglieds der karlistischen RequetéMiliz, eines dreizehnjährigen Jungen, der in der Schlacht um das baskische Irún mitgekämpft hatte.21 Während die militärische Selbstmobilisierung der Heranwachsenden jedoch bald auf Widerstand stieß, versuchten die neuen Machthaber und die politischen Organisationen, den kindlichen Enthusiasmus durch die Gründung von uniformierten Kindermilizen aufzufangen. Deren Paraden mit Holzgewehren und Papphelmen bildeten während des ersten Kriegsjahres einen festen Bestandteil des öffentlichen Lebens in den Städten Nationalspaniens. Neu formierte „Kinderbatallione“ marschierten beispielsweise schon kurz nach dem Sieg der nationalen Kräfte durch Granada und die karlistische Kinderorganisation Pelayos konnte nach eigenen Angaben ihre Mitgliederzahl von 10 000 im Juli 1936 auf mehr als 100 000 im Dezember des Jahres erhöhen. Die falangistische Kinderorganisation Flechas war sogar noch erfolgreicher. Im November 1937 gab sie an, alleine in der Stadt Malaga mehr als 10 000 Mitglieder zu haben.22 Die Aufmärsche waren Teil einer breiteren Kampagne, welche die Stärke der Falange demonstrieren sollten, hatten daneben aber auch die Aufgabe, „Körper und Geist“ der Kinder für den Krieg vorzubereiten.23 Die Integration des Kollegs San José in den Krieg fand nach der anfänglichen begeisterten Mobilisierung jedoch bald Grenzen. Die nationalistische Rhetorik und die militärischen Phrasen dürfen nicht verdecken, dass die Schule nur wenig in die konkreten Kriegsanstrengungen eingebunden war. Die patriotisch-militärischen Bezüge und Symbole bildeten in der Praxis oftmals nur einen dünnen Firnis über den etablierten Unterrichtsformen, etwa wenn Prüfungsduelle in der Klasse nicht mehr zwischen „Römern“ und „Kathargern“ sondern zwischen „Kommunisten“ und „Antikommunisten“ ausgetragen wurden.24 Wie ambivalent die kriegerische Metaphorik, darin der Vorkriegszeit ähnlich, war, zeigt auch die Aufforderung der Direktion an ihre Schüler, es den Frontsoldaten gleichzutun. Damit meinte sie jedoch nicht, sich für den tatsächlichen militärischen Kampf auszubilden, sondern die militärischen Tugenden als Vorbild für einen christlichen Lebenswandel zu nehmen: „Eure Uniform ist die heiligende Gnade, eure Kampfwaffen sind das Gebet, der Gehorsam gegenüber euren Eltern und die Bußhandlungen.“25 Neben der Thematisierung des Krieges und symbolischen, patriotischen 21 22 23 24 25
ABC (Sevilla), 8.9.1936. ABC (Sevilla), 4.8.1936; Nuestro Semenario, Pelayos 1, 27.12.1936; Los futuros soldados del Imperio, Fotos, 27.11.1937. Flechas de España: Campamiento José Antonio, Fotos, 21.8.1937. Siehe auch: La legión de los flechas en los campos de Castilla, Fotos, 24.4.1937. Por las clases, Nuevos Jovenes 35, 1.2.1937. Imitadles, Nuevos Jovenes 37, 1.8.1937.
2. Katholische Bildung und Schulen im Bürgerkrieg und Franquismus
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Akten eroberten sich schon mit Beginn des Schuljahres 1936/37 der Fachunterricht aber auch Freizeitaktivitäten wieder deutlich mehr Raum. In Mondariz fanden Ende 1936 beispielsweise weiterhin Pferderennen statt. Im näher an der Front gelegenen Valladolid war die Schule zwar deutlicher vom Krieg betroffen, 1938 kampierten etwa regelmäßig Soldaten auf dem Schulhof, doch gelang es der Schulleitung, ein Schulleben entlang der Linien der Vorkriegsjahre weitgehend zu erhalten. Schon Ende Januar 1937 konnte die Schule etwa eine neue Sportanlage in der Stadt einweihen, mit Fußball- und Basketballplätzen, Trampolin und einem Fahrrad-Parcours. Und auch der Verweis auf viele kleine Unannehmlichkeiten wie der notgedrungene Verzicht auf Einzeltische oder der Verzicht auf Karnevalsfeiern konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es der Schule, wie die Schulleitung selbst eingestand, „an nichts fehlte“. Auch wenn dies sicher nicht der alleinige Grund des offiziellen Schulpatriotismus war, so lässt sich dieser doch auch als Versuch verstehen, die Tatsache eines weitgehend geregelten Unterrichts zu verdecken und sich gegenüber der Außenwelt als „Schule im Krieg“ zu präsentieren.26 Auch wenn man den Blick von der Schule auf die mediale Kinderkultur hin erweitert, zeigt sich der im Kolleg San José sichtbare doppelte Prozess von autoritärer symbolischer Integration und eines gleichzeitigen zunächst verdeckten Anschlusses an Elemente der Vorkriegszeit, die quer zur patriotisch-politischen Einbindung der Kinder in den Krieg standen. Je weiter der Krieg und damit der franquistische Vormarsch fortschritt, desto mehr sank die Notwendigkeit einer vormilitärischen Ausbildung und ideologischen Mobilisierung der Heranwachsenden. Ein gutes Indiz hierfür ist das Wiederauftauchen von zivilen Kinderbildern, die Kinder bei Freizeitaktivitäten und an Freizeitorten wie Stränden zeigen. In den illustrierten Magazinen der Nationalen Zone standen schon 1938 Bilder von spielenden Kindern in Seebädern, einem klassischen Topos der medialen Kinderdarstellungen der frühen 1930er Jahre, neben Fotos von uniformierten Kinderkolonnen.27 Eine Analyse des erstmals im Dezember 1938 aufgelegten falangistischen Kindermagazins Flechas y Pelayos bestätigt diese Befunde. Neben moralischen Appellen und der Propagierung nationaler Pflichten und Opfer griff die Zeitschrift geschickt das populäre Modell des von Erwachsenen unabhängigen, aktiven und schlauen Kindes auf. Es stand damit in deutlichem Kontrast zu dem Ende 1936 gegründete Kindermagazin der Karlisten Pelayos, das in der Tradition älterer Kindermagazine in seinen Geschichten und Kolumnen Kinder stets Erwachsenenfiguren untergeordnet und als erwachsener Führung bedürftig gezeichnet hatte.28 Die falangistischen Kinderbeauftragten hatten 26
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Colegio del Apóstol Santiago en Mondariz, Nuevos Jovenes 32, 1.11.1936; Hojas de mi diario: Mondariz, Nuevos Jovenes 34, 1.1.1937; En este treinte días (Valladolid), Nuevos Jovenes 35, 1.2.1937; Colegio de Guerra, Nuevos Jovenes 37, 1.3.1938. Los chicos en el mar, Fotos, 1.10.1938. Trotz vieler Gemeinsamkeiten in der politisch-ideologischen Ausrichtung zeigt dies ein
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IV. Schulen der Diktatur, Schulen der Demokratie?
aus der Vorkriegszeit gelernt, dass es am Ende der 1930er Jahre nicht mehr möglich war, Kinder dauerhaft an sich zu binden, wenn man ihren Wünschen und Sehnsüchten nicht entgegenkam. Darüber hinaus kann der in allgemeinen Illustrierten wie Kinderzeitschriften aufscheinende Dualismus von nationalistischer Propaganda und dem Anknüpfen an weniger politische Tendenzen der Medienkultur der Vorkriegsjahre als bewusster Versuch des Regimes gelesen werden, eine neue, aber widersprüchliche Vision von Kindheit im Neuen Staat Francos zu schaffen, die politisch-nationale Formierung mit der Akzeptanz einer relativ autonomen Kindersphäre kombinierte. Diese Vision verband Repression und Kontrolle mit Anreizen, im neuen Staat mitzuwirken, öffnete mittelfristig aber auch den Kindern Nischen politikferner Aktivität. Es ist vor diesem Hintergrund kein Zufall, dass viele Kinder der regimenahen Mittelschichten die Kriegsjahre als „große Party“ erinnerten.29 Es muss jedoch betont werden, dass sich die Anreize vor allem an die Kinder des francotreuen Bürgertums richteten, während die Kinder aus den Unterschichten und republiknahen Familien lange Zeit von der neuen Kinderkultur der Nachkriegsjahre ausgeschlossen blieben.
2.2 Katholische Pädagogen zwischen Reformeuphorie und Verfolgungstrauma Der Ausbruch des Bürgerkrieges traf das katholische Erziehungsmilieu unvermittelt.30 Auf einem großen Erziehungskongress, der Ende Juni 1936 in Barcelona stattfand, hatten Katholiken zwar ausführlich über die richtige Taktik gegenüber der antiklerikalen Bildungspolitik der amtierenden Volksfrontregierung beraten, doch hatten die Redner die versammelte bildungspolitische Elite auf eine lange Abnutzungsschlacht eingeschworen, nicht auf einen raschen gewaltsamen Machtwechsel. Der Putsch der Militärs vom 17. Juli überraschte denn auch die verschiedenen Bildungsorganisationen in ihren Vorbereitungen für die seit einigen Jahren üblichen Fortbildungskurse für Lehrer und die Ferienlager für Kinder in den Sommermonaten.31
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Vergleich der jeweils ersten Ausgaben der Zeitschriften sehr deutlich: Flechas y Pelayos, 11.12.1938; Pelayos, 27.12.1936. Castro, Capital, S. 158. Zur Entstehung einer relativ regimefernen Kinderkultur, deren Popularität zum Scheitern von Flechas y Pelayos führte, siehe die Überlegungen in: Francisco Tadeo Juan, Introducción, in: Flechas y Pelayos. Semenario Nacional Infantil [Faksimile], Madrid, o.J. , S. 34. Zur Bedeutung des Krieges für den spanischen Katholizismus: Lannon, Privilege, S. 198– 223. Vgl. Congreso Católico de Educación, ABC (Sevilla), 11.6.1936; Las colonias escolares, ebd., 25.6.1936.
2. Katholische Bildung und Schulen im Bürgerkrieg und Franquismus
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Der Kriegsausbruch traf die Katholiken mit voller Wucht. Als höchst widersprüchlich erfahren, drückte er den katholischen Erziehungsdebatten in den Nachkriegsjahren nachhaltig seinen Stempel auf. Trotz aller Schrecken, die der Krieg für die Kirche mit sich brachte, begrüßten die meisten katholischen Erzieher ihn, versprach er doch den entscheidenden Durchbruch im Jahrzehnte andauernden hartnäckigen Stellungskampf gegen die liberallaizistische Bildungsreformbewegung. Einer wahrhaft religiösen Prägung der neuen Generationen und damit einer dauerhaften Rechristianisierung Spaniens, so schien es, stand mit einem Male nichts mehr im Wege. Tatsächlich eroberte sich die Kirche schnell eine hegemoniale Position im Bildungswesen des neuen Franco-Staats.32 Zwar ist in jüngster Zeit zu Recht die Bedeutung faschistischer Ansprüche in der frühen Bildungspolitik des Franco-Staates neu betont worden, an der dominierenden Rolle katholischer Interessenvertreter besteht aber keinerlei Zweifel.33 Keine wichtige bildungspolitische Entscheidung konnte gegen die Kirche gefällt werden, die alle Bildungsminister des frühen Franquismus und viele Funktionäre in der staatlichen Bildungsverwaltung stellte. Dank seiner in der Vorkriegszeit aufgebauten organisatorischen und personellen Netzwerke verfügte das katholische Erziehungsmilieu über eine institutionelle wie konzeptionelle Hegemonie innerhalb der spanischen Rechten, der gegenüber neue faschistische Ansätze kaum etwas auszurichten vermochten.34 Eine eigenständige faschistische Pädagogik hatte es vor 1936 nicht gegeben. Eine Folge der kirchlichen Vormachtstellung war, dass katholische Auffassungen selbst in falangistischen Kreisen eine große Rolle spielten, so dass eine klare Abgrenzung faschistischer und katholischer Pädagogik in vielen Fragen kaum möglich ist.35 Allein hinsichtlich der Rolle des Staates konnten sich die Falangisten den katholischen 32
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Dieser Prozess steht im Mittelpunkt fast aller bildungshistorischen Forschungen zum Franquismus und braucht deshalb hier nur knapp beschrieben werden. Die klassische Schilderung ist: Alted Vigil, Política del Nuevo Estado sobre el Patrimonio Cultural y la Educación durante la Guerra Civil Española, Madrid 1984. Zur Frühphase siehe weiterhin: Molero Pintado, Educación. Neuere, aber inhaltlich wenig unterschiedliche Darstellungen bieten: Alejandro Mayordomo Pérez/Juan Manuel Fernández Soria, Vencer y Convencer. Educación Política, España 1936–1945, Valencia 1993; Alejandro Mayordomo Pérez (Hrsg.), Estudios sobre la Política Educativa durante el Franquismo, Valencia 1999. Als lokales Fallbeispiel: Irene Palacio Lis/Cándido Ruiz Rodrigo, Infancia, Pobreza y Educación en el Franquismo: Valencia 1939–1951, Valencia 1997, S. 18–69. Als wichtige Quellensammlung: Alfonso Sánchez, Iglesia. Zum Forschungsstand: Irene Palacio Lis/ Cándido Ruiz Rodrigo, Educational Historiography of the Franco Regime: Analysis and Critical Review, in: Paedagogica Historica 39 (2003), S. 339–60. Eine Neubewertung des bildungspolitischen Einflusses faschistischer Strömungen unternimmt: Francisco Morente Valero, Los Fascismo Europeos y la Política Educativa del Franquismo, in: Historia de la Educación 24 (2005), S. 179–204. Bernecker, Geschichte Spaniens, S. 197. Die nominell falangistischen Erziehungszeitschriften Escuela Azul und Revista de Educación Hispánica veröffentlichen beispielsweise kontinuierlich Artikel zu religiösen Themen und von kirchennahen Autoren.
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IV. Schulen der Diktatur, Schulen der Demokratie?
Forderungen nach einem weitgehenden Rückzug der öffentlichen Hand aus dem Bildungsbereich erfolgreich widersetzen.36 Insgesamt konnte die Kirche jedoch ihr eigenes Bildungssystem reorganisieren und weiterführen. Das katholische Schulwesen, das schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stetig expandiert war, baute seine Stellung weiter aus.37 Während die Zahl der staatlichen Sekundarschulen (institutos) zwischen 1939 und 1959 nur um sechs von 113 auf 119 zunahm, versechsfachte sich die Zahl der katholischen colegios allein in den zehn Jahren nach Ende des Bürgerkrieges 1939. In der Region Valencia, vormals eine Hochburg des spanischen Republikanismus, standen 1950 11 staatlichen Instituten 38 katholische private Sekundarschulen gegenüber. Entsprechend sank die Zahl der Schüler an den Staatsschulen von 53.700 im Schuljahr 1940/41 auf 37.850 im Jahr 1944/45, während die Zahl der katholischen Privatschüler im gleichen Zeitraum von 104.000 auf 125.000 stieg. Im Primarbereich wuchs das Gewicht katholischer Schulen ebenfalls, wenn auch weniger spürbar als im Sekundarbereich. Immerhin unterrichteten kirchliche Schulen 1950 mehr als 600.000 Grundschüler, vor allem in den Städten, während 2,1 Millionen Kinder an staatlichen Schulen angemeldet waren.38 Alle wichtigen katholischen Bildungsorganisationen setzten ihre Arbeit nach einer kurzen Unterbrechung in den turbulenten ersten Kriegswochen in der Nationalen Zone fort. Die FAE siedelte beispielsweise von Madrid nach Burgos über und konnte schon im Dezember 1936 die Herausgabe ihrer Zeitschrift Atenas wieder aufnehmen.39 Auch hinsichtlich ihres religiösen Erziehungsprogramms verfolgte die Kirche einen klaren Expansionskurs. Sie hielt nun die Zeit für gekommen, religiöse Erziehung umfassend und dauerhaft im Bildungswesen zu verankern. Fast unmittelbar nach Kriegsbeginn begann sie im Zuge einer hartnäckigen Lobbyarbeit, den in den republikanischen Jahren verloren gegangenen Boden zurückzuerobern und zu erweitern. Eine Reihe von Einzelverordnungen bildete den Anfang. Schon am 21. September 1936 führte das Militärregime den obligatorischen Religionsunterricht flächendeckend wieder ein, im Frühjahr 1937 verfügte es die Feier des Mai als „Monat Marias“ an allen Schulen und machte die religiö36 37
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Vgl. Alted Vigil, Política, S. 157–66; Escolano Benito, Educación, S. 159–62. Gesetzliche Verankerungen des kirchlichen Einflusses bildeten das 1938 erlassene Gesetz zur Reform der Sekundarerziehung und die Reform der Primarerziehung 1945. Siehe Juan Manuel Fernández Soria, Educación y Cultura en la Guerra Civil (España 1936–39), Valencia 1984, S. 193f. Mayordomo Pérez/Fernández Soria, Vencer, S. 148. Alted Vigil, Política, S. 209; Escolano Benito, Educación, S. 178, 183f.; Fernández Soria, Educación, S 194. Zu Valencia: Palacio Lis/Ruiz Rodrigo, Infancia, S. 35. Detailliertere Angaben zu den katholischen Schulen finden sich in: Faubell, Ordenes; Ders., Educación y Órdenes y Congregaciones Religiosas en la España del Siglo XX, in: Revista de Educación. Número Extraordinario: La Educación en España en el Siglo XX. (2000), S. 137– 200. Alfonso Iniesta, Dolor y Esperanza, Atenas 64, Dez. 1936.
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se Begrüßungsformel „Ave María Purisima“ verpflichtend. Im März 1938 verordnete es schließlich den gemeinsamen Messebesuch von Lehrern und Schülern an Feiertagen.40 Nach Kriegsende systematisierte und erweiterte das Regime diese adhoc-Maßnahmen in einigen umfangreicheren Gesetzeswerken. Die Ziele der Kirche reichten weit über die Wiedereinführung des Religionsunterrichts hinaus. Das gesamte Bildungswesen sollte entsprechend den Zielen neuer christlicher Persönlichkeitsbildung deutlicher als jemals zuvor religiös imprägniert werden. Im Primarbereich gewann die Kirche nicht nur ihr Recht zur Schulinspektion zurück, sondern setzte auch die Gründung von lokalen Beiräten (patronatos) durch, die ein Gegengewicht gegenüber der misstrauisch beäugten staatlichen Bildungsbürokratie bilden sollten. Weiterhin setzte sie eine enge Anbindung der öffentlichen Schulen an die Pfarreien durch. Schulneubauten sollten möglichst neben Pfarr- oder Ordenshäusern gebaut werden, um eine intensive religiöse Durchdringung der Bildungsanstalten zu gewährleisten. Schließlich erhielten alle mehrklassigen Primarschulen neben dem eigentlichen Schulleiter noch zwei ausschließlich für religiöse Fragen zuständige Direktoren, den director de la instrucción religiosa, der für die Organisation des Religionsunterrichts zuständig war, sowie den director espiritual, der als freigestellter Seelsorger die religiöse Persönlichkeitsentfaltung der Schüler außerhalb des Unterrichts begleiten und religiöse Feste an der Schule gestalten sollte. Die 1945 verabschiedete Reform der Primarschulbildung kodifizierte diese Bestimmungen.41 An den Sekundarschulen, an denen sie als Ausbildungsstätten der künftigen gesellschaftlichen Führungskräfte weiterhin besonders interessiert war, hatte die Kirche schon mit der Verordnung vom 31. Oktober 1940 ihre Vorstellungen sehr weitgehend durchsetzen und die unter der Republik streng laizistischen Institutos in Religionsfragen den katholischen Privatschulen angleichen können. Den Gesetzgebern ging es darum, das Modell der katholischen Internate möglichst weitgehend auf das staatliche Bildungswesen zu übertragen. Die einzelnen Bestimmungen sollten die Grundlagen eines christlichen Ambientes an den weiterführenden Schulen schaffen, „das tief in die Persönlichkeit der Schüler eindringt und sie spirituell verwandelt.“42 Sie setzten, hierhin den Verfügungen für Grundschulen ähnlich, Schulseelsorger ein und verfügten die Einrichtung von Schulkapellen.43 Schließlich griff die Kirche auf die Universitäten aus, wo sie jenseits der kirchlichen Hochschulen 40 41 42 43
Fernández Soria, Educación, S. 186f. Enrique Herrera Oria, Los Grupos Escolares, Atenas 112, Mai 1941; Escolano Benito, Educación, S. 164. Enrique Herrera Oria, Educación religiosa en los Institutos, Atenas 99, März 1940. Régimen interno de los Institutos, Orden 31.10.1940, Atenas 104/05, Okt./Nov. 1940; Enrique Herrera Oria, Una orden trascedental, Atenas 107, Jan. 1941. Mit dem „Geist der privaten Religionserziehung (. . . ) werden wir die öffentlichen Zentren jetzt retten müssen“: Florencio de Lucas, La IX Semana de Educación Nacional, Atenas 108, Feb. 1941.
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vor 1936 kaum über institutionellen Einfluss verfügt hatte. Durch die 1943 in einem neuen Hochschulgesetz bestimmte Einrichtung von religiösen Wohnheimen (colegios mayores) als obligatorischen Unterkünften für alle Studierenden, erlangte sie weitreichende Kontrollmöglichkeiten über das Leben der Jugendlichen und schloss eine in der Vorkriegszeit viel beklagte Lücke in ihren religiösen Sozialisationsbestrebungen.44 Der Kriegsbeginn entfachte auch bei vielen Schulleitungen eine Reformeuphorie mit utopischen Zügen. Sie hielten nach den Zumutungen der Republik die Zeit für gekommen, endlich ihr ambitioniertes Programm neuer christlicher Gemeinschaftsbildung in die Praxis umzusetzen. Vieles deutet darauf hin, dass diese Entwicklung gerade an Mädchenschulen, welche nicht mit der Frage der direkten Involvierung ihrer Absolventen in die Kriegshandlungen konfrontiert waren, eine besondere Dynamik entfaltete. Zwei Beispiele können dies verdeutlichen. Das Colegio de las RR. Esclavas del Sagrado Corazón de Jesús, eine Mädchenschule in Bilbao, führte nach Kriegsende neue, in vielem an die Reformen in Curía erinnernde Methoden religiöser Erziehung ein, um eine intensive religiös-moralische Gemeinschaft zu schaffen. Im Mittelpunkt stand in der Tradition jesuitischer Erziehung ein ständiger, das Schulleben überspannender Wettbewerb, in dem sich die Schülerinnen durch vorbildliches moralisches und religiöses Benehmen über fünf moralische Stufen vom Grad des „mangelhaften Einsatzes“ (esfuerzo deficiente) bis hin zum Grad der „Triumphierenden“ (triunfadoras) hinaufarbeiten konnten.45 Große Plakate, welche die individuelle Entwicklung der Schülerinnen graphisch darstellten, schmückten die zentrale Schulhalle. Ein ausgeklügeltes System aus Abzeichen sowie ein Tutorsystem, in dem religiös fortgeschrittene Schülerinnen die Verantwortung für in ihrer religiösen Formation zurückgebliebene Klassenkameradinnen übernahmen, dienten als Ansporn zu kontinuierlicher Selbstverbesserung. Zumindest in der Außendarstellung überwölbte die christliche Persönlichkeitsbildung das gesamte Schulleben und ließ Fragen der Fachausbildung in den Hintergrund treten. Elemente der Freiheit fehlten jedoch auch in diesem Modell nicht. So gestand die Schulleitung den triunfadoras eine weniger strenge Aufsicht und mehr persönliche Freiheiten als Belohnung ihrer Selbstüberwindung und als Anreiz für alle übrigen Schülerinnen zu. Sehr deutlich zeigen sich die Verschränkungen von religiösen Neuordnungshoffnungen mit Ansätzen einer liberalen Pädagogik in den Schulen der Institución Teresiana. Die Laieninstitution erhielt nach dem Bürgerkrieg 44
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Zur Vorgeschichte des Universitätsgesetzes: Alted Vigil, Política, S. 211–18. Zur innerkatholischen Debatte: Enrique Herrera Oria, Colegios Mayores y Menores Modernos, Atenas 113, Juli 1941. Hierzu und zum Folgenden: Quintilianus, Un colegio visto a través de una Exposición, Atenas 115, Nov. 1941; Un modelo de Exposición pedagógica, Atenas 104/105, Okt./Nov. 1940.
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eine vormals staatliche Grundschule in Madrid zugesprochen, welche die Theresianerinnen nach ihrem Gründer „Padre Poveda“ neu benannten und zu einer pädagogischen Modellschule umgestalteten. Die Schule war auf die Konstruktion einer perfekten christlichen Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden gerichtet, die als lebendiges Beispiel einer besseren Gesellschaft eine Neuordnung der umliegenden städtischen Gesellschaft inspirieren sollte.46 Das enge Miteinander (compenetración) von Lehrern und Schülerinnen, die „sich in allen ihren Spielen mischen und sie teilen“, sowie eine „Pädagogik der Liebe“ sollten zu einer „wahrhaften Schwesternschaft“ der Kinder führen. Die Institution führte ihr in den Vorkriegsjahren etabliertes Reformprogramm fort, das zwar im Grundsatz auf eine organische, widerspruchsfreie Gemeinschaftsbildung zielte, diese aber weitgehend ohne eine autoritäre Disziplinierung der Schülerinnen zu etablieren trachtete. Der „tiefe und persönliche Wandel“ der Mädchengemeinschaft, den die Schule zu initiieren gedachte, sollte nicht auf gewalttätigen erzieherischen Eingriffen, sondern auf einer „sanften Anziehung“ beruhen.47 Berichte in der Institutszeitschrift legen viel Gewicht auf die Freude der Kinder am Unterricht, auf die Möglichkeiten zur Bewegung und zum Toben in den Pausen, auf die „mütterliche Zärtlichkeit“ als Leitlinie des Umgangs mit den Mädchen. Eine sanfte Pädagogik ging in diesem Fall eine bezeichnende Verschränkung mit der Utopie einer harmonischen spirituellen Gemeinschaft ein, in welcher der Einzelne und seine Interessen mit dem Ganzen der Gruppe verschmelzen. Sicherlich darf das Beispiel der beiden hier kurz vorgestellten Schulen nicht vorschnell verallgemeinert werden. Gerade das Theresianische Institut repräsentierte als Reformeinrichtung nicht den Durchschnitt der Mädchenschulen. Und doch: Der hohe Grad an publizistischer Aufmerksamkeit, den diese Schulexperimente in der katholischen pädagogischen Presse erfuhren, zeigt, dass sie symptomatisch die Einstellungen, Hoffnungen und Ziele einer einflussreichen Gruppe katholischer Erzieher repräsentierten. Der Kriegsbeginn bedeutete für das katholische Erziehungsmilieu auch auf der Ebene der Schulen keine Rückkehr zu einem wie auch immer gearteten Traditionalismus, sondern zunächst eher eine Steigerung des Reformenthusiasmus. Die eindrucksvolle Expansion der Kirche im Bildungsbereich und der pädagogische Eifer dürfen jedoch nicht verdecken, dass der Beginn des Bürgerkrieges das katholische Erziehungsmilieu auch in eine schwere institutionelle und konzeptionelle Krise stürzte. Die Zerstörung des kirchlichen Bildungssystems und die Ermordung vieler Pädagogen in den loyal zur Republik verbleibenden Gebieten bildete die andere Seite der katholischen Kriegserfahrung. Innerhalb weniger Tage und Wochen verschwand unter dem Eindruck antiklerikaler Gewaltwellen die Kirche als gesellschaftliche 46 47
Orden 18.1.1940, BIT 267, Feb. 1940; Colonia Escolar Padre Póveda, BIT 272, Sep. 1940; Escenas vividas en el Grupo „Padre Poveda“, BIT 276, Jan. 1941. El evangelio en la escuela, BIT 275, Dez. 1940.
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Organisation aus dem öffentlichen Leben. Kirchengebäude wurden geplündert, katholische Schulen und Vereine geschlossen und Zeitschriften enteignet. Revolutionäre Gruppen töteten bis zum Herbst mehr als 6 000 Geistliche, darunter viele Lehrer und Pädagogen.48 Da die wichtigsten katholischen Bildungseinrichtungen und Interessengruppen ihren Sitz im nun republikanischen Madrid hatten, fielen zahlreiche Protagonisten der FAE dem Terror zum Opfer. Rufino Blanco fand ebenso den Tod wie der Gründer der Institución Teresiana Pedro Póveda und der Vorsitzende des Verbandes katholischer Lehrer, Isidro Almazán. Daneben fielen, nach Kriegsende in langen Totentafeln dokumentiert, zahlreiche Mitglieder der katholischen Bildungsorden den Tötungsaktionen republikanischer Gruppen zum Opfer.49 Die antiklerikale Gewalt erschütterte nicht nur das personelle und institutionelle Gefüge katholischer Bildung, sondern auch deren konzeptionelle Grundlagen.50 Sie bewirkte eine kritische Introspektion der eigenen Erziehungsleistungen. Die maßgeblichen Pädagogen interpretierten die Gewaltexzesse im Kontext der seit der Jahrhundertwende geführten Debatten über die Fehler der Kirche in der religiösen Bildung der Bevölkerung. Der Krieg war für sie auch Beleg eines Scheiterns katholischer Rechristianisierungspolitik, deren Ziel nicht zuletzt auch die Pazifizierung sozialer Konflikte war.51 Das Gefühl des Scheiterns lastete schwer auf den Erziehungsdebatten. Der antiklerikale Gewaltausbruch bedeutete somit nicht nur in institutioneller und personeller, sondern auch in pädagogischer Hinsicht eine Zäsur, die von Anfang an eine Rückkehr zu wie auch immer definierten Traditionen religiöser Bildung in der vorrepublikanischen Zeit in der Praxis nicht nur schwierig, sondern auch wenig wünschenswert erschienen ließ. Die katholischen Pädagogen arbeiteten daher nach dem Juli 1936 nicht auf eine Restauration traditioneller Bildung und Erziehung hin, deren Existenz ohnehin eine Schimäre war, sondern verfolgten ein ehrgeiziges Erneuerungsprogramm. Einige Indizien scheinen es zunächst nahezulegen, nach Kriegsbeginn von einer Abkehr der Kirche von pädagogischen Reformprogrammen 48
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Mary Vincent, „The Keys of the Kingdom“. Religious Violence in the Spanish Civil War, in: Ealham/Richards, Splintering, S. 68–93; Julio de la Cueva, Religious Persecution, Anticlerical Tradition and Revolution. On Atrocities against the Clergy during the Spanish Civil War, in: Journal of Contemporary History 33 (1998), S. 355–69. Eine umfangreiche und Anspruch auf Vollständigkeit erhebende Auflistung findet sich in: Mártires de la Educación Católica, in: Anuario de la Enseñanza Privada en España. Curso 1943–1944, Madrid 1943. Die folgenden Abschnitte greifen einige Argumente des folgenden Aufsatzes auf: Till Kössler, Erziehung als Mission. Katholische Sozialisation und Gesellschaft im frühen Franquismus (1936–1950), in: Klaus Tenfelde (Hrsg.), Religiöse Sozialisation im 20. Jahrhundert, Essen 2010, S. 193–217. Zur Vorkriegszeit: Enrique Herrera Oria, La crisis de hombres en España, Atenas 22, 15.7.1932; María Díaz Jiménez, Pedagogía Católica, BIT 252, März 1936. Zur Kriegszeit vergleiche die einzelnen Vorträge auf der Pädagogischen Woche der FAE im Januar 1938: Atenas 77, Jan. 1938.
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auszugehen. So rückte gegenüber den neuen kinderpsychologischen und reformorientierten Handbüchern, die in den Vorkriegsjahren die Debatte in den Fachzirkeln bestimmt hatten, die klassische katholische Erziehungsliteratur mit ihrem Bezug zu mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Autoren wieder in den Vordergrund. Zudem erfolgte eine weitgehende internationale Selbstisolierung gegenüber den Bildungsdebatten in den demokratischen Ländern, die nun nicht mehr in Zeitschriften diskutiert wurden. Die Auslandsbeobachtung verengte sich auf Deutschland und Italien.52 Der Eindruck eines Rückschrittes muss jedoch deutlich relativiert werden. Die Rückwendung zur traditionellen Erziehungsliteratur und die Hinwendung zu im engeren Sinne faschistischen Debatten erwiesen sich als ein weitgehend auf die Kriegsjahre beschränktes Phänomen. Schon Anfang der 1940er Jahre öffnete sich der Blick der Katholiken wieder auch auf Debatten der alliierten Seite. Die katholischen Pädagogen verstanden sich auch nach Kriegsbeginn in ihrer Mehrzahl als Erneuerer, die durch eine neue Didaktik, aber auch eine neue Verbindung von Lehrern und Schülern die Defizite nicht nur der liberalen Erziehung, sondern auch der traditionellen katholischen Schule überwinden wollten. „Neue Erziehung“, „moderne Erziehung“, „neue Schulen“ waren die Schlagworte der Erziehungsdebatten.53 Im Februar 1941 schwärmte ein Beobachter der katholischen „9. Woche Nationaler Erziehung“ von der „pädagogischen Revolution“, die er im Gange sah, und beobachtete eine allgemeine Aufbruchsstimmung: „Der Ehrgeiz ist allerorten immens.“54 Es ging um die spirituelle Rückeroberung der spanischen Kinder und ihre Umformung zu Vorkämpfern einer neuen christlichen Friedensordnung durch pädagogische Reformen.55 In welchem Maße sich die katholischen Pädagogen als Erneuerer verstanden, zeigt ihre, auch nach Kriegsbeginn unvermindert scharfe Kritik an der traditionellen katholischen Schule, der ein Versagen in der christlichen Persönlichkeitsbildung vorgeworfen wurde. Die Erzieherin Paquita Montilla klagte 1941 bitter: „Die [traditionelle, T.K.] Schule lehrte Religion, ohne 52
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Beide Tendenzen lassen sich gut im Rezensionsteil und der Zeitschriftenrundschau des pädagogischen Leitorgans des Katholizismus Atenas während des Bürgerkrieges erkennen. Vgl. Josefina Álvarez, La escuela nueva de la nueva España, Atenas 85, Nov. 1938; Enrique Herrera Oria, Institutos, Colegios y Normales, Bases de organización, Atenas 97, Jan. 1940. Florencio de Lucas, La IX Semana de Educación Nacional, Atenas 108, Feb. 1941. Siehe als Bestimmung der neuen Erziehung als reconquista: Miriam, Antigua Alumna, Nuestra Reconquista, Ecos de mi colegio 100, Nov. 1936. Vgl. allgemein auch: Ángela Cenarro, La Sonrisa de Falange. Auxilio Social en la Guerra Civil y en la Posguerra, Barcelona 2006, bes. S. 110, 130–42, Dies. Memories of Repression and Resistance. Narratives of Children Institutionalized by Auxilio Social in Postwar Spain, in: History&Memory 20 (2008), S. 39–59. Eine eindrucksvolle künstlerische Verarbeitung hat die falangistische Kinderreform in den seit 1977 erscheinenden Comicgeschichten von Carlos Giménez gefunden. Als Sammlung: Todo Paracuellos, Barcelona 2007.
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ihren Geist zu vertiefen, ohne eine tiefe Verwurzlung der Wahrheiten des Glaubens [in den Schülern, T.K.] zu erreichen, ohne die Schüler an Frömmigkeitsformen heranzuführen.“56 Ihre vermeintliche Engstirnigkeit, Brutalität und didaktische Rückständigkeit, so die Ansicht, habe der Entfremdung von Kirche und Bevölkerung und letztlich dem Bürgerkrieg Vorschub geleistet. Die katholische Reformorientierung wird aber auch in der Auseinandersetzung mit der liberalen Pädagogik erkennbar, deren Bewertung jenseits einer generellen Verdammung in Reden und Leitartikeln im Einzelnen erstaunlich differenziert ausfiel. Im Kern wird nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Reformen und deren falsche Orientierung bemängelt. Die katholischen Experten warfen ihren liberalen Gegenspielern gerade die reformpsychologische Erkenntnisse missachtende Vernachlässigung des einzelnen, konkreten Kindes vor. Die vermeintlich intellektualistischen und mechanistischen Ansätze der Liberalen negierten die spirituelle Einzigartigkeit des Kindes.57 Es waren deutlich in der Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts verwurzelte Positionen, von der aus die Erzieher konkurrierende pädagogische Entwürfe angriffen. Die Speerspitze katholischer Pädagogen strebte denn auch weiterhin eine Verbindung reformpädagogischer Ansätze und katholischer Religion an, wie sich beispielhaft an den Überlegungen Pedro Martínez Saralegui zur „Neuen Schule“ Spaniens im Juli 1940 demonstrieren lässt. Der Pädagoge sah Spanien vor einer pädagogischen Revolution, die er mit der Kopernikanischen Wende der Astronomie verglich: „Waren es früher [in der Zweiten Republik, T.K.] Lehrpläne und Lehrer, die im Mittelpunkt der pädagogischen Aufmerksamkeit standen, so sind es heute die psychologische Eigenart und die Interessen des Kindes“. Seine Ausführungen kreisten um eine harmonische Verbindung von Reformansätzen und Religion und gipfelten in Vorschlägen einer „Decroly-Schule Niño Jésus“, die auf der Reformpädagogik des Belgiers Ovide Decroly beruhte. 58 Schon 1937 hatte der katholische Pädagoge José Luis López Aranguren nicht nur die Achtung der „wunderbaren kindlichen Welt“ durch die Erzieher gefordert, sondern sie auch ermahnt, sich dieser kindlichen Welt anzupassen. Dem Kind dürfe nicht die Lebensweise der Erzieher aufgezwungen werden, da so die eigenständige Persönlichkeitsentwicklung des Kindes Schaden nehme. Ziel der Primarschule solle es vielmehr sein, das Kind zu selbstständigem Denken zu erziehen.59 Reformpädagogische Initiativen verschwanden mit dem Untergang der Republik keineswegs, sondern bildeten auch nach 1939 einen grundlegenden Referenzpunkt katholischer 56 57 58 59
Paquita Montilla, Curso de Religión, Atenas 110, April 1941. Vgl auch: Pedro Martínez Saralegui, Las escuelas nuevas, Atenas 109, März 1941. Josefina Álvarez, La escuela nueva de la nueva España, Atenas 85, Nov. 1938. Pedro Martínez Saralegui, Las escuelas nuevas, Atenas 109, März 1941. José Luis López Aranguren, Educación amor disciplinado, Revista de Educación Hispánica 4, Dez. 1937.
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Debatten.60 Die katholischen Reformer sahen sich weiterhin einer pädagogischen Moderne verpflichtet, die sie aber christlich definierten und von liberalen Fehlentwicklungen und Übertreibungen reinigen wollten. Paradigmatisch steht hierfür die Aussage des vielleicht einflussreichsten Pädagogen der ersten Nachkriegsjahre, Enrique Herrera Oria, die neuen katholischen Bildungszentren müssten modern sein, „denn nichts von dem Neuen, dass taugt und nützlich sein kann, dürfen wir verachten.“61 Es bestand innerhalb des katholischen Erziehungsmilieus sehr weitgehender Konsens darüber, dass diese gesellschaftspolitischen Aufgaben nur, erstens, durch eine intensive religiöse Unterweisung und, zweitens, eine Erneuerung der Methoden und Vermittlungsformen dieser Unterweisung zu lösen waren. Die Reformer stritten weiterhin intensiv über Perspektiven eines erneuerten Religionsunterrichts. Der Religionspädagoge und Chefredakteur der Zeitschrift Revista Catequistica, Daniel Llorente, knüpfte Anfang 1938 in einem grundlegenden Referat unmittelbar an die Vorkriegszeit an, als er forderte, der Religionsunterricht müsse von den „trockenen Lehrsätzen“ wegkommen und alles tun, um „das Unterrichtsfach sympathisch zu machen“. Er sah vor allem im Gebrauch religiöser Erzählungen im Unterricht eine Möglichkeit, die Kinder intuitiv anzusprechen und zu begeistern.62 Die Reformperspektive fand ihren Ausdruck in zahlreichen Unterrichtsentwürfen, die als Modelle in den pädagogischen Zeitschriften abgedruckt wurden. Eine „Religionserziehung durch aktive Methode“, also durch Ermunterung der Schüler zur selbstständigen Tätigkeit, war die Leitlinie.63 Ein autoritäres Einpauken religiösen Wissens wurde auch im frühen Franquismus als unzureichend abgelehnt. Vielmehr leitete ein dialogisches Modell des Austausches von Lehrer und Schülern die religionspädagogischen Entwürfe. Religiöse Erziehung bildete somit das Zentrum einer Pädagogik, welche die Schule menschlicher machen, die Differenzen von Lehrern, Eltern und Schüler überwinden und dadurch zu einer Verbesserung christlicher Persönlichkeitsbildung beitragen wollte. 60
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In dieser Bewertung nehme ich einen anderen Standpunkt ein als: María del Mar del Pozo Andrés/J.F.A. Braster, The Reinvention of the New Education Movement in the Franco Dictatorship (Spain, 1939–1976), in: Paedagogica Historica 42 (2006), S. 109– 26. Die Autoren beobachten zwar auch die Verwendung reformpädagogischen Vokabulars durch nationalistische Pädagogen und „viele Hinweise auf die Übernahme konkreter Methoden“ (S. 117), halten diese Erscheinungen aber für bloße Rhetorik bzw. Oberflächenphänomene, die nichts an der reformkritischen Haltung der Erzieher geändert hätten. Enrique Herrera Oria, Institutos, Colegios y Normales. Bases de organización, Atenas 97, Jan. 1940. Daniel Llorente, Una clase de Catequesis biblica, Atenas 77, Jan. 1938. Vgl. etwa: Educación moral y religioso del párvulo, BIT 280, Mai 1940; J. Álvarez de Cánovas, La Escuela nueva de la nueva España. La Enseñanza de la Religión por el método activo, Atenas 85, Nov. 1938; María Dolores Marijuán, El Evangelio en la Escuela. Lección práctica, Atenas 111, Mai 1941.
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IV. Schulen der Diktatur, Schulen der Demokratie?
Die katholischen Pädagogen der frühen Franco-Zeit führten die vor dem Krieg entwickelten Reformansätze jedoch nicht einfach fort, sondern versuchten sie an die neue Situation und ihre veränderte Lageeinschätzung anzupassen. Mit Kriegsbeginn verschob sich das Gewicht der im ersten Teil dieser Arbeit beschriebenen Strömungen innerhalb des katholischen Erziehungsmilieus. Hatte in den Vorkriegsjahren, wie gezeigt, diejenige Strömung dominiert, welche in begrenzten Zugeständnissen an die Schüler und die Gewährung von Freiräumen eine neue Identifizierung der Heranwachsenden mit Kirche und Glaube erreichen wollte, so gewannen nach dem Juli 1936 rasch neo-autoritäre Positionen in der Kontinuität des Erziehungsratgebers von Ramón Sarabia an Bedeutung, deren Priorität die Disziplinierung der vermeintlich außer Kontrolle geratenen Passionen der Heranwachsenden durch eine möglichst umfassende Überwachung der Kinder war. Anhand des Beispiels des Kollegs San José haben wir bereits einige Einblicke in diese Entwicklung erhalten.64 Unter dem Eindruck des Krieges verschob sich der Schwerpunkt katholischer Pädagogik von einer Aktivierung der in den Kindern angelegten Energien weg, hin zur Einhegung und Umbildung der vermeintlich durch die Revolutions- und Kriegswirren entfesselten Passionen als wichtigste Aufgabe einer neuen „totalen religiösen Erziehung“, wie sie wichtige Reformer nun anstrebten.65 Das Seelenleben der Kinder erschien auf neue Weise regulierungsbedürftig, um eine innere religiös-moralische Festigkeit der Kinder zu erreichen. Enrique Suñer argumentierte auf der Pädagogischen Woche der FAE im Januar 1938, die unter Beteiligung der gesamten Elite der katholischen Pädagogik die Eckpunkte der künftigen katholischen Erziehung absteckte, es sei notwendig, die Kinder an einen „bescheidenen, gesunden, disziplinierten, patriotischen Lebenswandel“ zu gewöhnen. Geschehe dies nicht, breite sich ein „Geist der Disziplinlosigkeit und der Unordnung aus [der, T.K.] sich jeder Gesellschaft, in der er auftritt, bemächtigt“.66 Es bedürfe einer klaren äußeren Struktur, an der sich eine neue innere Ordnung der kindlichen Seele orientieren und ausrichten könne. Diese Sichtweise auf die Kinderpsyche knüpfte an die Passionentheorie der Gefühle an und war eingebunden in eine in katholischen Kreisen äußerst einflussreiche sozialpsychologische Interpretation der Ursachen des Bürgerkrieges. Diese Interpretation erklärte den Krieg als Resultat einer Freisetzung schädlicher Passionen durch den liberalen Staat und liberale Erziehungsreformen. Um eine neue gesellschaftliche Friedensordnung zu schaffen, reiche deshalb militärische Gewalt nicht aus, sie könne vielmehr nur durch eine grundlegende Persönlichkeitsreform dauerhaft erkämpft werden. 64 65 66
Das Buch von Ramón Sarabia, ¿Cómo se educan los hijos? erfuhr nach 1939 mehrere Neuauflagen. Español, Educación moral y religiosa, Atenas 78, Feb. 1938. Enrique Suñer, En torno al niño, Atenas 77, Jan. 1938.
2. Katholische Bildung und Schulen im Bürgerkrieg und Franquismus
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Eine Befriedung der spanischen Gesellschaft bedürfe daher pädagogischer Anstrengungen. Katholische Kreise sprachen denn auch immer wieder vom „Friedenswerk“ (obra de la paz), das nach Beendigung der Kampfhandlungen zu leisten sei. Die christliche Persönlichkeitsreform (paz individual) war eine Grundbedingung des gesellschaftlichen Friedens (paz común).67 Eine gesellschaftliche Versöhnung und die Wiederherstellung des Friedens setzte einen inneren persönlichen Wandel voraus. Um die sich im Krieg manifestierende Gesellschaftskrise Spaniens zu überwinden und eine wahrhaft christliche Gemeinschaft aller Spanier zu schaffen, bedurfte es ihrer Meinung eines grundlegenden pädagogisch-religiösen Aufbruchs. Katholische Pädagogen sahen sich vor die „enorme Aufgabe [der, T.K.] Umwandlung der marxistischen, antikatholischen Person in eine spanische, christliche“ gestellt. Ziel der neuen franquistischen Bildung und Erziehung müsse es sein, so der eng mit dem katholischen Erziehungsmilieu verbundene Mediziner Vallejo Nágara, „die affektiven Faktoren, welche die Revolution herbeiführten, durch andere zu ersetzen, welche die Massen in Richtung des Pols der aufzubauenden Nation ausrichten“. 68 Vor diesem Hintergrund erhielt in den Kriegsjahren das psychologische Interesse am individuellen Kind neue Dringlichkeit. Die Reformer sahen weiterhin die dringende Notwendigkeit, Informationen zur „Psychologie, den Ideen und Lebenskonzeptionen“ der Schüler zu sammeln, um eine genaue „Kenntnis des Kindes“ zu erreichen, sie erörterten die Einrichtung „kinderpsychologischer Laboratorien“ und beobachteten die Fortschritte kinderpsychologischer Studien im – auch demokratischen – Ausland.69 Hatte das psychologische Interesse vor 1936 hauptsächlich den bürgerlichen Internatsschülern gegolten, richtete sich die Aufmerksamkeit nun immer mehr auf Unterschichtenkinder. Vor allem die Kinder aus „roten“, mit der Kriegsrepublik sympathisierenden Familien galten als psychisch labil und deshalb besonderer Aufmerksamkeit bedürftig. Diesen Kindern galt nach 1940 das Interesse der ehemaligen Schulinspektorin und leitenden Mitarbei67
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Aniceto de Castro Albarrán, Guerra Santa. El Sentido Católico del Movimiento Nacional Español, Burgos 1938, S. 243; Gomá y Tomás, Lecciones de la Guerra y Deberes de la Paz. Carta Pastoral (que con Motivo de la Terminación de la Guerra dirige a sus diocesanos), Toledo 1939, S. 27. Vgl. insg. Kössler, Persönlichkeitsreform. Erstes Zitat: Frutos de educación marxista, Atenas 71/72, Aug./Sep. 1937. Zweites Zitat: Dr. Vallejo Nágara, Factores afectivos, constructores de la nueva España, Atenas 77, Jan. 1938. Siehe weiterhin Iberus, Manos a la obra, Atenas 65, Jan. 1937; Jesús María, La enseñanza religiosa, Revista de Educación Hispánica 2, Okt. 1937. Enseñanzas de la Guerra, Nuestro Apostolado 106, 25.1.1938. Dabei erfuhr selbst die Psychoanalyse eine kritische Würdigung. J. Tayalero. Estudio de la personalidad humana, Revista de Educación Hispánica 5, Jan. 1938; Aurora Medina, El conocimiento del niño, Atenas 99, März 1940; Josefina Álvarez de Cánovas, Experiencias de Psicología Infantil. Leído en la VIII. Semana de Educación Nacional, Atenas 106, Dez. 1940; Dies, La Psicología que estudian los maestros en los distintos paises del mundo. Discuros de clausura de curso en la Escuela de Educación (FAE), Atenas 113, Juli 1941.
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tern der FAE, Josefina Álvarez, die durch teilnehmende Beobachtung und Reihenbefragungen umfangreiche Studien zur Psychologie und Religiosität der Madrider Vorstadtkinder anfertigte.70 Die sozialpsychologische Kriegsdeutung erklärt sehr weitgehend die Attraktivität neo-autoritärer Erziehungsmodelle, die sich in vielen Verordnungen und katholischen Schriften der Kriegsjahre mit ihrer außerordentlichen Betonung von Ordnung und Sauberkeit, klarer Raumdekoration und strikten Kleidervorschriften niederschlug. Die ausgewiesene Reformerin Josefina Álvarez forderte etwa die katholischen Volksschullehrerinnen auf, in ihren Schulen für absolute Sauberkeit zu sorgen, die bis an die Grenze der Übertreibung zu gehen habe: „Weiß, alles weiß! [. . . ] aus hygienischen, aus ästhetischen, aus ethischen Gründen“.71 Die makellose äußere Ordnung würde, so die Vorstellung, dem kindlichen Geist Halt geben und ihn in einem osmotischen Prozess durchdringen. Innere und äußere Ordnung waren untrennbar miteinander verbunden: Der externe Wandel der Schulen „findet seine Entsprechung in einer persönlichen und tiefen Transformation“ der Kinder.72 In die gleiche Richtung zielte die Propagierung von „Ligen christlicher Bescheidenheit“ (Ligas de Modestia Cristiana) nach Kriegsausbruch, in denen Schülerinnen sich zusammenschließen sollten und deren Statuten nicht nur Enthaltsamkeitsgelübde der Mädchen forderten, sondern ihnen auch detaillierte Vorschriften über angemessene Kleidung, Lektüre und Aufenthaltsorte machten.73 Eine der wichtigsten pädagogischen Ausprägungen dieser Strömung waren Plädoyers für eine neue spartanische Erziehung, die grob unter dem Begriff der „Pädagogik des Schmerzes“ zusammengefasst werden können. Durch die Gewöhnung an körperliche und seelische Entbehrungen sollte eine neue Generation willensstarker und zäher Spanier erzogen werden. Um dieses im Umfeld der Falange formulierte Konzept, das besonders unter Volksschullehren Anklang fand, formte sich ein neues faschistisches Erziehungsmilieu heraus, ohne dass jedoch eine klare Grenzziehung zu den katholischen Bildungsdebatten möglich wäre. Die Verfechter dieses Programms spartanischer Ertüchtigung und Affektkontrolle knüpften an Minderheitenpositionen in den katholischen Bildungsdebatten der Vorkriegsjahre an, gaben diesen in 70
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Enrique Suñer, En torno al niño, Atenas 77, Jan. 1938. Zusammenfassend: Álvarez de Cánovas, Psicología pedagógica. Vgl. als Fallstudie dies., Psicología del sentimiento religioso en el niño de suburbios, Atenas 156, Okt./Nov. 1945. Sie führte damit ihre Arbeiten aus der Vorkriegszeit weiter. Vgl. Josefina Álvarez, Psicología Pedagógica: Estudio del niño español: ¿Prepsicología? Atenas 46, Dez. 1934. Josefina Álvarez, La escuela nueva de la nueva España, Atenas 85, Nov. 1938. Carmen S. Beato, El Evangelio en la escuela, BIT 275, Dez. 1940. Ähnlich: Circular a las Directoras, especialmente religiosas, de colegios, sobre la inmodestia en el vestir de las niñas, 25.8.1937, Ecos de mi colegio 106/107/108, Jun./Jul./Aug. 1937. La Tesorera de J.M., H.de M., Liga de Modestia Cristiana, Ecos de mi colegio 100, Aug./ Sep./Okt. 1936.
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den neuen falangistischen Bildungsjournalen Revista de Educación Hispánica und Escuela Azul jedoch eine weitere Ausformulierung und Verbreitung.74 Sie verknüpften es mit entwicklungs- und individualpsychologischen Neuerungen und öffneten ihre Zeitschriften in diesem Kontext sogar international bekannten Reformpädagogen wie Maria Montessori.75 Eine weitere Verschiebung der Kriegsjahre betraf die Aufwertung emotionaler, und eine Abwertung intellektueller Bildung. Das „Herz“ erschien als wichtigstes Einfallstor christlicher, aber auch nationaler Mission. Gegenüber den vermeintlich korrumpierenden republikanischen Stadtschulen idealisierten viele Pädagogen auf neue Weise die Landschulen, denen zwar eine intellektuell weniger anspruchsvolle, dafür aber spirituell festere Erziehungsleistung unterstellt wurde.76 Die Abwertung der Verstandesbildung mündete teilweise in einen dezidierten Anti-Intellektualismus, der am deutlichsten in den faschistischen Bildungszeitschriften ausgeprägt ist, ohne dass aber in diesem Punkt eine klare Unterscheidung faschistischer und katholischer Positionen möglich wäre.77 Das hier skizzierte Erziehungsprogramm hatte eine Vielzahl praktischer Konsequenzen. Insbesondere stand es in einem engen Zusammenhang mit einer politischen Demobilisierung der Privatschulen. Die gesellschaftspolitische Mobilisierung der Schüler im Rahmen der Katholischen Aktion verlor an Bedeutung. Zwar zog die Katholische Aktion auch in der Nachkriegszeit immer wieder Kinder in öffentlichen Versammlungen zusammen, doch hatten diese Veranstaltungen mehr repräsentativen als mobilisierenden Charakter. Sie dienten mehr katholischer Selbstdarstellung als der Initiation in die katholische Politik. Eine eigenständige Aktivität von Heranwachsenden erschien dem neuen Regime wenig wünschenswert.78 Der Bedeutungsverlust der gesellschaftspolitischen Dimensionen katholisch-nationaler Erziehung zeigt sich auch in der Ersetzung der Apologetik durch die Liturgie als Kernfeld religiösen Lernens. Nach der Niederwerfung der areligiösen Republik verlor die argumentative, öffentliche und selbstständige Verteidigung des katholischen Glaubens an Bedeutung, zumal auch sie nun politisch unerwünschte Zugeständnisse von Freiräumen an die Heranwachsenden beinhaltete. Im 74
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Crisanto Gay Berges, Pedagogía del Dolor, Revista de Educación Hispánica 2, Okt. 1937 und folgende Nummern; Jesús Castro Bello, La Formación del Caracter, Escuela Azul 1, 27.8.1937 und folgende Nummern; Pedagogía del Dolor, Escuela Azul 46, 9.7.1938. Siehe nur: La Página Blanca, por la Doctora María Montessori, Escuela Azul 11, 6.11.1937. Enrique Herrera Oria, La Iglesia, educadora. Comentario a la conferencia del P. Pérez de Urbel, in Atenas 78, Feb. 1938. Zur katholischen Diskussion: Educación moral y religioso del párvulo, BIT 280, Mai 1940; Jesus María, La enseñanza religiosa, in: Revista de Educación Hispánica 2, Okt. 1937. Siehe für die Kriegszeit: Ejemplo a seguir, Revista de Educación Hispánica 4, Dez. 1937. Für die Nachkriegszeit: Noticias y Comentarios: Cursillos de Acción Católica para niños, Atenas 109, März 1941.
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Kontext des neuen Persönlichkeitstrainings avancierte demgegenüber die Liturgik zur Leitdisziplin. Religiöse Vermittlung wollte nach der Unterbrechung religiöser Praktiken in Republik und Krieg die Heranwachsenden mit religiösen Ritualen neu vertraut machen und ihnen deren Sinnhaftigkeit und spirituelle Bedeutung aufzeigen. Religiöse Feiern erschienen auf neue Weise als für die religiöse Sozialisation besonders geeignete didaktische Mittel. Die Pädagogen waren der Auffassung, dass über sie, anders als über religiöse Traktate und Diskussionen, nicht nur ein kleiner Kreis bildungswilliger Schüler, sondern über ihre affektive Seite gerade auch die Masse der Kinder für die Religion zu begeistern wären.79 Die Aufwertung von Autorität und Ordnung, Gefühl und Liturgik bedeutete jedoch keine flächendeckende Abkehr von dem tonangebenden Reformkurs der Vorkriegsjahre, sondern eher eine Akzentverschiebung. Dies zeigt sich schon an der fehlenden Begeisterung des katholischen Bildungsestablishments für die „Pädagogik des Schmerzes“. Nach wie vor hielt die Mehrzahl der kirchennahen Pädagogen autoritäre Disziplinierungstechniken allein für ungeeignet, um eine dauerhafte religiöse Einstellung der Schüler zu erreichen. Eine Persönlichkeitsreform im christlichen Sinn konnte ihrer Ansicht nach nicht gelingen, indem man die Unterwerfung des Kindes unter eine strafende Autorität betrieb. Vielmehr mussten die Kinder zu einer Einsicht in die Notwendigkeit eines Persönlichkeitswandels bewegt werden. Statt mit „kalter“ Disziplin eine rein äußerliche Angepasstheit zu erreichen, war es die Aufgabe der Erzieher, mitfühlende Hilfestellung zur individuellen Selbstverbesserung zu geben. Allein ein verständnisvolles Zugehen auf das Kind könne jene intime Beziehung zwischen Lehrer und Schüler erzeugen, durch die eine dauerhafte und stabile Beeinflussung des Kindes möglich sei.80 Statt einer starren Disziplinarordnung sollte eine organische Ordnung die neuen christlichen Lehranstalten kennzeichnen. In einem Vortrag vor katholischen Lehrern der nationalen Zone erläuterte Josefina Álvarez: „Ordnung in Deiner Schule; nicht Automatismus, Starrheit, Langatmigkeit [. . . ] Dies alles riecht nach Tod. Ordnung ist eine lebende Sache, eine gelebte Disziplin“.81 Zwar sollten die Kinder einer strengen Kontrolle unterworfen werden, doch müsse diese für die Schüler nachvollziehbar und letztendlich als notwendig akzeptierbar sein. Dies beinhaltete immer auch die Notwendigkeit positiver Angebote an die Kinder. Es ist bezeichnend, dass in den Nachkriegsjah79
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Germán Prado, C.S.B., La Liturgía como medio educativo, Atenas 77, Jan. 1938; Leonardo Franco, Liturgia y escuela, Atenas 97, Jan. 1940; Martin Aguso, La Liturgia en la escuela, BIT 274, Nov. 1940. Aurora Medina, Ensayos: El conocimiento del niño, Atenas 99, März 1940. Eine gute Zusammenfassung der katholischen Bildungs- und Erziehungsvorstellungen bietet: Alfonso Iniesta, Orientaciones sobre la disciplina escolar, Madrid 1941, hier insb. S. 37f. Josefina Álvarez, La escuela nueva de la nueva España, Atenas 85, Nov. 1938. Vgl. auch: Francisco Armentia, Formación del carácter en la juventud de la España nueva, Atenas 77, Jan. 1938.
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ren häufig unterhaltende Filme, Theaterstücke oder Sportveranstaltungen religiöse Bildungsveranstaltungen für Kinder abschlossen.82
2.3 Reformdebatten und beschränkte Freiräume: Ein Ausblick in die Nachkriegsjahre Die katholischen Reformer verfolgten das Programm religiöser Erziehung als Gesellschaftsreform mit hohen Erwartungen. Die Hoffnungen, durch eine intensive religiöse Erziehung zu einer Neugründung Spaniens beitragen zu können, und die damit verbundenen Reformenergien müssen ernst genommen werden, will man die Dynamik katholischer Bildung und Erziehung in den Nachkriegsjahren verstehen. So kam es schon bald nach Kriegsende auch zu einer deutlichen Ernüchterung hinsichtlich der Resultate der religiösen Vermittlung, die nicht den hochfliegenden Erwartungen entsprachen. Schon vor 1936 hatten, wie weiter oben beschrieben, Klagen über unzureichende Resultate der Religionserziehung den Hintergrund der Reformdebatten gebildet. Diese Klagen waren in den Kriegsjahren kurzzeitig verstummt, bildeten aber seit Anfang der 1940er Jahre wieder einen Grundton der pädagogischen Debatten. Die Kriegsjahre erwiesen sich im Rückblick als nur kurze Zeit ungebrochener pädagogischer Utopien. Die neue Hegemonialstellung der Kirche konnte die Aporien katholischer Bildung und Erziehung der Vorkriegsjahre nicht beseitigen. Vielmehr finden sich seit Anfang der 1940er Jahre in zunehmendem Maße Klagen über die mangelnde Durchschlagskraft religiöser Erziehung, die oft fast wortgleich entsprechende Klagen aus der Vorbürgerkriegszeit reproduzierten. Stellvertretend für viele katholische Lehrer fragte sich ein Erzieher der Escuelas Cristianas 1945 enttäuscht: „Es ist eine bewiesene Tatsache, dass die jungen Katholiken, selbst solche, die in unseren religiösen Schulen unterrichtet wurden, generell nicht die religiöse Bildung und das Fundament besitzen, das wünschenswert wäre, obwohl viele von ihnen mehrere Jahre unter unserer Führung waren und regelmäßig, ja täglich die Erläuterungen des Katechismus und der wahren Religion gehört haben.“83
Auch Kritik an vermeintlich sorglosen und pflichtvergessenen Eltern, ein anderer Topos der Jahre vor 1936, tauchte in den Erziehungsdebatten wieder auf. Der einflussreiche Pädagoge Alfonso Iniesta klagte 1945, dass nach einer Phase übermäßiger Strenge in der Folge des Kriegsausbruchs seit einigen Jahren
82 83
Desiderio Martín Angulo, Relaciones entre padres y maestros, Atenas 77, Jan. 1938. D.J.. de las EE.CC., La Historia bíblica y eclesiástica en la formación religiosa de la juventud, Atenas 150, Feb. 1945.
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die Eltern deutlich zu milde mit ihren Kindern umgingen und so die Arbeit der Schulen erschwerten.84 Wie vor 1936 suchten viele Pädagogen die Ursachen einer mangelhaften religiösen Imprägnierung der Kinder jedoch auch in eigenen didaktischen Mängeln. Selbst innerhalb der katholischen Lehrerschaft gäbe es noch viele Unklarheiten über die richtige katholische Erziehung, klagten die Herausgeber des 1943 erstmals seit dem Bürgerkrieg wieder aufgelegten Jahrbuchs der Privatschulen: „Es müssen dringend allen Katholiken absolut deutliche und exakte Vorstellungen über die vitalen Probleme der Erziehung vermittelt werden“. Nur so, das war der Tenor des Aufrufs, ließe sich ein nur „nominelles Christentum“ verhindern.85 Die Pädagogen sahen sich mit zahlreichen Problemen konfrontiert. So erwies sich der richtige Mittelweg zwischen notwendiger Verstandes- und aufgewerteter Gefühlserziehung in der Praxis als schwierig zu finden. Schon 1937 hatte eine frühe Kritik bemängelt, dass religiöse Erziehung entweder zu sehr auf den Verstand ziele und sich in mnemotechnischen Debatten verzettele oder aber umgekehrt einen nur oberflächlichen Gefühlskult (sentimentalismo superficial) kultiviere.86 Die Vielzahl der Klagen deutet darauf hin, dass sich die Vordenker religiöser Bildung und Erziehung Anfang der 1940er Jahre sehr bewusst waren, dass sie trotz der überwältigenden Fülle ihnen zur Verfügung stehender Mittel ihrem Ziel einer religiösen Neuordnung der spanischen Gesellschaft kaum näher gekommen waren. Es wurde im Gegenteil immer deutlicher, dass der Wegfall der erbitterten Konkurrenz mit den republikanischen Pädagogen um die Hegemonie im Bildungsbereich in der Praxis den Reformdruck deutlich senkte. Die Anreize einer kraftraubenden und nur zweifelhafte Erfolge versprechenden, religiösen Daueraktivierung sanken für die Lehrer wie für die Schüler. Konkrete Fragen des Fachunterrichtes und der bürgerlichen Karriereplanung drängten für viele Lehrer, Eltern und Schüler religiöse Fragen an den Rand des Bildungsinteresses. Schulzeitungen und Schulanzeigen belegen eine allmähliche Schwerpunktverlagerung schulischer Bildung von Themen spiritueller Erneuerung hin zu konkreteren Problemen der Berufsvorbereitung. Das Leben an den katholischen Schulen war zumeist weiterhin durch intensive Frömmigkeitspraktiken geprägt, doch zielten diese immer weniger auf eine grundlegende religiöse Aktivierung der Schüler.87 Zwar gab es viele Schulen wie das Colegio Teresiano de María Inmaculada aus Barcelona, die in Anzei84 85 86 87
Alfonso Iniesta, El sentido de responsabilidad en la familia y en la escuela, in: BDM 96, Okt. 1945. Prólogo, Anuario de la Enseñanza Privada en España. Curso 1943–1944, Madrid 1943. Jesús María, La enseñanza religiosa, Revista de Educación Hispánica 2, Okt. 1937. Diesen Eindruck vermittelt etwa die Zeitschrift des Jesuitenkollegs San José in Valencia und der ihm angeschlossenen Grundschule, Auras de Colegio, des Jahres 1944. Siehe z. B. Crónica de Junio, Auras de Colegio 37, Juli–August 1944. Vgl. auch: M. del Jesús Moreno, El Instituto Nacional de Psicotecnica y la Psicopedagógia española, BDM 91, März 1945.
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gen ihre national-katholische Ausrichtung unterstrichen und ausführlich ihr Programm moralischer und religiöser Bildung referierten. Doch war eine solche Selbstdarstellung im Jahr 1943 keineswegs die Regel. Das ebenfalls in Barcelona beheimatete Colegio Lestonnac des Orden de Nuestra Señora Enseñanza setzte einen deutlich anderen Akzent. Zwar benannte es in einer Anzeige eine religiöse Bildung pauschal als oberstes Ziel der Ausbildung, doch die wissenschaftlichen Einrichtungen der Schule nahmen in der Beschreibung deutlich den meisten Raum der Anzeige ein. Die „bestmögliche Verstandesbildung“ der Schülerinnen durch „hochverfeinerte pädagogische Methoden“ standen im Mittelpunkt. Eine nationalkatholische Rhetorik fehlte demgegenüber völlig.88 Das Wiederaufleben einer binnenkatholischen Erziehungskritik ging Hand in Hand mit einer erneuten Verschiebung der Gewichte zwischen Disziplin und Eigenständigkeit, Autorität und Freiräumen in den Erziehungsdebatten. Nach der Aufwertung von Ordnung und Autorität während der Kriegsjahre fanden in den frühen 1940er Jahren Plädoyers für die Gewährung von Freiräumen als Voraussetzung einer intensiveren, und das heißt auch freiwilligen Identifizierung der Kinder mit der katholischen Religion wieder mehr Verbreitung und Gehör. Schon 1941 hatte ein Ausbilder der katholischen Lehrerbildungsanstalt Divino Maestro gefordert, die Schaffung einer religiös-patriotischen Atmosphäre an den katholischen Internaten habe „ohne Minderung der individuellen Freiheit“ der Schüler zu erfolgen.89 In den folgenden Jahren rückte die Frage, wie viel Freiheit den Schülern zu gewähren sei, immer mehr in den Mittelpunkt der Debatten. Der Pädagoge Pedro Martínez Saralegui entfaltete beispielsweise in einem wichtigen Aufsatz das schon für viele Reformen in Curía maßgebliche Konzept einer schrittweisen Vergrößerung der Autonomie der Schüler. Äußerer Zwang rechtfertige sich danach alleine aus der Unvollständigkeit der kindlichen Selbstdisziplin und habe in dem Maße zurückzuweichen, in dem sich diese ausbilde.90 In den Debatten über solche und ähnliche Fragen gewannen die Befürworter einer liberaleren Erziehung allmählich die Oberhand. Viele Erzieher teilten die Forderung, dass man den Kindern – und gerade begabten Kindern – einen „Spielraum der Freiheit“ geben müsse.91 Es waren dabei nach wie vor religiöse Motive, die Sorge um eine dauerhafte christliche Persönlichkeitsbildung, welche diese Debatten vorantrieben. Religiöses Projekt und begrenzte Liberalisierung blieben eng verbunden. Wie umfassend viele Katholiken Mitte der 1940er Jahren erneut autoritäre Formen der Disziplinierung kritisierten, 88 89 90 91
Anuario de la Enseñanza Privada en España. Curso 1943–1944, Madrid 1943. Florencio de Lucas (De la Institución del Divino Maestro), La IX Semana de Educación Nacional, in: Atenas 108, Feb. 1941. Pedro Martínez Saralegui, Las escuelas nuevas, in Atenas 109, März 1941. V. Gómez de Segura, Formación de selectos. Comentarios a un libro del mismo nombre del R.P. Angel Ayala, Atenas 110, April 1941.
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zeigt ein Artikel des Jesuiten Eustaquio Guerrero. Er rechnete scharf mit der vermeintlich „eisernen Gefängnisdisziplin“ vieler Vorkriegsschulen ab. Diese hätten unselbständige Menschen erzogen, die der Freiheit nach dem Internatsleben nicht gewachsen gewesen seien. Als Konsequenz dieser Einsicht müssten die zeitgenössischen Schulen ihren Schülern den richtigen Umgang mit Freiheit lehren. Lehrerkontrolle und Schülerautonomie sollten sich die Waage halten.92 Das Programm, das Reformer wie Enrique Herrera Oria, Martínez Saralegui und Guerrero formulierten, darf nicht als Aufruf zu einer Demokratisierung der katholischen Schulen missverstanden werden. Der Begriff der Freiheit besaß in den Debatten der frühen 1940er Jahre noch kaum politische Konnotationen und das Modell der selbstbestimmten christlichen Persönlichkeit stand für die katholischen Pädagogen nicht im Widerspruch zur franquistischen Gesellschaftsordnung. Die religiöse Bildung und Erziehung sollte diese gerade stützen, indem sie ihr verantwortungsbewusste, selbstdisziplinierte Bürger zuführte. Doch darf umgekehrt auch die Sprengkraft der Diskussionen um Schülerfreiheiten und Selbstregierung in einem autoritären System wie der Franco-Diktatur nicht gering geschätzt werden. Sie markieren Risse im nationalkatholischen Diskurs der Regimepropaganda und stellten Keimzellen einer langfristigen Entwicklung dar, in welcher sich Vokabular und Ziele allmählich politisierten. Die Debatten machen auf Ansätze einer potentiell regimekritischen Haltung in einem wichtigen Teilsegment des spanischen Katholizismus schon in den Anfangsjahren aufmerksam, die oft als totalitäre Phase des Franco-Regimes beschrieben werden. Welche Veränderungen die neuen Erziehungsdebatten an den katholischen Schulen bewirkten, soll abschließend schlaglichtartig am Beispiel des Madrider Colegio Nuestra Señora del Pilar erörtert werden. Hier ist in den späteren 1940er Jahre diese intensive religiöse Durchtränkung des Schülerlebens nicht mehr festzustellen. Nach dem Krieg knüpfte die Schule an ihre Reformorientierung der Vorkriegszeit rasch wieder an. Diese fand seit 1949 in der neugegründeten Schulzeitschrift Soy Pilarista einen besonderen Ausdruck. Bezeichnend an der von Schülern selbst gestalteten Zeitschrift ist, dass sie sich sehr weitgehend an den Interessen der Kinder und Jugendlichen orientierte. Sie bildete ein Sprachrohr der Schülerschaft, die dieser auch Möglichkeiten einer verdeckten Diskussion über Schul- und Autoritätsfragen bot. Schulangelegenheiten und das Verhältnis zu den Eltern wurden zumeist in einem ironisch-distanzierenden Ton verhandelt, der nicht als Widerstand gegen das Schulregime verstanden werden darf, aber doch so offen Kritik formulierte, wie es in den Schulzeitschriften der Nachkriegszeit bis dahin unbekannt gewesen war. Ein Artikel ironisierte beispielsweise in einem fiktiven Dialog eines Schülers mit einem Psychiater die Arbeitsbelastung an der 92
Eustaquio Guerrero, La educación de la libertad, Atenas 157, Dez. 1945.
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Schule, ein anderer gestaltete ebenfalls auf oberflächlich humoristische Weise die Auseinandersetzung eines Sohnes mit seinem Vater um die angemessene Höhe des Taschengeldes. Wieder ein anderer Text zählte in humoristischer Form verschiedene Möglichkeiten auf, den Unterricht zugunsten eines Kinobesuches zu schwänzen.93 Dieser deutliche Zugewinn an Ausdrucksmöglichkeiten für Schülerinteressen ging einher mit einem auffälligen Zurücktreten religiöser Themen in der Zeitschrift. Gegenüber Berichten von Fußballspielen, Rezensionen von Kinofilmen und Interviews mit Stierkämpfern spielten religiöse Fragen nur eine Nebenrolle in der Zeitschrift. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass sie im Schulalltag der katholischen Schule nicht sehr präsent gewesen wären. Doch belegt ihr Fehlen im vielleicht wichtigsten Selbstdarstellungsorgan der Bildungseinrichtung ein deutliches Abflauen der religiösen Neuordnungseuphorie. Ein Artikel mit dem Titel „Catequésis“, der für freiwillige karitative Arbeit in den Madrider Arbeitervororten warb, meinte seine Leser nur durch ein fettgesetztes „Halt! [. . . ] Blättere nicht um!“ vom schnellen Überschlagen des Textes abhalten zu können. Religiöse Themen waren nicht populär und die Schulleitung verzichtete darauf, sie gegen den Schülerwillen als Freizeitlektüre verbindlich zu machen.94 Betrachtet man die wenigen religiösen Artikel der Schulzeitschrift genauer, so wird zudem ein Wandel der Ziele religiöser Sozialisation erkennbar, die sich deutlich sowohl von der klassischen religiösen Moralerziehung einer Tugendschule als auch von dem Projekt apostolischer Persönlichkeitsformung unterscheidet. Religion wird vielmehr auf neue Weise als Lebensratgeber und Lebenshilfe akzentuiert. Exemplarisch hierfür steht ein Aufsatz über Depressionen im Schülerleben. In der Form eines Tagebuches beschreibt der Text zunächst Vereinzelungsgefühle in der Klassengemeinschaft und „Perioden spiritueller Ermüdung“, aus denen der fiktive Schreiber keinen Ausweg findet. Der Artikel bietet nun eine christliche Perspektive als Mittel an, die psychischen Probleme zu verstehen und zu beheben. Ausgelöst durch einen zufälligen Blick auf das Kruzifix wird sich der Erzähler des spirituellen Schutzes Gottes gewahr und findet im Zwiegespräch mit ihm seelischen Halt, der es ihm ermöglicht, sein psychisches Gleichgewicht wiederherzustellen.95 Es konnte gezeigt werden, dass katholische Bildung und Erziehung im frühen Franquismus vielschichtiger und widersprüchlicher waren als es das dominierende Bild von Traditionsverhaftung und ideologischer Indoktrination nahelegt. Die katholischen Erzieher, die im Franco-Staat neue Posten in der Bildungsverwaltung und den katholischen pädagogischen Institutio93 94 95
Acentes, ¡Hogar, dulce Hogar! Soy Pilarista 59, 16.2.1949; Cartas Proemio, Soy Pilarista 59, 16.2.1949; Carpo, Manual del perfecto novillero, Soy Pilarista 60, 3.3.1949. X.C.X, Catequesis, Soy Pilarista 60, 3.3.1949. Vgl. auch Editorial, Soy Pilarista. 63, Octubre 1949. Un hijo de María, Hojas de mi diario, Soy Pilarista 60, 3.3.1949.
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nen und Verbänden einnahmen, wollten keine Rückkehr zur traditionellen spanischen Schule. Vielmehr bildeten sie Teil einer christlichen Erneuerungsbewegung, die sich zwar von republikanischen Erziehungsprojekten scharf abgrenzte, doch in Anknüpfung an Reformdebatten der Vorkriegsjahre eine tiefgreifende Erneuerung der spanischen Gesellschaft durch eine Reformation der Persönlichkeit der Kinder bezweckte. Es herrschte weitgehender Konsens innerhalb des katholischen Erziehungsmilieus, dass diese Persönlichkeitsreform nicht ausschließlich durch Zwang erfolgen konnte, sondern zumindest zu einem wichtigen Teil die freiwillige Einwilligung und Aktivität der Betroffenen und somit auch neue pädagogische Mittel der Religionserziehung erforderte. Die Debatte über die richtige Mischung von Disziplin und Freiheit bestimmte die katholische Diskussion über religiöse Bildung und Erziehung im ersten Nachkriegsjahrzehnt. Katholische Bildung und Erziehung im frühen Franquismus erweisen sich als ausgesprochen widersprüchliche Phänomene. Sie waren, das darf nicht übersehen werden, zentrale Mittel der autoritären Gesellschaftspolitik, gerade hinsichtlich der Unterschichten. Religiöse Sozialisation war nach Beginn des Bürgerkriegs eng in ein Projekt der autoritären Gesellschaftserneuerung eingebunden. Im Angesicht der Kriegswirren versuchten die katholischen Erzieher nicht nur immer weitere Bereiche des Bildungswesens unter ihre Kontrolle zu bringen, sondern auch neue christliche Persönlichkeiten als Garanten einer friedlichen und harmonischen Nachkriegsordnung zu bilden. Die neuen militärischen Machthaber öffneten der Kirche dazu breiten Raum. Zwar förderte das Regime mit den faschistischen Jugendverbänden Organisationen, die potentiell in Konkurrenz zu den katholischen Erziehungsanstrengungen standen, entfaltete zudem eine umfangreiche ideologische Werbetätigkeit unter den Heranwachsenden und griff auf neue Weise auf die Privatschulen aus. Doch blieb der Zugriff auf Kinder widersprüchlich. Das Regime hatte kein Interesse an einer potentiell politisch destabilisierenden Dauermobilisierung der Kinder und versuchte zudem in Anknüpfung an die mediale Kinderkultur der Vorkriegsjahre Heranwachsenden auch positive Anreize einer Identifikation mit dem neuen Staat zu geben. Damit überließ die neue Staatsführung der Kirche ein breites Betätigungsfeld. Die Kirche musste jedoch bald erkennen, dass die günstigen politischen Rahmenbedingungen nur bedingt praktische Folgen zeitigten. Trotz ihrer neuen Hegemonie bestand das schon in der Vorkriegszeit heftig diskutierte Problem einer nur oberflächlichen und wenig praxiswirksamen religiösen Prägung weiter. In den auflebenden internen Debatten setzte sich die Meinung durch, dass das Ziel eines aktiven Christentums nur durch Zugeständnisse an die Kinderinteressen und ein vermehrtes Maß an Freiheit und Mitsprache zu erreichen sei. Die Enttäuschung der hochfliegenden Reformhoffnungen führte zu einem Wiederaufleben der Vorkriegskritik an Unzulänglichkeiten katholischer Bildung und Erziehung und setzte eine Dynamik in Gang, die Teile des katholischen Erziehungsmilieus allmählich vom Status quo des
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Franco-Regimes entfernte. Das Scheitern der weitgesteckten Hoffnungen führte zu tastenden Liberalisierungsbewegungen der katholischen Pädagogik und der katholischen Schulen, die ihren Ursprung in den Vorkriegsjahren und ihren Kern in der Religionspädagogik hatten. Die Debatten zogen weitreichende Konsequenzen nach sich, nicht nur hinsichtlich der Neuansätze religiöser Vermittlung, sondern auch für die soziale Ordnung der Schulen und, in letzter Konsequenz, auch für die franquistische Gesellschaft als ganzer. Gerade die katholischen Eliteschulen übernahmen, von der Forschung bisher unbeachtet, die Rolle von sozialen Laboratorien, in denen zu einem sehr frühen Zeitpunkt mit neuen Formen limitierter Freiheit und Mitsprache experimentiert wurde. Früher als in vielen anderen Gesellschaftsbereichen lassen sich hier Grundlagen einer neuen liberalisierenden Reformorientierung erkennen, die in den folgenden Jahrzehnten eine ungeahnte Dynamik entfalten sollte. Paradoxerweise kamen diese Reformimpulse gerade aus einem gesellschaftlichen und ideologischen Zentrum des Franquismus und aus Institutionen, die von Anfang an fest auf der Seite der putschenden Generäle gestanden hatten. Diese Dynamik sollte allerdings nicht vorschnell oder ausschließlich allein als Proto-Demokratisierung gewertet werden. Zwar unterminierte der religiös motivierte Wandel der Schulordnungen ungewollt wichtige Grundlagen des autoritären Staats, doch stabilisierte er ihn auch, indem er Oberschichtenkindern Freiräume und begrenzte Kritikmöglichkeiten innerhalb der franquistischen Ordnung gewährte. Die im Erziehungsbereich vorhandene religiöse Dynamik wirkte nicht nur in eine Richtung, sondern beeinflusste die Entwicklung der franquistischen Gesellschaft auf vielfältige und oft widersprüchliche Weise.
Zusammenfassung Die historische Beschäftigung mit Spanien im frühen 20. Jahrhundert steht im Schatten des Bürgerkriegs. Das Bemühen, den Kriegsausbruch zu erklären, Verantwortliche für die Katastrophe zu benennen und kurz- und langfristige Kriegsursachen zu identifizieren, bestimmen nach wie vor die geschichtswissenschaftlichen Debatten. Der Blick richtet sich dabei immer noch fast unwillkürlich auf politische Eliten und politische Verbände, auf soziale Bewegungen und Proteste.96 Die Ergebnisse dieser Forschungen sind beeindruckend und haben in den letzten Jahrzehnten unser Verständnis der Dynamiken, die in den Krieg führten, bedeutend erweitert und vertieft. Doch die intensive Beschäftigung mit der Frage nach den Kriegsursachen bringt auch die Gefahr mit sich, den Blick zu sehr auf Prozesse der parteipolitischen Politisierung und der politisch-gesellschaftlichen Lagerbildung zu konzentrieren und andere gesellschaftliche und kulturelle Dynamiken in der Tendenz auszuklammern. Zugleich hat die Beschäftigung mit den Ursachen und dem Verlauf des Bürgerkriegs dazu geführt, dass die historische Spanienforschung ihre Themen kaum in transnationaler Perspektive behandelt. Innovative Ansätze in der Erforschung der europäischen Zwischenkriegszeit, die sich mit der Pluralität und Ambivalenz der Moderne als Epoche beschäftigen und dabei Phänomene wie die Entfaltung neuer Wissens-, Medien- und Konsumkulturen einbeziehen, werden kaum aufgegriffen. Es dominiert weiterhin ein Verständnis der Vorbürgerkriegszeit als Epoche eines Modernisierungskonflikts, in dem sich ein progressives und ein reaktionäres Lager unversöhnlich gegenüberstanden.97 Diese Arbeit hat eine andere Sichtweise propagiert, eine Sichtweise, die stärker als bisher die Vielfältigkeit der Aufbrüche in die Moderne des 20. Jahrhunderts in Spanien betont. Sie hat auf die gesellschaftlichen Grenzen der parteipolitischen Projekte hingewiesen und die Bedeutung gegenläufiger Entwicklungen herausstellt, die nicht mit dem Schema der politischen Lagerbildung zu erfassen sind. Neue wissenschaftliche Konzeptionen, eine neue kommerzielle und urbane Medienkultur sowie emotionale und materielle 96 97
Julián Casanova, The Spanish Republic and Civil War, Cambridge 2010; Bernecker, Geschichte Spaniens. Moritz Föllmer: Nationalismus, Konsum und politische Kultur im Europa der Zwischenkriegszeit, in: Neue Politische Literatur 56 (2011), S. 427–454; Nadine Rossol: Chancen der Weimarer Republik, in: Neue Politische Literatur 55 (2010), S. 393–420. Siehe auch Lutz Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945, München 2011. Als Beispiel für die geringe transnationale Kontextualisierung vieler Werke zur spanischen Geschichte siehe etwa das jüngste Buch von Paul Preston, The Spanish Holocaust. Inquisition and Extermination in Twentieth-century Spain, London 2012, der eine Gewaltgeschichte des Spanischen Bürgerkriegs unternimmt, ohne die intensiven Debatten über Gewalt und Krieg in der europäischen Geschichte zu rezipieren.
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Interessen der städtischen Mittelschichten interagierten in komplizierter und vielfältiger Weise mit den politischen Reformprojekten. Insbesondere weckten sie neue Erwartungen persönlicher wie gesellschaftlicher Reform, die sich im politischen Raum als steigende Anforderungen an den Staat und seine Träger äußerten. Eine Erweiterung des historischen Blickwinkels über den Bereich organisierter politischer Interessen und sozialer Protestbewegungen hinaus bedeutet nicht, den Einfluss institutionalisierter Politik zu leugnen, wohl aber ein besseres Verständnis der Spannungen und Konflikte Spaniens in der Zwischenkriegszeit zu gewinnen. Eine solchermaßen erweiterte Sicht auf die klassische Moderne in Spanien wirft auch neues Licht auf allgemeineuropäische Entwicklungen. Dies trifft auch und besonders für die Geschichte antiliberaler, rechtsgerichteter Bewegungen und Regime zu. Der spanische Katholizismus, dessen Interaktionen mit der urbanen Gesellschaft und Kultur Madrids den Fokus dieser Studie bildeten, muss in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr weitgehend diesen Bewegungen zugerechnet werden. Die Untersuchung wollte zu einem besseren Verständnis der Geschichte rechts-autoritärer Bewegungen und Regime im Europa insgesamt beitragen und neue Erkenntnisse zu ihrer Bandbreite, ihrem Wandel, ihrer gesellschaftlichen Resonanz und ihren Widersprüchen ans Licht fördern. Im Folgenden sollen vor diesem Hintergrund einige zentrale Befunde der Arbeit zusammengefasst und aufeinander bezogen werden. In den einzelnen Kapiteln sind vor allem zwei gängige Deutungsmuster der spanischen Geschichte zurückgewiesen worden: Erstens wurde deutlich, dass eine Interpretation der spanischen Geschichte im 20. Jahrhundert als Ringen zwischen Gesellschaftsblöcken der Moderne und der Tradition korrekturbedürftig ist. Zweitens konnte die These, dass die politisch-weltanschaulichen Konflikte in eine umfassende Politisierung und Polarisierung der spanischen Gesellschaft im Vorfeld des Bürgerkrieges mündeten, differenziert und korrigiert werden. Zunächst zur ersten Stoßrichtung der Studie. Die katholische Bewegung war keineswegs traditionell-bewahrend ausgerichtet. Sie zielte auf eine grundlegende Veränderung der zeitgenössischen Gesellschaft, die sie durch eine Erneuerung der einzelnen Individuen erreichen wollte, und experimentierte mit neuen Formen der Vergemeinschaftung. Insgesamt ergab sich das Bild einer höchst dynamischen, wenn auch zutiefst widersprüchlichen gesellschaftspolitischen Bewegung, das die vorherrschende Sichtweise der katholischen Kirche in der historischen Spanienforschung deutlich modifiziert. Statt die Auseinandersetzungen von Katholizismus und laizistischen, liberalen und republikanischen Kräften als ein Ringen zwischen Tradition und Moderne zu interpretieren, ist es deshalb angemessener, ein Ringen zweier alternativer Moderneprojekte zu konstatieren, die neben deutlichen Unterschieden auch viele Gemeinsamkeiten aufwiesen. Bei dieser Neuformulierung handelt es sich keineswegs um eine abstrakte begriffliche Wortschieberei ohne praktische Relevanz. Die Bezeichnung beinhaltet viel-
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mehr ein anderes Verständnis antiliberaler Gesellschaftsreform, das diese als Antwort auf zeitgenössische Problemlagen ernst nimmt und dadurch auch ihre Attraktivität über einen kleinen Kreis von Führungseliten hinaus sowie ihre historische Dynamik besser zu erklären vermag. Die Studie erörtert in diesem Sinne Mobilisierungspotentiale und Widersprüche antiliberaler Gesellschaftsreform in der modernen Welt. Kinder standen im Mittelpunkt der kirchlichen Rechristianisierungspolitik nach der Krise von 1898. Kindheitsreform war ein wesentlicher Bestandteil katholischer Gesellschaftspolitik. Sie betraf Grundfragen religiöser und gesellschaftlicher Vergemeinschaftung und Ordnungsvorstellungen und war deshalb mehr als nur ein Handlungsfeld unter vielen. Das Ringen um sie war stets zugleich eine Auseinandersetzung über das richtige Leben in der zeitgenössischen Gesellschaft und die Rolle des Einzelnen in der christlichen Weltordnung. Vor dem Hintergrund der Beobachtung einer trotz kirchlicher Macht fortschreitenden gesellschaftlichen Säkularisierung gewannen Reformkräften an Gewicht, die neue Wege einer offensiven Rechristianisierung und intensivierten religiösen Persönlichkeitsbildung beschreiten wollten. Die katholischen Erzieher und Intellektuellen akzeptierten nach der Jahrhundertwende in einem für sie schmerzlichen Prozess faktisch, eine gesellschaftliche Interessengruppe unter mehreren in einer pluralistischen Gesellschaft zu sein und ihr Handeln darauf einstellen zu müssen. Diese Akzeptanz legte eine Neuausrichtung katholischer Gesellschaftspolitik auf die aktive gesellschaftliche Mission „von unten“, das heißt über eine Missionierung der einzelnen Menschen, nahe. Das Konzept von Rechristianisierung ging Hand in Hand mit der Durchsetzung eines neuen Leitmodells christlicher Persönlichkeit und einem neuen Interesse an Möglichkeiten der Persönlichkeitsbildung. Ein guter Katholik zeichnete sich nach 1900 nicht mehr alleine durch seinen moralischen Lebenswandel und die widerspruchslose Akzeptanz kirchlicher und staatlicher Autorität aus, sondern durch sein offensiv bekennendes und missionierendes Christentum. Das neue Programm einer Gesellschaftsreform über die Formung aktiver, überzeugter Christen hatte unmittelbare Auswirkungen auf die katholische Bildung und Erziehung. Sie bedingte ein neues Interesse an der einzelnen Kinderpersönlichkeit und an reformpädagogischen Methoden. Nicht mehr primär durch die Bestimmung der äußeren, bildungspolitischen Rahmenbedingungen, von Schulaufsicht und Lehrplangestaltung, sondern durch eine innere Persönlichkeitsreform von Erziehern und zu Erziehenden sollte die gesellschaftliche Säkularisierung gestoppt und rückgängig gemacht und eine spirituelle Erneuerung Spaniens erreicht werden. Die kirchennahen Pädagogen arbeiteten an einer modernen katholischen Pädagogik, die einen zeitgemäßen Gegenentwurf zu liberalen Bildungskonzeptionen darstellen und deren Schwächen überwinden sollte. Es herrschte weitgehender Konsens innerhalb des katholischen Reformlagers, dass eine apostolische Persönlichkeitsreform nicht durch Zwang zu erreichen sei, sondern die freiwillige Einwilligung und
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Aktivität der Heranwachsenden voraussetzte. Sie bedurfte deshalb neuer reformpädagogischer Methoden, die besser als die etablierten Verfahren in der Lage waren, die Heranwachsenden für die Kirche und die christliche Religion zu interessieren und innerlich überzeugte Kämpfer für die katholische Sache zu formen. Die Erneuerung von Bildung und Erziehung machte vor der Mädchenbildung nicht Halt. Auch Mädchen und Frauen, das war die Überzeugung der Pädagogen, mussten dazu befähigt werden, den Feinden der Kirche in der Öffentlichkeit aktiv entgegentreten zu können. Der nahe liegende Einwand, dass die Erneuerungskräfte eine Minderheitenposition innerhalb der Katholischen Kirche einnahmen, ist nicht haltbar. Zwar stießen die Reformer zunächst auf starke innerkatholische Widerstände und waren in sich gespalten. Zudem gelang eine Mobilisierung des katholischen Bildungsmilieus bis 1930 immer nur kurzfristig und in einem eng begrenzten Rahmen. Doch vollzog sich allmählich, zunächst über Einzelinitiativen, informelle Gespräche und Zeitschriften, die Institutionalisierung eines eigenständigen reformorientierten katholischen Erziehungsmilieus. Mit der Gründung der Federación Amigos de la Enseñanza (FAE) im Jahr 1930 übernahmen die Reformgruppen die innerkatholische Führungsrolle, erhielten die Unterstützung des Epsikopats und bestimmten in den folgenden Jahren die katholischen Bildungs- und Erziehungsdebatten maßgeblich und ohne ernsthafte Konkurrenz. Die Erneuerer etablierten sich als bildungspolitischer und pädagogischer Generalstab des Katholizismus. Die Reform katholischer Bildung und Erziehung hatte zwei widersprüchliche Konsequenzen. Einerseits verstärkte sich der pädagogische Zugriff auf das einzelne Kind. Andererseits legte es die Neuausrichtung jedoch nahe, die Interessen der Kinder im Erziehungsprozess auf neue Weise zu berücksichtigen, ihre Aktivität zu fördern und ihnen bisher nicht gewährte Freiräume zuzugestehen. Die pädagogischen Debatten der 1930er Jahre kreisten vor diesem Hintergrund intensiv um die Frage, wie Disziplin und Freiheit in Verbindung gebracht werden könnten. Dieses Problem dominierte die katholische Diskussion über Bildung und Erziehung weit über den Bürgerkrieg hinaus. Drei weitergehende Ergebnisse lassen sich an dieser Stelle festhalten. Der neue Zugriff auf Kinder durch die kirchlichen Erzieher lässt sich, erstens, nicht in die klaren Kategorien von Liberalisierung oder totalitärer Disziplinierung pressen. Vielmehr bestand sein Charakteristikum gerade in der widersprüchlichen Verknüpfung eines neuen Zugriffsverlangens mit der Gewährung von Freiräumen. Politische Mobilisierung im Zeichen eines apostolischen Katholizismus und Reformpädagogik, religiöse Vergemeinschaftung und eine neue Aufmerksamkeit für die Individualität des Kindes schlossen sich nicht aus. Vielmehr sahen die katholischen Intellektuellen der 1930er Jahre sie als komplementär an. Ein wichtiger Teil der Pädagogen entwickelte in diesem Zusammenhang Zielvorstellungen einer neuen organischen Konzeption sozialer Ordnung, die eine Abschwächung formaler Hierarchien und Disziplinierungsmittel zugunsten einer inneren, personengebundenen
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Akzeptanz von Autorität, Führung und Gefolgschaft vorsah. Hier wird der Entwurf eines neuen Autoritarismus sichtbar, der viele Ähnlichkeiten mit Ordnungsvorstellungen im Umfeld neuer rechtsautoritärer und faschistischer Bewegungen offenbart. In politischer Perspektive erleichterte er die Kooperation von Kirche, faschistischer Bewegung und den putschenden Generälen nach dem Juli 1936. Allerdings muss betont werden, dass die Konturen dieses Entwurfs vage blieben und zudem die katholischen Debatten nicht einseitig auf ihn zuliefen. Genauso wichtig ist es, Anschlussmöglichkeiten an liberale Gesellschaftsmodelle zu betonen, die in der Aufwertung der Schülerpersönlichkeit, der Gewährung begrenzter Mitspracherechte der Schüler und neuen Konzeptionen einer freien Selbstorganisation der Schüler angelegt waren. Welche dieser potentiellen Entwicklungspfade eingeschlagen wurde, hing von den Kräfteverhältnissen in konkreten historischen Kontexten ab. Zweitens erwies sich Religion nicht als Hemmschuh einer Erneuerung katholischer Bildung und Erziehung, sondern umgekehrt gerade als dynamische Kraft der Veränderung. Es waren religiöse Fragen, welche eine Aneignung neuen Wissens und neuer Praktiken sinnvoll erscheinen ließen. Die Innovationskraft von Religion zeigte sich plastisch im Vergleich der katholischen Reformansätze mit falangistischen Erziehungsauffassungen, wie sie erstmals nach Beginn des Bürgerkrieges formuliert wurden. Anders als es die Forschung nahelegt, waren es gerade nicht faschistische Bildungstheoretiker, welche neue Ansätze profilierten und resolut mit überkommenen Positionen brachen. Im Gegenteil, die katholischen Reformer rezipierten stärker die neuen internationalen Kinderwissenschaften, experimentierten intensiver mit neuen Erziehungspraktiken und zeigten somit ein deutlich „moderneres“ Gesicht. Demgegenüber traten die faschistischen Pädagogen noch am ehesten als Verfechter eines pädagogischen Traditionalismus auf. Drittens ähnelte sich die Aneignung von Kinderpsychologie und Reformpädagogik durch katholische und republikanische Pädagogen. Allerdings waren erstere in ein internationales katholisches Erziehungsmilieu eingebunden, das dem neuen Wissen einen besonderen katholischen „Akzent“ gab. Doch bleibt festzuhalten, dass jenseits der weltanschaulichen Grundpositionen katholische und republikanische Bildungsexperten im Detail viele – wenn auch keineswegs alle – pädagogischen Auffassungen teilten. Die Unterschiede zwischen katholischen und republikanischen Reformern waren oft weniger groß als die Differenzen zwischen ihnen und den von beiden Seiten häufig als rückständig erachteten Eltern und älteren Lehrern. Diese Ähnlichkeiten weisen auf versteckte Gemeinsamkeiten in der Sicht auf Gesellschaft und gesellschaftliche Ordnung zwischen den weltanschaulichen Lagern hin, die von der zukünftigen Forschung weiter erforscht werden sollten. Eine zweite gängige Interpretation der spanischen Geschichte, nach der die politisch-weltanschaulichen Konflikte vor 1936 in eine umfassende Politisierung und gesellschaftliche Lagerbildung mündeten, hat die Arbeit dif-
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ferenziert und korrigiert. Die politisch-weltanschaulichen Zugriffsversuche bildeten jeweils nur einen Faktor in den Aushandlungen über Kindheit und ihre Gestaltung. Materielle und Berufsgruppeninteressen, kommerzielle und Karriereinteressen, schließlich alternative Vorstellungen von Kindheits- und Familienreform verbanden sich mit politischen Deutungen, Angeboten und Programmen, entwickelten aber auch eigenständige Dynamiken, die den Interessen der politischen und religiösen Reformer häufig zuwiderliefen. Bereits eine Analyse der Berichterstattung über Kinder und Kindheit in Zeitungen und der illustrierten Massenpresse zeigt die Unzulänglichkeit des Analysemodells der „zwei Spanien“ als verfeindete Blöcke. Aufwachsen und Erziehung beschäftigten nicht nur Bildungspolitiker, Sozialpolitiker und Erzieher, sondern sie stiegen nach 1900 zu wichtigen Themen einer urbanen Öffentlichkeit auf, wie sie sich insbesondere in der neuen illustrierten Massenpresse konstituierte. Das Aufwachsen der Kinder wurde immer mehr zum Gegenstand gesamtgesellschaftlicher Sorge und das Wohlergehen der nachwachsenden Generationen zum Ausweis der Zivilisiertheit Spaniens im internationalen Vergleich. Kinder wurden zu einer nationalen Ressource im Konkurrenzkampf der Nationen, die es zu pflegen und zu fördern galt. Das widerspenstige, selbstbewusste und unternehmerische Kind, das stark männlich konnotiert war, aber auch als Leitmodell für Mädchen wirkte, löste bis in die 1930er Jahre das tugendhafte, sozial angepasste Kind als Zielperspektive von Kindheitsreform ab. Nicht mehr die rasche Assimilation an die existierende Erwachsenenwelt, sondern deren Transformation durch die in ihr schlummernden Erneuerungspotentiale war die Zielperspektive von Kindheit. Das neue Kinderleitbild war in sich ambivalent. Es enthielt nicht nur Versprechungen einer besseren Zukunft, sondern weckte auch neue Ängste. Einerseits forderte es eine „realistische“ Ausrichtung von Erziehung: Kinder sollten mit den Realitäten der Erwachsenenwelt vertraut gemacht werden und lernen, diese zu meistern. Andererseits beinhaltete es jedoch auch neuartige Befürchtungen vor einem Verschwinden der Kindheit. Das widerspenstige Kind besaß zudem auch eine bedrohliche Seite. Es war für Erwachsene oft unverständlich und tastete implizit oder explizit ihre Autorität an. Weit eher als genuin parteipolitische Auseinandersetzungen war es diese Mischung aus hochfliegenden Hoffnungen und neuen Sorgen, die die mediale und politische Dynamik neuer Kindheit bestimmte. Kindheitsreform wurde von allen wesentlichen politischen Akteuren als integraler Teil und Speerspitze einer umfassenden Neugestaltung sozialer Beziehungen in der Metropole entworfen. Der Reformelan richtete sich vor allem auf die Erneuerung existierender Kinderinstitutionen, die als soziale Laboratorien eines humaneren Lebens und authentischerer Sozialbeziehungen politisch aufgewertet wurden. In dieser Entwicklung erweiterte sich über parteipolitische Frontlinien hinweg auch das Konzept von Kindheitsreform. Neben die anfänglich dominierenden hygienischen Aspekte, die den
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Kinderkörper und die Kindergesundheit betrafen, trat das psychische und emotionale Wohlbefinden des Kindes als wesentlicher Gegenstand reformerischer Aufmerksamkeit. Staat und Kommunen sahen sich öffentlichen Forderungen ausgesetzt, Kindern Gesundheit und Freude zu verschaffen. Die medialen Kinderdebatten hatten auf dieser Grundlage widersprüchliche politische Konsequenzen. Einerseits wirkten sie als neue Anforderungen auf Politik und Erziehung ein, umfassender als bisher für den Schutz und die Förderung von Kindern zu sorgen. Gerade die Durchsetzung neuer Bilder apolitischer, unbeschwerter Kindheit erhöhte den politischen Reformdruck und förderte Rufe nach einem verstärkten politischen Eingreifen in Kindheit. Der Entwurf neuer, stark an Entwicklungen des Auslands orientierter Zukunfts- und Wunschbilder von Kindheit hatte wichtige politische Folgen, indem er die zeitgenössische Realität als besonders unzureichend erscheinen ließ. Paradoxerweise schürte zudem gerade die von allen weltanschaulichen Lagern geteilte Zielvorstellung „verhäuslichter“, das heißt von der Erwachsenenwelt in pädagogisch gestalteten Räumen getrennter Kindheit, die politischen Auseinandersetzungen. Um bessere und glückliche Staatsbürger heranzubilden, das war die versteckte Botschaft der Berichte und Reportagen, bedurfte es einschneidender politischer Eingriffe. Andererseits trugen die medialen Kinderrepräsentationen auch dazu bei, eine neue Vorstellung von Aufwachsen und Erziehung zu popularisieren, die sich durch das Gebot der Politikferne auszeichnete. Diese Sichtweise bildete eine Grundlage für die Verständigung von Expertengruppen über weltanschauliche Gräben hinweg. Die neuen Kindheitsrepräsentationen und Reformkonzepte waren politisch polyvalent und ließen sich sowohl in demokratische wie auch in autoritäre Gesellschaftsprojekte einfügen. Sie konnten Forderungen nach einer Liberalisierung und Demokratisierung ebenso unterfüttern wie Rufe nach einer neuen autoritären Kontrolle von Kindern. Nach 1931 wurde die Reform von Kindheit einerseits in ein Projekt einer Republikanisierung des Alltagslebens eingebunden, andererseits entwarfen Teile der katholische Presse Kinder als opferbereite Reformatoren einer in ihrem Glauben schwankenden Erwachsenenwelt. Allerdings kam es in der medialen Öffentlichkeit zu keiner klaren Lagerbildung, die Repräsentationen von Kindheit blieben vielmehr politisch uneindeutig und in sehr unterschiedlicher Weise anschlussfähig. Unabhängig von ihrer konkreten politischen Aufladung drängten die neuen Kindheitsmodelle jedoch unterschwellig auf eine Transzendierung der zeitgenössischen politischen Ordnungen. Dies betraf sowohl die Diktatur Primo de Riveras als auch die Zweite Republik. Beide Regime sahen sich einer scharfen Diskrepanz von hohen Ansprüchen und deutlichen materiellen Limitierungen ausgesetzt. Die moderne Kinderkultur verstärkte die Unzufriedenheit sowohl überzeugter Republikaner als auch der katholischen Rechten mit dem politischen Status quo. Sie beförderte in den turbulenten Jahren der Zweiten Republik nicht zuletzt im gesamten politischen Spektrum Auffassungen, dass Kinder neuer Kontrolle und einer Gesellschaftsordnung
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bedürften, welche in Form einer kontrollierten Moderne sowohl die Entfaltung als auch die Einhegung der Kinderpersönlichkeiten zu gewährleisten vermochte. Eine Analyse der Reichweite katholischer – und auch republikanischer – Kindheits- und Gesellschaftsreform in exemplarischen Fallstudien musste die These einer fundamentalen gesellschaftlichen Lagerbildung ebenfalls korrigieren. Zwar politisierten sich kleine, einander antagonistisch gegenüberstehende Expertenmilieus seit den 1920er Jahren im Zuge der Debatten über die Notwendigkeit eines verbesserten Schutzes und einer verbesserten Förderung von Kindern, doch erfolgte weder eine allgemeine Polarisierung des Expertenfeldes noch eine allgemeine Spaltung der städtischen Mittelschichten in zwei politisch-weltanschauliche Blöcke. Zutreffender als die Vorstellung antagonistischer Lager ist das Bild eines Kontinuums an Positionen mit zwei markanten politisierten Flügeln, zwischen denen aber ein breites Mittelfeld an Auffassungen lag, die zudem oft quer zu den politischen Programmen standen und somit nicht über ein eindimensionales Analyseraster zu fassen sind. Die Aushandlungen zwischen Kirche und der bürgerlichen Öffentlichkeit Madrids gingen über ein einfaches Muster von Akzeptanz und Ablehnung weit hinaus. Die jeweiligen Akteure übernahmen selektiv bestimmte Elemente des katholischen Reformprogramms, wiesen andere jedoch zurück. Eigene Interessen, Bedürfnisse und Wünsche, die den politisch-weltanschaulichen Anforderungen zuwiderliefen, entfalteten eine bedeutende Dynamik und wirkten ihrerseits wieder auf die politischweltanschaulichen Reformprojekte zurück. Der lokalpolitische Bildungsraum war weit weniger durch die weltanschaulichen Konflikte des „Zeitalters der Extreme“ gekennzeichnet, als dies die meisten Darstellungen zur Zweiten Republik erwarten lassen. Obwohl sie in ihrer Mehrheit keine Sympathien für die Kirche hegten, schwächten die mit Bildungsfragen befassten republikanischen Lokalpolitiker in ihrem praktischen Handeln die antiklerikalen Vorgaben der Verfassung und der Gesetzgebung deutlich ab. Dies entsprach einer bildungspolitischen Prioritätensetzung, die dem schnellen Ausbau von Schulplätzen gegenüber einer Zurückdrängung der Kirche aus dem Bildungsbereich einen höheren Stellenwert zumaß. Der praktischen Zurückhaltung der republikanischen Bildungspolitiker gegenüber antiklerikalen Maßnahmen entsprach eine in der Praxis flexible Bildungspolitik der katholischen Reformer der FAE, die trotz scharfer rhetorischer Attacken gegen die Republik keine totale Obstruktionspolitik verfolgten. Es lassen sich somit auf lokalpolitischer Ebene in der Metropole Anzeichen eines unausgesprochenen Waffenstillstands zwischen den weltanschaulichen Erziehungslagern erkennen, welcher in längerfristiger Perspektive durchaus Chancen eines bildungspolitischen Kompromisses eröffnete. Den Grenzen weltanschaulicher Radikalisierung in der kommunalen Bildungspolitik entsprachen die deutlichen Limitierungen katholischer
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Mobilisierungsfähigkeit in den bürgerlichen Mittelschichten. Katholische Interessenverbände gewannen stets nur temporär größeren Rückhalt in einem weiteren Erziehungsmilieu von Kinderexperten, Lehrern und Eltern und übernahmen zu keinem Zeitpunkt die Rolle von Transmissionsriemen apostolischen Christentums, die die katholischen Reformer ihnen zugedacht hatten. Im Fall der Lehrer wirkten beispielsweise berufsspezifische Standesinteressen sowie die Abwehr von Ansprüchen seitens der Eltern und der städtischen Öffentlichkeit als Faktoren, die Gegensätze in religiösen Fragen abschwächten. Auf der Grundlage eines professionellen Selbstverständnisses als unpolitische Experten nahmen viele Lehrkräfte eine Äquidistanz zu den politischen Lagern ein, die ihnen eine wahlweise Akzeptanz oder Ablehnung einzelner Reformpläne ermöglichte. Die Politisierung von Erziehungsfragen in den Parlamenten förderte sogar in gewisser Weise Tendenzen einer Abwendung von parteipolitischen Fragen in großen Teilen der Lehrerschaft, in der die Idee, das Politik und Bildung voneinander unabhängige Handlungsfelder seien, an Einfluss gewann. Die medizinischen und sozialpädagogischen Kinderexperten bewahrten sich in der Regel ebenfalls eine Distanz zu konkreten politischen Parteien. Ihre spezifischen gesellschaftsreformerischen Programme waren an sehr unterschiedliche politische Projekte anschlussfähig; ihr Expertenwissen wurde von der Öffentlichkeit und den neuen Kinderinstitutionen über weltanschauliche Lagergrenzen und politische Umbrüche hinweg nachgefragt. Auch in Hinblick auf eine christliche Erneuerung der Familie erlangten die katholischen – wie auch die republikanischen – Reformimpulse nur sehr begrenzte Wirkungen. Vielmehr gewann in der medialen Öffentlichkeit ein anderes Konzept von Familienreform die größte Bedeutung. Dieses Modell nahm hygienische und reformpädagogische Neuansätze auf und propagierte einen innigeren Kontakt zwischen den einzelnen Familienangehörigen. Sein Hauptmerkmal war jedoch die Ausrichtung des Familienlebens auf die Ertüchtigung der Familienmitglieder für einen erfolgreichen Kampf in einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft. Familienkonflikte wurden in den 1930er Jahren zwar immer wieder politisch-weltanschaulich aufgeladen, doch eine klare Lagerbildung lässt sich auch hier nicht erkennen. Der politische Umbruch von 1931 brachte vielmehr Demokratiegewinner und -verlierer in den Familien hervor, ohne dass sich beide Gruppen jedoch klar voneinander abgrenzen ließen. Die Grenzen politischer Reformprogramme und die Bedeutung gegenläufiger Dynamiken lassen sich besonders deutlich in der kommerziellen Massenpresse verfolgen. Seit dem Ersten Weltkrieg etablierte sich gegenüber dem älteren Modell moralischer Erbauungsblätter ein neuer Typus von äußerst populären kommerziellen Kinderzeitschriften, der sich der internationalen Unterhaltungskultur öffnete und insbesondere durch die Genres der Abenteuer- und komischen Geschichten Kinderinteressen aufgriff. Die Kindheitsreformer mussten sich auf diese neuen Medien und ihre Logi-
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ken einlassen, wollten sie nicht jegliche Kontrolle über ein wichtiges Feld kindlicher Sozialisation aufgeben. Während republikanische Eingriffe in die Kinderpresse widersprüchlich blieben, da sie zwischen einer Konzeption von Kinderkultur als politikfreier Sphäre und Versuchen einer republikanischen Einflussnahme auf die Kinder schwankten, gelang es der Kirche tatsächlich, mit der Zeitschrift Jeromín einen größeren Adressatenkreis zu erreichen. Sie zahlte jedoch für den Erfolg des Magazins einen bedeutenden Preis. Um größere Gruppen von Kindern als Leser zu halten, nahm sie deutliche Abstriche in der Vermittlung ihres Reformprogramms apostolischen Christentums vor. Bei Kindern unpopuläre moralisch-religiöse Inhalte traten stark in den Hintergrund, die Zeitschrift konzentrierte ihre politisch-ideologische Botschaft immer mehr auf die Propagierung eines populären Modells patriotischen Heroismus und die positive Darstellung militärischer Autoritäten. Die weltanschaulichen Botschaften der Zeitschrift waren zudem ambivalent. Neben der positiven Darstellung national-organischer Autoritätsverhältnisse zwischen Erwachsenen und Kindern präsentierte Jeromín in Bildgeschichten auch gegenläufige Modelle kindlicher Autonomie und einer, wenn auch stets nur temporären, Unterminierung erwachsener Autorität. Die Zeitschrift band somit einerseits Kinder in einen neuen, als organisch vorgestellten Nationalismus ein, in dem der Einzelne und das einzelne Kind eine aktive Rolle spielten und der viele Berührungspunkte zu faschistischen Ordnungsentwürfen aufweist, andererseits betonten sie unterschwellig kindliche Freiheit und kindliche Macht. Letztere Beobachtung sollte jedoch nicht einseitig als Abschwächung oder Grenze des nationalistischen Programms gedeutet werden. Vielmehr steigerte die Berücksichtigung von Kinderwünschen und -interessen auch die Popularität des neuen Nationalismus zumindest bei Teilen der Heranwachsenden aus den Mittelschichten und schuf damit nach Kriegsbeginn eine Grundlage ihres aktiven Engagements in der sich etablierenden Franco-Diktatur. Die Aufnahme subversiver Formen bedeutete somit nicht alleine eine Schwächung des politischen Zugriffs auf Kinder und verweist auf die Vielschichtigkeit der wechselseitigen Durchdringung und Abgrenzung von politischen Bewegungen und kommerzieller Populärkultur. Die katholischen Privatschulen bilden einen besonderen Testfall sowohl für die Beziehungen des spanischen Katholizismus zur gesellschaftlichen Moderne als auch für die Durchsetzungskraft katholischer Rechristianisierungsprojekte. Aufgrund der Probleme, Experten, Familien und Kinder über Vereine, Schulungen und Zeitschriften für die katholische Sache zu gewinnen, wandten sich die katholischen Reformer besonders den konfessionellen Schulen zu und versuchten sie als Kaderschmieden neuer apostolischer Persönlichkeiten auszubauen. Doch anders als es die Kirche wünschte und kirchenkritische wie auch soziologische Beschreibungen nahelegen, waren die katholischen Schulen keine totalen Institutionen religiöser Menschenbildung. Sie sind als kommerzielle Unternehmen eher als Interaktionsorte zu verstehen, in denen kirchliche Bildungsversuche auf Elterninteressen und Kinderwünsche trafen.
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In der Folge des Zusammentreffens apostolischer Persönlichkeitsprojekte und der neuen urbanen Kinderkultur wandelten sich die Schulen seit dem Ersten Weltkrieg deutlich. Sie verabschiedeten sich schrittweise vom monastischen Modell des Schullebens und öffneten sich der urbanen Moderne. Von isolierten Erziehungsanstalten entwickelten sie sich zu eng mit den städtischen Gesellschaften vernetzten halboffenen Einrichtungen. Zugleich eröffneten die Schulen ihren Schülern mehr Freiräume und Mitwirkungsmöglichkeiten und führten neue, in der Tendenz egalitäre Vergemeinschaftungsformen ein, die die hierarchische Ordnung der Schulgesellschaften auflockerten. Diese Entwicklung darf jedoch nicht einseitig als Liberalisierung verstanden werden. Der Einfluss- und Freiheitsgewinn der Schüler war untrennbar mit der Intensivierung religiöser Vermittlung verbunden. Es waren bezeichnenderweise gerade die Schulen, die am intensivsten auf eine totale christliche Persönlichkeitsreform hinarbeiteten, die ihren Schülern die größten Zugeständnisse machten und sich am offensten für reformpädagogische Konzepte zeigten. Politisch-nationalistische Mobilisierung und Zugeständnisse an die Schüler gingen Hand in Hand und waren für die katholischen Reformpädagogen untrennbar miteinander verbunden. Der Wandel war jedoch keineswegs einheitlich, sondern nahm an unterschiedlichen Bildungseinrichtungen unterschiedliche Formen an und weist damit auch auf unterschiedliche Entwicklungspotentiale der katholischen Schulregime hin. Auf der einen Seite unternahmen einige Schulen, wie das Jesuitenkolleg San José in Valladolid, eine umfassende Politisierung des Schullebens. Sie gestalteten sich zu Kaderschmieden der Katholischen Aktion und der rechtsgerichteten Parteien um. Sie waren Laboratorien eines erneuerten, stärker egalitären und auf die Mitwirkung des Einzelnen setzenden Nationalismus mit einer starken Ausrichtung auf vormilitärisches Training. Nach Kriegsbeginn ging die politische Mobilisierung der Schüler nahtlos in eine Beteiligung an den Kriegsanstrengungen auf Seiten der aufständischen Militärs über. Die Schule gliederte sich aktiv in die franquistische Kriegsgesellschaft ein. In anderen Schulen bestimmten vor 1936 eher Tendenzen einer vorsichtigen Liberalisierung das Bild. Diese wiederum konnte einerseits, wie im Fall der theresianischen Mädchenschulen, im Zeichen von Bemühungen stehen, neue intensiv-christliche Gemeinschaften von Erziehern und Schülerinnen zu errichten. Diese sollten nach der Art von Leuchttürmen Modelle für die Reform der die Schulen umgebende Gesellschaft bereitstellen. Andererseits rückte an reformorientierten Stadtschulen, wie dem Colegio de Nuestra Señora del Pilar in Madrid, die Orientierung an einer Ausbildung einer zukünftigen christlich-gesellschaftlichen Elite gegenüber Tendenzen politischer Mobilisierung in den Vordergrund. Diese Orientierung hin auf eine längerfristige Gesellschaftsreform und einen „langen Marsch durch die Institutionen“ eröffnete in der Schulpraxis den Schülern neue Freiräume und ebnete zudem stärker als
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an den politischen „Kaderschmieden“ die Grenzen zwischen Schule und außerschulischem Leben ein. Im Ergebnis war die Intensivierung religiöser Bildung und Erziehung an den Schulen in ihren Formen und Ergebnissen widersprüchlich. Zunächst muss festgehalten werden, dass die Rechristianisierungsbewegung mehr Kinder als jemals zuvor in eine persönliche und intellektuelle Auseinandersetzung mit der katholischen Religion jenseits von devotionalen Riten und den Moralsätzen des Katechismus brachte. Das frühe 20. Jahrhundert muss in diesem Sinne als eine Zeit gewertet werden, die eine in ihrer gesellschaftlichen Breite beispiellose Vertiefung religiöser Bildung mit sich brachte. Die Ergebnisse dieser Vertiefung waren für die Kirche jedoch äußerst zwiespältig. Sie förderte die Spaltung der Schülerschaft in religiösen Fragen. Einerseits übte eine Minderheit religiös ansprechbarer Schüler in den religiösen Gemeinschaften ein christliches Leben ein und traf dabei auf eine zuvor nicht gekannte Anerkennung ihrer religiösen Persönlichkeit sowie bislang unbekannte egalitäre religiöse Umgangsformen. Dieser kleinen Gruppe stand jedoch die große Mehrheit der Schüler gegenüber, die weit weniger religiöse Aufmerksamkeit erfuhr und die sich der intellektuell geprägten, die ganze Persönlichkeit fordernden religiösen Vereinnahmung in unterschiedlichem Grade verweigerte. Im Ergebnis lässt sich somit von einer sozialen Verdichtung von Religion auf bestimmte Gruppen von Heranwachsenden sprechen. Beide Bewegungen standen in einem engen Zusammenhang. Die intensivierte Religiosität der Minderheit ließ sich in der Praxis nur durch Selektion und besondere Privilegien, das heißt durch den Ausschluss der Mehrheit erreichen. In dieser Arbeit konnte die weitere Entwicklung der Schülerkohorten nicht verfolgt werden. Doch legen die Ergebnisse nahe, dass eine zukünftige Beschäftigung mit dem Wandel des Katholizismus – und auch der politischen Führungsschichten – im Franquismus stärker als bisher die hier entfaltete spezifischen generationellen Prägungen einer katholischen Kerngruppe berücksichtigen sollte. Der Beginn des Bürgerkrieges markierte nicht das Ende der katholischen Reformdebatten, wohl aber einen tiefen Einschnitt katholischer Bildung und Erziehung. Einerseits bedeutete der Bürgerkrieg für die katholischen Pädagogen eine Ernüchterung, da der Ausbruch des Kriegs als weiterer Beleg einer Krise christlicher Menschenbildung gedeutet wurde. Andererseits verstärkte der Aufstand Francos jedoch den pädagogischen Reformenthusiasmus. Mit der Erringung einer sehr weitgehenden Hegemonie über das Bildungswesen verknüpften die katholischen Reformer die Hoffnung, nun endlich wahre christliche Persönlichkeiten und eine neue christliche Gesellschaft aufbauen zu können. Die hochfliegenden Hoffnungen sahen sich jedoch bald enttäuscht. Die Kirche musste erkennen, dass ihr anspruchsvolles Erziehungsprogramm nur bedingt praktische Folgen zeitigte. Diese Enttäuschung entfachte eine Dynamik, die Teile des katholischen Erziehungsmilieus allmählich vom Status quo des Franco-Regimes entfernte. Das Scheitern ka-
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tholischer Gesellschaftsreform nach 1939 führte zu einem Wiederanknüpfen an die tastenden Liberalisierungsbewegungen der katholischen Pädagogik und der katholischen Schulen der Vorkriegsjahre. In den pädagogischen Debatten setzte sich am Anfang der 1940er Jahre erneut die Meinung durch, dass das Ziel eines aktiven Christentums nur durch Zugeständnisse an die Kinderinteressen und ein vermehrtes Maß an Freiheit und Mitsprache zu erreichen sei. Die Diskussionen hatten weitreichende Konsequenzen für die soziale Ordnung der Schulen und letztendlich auch für die franquistische Gesellschaft als ganzer. Gerade die katholischen Eliteschulen übernahmen, von der Forschung bisher unbeachtet, die Rolle von sozialen Laboratorien, in denen zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Diktatur mit neuen Formen limitierter Freiheit und Mitsprache experimentiert wurde. Diese Dynamik sollte allerdings nicht vorschnell oder ausschließlich als Proto-Demokratisierung gewertet werden. Zwar unterminierte der religiös motivierte Wandel der Schulordnungen ungewollt wichtige Grundlagen des autoritären Staats, doch stabilisierte er ihn gleichzeitig, indem er Oberschichtenkindern Freiräume und begrenzte Kritikmöglichkeiten innerhalb der franquistischen Ordnung gewährte. Drei allgemeine Ergebnisse der Arbeit können schließlich festgehalten werden. Erstens trägt die Arbeit zu einer erweiterten Geschichte der Demokratie in Spanien bei, indem sie zeigt, dass die Gründung der Zweiten Republik sehr unterschiedliche Hoffnungen und Ängste entfesselte, die keineswegs in den parteipolitischen Programmen aufgingen. Die Republik wurde von vielen Menschen als Chance zu einem persönlichen Neuanfang, aber auch als Regime neuer Zumutungen erfahren. Diese Wahrnehmungen entfachten eine eigene, quer zu den parteipolitischen Auseinandersetzungen liegende politische Dynamik. Insgesamt verschob sich im Verlauf der kurzen republikanischen Jahre der Schwerpunkt von einer Betonung der Chancen der Republik für die eigene Person und die Gesellschaft als ganzer hin zu einer stärkeren Hervorhebung der Risiken und Gefahren. Diese Verschiebung war keine Ursache des Bürgerkrieges, aber sie war ein Faktor dafür, wieso die republikanische Ordnung sowohl im Herrschaftsgebiet der putschenden Generäle als auch in den regimeloyalen Landesteilen nach dem Juli 1936 in eine tiefe Legitimationskrise geriet. Zweitens stellt sich die Arbeit gegen die These eines spanischen Sonderwegs in der neusten Geschichte. Ihre Resultate unterstützen eine Sicht auf die spanische Geschichte, die den Ausbruch des Bürgerkrieges nicht als unvermeidliche Konsequenz spanischer Rückständigkeit und ungleichgewichtiger Modernisierung interpretiert, sondern selbst noch in der unmittelbaren Vorkriegszeit alternative Entwicklungsmöglichkeiten erkennt. Zwar vermochte es die Republik in den kurzen Jahren ihrer Existenz nicht, als auch lebensweltlich plausible Staatsform in den urbanen Mittelschichten ihren Rückhalt zu vergrößern. Doch ebenso wenig wie eine umfassende Unterstützung der Republik lässt sich in den Madrider Mittelschichten die Herausbildung eines klar
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konturierten antirepublikanischen Projekts erkennen. Die gesellschaftlichen Einstellungen und Debatten wiesen weder eindeutig in Richtung einer Stabilisierung der Demokratie noch in Richtung einer autoritären Diktatur. Erst der Putschversuch der Generäle im Juli 1936 setzte die Weichenstellung für die weitere Entwicklung. Zugleich waren es weniger sozioökonomische Modernisierungsprobleme als solche, welche die Zweite Republik belasteten. Es war vielmehr das Aufeinandertreffen neuer, wesentlich durch die Massenmedien, die neuen Wissenschaften und politischen Reformer geschürte Erwartungen mit begrenzten materiellen und institutionellen Ressourcen, das die republikanische Staatsform vor Probleme stellte. Die hektische, zwischen weitreichenden Reformprojekten und einer mühsamen Umsetzung der Projekte schwankenden Politik der links-republikanischen Regierungen muss als politische Reaktion auf die enorm gestiegenen Erwartungen an Politik seit der Jahrhundertwende verstanden werden, wie sie exemplarisch im Bereich der Kindheitsreform dargestellt werden konnten. Zugespitzt formuliert erwies sich weniger ein „Zuwenig“ als ein „Zuviel“ an Modernität als Hypothek für die gesellschaftliche Etablierung der Demokratie in Spanien, zumindest in den urbanen Mittelschichten. Es war die Kombination von fortschrittlichen Forderungen und Erwartungen einerseits und beschränkten Mitteln andererseits, die das eigentlich Besondere des spanischen Falles im westeuropäischen Vergleich ausmacht. Weniger die exzeptionelle Stärke traditionaler Kräfte oder eine weitgehende Isolierung von modernen Entwicklungen als vielmehr die spezifische Konfiguration der Moderne unterschied Spanien von den führenden Industrienationen. Diese Konfiguration weist dabei eine deutliche transnationale Dimension auf. Die spanische Entwicklung in der ersten Jahrhunderthälfte wurde wesentlich durch das Aufeinandertreffen von avancierten transnationalen Experten- und Mediendebatten, die in Spanien eine breite Resonanz fanden, und im internationalen Vergleich deutlich geringeren materiellen Ressourcen und größeren praktischen Implementierungshindernissen geprägt. Die spanische Öffentlichkeit partizipierte intensiv an der transnationalen Durchsetzung einer neuen Kinderkultur, während Staat und Kommunen in Spanien in sehr viel geringerem Maße als in den USA, in Großbritannien oder Deutschland in der Lage waren, die mit den neuen Kindheitsbildern verbundenen politischen Forderungen aufzugreifen und umzusetzen. Eine Betrachtung der spanischen Geschichte kann in diesem Zusammenhang nicht nur in einem additiven Sinn unser Verständnis europäischer Geschichte erweitern, sondern auch Einblicke in unterschiedliche, aber miteinander eng verbundene Entwicklungslogiken innerhalb der europäischen Geschichte geben. Die Ablehnung von älteren Thesen eines spanischen Sonderwegs bedeutet in dieser Perspektive nicht, die spanische Geschichte als bloße Variante allgemeiner Entwicklungstrends der westlichen Moder-
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ne zu begreifen. Will man dieser Argumentation folgen, stünde Spanien vielmehr exemplarisch für eine ganze Reihe von Nationen im Schatten der führenden Industriemächte, deren verbindendes Merkmal in dem wenig gefilterten Zusammentreffen von neuen, nicht zuletzt von außen an die Gesellschaften herantretenden Ansprüchen und Gesellschaftsvisionen mit spezifischen nationalen kulturellen Frontstellungen und limitierten Mitteln, die Ansprüche in praktische Politik umzusetzen, bestand. Es erscheint für die Erforschung der Moderne als Epoche lohnend, sich diesen Ländern auf neue Weise zuzuwenden und dabei auch eine institutionell etablierte Abgrenzung von europäischer und außereuropäischer Geschichte zu überprüfen und zu überwinden. Eine moderne Kindheitsgeschichte kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten.
Quellen und Literatur Quellen Archivalische Quellen Archivo General de la Administración, Alcalá de Henares (AGA) Bestand Ministerio de Educación/Depuración de Maestros Bestand Ministerio de Instrucción Pública Bestand Tribunal Tutelar de Menores de Madrid Archivo Congreso de los Diputados, Madrid (ACD) Bestand Comisión de Instrucción Pública Bestand Comisión de Justicia Archivo de Villa, Madrid (AVM) Libros de Actas del Ayuntamiento Bestand Junta Municipal de Primera Enseñanza Bestand Negociado de Enseñanza Archivo de la Institución Teresiana, Madrid (AIT) Crónicas de los Internados Teresianos Archivo Instituto Cardenal Cisneros, Madrid (AICC) Memorias del Estado del Instituto Cardenal Cisneros
Zeitschriften ABC (Madrid) ABC (Sevilla) ABC Infantil Ahora Album de los Niños Anuario de Educación y Enseñanza Católica en España Aspiraciones Atenas Auras de Colegio Avante Blanco y Negro Boletín Bonanova Boletín de la Asociación de Maestros de las Escuelas Nacionales de Madrid Boletín de la Institución del Divino Maestro Boletín de la Institución Libre de Enseñanza Boletín de la Institución Teresiana
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Chicos Chiquilín Chiquitín Colegio de Nuestra Señora del Recuerdo (Memorias de los cursos) Cosmópolis Crónica Cultura Integral y Femenina Ecos de mi Colegio El Colegial El Colegio (Segovia) El Colegio (Sevilla) El Debate El Heraldo de Madrid El Imparcial El Instituto El Magisterio Cordobés El Magisterio Español El Magisterio Nacional El Mundo Gráfico El País El Perro, el Ratón y el Gato El Pilar El Salvador El Socialista El Sol El Universo Ellas Escuela Azul Escuelas de España Estampa Esto Flechas y Pelayos Fotos Gente Menuda Hogar Antoniano Hogar Español Informaciones Jeromín Juventud La Enseñanza La Enseñanza Católica
Quellen La Escuela Práctica La Esfera La Estrella del Mar La Familia La Flecha La Libertad La Niñez La Revista Blanca La Vanguardia La Verdad La Voz Los Hijos del Pueblo Los Niñoa Macaco Macaquete Madrileñillos Mi Revista Mickey Mujer Nuestro Apostolado Nuevos Jóvenes Pelayos Pinocho Pro Infancia Pulgarcito Razón y Fe Revista Calasancia Revista de Educación Revista de Educación Familiar Revista de Educación Hispánica Revista de Pedagogía Revista de Psicologia i Pedagogia Revista Semanal del Colegio de Nuestra Señora de Valvanera Soy Pilarista T.B.O. Vida Colegial Ya
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der Zivilisation. Konfigurationen städtischer Lebensweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Opladen 1990, S. 142–62.
Sachregister Álava 74 Anstandsfibeln 93, 105, 209 Antiklerikalismus 64–66, 68, 73, 77, 137, 268–273, 275, 278–280, 282f., 285f., 295, 395, 408, 415, 424, 428, 470, 475f., 500 Asociación Católica Nacional de Propagandistas (ACNP) 84 Barcelona 50, 64f., 72, 121, 193, 228, 241, 250, 277, 356f., 408, 412, 416, 429, 438, 470, 486 Begabung 114, 170f., 180, 199f., 211, 213, 256, 338, 414 Bürgerkrieg, Spanischer 13–16, 19, 21f., 41–43, 57, 65, 74, 84f., 195, 207, 211f., 220f., 251, 263, 317, 350, 437, 462, 470, 475, 480, 496, 504f. Burgos 69, 472 Child Study Bewegung Citizenship 33
115
Elite, Elitebildung 16, 22, 37, 39f., 65–67, 73f., 77, 80, 83, 86, 88, 95, 168, 324, 421, 447, 454, 467, 480, 491 Elternverbände 55, 73, 78–80, 87, 304, 324, 341 Emotionen 23, 53, 118, 128–134, 136, 217, 247, 328, 336, 404, 409, 416, 480, 483, 486 Entwicklungspsychologie 23, 112, 115– 121, 123–125, 128–133, 135, 139f., 148f., 151, 154, 178, 198, 209, 244, 272f., 275, 308, 317f., 351, 360, 409, 416, 418, 477, 481, 497 Eugenik, eugenische Pädagogik 125f. Experten 23, 27, 31f., 35, 39, 43, 52f., 114, 171, 177f., 195, 201, 228, 242, 263, 265f., 273f., 279, 285–287, 289, 292–295, 298, 305, 307, 312, 316–319, 321, 327f., 332, 338f., 345, 502 Familie – Familiengericht siehe Kinder/Kinder- und Jugendgericht – Familienpolitik 23, 39, 323f., 340, 352
Faschismus, Falangismus, faschistische Pädagogik 16–19, 36, 155, 314, 317, 463, 467, 469, 471, 482f., 490, 502 Fiesta del Árbol 187–189 Föderation der Erziehungsfreunde 75, 84, 87–89, 124f., 140–142, 145f., 152, 154f., 165, 265, 286, 295–299, 301, 303– 306, 313f., 316, 472, 480, 482, 496, 500 Franquismus, Franco-Diktatur 14, 19, 30, 39–43, 51f., 82, 87f., 125, 139, 146, 164, 313–315, 317, 350, 461f., 464f., 469– 471, 479, 481, 488–491, 502–505 Frauen, Frauenverbände 57, 298, 350 Freies Bildungsinstitut 24, 62, 68, 76, 83, 85–87, 142, 170f., 314f. Frieden, Friedenerziehung 93, 246, 441, 476f., 480f. George Junior Republic 101 Gesundheit siehe Hygiene, Hygienebewegung Gewalt, Körperstrafen 441, 475, 482 Granada 122 Heilige Drei Könige 94, 183, 186, 232 Humor 353, 374 Hygiene, Hygienebewegung 189, 191, 212, 215, 217, 219, 238–242, 246–249, 272, 317, 319, 327, 333f., 407f. Institución Teresiana 43, 85, 104, 107, 158, 397, 439, 474, 476 Jugendkriminalität 101, 241, 244, 322 Jugendverbände – Flechas y Pelayos (Jugendorganisation der Falange) 434, 467f. – Juventud Antoniano (Antonionischer Jugendverband) 457f. – Juventudes de Acción Popular (Jugendverband der Acción Popular) 463 Katholische Lehrerverbände 75, siehe auch Lehrer/Lehrerverbände Katholizismus – Katholische Aktion 43, 68, 76, 79–81, 87, 339, 451, 466, 483 – Katholische Kongresse 69f., 75, 77, 81
540
Sachregister
– Rechristianisierung 38, 56, 76, 83, 89, 106, 139, 148, 173, 230, 323, 331, 339, 440, 471, 495, 502, 504 – und Zweite Republik 77, 158, 267, 269, 323, 325 – Vatikan 43, 68, 270 – Verbände zum Schutz katholischer Bildung 297 Kinder – Kinderarmut siehe Straßenkinder – Kinderdarstellungen 38, 178, 202f., 207, 248, 251, 467 – Kinderfeiern 38, 183, 185–190, 192– 195 – Kinderheime 13 – Kinderkolonien, Kinderferienlager 13, 50, 240, 251, 314, 470 – Kinderliteratur, Kindergeschichten 34, 38, 178, 180, 194, 211, 218, 220f., 229, 233f., 353, 360, 366, 369 – Kindermedizin 39, 114, 116, 212, 239, 242f., 316–318, 417 – Kinderrechte, Kinderrechtsbewegung 39, 237, 244f., 346 – Kinderschutz, Kinderschutzbewegung 23, 38f., 136, 181, 198, 237–239, 241– 244, 246, 249f., 257 – Kindersterblichkeit 23, 28, 111f., 241, 244, 254, 317 – Kinder- und Jugendgericht 44, 241, 265, 318, 322, 325f., 345, 347, 349f., 364 – Kinderzeitschriften, Kinderpresse 34, 39, 44, 72, 93f., 192, 221, 263, 353–356, 360f., 363, 367, 370, 376, 379f., 425, 470 – Kinderzimmer 28, 248, 345, 355, 364 Kinderpsychologie siehe Entwicklungspsychologie Kino 194, 247, 346, 348, 355, 367 Kolonien, Kolonialismus 62 Kommunalpolitik, Ausschüsse für Bildung und Kultur 265, 285 Kommunismus 16, 32, 463 Konsum 18f., 25, 28, 37, 346, 362f., 365 Lehrer – Lehrerbildung 55, 65f., 69f., 76, 83, 298 – Lehrerverbände 24, 55, 70, 74, 78, 80, 85, 88, 108, 304, 308f., 313f. – Politische Säuberungen 43 Ley Moyano 63 Madrid 40, 43f., 50, 56, 64f., 72f., 77, 79,
83, 85, 99, 109, 120f., 164–166, 178, 183–190, 192, 195f., 200, 206, 208, 222, 228, 234, 241, 243, 247, 249–251, 253f., 265f., 268, 270, 272, 274, 276– 282, 284f., 287f., 290f., 293f., 296–301, 305, 308–310, 313, 315, 317, 322, 324f., 329, 338, 340f., 343, 350f., 356, 364f., 400, 405–409, 414–416, 418, 425, 429, 431, 433, 435f., 439, 444, 453, 458, 465, 472, 494, 500, 503, 505 Mädchen, Mädchenbildung 43, 60, 85, 140, 161–163, 165f., 211, 272, 279, 345, 375, 403, 422, 438f., 442f., 475, 496 Medien, illustrierte Presse 13f., 19, 23, 25, 37f., 44, 177–180, 193, 203, 205, 209, 217f., 232, 237, 242f., 247f., 259, 353, 362–366, 369, 469f., 498 Militär, Militärerziehung, vormilitärisches Training 16, 187f., 451, 453f. Museo Pedagógico 121f. Nationalismus 52, 188, 403, 502 Ordensgemeinschaften, katholische – Hermanas de la Caridad 279, 291 – Hermanos de las Escuelas Católicas 87 – Hermanos de las Escuelas Christianas 83 – Jesuiten 58, 60, 74, 83f., 96, 403f., 406, 453 – Marianisten 83, 87, 324, 403, 406, 428, 434, 453, 466 – Maristen 83, 87, 406 – Piaristen 55f., 58, 67, 75, 87, 140, 403, 408, 414f., 446 – Religiosas de María Teresa 347 – Salesianer 87, 403, 425 Pfadfinder 104, 153, 192, 434, 436f., 446, 449, 451, 464, 467 Privatschulen, katholische – Colegio Bonanova 412 – Colegio de la Asunción Santa Isabel 407 – Colegio de las RR. Esclavas del Sagrado Corazón de Jesús 474 – Colegio de Nuestra Señora de Guadalupe 409, 413 – Colegio de Nuestra Señora de Loreto 291, 438 – Colegio de Nuestra Señora del Pilar 314
Sachregister – – – – –
Colegio de San Luís 425f. Colegio del Niño Jesús de Praga 291 Colegio Lestonnac 408, 487 Colegio María Auxiliadora 287 Colegio Nuestra Señora de las Maravillas 433 – Colegio Nuestra Señora del Pilar 83, 397, 403, 409, 414, 417f., 425, 429, 432, 437, 444, 446f., 453–455, 457, 488, 503 – Colegio Nuestra Señora del Recuerdo 409, 425 – Colegio San José, Valencia 411f., 416, 430–432, 437, 454, 457, 461 – Colegio San José, Valladolid 397, 409, 411, 429, 447, 503 – Colegio San Miguel 408 – Colegio Santa Isabel 291 – Colegio Teresiano de María Inmaculada 486 – Colegios La Salle 405 – El Salvador 430, 432 – Escuelas del Ave María 70, 107 – Escuelas del Sagrado Corazón de Jesús 70 – Instituto del Sagrado Corazón 438 – Jesús-María de San Gervasio 429 – Nelly’s School 438 – Nuestra Señora del Buen Consejo 404 Psychoanalyse 127f. Reformpädagogik, „Neue Pädagogik“ 71, 110, 141f., 146, 478, 497 Reformschulen, internationale – École des Roches 152, 447 – Eton 447 – Freie Schulgemeinde Wickersdorf 152 Regenerationismus 62, 71, 99, 102, 105– 107, 151, 163, 183, 187f., 190f., 209, 214, 241f., 327, 333, 337, 345, 360, 376, 409, 412, 415 Religionsunterricht, Religionspädagogik – Apologetik 158, 451, 484 – Liturgie 158, 484 Restauration, Restaurationsmonarchie 69, 71, 94, 105, 397 Säuglingshilfe, -stationen 240, 243, 249, 316, 327
541
Salamanca 70 Santiago de Compostela 69 Schönheit, Schönheitswettbewerbe 193, 197, 215, 230 Schülerbataillone, Kinderbataillone 188, 274, 437, 468 Schulen, öffentliche – Instituto Cardenal Cisneros 400–402 – Instituto de San Isidro 121, 400 – Instituto-Escuela 82, 121, 274, 400, 405 Schulzeitungen, Schülerzeitungen 43, 398, 411, 425, 429, 442, 445f., 467, 488 Sociedad Amigos de Niños 247 Sozialreform 16, 319, 325 Spanische Konföderation der Autonomen Rechten 297 Spielplatz 248 Spielzeug 28, 183–186, 194, 209, 211– 213, 223, 248, 345, 355, 358, 378 Sport, Sportfeste 190–192, 210, 398, 412, 446, 451, 485 Straßenkinder 70, 107, 162, 185, 204, 226, 238, 241, 249, 253f. Tag des Kindes, Dreikönigstag 180, 183– 188, 377 Technik, moderne 18, 210 Theater, Kindertheater 192, 194, 222, 254, 355, 428, 444, 485 Tragische Woche 64, 72 Universitäten 86, 439, 451 Urbanisierung, urbane Räume 187, 189, 228, 247–249, 259 Valencia 185, 193, 342, 432 Valladolid 75, 165, 447, 465, 469 Vereinigung der Familienangehörigen und Freunde von Ordensmitgliedern 299f., 304 Werbung 18, 38, 178, 180, 192, 197, 212– 217, 248, 362, 365, 438 Wohnen, Wohnung 248, 277, 327, 333, 345, 349, 369 Wunderkinder 38, 183, 195–200
Personenregister Adler, Alfred 127 Aguilar Claramunt, Simón 106f. Alberola, Ramón 318 Alberti, Rafael 445 Alcántara García, Pedro de 121f., 130 Alfons XIII. 85 Almazán, Isidro 86, 303f., 476 Almendros, H. 220 Alonso, Salazar 192 Álvarez Díaz, Josefa 88 Álvarez, Josefina 169, 482, 484 Amparo Arnillas de Font, María del 424 Arbós, María 341f. Armentia-Mitarte, Francisco 152 Ayala, Ángel 410f. Azaña, Manuel 59, 270 Balmes, Jaime 61 Barberán, José 224, 258 Barnés, Domingo 121f. Barraquer y Cerero, Elisa 318 Bartollozi, Piti 218, 225, 362 Bartollozi, Salvador 218, 225, 369 Bello, Luis 275 Benejam, Juan 72 Binet, Alfred 120, 169 Blanco y Sánchez, Rufino 71f., 83, 104, 122, 131, 297f., 413, 476 Bueno, Angel 72, 359 Bueno, Manuel 245 Buisson, Ferdinand 102 Callejo de la Cuesta, Eduardo 78 Carnicer, Felipe 151 Cassano, Alessandro 254 Castilla del Pino, Carlos 413 Charmot, François 145 Chico y Suárez, Martín 100 Claparède, Édouard 144 Compayrés, Gabriel 120 Conde, Amador 106 Corredor, Fermín 270 Cortés, García 284 Cossío, Manuel 315 Darwin, Charles 116f. Decroly, Jean-Ovide 144, 438, 478 Dévaud, Eugène 145
Diego Torés, Gabriel de 137 Domingo, Marcelino 287–290 Donato, Magda 218 Echarri, María de 440 Eijo y Garay, Leopoldo 85 Encinas, Antonio 411 Escoriaza, Teresa de 210, 336–338 Fernández de Lara, Carmen 380 Fernández Gil, Vicente 318 Fernández Piñero, Julían 232 Fernández Sáinz, Félix 124, 131, 159 Fernán-Gómez, Fernando 348, 406 Ferrière, Auguste 151 Foerster, Friedrich Wilhelm 71 Fortún, Elena 211, 218, 220, 226f., 251, 258, 362, 375, 377 Franchetti, Alicia 441 Franco, Francisco 13, 50, 466, 504 Franco, Mario 148f. Freinet, Célestin 144 Fröbel, Friedrich 143 Frontaura, Carlos 357 Galino, Angeles 164 García Molinas, Fransisco 318 George, William 101 Germain, José 317 Giner de los Ríos, Francisco 62, 69 Goma, Isidro 137 González Blanco, Edmundo 222 González Quevedo, Antonio 150 Gorbea, Eusebio 220 Grave, Jean 100 Grimm, E. 156, 160 Guerrero, Eustaquio 488 Gutierrez, Rogelio 122 Hall, Stanley 112, 117f., 120 Herbart, Johann Friedrich 143 Herrera Oria, Angel 84 Herrera Oria, Enrique 84–88, 150f., 303, 411, 479, 488 Hodum, A. 159f. Hueso, Virgilio 342 Iniesta, Alfonso
88, 137, 485
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Personenregister
Iradier, Teodoro de 104 Jaouen, Juan 152 Javier, Manuel Ángel de 142, 150 Juarros, César 171 Kerschensteiner, Georg 144 Key, Ellen 110 Latour, Tolosa 239 Lázaro, Angel 331 Lázaro, Domingo 67f., 81, 83–88, 133, 314, 324, 328, 343, 416 Linares, Luis G. de 253 Llopis, Rudolfo 134, 272, 309 Llorente, Daniel 479 Lozano y Ponce de León, Eduardo 187 Madariaga, Maria de 210 Maetzu, María de 220 Mallart, José 317 Manjón, Andrés 70f., 107, 146, 162 Martí y Alpera, Félix 100 Martínez Saralegui, Pedro 124, 478, 487f. Martínez Sierra, Gregorio 220 Massa, Pedro 222f., 245 Mazzanti, Pietro 131f. Medina, Baeza 276 Menasalvas, Luciano 154 Meumann, Ernst 120 Mira, Emilio 127 Montero Alonso, José 330 Montessori, Maria 143, 146, 438 Montilla, Paquita 141f., 210, 477 Mora Granados, Félix de 303 Muñoyerro Pretel, A. 317 Nágara, Vallejo 481 Navarro Flores, Martín 121f. Navés, Francisco 100 Nosti Fúster, José María 314 Ossorio y Bernard, Manuel 356 Palacio, María Teresa del 162f. Palencia, Isabel de 333 Palmés, Fernando María 168 Paulsen, Friedrich 71 Pérez de Ayalas, Ramón 272 Pestalozzi, Johann Heinrich 143 Pestaña, Alicia 243 Pfister, Otto 127 Piaget, Jean 144 Pius X 425
Pius XI 86 Polo de la T. Toribio, Manuel 99f. Poveda, Pedro 75f., 82, 85, 422, 475f. Prado, Rosalía 341 Preyer, William 112, 116, 120f., 130 Primo de Rivera, José Antonio 467 Primo de Rivera, Miguel 15, 76f., 104, 306, 376, 435, 499 Ramos, Juana 161f. Renault, Jules 323 Rico, Pedro 190 Rinot, Théodule 131 Ríos, Fernando de los 276, 278 Robles, Antonio 218, 221, 225, 227, 297, 362, 376, 378 Rodríguez García, Gerardo 123 Rodríguez, Teodoro 80f. Rousseau, Jean-Jacques 49 Ruíz Amado, Ramón 71f. Saborit, Andrés 274, 281, 291, 329 San Martín Adeva, Luís 318 Sánchez Arbos, María 223 Sánchez, Julio 341 Sanz del Río, Julián 120 Sanz, Jesús 171 Sarabia, Ramón 137, 155, 480 Segovia, Josefa 85 Seguí, Joaquín 137 Segura y Sáenz, Pedro 87 Simon, Théodore 169 Siurot, Manuel 70f. Spencer, Herbert 143 Stern, William 169 Suárez Solis, Rafael 223 Suñer, Enrique 125, 316f., 480 Talayero Lite, Joé 128 Terman, Lewis M. 169 Thorndike Edward 121 Tracy, Frederick 117 Tusquets, Juan 157 Ufer, Christian 121 Valero de Mazas, María 245 Vallejo Nágera, Antonio 126 Vega y Relea, Juvenal 171 Vidal Perera, Augusto 122f. Viquera, Vicente 133 Zozaya, Antonio 245, 326
Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael
Die Reihe Ordnungssysteme nimmt Impulse auf, die sich seit zwei Jahrzehnten aus der Revision politik- und sozialgeschichtlicher Forschungsansätze entwickelt haben. Als Forum einer methodisch erneuerten Ideengeschichte trägt sie der Wirksamkeit politischkultureller Traditionen Europas seit dem Zeitalter der Aufklärung Rechnung. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dem konkreten Wechselspiel ideeller, politischer und sozialer Prozesse. Die Reihe Ordnungssysteme hat insbesondere das Ziel: – vergleichende Studien zu den nationalen Eigenarten und unterschiedlichen Traditionen in der europäischen Ideengeschichte zu fördern, – gemeineuropäische Dimensionen seit der Aufklärung zu untersuchen, – den Weg von neuen Ideen zu ihrer breitenwirksamen Durchsetzung zu erforschen. Die Reihe Ordnungssysteme verfolgt einige Themen mit besonderem Interesse: – den Ideenverkehr zwischen Europa und Nordamerika, – die Beziehungen zwischen politischen und religiösen Weltbildern, – die Umformung der politischen Leitideen von Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus im 20. Jahrhundert, – die Herausbildung traditionsstiftender, regionenbezogener Gegensatzpaare in der europäischen Ideenwelt, wie zum Beispiel den Ost-West-Gegensatz. Die Reihe Ordnungssysteme bemüht sich um eine methodische Erneuerung der Ideengeschichte: – Sie verknüpft die Analyse von Werken und Ideen mit ihren sozialen, kulturellen und politischen Kontexten. – Sie untersucht die Bedeutung von Wissenssystemen in der Entwicklung der europäischen Gesellschaften. – Sie ersetzt die traditionelle Ideengeschichte der großen Werke und großen Autoren durch eine Ideengeschichte, die Soziabilität und Kommunikation als tragende Gestaltungskräfte kultureller Produktion besonders beachtet. – Sie bezieht Institutionen und Medien der Kulturproduktion systematisch in die Untersuchung ein.
Band 1:
Michael Hochgeschwender Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen 1998. 677 S. ISBN 978-3-486-56341-2
Band 2:
Thomas Sauer Westorientierung im deutschen Protestantismus? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises 1999. VII, 326 S. ISBN 978-3-486-56342-9
Band 3:
Band 10:
Band 4:
Band 11:
Gudrun Kruip Das „Welt“-„Bild“ des Axel Springer Verlags Journalismus zwischen westlichen Werten und deutschen Denktraditionen 1999. 311 S. ISBN 978-3-486-56343-6 Axel Schildt Zwischen Abendland und Amerika Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre 1999. VIII, 242 S. ISBN 978-3-486-56344-3 Band 5:
Rainer Lindner Historiker und Herrschaft Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert 1999. 536 S. ISBN 978-3-486-56455-6 Band 6:
Martina Winkler Karel Kramář (1860–1937) Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und Modernisierungsverständnis eines tschechischen Politikers 2002. 414 S. ISBN 978-3-486-56620-8 Susanne Schattenberg Stalins Ingenieure Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren 2002. 457 S. ISBN 978-3-486-56678-9 Band 12:
Torsten Rüting Pavlov und der Neue Mensch Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland 2002. 337 S. ISBN 978-3-486-56679-6
Jin-Sung Chun Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit Die westdeutsche „Strukturgeschichte“ im Spannungsfeld von Modernitätskritik und wissenschaftlicher Innovation 1948–1962 2000. 277 S. ISBN 978-3-486-56484-6
Band 13:
Band 7:
Frank Becker Bilder von Krieg und Nation Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864–1913 2001. 601 S. und 32 S. Bildteil ISBN 978-3-486-56545-4
Christoph Weischer Das Unternehmen ‚Empirische Sozialforschung‘ Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland 2004. X, 508 S. ISBN 978-3-486-56814-1
Band 8:
Band 15:
Martin Sabrow Das Diktat des Konsenses Geschichtswissenschaft in der DDR 1949–1969 2001. 488 S. ISBN 978-3-486-56559-1 Band 9:
Thomas Etzemüller Sozialgeschichte als politische Geschichte Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 2001. VIII, 445 S. ISBN 978-3-486-56581-2
Julia Angster Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie Die Westernisierung von SPD und DGB 2003. 538 S. ISBN 978-3-486-56676-5 Band 14:
Frieder Günther Denken vom Staat her Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970 2004. 364 S. ISBN 978-3-486-56818-9 Band 16:
Ewald Grothe Zwischen Geschichte und Recht Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900–1970 2005. 486 S. ISBN 978-3-486-57784-6
Band 17:
Anuschka Albertz Exemplarisches Heldentum Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart 2006. 424 S., zahlreiche Abb. ISBN 978-3-486-57985-7
Band 24:
Rüdiger Graf Die Zukunft der Weimarer Republik Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933 2008. 460 S. ISBN 978-3-486-58583-4 Band 25:
Volker Depkat Lebenswenden und Zeitenwenden Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts 2007. 573 S. ISBN 978-3-486-57970-3
Jörn Leonhard Bellizismus und Nation Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750– 1914 2008. XIX, 1019 S. ISBN 978-3-486-58516-2
Band 19:
Band 26:
Band 18:
Lorenz Erren „Selbstkritik“ und Schuldbekenntnis Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917–1953) 2008. 405 S. ISBN 978-3-486-57971-1 Band 20:
Ruth Rosenberger Experten für Humankapital Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland 2008. 482 S. ISBN 978-3-486-58620-6
Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.) Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte 2006. 536 S. ISBN 978-3-486-57786-0
Band 27:
Band 21:
Morten Reitmayer Elite Sozialgeschichte einer politischgesellschaftlichen Idee in der frühen Bundesrepublik 2009. 628 S. ISBN 978-3-486-58828-6
Thomas Großbölting „Im Reich der Arbeit“ Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung in den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen 1790–1914 2007. 518 S., zahlreiche Abb. ISBN 978-3-486-58128-7 Band 22:
Wolfgang Hardtwig (Hrsg.) Ordnungen in der Krise Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933 2007. 566 S. ISBN 978-3-486-58177-5 Band 23:
Marcus M. Payk Der Geist der Demokratie Intellektuelle Orientierungsversuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn 2008. 415 S. ISBN 978-3-486-58580-3
Désirée Schauz Strafen als moralische Besserung Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge 1777–1933 2008. 432 S. ISBN 978-3-486-58704-3 Band 28:
Band 29:
Sandra Dahlke Individiuum und Herrschaft im Stalinismus Emel’jan Jaroslavskij (1878–1943) 2010. 484 S., 9 Abb. ISBN 978-3-486-58955-9 Band 30:
Klaus Gestwa Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948–1967 2010. 660 S., 18 Abb. ISBN 978-3-486-58963-4
Band 31:
Band 37:
Band 32:
Band 38:
Susanne Stein Von der Konsumenten- zur Produktionsstadt Aufbauvisionen und Städtebau im Neuen China, 1949–1957 2010. VIII, 425 Seiten, 107 Abb. ISBN 978-3-486-59809-4 Fernando Esposito Mythische Moderne Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung in Deutschland und Italien 2011. 476 Seiten, 17 Abb. ISBN 978-3-486-59810-0
Daniela Saxer Die Schärfung des Quellenblicks Geschichtswissenschaftliche Forschungspraxis in Zürich und Wien, 1840–1914 2013. Ca. 480 S., 1 Abb. ISBN 978-3-486-70485-3 Johannes Grützmacher Die Baikal-Amur-Magistrale Vom stalinistischen Lager zum Mobilisierungsprojekt unter Brežnev 2012. IX, 503 S., 9 Abb. ISBN 978-3-486-70494-5 Band 39:
Silke Mende „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“ Eine Geschichte der Gründungsgrünen 2011. XII, 541 Seiten, 6 Abb. ISBN 978-3-486-59811-7
Stephanie Kleiner Staatsaktion und Wunderland Oper und Festspiel als Medien politischer Repräsentation (1890–1930) 2012. Ca. 496 S., 20 Abb. ISBN 978-3-486-70648-2
Band 34:
Band 40:
Band 35:
Band 41:
Band 33:
Wiebke Wiede Rasse im Buch Antisemitische und rassistische Publikationen in Verlagsprogrammen der Weimarer Republik 2011. VIII, 328 S., 7 Abb. ISBN 978-3-486-59828-5 Rüdiger Bergien Die bellizistische Republik Wehrkonsens und „Wehrhaftmachung“ in Deutschland 1918–1933 2011. 448 S. ISBN 978-3-486-59181-1 Band 36:
Claudia Kemper Das „Gewissen“ 1919–1925 Kommunikation und Vernetzung der Jungkonservativen 2011. 517 S. ISBN 978-3-486-70496-9
Patricia Hertel Der erinnerte Halbmond Islam und Nationalismus auf der Iberischen Halbinsel im 19. und 20. Jahrhundert 2012. 256 S., 22 Abb. ISBN 978-3-486-71661-0 Till Kössler Kinder der Demokratie Religiöse Erziehung und urbane Moderne in Spanien, 1890–1936 2013. 544 S., 19 Abb. ISBN 978-3-486-71891-1