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German Pages [410] Year 2012
Wissenschaft, Macht und Kultur in der modernen Geschichte Herausgegeben von Mitchell G. Ash und Carola Sachse Band 1
Silke Fengler · Carola Sachse (Hg.)
Kernforschung in Österreich Wandlungen eines interdisziplinären Forschungsfeldes 1900–1978
Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar
Gedruckt mit Unterstützung durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Wien
The research was funded by the Austrian Science Fund (FWF): P19557-G08 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78743-3 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2012 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. und Co. KG, Wien · Köln · Weimar http://www.boehlau.verlag.com Coverabbildung: Irène Joliot-Curie, Stefan Meyer und Frédéric Joliot (von links nach rechts) mit zwei nicht eindeutig zu identifizierenden Herren bei ihrem Besuch am Institut für Radiumforschung Wien im Sommer 1934. © Artur Svansson Druck: XPrint, Tschechische Republik
Danksagung
Der vorliegende Band ist aus dem Forschungsprojekt „Österreichische Kernforschung im Spannungsfeld von internationaler Kooperation und Konkurrenz“ hervorgegangen, das seit Juli 2007 vom österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) gefördert und 2012 abgeschlossen wird. Das von Carola Sachse geleitete Projekt wurde in allen Etappen von einem international zusammengesetzten Expertenkreis beraten; dazu gehören Beate Ceranski (Stuttgart), Paul Josephson (Waterville, Maine), Helge Kragh (Aarhus), Helmut Rauch (Wien), Wolfgang Reiter (Wien), Maria Rentetzi (Athen), Roger H. Stuewer (Minneapolis, Minnesota) und Mark Walker (Schenectady, New York). Ihre kontinuierliche kollegiale und konstruktive Kritik waren für diesen Band von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Silke Fengler hat das Projekt federführend bearbeitet. Neben ihr waren Gastwissenschaftler und Gastwissenschaftlerinnen aus Deutschland und den Vereinigten Staaten, die jeweils zweimonatige Forschungsaufenthalte in Wien verbracht haben, daran beteiligt: Vanessa Cirkel-Bartelt (Wuppertal), Christian Forstner (Jena), Günther Luxbacher (Berlin), Alexander von Schwerin (Braunschweig) und Michael Stöltzner (Columbia, South Carolina). Eine enge Kooperation verbindet uns mit Christian Forstner, der das Forschungskonzept in der Antragsphase mit entwickelt hat. Wolfgang Knierzinger (Wien) konnte im Kontext des Projektes seine Diplomarbeit fertigstellen. Die Forschungsergebnisse des erweiterten Projektteams wurden in einem von der Universität Wien geförderten Workshop, der im Juni 2009 in Wien stattfand, eingehend diskutiert. Sie werden in diesem Band erstmals präsentiert. Darüber hinaus wurden einige externe Autorinnen und Autoren eingeladen: Deborah R. Coen (New York), Ingrid Groß und Gerd Löffler (Klagenfurt), Rainer Karlsch (Berlin) und Ruth Lewin Sime (Sacramento, California). Alle ausgearbeiteten Manuskripte wurden in einem „single blind“-Verfahren von den Mitgliedern des Expertenkreises und den Herausgeberinnen kritisch kommentiert und anschließend gründlich überarbeitet. Unserem Beirat sei für diese wertvolle Unterstützung und Mitchell G. Ash (Wien) für die Kommentierung des Gesamtmanuskripts gedankt. Den Autorinnen und Autoren danken wir für ihre von uns stark beanspruchte Kooperationsbereitschaft. Ganz besonderer Dank richtet sich an Ina Heumann, die die letzte Phase der Überarbeitung umsichtig koordiniert und das Gesamtmanuskript akribisch lektoriert hat. Silke Fengler und Carola Sachse
Wien, im Mai 2011
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carola Sachse
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I. Von der Monarchie bis zur Zweiten Republik : Kernforschung im politischen und sozialen Kontext
Vom Rohstofflieferanten zum Forschungsstandort : Die frühe österreichische Radioaktivitätsforschung . . . . . . . . . . . . . Beate Ceranski »Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung«. Zur politischen Ökonomie der österreichischen Kernforschung in der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Silke Fengler
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Das Forschungsinstitut Gastein in der Forschungslandschaft des »Ständestaats« und des »Dritten Reichs« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Wolfgang Knierzinger Sowjetische Missionen auf der Suche nach den Hinterlassenschaften der österreichischen Kernphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Rainer Karlsch Zur Geschichte der österreichischen Kernenergieprogramme . . . . . . . . 159 Christian Forstner
II. Forscherpersönlichkeiten und ihre Netzwerke
Carl Freiherr Auer von Welsbach (1858–1929). Erfinder, Entdecker und Entrepreneur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Ingrid Groß, Gerd Löffler
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Inhalt
Zertrümmerung : Marietta Blau in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Ruth Lewin Sime Experimentaltechniken, Strahlenwerkzeuge und Reaktorwerkstoffe. Erich Schmid und die Anfänge der »Kernumwandlungsmetallurgie« in Österreich . . . . . . . . . . . . . . 239 Günther Luxbacher
III. Denkstile und Praktiken
Die Fehler der Wissenschaftler, die Schwankungen der Natur und das Gesetz des radioaktiven Zerfalls, 1899–1926 . . . . . . . . . . . . . . 271 Deborah R. Coen Zur Genese der Schweidler’schen Schwankungen und der Brown’schen Molekularbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Michael Stöltzner Kooperation und Konkurrenz.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
Die Erforschung der kosmischen Strahlung vor dem Zweiten Weltkrieg . . . 341 Vanessa Cirkel-Bartelt Österreich im Atomzeitalter : Anschluss an die Ökonomie der Radioisotope . 367 Alexander von Schwerin
Abstracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
Einleitung Carola Sachse, Wien*
Radioaktivitätsforschung, Quantenphysik, Relativitäts- und Atomtheorie revolutionierten das Weltbild in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts. Die Kernforschung – selbst ein hybrides Forschungsfeld zwischen Physik und Chemie – beeinflusste als Leitwissenschaft weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus andere naturwissenschaftliche Disziplinen von der Metallforschung über die Biologie bis zur Medizin und löste selbst in den Human- und Sozialwissenschaften vielfältige Resonanzen aus.1 Spätestens seit der Jahreswende 1938/39 prägte die Kernforschung dem von Eric Hobsbawm so charakterisierten Jahrhundert der Extreme ihre Signatur auf. Gerade waren in Berlin-Dahlem die Chemiker Otto Hahn und Fritz Straßmann auf der Suche nach weiteren Transuranen der Kernspaltung auf die Spur gekommen. Nur wenig später fand im schwedischen Kungälv ihre aus Wien stammende Kollegin, die Physikerin Lise Meitner, die einige Monate früher vor den Nationalsozialisten von Berlin nach Stockholm geflohen war, zusammen mit ihrem Neffen Otto Robert Frisch, der inzwischen bei Niels Bohr in Kopenhagen arbeitete, die theoretische Erklärung für die experimentellen Beobachtungen ; Hahns Weihnachtsbrief aus Berlin hatte sie davon unterrichtet. Die erste Etappe des bald darauf einsetzenden internationalen Forschungswettlaufs um die kriegswirtschaftliche und rüstungstechnologische Nutzbarmachung der in menschliche Reichweite gelangten unbeschränkten Energiepotenziale gewann das Manhattan-Projekt ; es wuchs von 1942 bis Kriegsende zu der bis dahin größten Forschungsagglomeration unter der wissenschaftlichen Leitung des amerikanischen Physikers J. Robert Oppenheimer und der militärischen Führung von US-General Leslie R. Groves. Über mehrere Standorte in den USA verteilt, von denen *
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Für die kritische Lektüre eines ersten Entwurfs und weiterführende Hinweise danke ich Silke Fengler, Mitchell G. Ash, Christian Forstner, Tobias Müller, Alexander von Schwerin, Michael Stöltzner und Mark Walker. Der Text entstand während meines Forschungsaufenthalts am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin, im Frühjahr 2011, dessen Bibliotheksservice auch diesmal eine große Hilfe war. Vgl. z. B. für Deutschland vor allem Carson 2010, ferner Strickmann 2010 ; Bigg 2009 ; Raulff 2008 ; Urban 2000 ; Stölken-Fitschen 1995. Die internationale wissenschafts-, kultur-, militär- und politikhistorische Literatur zur Geschichte der Kernphysik und zum Atomzeitalter ist zu umfangreich, als dass sie hier vollständig oder auch nur repräsentativ angeführt werden könnte. Die nachfolgenden Hinweise beschränken sich auf direkte Referenzen bzw. auf Publikationen der letzten Jahre, denen weiterführende Hinweise zu entnehmen sind. Im Übrigen sei auf die Angaben in den Beiträgen dieses Bandes verwiesen.
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Los Alamos in der Wüste von New Mexico nur der bis heute bekannteste war, und auch in britischen Laboratorien kooperierten Wissenschaftler mehrerer Disziplinen, neben Physikern und Chemikern vor allem auch Techniker, und unterschiedlicher Nationalitäten, neben US-Amerikanern und Briten zahlreiche Flüchtlinge aus dem faschistischen Italien und mehreren Ländern des nationalsozialistisch beherrschten Europa. »Little Boy« und »Fat Man« waren die ersten beiden und die bislang einzigen Atombomben, die in bis heute umstrittener, jedenfalls zerstörerischer Absicht über zwei dicht von Menschen bewohnten Gebieten gezündet wurden.2 Die Hunderttausende ziviler Toter von Hiroshima und Nagasaki markierten Anfang August 1945 den Eintritt der Menschheit in das bald weltweit so genannte »Atomzeitalter«. Es war mit dem Wettrüsten der beiden großen Atommächte USA und UdSSR bis zum potenziellen »overkill« im Kalten Krieg nicht zu Ende. Vielmehr reichte es mit dem Auftreten weiterer Atomwaffenstaaten, den nur begrenzt wirksamen supranationalen Anstrengungen zur Eindämmung der Proliferation, der Entwicklung handlicherer, für begrenzte Kriegsführung tauglicher Atomwaffen und wiederum deren wenig effizienter Kontrolle bis ins Tagesgeschäft der internationalen Politik. Seit 1957 hat diese mit der International Atomic Energy Agency (IAEA), die die friedliche Nutzung der Kernenergie fördern und die militärische möglichst verhindern soll, den Sitz in Wien. Mit der immer dichteren Möblierung der Landschaft mit Atomreaktoren und den im Rhythmus der Unfälle und Katastrophen aufflammenden Debatten um längst erfahrene Risiken, mit den immer raffinierteren Anwendungen von Nukleartechnologien in den verschiedensten Zweigen von wissenschaftlicher Forschung, industrieller Produktion und Medizin und dem anhaltenden Streit um die Entsorgung der Rückstände durchdrang das Atomzeitalter nahezu alle Poren des gesellschaftlichen Alltags.3
Das Atomzeitalter und Österreich Das Atomzeitalter und die Kernforschung, die es begründete, waren und sind globale und internationale Phänomene, sie sind aber zugleich an vielen Orten lokal positioniert und in nationale Ökonomien und Politiken eingebunden. Die Forscher und Forscherinnen, die sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert mit der Untersuchung radioaktiver Strahlung und bald schon mit den dahinter vermuteten subatomaren 2
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Zum Manhattan-Projekt vgl. Rhodes 1990 und zuletzt Bird/Sherwin 2009 ; zu Motiven und Legitimität des Atombombenabwurfs Newman 2007 ; O’Reilly 2005 ; Polmar 2004 ; Stölken-Fitschen 1998 ; grundlegend : Alperovitz 1995. Zum Atomzeitalter vgl. Salewski 1998 ; zur IAEA vgl. Hecht 2006 und Forland 1997 ; zur Entsorgungspolitik Berkhout 2000.
Einleitung
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Ereignissen in den Kernen der Materie beschäftigten, lebten, arbeiteten und kommunizierten von Beginn an in einem »global village«. Mit selbstverständlicher Mehrsprachigkeit bewegten sie sich – zumindest in Friedenszeiten – zwischen Montreal, Paris, Manchester, Kopenhagen, Wien, Berlin, Rom, Chicago, Berkeley und anderen Traumzielen ihrer wissenschaftlichen Neugier. Wo immer aber sie sich aufhielten, waren sie mit lokal unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten, Ansätzen und Methoden, mit mehr oder weniger günstigen Infrastrukturen für ihre forscherische Praxis, mehr oder weniger produktiven Modi der Arbeitsorganisation und wissenschaftlichen Kommunikation konfrontiert.4 Nicht nur das : Je mehr sie von den knappen Rohstoffen – Uran, Radium, Plutonium – benötigten, je aufwändiger ihre Apparaturen und je größer ihre Laboratorien wurden, umso abhängiger wurden sie von den politischen Rahmenbedingungen und der im Wesentlichen national organisierten Forschungsförderung des Landes, in dem sie ihre Projekte betrieben. Vollends zurückgeworfen auf die nationale Territorialität ihres Standorts und zumeist auch auf ihre eigene Staatsangehörigkeit wurden sie in Kriegszeiten. Kriege schränkten nicht nur ihre Mobilität ein, sondern in dem Maße, wie der Gegenstand ihrer Forschungen kriegsrelevant und deshalb der Geheimhaltung unterworfen wurde, auch ihre wissenschaftliche Kommunikation innerhalb der Grenzen der Staaten und militärischen Bündnissysteme, aber erst recht über die Fronten hinweg.5 Aus Forscherkollegen wurden Kriegsfeinde, die sich nach den Waffengängen wieder miteinander ins Benehmen setzen mussten. Umgekehrt waren auch Nationalstaaten zunehmend auf Kernforschung und Nukleartechnologie verwiesen : Je relevanter die Verfügung über Atomenergie im militärischen und ökonomischen Kontext wurde, umso dringender wurde es, sich politisch dazu zu positionieren. Je spektakulärer die Ergebnisse von Radioaktivitäts- und Kernforschung sich darstellten, umso näher lag es, nationale Selbstbilder damit zu verknüpfen.6 Aktuelle Beispiele zeigen, dass solche Verknüpfungen höchst unterschiedlich gewirkt sein können, wenn etwa Nordkorea seine politischen Extravaganzen mit der 4
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Vgl. Stamm-Kuhlmann 1998 ; Crawford/Shinn/Soerlin 1992 ; Hughes 1993. Nach den lokalen Bedingungen wissenschaftlicher Forschung zu fragen und sie ggf. mit denjenigen an anderen Forschungsstandorten zu vergleichen, hat nicht notwendigerweise zum Ziel, nationale Denkstile zu identifizieren, wie es Harwood 1993 (vgl. auch ders. 2004) im deutsch-amerikanischen Vergleich vor allem am Beispiel der Genetik getan hat. Vielmehr geht es zunächst darum, die je konkreten Ressourcenallokationen im Zusammenwirken von Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur zu rekonstruieren, um dann vergleichend spezifische Entwicklungen gerade auch in kleinen Ländern wie etwa Österreich oder aber in wissenschaftlich peripheren Ländern wie etwa Spanien besser zu verstehen. Erste Überlegungen dazu finden sich in Simon/Herran 2008 ; zu Norwegen : Wittje 2007. Vgl. auch Pyenson 2002 und Secord 2004. Vgl. Dennis 2006 sowie weitere Beiträge in Doel/Söderqvist 2006. Harrison 2009 ; Jessen/Vogel 2002 ; Metzler 2000. Allgemeiner zur Konstruktion nationaler Selbstbilder in postdiktatorialen Ländern im Nachkriegs- und Nachwendeeuropa vgl. Sachse/Wolfrum 2008.
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Demonstration seiner erst kürzlich errungenen atomaren Macht zu sichern versucht, der Iran mit der Zurückweisung der internationalen Kontrolle seines nationalen Atomprogramms seine politische Autonomie beweisen will, Österreich sich hingegen nicht nur als ein atomwaffenfreies, sondern seit 1978 auch als ein für immer kernenergiefreies Land präsentiert und österreichische gemeinsam mit deutschen Sozialdemokraten sich angesichts der Katastrophe von Fukushima im März 2011 mit einem europaweiten Volksbegehren zum Atomausstieg der Europäischen Union profilieren wollen.7 In der verschränkten Geschichte von Kernforschung, Nukleartechnologie, Atompolitik und der auf alle diese Aspekte bezogenen Wissenschaftspolitik ist das fallweise Zusammenspiel von Globalität und Lokalität, Internationalität und Nationalität je eigentümlich orchestriert.8 Es lohnt, diesen verschiedenen Orchestrierungen gerade auch in ihren spezifischen historischen Entwicklungen nachzugehen, wenn wir das weltpolitisch nach wie vor brisante Konglomerat von Atomwissenschaft und Atompolitik im globalen Maßstab und in seinen damit verschränkten nationalen Entscheidungs- und Handlungsebenen besser verstehen wollen. Wenn in diesem Band mit dem Fall Österreich ein Zwerg im atomaren Geschäft der Riesen in den Mittelpunkt gerückt wird, so ist das dennoch begründungsbedürftig. Was macht diesen Fall interessant ? Die vorliegende, durchaus überschaubare wissenschaftshistorische Literatur zur Geschichte der Radioaktivitäts- und Kernforschung in Österreich interessiert sich vor allem für die Jahre bis 1938, das heißt für den Zeitraum von der letzten Friedensdekade des habsburgischen Kaiserreichs bis zur gewaltsamen Eingliederung des deutsch-österreichischen Rumpfstaates, wie er aus der Pariser Friedensordnung von 1919 hervorgegangen war, in das dann als »großdeutsch« bezeichnete »Reich« des Nationalsozialismus. Dabei konzentriert sich die Historiografie bislang überwiegend auf Biografien bekannter österreichischer beziehungsweise in Österreich tätiger Radioaktivitätsforscher sowie das 1910 in Wien eröffnete Institut für Radiumforschung und einige bemerkenswerte Aspekte seiner Geschichte. Ein solcher Aspekt ist die spezifische Konstellation, die zur Gründung dieses in Europa ersten ausschließlich der Radioaktivitätsforschung gewidmeten Instituts führte 7
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Vgl. zum österreichischen Anti-Atomkonsens Adler 2009 ; Schleich 2008 ; E. Reiter 2008 ; Schmidt 2007 ; Rathkolb 2005 ; Lackner 2000 ; Schaller 1987. Zur Debatte um die politischen Konsequenzen der japanischen Reaktorkatastrophe in Österreich als Einstieg : http ://derstandard.at/1297820722163/ Politisches-Tsunami-Kleingeld ; Zugriff : 3.5.2011 ; http ://derstandard.at/1297820226938/In-eigenerSache-STANDARD-Sonderausgabe-zur-Katastrophe-in-Japan ?_lexikaGroup=11 ; Zugriff : 3.5.2011. Zum Verhältnis von Globalität und Lokalität vgl. Bhabha 1994. Zum Verhältnis von transnationaler, globaler und vergleichender Geschichte vgl. Haupt/Kocka 2010 ; Kaelble/Schriewer 2003 ; Werner/Zimmermann 2002 ; Osterhammel 2001. Zur anhaltenden Debatte über transnationale Geschichte vgl. die einschlägige Zeitschrift Comparativ sowie das Internet-Forum geschichte.transnational (http ://geschichtetransnational.clio-online.net/transnat.asp ?pn=about ; Zugriff : 28.4.2011).
Einleitung
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– und zwar als ein außeruniversitäres Zentrum mit Anbindung an die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften, aber in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Wiener Universitätsinstituten für Chemie und Physik.9 Für diese Konstellation war das industrielle Mäzenatentum eines Carl Kupelwiesers ebenso kennzeichnend wie das intellektuelle Milieu des Kreises junger Naturwissenschaftler um den Physiker Franz Serafin Exner.10 Entscheidend aber waren die bis 1918 im böhmischen St. Joachimsthal, also im cisleithanischen Teil der Habsburger Monarchie, verfügbaren Uranminen. Sie ermöglichten den in Europa einmaligen, herrschaftlich privilegierten Zugriff auf die Strahlungsquelle Radium als der materiellen Basis der frühen Radioaktivitätsforschung. Was aber das zeitweilige Wiener Radiummonopol für die Ökonomie, Politik und nicht zuletzt die Epistemologie der Radiumforschung im lokalen und globalen Kontext bedeutete, wissen wir bislang noch nicht.11 Ein zweiter wissenschaftshistorisch breiter behandelter Aspekt sind die Kooperationsformen, die sich unter der Leitung des Exner-Schülers Stefan Meyer am Institut für Radiumforschung herausbildeten und die übereinstimmend als wenig hierarchisch oder konkurrent, vielmehr als eher egalitär und weitgehend harmonisch geschildert werden. Hervorgehoben wird der hohe Anteil von Frauen sowie von Juden, sowohl Männern wie Frauen.12 Damit unterschied sich das Institut für Radiumforschung zwar deutlich von den fachnahen Wiener Universitätsinstituten, aber nicht unbedingt von anderen europäischen und nordamerikanischen Zentren der Radioaktivitätsforschung. Vielmehr ist in der Wissenschaftsgeschichte schon mehrfach darauf hingewiesen worden, dass neue Forschungsfelder an den Grenzen der etablierten Disziplinen und neue Forschungsinstitutionen jenseits der verfestigten akademischen und universitären Strukturen für kulturell marginalisierte oder strukturell und formell diskriminierte Gruppen leichter zugänglich sind.13 Alles deutet darauf hin, dass sich die beobachtete 9 Als Einstieg Fengler/Forstner 2011 ; darüber hinaus Rentetzi 2005 ; W. Reiter 2000 ; Kühn 1962 ; Meyer 1950. 10 Vgl. zu Kupelwieser Rentetzi 2009, Kap. 2 ; zum Exner-Kreis Coen 2007 ; Karlik/Schmid 1982. 11 Vgl. dazu die Beiträge von Beate Ceranski und Ingrid Groß/Gerd Löffler in diesem Band. Ceranski 2008 hat den Radiummarkt und die österreichische Radiumpolitik vor dem Ersten Weltkrieg untersucht. Rentetzi 2009 beschreibt in ihrem 1. und 2. Kapitel Radium als »trafficking material«, rückt diesen interessanten Ansatz, anders als der Titel ihrer Arbeit vermuten lässt, jedoch nicht ins Zentrum ihrer Darstellung des Wiener Instituts für Radiumforschung. Im Übrigen verzichtet keine Darstellung der frühen Radioaktivitätsforschung auf den Hinweis auf die aus St. Joachimsthal stammende Pechblende, aus der die Curies in Paris das Radium für ihre nobelpreiswürdigen Forschungen gewannen, vgl. z. B. Roqué 1996 und Boudia 2001. 12 Bischof 2000 und 2004 ; Rentetzi 2004 ; Zelger 2009. 13 Vgl. zu Juden an preußisch-deutschen Universitäten Volkov 2000 ; zum Zugang von Juden zu den neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Instituten im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik Schüring 2006. Hinsichtlich der Beteiligung von Frauen unterschied sich das Pariser Laboratoire Curie
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Personalstruktur am Wiener Radiumsinstitut sehr wohl in eine transnationale Sozialgeschichte der frühen Radiumforschung einordnen lässt ; ihre möglichen regionalen Spezifika in der Mitte Europas mit Wien als Zielpunkt wissenschaftlicher Migrationsbewegungen aus Ost- und Südosteuropa sind indessen bisher nicht erforscht. Unmittelbar daran anschließend bildet die Frage nach den personellen Konsequenzen des österreichischen »Anschlusses« an das »Dritte Reich« und der antisemitischen »Gleichschaltung« den dritten ausführlicher behandelten Themenkomplex. Mehr als ein Drittel aller wissenschaftlichen Mitarbeiter und besonders viele Mitarbeiterinnen waren nach dem März 1938 innerhalb kürzester Zeit gezwungen, das Institut für Radiumforschung zu verlassen, darunter auch sein bisheriger Leiter Stefan Meyer, der allerdings im Land bleiben konnte. Als Nachfolger wurde Meyers langjähriger Assistent, Gustav Ortner, eingesetzt, der zusammen mit Georg Stetter und Gerhard Kirsch einer Gruppe von frühen Nationalsozialisten angehörte, die jetzt am Institut für Radiumforschung und am II. Physikalischen Institut der Universität Wien die Oberhand gewann und weitere Gesinnungsgenossen nachzog. Nur an Einzelfällen sind die Anstrengungen und Unterlassungen erforscht, Kernforscher und Kernforscherinnen in der Nachkriegszeit zurückzuholen – sei es der österreichischen Wissenschaftspolitik im Allgemeinen, sei es des Instituts für Radiumforschung im Besonderen.14 Demnach hat es den Anschein, dass bis in die 1950er-Jahre hinein – ähnlich wie in Deutschland und manchen befreiten Ländern – sehr viel mehr unternommen wurde, die nach 1945 als Nationalsozialisten suspendierten sowie die von den Besatzungsmächten als Experten requirierten und die im Ausland untergetauchten Kolleginnen und Kollegen zu rehabilitieren und zurückzugewinnen, als die 1938 Vertriebenen zur Rückkehr zu bewegen.15 Bisweilen werden das antisemitisch und parteiideologisch bestimmte Revirement von 1938 sowie die moralisch verfehlte Rückholungspolitik nach 1945 als ursächlich für den vermeintlichen wissenschaftlichen Niedergang der österreichischen Radioaktivitäts- und Kernforschung in Anschlag gebracht.16 Aber noch ist völlig ungeklärt, ob zumindest in den prozentualen Größenordnungen nicht wesentlich vom Wiener Radiuminstitut, vgl. Schürmann 2006. Vgl. zu Frauen in der frühen Radioaktivitätsforschung generell Rayner-Canham 1997. Ein systematischer geschlechterhistorischer Vergleich insbesondere auch der Kooperationsformen und hierarchischen Strukturen an verschiedenen Zentren der Radioaktivitätsforschung – etwa Paris, Wien, Berlin – steht aus. 14 W. Reiter 2001, 2004, 2006 ; W. Reiter/Schurawitzki 2005 ; Sime 2004 ; vgl. dazu auch den Beitrag von Ruth Lewin Sime in diesem Band. 15 Vgl. Ash 2004b ; die Beiträge in Grandner/Heiss/Rathkolb 2005 ; Bischof 2006 ; W. Reiter 2006 ; Ash/ Nieß/Pils 2010 ; sowie die Beiträge von Christian Forstner, Ruth Lewin Sime und Günther Luxbacher in diesem Band. 16 Häufig wird die Emigration von jüdischen und/oder politisch verfolgten Wissenschaftlerinnen und Wis-
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von einem solchen Niedergang überhaupt die Rede sein kann, wann er gegebenenfalls einsetzte und worin er womöglich begründet war. Bislang wurden die Themenfelder der österreichischen Kernforschung historisch nicht rekonstruiert, geschweige denn in ihrer Einbettung in internationale wissenschaftliche, politische und soziale Kontexte analysiert. Nur zwei Forschungsprogramme am Wiener Institut für Radiumforschung haben bisher Eingang in eine nationenübergreifende Wissenschaftsgeschichte der Kernforschung gefunden. Dies sind zum einen die Arbeiten der Gruppe der »Atomzertrümmerer«, die der schwedische Physiker und Ozeanograph Hans Pettersson Anfang der 1920er-Jahre dort aufbaute. Ihre Messmethoden und -ergebnisse wurden 1924 in einer berühmten Kontroverse mit einer parallel arbeitenden Forschergruppe um Ernest Rutherford am Cavendish Laboratory in Cambridge nachhaltig in Zweifel gezogen, was den wissenschaftlichen Ruf der Wiener Gruppe dauerhaft schädigte, aber auch methodische und instrumentelle Umorientierungen in Wien und anderenorts in Gang setzte.17 Zum anderen sind es die Arbeiten von Marietta Blau, die in Reaktion auf die Wien-Cambridge-Kontroverse ihre fotografische Methode zur Aufzeichnung von Kernbruchstücken vervollkommnete und später gemeinsam mit Hertha Wambacher die »Zertrümmerungssterne« entdeckte, die durch Einwirkung kosmischer Strahlung in fotografischer Emulsion hervorgerufen wurden.18 Viele dieser Aspekte einer bisher auf das Wiener Institut für Radiumforschung fokussierten Geschichte der Radioaktivitäts- und Kernforschung in Österreich werden in den nachfolgenden Beiträgen wieder aufgegriffen, aber in einen größeren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang gestellt. In räumlicher Hinsicht bezieht der vorliegende Band auch die Forschungslandschaft in die Betrachtung mit ein, in die sich das Institut für Radiumforschung in Wien und darüber hinaus in Österreich einfügte, seien es die disziplinär benachbarten Institute der österreichischen Universitäten und der Kaiserlichen beziehungsweise nach 1918 der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), seien es intellektuelle Milieus wie der Exner-Kreis, wirtschaftliche oder mäzenatische Verbindungen zur Industrie oder die Zugänge zu den politischen Instanzen der österreichischen Forschungsförderung. Mit dieser räumlichen ist eine gegenständliche Ausweitung auf die Interaktionen und Verbindungen zwischen Wissenschaft, Industrie, Politik und Kultur in Österreich unweigerlich verknüpft. Die Mehrzahl der Beiträge gehen noch einen senschaftlern als »Aderlass« (W. Reiter 2004, S. 664) bezeichnet oder als »unwiederbringliche[r] Verlust« (Stadler 2004, S. 19) bilanziert. 17 Stuewer 1985. 18 Galison 1997a und 1997b hat sich damit im Rahmen seiner Untersuchungen zur materiellen Kultur des Labors befasst. Vgl. dazu auch Rosner/Strohmeier 2003 sowie den Beitrag von Ruth Lewin Sime in diesem Band.
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Schritt weiter, indem sie versuchen, ihren jeweiligen Untersuchungsausschnitt auf zeitgleiche Entwicklungen in der internationalen und hier vor allem der europäischen Radioaktivitäts- und Kernforschung zu beziehen. Dies eröffnet erstens die Chance, alternative Entwicklungen analytisch zu berücksichtigen, mögliche oder unter den gegebenen Bedingungen vor Ort auch fehlende Forschungsoptionen zu erkennen und auf diese Weise lokale Spezifika zu identifizieren und historisch einzuordnen. Zweitens erlaubt es, die sich historisch verändernde Gewichtung der Forschungsstandorte in Österreich im internationalen Kontext nachzuzeichnen und damit auch etwas über den historischen Wandel der lokalen und nationalen Verfasstheit von Kernforschung im globalen und internationalen Kontext zu erfahren. Das Institut für Radiumforschung spielt in diesem Band zwar immer noch eine prominente, aber keine solitäre Rolle mehr. Es wird gewissermaßen doppelt dezentriert und als ein Knoten neben anderen in zwei sich überlagernden Netzwerken verortet : Zum einen in einem Forschungszusammenhang, der durch das herrschaftliche beziehungsweise nach 1918 nationalstaatliche Territorium Österreichs in seinen je politisch-geographischen Grenzen konstituiert wurde ; zum anderen in einer globalen, multifokal lokalisierten »scientific community« von mobilen, multilingual kommunizierenden und korrespondierenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedenster Nationalität, die sich der Radioaktivitäts- und Kernforschung verschrieben hatten. Gerade im Hinblick auf diesen räumlich erweiterten Untersuchungsrahmen ist auch die zeitliche Ausdehnung bis in die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg hinein nahe liegend. Nur so können die gravierenden, in hohem Maße politisch induzierten und rasant vonstattengehenden Veränderungen des Forschungsfeldes von der frühen Radioaktivitätsforschung über die Entdeckung der Kernspaltung, die Forschungen zur rüstungswirtschaftlichen und militärischen Nutzung der Kernenergie bis hin zur stetigen, veralltäglichten Weiterentwicklung nukleartechnologischer Verfahren und Anwendungen in ihren lokalen Ausprägungen an den Forschungsstandorten in Österreich historisch in ihren globalen Kontext eingeordnet werden.19 Die Beiträge dieses Bandes umspannen – mit höherer Dichte für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und geringerer Dichte für die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg – einen Zeitraum von knapp achtzig Jahren.20 Sein Beginn lässt sich um 1900 mit der Einrichtung der Kommission für Radiumforschung in der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 19 Vgl. zur Sinnhaftigkeit eines die politischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts überspannenden Untersuchungszeitraums auch das Forschungsprogramm zur Geschichte der deutschen Forschungsgemeinschaft : Orth/Oberkrome 2010. 20 Bisher liegen für die Zeit nach 1945 noch so gut wie keine wissenschaftshistorischen Forschungen vor, vgl. als ersten Aufriss W. Reiter/Schurawitzki 2005 ; sowie einige Diplomarbeiten : Zehetgruber 1994, Premstaller 2001 und Schmidt 2007. Die Beiträge in diesem Band eröffnen das Forschungsfeld.
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in Wien und sein Ende mit der Volksabstimmung von 1978 gegen die Inbetriebnahme des ersten und letzten österreichischen Atomkraftwerks in Zwentendorf markieren. Dabei geht es weder um die Narratio einer Erfolgs- noch um die einer Niedergangsgeschichte der österreichischen Kernforschung, die es so wohl nie gegeben hat. Sinnvoller ist vielmehr die Frage nach eingenommenen, aufrechterhaltenen, modifizierten oder aufgegebenen Positionierungen, mit denen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen an österreichischen Forschungsstandorten sich in das globale Feld von Kernforschung, Kernenergienutzung und Nukleartechnologie eingebracht haben. Die hier versammelten Beiträge können eine dergestalt komplex verstandene Kernforschung in Österreich nicht vollständig abbilden. Sie stellen vielmehr einen facettenreichen Zwischenstand der erst vor wenigen Jahren begonnenen wissenschaftshistorischen Aufarbeitung dar, die bis dahin über das Epochenjahr 1938 noch kaum hinausgekommen war. Die Beiträge zeigen ein breites Spektrum der beteiligten Institutionen, Wissenschaftlerpersönlichkeiten und der mit der Radioaktivitäts- und Kernforschung verbundenen Forschungsprogramme. Sie verbinden sich in der Frage, wie sich deren Arbeitsschwerpunkte, Forschungsansätze und Arbeitsstile im Rahmen ihres globalen wissenschaftlichen Feldes ebenso wie im politischen, sozialen und kulturellen Kontext des 20. Jahrhunderts veränderten. In ihrer Gesamtheit umfassen die Beiträge alle bedeutenden politischen Zäsuren in der österreichischen Zeitgeschichte : den Ersten Weltkrieg und den Zusammenbruch der Monarchie, das Scheitern der Ersten Republik, die austrofaschistische und die nationalsozialistische Diktatur, den Zweiten Weltkrieg, den Zusammenbruch des »Dritten Reiches« beziehungsweise die Befreiung vom NS-Regime und die Zweite Republik im Kalten Krieg.
Von der Monarchie bis zur Zweiten Republik : Kernforschung im politischen und sozialen Kontext Die Studien des ersten Teils bearbeiten in chronologischer Anordnung einen für die jeweilige Epoche wichtigen Aspekt der Radioaktivitäts- beziehungsweise Kernforschung in Österreich und zeigen Kontinuitäten und Brüche ihrer Entwicklung im transnationalen wissenschaftlichen, politischen und sozialen Kontext auf. Den Beginn macht der Beitrag von Beate Ceranski. Sie geht dem augenfälligen, aber selten klar artikulierten Widerspruch nach, warum so wenige in die Wissenschaftsgeschichte eingeschriebene Entdeckungen der frühen Radioaktivitätsforschung mit den Namen von in Österreich arbeitenden Wissenschaftlern oder Wissenschaftlerinnen verbunden sind, obwohl diese doch einen privilegierten Zugang zum Radium und damit auf die europaweit reichste und für Jahre einzige Rohstoffbasis hatten. Eine
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prosopografische Auswertung aller bis 1914 erschienenen deutschsprachigen Publikationen zur Radioaktivitätsforschung zeigt, dass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Wien und Berlin, zwei frühen Zentren dieser Forschungsrichtung, gleichermaßen zahlreich und publikationsfreudig waren. Darüber hinaus lassen sich für Wien zwei lokal bedingte Schwerpunkte erkennen : zum einen die Erforschung der Umweltradioaktivität, zum anderen Arbeiten zur Darstellung von radioaktiven Stoffen, die sich eben dem leichteren Zugang zu Radium und seinen Derivaten verdankten. Dass dennoch à la longue weniger prominente, wissenschaftshistorisch tradierte Arbeiten in Wien entstanden sind, könnte mit strukturellen Unterschieden zusammenhängen : Berlin war einer unter vielen unterschiedlich spezialisierten Standorten der Radioaktivitätsforschung im Deutschen Reich. In Wien als dem nahezu einzigen Standort in Österreich wurde hingegen ein breites Themenspektrum beforscht. Diese Metropolenfunktion verdichtete sich am Institut für Radiumforschung weiter : Beides – die Verwaltung des europaweit begehrten Rohstoffes und seine verstärkte Beforschung im eigenen Land – wurde dort zusammengeführt. In einer vergleichenden arbeitsgeschichtlichen Analyse des Instituts und vor allem der Aufgaben seines Leiters, Stefan Meyer, differenziert und gewichtet Ceranski dessen multiple Funktionen. Was im Deutschen Reich über mehrere universitäre und außeruniversitäre Institute, intermediäre Institutionen und staatliche Aufsichtsbehörden verteilt war,21 wurde im Institut für Radiumforschung zusammengefasst : Zu den üblichen Aufgaben der Leitung eines Forschungsinstituts kam die Aufsicht über den Wiener Radiumstandard hinzu, verbunden mit der Messung, Begutachtung und Bereitstellung von radioaktivem Material für Behörden, Kliniken, in- und ausländische Kollegen. Der materielle Segen wurde zur administrativen Bürde. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg jedoch erwies sich das in Österreich noch vorhandene Radium, das vermittelt über das Institut für Radiumforschung ausländischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen immer noch kostenfrei zur Verfügung gestellt wurde, als Bonus. Erstens verhalf es den österreichischen Radioaktivitätsforscherinnen und -forschern zu einer im Vergleich zu ihren von den internationalen Professionsverbänden noch länger ausgegrenzten deutschen Verbündeten raschen Wiederaufnahme in die internationale »scientific community«.22 Zweitens bot es den in Österreich aktiven Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine für die damalige 21 Zur institutionellen Verankerung der physikalischen Forschung und die Rolle der Physikalisch-Technischen Reichs- bzw. Bundesanstalt in Deutschland vgl. Cahan 1992, Kern 1993 und Kind 2002 ; darüber hinaus Hoffmann/Walker 2007. 22 Zu den internationalen wissenschaftlichen Beziehungen der Zwischenkriegszeit vgl. Forman 1973 ; Schroeder-Gudehus 1986 ; Crawford 1988 ; Pinault 2003 ; für die Zeit bis 1960 Metzler 2000 ; Doel/ Hoffmann/Krementsov 2005.
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Zeit starke Strahlenquelle für die in den 1920er-Jahren aktuelle »Atomzertrümmerungsforschung«, die in Wien in enger Kooperation zwischen der Arbeitsgruppe um Pettersson am Institut für Radiumforschung und dem benachbarten II. Physikalischen Institut der Universität Wien betrieben wurde. Silke Fengler untersucht die höchst empfindlich aufeinander reagierenden Einflussfaktoren von nationaler und internationaler Forschungsförderung, internationalem wissenschaftlichem Renommee und inländischer Wertschätzung auf die Radioaktivitätsforschung im Österreich der Zwischenkriegszeit. Vor dem Hintergrund der durch Krieg, Auflösung des Habsburgerreiches und Inflation äußerst dürftigen inländischen Forschungsmittel erhielt das Institut für Radiumforschung weit großzügigere Unterstützungen als andere österreichische Forschungsinstitute. Vor allem hoffte die Rockefeller Foundation dort einen zweiten Standort neben Rutherfords Cavendish Laboratory aufzubauen und den internationalen Wettbewerb in der Atomzertrümmerungsforschung zu beleben. Bis Anfang der 1930er-Jahre, also noch einige Jahre nach dem für die Arbeitsgruppe um Pettersson ungünstigen Ausgang der Wien-CambridgeKontroverse, funktionierte das Spiel der Matching Funds ; mit Verweis auf die eingeworbenen amerikanischen Gelder ließen sich österreichische und deutsche Gelder akquirieren, die wiederum den amerikanischen Geldgeber geneigt machten, seine Förderung zunächst des Instituts für Radiumforschung, später der kooperierenden Arbeitsgruppe um Stetter am II. Physikalischen Institut fortzusetzen. Dann aber verstärkten sich negative Impulse gegenseitig : Pettersson zog sich 1930 aus der für ihn nicht mehr reputierlichen Atomzertrümmerungsforschung nach Schweden zurück und ohne ihn blieben die schwedischen Gelder aus. Die österreichische Regierung reagierte auf den knapp abgewehrten Staatsbankrott von 1931/32 mit einer Austeritätspolitik insbesondere auch in der Wissenschaftsförderung. Die Rockefeller Foundation, die 1936 ihre Zahlungen einstellte, sah sowohl ihre Erwartung, dass die Wiener Kernforschung langfristig staatlich zu finanzieren sei, als zuletzt auch ihre Hoffnung auf einen weiteren erstklassigen Forschungsstandort enttäuscht. Zu dieser Wahrnehmung trugen auch die Forschungsentscheidungen der Wiener Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei. Sie konzentrierten sich in der Krise naheliegenderweise auf ihre eigenen Kräfte, also ihre Radiumressource, und vertrauten darauf, dass diese natürlich beschränkte Strahlungsquelle in Verbindung mit neuen Messgeräten und -methoden auch weiterhin wissenschaftlich ergiebig einzusetzen sei, während anderenorts immer aufwendigere und leistungsfähigere Teilchenbeschleuniger zur künstlichen Erzeugung von Neutronen Einzug in die Laboratorien hielten und neue Fragestellungen eröffneten.23 23 Vgl. Heilbron 1986 ; Osietzky 1994 ; Weiss 2000.
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Das Institut für Radiumforschung war von seinem Gründungsmäzen Kupelwieser mit einer folgenreichen Hypothek belastet worden : Es durfte, um Konkurrenz zu seinen anderen mäzenatischen Gründungen, wie besonders der Biologischen Forschungsstation Lunz, zu vermeiden, keine biologisch-medizinische Forschung betreiben. Dies erwies sich spätestens in den 1930er-Jahren als misslich, weil sich gerade hier viele Anwendungsbezüge für die Radioaktivitätsforschung auftaten, deren Entwicklung die zuständigen Ministerien für förderungswürdiger hielten als die Darstellung von radioaktiven Substanzen, atomaren Strukturen und Zerfallsprodukten. Auch die Rockefeller Foundation, die ihre Förderpolitik seit Anfang der 1930er-Jahre unter das Motto der »rationalization of human life« gestellt hatte, wäre damit möglicherweise leichter zu überzeugen gewesen.24 Hier waren Ausweichmanöver vonnöten. So verdienten manche Wissenschaftler und mehr noch Wissenschaftlerinnen, die im Institut für Radiumforschung unbezahlt ihren kernphysikalischen Forschungsinteressen nachgingen, ihren Lebensunterhalt in den strahlenmedizinischen Einrichtungen der Wiener Kliniken und festigten auf diese Weise die institutionelle Verbindung von Erforschung und Anwendung der Radioaktivität.25 Auch die Gründung des 1936 eröffneten Forschungsinstituts Gastein, mit dem sich der Beitrag von Wolfgang Knierzinger befasst, kann als ein solches Ausweichmanöver verstanden werden. Dieses Institut ging auf eine ebenfalls mäzenatische Initiative des jüdischen Wiener Industriellen und regelmäßigen Gasteiner Kurgastes Emmerich Granichstädten zurück. In seiner ausgeklügelten institutionellen Architektur waren diverse politische Richtungen, kommunale, regionale und bundesstaatliche Interessen sowie »scientific communities« verschiedener Disziplinen austariert und internationale Reputation einbezogen. Dank seiner außergewöhnlich guten finanziellen Ausstattung gelang es in nur zwei Jahren, das von dem Physiologen Ferdinand Scheminzky wissenschaftlich geleitete Institut sowohl kommunal- und landespolitisch mit den Gasteiner Gemeinden beziehungsweise mit dem Land Salzburg als auch wissenschaftlich-institutionell mit der ÖAW sowie vor allem mit thematisch benachbarten Forschungsinstitutionen nachhaltig zu verzahnen. Zahlreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts für Radiumforschung verbrachten dort mehrmonatige Forschungsaufenthalte, um sich mit einer anderen natürlichen Ressource, den radonhaltigen Quellen der Region und ihren möglichen Wirkungen auf Pflanzen, Tiere und Menschen, zu befassen. Der »Anschluss« Österreichs an das »Dritte Reich« hatte für das Forschungsinstitut Gastein gravierende personelle und institutionelle Veränderungen zur Folge : Sein Mäzen sowie zahlreiche wissenschaftliche Experten und Berater in den verschiedenen 24 W. Reiter 1999. Zur Programmatik der Rockefeller Foundation vgl. Sachse 2009, S. 100–107. 25 Bischof 2000 ; Rentetzi 2009, Kap. 4 ; Zelger 2009.
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Gremien mussten emigrieren ; das Institut wurde in kommunale Eigentümerschaft überführt. Aber ebenso wenig wie bei den kooperierenden Wiener Instituten gefährdeten diese Veränderungen den Bestand der Forschungseinrichtung in ihrem institutionellen Kern. Unter neuer, politisch »gleichgeschalteter« wissenschaftlicher Leitung des Nationalsozialisten Kirsch blieb die Verbindung mit dem Institut für Radiumforschung, den Physikalischen und anderen Instituten der Wiener Universität eng. Hinzu kam durch die Eingliederung in die Reichsanstalt für das deutsche Bäderwesen in Breslau die Zusammenarbeit mit der dortigen Universität. Die Forschungsagenden wurden bis zur kriegsbedingten Schließung 1942 stärker auf medizinisch-balneologische beziehungsweise physiologische Fragestellungen fokussiert und, ohne dass dies grundsätzlich anderer Fragestellungen, Methoden und Auswertungsverfahren bedurft hätte, an die sich ab 1939/40 in den Vordergrund drängenden militärmedizinischen Bedürfnisse angepasst.26 Nach 1945 konnte – nun wieder unter Scheminzkys Leitung und mit Meyers Fürsprache – an die Arbeitsschwerpunkte der Vorkriegszeit angeknüpft und das Institut in die ÖAW eingegliedert werden. Für das Institut für Radiumforschung und die Wiener Physikalischen Institute bedeutete der »Anschluss« nach der Entlassung eines großen Anteils seiner bisherigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen erhebliche institutionelle Veränderungen. Die verbliebenen und von den Vertreibungen profitierenden Forscher und Forscherinnen setzten hingegen hohe Erwartungen in den reichsweiten »Uranverein« zur Erforschung und Nutzbarmachung der Kernenergie, in den sie jetzt eingegliedert wurden. Sie hofften, sich endlich in die internationale Kernphysik einschalten und auch in Wien einen Neutronengenerator aufstellen zu können. Ihre Hoffnungen erfüllten sich auch dann nicht mehr, als 1943 schließlich das Reichsamt für Wirtschaftsausbau die Gründung eines Vierjahresplaninstituts für Neutronenforschung finanzierte, in dem unter der Leitung von Stetter das Institut für Radiumforschung und das II. Physikalische Institut zusammengefasst wurden.27 Willibald Jentschke, der zusammen mit Friedrich Prankl kurz nach der Dahlemer Entdeckung der Kernspaltung den physikalischen Nachweis für die Spaltung des Ioniums erbracht hatte, fühlte sich bald schon wieder am Rande des Geschehens. In späteren Interviews bezeichnete er das, was den Wiener Forschern bis Kriegsende zu tun blieb, als »Trostforschung«.28 26 Dieser Befund schließt an die Ergebnisse der Forschungsprogramme zur Geschichte der Kaiser-WilhelmGesellschaft im Nationalsozialismus bzw. der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1920–1970 an, vgl. als Überblicke Sachse/Walker 2005 ; Heim/Sachse/Walker 2010 und Orth/Oberkrome 2010. 27 Vgl. Fengler/Forstner 2011. Zum »Uranverein« vgl. insbesondere die Arbeiten von Walker 1990 und 1995. 28 Jentschke/Prankl 1939 und Jentschke/Prankl/Hernegger 1940. Zur »Trostforschung« vgl. den Beitrag von Rainer Karlsch in diesem Band, Fußnote 96.
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Aus der ungewöhnlichen Perspektive der sowjetischen Geheimdienste richtet Rainer Karlsch den Blick auf die Wiener Kernforschung im Zweiten Weltkrieg. Im Sommer 1941 hatte der aus Deutschland emigrierte Physiker Klaus Fuchs, der am britischen Atomprojekt mitarbeitete, die Sowjets über das deutsche Atomprojekt informiert.29 Seither sammelten die sowjetischen Geheimdienste alle irgendwie erhältlichen Informationen über die deutsche, britische und amerikanische Atomforschung, um sie im 1942 gestarteten eigenen Atomprojekt zu nutzen. Im Zuge der anstehenden Besetzung der östlichen Teile des nationalsozialistischen Herrschaftsgebiets ging es nicht mehr nur um wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch um die Requirierung von dringend benötigten Ressourcen : spaltbares Material, Schweres Wasser, Laborausrüstungen, Präzisionsinstrumente und nicht zuletzt Experten. Die österreichischen Standorte und die dort tätigen Wissenschaftler rangierten auf den unteren Plätzen der sowjetischen Suchlisten. Aber anders als die längst in den Westen Deutschlands und damit in das zukünftige amerikanische beziehungsweise britische Besatzungsgebiet verlagerten Berliner Forschungseinrichtungen waren die Wiener Einrichtungen, soweit sie nicht auch in die westlichen und damit amerikanisch zu besetzenden Teile Österreichs verlagert worden waren, wenigstens in ihren Restbeständen erreichbar. Die Kriegsbeute an geschliffenem Uran, Uransalzen und Uranpulver war mager. Aber die in Wien verbliebenen Forscher Gustav Ortner und Alfred Böhnisch sowie ihre Kollegin Hertha Wambacher und der dorthin zurückgekehrte Karl Lintner berichteten ihren Vernehmungsoffizieren über ihre Arbeiten im »Uranverein« : Fertigung von Strahlungsquellen, Gewinnung von kernphysikalischen Daten, Experimente zur Ermittlung von Absorptionswirkungsquerschnitten schneller Neutronen in verschiedenen Substanzen, Bau eines Massenspektrometers, Versuche zur chemischen Gewinnung von Transuranen – deutlich wurde, dass die Wiener Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zwar nicht direkt am Reaktorbau, aber sehr wohl an den Vorbereitungen für die Reaktorversuche im Rahmen des »Uranvereins« beteiligt gewesen waren und keineswegs nur randständige Forschungen betrieben hatten, wie sie ihre Vernehmer glauben lassen wollten. Es war aber nicht die vormalige Beteiligung am nationalsozialistischen Atomprojekt, die eine zügige Wiederaufnahme des Forschungsbetriebs nach Kriegsende behinderte. Anders als in Deutschland verordneten weder die sowjetischen noch die amerikanischen Besatzungsbehörden der Kernforschung in Österreich irgendwelche Restriktionen. Es waren die dürftigen wirtschaftlichen Umstände und die vorrangig anstehenden politisch-institutionellen Rekonstruktionen, mit denen man wieder an die Verhältnisse von vor 1938 anzuknüpfen versuchte : Das Vierjahresplaninstitut wurde aufgelöst und die ursprünglichen Institute wieder an der ÖAW beziehungs29 Flach/Fuchs-Kittowski 2008.
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weise an der Wiener Universität installiert ; Nationalsozialisten wie Stetter, Ortner und Kirsch wurden vorläufig ihrer Ämter enthoben. Von den 1938 vertriebenen Kolleginnen und Kollegen rief man indessen nur wenige zurück, vor allem Stefan Meyer, der von seinem Unterschlupf in Bad Ischl aus in Kontakt mit dem Institut für Radiumforschung geblieben war. Er bemühte sich, die früheren internationalen Verbindungen wieder aufzunehmen und vor allem die Verlässlichkeit des Wiener Radiumstandards, die während des Krieges infrage gestellt worden war, wieder zu garantieren. Die gründlich gewandelten Verhältnisse in der internationalen Kernforschung erforderten aber umfänglichere Adjustierungen durch eine jüngere Generation. Berta Karlik, habilitierte Physikerin, langjährige Mitarbeiterin am Institut für Radiumforschung und dank ihrer Distanz zum Nationalsozialismus politisch nicht belastet, führte ab 1947 als Institutsdirektorin und seit 1956 auch als erste ordentliche Professorin an der Universität Wien die akademische und universitäre Kernforschung in die neue Zeit.30 Christian Forstner zeichnet in seinem Beitrag nach, wie sich das Kräftefeld, in dem sich die Kernforschung im Nachkriegsösterreich positionierte, verändert hatte. Kernenergie war ein mächtiger Produktionsfaktor geworden und das politische Österreich hatte sich trotz seiner Neutralität im Kalten Krieg noch vor dem Inkrafttreten des Staatsvertrags unwiderruflich dem Westen zugeordnet. Eisenhowers 1953 vor den Vereinten Nationen verkündetes »Atoms for Peace«-Programm gab die Richtung für Forschung und Entwicklung, nämlich die zivile Nutzung der Kernenergie und die Erweiterung ihrer Einsatzmöglichkeiten, auch in Österreich vor. Im Verhältnis von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik verlagerten sich die Gewichte. Waren die ersten von Karlik koordinierten Initiativen zum Bau eines Forschungsreaktors von den universitären Kernforschern ausgegangen, so setzte die Industrie bei dem mit amerikanischer Unterstützung schließlich in Seibersdorf errichteten Reaktor ihre Forschungsagenden, die vor allem auf die Entwicklung von Reaktortechnologie zielten, durch. Im Verhältnis der österreichischen Hochschulen zueinander spiegelten sich diese Veränderungen in den Wiener Auseinandersetzungen zwischen Universität und Technischer Hochschule (TH) um die Zuordnung des zweiten Forschungsreaktors im Wiener Prater, mit dem die in Seibersdorf nicht zum Zuge gekommenen universitären Forschungsinteressen doch noch bedient werden sollten. Der Konflikt wurde schließlich 1959 mit der Gründung eines gemeinsamen Atominstituts der Österreichischen Universitäten beigelegt. Bezeichnenderweise stand es unter der Leitung von zwei TH-Professoren, Fritz Regler und Gustav Ortner, der dank Karliks nachdrücklichen Einsatzes bereits 1955 aus dem Kairoer Nachkriegsexil zurückgeholt worden war. Der dritte Forschungsreak30 W. Reiter/Schurawitzki 2005 ; Feichtinger/Uhl 2005. Zu Karlik vgl. auch Bischof 1998.
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tor wurde 1963 in Graz ebenfalls an einer Technischen Universität errichtet. Diese Leitungs- und Standortentscheidungen trugen der wachsenden Bedeutung von technologischer Forschung im Bereich der Kernphysik personell und institutionell Rechnung. Festzuhalten bleibt, dass der in den 1970er-Jahren erfolgte politische Stimmungsumschwung, der mit dem Referendum von 1978 noch vor dem tatsächlichen Einstieg den Ausstieg aus der inländischen Kernenergieproduktion besiegelte, den Betrieb der drei österreichischen Forschungsreaktoren nicht tangierte. Die hier vorgestellten Beiträge decken den Untersuchungszeitraum von knapp achtzig Jahren noch nicht dicht genug ab, um abschließende Aussagen über historische Kontinuitäten und Brüche in der Geschichte der Radioaktivitäts- und Kernforschung in Österreich treffen zu können. Einige Beobachtungen lassen sich jedoch zusammenfassen : Institutionell zeichnet sich an den relevanten Physikalischen Instituten der Wiener Universität – und auch an den anderen österreichischen Standorten – eine deutliche Kontinuitätslinie ab. Sie reicht von der Gründung des Instituts für Radiumforschung 1910 bis zu seiner Zusammenfassung mit dem II. Physikalischen Institut im 1943 gegründeten Vierjahresplaninstitut für Neutronenforschung und setzt sich unmittelbar nach Kriegsende mit der Wiedereinrichtung der beiden Institute fort. Damit korrespondiert eine forschungspraktische Kontinuitätslinie, die sich aus der privilegierten Verfügung über den Forschungsgegenstand Radium ergibt. Die Verfügbarkeit des Materials legte, im Unterschied zu Zentren der Radioaktivitäts- und Kernforschung in anderen Ländern, eine anhaltende und über lange Zeit vorrangige Beschäftigung mit den vorhandenen natürlichen Strahlungsquellen nahe. Es wäre zumal unter den wirtschaftlich restriktiven Bedingungen der 1930er-Jahre schwierig, wenn nicht unmöglich gewesen, an stärkere künstliche Strahlungsquellen heranzukommen und die durch sie eröffneten wissenschaftlichen Fragestellungen zu verfolgen. Dieses ambivalente Rohstoffprivileg war am Institut für Radiumforschung zugleich über Jahrzehnte mit der aufwändigen Administration, Standardisierung, Verteilung und Vermarktung des Radiums im nationalen und internationalen Rahmen verbunden, eine Aufgabe, die auch nach 1945 mit der Rehabilitierung des Wiener Radiumstandards noch eine gewisse Fortsetzung fand.31 In personeller Hinsicht stellte das Jahr 1938 mit der Vertreibung der jüdischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die einen sehr großen Anteil an der »scientific community« der Radioaktivitäts- und Kernforschung in Österreich hatten, einen gravierenden Bruch dar. Dass damit auch Forschungstraditionen unterbrochen und manche innovativen Ansätze nicht oder nur mehr in den Exilländern weiterverfolgt 31 Inwieweit diese materielle und institutionelle Konstellation ein nationales Spezifikum war, müsste in bioder multinationalen Vergleichen überprüft werden.
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wurden, dass die nachrückenden politisch und »rassisch« genehmen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern teilweise andere Forschungsagenden in den Vordergrund rückten und welche Bedeutung diese im Rahmen des »Uranvereins« hatten, ist zumindest in Umrissen erkennbar.32 Das Kriegsende 1945 bedeutete sicherlich keine »Stunde null«, aber es stellte in personeller Hinsicht doch eine gewisse Zäsur dar, denn immerhin mussten einige führende Wissenschaftler wegen ihres nationalsozialistischen Engagements ihre Arbeit für einige Jahre unterbrechen. Auch für diejenigen, die in der Entnazifizierung glimpflicher davongekommen waren, bedeutete die Zeit bis Mitte der 1950er-Jahre ein Moratorium, denn nicht nur das Forschungsfeld, sondern auch das politische Umfeld der Kernphysik hatte sich im globalen Maßstab gründlich gewandelt. Es bedurfte weltpolitischer Klärungen, ökonomischer Ressourcen, institutioneller Umbauten und wissenschaftlicher Ideen, um kernphysikalische Forschung in Österreich darin neu zu positionieren.33
Forscherpersönlichkeiten und ihre Netzwerke Den zweiten Teil des Bandes bilden biographische Studien zu drei Forscherpersönlichkeiten, die in unterschiedlicher Weise für ihre jeweilige Epoche charakteristisch sind. Mit Carl Auer von Welsbach stellen Ingrid Groß und Gerd Löffler einen ebenso typischen wie eigenwilligen Vertreter jener »Erfinder-Unternehmer« vor, die wie Werner von Siemens, Justus von Liebig oder Carl Bosch seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den Aufstieg der Elektro- und Chemieindustrie geprägt haben. Schon kurz nach seiner Ausbildung zum Chemiker etablierte sich Auer von Welsbach in jenem Feld, in dem sich die wissenschaftliche Erforschung und wirtschaftliche Verwertung von Radioaktivität überlappten. Kaum hatte er als junger Privatgelehrter die Seltenen Erden Praseodym und Neodym entdeckt, entwickelte er mit dem Gasglühstrumpf ein Produkt zu deren Nutzung und begründete damit 1885 sein erstes Unternehmen. Nach einem Beinahe-Bankrott in den späten 1880er-Jahren expandierte es rasch zu einem international verzweigten Firmenkonsortium mit Niederlassungen in Österreich, Großbritannien, Deutschland und den USA. Bei der parallelen Betrachtung der wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Aktivitäten Auer von Welsbachs fasziniert vor allem, wie eng er beide Seiten miteinander verzahnte. Auer von Welsbach entwickelte gleicherma32 Allgemein zur Bedeutung der NS-Zeit für die österreichische Wissenschaftsgeschichte vgl. Ash 2004b und Ash/Nieß/Pils 2010. 33 Zur Bedeutung der politischen Zäsuren von 1933 und 1945 in der deutschen Wissenschaftsgeschichte vgl. Rürup 2010 und Sachse 2010.
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ßen marktfähige Anwendungen für die Ergebnisse der Radioaktivitätsforschung, wie er dieses Forschungsfeld als Markt für die Produkte seiner Firmen ausbaute. Er nutzte nicht nur Entdeckungen neuer radioaktiver Elemente zur Entwicklung weiterer marktfähiger Produkte, sondern arbeitete auch selbst an der Identifizierung und Darstellung bis dahin unbekannter Substanzen wie Polonium, Thorium, Actinium und Ionium. Vor allem aber entwickelte und verfeinerte er Verfahren wie die Methode der fraktionierten Kristallisation zur Herstellung immer reinerer Präparate, die von der wachsenden internationalen Gemeinde der Radioaktivitätsforscherinnen und -forscher dringend nachgefragt wurden. Als Unternehmer bewies er ein eigentümliches Geschick, indem er die einzelnen Firmen unter Leitung offensichtlich gut ausgewählter Kooperationspartner, Manager und kongenialer Wissenschaftler zunehmend verselbstständigte und diese Konstellation für eine ungewöhnliche Verlagerung seiner Aktivitäten in seinen letzten drei Lebensjahrzehnten nutzte. Während andere »Erfinder-Unternehmer« dieser Zeit immer stärker in der Führung ihrer Konzerne aufgingen, verlegte sich Auer von Welsbach auf die Forschung in dem Ein-Mann-Privatlabor, das er sich auf seinem Kärntner Anwesen eingerichtet hatte und von dem aus er vor allem mit seinen hochwertigen Präparaten auf die Radioaktivitäts- und frühe Kernforschung in Wien, Berlin und anderenorts einwirkte. Wenn Marietta Blau, die wegen ihrer jüdischen Herkunft 1938 aus Wien vertrieben wurde, heute wenigstens posthum als eine der wichtigsten österreichischen Kernforscher und Kernforscherinnen der 1920er- und 1930er-Jahre anerkannt ist, so verdankt sich das der Wissenschaftsgeschichte der letzten zwei Jahrzehnte.34 In gewisser Weise ähnlich wie bei Auer von Welsbach changierte ihre berufliche Praxis zwischen kernphysikalischer Forschung zur Radioaktivität, der Ausbildung von Studierenden in röntgenmedizinischen Techniken, besonders aber der Entwicklung von und der Arbeit mit fotografischen Emulsionen für die Aufzeichnung von Strahlungsereignissen. Allerdings tat sie dies alles nicht aus der Position der Unternehmerin heraus und auch nicht als institutionell und finanziell etablierte Wissenschaftlerin, sondern als teils unbezahlte Forscherin, fallweise honorierte Expertin oder zeitweilig angestellte Wissenschaftlerin, die auf verschiedenste Weise für ihren Lebensunterhalt sorgen musste. Blau war auf dem Höhepunkt ihrer internationales Aufsehen erregenden wissenschaftlichen Arbeit, als sie noch vor dem »Anschluss« als Jüdin aus dem Wiener Institut für Radiumforschung gemobbt wurde – und zwar von ihrer Schülerin und Kollegin Wambacher, mit der zusammen sie gerade erst die gemeinsame Entdeckung hochenergetischer Teilchen der kosmischen Strahlung publiziert hatte. Wambacher war seit 1934 illegales NSDAP34 Halpern 1993 ; Galison 1997 ; Bischof 1998 ; Rosner/Strohmaier 2003 ; Halpern/Shapiro 2006 ; Rentetzi 2009, Kap 7.
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Mitglied und gehörte zur Gruppe der Nationalsozialisten um Stetter, Ortner und Kirsch, die sie in ihrem Vorgehen gegen Blau und in ihrem allzu erfolgreichen Versuch unterstützte, die Leistungen ihrer wissenschaftlichen Mentorin zugunsten ihres eigenen Ruhms zu verleugnen. Ruth Lewin Sime zeigt in ihrem Artikel, wie die Wirkung dieser ersten territorialen Vertreibung und wissenschaftlichen Enteignung durch weitere Marginalisierungen in der Nachkriegszeit verstärkt wurde. Zum einen bewies das schwedische Nobelkomitee, wie schon 1945 im Fall der Verleihung des Nobelpreises allein an Otto Hahn, nicht aber auch an seine Kollegin Lise Meitner, erneut sowohl seine notorische Missachtung wissenschaftlicher Leistungen von Frauen als auch seine Blindheit gegenüber den wissenschaftlich-biografischen Konsequenzen der nationalsozialistischen Zwangsexilierung.35 1950 verlieh es den Nobelpreis für Physik an den Briten Cecil F. Powell, der 1947 auf Basis der Arbeiten von Blau und Wambacher das Pi-Meson entdeckt hatte. Zum anderen taten die am Institut für Radiumforschung verbliebenen Kollegen und Kolleginnen nach 1945 nichts, um Blaus wissenschaftliche Marginalisierung rückgängig zu machen, sie selbst nach Wien zurückzuholen oder ihr, die 1960 nach ihrer Pensionierung in den USA der existenziellen Not gehorchend doch noch nach Wien zurückkehrte, endlich die verweigerte wissenschaftliche Anerkennung zukommen zu lassen. Marietta Blau war Teil jener die verschiedenen Zentren der europäischen und nordamerikanischen Radioaktivitätsforschung verbindenden »invisible school« von Frauen, die Marlene F. und Geoffrey W. Rayner-Canham beschrieben haben. Zugleich war sie ein besonders agiles und reisefreudiges Mitglied der internationalen »scientific community« der frühen Kernforschung.36 Beide Netzwerke überlagerten sich und halfen mit Albert Einstein an der Spitze, der sich mehrfach für Blau einsetzte, sie und ihre Familie vor dem Holocaust zu retten. Sie vermittelten ihr berufliche Positionen mit besseren Bedingungen, als sie manche andere vertriebene Wissenschaftlerin akzeptieren musste. Im Hinblick auf eigene Forschungsmöglichkeiten waren ihre Konditionen hingegen eher schlechter als das, was manche männliche Kollegen von ähnlichem wissenschaftlichem Rang im Exil erwarten durften. Blaus Netzwerke waren nicht stark oder willens genug, um die antifeministischen, antisemitischen und nationalistischen Diskriminierungspraktiken der »scientific communities« in den Ländern, die sie aufnahmen, zu durchbrechen. Einen ganz anderen Verlauf nahm die Karriere von Erich Schmid, der sich durch eine ähnlich hohe Mobilität und professionelle Flexibilität auszeichnete und dessen 35 Vgl. zur Politik der Nobelpreiskomitees Friedman 2001 ; Ash 2004a ; zu Meitner und Hahn Sime 2001. 36 Rayner-Canham/Rayner-Canham 1997. Zu den internationalen Netzwerken von Wissenschaftlerinnen und Akademikerinnen vgl. Oertzen 2011.
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Arbeiten ebenfalls wissenschaftliche Forschung, technologische Entwicklungen und wirtschaftliche Verwertung verknüpften. Allerdings wurde er nicht ins Exil gezwungen, sondern bewegte sich nach seinen ersten wissenschaftlichen Lehrjahren in Wien mit hinreichender politischer Konformität zwischen Universitäten in Österreich und der Schweiz, dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Faserstoffchemie und erstrangigen Industrielaboratorien in Deutschland. 1936 verließ er seine Professur im schweizerischen Fribourg und stellte sich als Laborleiter der renommierten Frankfurter Metallgesellschaft AG bis Kriegsende in den Dienst der Vierjahresplan-, Aufrüstungs-, Autarkieund Kriegspolitik des »Dritten Reichs«. Danach wirkte Schmid in ähnlicher Position bei der Hanauer Vacuumschmelze am Wiederaufbau der bundesdeutschen Industrieforschung mit, bevor er 1951 als Nachfolger Karl Przibrams die Leitung seines Herkunftsinstituts an der Wiener Universität übernahm und ab 1963 als Präsident der ÖAW maßgeblich die Einrichtung und den Ausbau ihrer Forschungsinstitute vorantrieb. Der geschmeidige institutionelle Wechsel zwischen universitärer, außeruniversitärer und industrieller Forschung hatte, wie Günther Luxbacher nachweist, eine disziplinäre und epistemische Entsprechung. Der Metallphysiker Schmid bewegte sich wissenschaftlich im Grenzbereich von Festkörperphysik und Strahlenforschung. Mithilfe der Röntgenstrukturanalyse erforschte er einerseits die Kristallstrukturen von Festkörpern und wie sie sich durch Einwirkung radioaktiver Strahlen verändern ließen. Andererseits versuchte er, Metalle in ihren Eigenschaften so zu optimieren, dass man mit ihnen Strahlen einschließen und Kettenreaktionen modifizieren konnte. Er nutzte Strahlen und Metalle wechselseitig als Werkzeuge für ihre Erforschung, Beeinflussung und nicht zuletzt ihre anwendungsspezifische Optimierung. Die wirtschaftliche Bedeutung solcher Forschungen lag für Schmid immer auf der Hand. In diversen Fachgruppen von Vertretern der Wissenschaft, der Politik und der Industrie im Österreich der 1950erund 1960er-Jahre konnten er, sein enger Kollege Karl Lintner und andere ihre Expertise zur Geltung bringen. Ein 1956 von Berta Karlik, dem Metallkundler Roland Mitsche von der Montanuniversität Leoben und der Österreichischen Alpine Montan Gesellschaft organisiertes Kolloquium brachte Schmids Anliegen auf den Begriff der »Kernumwandlungsmetallurgie«. Beim Antritt seiner ÖAW-Präsidentschaft 1963 prononcierte Schmid noch einmal die wissenschaftlichen und zugleich wirtschaftlichen Möglichkeiten, die sich einem kleinen Land wie Österreich im Zuge der fortschreitenden Entwicklungen der zivilen Kernenergienutzung eröffneten. Wissenschaftlich verortete er sie vor allem bei der Festkörperphysik und Werkstoffkunde für die Weiterentwicklung der Reaktortechnik und wirtschaftlich bei der Herstellung von Reaktorwerkstoffen, mit Blick auf die leistungsfähige österreichische Stahlindustrie, besonders von Spezialstählen für den internationalen Reaktormarkt.
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Die drei hier vorgestellten Forscherbiografien weisen bei aller Unterschiedlichkeit der individuellen Lebenswege und der jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Kontexte einige bemerkenswerte Gemeinsamkeiten auf : Sie alle zeichneten sich durch ein hohes Maß an nationaler und internationaler Vernetzung, grenzüberschreitender Mobilität und professioneller Flexibilität aus, die für die inhaltliche Akzentuierung ihrer Forschungen und die Weiterentwicklung ihrer Fragestellungen konstitutiv war. Keine der drei Persönlichkeiten beschränkte sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit auf »reine« Forschung oder hielt sich ausschließlich an universitären beziehungsweise akademischen Forschungsinstituten auf. Vielmehr demonstrieren ihre Berufswege sämtlich, dass Radioaktivitäts- und Kernforschung seit ihren Anfängen bis in die 1960erJahre hinein nicht in einer linearen Abfolge von »Grundlagenforschung«, Technologieentwicklung und »angewandter Wissenschaft« stattfand. Vielmehr standen bei allen drei Personen Fragestellungen, die sich auf weniger zweckgerichtete Naturerkenntnis richteten, und eher anwendungsbezogene Problemlösungen in einem stetigen dynamischen Wechselverhältnis zueinander.37 Schließlich unterstreichen die drei Biografien den Befund, dass österreichische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auf vielfältige Weise in das internationale Geschehen von Radioaktivitäts- beziehungsweise Kernforschung und Kernenergienutzung eingebunden waren und relevante, international anerkannte Beiträge dazu geliefert haben.
Denkstile und Praktiken Die im dritten Teil des Bandes versammelten Studien fragen im Rückbezug auf internationale Debatten und Entwicklungen nach möglichen Spezifika von Denkstilen und Praktiken in österreichischen Forschungszusammenhängen. Die ersten beiden Beiträge beschäftigen sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem »Wiener Indeterminismus«,38 dem erkenntnistheoretischen Credo des Exner-Kreises, das sich in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit dem Problem der Nicht-Berechenbarkeit des Radiumzerfalls gefestigt hatte.39 37 Erst kürzlich hat Shaul Katzir am Beispiel der Piezoelektrizitätsforschung auf dieses dynamische Verhältnis hingewiesen. Vgl. seinen Beitrag »Linear and quadratic models and the shaping of physics by technology from sonar to the quartz clock” sowie auch die anderen Beiträge zur Tagung »Anwendungsorientierung in der universitären Forschung. Historische Perspektiven auf eine aktuelle Debatte« am Münchener Zentrum für Wissenschafts- und Technikgeschichte, Tagungsbericht von Gregor Lax (http ://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3601 ; Zugriff : 6.4.2011). 38 Stöltzner 1999 und 2003. 39 Vgl. zu dieser »wissenschaftlichen Revolution« Renn 2007.
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In ihrem zuerst 2002 publizierten und hier in deutscher Übersetzung vorgelegten Beitrag geht Deborah R. Coen unmittelbar vom problematischen Material Radium aus.40 Sie rekonstruiert die internationale Debatte um das von Ernest Rutherford und Frederick Soddy 1902 formulierte Zerfallsgesetz und ordnet die von dem ExnerSchüler Egon von Schweidler 1905 als Berechnungsalternative formulierte probabilistische Gegenhypothese von den »Schwankungen der radioaktiven Umwandlung« darin ein. Nur wenige Jahre nach der Entdeckung des Radiums 1899 hatten sich nicht nur die europäischen und nordamerikanischen Zentren zu seiner Erforschung herausgebildet, auch die Nachfrage nach diesem als Therapeutikum hochgeschätzten Naturstoff war immens gestiegen. Beides ließ einen internationalen Standard der Radioaktivitätsmessung immer notwendiger erscheinen. Aber dessen Bestimmung erwies sich als tückisch. Alle Versuche, eine Naturkonstante des radioaktiven Zerfalls zu finden und zu berechnen, produzierten Unregelmäßigkeiten oder »Schwankungen«, die teils den jeweiligen Umweltbedingungen des Messortes, teils der Fehlerträchtigkeit der Messinstrumente beziehungsweise der Messmethoden zugerechnet wurden. Sie konnten aber auch durch veränderte Versuchsanordnungen nicht eliminiert oder hinreichend erklärt werden. Vielmehr förderten verfeinerte Messgeräte nur noch mehr Schwankungen zutage. In dieser verwirrenden Situation waren viele Physiker und Physikerinnen bereit, Schweidlers wahrscheinlichkeitstheoretischer Reinterpretation des Zerfallsgesetzes von Rutherford und Soddy zu folgen und seine Vorhersage zu prüfen, dass sich Schwankungen würden nachweisen lassen, die weder umweltbedingt noch Artefakte der Versuchsanordnungen, sondern dem Phänomen der Radioaktivität selbst inhärent seien. Allerdings begnügten sie sich, auch nachdem Hans Geiger in Manchester sowie Edgar Meyer und Erich Regener in Berlin 1908 experimentell die Zufälligkeit des α-Zerfalls bestätigt hatten, weitgehend mit einer pragmatischen Anwendung des Schweidler’schen Schwankungsgesetzes, um Durchschnittsabweichungen – egal ob artifiziell oder der radioaktiven Materie eigen – von einer weiterhin konstant gedachten Zerfallsrate zu prognostizieren und anhand dessen ihre Messgeräte zu eichen. Sie hatten, so spitzte es Erwin Schrödinger, ebenfalls ein Exner-Schüler, 1919 zu, die »fundamentale Erkenntnis des wahrscheinlichkeitstheoretischen Charakters der Zerfallskonstante« nicht verstanden.41 Das Problem, Unregelmäßigkeiten, die durch den Versuchsaufbau induziert waren, von natürlichen Schwankungen zu unterscheiden und diese zu isolieren, sowie die darüber hinausgehende Frage nach den Grenzen mechanischer Naturerklärungen und der Natur des Zufalls beschäftigten vor allem die Wiener Physiker des Exner-Kreises. 40 Coen 2002. 41 Schrödinger 1919, S.179 ; vgl. die Beiträge von Deborah R. Coen und Michael Stöltzner in diesem Band.
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Hier setzt der Beitrag von Michael Stöltzner ein. Er geht einen Schritt hinter Coens Frage, wie sich die wahrscheinlichkeitstheoretische Berechnung radioaktiver Zerfallsreihen in der internationalen »scientific community« durchsetzen konnte, zurück und untersucht die epistemologischen Bedingungen der Möglichkeit, die Inkonsistenz des Radiumzerfalls probabilistisch zu deuten. Diese Bedingungen erfüllte der Exner-Kreis, den Stöltzner als Denkkollektiv im Sinne Ludwik Flecks interpretiert. Ihm gehörte Schweidler ebenso an wie sein Kollege Marian von Smoluchowski, der zur gleichen Zeit, während jener sich mit den Schwankungen des radioaktiven Zerfalls beschäftigte, eine Erklärung der seit ihrer ersten Beschreibung von 1827 noch immer unverstandenen Brown’schen Molekularbewegung fand. Beide kombinierten explorative Experimentalstrategien mit statistischer Mechanik und profitierten dabei von einem dem Exner-Kreis eigentümlichen Denkstil. In diesem Stil verbanden sich Ludwig Boltzmanns Überlegungen zu einer statistisch-atomistischen Grundlegung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik mit Ernst Machs empiristischem Kausalitätsbegriff, der Naturgesetze auch dann als gültig anzuerkennen erlaubte, wenn sie nur phänomenologisch – insbesondere statistisch – festgestellt, aber nicht deterministisch auf einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zurückgeführt worden waren. Hinzu kamen Exners vielfältige experimentelle Forschungsinteressen, von denen sich mit der Radiumforschung und der Erforschung der Luftelektrizität mindestens zwei auf solche Phänomene richteten, in denen Schwankungen auftraten. Dieser Denkkontext erlaubte es Schweidler und Smoluchowski, die Vorstellung aufzugeben, dass jedes physikalische Phänomen letztlich auf einen konstanten Wirkmechanismus zu reduzieren sei. Er erleichterte es ihnen stattdessen, Schwankungen als per se natürliche und zufällige Phänomene anzuerkennen, deren tatsächliches Auftreten nur mehr wahrscheinlichkeitstheoretisch zu prognostizieren war. Umgekehrt untersetzten die Arbeiten der beiden Exner-Schüler die theoretische Debatte über die deterministischen oder aber atomistisch-statistischen Grundlagen der Physik mit konkreten Beobachtungen auf Basis explorativen Experimentierens und trugen so zur Konsolidierung des indeterministischen Denkansatzes im Kreis ihrer Kollegen bei. In dieser Kombination nahm der Exner-Kreis gewissermaßen die indeterministische Wende der Quantenmechanik um zwanzig Jahre vorweg.42 Luftelektrische Forschungen waren als solche kein Spezifikum der Physik in Österreich, sondern im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein Schwerpunkt des Kartells der deutschsprachigen Akademien und wurden europaweit von professionellen Physikern und Amateuren betrieben.43 In ihrer »alpinen« Ausprägung war ihnen jedoch ein 42 Vgl. Renn 2007. 43 Vgl. zur Geschichte der Erforschung kosmischer Strahlung Kragh 1996 ; De Maria/Ianniello/Russo 1990 ; Ziegler 1989.
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durchaus bemerkenswertes Lokalkolorit eigen. Alljährlich verbrachten zahlreiche Mitglieder des Exner-Kreises mit seinem Namensgeber an der Spitze ihre Aufenthalte in der Sommerfrische in den Bergen mit luftelektrischen Messungen, die sie später auswerteten und in den Sitzungsberichten der Wiener Akademie der Wissenschaften publizierten. Dabei entdeckten sie wie auch ihre Kollegen in anderen Ländern unerklärliche »Resteffekte« elektrischer Entladungen oder Ionisierungen, deren Herkunft man sich zunächst als Emanation der Erdkruste oder aus dem Weltall kommend vorstellte, sofern es sich nicht doch um eine Eigenschaft der Atmosphäre selbst handeln sollte. Die These von der Bodenemanation als Ursache hatte sich schon bald durch Messungen etwa auf dem Eiffelturm oder bei Ballonaufstiegen erübrigt : Die Strahlung ging mit zunehmender Entfernung vom Boden zwar zunächst etwas zurück, nahm dann aber wieder zu. Victor F. Hess, Stefan Meyers Assistent am Institut für Radiumforschung, registrierte bei seinen in den Jahren von 1911 bis 1913 durchgeführten riskanten Ballonaufstiegen einen neuartigen, mit zunehmender Entfernung von der Erdoberfläche stark ansteigenden Anteil an Strahlung, den er auf kosmischen Ursprung zurückführte und zunächst »Höhenstrahlung« nannte. Für diese Entdeckung wurde ihm 1936 der Nobelpreis verliehen – gemeinsam mit Carl David Anderson vom California Institute of Technology (Caltech) in Pasadena, der darauf aufbauend 1932 das Positron, das erste Beispiel von Antimaterie, in der kosmischen Strahlung nachgewiesen hatte. Mit dieser Preisverleihung wurde schließlich nicht nur die kosmische Strahlung als bedeutsames Forschungsfeld anerkannt, sondern auch ein jahrzehntelanger Prioritätsstreit entschieden. In den USA hatte man die europäischen, vor allem deutschsprachigen Publikationen zur Luftelektrizität und Höhenstrahlung kaum beachtet. Erst in den 1920er-Jahren begann sich Robert Andrews Millikan, Nobelpreisträger von 1923 und Andersons Chef am Caltech, mit kosmischen Strahlen zu beschäftigen. Sie firmierten in der amerikanischen Presse schon bald als »Millikan rays«, wogegen sich Hess und seine deutschen Mitstreiter heftig wehrten.44 Vanessa Cirkel-Bartelt untersucht am Beispiel dieses Forschungsfeldes, seiner Protagonisten Victor Hess, Marietta Blau und Hertha Wambacher sowie Stefan Meyer als Institutsleiter, wie sich wissenschaftliche Kooperation und Konkurrenz als Interaktionsformen zwischen Personen, Institutionen und Disziplinen darstellten und welche Faktoren eher die eine oder die andere Umgangsweise begünstigten. Ihr Beitrag zeigt, dass sich die beiden Formen kollegialen Umgangs keineswegs wechselseitig ausschlossen, sondern in ein und derselben Beziehung überlagern konnten. Kooperation – etwa Austausch von Publikationen, aber auch von Geräten, Überlassung von Forschungsmaterialien, Hilfestellungen bei der Durchführung von Experimentalserien im engeren 44 Bergwitz/Hess/Kolhörster 1928.
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Kollegenkreis, zwischen verschiedenen Forschungsinstituten und ebenso grenzüberschreitend, wechselseitige Zusicherung zukünftiger Zusammenarbeit – war dabei offensichtlich die zunächst selbstverständliche und wechselseitig erwartete Grundhaltung. Konkurrenz kam ins Spiel, wenn es um die Etablierung des eigenen Forschungsfeldes als neuer Disziplin oder Teildisziplin ging. Wenn man sich mit anderen Personen oder Institutionen auf demselben eng umrissenen Forschungsgebiet in direktem Wettlauf um noch zu erringende Ergebnisse sah, konnten zuvor selbstverständlich gewährte Unterstützungen versagt werden. Auch die nach dem Ersten Weltkrieg zunehmenden Probleme der Forschungsförderung förderten die Abgrenzung vor allem von Instituten im Wettstreit, sei es um knappe Mittel im nationalen Ressourcenzusammenhang, sei es international vor allem um Fördergelder der Rockefeller Foundation. Konkurrenz wurde am deutlichsten artikuliert, sobald es um Priorität, also um die individuelle Zurechnung wissenschaftlicher Leistungen und Entdeckungen ging, und zwar unabhängig davon, ob diese im eigenen Institut oder jenseits des Atlantiks infrage gestellt wurde. Überhaupt spielten nationale Zuordnungen oder nationalistische Argumente in den Konkurrenzstreitigkeiten der Höhenstrahlungsforscher und ihren wenigen Kolleginnen in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine erstaunlich geringe Rolle. Dies dürfte dem Katholiken Hess, den der »Anschluss« Österreichs an das »Dritte Reich« ins Exil trieb, die Fortsetzung seiner Arbeit an der jesuitischen Fordham University in New York erleichtert haben. »Atoms for peace« fanden ihren Weg ins Nachkriegsösterreich nicht in Gestalt von Atomkraftwerken, sondern in erster Linie als Radioisotope. Sie konnten, nachdem 1946 und 1949 die ersten Atomreaktoren in den USA und Großbritannien in Betrieb gegangen waren, in industriellem Maßstab hergestellt werden und suchten innerhalb der Grenzen des politischen Westens nach Märkten.45 Österreich, das sich auf sowjetischen Druck zur Neutralität verpflichtete, strebte gleichwohl die feste Bindung an den Westen an und fand in der Atompolitik einen geeigneten Ansatzpunkt – nicht nur mit der neutralitätskonformen Ansiedlung der IAEA in Wien, sondern auch mit der Nachfrage nach amerikanischen und britischen Isotopen sowie ihrer forcierten Anwendung in Industrie, Landwirtschaft, Medizin und Forschung. Es war, wie Alexander von Schwerin zeigt, dieser politische Druck, der den Radioisotopen den Weg nach Österreich bahnte. Wegen der vorhandenen natürlichen Strahlenquellen und des zwar – im Rahmen des »Uranvereins«– bestellten, aber im Krieg nicht mehr ausgelieferten Neutronengenerators hatte künstliche Radioaktivität in Österreich, anders als in Deutschland, bis Ende der 1940er-Jahre weder in der Wissenschaft noch in der Wirtschaft eine nennenswerte Rolle gespielt. Dann aber stieg die Nachfra45 Pilat 1985 ; Rheinberger 2001 ; Chernus 2002 ; Krige 2006b und 2006c.
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ge nach Radioisotopen rasch an – und zwar mit einer im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland und anderen Ländern eigentümlichen Schwerpunktsetzung. Die allermeisten Anforderungen kamen aus der Medizin, vor allem aus den Universitätskliniken, wo sie nicht nur therapeutisch und diagnostisch, sondern gelegentlich auch ohne therapeutische Absicht rein experimentell, also ethisch höchst fragwürdig, eingesetzt wurden. Auch einige Stahlunternehmen meldeten ihren Bedarf an starken Strahlenquellen für die zerstörungsfreie Werkstoffprüfung an. Anders als etwa in den USA, Großbritannien oder Westdeutschland blieb die Nachfrage nach Radioisotopen seitens der Industrie aber weit hinter der Medizin und sogar noch hinter den Anfragen aus Forschungsinstituten zurück. Im Unterschied zu diesen Ländern hielt sich auch die biologische und biochemische Forschung in Österreich, mit Ausnahme der Wiener Hochschule für Bodenkultur, völlig zurück. Eine Pionierrolle übernahm der aus britischer Emigration zurückgekehrte Radiochemiker und Molekularbiologe Engelbert Broda, der sich auf allen Ebenen für die Verbreitung der Isotopentechnik in Forschung und Industrie einsetzte. Tatsächlich mussten Wissenschaft und Wirtschaft erst nachdrücklich auf die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten dieser neuen Schlüsseltechnologie hingewiesen und Fachpersonal ausgebildet werden. Hier arbeiteten die Politik in Gestalt des Bundeskanzleramts und mehrerer Ministerien, die neben der Atomenergiekommission jeweils eigene Expertengruppen einrichteten, und die Wissenschaft in Gestalt des Instituts für Radiumforschung, das von einer Schaltstelle des Radiumexports zu einer des Isotopenimports mutierte, Hand in Hand. Berta Karlik wurde als Institutsleiterin eine zentrale Figur in dem sich immer weiter verzweigenden Netzwerk von Wissenschaft, Politik und Ökonomie, die gemeinsam, wenn auch nicht immer einmütig, das österreichische Atomprojekt betrieben. Sie blieb dies auch noch, als sich die Verteilung der Radioisotope und die Weiterentwicklung der Isotopentechnik auf die 1956 gegründete Österreichische Studiengesellschaft für Atomenergie und das Reaktorzentrum in Seibersdorf verlagert hatten und dort in Kooperation mit der Forschungseinrichtung der IAEA nach immer weiteren Anwendungsmöglichkeiten gesucht wurde, nicht zuletzt in der biologisch-agrarwissenschaftlichen Forschung und damit im Zentrum der Welternährungs- und Weltbevölkerungspolitik der 1950er- und 1960er-Jahre. Die Beiträge dieses letzten Teils beleuchten, wie auch die biografischen Studien, schlaglichtartig einige Inhalte und Gegenstände der Radioaktivitäts-, Kern- und Radioisotopenforschung, die in Österreich in den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts im Zentrum standen.46 Daraus lassen sich einige Forschungsperspektiven ablei46 Wichtige Bereiche wie etwa die radiochemischen Arbeiten von Georg von Hevesy und Friedrich Adolf Paneth, die zur Entwicklung der Tracermethode führten, die Ermittlung von Absorptionswirkungsquer-
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ten, deren Weiterverfolgung sich lohnt : In mehreren Beiträgen wurde deutlich, wie hoch der Anteil der Bereitstellung, Verwaltung, Verteilung und Kontrolle der radioaktiven Materialien, insbesondere die Aufsicht über den Wiener Radiumstandard und später die Allokation der Radioisotope an der alltäglichen Arbeit im Institut für Radiumforschung war. Dieser Komplex nahm erhebliche Zeit und Arbeitskapazität in Anspruch, brachte aber auch Ressourcenzuflüsse in Form von Austauschpräparaten, Verkaufserlösen und nicht zuletzt renommierten forschenden Gästen. Zugleich band er das Institut für Radiumforschung in besonderer Weise an die politischen und ökonomischen Konjunkturen radioaktiver Stoffe. Diese Material- und Kontextgebundenheit hinterließ deutliche Spuren im wissenschaftlichen Selbstverständnis der beteiligten Forscherinnen und Forscher vor Ort und beeinflusste die Konturierung der kernphysikalischen Forschungsfragen, die in den verschiedenen historischen Epochen in Österreich verfolgt wurden. Das Materialmanagement eröffnete Forschungsraum und vereinnahmte ihn zugleich – in zeitlicher und kapazitiver ebenso wie in Erkenntnis generierender Hinsicht. Über die hier präsentierten Beispiele hinaus wäre also Folgendes zu fragen : Welche forschungspraktischen und epistemischen Konsequenzen hatte die je spezifische Art und Weise, in der Administration, Erforschung und Nutzung von Strahlungsquellen beziehungsweise von Kernenergie spätestens mit Beginn des Zweiten Weltkriegs national organisiert wurden ?47 Welche Chancen bot die je national gewirkte Verflechtung von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft den beteiligten Akteuren und mit welchen Einschränkungen mussten sie sich auseinandersetzen ? Ein weiterer damit korrespondierender Befund durchzieht ebenfalls eine Reihe von Beiträgen : Die Erforschung von Radioaktivität und Kernzerfällen als natürlichen Phänomenen und die Nutzung von radioaktiven Strahlen, Kernteilchen und Kernenergie für industrielle oder medizinisch-therapeutische und -diagnostische Zwecke sowie als Instrumente in kernphysikalischen oder auch anderen wissenschaftlichen Versuchsanordnungen ließen sich nicht säuberlich voneinander trennen. Weder beschränkten sich die hier präsentierten Forscher und Forscherinnen berufsbiografisch auf das eine oder das andere, noch ließen sich die Forschungsfelder, die sie jeweils bearbeiteten, eindeutig dem gemeinhin dichotomisch gesetzten Begriffspaar von »Grundlagenforschung« oder »angewandter Forschung« zuordnen. Diesen engen Zusammenhang von Erforschung und Nutzung von radioaktiver Strahlung und Kernenergie gilt es ernst zu nehmen. Er ist, davon darf mit Sicherheit ausgegangen werden, keine spezifisch österreichische schnitten schneller Neutronen in den Jahren des Zweiten Weltkriegs oder die in Kooperation mit der europäischen Kernforschungsorganisation CERN durchgeführten Arbeiten seit Ende der 1950er-Jahre konnten hier nicht behandelt, andere nur angerissen werden. 47 Vgl. Pestre 1997 und 2003 sowie weitere Beiträge in Krige/Pestre 1997.
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Erscheinung. Er könnte aber in einem kleinen Land mit geringeren personellen, infrastrukturellen und institutionellen Forschungsressourcen deutlicher oder zumindest anders ausgeprägt sein als bei einer atomaren Supermacht wie den USA oder auch nur einer Atommacht mittlerer Größe wie etwa Frankreich mit jeweils anderen Möglichkeiten der infrastrukturellen Differenzierung und Diversifizierung ihrer Forschungslandschaften.48 Jedenfalls fordert dieser Befund dazu auf, die Schnittstellen von universitärer, außeruniversitär-akademischer und industrieller Forschung in Österreich genauer sowohl im internationalen Vergleich als auch in ihren transnationalen Verbindungen zu untersuchen. Insbesondere gilt es für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zu eruieren, ob und in welcher Weise sich diese Schnittstellen mit dem Aufbau europäischer Großforschungseinrichtungen, insbesondere der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN), der Österreich 1959 beigetreten ist, verschoben haben.49 Ein dritter Befund, der aus allen Beiträgen gespeist wird, sei abschließend hervorgehoben. Radioaktivitäts- und Kernforschung waren wie wohl kaum ein anderer Forschungsbereich in Österreich von Beginn an international vernetzt. Diese Vernetzung bestand nicht nur aus dichten wissenschaftlichen Kommunikationsflüssen, internationalen Konferenzen und Professionsverbänden. Vielmehr hatte sie mit dem zeitweiligen Radiummonopol und der dauerhaften Verwaltung des Wiener Radiumstandards eine solide materielle Basis, die allen politischen und ökonomischen Erschütterungen, denen die internationalen wissenschaftlichen Beziehungen in den Kriegen und Diktaturen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgesetzt waren, standhielt. In Friedenszeiten kam eine grenzüberschreitende Mobilität vor allem der jüngeren Wissenschaftlergenerationen hinzu, an der die »invisible school« der Frauen im Feld der Radioaktivitätsforschung einen hohen Anteil hatte. Diese transnationale Mobilität brachte zahlreiche Gäste nach Österreich, vor allem an das mit dem begehrten Rohstoff gut ausgestattete Institut für Radiumforschung, aber sie führte auch österreichische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in die anderen europäischen und amerikanischen Forschungszentren ; längst nicht alle wissenschaftlichen Migrationen aus Österreich heraus waren politischen und rassistischen Säuberungen geschuldet. Einige der prominenteren österreichischen Forscher und Forscherinnen, aber keineswegs alle, wechselten wie Georg von Hevesy, Friedrich Adolf Paneth, Hess, Blau oder auch Schmid bereits vor 1938 ihre Forschungsstandorte mehrfach ; manche nahmen längerfristige berufliche Positionen in verschiedenen Ländern wahr, ohne den Kontakt zu den Kollegen in Österreich aufzugeben. Inwieweit die anderenorts gewonnenen Einblicke in differente Arbeitsstile, Methoden und Fragestellungen zurücktransferiert und an den 48 Gaudillière 1998. 49 Zur Geschichte des CERN vgl. Hermann/Krige/Mersits/Pestre 1987 und 1990 ; sowie Krige 1996.
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österreichischen Forschungsstandorten rezipiert wurden, wäre noch genauer zu untersuchen. Soviel kann angesichts der teils erbittert geführten Prioritätsstreitigkeiten – etwa zwischen Hess und Millikan oder später zwischen Blau und Wambacher – festgehalten werden : Forschungsergebnisse oder Entdeckungen lassen sich bei näherem Hinsehen selten einer einzelnen Person oder einem einzigen Team und auch nicht immer einem bestimmten Forschungsstandort zuordnen. Prioritätszuschreibungen und die damit verbundene internationale wissenschaftliche Anerkennung folgten eigenen, je historisch spezifischen Regeln von Macht, Dominanz und Hierarchie. In ihrer engen Verknüpfung mit den Regeln der überwiegend nationalen Forschungs- und Karriereförderung stellt internationale Anerkennung indessen ein Wissenschaftspolitikum ersten Ranges dar, das entscheidend beeinflusst, welche Forschungen an welchem Ort stattfinden und welche nicht. Internationale Vernetzung spielte nicht zuletzt dort eine große Rolle, wo es um die industrielle Produktion und Vermarktung von radioaktiven Stoffen sowie die Entwicklung von marktfähigen Technologien zu ihrer Nutzung ging – und zwar, wie das Beispiel Auer von Welsbachs zeigt, von Beginn an. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren kernphysikalische Forschung, Entwicklung und Vermarktung von Reaktortechnologie, Nutzung von Kernenergie angesichts der Größenordnung der aufzuwendenden Mittel und der politisch-militärischen Bedeutung im Kalten Krieg gar nicht anders als in einem internationalen politischen Rahmen und mit Blick auf den internationalen Markt denkbar – zumal nicht für die kleineren europäischen Länder.50 Österreichischen Politikern, Unternehmern und Wissenschaftlern ist es gelungen, sich nicht nur in die internationale Atompolitik sowie die Kernenergie- und Reaktorwirtschaft, sondern auch in die europäische Großforschung einzufädeln – und zwar so nachhaltig, dass der 1978 postulierte Ausstieg aus der Kernenergie der kernphysikalischen Forschung in Österreich nichts anhaben konnte. Der im Mai 2009 vom zuständigen Bundesministerium dekretierte Austritt aus dem CERN konnte nach nur zwölf Tagen abgewendet werden – dank einer konzertierten Aktion der internationalen »scientific community«, der einschlägig mit der europäischen Kernforschungseinrichtung verflochtenen Wirtschaftsgruppen und einer erstaunlich breiten, an letzten universalen Ursprungsfragen interessierten Öffentlichkeit.51 Für eine zeithistorische Wissenschafts50 Krige 1997 ; Wittje 2007 ; Simon/Herran 2008. Zur Integration der westdeutschen in die europäische Kernforschung vgl. Eckert 1990. 51 Vgl. die ausführliche Berichterstattung über den »Rücktritt vom Austritt« aus dem CERN in der österreichischen Presse vom 8.5.2009 bis 25.5.2009, besonders im Standard vom 19.5.2009, 20./21.5.2009 (Zitat) und 23./24.5.2009 sowie die Website »SOS – Save Our Science« des Fachausschusses Kern- und Teilchenphysik in der Österreichischen Physikalischen Gesellschaft (http ://sos.teilchen.at/ ; Zugriff : 28.4.2011).
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forschung, die das Zusammenspiel von Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur im internationalen Kontext aufklären will, bietet der österreichische Fall eine Fülle von Ansatzpunkten.
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Vom Rohstofflieferanten zum Forschungsstandort : Die frühe österreichische Radioaktivitätsforschung Beate Ceranski, Stuttgart
Österreich spielte in der frühen Radioaktivitätsforschung eine merkwürdig ambivalente Rolle. Einerseits kam der Rohstoff aller Radiumherstellung jahrelang ausschließlich aus der österreichisch-ungarischen Monarchie, und hier entstand mit dem Wiener Institut für Radiumforschung eines der ersten und wichtigsten auf Radioaktivität spezialisierten Forschungsinstitute der Welt. Andererseits sind die für unser Weltbild wesentlichen Entdeckungen – die radioaktiven Substanzen selbst, das Zerfallsgesetz oder Instrumente wie der Geigerzähler – mit französischen, angelsächsischen oder, seltener, deutschen Namen verbunden, kaum aber mit österreichischen. In einer auf die Geschichte der ›großen‹ Entdeckungen fokussierten Darstellung taucht Österreich praktisch nicht auf. Wie also lässt sich die österreichische Radioaktivitätsforschung charakterisieren und in ihrer Bedeutung angemessen beschreiben ? Dies für die Frühzeit des Forschungsgebietes bis zum Ersten Weltkrieg zu klären, ist Anliegen des folgenden Beitrags. Methodisches Herzstück ist ein arbeitsgeschichtlicher Ansatz, der die Tätigkeit der historischen Akteurinnen und Akteure zum Ausgangspunkt der Analyse nimmt. Dabei werden einerseits solche auf die Radioaktivität bezogenen Handlungen berücksichtigt, die in Publikationen mündeten und demnach durch deren Sichtung untersucht werden können. Andererseits werden Aktivitäten untersucht, die als Routine- oder Servicetätigkeiten keine Spuren in Form von wissenschaftlichen Büchern oder Aufsätzen hinterließen, so dass sie nur über andere Quellenarten, insbesondere Korrespondenzen, erschlossen werden können. Diese Arbeiten wurden sowohl innerhalb der ›scientific community‹ als auch für andere Ansprechpartner, etwa staatliche Stellen, ausgeführt und können mit dem Begriff der wissenschaftlichen Dienstleistung gefasst werden. Eine dritte Gruppe von Aktivitäten bilden schließlich Lehrtätigkeiten in Vorlesung, Praktikum und Promotionsbetreuung, die durch entsprechende Verzeichnisse erschlossen werden können. In diesem Aufsatz liegt der Schwerpunkt auf der Forschungs- und Lehrtätigkeit in der Radioaktivitätsforschung an österreichischen Hochschulen, Letzteres vor allem im Hinblick auf die besondere Bedeutung Wiens mit den zahlreichen hier entstandenen Doktorarbeiten. Die angesprochenen Dienstleistungen der Radioaktivisten und -aktivistinnen1 werden abschließend anhand einer Person in den Blick genommen, mit der 1
Diese Bezeichnung verwende ich in Anlehnung an zeitgenössische Termini sowie an Jeff Hughes (Hughes
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Beate Ceranski
sich dieses Themenfeld besonders gut erschließen lässt. Dem Wiener Physiker Stefan Meyer oblagen nämlich als zentraler Figur der österreichischen Radioaktivitätsforschung eine Fülle von Pflichten gegenüber verschiedenen staatlichen und wissenschaftlichen Akteuren, die ein entsprechendes Spektrum an Tätigkeiten mit sich brachten. Da zu Meyer bereits wissenschaftshistorische Forschungen vorliegen,2 geht es hier um eine knappe strukturelle Analyse aus arbeitsgeschichtlicher Perspektive.
Der prosopografische Ansatz Meinem Beitrag liegt eine prosopografische Studie der deutschsprachigen Radioaktivitätsforschung zu Grunde, in der die Lehrtätigkeit und die Publikationen der deutschsprachigen Forscher und Forscherinnen bis 1914 ausgewertet wurden. Sie basiert auf einer Datenbank aller Publikationen deutschsprachiger Radioaktivitätsforscher und -forscherinnen bis 1914, die in der zeitgenössischen Fachbibliografie des Jahrbuchs für Radioaktivität und Elektronik aufgeführt sind. Diese stellt die umfassendste und kontinuierlichste Bibliografie zur Radioaktivitätsforschung dar, freilich unter Ausschluss der biologisch-medizinischen Forschungsrichtung. Verantwortet wurde sie vom Herausgeber des Jahrbuchs, dem Physiker Johannes Stark, der sich seit Anfang 1903 für die Verbreitung der Radioaktivitätsforschung, insbesondere der Zerfallstheorie, einsetzte. Aufgeführt sind dort insgesamt 787 Arbeiten aus den Jahren zwischen 1896 und 1914, die von deutschsprachigen Forscherinnen und Forschern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz verfasst wurden.3 Der prosopografische Ansatz öffnet die Augen für solche Arbeiten, die zeitgenössisch sehr wohl wahrgenommen wurden, in der Geschichtsschreibung aber unbehandelt und damit ›unsichtbar‹ geblieben sind, da sie aus heutiger Sicht nebensächliche Themen betrafen. Er befreit also den Blick von der teleologischen Perspektive, die nur diejenigen wissenschaftlichen Tätigkeiten der Vergangenheit wahrnimmt, die im Nachhinein als Teil von wissenschaftlichen Durchbrüchen erscheinen, und die damit einen großen Teil der wissenschaftlichen Arbeit ignoriert. Genau dies ist das Anliegen meines arbeitsgeschichtlichen Zugriffs.
2 3
1993) für diejenigen, die sich mit dem Phänomen der Radioaktivität in Forschung, Lehre und/oder Dienstleistung beschäftigten. Vgl. Reiter 2001. Die Bibliografie war international ausgerichtet ; es werden jedoch für die Zwecke dieses Beitrags nur die deutschsprachigen Publikationen berücksichtigt. Zu den Details der Datenauswahl und Datenaufbereitung vgl. Ceranski (im Erscheinen).
Vom Rohstofflieferanten zum Forschungsstandort : Die frühe österreichische Radioaktivitätsforschung
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Unter den in der Bibliografie des Jahrbuchs für Radioaktivität und Elektronik verzeichneten Beiträgen finden sich nicht nur die zu erwartenden Publikationen über die Eigenschaften radioaktiver Strahlen und Stoffe, über ihre Umwandlungsbeziehungen untereinander oder ihre Herstellung und Wirkung. Mit immerhin einem Fünftel aller publizierten Arbeiten ist auch ein aus heutiger Sicht unerwarteter Themenbereich vertreten : die Radioaktivität der Umwelt. Die Luftelektrizitätsforschung des beginnenden 20. Jahrhunderts etwa erhoffte sich von der Radioaktivitätsforschung Aufschluss über die Herkunft geladener Teilchen in der Atmosphäre und sah sich bestätigt, als in der Luft radioaktive Substanzen nachgewiesen wurden. Da viele prominente Heilquellen sich als (schwach) radioaktiv erwiesen und ihr Gehalt an Radiumemanation – so der zeitgenössische Begriff für das Edelgas Radon in der Radiumzerfallsreihe – als gesundheitsfördernd betrachtet wurde, fanden in vielen Regionen Deutschlands und Österreichs regelrechte Durchmusterungen statt. Auch die Radioaktivität von Erdboden, Schnee oder Gesteinen war von Interesse. Diese Themengebiete der Umwelt-Radioaktivität finden sich auch in der österreichischen Radioaktivitätsforschung. Überblick und Periodisierung der österreichischen Radioaktivitätsforschung Die Geschichte der österreichischen Radioaktivitätsforschung beginnt, und das mag man für bezeichnend halten, mit der Verwaltung von Ressourcen. Das Ersuchen des französischen Physikers Pierre Curie um die Lieferung – immer größerer Mengen – von Produktionsrückständen aus der Uranproduktion in St. Joachimsthal wurde vom Ackerbauministerium, das für den Bergbau zuständig war, an den Wiener Physiker Franz Serafin Exner sowie an den Sekretär der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) Viktor von Lang für eine Stellungnahme weitergeleitet.4 Bekanntlich wurden die französischen Gesuche gewährt, und als Pierre Curie – gewissermaßen als Abtragung der Dankesschuld gegenüber der Akademie – 1899 ein erstes Radiumpräparat nach Wien übersandte, lag die Radioaktivität als Forschungsfeld buchstäblich vor der ÖAW. Ich interpretiere die Übersendung der Proben ebenso wie den Briefwechsel zwischen der Akademie und Pierre Curie (der die Außenkontakte des Ehepaares unter alleinigem Namen pflegte) als Patronagebeziehung von Geben und Nehmen. Die Wiener Physiker nutzten ihrerseits die Dankesschuld, unter der die Curies standen, um immer wieder neue Proben zu erhalten.5 Die jungen Wiener Physiker Stefan Meyer 4 5
Vgl. Karlik/Schmid 1982, 88–92. Vgl. Bibliotèque Nationale de France, N.A.F. 18434, f. 50 und 51, Boltzmann an Pierre Curie vom 20. 12.1899 und 8.1.1900.
52
Beate Ceranski
und Egon von Schweidler aus dem Schülerkreis Exners führten Ende 1899 die ersten österreichischen Forschungen zur Radioaktivität durch ; sie arbeiteten einerseits mit dem Curie’schen Material, andererseits mit geliehenen Präparaten des Braunschweiger Chemikers Friedrich Giesel.6 Nach diesen ersten Wiener Arbeiten, vor allem zur Ablenkbarkeit von β-Strahlen im Magnetfeld, wurde es in Österreich zunächst ruhig um die Radioaktivität. Zwischen 1900 und 1904 sind insgesamt weniger als ein halbes Dutzend Publikationen zu verzeichnen.7 Auf Antrag Exners setzte die ÖAW im Juni 1901 zwar eine Kommission ein, um »den Anstoß zu einem intensiveren Studium der Radium und Polonium enthaltenden Präparate [zu] geben«.8 Diese wurde allerdings nicht in der wissenschaftlichen Bearbeitung des Feldes aktiv. Eine durchschlagende Wirkung auf die Geschichte der gesamten Radioaktivitätsforschung übte sie jedoch aus, als sie wenige Jahre später angesichts immer höherer Materialnachfragen aus Frankreich und Deutschland darauf drang, die Erzrückstände in Österreich selbst auf Radium zu verarbeiten. Der nun als nationale Ressource begriffene, weltweit nachgefragte Ausgangsstoff der Radiumgewinnung sollte im eigenen Land bleiben. Die daraufhin von 1904 bis 1907 durchgeführte Aufarbeitung von 10.000 Kilogramm Pechblende-Rückständen bescherte der ÖAW nicht nur die damals größte existierende Menge Radium, sondern führte auch dazu, dass praktisch keine Rückstände und auch keine Pechblende mehr aus Österreich ausgeführt wurden. Allein Marie und Pierre Curie behielten ihre privilegierte Stellung und bezogen auch nach dem Beginn der staatlichen österreichischen Radiumproduktion noch Material aus St. Joachimsthal. Die Landschaft der Radioaktivitätsforschung veränderte sich damit nachhaltig.9 Gleichzeitig setzte in Österreich 1904 auf mehreren Feldern der Radioaktivitätsforschung verstärkte Aktivität ein : Heinrich Mache begann in Zusammenarbeit mit Meyer eine systematische Untersuchung österreichischer Thermalwässer auf ihren Radium(emanations)gehalt, Meyer und Schweidler legten der ÖAW nach vierjähriger Pause wieder eine gemeinsame Arbeit vor, und führende Wissenschaftler aus der Akademie, unter ihnen der Präsident und Geologe Eduard Suess, untersuchten die geologische Situation um St. Joachimsthal. An der Universität Wien hielt Schweidler zudem im Wintersemester 1904/05 die erste Vorlesung über Radioaktivität. Die Jahre 1899 und 1904 markieren demnach bedeutende Zäsuren, die zeitgleich zu den Entwicklungen in anderen Ländern liegen. Während 1899 die ersten Präparate 6 7 8 9
Vgl. zu Giesel Fricke 2001, speziell 104 zu der nicht reibungsfreien Beziehung zwischen Giesel einerseits und Meyer und Schweidler andererseits. Für eine Zusammenstellung der österreichischen Publikationen zur Radioaktivität vgl. Meyer 1909. Archiv der ÖAW, Sitzungsprotokoll der mathematisch-naturwissenschaftlichen Classe vom 20.6.1901. Vgl. dazu Ceranski 2008.
Vom Rohstofflieferanten zum Forschungsstandort : Die frühe österreichische Radioaktivitätsforschung
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der Curies und Friedrich Giesels auf Tagungen gezeigt wurden und damit das Interesse am Thema belebten, brachte das Jahr 1903 mit zwei aufsehenerregenden experimentellen Ergebnissen und dem Nobelpreis für Henri Becquerel und die Curies den Durchbruch sowohl im öffentlichen Bewusstsein als auch in naturwissenschaftlichen Fachkreisen.10 Von dieser Zeit an blieb die österreichische Radioaktivitätsforschung kontinuierlich vertreten und erhielt mit der Etablierung des Instituts für Radiumforschung ab 1910 eine eigene institutionelle Basis. Die Einrichtung der Kommission für Radiumforschung an der ÖAW 1901, zu der es, anders als etwa im Fall der luftelektrischen Forschung, an keiner deutschen Akademie eine Parallele gab, verdeutlicht, wie sehr die österreichische Situation trotz paralleler chronologischer Verläufe in anderen Ländern schon vom Jahrhundertbeginn an durch das Verfügungsmonopol über den Rohstoff der Radiumgewinnung geprägt war. Das weltweit einzigartige Institut für Radiumforschung wurde der wohl sichtbarste Ausdruck dieser Sonderstellung.
Wien als Ort der Forschung zur Radioaktivität Ohne Zweifel stellte Wien nicht nur für Österreich, sondern auch im Rahmen der gesamten deutschsprachigen Radioaktivitätsforschung ein bedeutendes Zentrum dar. Gemeinsam mit Berlin nahm es im hier betrachteten Zeitraum bis 1914 die führende Stellung ein. Für beide Städte lassen sich jeweils rund 30 Radioaktivisten und Radioaktivistinnen nachweisen, die dort für kürzere oder längere Zeit Radioaktivitätsforschung betrieben. Zusammengenommen entfällt auf Autorinnen und Autoren aus den beiden Hauptstädten mit 272 von 787 Publikationen mehr als ein Drittel aller deutschsprachigen Publikationen zur Radioaktivitätsforschung. Die Anteile der beiden Hauptstädte sind fast exakt gleich groß : Auf Berlin (135 von 787) und Wien (137 von 787) entfallen je 17 Prozent aller deutschsprachigen Publikationen. Mit dieser quantitativen Parallelität kontrastiert die inhaltliche Verschiedenartigkeit der Forschung in den beiden Metropolen umso stärker. Wie die folgende Tabelle zeigt, unterscheiden sich die thematischen Profile der Arbeiten in Wien und Berlin deutlich voneinander und auch von der Grundgesamtheit aller deutschsprachigen Publikationen.
10 Ausführlich dazu Ceranski (im Erscheinen), Kap. 1.
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Beate Ceranski
Thematische Verteilung der Publikationen aus Berlin und Wien
Allgemeines und Theoretisches
Berlin
Berlin, in %
Wien
Wien, in %
allea, in %
41
30,4
39
28,5
30,7
Anwendung
–
–
1
0,73
0,89
Darstellung
1
0,74
6
4,38
1,90
Instrumente
3
2,22
5
3,65
3,30
physiologische Wirkung
1
0,74
1
0,73
1,02
Strahlen
27
20,0
15
10,9
12,5
Substanzen
41
30,4
29
21,2
22,1
radioaktive Umwandlungen
9
6,67
9
6,57
3,81
Wirkungen der Radioaktivität
4
2,96
6
4,38
4,96
Radioaktivität der Luft
2
1,48
11
8,03
4,70
Radioaktivität von Wässern
–
–
14
10,2
8,13
übrige Umwelt-Radioaktivität
6
4,44
6
4,38
5,97
gesamte Umwelt-Radioaktivität
8
5,92
31
22,6
18,8
135
100
137
100
100
Spaltensumme
a
Alle Publikationen deutschsprachiger Autoren und Autorinnen im oben beschriebenen Sinn zwischen 1896 und 1914.
Besonders markant stellt sich die Situation bei der Radioaktivität in der natürlichen Umwelt dar. Während die Untersuchungen zur Radioaktivität von Luft und Wässern zusammengenommen in Wien 18,5 Prozent ausmachen (11 und 14 Publikationen), sind es in Berlin nur zwei Publikationen, das entspricht 1,5 Prozent. Zum einen waren im Deutschen Reich die Wasseruntersuchungen eine Angelegenheit der Einzelstaaten, und auf preußischem Gebiet gab es im Gegensatz zu Österreich keine ausgeprägte Bäder- und Thermenlandschaft ; Wasseruntersuchungen müssen wir also an anderen Standorten, etwa in Sachsen oder Baden suchen. Zum anderen zeigt sich hier der Einfluss der luftelektrischen Forschung, die in Wien mit Exner einen ihrer international profiliertesten Vertreter hatte, in Berlin hingegen keine institutionelle Heimat besaß. In der besonderen Wiener Kompetenz im Bereich der Messung der Luftelektrizität wurzelten auch die Forschungen von Victor Franz Hess, dem langjährigen Assistenten am Institut für Radiumforschung, die zur Entdeckung der Höhenstrahlung führten und ihm 1936 den Nobelpreis für Physik einbrachten.11 Strukturell stellte Wien für Österreich in ungleich stärkerem Maße als Berlin für das Deutsche Reich das nationale Zentrum für die Radioaktivitätsforschung dar. Während 11 Vgl. den Beitrag von Vanessa Cirkel-Bartelt in diesem Band.
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die Zahl der Publikationen zur Radioaktivität aus dem Deutschen Reich, wenn man Berliner Autoren und Autorinnen komplett ausschließt, immer noch über 400 liegt, wurden in Österreich außerhalb Wiens lediglich rund 40 Arbeiten publiziert.12 Im Deutschen Reich wurden also außerhalb der Hauptstadt rund dreimal so viele Publikationen erarbeitet wie in der Hauptstadt selbst ; genau umgekehrt wurden in Österreich dreimal so viele Arbeiten in der Hauptstadt publiziert wie im ganzen Rest des Landes. Alle wichtigen österreichischen Radioaktivisten und Radioaktivistinnen waren früher oder später in Wien tätig, und die meisten von ihnen für die längste Zeit ihres Lebens.13 Diese – über den Untersuchungszeitraum hinaus gültige – Struktur verdeutlicht die enorme Sogwirkung, die Wien als wissenschaftliches Zentrum für Österreich besaß. Auch wenn Berlin in den Jahrzehnten vor und nach 1900 einen ungeheuren Aufschwung erlebte, konnte es angesichts der anderen politischen Struktur und Geschichte des Deutschen Reiches eine vergleichbare Bedeutung als Zentrum zu keiner Zeit einnehmen. Betrachtet man speziell diejenigen Wiener Publikationen, die von Wissenschaftlern der Technischen Hochschule (TH) veröffentlicht wurden, so wird der Bezug zur Radioaktivität der natürlichen Umgebung noch deutlicher : Von den 19 Veröffentlichungen der an der TH angestellten Radioaktivisten betreffen sechs die Radioaktivität der Wässer, drei die von Gesteinen und zwei Publikationen von Mache14 die durchdringende (γ-)Strahlung in der Atmosphäre.15 Die Erforschung der γ-Strahlung in der Atmosphäre, die zur Entdeckung der Höhenstrahlung führte, wurde in Wien in verschiedenen institutionellen Kontexten betrieben und schloss an die starke lokale Tradi12 Die Zahl für das Deutsche Reich ist nach unten korrigiert, denn Arbeiten von Berliner Autoren und Autorinnen habe ich nicht mitgezählt, auch wenn sie vor bzw. nach deren Berliner Zeit entstanden bzw. publiziert wurden (und deshalb auch nicht für Berlin mitgezählt wurden). Deswegen ergänzen sich die genannten Zahlen auch nicht zum Gesamtwert von 787, sondern liegen darunter. Wichtig ist hier jedoch nicht der exakte Zahlenwert, sondern die Relationen der Zahlen zueinander. 13 Als weiterer wichtiger Standort ist lediglich Innsbruck zu nennen. 14 Mache wirkte zwar nach einem zweijährigen Gastspiel an der Universität Innsbruck ab 1908 an der TH Wien ; die gemeinsam mit Meyer durchgeführten Untersuchungen der niederösterreichischen Thermalquellen datieren aber aus seiner Zeit an der Universität Wien vor dem Innsbruck-Intermezzo. 15 Wegen der kleinen Zahlen verbietet sich eine statistische Auswertung ; dennoch ist die Themenverteilung instruktiv. Eine Publikation beschäftigt sich mit der Darstellung des Radiums aus Pechblende und ist demnach eine für Österreich standortspezifische, anwendungsorientierte Arbeit, wie sie in ähnlicher Form in Wien auch an der Universität durchgeführt wurde. Von den drei Arbeiten der allgemeinen Rubrik behandeln zwei die Schaffung eines Radiumstandards und demnach auch ein Thema von gleichermaßen praktischer und theoretischer Relevanz. Bleiben noch vier Arbeiten aus der Rubrik Experiment/ Instrument. Drei davon (von Mache und einem Mitarbeiter) beschreiben die Messanordnung für eine Präzisionsmessung der Radiumemanation und die vierte das von Mache entwickelte Verfahren für die Messung der Radioaktivität von Wässern.
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tion in der Erforschung der Luftelektrizität an. Den Chemiker Max Bamberger hingegen, der innerhalb der Radioaktivitätsforschung ausschließlich Wasseruntersuchungen durchführte, kann man als einen Repräsentanten der ›Wasser-Radioaktivisten‹ einordnen. So bezeichne ich solche Forscher, die sich bezüglich der Radioaktivität ausschließlich mit Wässern beschäftigten und nicht immer große Fachkompetenzen über Radioaktivität besaßen. Da die Wasseruntersuchungen ab 1904 außerordentlich populär waren, als alle Welt auf eine eigene starke Quelle hoffte, und dank kommerziell erhältlicher Messapparaturen einschließlich rezeptartiger Anleitungen auch ohne tieferes Verständnis des Gesamtgebietes durchgeführt werden konnten, hatte dieses Teilgebiet der Radioaktivitätsforschung eine besondere Akteurstruktur. Bamberger hatte 1896 bis 1898, kurz nach dessen Entdeckung, das Vorkommen von Argon in mehreren österreichischen Quellen nachgewiesen ; dass er später Quellwässer auf Radiumemanation (deren chemische Natur als radioaktives Edelgas seit 1903 feststand) untersuchte, ist vor diesem Hintergrund gut nachvollziehbar. Die für die Wasseruntersuchungen typische geographische Verbindung bestand in seinem Fall nicht in der Nachbarschaft seines Dienstortes zu den Quellen, sondern in heimatlicher Verbundenheit : Der Chemiker stammte aus Tirol, und die »Untersuchung der Heilquellen seiner Heimat, besonders auch bezüglich ihrer Radioaktivität« wird im Nachruf neben den Harzforschungen als wichtigstes Arbeitsgebiet genannt.16 Unter den Wasser-Radioaktivisten ragt Bamberger dadurch hervor, dass er sich, wenn auch in einer Arbeitspartnerschaft, nicht nur mit Messungen, sondern auch mit Messmethoden beschäftigte. Als Mache das Physik-Ordinariat an der TH Wien erhielt, fanden er und Bamberger sich zu einer groß angelegten physikalisch-chemischen Untersuchung der Gesteine und Quellen des Tauerntunnels zusammen, die in dieser Form nur mit physikalischen und chemischen Kompetenzen durchführbar war. Das gemeinsame Forschungsprojekt, dessen Ergebnisse 1914 in einer knapp 100 Seiten umfassenden Publikation vorgelegt wurden, begleitete den Bau des Tunnels und zog sich über mehr als fünf Jahre hin.17 Die beiden Professoren der TH Wien entwickelten für die sehr schwach radioaktiven Präparate aus pulverisierten und aufgelösten Gesteinsproben eine neue Messmethode mittels Radiumnormallösungen, die sich in dieser Zeit auch bei der Eichung schwach radioaktiver Präparate an den nationalen Eichlaboratorien für Radioaktivität etablierte. Mache hatte in seiner Wiener Zeit mit Stefan Meyer früh Kompetenzen für Wassermessungen erworben ; mit dem an der Radioaktivität 16 Nachruf auf Max Bamberger, 178. Eine analoge heimatliche Verbindung findet sich auch bei mehreren deutschen Chemikern. Bambergers Publikationen beschäftigten sich sonst schwerpunktmäßig mit der Chemie natürlicher Substanzen, namentlich der Harze und einiger pflanzlicher Stoffe. 17 Mache/Bamberger 1914.
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interessierten Kollegen aus der Chemie ergab sich nun eine kongeniale Zusammenarbeit. Bamberger ›vererbte‹ sein Interesse an der Radioaktivität an seinen Schüler Georg Weissenberger, der als Assistent an der Tauerntunneluntersuchung mitgewirkt hatte. Dieser machte die Untersuchung von Gesteinen und Quellsedimenten zu seinem Arbeitsgebiet in der Radioaktivitätsforschung. Insgesamt kann man die an der TH Wien durchgeführten Arbeiten in ihrer Konzentration auf Messmethoden und die damals öffentlich rege gefragte Untersuchung von Wässern auf Radioaktivität wohl als in der Tendenz anwendungsorientiert bezeichnen ; freilich hatte die TH keineswegs ein Monopol auf diese Art von Forschungen, wie ein Blick auf das breite Themenspektrum der Arbeiten an der Wiener Universität und später am Institut für Radiumforschung zeigt. Nicht genug hervorgehoben werden kann, dass Mache in seinen Wasseruntersuchungen sowohl mit Meyer als auch mit Bamberger die Suche nach möglichst verlässlichen Messmethoden genauso zum Forschungsgegenstand machte wie die Sammlung der Messwerte an sich. Dass die Messeinheit für die Radioaktivität von Wässern als Mache-Einheit bezeichnet wurde, verdeutlicht die über Österreich hinausgehende Anerkennung Maches als Autorität auf diesem Gebiet.18 Zugleich eröffnete Maches und Meyers systematisches Bemühen um die wissenschaftliche Absicherung und Optimierung der Messmethoden in Österreich eine Forschungsrichtung, die weit über die Wässer hinausgehend für die Arbeit des Instituts für Radiumforschung bedeutsam werden sollte. Das Spektrum der an der Universität Wien verfolgten Themen war demgegenüber deutlich breiter und weniger profiliert. Durchgeführt wurden Arbeiten in allen Gebieten, wobei gerade die überdurchschnittlich vertretenen Bereiche gut zu erklären sind : Die Luftradioaktivität verdankte sich wohl der Exner’schen Schule der Luftelektrizitität, und der relativ hohe Anteil an Publikationen über Darstellungen von Stoffen ist durch den Zugang zu den Rohstoffen und die hoheitlichen Aufgaben der Wiener Forscher und Forscherinnen bezüglich der Radiumfabrikation bestimmt, die sie wissenschaftlich begleiteten, prüften und zu optimieren suchten. Der leichte Zugang zu Radium und seinen Tochterprodukten zeigte sich nicht nur an den eigenen Forschungsarbeiten der Wiener Wissenschaftler, unter denen Meyer und Schweidler das mit Abstand produktivste Autorenteam darstellten. Die beiden befreundeten Physiker publizierten 1906/07 insgesamt neun gemeinsame Arbeiten über die hinteren Glieder der Radiumreihe und griffen damit in die Endphase der Debatte um das Polonium ein. Auch an den Publikationen der österreichischen Promovenden und Promovendinnen der Radioaktivitätsforschung ist die gute Versor18 Freilich kam es auch zu Kontroversen Maches mit anderen Forschern um die Methodenhoheit ; vgl. dazu ausführlich Ceranski (im Erscheinen).
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gungslage mit Radium abzulesen. Die Erforschung der verschiedenen Glieder der Radiumreihe wurde nämlich im Heimatland des Radiums intensiv vorangetrieben, während deutsche Nachwuchsforscher sich auf andere radioaktive Stoffe, vor allem auf die Tochterprodukte des Thoriums, konzentrierten.19 Die Verfügbarkeit der radioaktiven Stoffe bestimmte also in hohem Maße die Themenwahl für die Doktorarbeiten. Auch die 1909 publizierten Arbeiten des bekannten Mineralogen Cornelio Doelter über die durch Radium bewirkten Farbveränderungen von Mineralien waren nur vor dem Hintergrund der reichen Wiener Radiumressourcen möglich und begründeten gemeinsam mit Meyers Untersuchungen zu dem damals erst kürzlich entdeckten, diamantähnlich strahlenden (aber lichtempfindlichen) Mineral Kunzit eine Forschungslinie, die dann am Institut für Radiumforschung durch Karl Przibram fortgeführt wurde. Am auffälligsten ist die unausgewogene disziplinäre Verteilung der österreichischen Akteure und Akteurinnen. Alle österreichischen Radioaktivisten aus der Chemie waren entweder in industriellen Kontexten oder an der TH tätig. Nur Fritz Paneth arbeitete am Institut für Radiumforschung und war umgekehrt der einzige Nicht-Physiker im ›harten Kern‹ der österreichischen Radioaktivisten und Radioaktivistinnen. Auch insgesamt betrachtet, ist die Anzahl der österreichischen Chemiker-Radioaktivisten vergleichsweise gering : Den 25 Physikern und Physikerinnen mit 110 Publikationen stehen zehn Chemiker und Chemikerinnen mit 23 Publikationen gegenüber ; fünf Autoren mit zehn Publikationen verteilen sich auf andere Disziplinen wie Mineralogie oder Medizin. Eine solche Dominanz der Physik im Vergleich zur Chemie findet sich bei den deutschen Radioaktivisten und Radioaktivistinnen – auch bei den Berlinern – nicht.
Wien als Ort der Lehre zur Radioaktivität Auch in der Lehre setzt sich in Wien die unterschiedliche disziplinäre Zuordnung zwischen der TH und der Universität fort. Die einzigen Vorlesungsangebote über Radioaktivität an der TH Wien vor 1914 kamen von Chemikern – freilich nicht von Bamberger. Der analytische Chemiker Ludwig Moser las im Sommersemester 1912 über »Die Chemie der radioaktiven Stoffe« ; schon 1908/09 hatte der Elektrochemiker 19 Insgesamt 32 Publikationen deutschsprachiger Doktoranden und Doktorandinnen behandelten die Eigenschaften radioaktiver Stoffe, davon elf Substanzen aus der Radiumreihe und 21 andere radioaktive Stoffe. Acht von den elf radiumbezogenen Publikationen stammen von österreichischen Autoren und Autorinnen, von den anderen 21 Arbeiten sind hingegen 18 auf deutsche Forscher und Forscherinnen zurückzuführen.
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Heinrich Paweck über »Elektronentheorie und Radioaktivität in ihrer Beziehung zur Elektrochemie« gelehrt. Paweck hatte 1908 einen Bericht über die Radiumproduktion der Akademie verfasst, so dass sich hier ein Zusammenhang zwischen akademischer Lehre und Forschung beziehungsweise Expertentätigkeit ergibt. Die an der Universität angebotenen Veranstaltungen wurden hingegen ausnahmslos von Dozenten der Physik abgehalten. Insgesamt war die Radioaktivität in der Lehre an der TH deutlich weniger präsent als an der Universität, womit sich Wien voll in den Gesamttrend der deutschsprachigen Landschaft fügt, in dem die Lehre zur Radioaktivität an den THs später einsetzte als an den Universitäten und insgesamt weniger häufig vorkam.20 Im Gesamtbild der deutschsprachigen Radioaktivitätsforschung nimmt die Universität Wien bezüglich der Lehrveranstaltungen eine Sonderstellung ein. Wir finden dort schon sehr früh, nämlich ab dem Wintersemester 1904/05, und kontinuierlicher als an anderen Orten Vorlesungen zur Radioaktivität, während das Angebot in der deutschsprachigen Gesamtperspektive erst ab dem Sommersemester 1906 deutlich größer wurde. Alle Vorlesungen oder Kolloquien wurden ausnahmslos von jungen Physikern aus dem Exner-Kreis angeboten. Schweidler las 1904/05 und 1905 über »Die radioaktiven Substanzen und ihre Strahlung« ; die Vorlesung fiel somit zeitlich mit seinen Forschungen über Radioaktivität zusammen, da er 1905 ja seine wichtige und viel zitierte Publikation über die Schwankungen des radioaktiven Zerfalls publizierte, die als Schweidler’sche Schwankungen in die Forschung eingingen.21 Gemeinsam mit den Kollegen und Exner-Schülern Friedrich Hasenöhrl, Mache und Meyer bot er im Wintersemester 1905/06 eine Veranstaltung an, die wir aus heutiger Sicht als Oberseminar bezeichnen würden, eine »Besprechung der neueren Literatur der Radioaktivität und Elektronik«. In den Sommersemestern 1906 und 1909 las Karl Przibram über Radioaktivität. Außerdem hebt sich das Wiener Lehrangebot dadurch heraus, dass es eine Vorlesung mit drei Semesterwochenstunden umfasste, die eine deutlich tiefer gehende Behandlung der Materie ermöglichte als die sonst angebotenen zwei- oder sogar nur einstündigen Veranstaltungen.22 Neben der allgemein getitelten Vorlesung »Radioaktivität« las Meyer auch zu den Spezialaspekten »Darstellung und Eigenschaften der radioaktiven Substanzen« sowie »Meßmethoden der Radioaktivität«. Beide Themenfelder hingen unmittelbar mit dem Aufgabenbereich des Wiener Instituts für Radiumforschung zusammen, welches einerseits als österreichische Eichbehörde der Radioak20 Erst im Sommer 1908, vier Jahre nach den ersten Vorlesungen über Radioaktivität an den Universitäten Göttingen und Wien, wurde erstmals an einer TH (an der ETH Zürich) eine Vorlesung angeboten, die ausschließlich der Radioaktivität gewidmet war. 21 Vgl. dazu die Beiträge von Deborah R. Coen und Michael Stöltzner in diesem Band. 22 Die Vorlesungen von Otto Hahn an der Universität Berlin etwa, die er im Untersuchungszeitraum über 14 Semester abhielt, waren stets einstündig.
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tivität fungierte und andererseits die staatliche Herstellung der radioaktiven Substanzen wissenschaftlich zu begleiten hatte. Die Statuten des Instituts schlossen bekanntlich Lehraktivitäten explizit aus ; in die an der Universität angebotenen Vorlesungen Meyers flossen die Erfahrungen am Institut aber sicherlich ein. Seine erste Vorlesung hielt Meyer 1911/12, also gut ein Jahr nach Eröffnung des Instituts, dessen Geschäftsführung ihm von Beginn an oblag. Berücksichtigt man ferner die enge Nachbarschaft der Gebäude nach dem Neubau des Physikalischen Instituts, so wird klar, dass die an der Universität angekündigten Vorlesungen Meyers letztlich die zentralen Lehrveranstaltungen des Instituts für Radiumforschung darstellten. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum die Vorlesung dreistündig angeboten wurde, was für ein Spezialfach sonst sehr untypisch war. Meyer, der von 1902 bis 1911 auch als AkustikDozent am Konservatorium gearbeitet hatte, machte zu diesem relativ späten Zeitpunkt die Radioaktivität erstmals zum Thema seiner Lehre. Neben Zeitgründen, vor allem in der Planungs- und Aufbauphase des Instituts, dürfte auch der Umstand dafür verantwortlich sein, dass das Gebiet zuvor durch Schweidler und dann sporadisch durch Przibram vertreten worden war. Przibram stieg später auf Anregung Meyers auch in die Erforschung der Wirkung der radioaktiven Strahlen ein, hier ging also interessanterweise die Lehre der Forschung voraus. Schweidler seinerseits, der als Privatdozent in Wien zwischen 1902/03 und 1905/06 insgesamt vier Vorlesungen und ein Kolloquium über Radioaktivität hielt, während er als Ordinarius in Innsbruck nur gemeinsam mit Friedrich von Lerch jedes zweite Semester ein einstündiges Kolloquium über »Radioaktivität und Ionentheorie« anbot, liefert ein markantes Beispiel für die Dominanz der Nachwuchswissenschaftler in der radioaktiven Lehre, die vor allem durch strukturelle Konstellationen der Universität bedingt war. Einerseits waren die Ordinarien durch die großen Grundvorlesungen in hohem Maße zeitlich gebunden, andererseits war mit so speziellen Gebieten wie der Radioaktivität nicht viel Publikum – und demnach auch nicht viel Hörergeld – zu gewinnen, so dass solche Gebiete von den Ordinarien viel eher abgegeben wurden als die einträglichen Grundvorlesungen und Einführungspraktika. Dank einer glücklichen Quellenlage kann diese eher formale Außenperspektive durch einen Blick auf die Vorlesungsinhalte bestätigt werden. Im Archiv der ÖAW befindet sich eine Vorlesungsmitschrift Paneths von der Vorlesung Meyers im Wintersemester 1911/12, die mit Vorlesungsmanuskripten aus Heidelberg beziehungsweise Freiberg/Sachsen – hier freilich nur skizzenhaft – verglichen werden kann.23 Im Ver23 Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, FE-Akten, Institut für Radiumforschung, ab sofort : AÖAW, FE-Akten, IR, Splitter-Nachlässe, Nachlass Fritz Paneth, K 67. Paneth war zu diesem Zeitpunkt bereits promoviert (nicht in der Radioaktivitätsforschung) ; ab 1912 arbeitete er am Institut
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gleich kristallisiert sich Meyers Vorlesung als diejenige mit dem größten Anspruch an Fach- und Vorwissen heraus, die auch theoretischen Fragen den größten Raum gab. Umgekehrt kam die medizinische Anwendung der Radioaktivität in seiner Vorlesung nicht vor, während sie in den anderen Vorlesungen als wichtiges Anwendungsthema der Radioaktivität behandelt wurde. Das Verdikt gegen die Beschäftigung mit medizinischen Fragen, das dem Institut für Radiumforschung ins Stammbuch geschrieben worden war, wirkte auch hier fort. Gleichzeitig weist Paneths eher knapp gehaltene Mitschrift zahlreiche Wertetabellen spezifischer physikalisch-chemischer Parameter auf. Viele dieser Tafeln enthalten bis zu 20 oder 25 Werte und sind damit deutlich umfangreicher als die Angaben in den Vorlesungen an den anderen Standorten. Dies deute ich als Zeichen dafür, dass Meyers Vorlesung für solche Zuhörer und Zuhörerinnen gedacht war, die selbst in der Radioaktivitätsforschung aktiv zu werden gedachten. Für diese waren Angaben etwa über die Löslichkeit der Emanation in verschiedenen Flüssigkeiten von realem Wert, weil sie Aufschluss über die für ein bestimmtes Experiment am besten geeignete Flüssigkeit und andere experimentierpraktisch relevante Parameter gaben. Meyers Vorlesung wurde hier nicht zu einem Ersatz für ein einführendes Lehrbuch der Radioaktivitätsforschung, sondern fungierte eher als Handbuch der Laborarbeit, das darauf ausgerichtet war, das nötige Wissen für die praktische Forschungsarbeit bereitzustellen. An der Universität Wien konnte man demnach ab 1911/12 eine Vorlesung über Radioaktivität hören, die darauf ausgerichtet war, zukünftige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen für eigenständige Forschungen zuzurüsten. Die für Wien so bezeichnende Vernetzung der verschiedenen Institutionen, die sich mit Radioaktivität beschäftigten, lässt sich hier für die alltägliche Ausbildungspraxis im Quellendetail nachvollziehen.
Die Wiener Promotionen zur Radioaktivität Im Untersuchungszeitraum ist Wien nach Halle der zweitgrößte Standort für die Ausbildung von Doktoranden und Doktorandinnen auf dem Gebiet der Radioaktivität. Insgesamt promovierten bis 1914 in Wien elf Männer und Frauen mit einer Arbeit aus diesem Forschungsbereich, davon sechs bis 1910. für Radiumforschung. Die Vorlesung dürfte demnach für ihn tatsächlich die Einführung in das neue Arbeitsgebiet dargestellt haben. Die jeweiligen Profile der beiden anderen Vorlesungen, die ebenfalls genau auf ihre Standorte abgestimmt waren, können hier nicht behandelt werden, und auch zu Wien werden nicht alle Details ausgeführt. Vgl. Ceranski (im Erscheinen), Kap. 3.
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Unklar ist, wer die zahlreichen Dissertationen wirklich betreute, insbesondere diejenigen, die vor der Gründung des Instituts für Radiumforschung angefertigt wurden (immerhin die Hälfte). Die Gutachten wurden in allen Fällen von Exner, dem ordentlichen Professor für Physik, geschrieben ; ob tatsächlich er selbst oder nicht doch Mache, Meyer oder Schweidler, die alle – im Gegensatz zu Exner – in der Radioaktivitätsforschung selbst aktiv und zum Teil als Assistenten am II. Physikalischen Institut tätig waren, die Doktoranden und Doktorandinnen anleiteten, ist aus den mir vorliegenden Quellen nicht zu ersehen, scheint mir aber plausibler.24 Das Besondere der Wiener Arbeiten ist der hohe Anteil weiblicher Doktoranden, der bei 45 Prozent liegt (fünf von elf Promotionen). Die für die spätere Zeit des Instituts für Radiumforschung mehrfach konstatierte und untersuchte überdurchschnittliche Präsenz von Frauen25 zeichnete sich hier schon ab und kontrastierte stark mit der Situation im Deutschen Reich, wo die Frauenquote mit zwei von 45 Promotionen über Radioaktivität exakt ein Zehntel ( !) des Wiener Wertes erreicht. Die Frauen waren, da das Mädchenabitur und das Frauenstudium im Untersuchungszeitraum erst eingeführt wurden, wegen ihrer komplizierten Bildungslaufbahnen bei der Promotion meist fast 30 Jahre alt, während die Männer höchstens Mitte Zwanzig waren. Die Themenverteilung gibt keine statistisch belastbaren Hinweise darauf, dass die Frauen typische Frauenarbeit geleistet, also überwiegend Tätigkeiten von niederem Status und großer Eintönigkeit durchgeführt hätten.26 Die einzigartige Wiener Quellenlage erlaubt die sonst kaum zu untersuchende Frage, ob und inwiefern sich die Beurteilungen der Dissertationen geschlechtsspezifisch unterschieden. Zwar wurden die Dissertationen in Wien nicht benotet, sondern nur als »den Anforderungen einer Promotion genügend« (beziehungsweise nicht genügend) qualifiziert. Nuancen der Bewertung ergeben sich dennoch aus den Formulierungen der Gutachten und aus den in den Gutachten ausgesprochenen Empfehlungen bezüglich der Publikation der Resultate. Wurden die Resultate einer Dissertation im 24 Dafür müsste man die (zum größten Teil handschriftlichen !) Dissertationen im Universitätsarchiv Wien in ihrer ganzen Länge auf Namensnennungen oder Annotationen durchsehen und Handschriftenvergleiche durchführen, was mir nicht möglich war ; ich habe lediglich die Promotionsakten durchgearbeitet. Da Exner mehrere andere Bereiche seines Engagements für die Radioaktivitätsforschung über seine Mitarbeiter abwickelte (Einrichtung des Instituts für Radiumforschung, Untersuchung der Quellwässer, wissenschaftliche Begleitung der Radiumproduktion), spricht einiges dafür, dass seine Mitarbeiter, allen voran Meyer, die Doktoranden- und Doktorandinnenausbildung betrieben. 25 Vgl. dazu Rentetzi 2001 sowie Bischoff 2004. 26 Zur wissenschaftlichen Frauenarbeit (women’s work) vgl. Rossiter 1982, vor allem Kap. 3. Die Publikation gehört zu den wenigen Studien, die sich – in diesem Fall durch die Geschlechterperspektive motiviert – mit den verschiedenen Typen und Komponenten wissenschaftlicher Arbeit auseinandersetzen.
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Gutachten als »zur Publikation geeignet« oder auch »nur ganz auszugsweise« geeignet bezeichnet, so kann man davon ausgehen, dass sie ein (im letzteren Fall sehr kleines) neues wissenschaftliches Ergebnis hervorgebracht hatten. Aus heutiger Sicht ist dies zwar eine Grundanforderung an jede Dissertation ; zu Beginn des 20. Jahrhunderts war dies jedoch keineswegs selbstverständlich.27 Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Empfehlungen der Gutachten. Publikationsempfehlungen für die Dissertationen an der Wiener Universität Dissertationen von Frauen Dissertationen von Männern Gesamtzahl d. Dissertationen
5
6
keine Publikationsempfehlung
1
1
eingeschränkte Empfehlung
1
2
uneingeschränkte Empfehlung
2
2
schon vorher publiziert
1
1
publiziert, insgesamt
2
3
Die Tabelle zeigt unter dem Geschlechteraspekt ausgesprochen ausgeglichene Verhältnisse sowohl auf allen Stufen der Bewertungsskala als auch in der tatsächlichen Publikationspraxis. Wie die Zahlen zeigen, setzten nämlich längst nicht alle Absolventen, die eine Publikationsempfehlung bekamen, diese auch um. Die hier vorliegenden Zahlen widerlegen jedoch – bei so kleinen Zahlen natürlich mit entsprechend beschränkter statistischer Aussagekraft – die heuristische Vermutung, dass die Frauen eher als die Männer auf die Publikation ihrer Ergebnisse verzichteten. Auch die Formulierungen in den Gutachten stimmen weitgehend überein, bei Männern und Frauen ist gleichermaßen von »mit (viel) Sorgfalt« oder »sorgfältig« ausgeführten Arbeiten die Rede. Eine geschlechtersensible Lektüre bleibt nur bei ganz wenigen Formulierungen hängen, und es muss offen bleiben, ob dies Zufälligkeiten der Gutachtenprosa sind oder ob sie auf tiefer Liegendes verweisen : Nur einmal ist, und zwar bei einem Mann, von einer »ziemlich schwierigen Untersuchung« die Rede, und ebenfalls nur einmal ist von einer »ziemlich mühevollen Arbeit« die Rede, und zwar bei einer Frau ; es wird also die wissenschaftlich anspruchsvolle Untersuchung mit einem männlichen Promovenden und die mühsame, Geduld und Ausdauer erfordernde Arbeit mit 27 Auch eine heutige Studienabschlussarbeit (Diplomarbeit) soll vor allem die Beherrschung der wissenschaftlichen Arbeitsweise nachweisen. Man hat sich unter den damaligen Doktorarbeiten heutige Diplomarbeiten vorzustellen und analog heutige Dissertationen unter damaligen Habilitationen ; vgl. auch Paletschek 2001, 295 und 403–404.
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einer weiblichen Promovendin verbunden.28 Alle anderen Formulierungen verwendete Exner wiederholt bei beiden Geschlechtern. Die Publikation der Ergebnisse bereits vor dem Abschluss des Promotionsverfahrens kann als besondere Auszeichnung gelten. Wir finden sie in zwei Verfahren, bei einem Mann und einer Frau. Fritz Kohlrausch legte mit seiner Dissertation 1907 den ersten experimentellen Beweis für die 1905 von Schweidler postulierten Schwankungen der Zerfallszahlen vor, ein breit rezipiertes Ergebnis zu einer auch in der Folgezeit immer wieder untersuchten Fragestellung. Helene Souczek beantwortete 1910 mit ihrer Dissertation die Frage, wie gut das in Österreich benutzte Verfahren zur Radiumgewinnung eigentlich war beziehungsweise wie viel Radium in den Rückständen verblieb – eine Arbeit von vitaler Bedeutung für Österreich, zu der das Gutachten befriedigt vermerkte : »Es wurde so zum ersten Mal ein eigener Maßstab für die Brauchbarkeit der bisher verwendeten Aufbereitungsmethode gewonnen.«29 Beide publizierten einen Kurzbericht über ihre Ergebnisse in den Sitzungsberichten der ÖAW ; Kohlrausch einige Jahre später, dann gemeinsam mit Schweidler, auch einen Aufsatz in der Physikalischen Zeitschrift zur gleichen Thematik.30 Souczeks Arbeit, die die Untersuchung einer großen Zahl von Fraktionierungsrückständen beinhaltete und, wie das Gutachten hervorhob, wegen der durchweg äußerst geringen Substanzmengen methodische Innovationen erforderte, erinnert nicht nur im Thema, sondern auch von den durchzuführenden Tätigkeiten her an die Darstellung des Radiums durch Marie Curie, deren Verfahren hier einer Evaluation unterzogen wurde. Insofern stellt sich die Frage, ob es Zufall war, dass gerade dieses Thema von einer Frau bearbeitet wurde. Auffallend ist jedenfalls, dass die einzige andere deutschsprachige Dissertation zur Darstellung radioaktiver Substanzen, die 1911 in Heidelberg abgeschlossen wurde, auch von einer Frau stammt.31 Gerade dieses mit Marie Curie verbundene Thema ist demnach – angesichts des insgesamt geringen Frauenanteils der Zeit – auffallend oft von Frauen bearbeitet worden.
28 Die erste Formulierung findet sich in Exners Gutachten zur Dissertation von Fritz Kohlrausch (Universitätsarchiv Wien, ab sofort : AUW, Phil. Rigorosenakte Nr. 2259 vom 3.4.1907), die zweite in Exners Gutachten zur Dissertation von Hermine Hug von Hugenstein (AUW, Phil. Rigorosenakten Nr. 2508 vom 29.5.1908). 29 AUW, Phil. Rigorosenakte 3001 vom 20.6.1910, Exner, Bericht über die Dissertation der Frau H. Souczek (handschriftliches Gutachten). 30 Souczek 1910 ; Kohlrausch 1906 ; Kohlrausch/Schweidler 1912. 31 Fellner 1912.
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Österreichische Radioaktivitätsforschung ausserhalb Wiens Es spricht einiges dafür, dass die drei Innsbrucker Radioaktivisten, Mache, Lerch und Schweidler, diese Stadt nie wirklich als wissenschaftliche und persönliche Heimat akzeptierten. Sie alle waren nach dem Studium in Wien Assistenten bei Exner gewesen und hatten sich dort habilitiert ; sie alle waren dann aus Wien nach Innsbruck gekommen. Zweien von ihnen gelang der Sprung zurück. Mache ging schon 1908, nach zwei Jahren in Innsbruck, zurück auf eine Stelle an der TH Wien. Schweidler, der 1911 aus Wien als Ordinarius nach Innsbruck berufen worden war und dort auch als Dekan und Rektor wirkte, ergriff 1926, im Alter von 53 Jahren, die Gelegenheit, nach Wien zurückzukehren. Der aus Böhmen gebürtige Lerch, seit 1908 außerordentlicher und seit 1914 ordentlicher Professor, blieb als einziger aus dem Kreis dauerhaft in Innsbruck und »ertrug die Trennung von seinem Wiener Freundeskreis und von seiner Heimat schwer«.32 Bei ihm sank ebenso wie bei Mache mit der Übersiedlung nach Innsbruck die wissenschaftliche Produktivität drastisch. Für Lerch lassen sich für die Jahre von 1903 bis 1907 sieben Publikationen nachweisen, dann bis 1914 nur noch drei, davon eine Kopublikation mit einem Doktoranden. Thematisch konzentrierte sich Lerch, der ein Jahr als Assistent bei Walther Nernst in Göttingen gearbeitet hatte, auf die elektrolytische Darstellung radioaktiver Stoffe und besaß damit in Österreich einzigartige Kompetenzen. In Maches Publikationstätigkeit findet sich während der Innsbrucker Jahre von 1906 bis 1908 eine Lücke, die sich erst 1909 wieder schließt. Dies ist einerseits auf die höhere Arbeitsbelastung durch Lehr- und Verwaltungsaufgaben zurückzuführen, aber auch »die viel ungünstigeren experimentellen Möglichkeiten« Innsbrucks im Vergleich zu Wien werden eine bedeutende Rolle gespielt haben.33 Mache hielt in Innsbruck im Sommersemester 1907 eine einstündige Vorlesung über »Radioaktive Substanzen«, im Wintersemester 1911/12 las Lerch über Radioaktivität und bot außerdem mit Schweidler ein Kolloquium über Radioaktivität und Ionentheorie an. Insofern wurde die Radioaktivitätsforschung wohl gepflegt ; zu einem echten Zentrum aber konnte Innsbruck kaum werden. Zu groß war das Gefälle – an Prestige, an Ausstattung, an Kontakten – im Vergleich zu Wien ; zu stark war die Sehnsucht, die die Wiener Radioaktivisten vom Inn an die Donau zurückzog. In Innsbruck wurden im Untersuchungszeitraum insgesamt drei Dissertationen zur Radioaktivität abgeschlossen, jeweils im Abstand von zwei Jahren und unter drei ver32 Karlik/Schmid 1982, 121. 33 Ebd. Bei Schweidler, dessen Hauptarbeitsgebiet die Luftelektrizität war, fiel das Argument nicht so ins Gewicht, da er sowieso und strukturell mit Daten aus verschiedenen Messstationen arbeitete. Die Alpenlage war hier eher ein Vorteil.
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schiedenen Betreuern.34 Martin Kofler promovierte 1908 zur Löslichkeit der Emanation in verschiedenen Salzlösungen und Gemischen. Das Gutachten schrieb der Ordinarius Paul Czermak, wahrscheinlich aber entstand die Arbeit unter der Betreuung von Mache, der dort als Extraordinarius tätig war. Die Arbeit hängt thematisch eng mit Maches Forschungen zur Radioaktivität von Wässern zusammen. Ernst Rudolph von Wartburg arbeitete 1910 unter Lerch über das Thorium D, mit dessen elektrolytischer Darstellung sich Lerch selbst beschäftigt hatte. Rudolf Thaller promovierte 1912 bei Schweidler über Radium E. Die Sichtung der Promotionen unterstreicht den Eindruck, dass die Radioaktivitätsforschung in Innsbruck zwar betrieben wurde, ihr jedoch in den eher kurzfristigen Aktivitäten mehrerer (und aus Innsbruck wieder verschwindender) Dozenten etwas Episodenhaftes anhaftete. An den übrigen österreichischen Hochschulen spielte die Radioaktivität nur eine marginale Rolle. Immerhin wurde sie in Graz sowohl an der Universität als auch an der TH gelegentlich gelehrt, und zwar disziplinär verteilt wie in Wien an der Universität durch einen Physiker, den Exner-Schüler Hans Benndorf, an der TH durch den Chemiker Victor Cordier von Löwenhaupt.35 Benndorf hatte rund fünf Jahre vor seiner Vorlesung einen Aufsatz mitverfasst, in dem es um die Nutzung radioaktiver Präparate zur Messung der Luftelektrizität ging, denn die Luftelektrizität bildete, und darin war er ein wahrer Exner-Schüler, eines seiner lebenslangen Arbeitsgebiete. Löwenhaupt publizierte über Themen, die der Radioaktivität fern waren. Seine Vorlesung 1910/11 an der TH Graz über die Chemie der radioaktiven Stoffe überrascht jedoch nicht, wenn man weiß, dass er 1905 in den Jahresberichten der Grazer Handelsakademie, an der er parallel eine Professur innehatte, über »Die neuen Strahlenarten« berichtet hatte.36 Mit seiner Vorlesung an der TH kam er also auf ein Thema zurück, das er einige Jahre zuvor schon einmal, und zwar in vermittelnder Form, aufbereitet hatte. Vervollständigt man die Landkarte der österreichischen Radioaktivitätsforschung, so darf schließlich einer der bekanntesten österreichischen Wissenschaftler der Zeit nicht fehlen : Carl Auer von Welsbach. Der erfolgreiche Chemiker und Unternehmer, Erfinder des Gasglühlichtes und Experte für Seltene Erden, hatte sich in Kärnten chemische Privatlaboratorien eingerichtet und arbeitete sehr zurückgezogen.37 Er hatte sich 1901 bei der Gründung der Akademiekommission zur Mitarbeit bereit erklärt 34 Ausgewertet wurden neben dem Jahrbuch für Radioaktivität und Elektronik auch, ebenso wie für Wien, die einschlägigen Dissertationsverzeichnisse. 35 Benndorf lehrte im Wintersemester (WS) 1909/10 über Radioaktivität ; Löwenhaupt im WS 1910/11 über »Chemie der radioaktiven Stoffe«, im folgenden WS »Über Radioaktivität und ihre Träger«. Eine Dissertation zur Radioaktivität konnte ich nicht nachweisen. 36 Cordier v. Löwenhaupt 1905. 37 Zu Auer von Welsbach vgl. den Beitrag von Groß/Löffler in diesem Band.
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(Auer von Welsbach war korrespondierendes Akademiemitglied), trat aber, soweit aus den Quellen ersichtlich, zunächst nur indirekt mit dem Forschungsgebiet in Verbindung, da die ÖAW für ihre große Radiumproduktion 1904 bis 1907 mit der Auer’schen Gasglühlichtfabrik in Atzgersdorf bei Wien zusammenarbeitete. Auer von Welsbachs eigenes Thema in der Radioaktivitätsforschung wurde das Actinium, da ihm die Edelerden,38 zu denen es chemisch gehört, aus seiner langjährigen Arbeit mit Elementen aus den Seltenen Erden zutiefst vertraut waren. Seinem einzigen, 1910 publizierten Aufsatz über die Gewinnung von Actinium aus den Rückständen der Radium-Produktion haftet die gesamte Autorität seiner langen Erfahrung mit Seltenen Erden und subtilster Analytik an.39 Wie die überlieferten Quellen zeigen, steuerte Auer von Welsbach außerdem für den Arbeitsalltag des Instituts für Radiumforschung immer wieder Analysen von Actiniumpräparaten bei, die telegrafisch nach Wien übermittelt wurden.40 Für den Experten von Weltruf, der sich aus eigenen Mitteln eine komplette Labor-Infrastruktur zu schaffen vermocht hatte, bedeutete der Verzicht auf eine institutionelle Infrastruktur keine Einschränkung seiner Arbeitsmöglichkeiten, sondern im Gegenteil größtmögliche Freiheit, und die geographische Entfernung war dank der modernen Kommunikationstechnik zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon mühelos zu überwinden.
Unsichtbare Arbeit : Stefan Meyer als Organisator der Radioaktivitätsforschung »Ich bin gewiss gern bereit wieder einmal einen Bericht für Ihr Jahrbuch zu schreiben, aber in der allernächsten Zeit müssen Sie mir schon Schonzeit geben. Selbst dem menschlichen Rührungen gegenüber verhärteten Herzen eines Herausgebers einer Zeitschrift muss es als Begründung dafür einleuchten, wenn ich mitteile, dass ich im vergangenen Jahre mit Bau und Eroeffnung und in Betriebstellung unseres Institutes, wobei ich nur von einem Assistenten unterstützt werde, soviel zu tun hatte, dass mir der Kopf wirbelte, dass seit der Eroeffnung des Hauses das Institut im Vollbetrieb steht und darin ständig etwa 12 bis 15 ›selbständig‹ arbeitende Herren tätig sind, dass ich nebenbei den Medizinern ihre Kliniken radioactiv einrichten soll, für die Regierung die Gehaltsbestimmungen ihrer Präparate durchführen muss, dass ich ausserdem ein 38 Heute im Periodensystem als »Lanthanide und Actinide« bezeichnet. 39 Auer von Welsbach 1910. 40 AÖAW, FE-Akten, IR, Nachlass Stefan Meyer, K 9 ; hier finden sich 49 Briefe und Telegramme zwischen 1909 und 1926 .
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Kapitel für die Mineralchemie von Doelter, ein Kapitel für die Kultur der Gegenwart, ein Kapitel über die radioactiven Messmethoden für das medizinische Compendium von Lazarus und ein Buch über RA[dioaktivität, B.C.] zusammen mit Schweidler für Teubner schreibe. Dazu noch habe ich als Secretär der internat. Ra[dium, B.C.]-Standardcommission alle moeglichen Schreibereien, bin in diesem Jahre Präsident der hiesigen physikal. chem. Gesellschaft etc. etc. Ich glaube, es beginnt Ihnen auch bereits im Kopf zu wirbeln.«41 So fasste Meyer Anfang 1912 gegenüber Stark, dem bereits genannten Herausgeber des Jahrbuchs für Radioaktivität und Elektronik, in unnachahmlicher Prägnanz zusammen, was ihn jenseits eigener Forschungs- oder Lehraktivitäten beschäftigte. Meyer benannte damit eine ganze Reihe von Aktivitäten, die seine Tage füllten, sich aber nicht in Publikationen niederschlugen. Die »Schreibereien« des Sekretärs der RadiumStandard-Kommission sind genauso wenig öffentlich geworden wie die »radioactive« Einrichtung der Kliniken. Sie blieben vielmehr geradezu systematisch unsichtbar, auch schon für die Zeitgenossen, und lassen sich zumeist nur aus unveröffentlichten Quellen rekonstruieren. In einer arbeitsgeschichtlichen Perspektive sind diese unsichtbaren Tätigkeiten von höchstem Interesse, da sie nicht nur die Frage klären, womit ein Naturwissenschaftler wie Meyer seine Zeit verbrachte, sondern weil sie die Funktionsfähigkeit des Forschungsgebietes überhaupt erst gewährleisteten. Noch stärker als die unsichtbaren Hände von sogenannten nichtwissenschaftlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die inzwischen ansatzweise in ihrer Bedeutung für den Forschungsbetrieb gewürdigt werden, werden nämlich die dienstleistenden Tätigkeiten der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus einer Perspektive, die nur Forschungsergebnisse und Forschungstätigkeiten in den Blick nimmt, systematisch übersehen, obwohl sie unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren des sichtbaren Forschungsbetriebes waren. In Meyers Aufzählung lassen sich zwei Bereiche dieser unsichtbaren Dienstleistungstätigkeiten unterscheiden. Die eine Gruppe von Tätigkeiten ist gleichsam nach innen gerichtet und ermöglichte anderen Forscherinnen und Forschern die Beschäftigung mit Radioaktivität. Hier steht die Einrichtung und der Betrieb des Forschungsinstituts einschließlich des Labors, der Instrumente und radioaktiven Substanzen an erster Stelle, da der Arbeitsaufwand auch nach der Fertigstellung des Instituts immens war und die wissenschaftlichen Gäste, wie Meyers Formulierung verrät, trotz proklamierter Selbstständigkeit erhebliche Betreuungsleistungen benötigten beziehungsweise erhiel41 Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, Nachlass Stark, Korrespondenz, Meyer an Stark vom 20.2.1912. Das hier erwähnte Buch von Meyer und Schweidler erschien kriegsbedingt erst 1916.
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ten.42 Die Schriftführung der Internationalen Radium-Standard-Kommission bedeutete für Meyer andererseits nicht nur »Schreibereien«, von denen sein Nachlass eindrucksvoll Zeugnis gibt, sondern auch erhebliche fachpolitische Einflussmöglichkeiten. Die zwischen 1910 und 1912 durchgeführte Herstellung eines österreichischen zweiten Eichstandards in Konkurrenz zu dem von Marie Curie sowie der erfolgreiche Abgleich beider Standards untereinander hatten die österreichische Radioaktivitätsforschung nachhaltig gestärkt und gleichzeitig die Ressourcen des Landes machtvoll ins Spiel gebracht. Wie die Korrespondenz zur Vorbereitung des Dritten Internationalen Radiologiekongresses zeigt, der für 1915 in Wien geplant war, fungierten Ernest Rutherford und Marie Curie als eine Art offizieller Doppelspitze der Radioaktivitätsforschung, hinter der Meyer als fast unsichtbare Exekutive die operativen Geschäfte maßgeblich bestimmte. Der zweite Bereich unsichtbarer Dienstleistungen machte hingegen die Kompetenzen und Kenntnisse der Radioaktivisten und Radioaktivistinnen für die Außenwelt fruchtbar. Vor allem die medizinischen Anwendungen der Radioaktivität, die nach den ersten Erfolgen ab 1904 utopische Hoffnungen auf die Heilkraft des Radiums weckten, forderten chemische und physikalische Expertise. Dies betraf sowohl die Anleitung und Fortbildung der Mediziner als auch die Bereitstellung radioaktiver Präparate. Nicht nur Meyer, sondern auch andere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Instituts für Radiumforschung waren in diesem Bereich tätig ; Forscher an deutschen Standorten übernahmen dort ähnliche Aufgaben. Alle von Meyer als Verpflichtung aufgeführten Publikationen haben bezeichnenderweise berichtenden, popularisierenden oder zusammenfassenden Charakter und bereiten das Gebiet für ein damit nicht vertrautes Publikum auf. Zeitschriftenpublikationen in Fachorganen zu den eigenen laufenden Forschungen wurden nicht in vergleichbarer Weise als Last empfunden. Nicht zuletzt ist zur Außenwelt der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auch der Staat mit seinen Behörden zu zählen. An keinem anderen deutschsprachigen Forschungs- und Lehrstandort war vergleichbar viel Beratung und Begutachtung für öffentliche Stellen zu erbringen wie in Wien, da nirgendwo sonst Radium in ähnlichen Mengen hergestellt, gemessen, verkauft und bewegt wurde. Im Deutschen Reich war zudem die Messung und Begutachtung radioaktiver Präparate ein Aufgabengebiet der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, die dafür 1912 eine eigene Abteilung gründete. Das Gutachtenwesen war also zumindest teilweise ausgelagert und professionalisiert. Der besondere Segen Österreichs, der die Gründung des Instituts für Radiumforschung motiviert hatte, wurde paradoxerweise eben diesem Institut und seinem Leiter 42 Für ein Fallbeispiel, den Gastaufenthalt von Max Weidig aus Freiberg/Sachsen, vgl. Ceranski (im Erscheinen).
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zu einer besonderen Last. Verschärfend wirkte der Umstand, dass Meyer es hier nicht mit Naturwissenschaftlern zu tun hatte, sondern mit Verwaltungsfachleuten, die in völlig anderen Wertesystemen dachten und anderen Handlungslogiken unterlagen. Wenn etwa die im Montanverkaufsamt bewirtschafteten Radiumsalze im Lauf der Zeit an Gewicht gewannen, weil sie bei jedem Öffnen Feuchtigkeit aus der Luft aufnahmen, war das aus Sicht der verkaufenden Behörde ein erfreulicher Umstand. Dass mit der Gewichtszunahme eine geringer werdende Radiumkonzentration (gleicher Gewichtsmengen) verbunden war und damit ein Qualitätsproblem der verkauften Präparate, musste Meyer seinen Gesprächspartnern erst mühsam klarmachen. Allein der im Nachlass erhaltene Briefwechsel mit dem Montanverkaufsamt lässt erahnen, wie viel Zeit und wie viele Nerven Meyer hier investierte.43 Anders als bei den Dienstleistungen innerhalb der »scientific community«, etwa in der Kongressorganisation für 1915 oder in der Radium-Standard-Kommission, resultierte diese ausgesprochen bürokratische Arbeit nicht in fachlicher Anerkennung oder kollegialen Beziehungen, die dann als soziales Kapital hätten fruchtbar gemacht werden können. Sie war zwar unabdingbar, um die Integrität Wiens als Eich- und Verkaufsstandort für Radiumpräparate zu sichern, gelangte jedoch der Natur der Sache nach an keiner Stelle an die (fachliche oder weitere) Öffentlichkeit. Die Position des Wiener Forschers Meyer an der Schnittstelle zwischen Forschung, Lehre, Institutsleitung, Fachpolitik, staatlicher Radiumproduktion und Wissenschaftskommunikation hat weder in Österreich noch in Deutschland ein Pendant und bleibt auch im weiten internationalen Vergleich einzigartig. Strukturell wäre am ehesten die Stellung Marie Curies vergleichbar, die ebenfalls Institutsleitung und Gutachtenwesen, Radiumproduktion und -anwendung umfasste. Curies gleichermaßen prominente und prekäre Situation als Frau und Nobelpreisträgerin ist jedoch grundverschieden von Meyers Aufgehobensein im Kreis der Exner-Schüler und seinem langsamen, aber sicheren Aufstieg in der österreichischen Diensthierarchie. Die Handlungsoptionen, die die – wenn auch spät einsetzende – Verwertung der Rohstoffressourcen im Bereich der Radioaktivität mit sich brachte, wurden von Meyer und seinen österreichischen Mitstreitern geschickt ausgenutzt und etablierten Wien als Österreichs einziges, aber international bedeutendes Zentrum der Radioaktivitätsforschung. Die österreichische Radioaktivitätsforschung war in ihrer geographisch-institutionellen Struktur damit der französischen ähnlich und unterschied sich völlig von dem Polyzentrismus der deutschen Situation. Als die materielle Basis der österreichi43 Die hier angedeuteten Vorgänge sind u.a. ersichtlich aus der Korrespondenz zwischen Meyer und dem Montan-Verkaufsamt aus dem Jahr 1911/12 ; vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, Nachlass Stefan Meyer, K 20. Ausführlich dazu Ceranski (im Erscheinen), Kap. 8.
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schen Bedeutung für die Radioaktivitätsforschung nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns wegbrach, trug Meyers unsichtbare Arbeit für das Fach Früchte. Die engen und vertrauensvollen Beziehungen zu Rutherford, die aus der gemeinsamen fachpolitischen Organisationsarbeit hervorgegangen waren, münzten sich nun im wahrsten Sinn des Wortes in materielle Unterstützung für das Institut für Radiumforschung um. Die unsichtbare Arbeit der Vorkriegszeit erntete in der Nachkriegskrise späten materiellen Dank.
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»Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung«. Zur politischen Ökonomie der österreichischen Kernforschung in der Zwischenkriegszeit Silke Fengler, Wien
Die (Natur-)Wissenschaften waren seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert einem Prozess der Nationalisierung unterworfen, der mit einer Reihe von nationalen Großforschungsprojekten in der Zeit des Kalten Krieges seinen Höhepunkt erreichte.1 Diese Projekte wurden für die innere und äußere Sicherheit, die wirtschaftliche Entwicklung und die nationale Identität2 so wichtig, dass moderne Industriestaaten ihre Förderung im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend als eine ihrer Aufgaben anerkannten.3 Dies gilt für die Physik als Leitdisziplin des 20. Jahrhunderts in besonderem Maße, da hier auch seitens der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der Bedarf an Mitteln wuchs, um insbesondere kernphysikalische Forschungsprojekte durchzuführen. Das junge Forschungsfeld erhielt, ausgehend von der Erfindung und dem Bau der ersten Teilchenbeschleuniger, zunehmend Impulse durch den Einsatz großtechnischer Geräte. Diese Entwicklung wurde durch die Kriege des 20. Jahrhunderts zweifellos beschleunigt. Damit rückte der Staat als einflussreicher Akteur in den Vordergrund.4 So gilt das im Zweiten Weltkrieg entstandene Manhattan-Projekt zum Bau der amerikanischen Atombombe als Paradebeispiel für kernphysikalische Großforschung im nationalen Kontext. Wie aber stellt sich die Lage in der Zwischenkriegszeit dar, als die Kernforschung noch in den Kinderschuhen steckte ? Die ältere wissenschaftshistorische Literatur verweist häufig auf den staatsfernen Charakter der Radioaktivitäts- beziehungsweise Atomzertrümmerungsforschung (wie es damals genannt wurde), aus der sich die Kernforschung in den 1930er-Jahren als neue Subdisziplin entwickelte.5 Diese Erzählung wurde von vielen beteiligten Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen selbst kultiviert und von der Historiografie übernommen. Doch heute wird sie ebenso infrage 1 2 3 4 5
Vgl. Jessen/Vogel 2002, 18–22. Vgl. Harrison/Johnson 2009. Vgl. Pestre 1997. Vgl. Pestre 2003, 250. Vgl. z.B. Stamm-Kuhlmann 1998.
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gestellt, wie das Szenario einer »Bindfadenphysik« in den 1920er- und 1930er-Jahren, die ohne großen finanziellen Aufwand betrieben werden konnte.6 Es ist mittlerweile unbestritten, dass der Trend zum Einsatz großtechnischer Geräte in der Kernphysik bereits in den frühen 1930er-Jahren einsetzte. Ausgehend von den USA hielten Teilchenbeschleuniger seit Mitte des Jahrzehnts in den europäischen Laboratorien Einzug.7 Auch wenn die Kernforschung von den Großprojekten der Nachkriegszeit noch weit entfernt war, benötigte sie beträchtliche finanzielle Mittel. International agierende Stiftungen wie die Rockefeller Foundation (RF) spielten in der Zwischenkriegszeit eine Schlüsselrolle bei der Förderung naturwissenschaftlicher Big Science. Die politischen Entscheidungsträger zielten mit ihrer Förderpolitik dagegen selten auf einen Wissenschaftswandel ab, doch sie trugen dazu bei, wissenschaftliche Entwicklungen zu fördern respektive zu hemmen. Insgesamt engagierten sich die meisten nationalstaatlichen Regierungen finanziell noch kaum in der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung.8 Allerdings gab es schon damals zahlreiche Verschränkungen zwischen nationalen und internationalen Einflüssen.9 Wie lagen die Dinge nun in Österreich, einem kleinen Land mit relativ begrenzten materiellen Möglichkeiten ? Wie wirkten sich hier die internationalen Entwicklungen auf das junge Forschungsfeld der Kernforschung aus ? Welchen Stellenwert hatten die politisch, wirtschaftlich und sozial instabilen Verhältnisse der Ersten Republik, die 1934 von der faschistischen Diktatur des »Ständestaates« abgelöst wurde ? Und schließlich, wie reagierten österreichische Kernforscher und Kernforscherinnen auf den internationalen Trend zur Großforschung und welche Strategien verfolgten sie, um ihre Interessen zu verfolgen ? Um Besonderheiten des österreichischen Beispiels besser herauszuarbeiten, wird die dortige Situation mit zeitgenössischen Kernforschungszentren in anderen europäischen Ländern und den USA verglichen. Im Folgenden werden zunächst die Anfänge der österreichischen Atomzertrümmerungsforschung skizziert. Das Ausland spielte hier eine entscheidende Rolle, sei es als Impulsgeber bei der Etablierung des neuen Forschungsgebietes oder als dessen finanzieller Förderer. Der Wandel der materiellen Kultur in der österreichischen Kernforschung und die Reaktion der Österreicher auf den Trend zur Großforschung stehen im Mittelpunkt des Hauptteiles. Der Rückzug des ausländischen Engagements und die staatliche Austeritätspolitik des »Ständestaates« bestimmten den Handlungsrahmen der österreichischen Kernforscher und Kernforscherinnen in den 1930er-Jahren maßgeblich. Der gescheiterte Versuch, 6 7 8 9
Zitat nach Holton 1978, 194. Vgl. Heilbron 1986 ; Seidel 1992 ; Osietzki 1994 ; Weiss 2000 ; Pinault 2003 ; Battimelli 2003. Vgl. Doel/Hoffmann/Krementsov 2005. Vgl. Hoddeson 1983.
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einen Teilchenbeschleuniger in Wien zu installieren, bildete den Höhepunkt einer krisenhaften Entwicklung, die im Zweiten Weltkrieg ihren Abschluss fand.
Die Internationale der österreichischen Atomzertrümmerer in den 1920er-Jahren Der Erste Weltkrieg brachte den intensiven wissenschaftlichen Austausch der internationalen Gemeinschaft der Radioaktivitätsforscher vorübergehend zum Erliegen. Es kostete Zeit und Energie, um die transnationalen Kontakte nach 1918 zu reaktivieren. Dies galt für die einst verbündeten Staaten Deutschland und Österreich in besonderem Maße.10 Doch während viele deutsche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bei ihren ausländischen Kollegen und Kolleginnen weit über das Kriegsende hinaus an moralischem Ansehen eingebüßt hatten,11 fiel die Bewertung der österreichischen physikalischen Gemeinschaft im Ausland milde aus. Der amerikanische Radiochemiker Samuel C. Lind, der vor dem Krieg selbst als Gastforscher am Institut für Radiumforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien (ÖAW) tätig gewesen und dessen Kontakt nach Wien auch während des Krieges nicht abgerissen war, brachte die Ansichten vieler Kollegen auf den Punkt : »[I]t seems to me a great pity that Austria should have to suffer through its unfortunate association with Germany. It may well be that such serious injury has been done in the world politics that some of the members will not be able to recover. […] I have the greatest sympathy for Austria naturally, of any of the powers that were defeated in the War, and, while I have just as much friendship and sympathy for my friends individually in Germany as before, I can not find the same amount of sympathy for the German Government, for its military power and mode of conducting the War ; nor do I feel that Germany has yet shown any satisfactory evidence of a change in her purposes as a world power, or her mode of thinking. This state of mind […] is not one that leads speedily to a restoration of conditions on a sound basis.«12
In den kleineren nordeuropäischen Ländern, aber auch in den USA überwog das Mitgefühl angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage im Rumpfstaat Deutschöster10 Vgl. Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien, FE-Akten, Radiumforschung, Nachlass Stefan Meyer, ab sofort : AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 14, Fiche 220, Hönigschmid an Meyer vom 10.11.1918. Siehe auch Crawford 1988. 11 Vgl. Metzler 2000. 12 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 16, Fiche 254, Lind an Meyer vom 25.3.1921.
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reich.13 Der englische Physiker Robert Lawson war während des Krieges in Wien als feindlicher Ausländer interniert worden. Seine kollegiale Behandlung im Institut für Radiumforschung, wo er bis Kriegsende unbehelligt arbeiten konnte, trug viel dazu bei, die englischen Radioaktivitätsforscher versöhnlich zu stimmen.14 Die Wiederaufnahme des internationalen wissenschaftlichen Austauschs von österreichischer Seite wurde durch die in Wien reichlich vorhandenen radioaktiven Präparate zweifellos erleichtert. Die für die damalige Zeit sehr starken Strahlungsquellen waren eine Grundvoraussetzung für die atomphysikalische Forschung.15 Seit seiner Gründung im Jahr 1910 stellte das Institut für Radiumforschung die Präparate für wissenschaftliche Zwecke kostenlos zur Verfügung. In den ersten Nachkriegsjahren suchten vor allem Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus Deutschland, Skandinavien, den Ländern Mittel- und Osteuropas, Belgien und Großbritannien den Austausch mit Wien.16 Dies ebnete auch den Wienern und Wienerinnen den Weg nach England, Skandinavien und Deutschland. Der einst enge wissenschaftliche Austausch mit Frankreich kam hingegen erst später, nämlich 1923, wieder in Gang.17 Neben den politischen Spannungen mag hier auch die Tatsache hereingespielt haben, dass Marie Curie dank ihrer umfangreichen Radiumvorräte und bester Kontakte zur Industrie weniger auf den Austausch mit Wien angewiesen war als Forscher und Forscherinnen andernorts.18 Es waren eben jene Radiumpräparate, die den aus Schweden stammenden Physiker Hans Pettersson bewogen, Experimente zur Zertrümmerung von Atomen in Wien durchzuführen.19 Alternativ hätte er auf Vermittlung Otto Hahns Radiothor-Präparate bei der Auergesellschaft in Berlin kaufen können, was er allerdings wegen des hohen Preises der Präparate und fehlender Mittel vermied.20 Pettersson wandte sich einem Forschungsthema zu, auf dessen Potenzial sein Doktorvater William Ramsay bereits vor dem Krieg aufmerksam gemacht und das Ernest Rutherford 1919 am Cavendish
13 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 14, Fiche 232, Kamerlingh Onnes an Meyer vom 23.12.1919 ; AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 16, Fiche 253, Lind an Meyer vom 18.1.1921. 14 Vgl. Cambridge University Library, Rutherford Correspondence Add 7653 S 176, Soddy an Rutherford vom 7.4.1919. 15 Vgl. Hughes 1997, 327. 16 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 29, Fiche 398, Ergänzungen zum Fragebogen der Commission de Coopération intellectuelle über ausländische Gastforscher vom 8.1.1923. 17 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 22, Fiche 349, Curie an Meyer vom 1.5.1923. 18 Vgl. Ceranski 2008, 435. 19 Pettersson hatte im Herbst 1921 erstmals um einen Arbeitsplatz im Institut für Radiumforschung angesucht, um die Radioaktivität von Tiefsee-Schlammproben zu messen. Vgl. Przibram 1950, 29. 20 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 279, Pettersson an Meyer vom 4.6.1922.
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Laboratory in Cambridge eröffnet hatte.21 Als institutionelle Träger der Atomzertrümmerungsarbeiten fungierten das Institut für Radiumforschung sowie das II. Physikalische Institut der Universität Wien. Die räumliche Nachbarschaft der beiden Institute war Voraussetzung für einen stark arbeitsteiligen Forschungsprozess : Während im Institut für Radiumforschung die Strahlungsquellen hergestellt wurden, konnten in dem nicht radioaktiv verseuchten Nachbargebäude der Physikalischen Institute Messungen von Atombruchstücken durchgeführt werden, ohne eine Verfälschung der Messergebnisse zu riskieren. Obwohl die Mehrzahl der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Forschungsgruppe um Pettersson aus Österreich stammte, gehörten ihr – ähnlich wie den Gruppen in Cambridge und später Paris, wenngleich auch in kleinerem Maßstab – bald Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus fünf Nationen an.22
Die internationale Förderung der Wiener Atomzertrümmerungsforschung Zerrüttete Staatsfinanzen boten in den 1920er-Jahren in Österreich, aber auch in den meisten anderen europäischen Ländern wenig Spielraum für eine nationalstaatliche Wissenschaftsförderung. Anders als etwa in Deutschland gab es in Österreich abgesehen von der ÖAW keine Institution, die der außerstaatlichen Forschungsförderung gewidmet war. Die jährlichen Zuschüsse des österreichischen Bundesministeriums für Unterricht an Universitätsinstitute und Bibliotheken sahen keine für die Forschung reservierten Ausgaben vor. Vielmehr mussten die Energieversorgung, die Besoldung der Assistenten und Assistentinnen, Techniker und Adjunkten, die Apparate, wissenschaftliche Literatur und Renovierungsausgaben davon bezahlt werden. Die ohnehin geringen staatlichen Zuwendungen wurden in den 1920er-Jahren wiederholt gekürzt.23 Mit der Hyperinflation schrumpfte auch das Vermögen österreichischer privater Stifter, die sich vor dem Krieg stark in der außeruniversitären Forschungsförderung engagiert hatten.24 Das Institut für Radiumforschung, das von der ÖAW getragen wurde, war davon unmittelbar betroffen. Es war daher unumgänglich, Gelder zur Anschaffung von Ge21 Vgl. Churchill Archives Centre Cambridge, ab sofort : CCAC, MTNR 5/13/3, part I, Pettersson an Meitner vom 28.1.1941. 22 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 21, Fiche 346, Memo zur Notwendigkeit des Erhaltes der Lehrkanzel Jäger, undatiert [1935]. 23 Vgl. AÖAW, Wissenschaftshilfe, Karton 2, Mappe : Wien, Gustav Jäger, Geistige Notlage der Physikalischen Institute vom 17.3.1928. 24 Vgl. Meister 1947, 158–159.
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räten und Material im Ausland zu werben. Bis 1925 erhielt Pettersson 26.900 Kronen von Einzelpersonen und Stiftungen in seiner Heimat Schweden.25 Bis 1933 stieg dieser Betrag auf 50.000 Schwedenkronen.26 Den Löwenanteil der Finanzierung übernahmen aber das International Education Board (IEB) beziehungsweise die RF. Anders als in den USA förderte die Stiftung in Europa nicht so sehr die Errichtung neuer Laboratorien, sondern unterstützte Projekte in bereits bestehenden wissenschaftlichen Institutionen.27 Ihre externen Berater zählten die Wiener Physikalischen und Chemischen Institute in den 1920er-Jahren zwar nicht zu den wissenschaftlich führenden Einrichtungen.28 Gleichwohl erhoffte man sich in New York von dem charismatisch auftretenden Schweden Pettersson einen »stimulating effect« auf den Forschungsstandort Wien.29 Im Sinne ihrer Richtlinien, den wissenschaftlichen Wettbewerb zwischen Laboratorien anzuregen und auf diese Weise die Weiterentwicklung innovativer Forschungsfelder zu fördern, wollte das IEB Wien als Gegenpol zum dominierenden Cavendish Laboratory aufbauen.30 Dementsprechend großzügig fiel die Förderung für die Wiener Atomzertrümmerungsforschung aus ; sie betrug zwischen 1925 und 1933 150.000 Schilling (30.000 US-Dollar) an Spenden und Stipendien.31 Ihren Statuten gemäß stellte die Stiftung 1928 allerdings die Bedingung, dass sich das Institut für Radiumforschung mittels in Europa geworbener Gelder langfristig selbst erhalten müsse. In der Tat gelang es der Forschungsgruppe um Pettersson, die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft für die Wiener Atomzertrümmerungsarbeit zu interessieren. Es wurde beschlossen, dass »auch im Interesse der Förderung der von reichsdeutschen Forschern auf dem Gebiete der Atomforschung in Angriff genommenen Untersuchungen […] die Unterstützung der Arbeiten der Wiener Forscher wünschenswert [erscheint]«.32 Die 1928 zugesagte und zwei Jahre später schließlich bewilligte Fördersumme der Notgemeinschaft in Höhe von 12.000 Reichsmark 25 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 29, Fiche 395, Verzeichnis der durch Vermittlung von Dr. Hans Pettersson für die Untersuchungen über Atomzertrümmerung hauptsächlich 1923–1925 eingegangenen Spenden, undatiert [1926]. 26 Allgemeines Verwaltungsarchiv im Österreichischen Staatsarchiv Wien, ab sofort : ÖStA-AVA, Bundesministerium für Unterricht, F 868/4G, Hans Pettersson, Pro Memoria vom 5.7.1934. 27 Vgl. Rockefeller Archive Center, Sleepy Hollow, ab sofort : RAC, RF, RG 3, Series 900, Box 22, Folder 166, Bl. 10, A brief summary of the conferences of trustees and officers at Princeton, October 1930. 28 Vgl. RAC, International Education Board, ab sofort : IEB, Series 1, Subseries 1, Folder 144, R.A. Millikan, List of the world’s outstanding physical laboratories vom 3.10.1923. 29 RAC, IEB, Series 1.3, Box 56, Folder 923, Trowbridge an Lund vom 14.5.1926. 30 RAC, IEB, Series 1.2, Box 25, Folder 360, Trowbridge an Rose vom 2.11.1927. 31 ÖStA-AVA, Bundesministerium für Unterricht, F 868/4G, Hans Pettersson, Pro Memoria vom 5.7.1934. 32 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Fiche 170, Notgemeinschaft an Meyer vom 23.4.1928 und vom 24.1.1930.
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sollte binnen drei Jahren abgerufen werden. Das Geld diente der Anschaffung von Geräten und Material.33 Das Engagement der Notgemeinschaft erleichterte es den Wienern, das IEB und später die RF zur Fortsetzung ihrer Förderung zu bewegen. Auch das Bundesministerium für Unterricht erklärte sich angesichts des ausländischen Engagements bereit, eine Einmalzahlung von 5.000 Schilling zu leisten. Zwischen 1928 und 1930 bezahlte das Ministerium dem Institut für Radiumforschung zudem eine wissenschaftliche Hilfskraft.34 Die staatlichen Zuschüsse mögen angesichts der Summen, die von amerikanischer Seite flossen, gering erscheinen. Im Vergleich zu den Beträgen, die das Ministerium anderen Forschungseinrichtungen in Österreich zahlte, fielen sie allerdings großzügig aus. Lediglich dem Grazer Physiker Victor Hess und seinem Wiener Kollegen Felix Ehrenhaft gelang es, mit Verweis auf im Ausland geworbene Stiftungsgelder Unterstützung in ähnlicher Höhe zu erhalten. Hess erhielt von der RF 1933 5.000 US-Dollar zur Erweiterung seiner Forschungsstation auf dem Hafelekar.35 Ehrenhaft bekam eine Summe in gleicher Höhe für die Jahre 1932/33 zur Anschaffung von Geräten für sein Institut.36 Auch im internationalen Vergleich war die Forschungsgruppe Pettersson finanziell recht gut positioniert.37
Auf dem Weg zur Grossforschung ?! Glaubt man den Darstellungen in der wissenschaftshistorischen Literatur, dann bedeutete der Rückzug der RF aus der Finanzierung des Instituts für Radiumforschung im Jahr 1930 den Anfang vom Ende der Wiener Atomzertrümmerungsarbeiten.38 Tatsächlich kann von einem Rückzug zu diesem frühen Zeitpunkt keine Rede sein – die Stiftung stellte ihre Förderung erst 1936 ein. Doch anders als in den Anfangsjahren trat das Institut für Radiumforschung nicht mehr als offizieller Nutznießer der amerikani33 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Fiche 171, Leihgaben von der Notgemeinschaft vom 29.1.1930. 34 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 267, Meyer an Trowbridge vom 20.1.1928. 35 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 206, Hess an Meyer vom 10.1.1933. 36 Vgl. RAC, RF, RG 1.1, Series 705D, Box 3, Folder 26, Tisdale an Ehrenhaft vom 2.1.1932. 37 Lise Meitners Berliner Abteilung im Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Chemie erhielt eine jährliche Dotation von 8.000 Reichsmark sowie einen Zuschuss in gleicher Höhe von der Notgemeinschaft (16.000 RM = 4.000 US-Dollar im Jahr 1928). AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 29, Fiche 395, Meyer an Bundesministerium für Unterricht vom 18.10.1927. 38 In diesem Sinne argumentiert z.B. Rentetzi 2007, Chapter VI, 1. Zur Zerstörung von Petterssons jahrelangem »investment« in die Atomzertrümmerungsforschung durch die verlorene Kontroverse mit Chadwick/Rutherford siehe Stuewer 1985, 290, 293.
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schen Förderung auf. Gelder flossen stattdessen an das II. Physikalische Institut der Universität Wien. Der langjährige Leiter des Instituts, Stefan Meyer, hatte sich Ende der 1920er-Jahre gegenüber dem Unterrichtsministerium dazu verpflichtet, bei der RF keine Fördergelder mehr zu beantragen und derartige Gesuche Dritter nicht zu unterstützen.39 Denn die Stiftung wollte das Institut für Radiumforschung nur dann weiter unterstützen, wenn mittelfristig eine Aussicht auf Übernahme in staatliche Trägerschaft bestand. Die Drohungen der RF, die Finanzierung des Instituts andernfalls einzustellen, waren im Ministerium durchaus bekannt. Doch die Ministerialbeamten konnten sich zu einer Finanzierung nicht durchringen. Obwohl sich US-amerikanische und deutsche Stiftungen bis weit in die 1930erJahre hinein in der österreichischen Atomforschung engagierten, bleibt festzuhalten, dass Forschungen zur subatomaren Struktur der Elemente in Wien finanziell nie wieder so üppig gefördert wurden wie in den 1920er-Jahren. Nachdem Pettersson im Sommer 1930 auf eine Stiftungsprofessur für Ozeanografie in seiner Heimatstadt Göteborg berufen worden war, gehörte die Förderung der Wiener Atomzertrümmerer durch schwedische Stiftungen bald der Vergangenheit an.40 Pettersson, der immer seltener nach Wien kam, wandte zwar einen Teil seines schwedischen Institutsbudgets für die Aufrechterhaltung der Wiener Atomzertrümmerungsarbeiten auf, und dies, obwohl »besonders in diesen Zeiten des nationalen Egoismus, zu viel Kapitalexport nach dem Ausland äusserst ungerne gesehen wird«.41 Erst 1935 brach er seine kernphysikalische Arbeit in Wien ab, um sich ganz dem Aufbau des Göteborger Instituts zu widmen.42 Außerdem sog der Neubau seines Instituts seit Mitte der 1930er-Jahre diejenigen Gelder auf, die zuvor nach Wien geflossen waren.43 Im Feld der sich rasch weiterentwickelnden Kernforschung wurde der Schwede zu einer Randerscheinung. In einem Brief an seine einstige Kollegin aus dem Institut für Radiumforschung, die ungarische Radiochemikerin Elisabeth Rona, gestand er schon 1934 : »Ich fange mehr und mehr an mich als ›a back number‹ zu fühlen in den A[tom]Z[ertrümmerungs] Problemen. […] Wenn man auf alle Branchen der experimentellen Kernphysik vom theoretischen gar nicht zu sprechen au courant halten will, so muss man sehr viel lesen und dazu fehlt mir in Göteborg sowohl die nötige Zeit als die Litteratur. […] Ich bin ganz 39 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche 307, Meyer an von Schweidler vom 8.2.1935. 40 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 281, Pettersson an Meyer vom 6.5.1930. 41 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, Nachlass Berta Karlik, K 46, Fiche 673, Pettersson an Karlik vom 4.4.1933. 42 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 284, Pettersson an Meyer vom 20.3.1935. 43 Vgl. Göteborgs Universitetsbibliotek, ab sofort : GUB, Hans Pettersson Vetenskaplig korrespondens, Pettersson an Karlik vom 20.9.1937.
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der Meinung, den [sic] Sie auch teilen, dass man müsste trachten in Wien jetzt etwas tunlichst Gediegenes und dabei auch Wichtiges und Aktuelles ›in this year of grace‹ herauszubringen und nicht mehr Zeit auf technische Verbesserungen und Abänderungen […] verlieren. Aber was, das ist eben die Frage ! Ich halte immer noch, für mich persönlich, den Nachweis der ›Atomkrüppel‹ mit und ohne Protonen für das wichtigste. Jetzt ist dazu ein ganz neuer Weg geöffnet durch die Entdeckung der künstlichen Radioaktivität. Aber auf dem Gebiet zu arbeiten, worauf sich alle Welt stürzt, ist wohl zu schwierig und zeitraubend ? Ich weiss nicht, ob irgend ein Spezialproblem dort für Sie in Betracht käme. […] Wenn ich mal wieder in Wien zurück bin wird sich hoffentlich mein Gehirn wiederum beleben. Momentan herrscht darin Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der A[tom]Z[ertrümmerung].«44
De facto war die Leitung der Forschungsgruppe längst auf die österreichischen Mitarbeiter Petterssons, Gerhard Kirsch und Georg Stetter, übergegangen. Kirsch, seit 1922 Mitstreiter Petterssons, hatte bei seinen kernphysikalisch arbeitenden Kollegen und Kolleginnen im In- und Ausland einen schlechten Ruf. Gemeinsam mit Pettersson war er Mitte der 1920er-Jahre in eine Auseinandersetzung mit Forschern des Cavendish Laboratory involviert, die mehrere Jahre andauerte. Im Streit um Messmethoden und -ergebnisse bei der Zertrümmerung leichter Elemente stand letztlich die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit beider Forschungsgruppen auf dem Spiel. In Cambridge, aber auch andernorts bewirkte die Kontroverse eine grundlegende Umorientierung in instrumentell-methodischer wie theoretischer Hinsicht.45 Kirschs Ansehen in der Fachwelt wie auch der Ruf Wiens als Standort der Atomzertrümmerungsforschung erlitten im Zuge der Kontroverse schweren Schaden.46 Die weit verbreitete Kritik an Kirsch entzündete sich auch daran, dass er an der unzuverlässigen Szintillationsmethode festhielt, obwohl in anderen Laboratorien schon längst mit Wilsonkammern und Spitzenzählern gearbeitet wurde. Man warf ihm vor, nach dem Weggang Petterssons aus Wien durch veraltete Messmethoden kontinuierlich fehlerhafte, mitunter spekulative kernphysikalische Beiträge publiziert zu haben. Kirschs Ergebnissen sei wegen fehlender Sorgfalt in der experimentellen Arbeit nicht zu trauen.47 Ähnlich wie Pettersson zog 44 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XIV. Splitter-Nachlass Elisabeth Rona, K 67, Fiche 974, Pettersson an Rona, undatiert [1934]. Siehe auch Rentetzi 2007, Chapter VI, 10. 45 Vgl. Stuewer 1985 ; Hughes 1998 ; Abele 2000. Siehe auch den Beitrag von Ruth Lewin Sime in diesem Band. 46 Vgl. Frisch 1967, 43–44. Siehe auch Archiv des Deutschen Museums München, ab sofort : ADM, Nachlass Arnold Sommerfeld, 89/3, Sommerfeld an Meitner vom 10.4.1930. 47 In der 1936/37 veröffentlichten, dreiteiligen Übersicht über die zeitgenössische internationale Kernforschung von Livingston/Bethe – der sog. Bethe-Bibel – wurden Daten der Wiener Forschergruppe unter Leitung Kirschs und Petterssons unter Verweis auf deren »fast vollständig fehlerhafte« Messresultate explizit nicht berücksichtigt. Livingston/Bethe (1937), 295.
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auch Kirsch sich zunehmend aus der Kernforschung zurück und widmete sich geophysikalischen Forschungsfragen.48 In Wien betreute er gleichwohl während der gesamten 1930er-Jahre die Arbeiten mit der Szintillations-, fotografischen und WilsonkammerMethode und beaufsichtigte die Herstellung radioaktiver Präparate. Die Arbeitsteilung mit seinem Kollegen Stetter tat ein Übriges, um ihn von aktuellen kernphysikalischen Entwicklungen mehr und mehr zu entfremden : »[N]ach dem Grundsatz, (den ich von Pettersson gelernt habe,) zwecks Erhöhung des eigenen Wirkungsgrades nichts selbst zu machen, was ein anderer für einen machen kann, […] habe ich mich mit der heute immer mehr in den Vordergrund tretenden Verstärkertechnik nie näher befaßt.«49
Stetter war aus der Kontroverse mit dem Cavendish Laboratory ohne größeren Schaden hervorgegangen.50 Er und sein Kollege Gustav Ortner profitierten sogar von ihrem Ausgang, denn auch in Wien gewannen elektronische Messmethoden in Lehre und Forschung zunehmend an Bedeutung.51
Wandel der materiellen Kultur in der Wiener kernphysikalischen Messtechnik Stetter hatte sich als Funkoffizier im Ersten Weltkrieg mit nachrichtentechnischen Fragen befasst, und auch nach Kriegsende publizierte er zunächst in diesem Bereich, ehe er 1925 zur Forschungsgruppe um Pettersson stieß.52 Gemeinsam mit Ortner führte er den Röhrenverstärker in einer für quantitative Messungen brauchbaren Form in die radioaktive und kernphysikalische Messtechnik in Wien ein.53 Als einer der 48 Vgl. GUB, Hans Pettersson Vetenskaplig korrespondens, Karlik an Pettersson vom 13.2.1938 und Stuewer 1985, 291. 49 Bundesarchiv Berlin, ab sofort : BAB, R 1519/70, Bl. 40–41, Kirsch an Stark vom 23.9.1937. 50 In der Überblicksdarstellung von Livingston/Bethe wird als einzige der in Wien entwickelten kernphysikalischen Messmethoden das Röhrenelektrometer von Stetter und Ortner aufgeführt. Livingston/Bethe 1937, §99. Zur negativen Einschätzung der in Wien entwickelten elektronischen Messmethoden siehe Frisch 1967, 45. 51 Vgl. Hughes 1998, 64–66. 52 Vgl. Archiv der Universität Wien, ab sofort : AUW, Nachlass Georg Stetter, AT-UAW/131.40, Österreichische Studiengesellschaft für Atomenergie Ges.m.b.H, Unterlagen zur Pressekonferenz vom 10.7.1963. 53 BAB, R 4901/13553, Bl. 398–402, Georg Stetter, Antrag auf Umwandlung der a.o. Professur für Physik in eine o. Professur, undatiert [1940]. Mit dem Röhrenelektrometer wurden einzelne H-Strahlen im Lautsprecher für den Demonstrationsversuch hörbar gemacht, um Kernumwandlungsprozesse zu messen.
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ersten Physiker machte er die Ergebnisse der Atomzertrümmerungsforschung auch in Ingenieurkreisen bekannt.54 Die elektronische Messtechnik spielte in der Ausbildung junger Physiker und Physikerinnen, die im Wien der 1930er-Jahre in wachsender Zahl zu kernphysikalischen Themen promovierten, eine immer bedeutendere Rolle.55 Gemeinsam mit seinem Schüler Josef Schintlmeister entwickelte Stetter eine eigene Methode zur Untersuchung von Korpuskularstrahlen mit einer Doppelkammer und einem Doppelröhrenelektrometer, welche die Grundlage für weitere Forschungsarbeiten bildete.56 Ein anderer Schüler Stetters, Willibald Jentschke, maß mit den in Wien entwickelten neuen elektronischen Methoden die Ionisation einzelner Korpuskularstrahlen und untersuchte die Energien und Massen bei Streuvorgängen und Kernumwandlungen – unter anderem nahm er eine Präzisionsbestimmung der Masse des Neutrons vor.57 Stetter selbst untersuchte gemeinsam mit Pettersson Teilchen kleiner Reichweite, die bei α-Bestrahlung schwerer Edelgase auftreten.58 Stetters wachsende Bedeutung in der Wiener Kernphysik spiegelte sich auch im veränderten Finanzierungsmuster der Forschungsgruppe. Im Frühjahr 1929 wandte er sich erstmals an die im Jahr zuvor neu gegründete Österreichisch-Deutsche Wissenschaftshilfe (ÖDW). Die ÖDW war eine Unterorganisation der deutschen Notgemeinschaft, die sich die Förderung der österreichischen Geistes- und Naturwissenschaften auf die Fahnen geschrieben hatte.59 1930 stellte die ÖDW Stetter beziehungsweise dem II. Physikalischen Institut einen Schleifenoszillografen im Wert von 10.000 Reichsmark zur Verfügung, mit dem Experimente zur Atomzertrümmerung mit schnellen α-Teilchen aus Radium C durchgeführt werden konnten. Auch in der Folgezeit übernahm sie die bei Betrieb des Gerätes anfallenden Kosten.60 Im Vergleich zu den zwei- bis dreistelligen Fördersummen, die die ÖDW in den späten 1920er- und frühen 1930er-Jahren üblicherweise gewährte, stellte diese Unterstützung eine seltene Ausnahme dar.61 54 Vgl. AUW, NL Stetter, AT-UAW/131.40, Karl Lintner, Georg Stetter – 70 Jahre. 55 Vgl. ADM, Nachlass Walther Gerlach, 80/417/2, Kirsch an Gerlach vom 12.3.1939. Zwischen 1927 und 1937 nahm die Zahl der Promotionen im Fach Physik an der Universität Wien signifikant zu. Vgl. Bischof 2000, 30. 56 Vgl. AUW, NL Stetter, AT-UAW/131.40, Georg Stetter, Schriftenverzeichnis, undatiert. 57 Vgl. AUW, NL Stetter, AT-UAW/131.40, Wiederbesetzung der ordentlichen Lehrkanzel für Physik nach o. Prof. Dr. Georg Stetter vom 14.3.1966. 58 Vgl. AUW, Personalakten Phil. Fak., Schintlmeister, Josef, PH PA 3293 Kiste 227, Bl. 2–6, Georg Stetter, Kommissionsbericht betreffend venia legendi für Experimentalphysik an Dr. Josef Schintlmeister, undatiert. 59 Vgl. AÖAW, Wissenschaftshilfe, Karton 2, Stetter an ÖDW vom 27.5.1929. 60 Vgl. AÖAW, Wissenschaftshilfe, Karton 2, ÖDW an Stetter vom 18.2.1930. 61 Die ÖDW förderte auch andere österreichische Physiker. Jedoch erhielt nur Felix Ehrenhaft eine ähnlich hohe Förderung, nämlich 12.000 RM für die Anschaffung eines Elektromagneten. Vgl. AÖAW,
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Pettersson blieb für die RF in den 1930er-Jahren der Hauptansprechpartner, und dies, obwohl er in der internationalen Kernforschergemeinschaft einen ambivalenten Ruf genoss. Bei der New Yorker Stiftung war man davon überzeugt, »that although P[ettersson] has made mistakes in the work of his laboratory, he has contributed some sound things and has surrounded himself with a group of thoroughly sincere workers«.62 Im seinem Förderantrag von 1929 verwies Pettersson explizit auf die bisherigen Leistungen und laufenden Arbeiten Stetters. Die amerikanischen Gelder flossen in der Folgezeit zunehmend an das II. Physikalische Institut, wo Stetter als Assistent tätig war. Petterssons Antrag überzeugte die Unterhändler der RF, die laufenden Arbeiten an der Universität Wien für zwei weitere Jahre (1930–1932) mit insgesamt 5.000 US-Dollar zu unterstützen. 1933 verlängerte sie die Förderung abermals um ein Jahr. Die ausgeschütteten 10.000 Schilling dienten der Anschaffung von Geräten und Material für die laufende Kernforschung am II. Physikalischen Institut. Bis in die zweite Hälfte der 1930er-Jahre wuchs die Gruppe der Kernforscher und Kernforscherinnen an allen Physikalischen Instituten in Wien auf 40 Personen inklusive Doktoranden und Doktorandinnen an.63 Die Atomzertrümmerer der ersten Stunde wichen einer neuen Generation atomphysikalisch ausgebildeter Physiker und Physikerinnen sowie Chemiker und Chemikerinnen. Unter ihnen war auch Josef Mattauch, der als einer der wenigen Wiener dem »Ruf nach höchsten Spannungen« in der Kernphysik enthusiastisch folgte.64
Der Einzug grosstechnischer Geräte in die internationale Kernphysik Die Atomzertrümmerungsforschung, die der Kernforschung im engeren Sinne vorausging, nutzte im Wesentlichen Strahlungsquellen auf Basis natürlicher radioaktiver Wissenschaftshilfe, Karton 1, Protokoll über die Sitzung des Kuratoriums der Österreichisch-deutschen Wissenschaftshilfe in Innsbruck vom 8.6.1931. 62 RAC, RF, RG 1.1, Series 705D, Box 3, Folder 25, Tisdale an Weaver vom 18.7.1934. 63 ÖStA-AVA, Bundesministerium für Unterricht, 4G/F868, Gutachten der Kommission zur weiteren Subventionierung auf dem Gebiete der Atomzertrümmerung vom 29.4.1937. 64 Zitat nach Weiss 2000, 700. Josef Mattauch kam 1926/27 als Rockefeller-Stipendiat an das NormanBridge Laboratory in Pasadena, USA. Unter der Leitung Robert Millikans begann er, sich dort mit der Massenspektrometrie zu beschäftigen. 1933/34 entwickelte er – inzwischen als Assistent am I. Physikalischen Institut der Universität Wien tätig – gemeinsam mit seinem Schüler Richard Herzog ein doppelt fokussierendes Massenspektrometer, das die Messung von Atomgewichten in bisher ungekannter Präzision ermöglichte. Die physikalische Präzisionsbestimmung der Atommassen zur genauen Bestimmung der Bindungsenergien der Atomkerne und seine Beschäftigung mit der Systematik der Isotope brachten ihn in engen Kontakt mit der Kernphysik. Karlik 1977. Zu Mattauchs späteren, auf Großtechnologien basierten Arbeiten am KWI für Chemie in Berlin : Weiss 1994, 273–274.
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Elemente. Rutherford und seine Mitarbeiter verwendeten ein aus Wien entliehenes Radium-C-Präparat zur Erforschung des Atomkerns und bei den Experimenten zur künstlich induzierten Kernumwandlung. Radioaktive Präparate waren teuer und daher ein knappes Gut. Ihr Verleih war für diejenigen wissenschaftlichen Institute, die darüber verfügten, und für die Radiumindustrie von großem strategischen Wert.65 Die natürlichen Strahlungsquellen waren in ihrer Leistungsfähigkeit auf unter sechs Millionen Elektronenvolt (MeV) begrenzt. Es waren jedoch höhere Energiemengen notwendig, damit geladene Teilchen das elektrische Feld des zu zertrümmernden Kerns eines schweren Atoms durchdringen konnten.66 Forscher in Cambridge entwickelten Ende der 1920er-Jahre den ersten Teilchenbeschleuniger und wiesen damit die von dem russischen Physiker George Gamow theoretisch vorausgesagte künstliche Umwandlung von Kernen empirisch nach. Mit der Entdeckung des Neutrons durch James Chadwick (1932), der künstlichen Radioaktivität durch das Ehepaar Joliot-Curie (1934) sowie dem Nachweis der Bedeutung thermischer Neutronen durch Enrico Fermi (1934) deutete sich ein qualitativer Sprung in der experimentellen Atomzertrümmerungsforschung an. Ungeladene Teilchen (Neutronen) gewannen als Strahlungsquellen für die künstliche Erzeugung von Kernreaktionen gegenüber geladenen Teilchen (α-Teilchen, Protonen, Deuteronen) an Bedeutung. Teilchenbeschleuniger stellten bis Ende des Zweiten Weltkrieges die bevorzugte Quelle zur künstlichen Erzeugung von Neutronen dar. Zudem boten sie die Möglichkeit, radioaktive Isotope herzustellen, die später breiten Einsatz in der Biologie und Strahlenmedizin fanden.67 In der kernphysikalischen »scientific community« in Europa und den USA war die Reaktion auf die Geräte-Revolution der frühen 1930er-Jahre geteilt. In den USA und Großbritannien, aber auch in Frankreich formierte sich eine Gruppe von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die in enger Kooperation mit Ingenieuren ihre Laboratorien gleichsam um die Instrumente herum bauten.68 Die amerikanischen Universitäten, allen voran das Laboratorium von Ernest Lawrence an der University of California in Berkeley, machten 1929 den Anfang. Sie erhielten umfangreiche Förde-
65 Eine Skizze des komplexen Tauschhandels zwischen Industrie und Wissenschaft aus der Sicht des belgischen Unternehmens Union Minière du Haut Katanga, das in den 1920er-Jahren ein Quasi-Monopol auf die Gewinnung und den Verkauf von Radium innehatte, ist enthalten bei Brion/Moreau 2006, 171– 185. 66 Vgl. Schmidt-Rohr 2001, 33. Ein Gramm Radium erzeugt 37 Milliarden α-Teilchen pro Sekunde mit Durchschnittsenergien von ein bis drei MeV. Eine besonders starke Poloniumquelle erreicht bis zu fünf MeV. 67 Vgl. Weiss 2000, 700. 68 Vgl. Pinault 2003, 120–121.
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rungen seitens der RF, die in den 1920er- und 1930er-Jahren eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung der USA zur führenden Wissenschaftsnation im Bereich der Atom- und Quantenphysik spielte. Zum starken Engagement privater Stifter kam eine nicht unbeträchtliche staatliche Förderung. Auch in Zeiten tiefster wirtschaftlicher Depression übernahmen staatliche amerikanische Behörden zwischen 1931 und 1940 rund 60 Prozent der laufenden Kosten für die neue Technologie.69 Die RF und eine Reihe weiterer privater Stiftungen und Spender förderten auch in Europa die großtechnisch basierte Kernphysik.70 Obwohl die Errichtung von Zyklotronen durchschnittlich doppelt so lange dauerte wie in den USA, begann auch dort die Jagd nach immer leistungsfähigeren Geräten.71 Niels Bohr erhielt die mit Abstand größte Fördersumme der RF für den Bau eines Zyklotrons in Kopenhagen.72 Im Cavendish Laboratory, das seit den frühen 1930er-Jahren zunehmend unter Konkurrenzdruck durch andere britische Universitäten geriet, setzte Rutherford alles daran, im Wettlauf um leistungsfähige Großgeräte mitzuhalten.73 1935 spendete der britische Autohersteller Aston 25 Millionen Pfund für den Bau einer Hochspannungsanlage mit zwei MeV in Cambridge. Mit dem Weggang einer Reihe prominenter Physiker aus Cambridge erhielten auch andere universitäre Standorte wie Oxford und Liverpool entsprechende Geräte.74 Frédéric Joliots erste Anfrage zur Finanzierung eines Hochspannungslaboratoriums außerhalb von Paris wurde von der RF abgelehnt.75 Seine guten Kontakte zum »Vater des Zyklotrons«, Ernest Lawrence, aber auch die mit dem Förderprogramm der RF harmonierende Ausrichtung seiner Forschung verhalfen ihm 1937 doch noch zu einer Spende der Stiftung.76 Dank ihrer guten Kontakte zur Volksfront-Regierung Léon Blums erhielten Joliot und seine Frau Irène zudem beträchtliche Mittel von staatlicher Seite. Auch die Fermi-Gruppe in Italien bemühte sich seit Mitte der 1930er-Jahre intensiv darum, Spender für den Bau eines leistungsfähigen Teilchenbeschleunigers zu finden und die faschistische Regierung Benito Mussolinis für das Projekt zu interessieren. Beides misslang jedoch.77
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Kevles 1992, 204, 210–211. Vgl. Gray 1978. Für das Fallbeispiel der Physik in Deutschland siehe Macrakis 1986. Vgl. Heilbron 1986. Vgl. Aaserud 1990. Vgl. CCAC, CHAD II 1/17, Rutherford an Chadwick vom 12.10.1937. Vgl. Hughes 2003, 106, 114–115 ; Hinokawa 2003. Vgl. Pinault 2003, 122–124. Vgl. Musée et Archives de l’Institut du Radium, ab sofort : MIC, Archives Joliot-Curie, Fonds Frédéric Joliot, F 55, f. 321, Joliot an Administrateur du Centre National de la Recherche Scientifique vom 12. 7.1937. 77 Vgl. Battimelli 2003.
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In Deutschland wurden Planung und Bau von Beschleunigern durch die schwierige Finanzlage des Reiches in den frühen 1930er-Jahren erschwert. Die beiden frühesten Projekte ließen sich nur durch private Spenden realisieren. Die RF stellte dem KaiserWilhelm-Institut (KWI) für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin 1932 10.000 Reichsmark für die Anschaffung eines Hochspannungserzeugers zur Verfügung, der dort zu einem kleinen Beschleuniger ausgebaut wurde. Lise Meitner am Berliner KWI für Chemie erhielt zum selben Zweck einen Betrag in ähnlicher Höhe aus der Privatschatulle von Carl Bosch. Beide Anlagen wurden kaum forschungsrelevant.78 Gerhard Hoffmann war der erste Physiker, der 1937 mit Unterstützung des Reichsforschungsrates, des sächsischen Kultusministeriums und der Helmholtz-Gesellschaft in Leipzig ein Zyklotron errichtete.79 Unter den deutschen Kernforschern und Kernforscherinnen war die Begeisterung für die großtechnischen Geräte in den 1930er-Jahren allerdings geteilt. Otto Hahn gab zum Beispiel seine zögerliche Haltung gegenüber der komplexen Technologie erst auf, als die Notwendigkeit stärkerer Strahlungsquellen zur genaueren Untersuchung der Spaltprodukte nach der Entdeckung der Kernspaltung 1938/39 zwingender wurde.80 Im schwedischen Stockholm ließ Manne Siegbahn bis 1939 ein erstes Zyklotron errichten, das später durch ein Gerät von bis zu 30 MeV ersetzt wurde.81
Die Wiener Reaktionen auf den internationalen »Ruf nach höchsten Spannungen« Viele Physiker und Physikerinnen, die die Geräteentwicklung in den USA in der wissenschaftlichen Literatur verfolgten, standen dem Lawrence’schen Zyklotron in Berkeley bis Mitte der 1930er-Jahre skeptisch gegenüber. Die Apparatur erschien im Vergleich zu einer Cockcroft-Walton-Hochspannungsanlage oder einem Van-de-GraaffGenerator wenig zuverlässig und kompliziert in der Handhabung, wenngleich sie intensivere Strahlung erzeugte. Die Bedenken zerschlugen sich allerdings bei denjenigen schnell, die mit Lawrence Kontakt hatten und seine Anlagen persönlich in Augenschein nehmen konnten.82 In der Wiener physikalischen Gemeinschaft verfügte in den 78 79 80 81
Vgl. Weiss 2000, 709–710. Vgl. Osietzki 1994, 261–262. Vgl. Weiss 2000, 705. Das erste Stockholmer Zyklotron konnte Deuteronen auf eine Energie von fünf bis sechs MeV beschleunigen, das spätere hatte eine Endenergie von bis zu 30 MeV. Vgl. http ://nobelprize.org/nobel_prizes/ physics/laureates/1924/siegbahn-bio.html ; Zugriff : 18.10.2010. 82 Vgl. Battimelli 2003, 177–178.
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1930er-Jahren kaum jemand über ausreichende Mittel – sei es aus privatem Vermögen oder aus Reisestipendien –, um eine solche Studienreise nach Übersee zu unternehmen. Die Aktivitäten in den europäischen und amerikanischen Forschungszentren waren in Wien gleichwohl bestens bekannt. Stefan Meyer stand als Institutsleiter in engem Briefkontakt mit amerikanischen und britischen Forschern und erfuhr zudem über Dritte zeitnah von den neuen technischen Entwicklungen.83 Obwohl die Kollegen und Kolleginnen aus dem Ausland nicht immer en détail berichteten, war man in Wien über die Probleme bei der Beschaffung und Inbetriebnahme der hochkomplexen Geräte recht gut im Bilde. Rona, die als Gastforscherin mehrmals am Laboratoire Curie in Paris tätig gewesen war und 1936 anlässlich eines längeren Aufenthaltes in England das Labor von Frederick Soddy in Oxford besuchte, informierte Meyer ausführlich über die dortigen Aktivitäten.84 Im Jahr darauf berichtete Elisabeth Kara-Michailova, die als Stipendiatin am Cavendish Laboratory arbeitete, an Rona : »Von Irene [Joliot-Curie, S.F.] hat man schon lange nichts mehr gehoert, ich möcht’ wissen, ob die nicht mit ihren 2 x 106 Volt etwas ganz grossartiges machen, oder ob sie alle in Paris eingeschlaffen [sic] sind. […] Unsre Cambridger Anordnung ist noch nicht ganz betriebsfertig ; die Röhre macht noch Schwierigkeiten. Aber das wird wohl noch vor den Ferien erledigt werden.«85
Pettersson nutzte die Gelegenheit, sich auf der Rückreise von Wien nach Göteborg in Paris einen Eindruck vom Umbau der Laboratorien und der laufenden Forschungsarbeit zu verschaffen.86 Schließlich machte sich 1937 auch Emerich Granichstädten, ein wohlhabender Wiener Chemiker und Unternehmer, der mit Meyer federführend die Gründung des Gasteiner Forschungsinstitutes betrieb, durch Meyers Vermittlung ein Bild von den neuen Pariser Hochspannungsanlagen.87 Die in Wien zusammenlaufen83 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 16, Fiche 255, Lind an Meyer vom 29.12.1937 ; AÖAW, FEAkten, IR, NL Meyer, K 18, Fiche 297, Rutherford an Meyer vom 23.4.1937 ; AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 215, Hevesy am Meyer vom 29.8.1936. 84 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 18, Fiche 291, Rona an Meyer vom 17.7.1934 und vom 2.8.1936. 85 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, Splitternachlässe, Nachlass Elisabeth Rona, K 67, Fiche 973, KaraMichailova an Rona vom 12.7.1937 und AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 14, Fiche 232, KaraMichailova an Meyer vom 7.6.1936. Siehe auch Tsoneva-Mathewson/Rayner-Canham/Rayner-Canham 1997, 205–208. 86 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 284, Pettersson an Meyer vom 29.3.1936. 87 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 22, Fiche 353, Meyer an Joliot-Curie vom 12.10.1937. Vgl. zur Frühgeschichte des Gasteiner Forschungsinstitutes den Beitrag von Wolfgang Knierzinger in diesem Band sowie Knierzinger 2009.
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den Informationen über die europäischen Teilchenbeschleuniger waren jedoch offenbar widersprüchlich. Denn der Nutzen der neuen Großgeräte für die Erforschung der künstlichen Kernumwandlung blieb ähnlich umstritten wie im Hahn/Meitnerschen KWI für Chemie in Berlin. Im Herbst 1937 berichtete Berta Karlik, die als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Radiumforschung arbeitete, an Pettersson in Göteborg : »Stetter’s, Ortner’s and [Josef ] Mattauch’s attitude were very different from each other. Stetter said : ›the thing is going to take up a lot of my time and energy. I am only going to spend all that on a purely technical problem, if really something technically new comes out of it, but that will go beyond our means.‹ Ortner’s idea was similar in a way and apart from that he is not so convinced of the ›Alleinseeligmachende‹ of such an apparatus. ›There are still possibilities with Ra[dium], you just have to have a really good idea, that’s all.‹ I must say I can see their point, it means a tremendous amount of work and if they don’t feel it will pay, well, then you can’t induce them to undertake it. Mattauch thought it would be just fun to try to copy one of the already existing arrangements and he has now associated with [Hermann F.] Mark. The only hope we have left is that here and there we may be allowed to use the apparatus when working. But that will be on rare occasions I am afraid. I am not so very disappointed for, to some extent, I share Ortner’s view, but Elizabeth [Rona] rather is and this, of course, the chemist speaking [sic].«88
Die Skepsis vieler Wiener Physiker und Physikerinnen gegenüber den großtechnischen Geräten war aus apparativ-instrumenteller Sicht durchaus begründet. Immerhin verfügte die Forschungsgruppe über genügend natürliche Strahlungsquellen, um die kernphysikalische Arbeit in konventioneller Weise fortsetzen zu können.89 Während die Fermi-Gruppe und auch andere Kernforscher und Kernforscherinnen ihre Präparate von Dritten leihen mussten, erlaubten die in Wien vorhandenen Präparate die Herstellung von für die damalige Zeit sehr starken Neutronenquellen.90 Die Wiener wurden in ihrem Vertrauen auf das Vorhandene durch positive Rückmeldungen aus dem In- und Ausland bestärkt. So äußerten sich beispielsweise die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Laboratoire Curie voller Hochachtung über die Arbeit Ronas, die im Institut für Radiumforschung für die Herstellung von Poloniumpräparaten verantwortlich war – und dies zu einem Zeitpunkt, als die Einrichtung der Hochspannungs88 GUB, Hans Pettersson Vetenskaplig korrespondens, Karlik an Pettersson vom 6.11.1937. 89 Nachdem die Fermi-Gruppe 1934 radioaktive Nuklide durch Beschuss schwerer Atomkerne mit Neutronen erzeugt hatte, wandte sich auch in Wien eine Gruppe um Rona dieser Fragestellung zu. Siehe dazu Föyn/Kara-Michailova/Rona 1935 ; Neuninger/Rona 1935. 90 Vgl. Battimelli 2003, 175 ; Rentetzi 2007, Chapter VI, 1.
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anlagen in Paris bereits in vollem Gange war.91 Auch in Cambridge interessierte man sich für die Wiener Methode der Präparatherstellung.92 Mit der wachsenden Zahl von Forschern und Forscherinnen, die an den Wiener Physikalischen Instituten kernphysikalisch arbeiteten, entbrannte jedoch zunehmend Konkurrenz um das kostbare Gut. In den frühen 1920er-Jahren hatte Meyer den Gastforschern und Gastforscherinnen seines Instituts und auswärtigen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen noch bereitwillig Radiumemanation, Polonium und andere strahlende Präparate zur Verfügung gestellt.93 Um den eigenen Bedarf zu decken, lehnten er und seine Kollegen Anfragen nach Verleih oder Verkauf solcher Präparate in den 1930er-Jahren fast immer ab.94 Selbst ehemalige Mitarbeiter des Wiener Instituts, wie der 1933 nach London emigrierte Fritz Paneth, erhielten radioaktive Präparate nur nach längerer Wartezeit. Ortner, der die Bereitstellung der Präparate im Institut für Radiumforschung koordinierte, schrieb ihm im Herbst 1935 : »Was die Emanation betrifft, so steht die Sache sehr ungünstig. Momentan besteht innerhalb des Instituts eine derartige Nachfrage nach Emanation, daß ich fortdauernd Schwierigkeiten mit der Verteilung habe. Heute bw. [bspw., S.F.] bekam eine Dame ca. 400 Mc. [Millicurie, S.F.] für Neutronenversuche und braucht als Nachschub im Laufe dieser Woche nochmals Emanation, was zur Folge hat, daß ein Herr, der Ra-C braucht, die ganze Woche nicht arbeiten kann. Ich fürchte, dass vor Weihnachten sich die Situation nicht ändern wird. Meine ›Diktatur‹ ist eben leider durch die Menge des vorhandenen Radiums sehr eng beschränkt. […] 1200 Mc. im Laufe von 3 bis 4 Wochen werde ich im Laufe des Studienjahres wohl nicht erübrigen können, da das einen ebensolangen Stillstand der hiesigen Arbeiten mit Emanation bedeuten würde. Ich bedauere aufrichtig, dass ich Ihnen derzeit nicht behilflich sein kann.«95
Lediglich Gastforscher und Gastforscherinnen, die in Wien kernphysikalisch arbeiteten, erhielten die angeforderten Präparate ohne größere Schwierigkeiten. Die strategi91 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 284, Pettersson an Meyer vom 29.3.1936. 92 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 18, Fiche 292, Rona an Meyer vom 21.7.1936 und 19.7.1937. 93 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 21, Fiche 342, Meyer an Hoffmann vom 8.3.1929 ; AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche 310, Smekal an Meyer vom 7.3.1931. 94 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Fiche 175, Meyer an Blau vom 14.2.1933 ; AÖAW, FEAkten, IR, NL Meyer, K 21, Fiche 342, Meyer an Becker vom 30.4.1935 ; AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 271, Ornstein an Meyer vom 8.7.1935 ; AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 15, Fiche 240, Meyer an Korvezee vom 27.11.1935 ; AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 21, Fiche 342, Przibram an Greinacher vom 20.9.1937. 95 Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, ab sofort : AMPG, Nachlass Friedrich Adolf Paneth, Abt. III/Rep. 45/84, Ortner an Paneth vom 21.10.1935.
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sche Verteilungspolitik bewog manchen ausländischen Wissenschaftler, der zuvor am Cavendish Laboratory oder einem anderen renommierten Laboratorium gearbeitet hatte, seine Arbeit in Wien fortzusetzen. Darunter war der Assistent am Physikalischen Institut der Universität Debrecen, Sándor Szalay, der zuvor am Cavendish Laboratory als Gastforscher tätig gewesen war. Auch der japanische Physiker Ryôkichi Sagane, der ein Jahr an Lawrence’ Zyklotron in Berkeley gearbeitet hatte und zu den führenden Köpfen der Forschungsgruppe um Yoshio Nishina im Riken zählte, war im Frühjahr 1937 Gast des Wiener Instituts.96 Die in Wien vorhandenen radioaktiven Strahlungsquellen stellten auch eine gewisse Kompensation für die schwindenden Fördermittel privater Stiftungen und der öffentlichen Hand dar.
Rückzug der Rockefeller Foundation aus der österreichischen Kernforschung Die RF begann Anfang der 1930er-Jahre, ihr Engagement auf ausgewählte Wissenschaftszentren zu begrenzen und diese mit umfangreichen Summen zu fördern. Die Auswahl förderungswürdiger Institute erfolgte auf der Grundlage neuer Statuten, die der Stiftungsrat 1932 verabschiedete. Den geänderten Richtlinien zufolge unterstützte sie kernphysikalische Arbeiten nur noch dann, wenn diese sich in den Kontext der Lebenswissenschaften einfügten.97 Anders als etwa bei Lawrence in Berkeley, Joliot in Paris oder im Bohr’schen Laboratorium in Kopenhagen stellte in Wien eine entsprechende inhaltliche Umorientierung der laufenden Kernforschung keine Option dar.98 Es ist bezeichnend, dass Stetter den Einsatz großtechnischer Geräte in der Kernphysik in der internen Diskussion als »technisches« Problem ansah und weniger als eine Möglichkeit zur interdisziplinären Kooperation mit anderen Wiener naturwissenschaftlichen oder gar medizinischen Instituten.99 Auch Karlik sah im Projekt eines Teilchen96 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche 315, Szalay an Meyer, 22.12.1936 ; AÖAW, FEAkten, IR, NL Meyer, K 18, Fiche 297, Sagane an Meyer vom 24.4.1937. Siehe zu Saganes beruflichem Werdegang Low 2006, 280–282. 97 Vgl. RAC, RF, RG 3, Series 915, Box 1, Folder 6, Natural Sciences – Program and Policy – Past program and proposed future program vom 11.4.1933. 98 Fritz Kohlrausch, der an der TH Graz Raman-Spektren untersuchte, war einer der wenigen Physiker in Österreich, dessen Forschungsarbeit im Rahmen der neuen Richtlinien das Interesse der Stiftung fand. Vgl. RAC, RF, RG 1.1., Series 705D, box 2, Folder 19, Tisdale an Weaver vom 25.10.1934. 99 GUB, Hans Pettersson Vetenskaplig korrespondens, Karlik an Pettersson vom 6.11.1937. Niels Bohr, dem mit Georg von Hevesy ein erfahrener Radiochemiker zur Seite stand, nutzte das Argument der Interdisziplinarität, um von der RF und dänischen Geldgebern umfangreiche Förderungen zu erhalten. Vgl. Aaserud 1990.
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beschleunigers vornehmlich die Gefahr unliebsamer Konkurrenz zu dem seit 1932 in Wien tätigen Direktor des I. Chemischen Laboratoriums und Professor für physikalische Chemie, Hermann F. Mark.100 Die Denkweise entlang formal etablierter Disziplinengrenzen wurde durch die institutionellen Strukturen in Wien gestärkt. So gestatteten die Statuten des Instituts für Radiumforschung die Ausrichtung auf biologische und medizinische Radioaktivitätsforschung nicht – was informelle Kooperationen mit anderen Instituten allerdings nicht ausschloss.101 Mitte der 1930er-Jahre – also just zu dem Zeitpunkt, als die hier skizzierten Diskussionen stattfanden – wurde mit der Gründung des Gasteiner Forschungsinstituts ein Versuch unternommen, die interdisziplinäre Forschung von Balneologen, Biologen, Geologen, Chemikern und Physikern an einem Ort zu bündeln und zu institutionalisieren. Das neue Institut konnte das Interesse der Amerikaner aber nicht wecken.102 Es lag nicht nur an der mangelnden inhaltlichen Kompatibilität des Wiener kernphysikalischen Forschungsprogramms mit den neuen Statuten, dass die RF ihr Engagement in Wien schließlich einstellte.103 Der Stiftung ging es vielmehr darum, ihre Förderung stärker auf die führenden kernphysikalisch arbeitenden Laboratorien zu begrenzen. Die Wiener Physikalischen Institute zählten eindeutig nicht dazu, wie der Direktor der Abteilung Naturwissenschaften der RF, Warren Weaver, seinem Pariser Kollegen Wilbur E. Tisdale 1934 erläuterte : »If one were to support any work in atomic or nuclear disintegration (and this subject, incidentally, is going forward so rapidly and so successfully that there would seem to be a reasonable doubt as to whether it needs any impetus from us), I would suppose that the group at Cambridge and Lawrence’s group at Berkeley would lead the list in desirability, with Lauritson at Calif. Tech., van der Graff at MIT, Jolliot [sic] and Curie at Paris, and various other European workers coming in the second flight. It would be my own estimate that Pettersson’s work is probably in the third flight. […] I would suppose that the only 100 Zu Inter- und Transdiziplinarität von Marks Wiener Schule der Hochpolymerforschung vgl. Feichtinger, 14–15. Die Radiochemie spielte an der Universität Wien vor dem Zweiten Weltkrieg in Lehre und Forschung eine untergeordnete Rolle. Vgl. AUW, Personalakten Phil. Fak., Broda, Engelbert, PH PA 1126 Kiste 45, Bl. 294, Ebert an Bundesministerium für Unterricht vom 18.5.1949. 101 Vgl. Meyer 1950, 19. Zu den informellen Kooperationen mit den Wiener Krankenhäusern und dem Vivarium siehe Rentetzi 2007, Chap. VI, 15–23. 102 Vgl. Knierzinger 2009, 123. 103 Anders als in Deutschland spielte zu jener Zeit die veränderte politische Situation in Österreich keine Rolle bei den Förderentscheidungen der RF. Vgl. Macrakis 1989. Die »unpolitische« Haltung der Stiftung zeigt sich auch darin, dass Fritz Kohlrausch an der Technischen Hochschule Graz für seine Arbeiten zum Raman-Effekt bis 1940 Gelder der Rockefellers bekam. Vgl. RAC, RF, RG 1.1., Series 705D, Box 2, Folder 19, Tisdale an Kohlrausch vom 8.2.1939.
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reason we would extend any further assistance to him is on the basis of our past relations with the project.«104
Auf Bitten Petterssons gewährte die Stiftung 1935 noch einmal 5.000 Schilling und verlängerte ihre Förderung damit um ein weiteres Jahr, offiziell in Anerkennung des staatlichen österreichischen Engagements.105 1936 stellten die Amerikaner die Finanzierung der Wiener Kernforschungsarbeiten endgültig ein.
Die Folgen der staatlichen Austeritätspolitik für die österreichische Kernforschung Seit 1928 hatte das Pariser Büro der RF Stefan Meyer immer wieder aufgefordert, den österreichischen Staat beim Unterhalt seines Instituts in die Pflicht zu nehmen. Bei den Verhandlungen mit dem Bundesunterrichtsministerium wusste Meyer diese Mahnungen der Rockefellers geschickt zu nutzen. Doch die politischen Vorzeichen für eine staatliche Forschungsförderung wandelten sich im Österreich der 1930er-Jahre grundlegend. Mit Engelbert Dollfuß kam 1932 ein nationalkonservativer Politiker an die Macht, der den Weg zur faschistischen Diktatur des »Ständestaates« ebnete. Im März 1933, nach dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, begann er seinen autoritären Regierungskurs, der von einer instabilen Koalition der Christlichsozialen Partei, der agrarischen Großdeutschen Partei und der paramilitärischen Heimwehr gestützt wurde. Für die neue Regierung hatte die Sanierung des staatlichen Haushalts neben der Stabilisierung des Außenhandels oberste Priorität.106 Bereits die Vorgänger der späteren »Ständestaat«-Regierung hatten die Wirtschaftskrise von 1931 zum Anlass genommen, um die Zahl der besoldeten Assistenten- und Hilfskraftstellen sowie die Jahresdotationen der Universitätsinstitute drastisch zu reduzieren.107 Zu Beginn des Jahres 1933 sahen sich die Universitätsinstitute mit weiteren Kürzungen konfrontiert. Das Institut für Radiumforschung war von der staatlichen Austeritätspolitik massiv betroffen. Denn das Bundesunterrichtsministerium kürzte auch der ÖAW die Zuschüsse zum Betrieb ihrer Institute sowie die Druckkostenbeihilfen. Die Akademie hatte selbst kaum Spielraum, um die Kürzungen auszugleichen. Ihr Gesamtvermögen, 104 RAC, RF, RG 1.1, Series 705D, Box 3, Folder 25, Weaver to Tisdale, 19.7.1934. 105 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 284, Tisdale an Pettersson vom 1.7.1935. 106 Vgl. Kluge 1984, 107. 107 Vgl. AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, Mitarbeiter, Allgemeines, K 1, Fiche 12, Rundschreiben des Dekanats der Philosophischen Fakultät der Universität Wien vom 24.11.1931 ; ÖStA-AVA, Bundesministerium für Unterricht, F650/4, Bericht des II. Physikalischen Institutes vom 28.11.1931.
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soweit es Stiftungen in ausländischer Währung betraf, ging durch die laufende Abwertung der Valuten ebenfalls zurück : Das Vermögen der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Klasse sank zwischen 1932 und 1934 um die Hälfte.108 In einem Brief an Pettersson klagte Meyer im Frühjahr 1933 : »Wenn es auch mein Bestreben ist mit allen Mitteln des Instituts für Radiumforschung die Arbeiten der ›Atomzertrümmerer‹ zu fördern, so wissen wir eben doch nicht, wie es weitergehen soll«, und er fürchtete sogar, »dass hier die wissenschaftliche Forschung ganz unterbunden wird«.109 Es wirkt auf den ersten Blick widersinnig, dass das Bundesunterrichtsministerium trotz des rigiden Sparkurses 1934 zusagte, die Atomzertrümmerungsarbeiten nach mehrjähriger Unterbrechung nun doch wieder finanziell zu unterstützen. Kurzfristig schien es, als strebe die nach der Ermordung Engelbert Dollfuß’ im Juli 1934 ins Amt gekommene, neue Regierung einen Kurswechsel in der Wissenschaftspolitik an. Zumindest in Hinblick auf die Kernforschung, so betonte Pettersson gegenüber der RF, seien die Sonderzuwendungen als Zeichen zu werten, dass »the Austrian Ministry of Education has at last realized the importance of the research carried out for so many years in two Austrian institutes by an international team of physicists and chemists«.110 Die beiden Sonderdotationen in Höhe von jeweils 5.000 Schilling für die Jahre 1935 und 1936, die Pettersson in einer persönlichen Audienz mit dem schwedischen Botschafter in Wien bei Kurt Schuschnigg erwirkte, überstiegen die finanziellen Zuwendungen an die übrigen naturwissenschaftlichen Institute des Landes bei Weitem.111 Wie lässt sich der Gesinnungswandel erklären ? Die Wiener Physiker ließen selbst kaum eine Gelegenheit aus, um auf das langjährige Engagement der RF und anderer ausländischer Stiftungen zu verweisen und so die Bedeutung ihres Forschungsfeldes zu unterstreichen.112 Das Ministerium nahm ihr Argument durchaus zur Kenntnis und zeigte sich – zumindest nach außen hin – beeindruckt von der tatkräftigen Unterstützung des schwedischen Botschafters für die Anliegen der Atomzertrümmerer.113 Im langfristigen wissenschaftspolitischen Kurs des Unterrichtsministeriums genoss das Forschungsgebiet aber trotzdem keine Priorität. Das Ministerium verfolgte vielmehr ein Ziel, das regierungsseitig schon in den 1920er-Jahren diskutiert worden war : die 108 ÖStA-AVA, Bundesministerium für Unterricht, F 2918/15, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Tabelle Staatsdotation 1925–1934. 109 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 283, Meyer an Pettersson, vom 26.4.1933. 110 RAC, RF, RG 1.1, Series 705D, Box 3, Folder 25, Pettersson an Tisdale vom 26.4.1935. 111 Vgl. ÖStA-AVA, Bundesministerium für Unterricht, F 868/4G, Universität Wien, II. Phys. Inst. und Inst. für Radiumforschung, Subventionierung der Arbeiten auf dem Gebiete der Atomzertrümmerung vom 24.11.1934 und Universität Wien, I. Physikalisches Institut, Dotationszuschuss vom 23.3.1935. 112 Vgl. ÖStA-AVA, Bundesministerium für Unterricht, F 868/4G, Akademie der Wissenschaften in Wien, Bericht der Kommission für die Untersuchung der radioaktiven Substanzen, undatiert [1934]. 113 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 284, Pettersson an Meyer vom 29.4.1936.
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Reduzierung der (natur-)wissenschaftlichen Universitätsinstitute in Österreich. Im Zuge der Sparmaßnahmen wurde die Lehrkanzel von Gustav Jäger, dem Leiter des II. Physikalischen Instituts, nach dessen Pensionierung 1934 nicht neu besetzt. Langfristig sollte das Institut aufgelöst beziehungsweise mit dem I. Physikalischen Institut zusammengelegt werden.114 Unter den Wiener Physikern und Physikerinnen formierte sich umgehend breiter Widerstand.115 Es verwundert daher kaum, dass das Ministerium die Sonderdotationen für die Kernforschung nur unter der Bedingung gewährte, dass die Auflösung des Instituts nicht torpediert würde.116 Diese forschungspolitischen Maßnahmen lösten einen Verteilungskampf aus, der bezeichnend war für den schlechten Stand der Atomzertrümmerer innerhalb der Wiener Physik. Am nachdrücklichsten meldete sich der Leiter des III. Physikalischen Instituts und notorische Außenseiter unter den Wiener Physikern, Felix Ehrenhaft, zu Wort.117 Er und einige seiner Kollegen gaben der Sorge Ausdruck, dass die Wiener Kernforscher mit tatkräftiger Unterstützung Meyers das II. Physikalische Institut in eine »Filiale des Radiuminstituts« verwandelt hätten. Ihrem steten Hunger nach Raum und Material müsse Einhalt geboten werden.118 Der Vorwurf, die Kernphysik stelle in wirtschaftlich schwierigen Zeiten eine Verschwendung von anderweitig dringend benötigtem Personal und Material dar, wurde keineswegs nur im wirtschaftlich gebeutelten Österreich vorgebracht. Auch Rutherford geriet in Großbritannien unter Beschuss, weil er das Forschungsprogramm seines Labors nicht an den Erfordernissen der Industrie ausrichtete. Kritik kam vor allem aus dem Beraterstab des Department of Scientific and Industrial Research, dem er selbst vorstand. Seinem Mitarbeiter Mark Oliphant gegenüber klagte er 1935 : »They have been at me again, implying that I am misusing gifted young men in the Cavendish to transform them into scientists chasing useless knowledge.«119 Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) als Nachfolgerin der Notgemeinschaft war nach dem Rückzug der RF die einzige ausländische Stiftung, die sich weiter 114 Vgl. ÖStA-AVA, Bundesministerium für Unterricht, F 868/4G, Information, undatiert [1936]. 115 Vgl. GUB, Hans Pettersson Vetenskaplig korrespondens, Stetter an Pettersson vom 12.3.1934 ; AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 21, Fiche 345, Kommissionsbericht betreffend Vorsorge für die Vorlesung Prof. G. Jägers und Vorschläge für das II. Physikalische Institut vom 5.5.1934. 116 Vgl. ÖStA-AVA, Bundesministerium für Unterricht, F 868/4G, Universität Wien, II. Phys. Inst. und Inst. für Radiumforschung, Subventionierung der Arbeiten auf dem Gebiete der Atomzertrümmerung vom 24.11.1934. 117 Vgl. ÖStA-AVA, Bundesministerium für Unterricht, F 868/4G, Separatvotum Felix Ehrenhaft vom 10.5.1935. 118 ÖStA-AVA, Bundesministerium für Unterricht, F 868/4G, Friedrich Kottler, Stellungnahme zu der Neuordnung des physikalischen Unterrichts, undatiert [1935]. 119 Zitat bei Oliphant 1972, 146.
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in der Förderung der österreichischen Kernforschung engagierte. Sie war als Geldgeberin nach dem Regierungsantritt Hitlers in Deutschland 1933 vorübergehend ausgefallen, da die auswärtigen Beziehungen zu Österreich auf Eis gelegt wurden.120 In der Folgezeit wurde in verschiedenen deutschen Ministerien diskutiert, ob an der Förderung der österreichischen (Natur-)Wissenschaften durch die ÖDW festzuhalten sei. Man einigte sich schließlich darauf, am »leitenden Grundsatz [festzuhalten], keinerlei kulturelle Fäden zu unseren Stammesbrüdern jenseits der Grenze abreissen zu lassen«, und insbesondere die bereits laufenden Projekte – darunter auch die österreichische Kernforschung – weiter zu fördern.121 Die DFG beließ mehrere hochwertige Geräte in Wien.122 Bei den finanziellen Zuwendungen für die österreichische Kernforschung zeigte sie sich allerdings weniger spendabel als noch in den 1920er-Jahren.123 Die Wiener erhielten nicht zuletzt dank der Fürsprache des DFG-Präsidenten Johannes Stark Sachbeihilfen für die kernphysikalische Arbeit. Stark teilte mit Kirsch und Stetter die Sympathie für das nationalsozialistische System.124 Zudem gewährte die DFG Wiener Nachwuchswissenschaftlern vereinzelt Stipendien.125
120 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 283, Meyer an Pettersson vom 26.4.1933. 121 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin, Bd. 1 (Wissenschaftl. Institute und Vereinigungen), R 65815, Auswärtiges Amt an Reichsministerium des Inneren vom 19.7.1933. Siehe auch Bundesarchiv Koblenz, ab sofort : BAK, R 73/14961, Beihilfe für G. Stetter über 750 RM für Arbeiten mit dem Schleifen-Oszillographen. Die Mittel waren zur Beschaffung von Geräten und Materialien (wie z.B. schwerem Wasser, Registrierpapier, Folien und Röhren) bestimmt. Die Förderungspolitik des seit August 1934 amtierenden Präsidenten der DFG, Johannes Stark, war umstritten und er konnte aus Geldmangel nicht alle seine ursprünglich gefassten Pläne verwirklichen. Siehe dazu Flachowsky 2008, 167–174. 122 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Fiche 172, Ortner an DFG vom 22.4.1937 und 20.6.1938. 123 So wurde etwa der Antrag Kirschs aus dem Jahr 1935 abgelehnt, die Kosten zur Herstellung eines Satzes Spulen für die große Wilsonkammer des II. Physikalischen Instituts zu übernehmen. Die Messungen dienten der quantitativen Erforschung der bei Kernspaltungen auftretenden Kern-α-Strahlen. BAK, R 73/12131. 124 Vgl. BAK, R 73/12131, Beihilfe für G. Kirsch über 300 RM zur Weiterführung der Untersuchungen über Atomzertrümmerung durch radioaktive Strahlen, undatiert [1937]. Das von Kirsch beantragte Stipendium war von der DFG aufgrund Verknappung ihrer Mittel nicht gewährt worden. Vgl. BAB, Physikalisch-Technische Reichsanstalt, R 1519/70, Bl. 27, Kirsch an Stark vom 21.11.1936. 125 Vgl. BAK, R 73/11958, Forschungsstipendium Willibald Jentschke für die Zeit vom 01.06.1937 bis zum 31.03.1938 für 1. Untersuchungen zur Bestimmung der Masse des Neutrons, 2. Nachweis der von Neutronen bei Fermiprozessen unmittelbar ausgeschleuderten α- und H-Teilchen ; BAK, R 73/12232, Forschungsstipendium Friedrich Koch für die Zeit vom 01.06.1937 bis zum 31.03.1938 für Arbeiten über die Zertrümmerung von Stickstoff durch Neuronen mittels einer zu diesem Zweck neu aufzustellenden großen Wilsonkammer.
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Späte Pläne zur Errichtung eines Teilchenbeschleunigers in Wien Was die Finanzierung der laufenden Kosten betraf, so blieb den Wiener Kernphysikern und Kernphysikerinnen mangels Alternativen nur die Wahl, ihre Eingaben an das österreichische Unterrichtsministerium zu intensivieren. Im Winter 1936/37 stellten Stetter und Kirsch einen Antrag, in Wien binnen zwei Jahren eine Hochspannungsanlage von mehreren Millionen Volt zu errichten. Dieser Schritt war – wie bereits angedeutet – innerhalb der Wiener Kernphysik umstritten. Doch bewirkte die Sorge, im internationalen Wettstreit und gegenüber lokalen Konkurrenten wie Mark den Kürzeren zu ziehen, einen Gesinnungswandel. Die beiden Physiker vergaßen nicht darauf hinzuweisen, dass die Anlage neben der kernphysikalischen Forschung auch der Herstellung von Isotopen für medizinische Zwecke dienen sollte. Die Kontrolle der »wenigstens eine[n]« Hochspannungsanlage in Österreich wollten sie sich aber nicht aus der Hand nehmen lassen.126 Neben Stetter und Kirsch sollten sich Mattauch und Ortner mit der Überwachung des Baus und dem Betrieb der Anlage befassen. Sie wollten mittels eines Reisestipendiums, für das sie noch Sponsoren suchten, in den USA das methodische Rüstzeug erwerben. Die Kosten für das Großgerät schätzten die Antragsteller konservativ auf 50.000 Schilling. Der Rückzug der Rockefellers aus der österreichischen Kernforschung bot dem Ministerium ein willkommenes Argument, den Sinn des Projektes in Zweifel zu ziehen. So werde »die Bedeutung der von den Genannten s[einer]z[ei]t unter werktätiger Beteiligung des Auslandes begonnenen, dann hierseits mit beträchtlichen finan.[ziellen] Mitteln geförderten […] Spezialforschungen […] keineswegs verkannt. Werden aber nunmehr nach Aufhören der ausländischen Subventionen und Austritt des Prof. Dr. Pettersson aus der ›Arbeitsgemeinschaft‹ für die Fortsetzung der Arbeiten immer höhere Beträge in Anspruch genommen […], so muss sich die auf leider sehr beschränkte Mittel für den Gesamtbereich der wiss.[enschaftlichen] Lehre und Forschung angewiesene Unterrichtsverwaltung die Frage vorlegen, ob sie es […] verantworten könnte, sich nach wie vor ernstlich mit den nach Dauer und Kostenerfordernissen anscheinend sehr weitgehenden Plänen einer Gruppe von Forschern zu befassen, denen organisationsmäßig eine maßgebliche und verantwortliche Beurteilung der Bedürfnisse des Hochschulbetriebes, in concreto insbesondere des Betriebes des Vereinig.[ten] I. und II. Phys. Institutes nicht zukommt, dies umso weniger, als die in Rede stehenden Forschungen ein zwar bedeutsames, aber doch nach einer bestimmten Richtung spezialisier126 ÖStA-AVA, Bundesministerium für Unterricht, F 868/4G, Kirsch an Bundesministerium für Unterricht vom 29.12.1936.
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tes Gebiet des Faches umfassen, welches der Vorstand […] der […] Lehrkanzel zu vertreten hat.«127
Vergleicht man die Wiener Situation mit anderen Kernforschungszentren der Zeit, so fällt in der Tat auf, dass der Forschungsgruppe um Stetter und Kirsch Fürsprecher vom Format Rutherfords, Bohrs oder der Joliot-Curies fehlten. Trotz der zunehmend prekären wirtschaftlichen Situation seines Instituts fühlte sich Meyer an seine Zusage aus den späten 1920er-Jahren gebunden, keine ausländische Förderung mehr zu beantragen. Froh, dass die Regierung Dollfuß den »bolschewistischen Putsch […] glücklich abgeschlagen« habe, hielt er sich mit offenen Stellungnahmen und Forderungen zugunsten der Kernforschungsgruppe zurück.128 Dafür sei das Präsidium der Akademie zuständig.129 Auch unter der neuen Regierung Schuschniggs suchte Meyer die Interessen seines Instituts indirekt zu wahren, indem er bei seinem einstigen Assistenten und nunmehrigen Mitglied des Bundeskulturrates, Victor Hess, gegen den verhassten Kollegen Ehrenhaft opponierte.130 Egon von Schweidler, der als neuer Interim-Vorstand des Vereinigten I. und II. Physikalischen Instituts kaum Einblick in die komplexen Finanzierungsstrukturen der Wiener Kernforschung hatte, unterstützte die Gruppe ebenfalls nur halbherzig.131 Die Zurückhaltung Meyers und von Schweidlers stand in Gegensatz zum offenen Lobbyismus Marks, der über beste Verbindungen zu Vertretern der chemischen Industrie in Österreich verfügte. Zu seinem einstigen Arbeitgeber IG Farben pflegte Mark ebenso gute Kontakte wie zur österreichischen Regierung Dollfuß’ und Schuschniggs.132 Über die großtechnischen Entwicklungen in den europäischen und amerikanischen Laboratorien durch eigene ausgedehnte Forschungsreisen bestens informiert,133 ging er seit Mitte der 1930er-Jahre offensiv daran, beim Bundesunterrichtsministerium und der österreichischen Industrie Mittel für den Bau eines Zyklotrons zu werben. Das Ministerium mahnte im Dezember 1937 denn auch an, das von Stetter und Kirsch vorgeschlagene Projekt mit den Plänen Marks abzustimmen sowie die Technische 127 ÖStA-AVA, Bundesministerium für Unterricht, F 868/4G, Subventionierung der Arbeiten auf dem Gebiete der Atomzertrümmerung vom 23.12.1937. 128 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 14, Fiche 223, Meyer an Hönigschmid vom 26.2.1934. 129 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche 307, Meyer an Schweidler vom 31.7.1934. 130 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 21, Fiche 345, Meyer an Hess vom 23.5.1935. 131 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 284, Pettersson an Meyer vom 6.8.1935. 132 Mark pflegte besonders engen Kontakt zu seinem einstigen Kriegskameraden, Engelbert Dollfuß. Auch nach dessen Ermordung 1934 unterhielt er gute Verbindungen zur „ständestaatlichen Regierung“. Vgl. Mark 1993, 65. Siehe auch GUB, Hans Pettersson Vetenskaplig korrespondens, Karlik an Pettersson vom 7.12.1934. 133 Vgl. Mark 1993, 72–76.
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Hochschule Wien (TH Wien) und die Medizinische Fakultät der Universität Wien ins Boot zu holen. Es gelang zwar nicht, Vertreter der TH Wien und der Mediziner für eine Kooperation zu gewinnen. Doch das Projekt sollte die verfeindeten Parteien an der Universität Wien für kurze Zeit einen : Eine Kommission aus hochrangigen Vertretern der Philosophischen Fakultät – darunter Meyer, Mark, von Schweidler und Ehrenhaft – schlug vor, einen Van-de-Graaff-Generator mit einer Leistung von ein bis zwei Millionen Volt oder ein Zyklotron anzuschaffen, das von sämtlichen naturwissenschaftlichen Instituten der Universität Wien gemeinsam benutzt werden sollte. Österreichische Industrieunternehmen hatten sich zuvor bereit erklärt, ein Drittel der erwarteten Kosten von 80.000 bis 100.000 Schilling zu tragen. Die bewusst vage Formulierung, wonach sich »Einzelheiten hinsichtlich der Wahl der Methode, des Aufstellungsortes sowie der Art der Inbetriebnahme und der Betriebsführung noch nicht angeben« ließen, zeigt, dass die interne Diskussion über Sinn und Zweck, vor allem aber über die Kontrolle des Geräts andauerte.134 Das Vorhaben wie auch der ungeklärte Streit um die Ressourcenverteilung zwischen den Wiener Physikalischen Instituten wurden wenig später abrupt beendet. Am 10. Mai 1938 – zwei Monate nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich und der darauf folgenden massenhaften Entlassung politisch unliebsamer und »nicht arischer« Universitätsangehöriger – schloss das österreichische Unterrichtsministerium die Akten, »da durch den Abgang des Prof. Ehrenhaft (Jude) der ganze Streit gegenstandslos geworden ist. […] In welcher Weise die physikalischen Institute um- oder ausgestaltet bzw. teils neu besetzt werden sollen, wird letzten Endes […] das Reichserziehungs-Ministerium entscheiden. Einlegen !«135
Österreichische Kernforschung im Nationalsozialismus Der »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 hatte an den österreichischen Universitäten zunächst gravierende personelle Umbrüche zur Folge.136 An 134 ÖStA-AVA, Bundesministerium für Unterricht, F 868/4G, Kommissions-Bericht über die Erstellung einer Hochspannungsanlage in den Physikalischen und Chemischen Instituten der Universität Wien, undatiert [März 1938]. 135 Zitat bei Höflechner 1991, 194–195. 136 Siehe zu den Auswirkungen der Verfolgung an den Physikalischen Instituten der österreichischen Universitäten Reiter 2004.
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den Physikalischen Instituten der Universität Wien verlor ein Drittel der Beschäftigten aufgrund antijüdischer Maßnahmen und der Verfolgung politischer Gegner ihren Posten, darunter neben Ehrenhaft auch die Institutsvorstände Meyer und Mark. Wissenschaftlich äußerst produktive Mitglieder der Wiener Kernforschungsgruppe wie Marietta Blau oder Elisabeth Rona gingen in die Emigration.137 Die vakant gewordenen Lehrkanzeln wurden – zum Teil mit erheblicher Verzögerung – mit nationalsozialistisch gesinnten Physikern und politischen Mitläufern besetzt.138 Stetter avancierte im Oktober 1939 zum ordentlichen Professor und übernahm die Lehrkanzel des wieder gegründeten II. Physikalischen Instituts. Ortner, der zum Extraordinarius aufstieg, folgte Meyer als Leiter des Instituts für Radiumforschung. Kirsch, dessen fachliche Qualitäten im deutschsprachigen Kollegenkreis fast durchweg angezweifelt wurden,139 wurde im Januar 1941 zum ordentlichen Professor ernannt und trat die Nachfolge des mittlerweile pensionierten Egon von Schweidler als Leiter des I. Physikalischen Instituts an. Der akademische Mittelbau profitierte unterdessen vom »Sofortprogramm«, das die Wiener Physikalischen Institute im April 1938 angefordert hatten, um »wieder de[n] Stand in den Jahren vor der Systemregierung (1932) [zu] erreich[en]«. Im Zuge des Programms beantragten die Institute zudem Sondermittel in »Höhe der Dotationen vor der Zeit der einschneidenden Budgetbeschränkungen«.140 Tatsächlich sah der Reichshaushaltsplan für 1939/40 Mittel in Höhe von 80.000 Reichsmark zur Förderung des Hochschullehrernachwuchses vor, von denen vor allem die Gehälter der habilitierten Forscherinnen und Forscher bezahlt wurden.141 Einige der in der Kernforschung aktiven Wiener Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erhielten zudem Stipendien, die die
137 Vgl. AMPG, Nachlass Friedrich Adolf Paneth, Abt. III/Rep. 45/17719, Blau an Paneth vom 30.3.1938. 138 Vgl. BAB, R 4901/13570, Haushaltsangelegenheiten der Universität Wien (Nachweisungen der Bezüge des Lehr- und Verwaltungspersonals), August 1942–April 1945. 139 Anlässlich der Neubesetzung der Wiener Lehrstühle für Physik nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich (1938) erstellten verschiedene deutsche Professoren Gutachten über die fachliche Qualität von Kirschs Arbeiten. Die Gutachten fielen, im Gegensatz zu den politisch gefärbten Beurteilungen Kirschs durch verschiedene staatliche und parteipolitische Organisationen, durchweg negativ aus. Vgl. BAB, R 4901/ZB II 1930 A. 07, Bl. 16–32, Hans Geiger, Gutachten über Prof. G. Kirsch vom 6.9.1938 ; Walther Gerlach, Gutachten über Prof. G. Kirsch vom 3.9.1938 ; Christian Gerthsen, Gutachten über Herrn Prof. Dr. G. Kirsch vom 9.2.1940 ; Bernhard Gudden, Gutachten über Prof. Dr. Gerhard Kirsch vom 8.4.1940 ; Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Eignungsbericht Prof. Gerhard Kirsch vom 5.8.1940. 140 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, Behördenschriftwechsel 1938–1944 (G. Ortner), K 32, Fiche 441, Ortner an Dekanat der philosophischen Fakultät der Universität Wien vom 15.4.1938. 141 ÖStA-AVA, Bundesministerium für Unterricht, F 297/2C/1, Erlass betr. Beihilfen zur Förderung des Hochschullehrernachwuchses vom 20.5.1939.
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DFG bereitstellte.142 Insgesamt blieben die vom Reichserziehungsministerium gewährten Sonderzahlungen aber weit hinter den ursprünglich geforderten Summen zurück.143 Die in Wien vorhandenen Neutronenquellen ermöglichten es den Wiener Assistenten Willibald Jentschke und Friedrich Prankl kurz nach der Entdeckung der Kernspaltung des Urans 1939 und zeitgleich mit anderen Forschungsgruppen im Ausland, den physikalischen Nachweis für diesen Prozess zu erbringen.144 Doch die Präparate verloren durch die wachsende Verbreitung leistungsfähiger Teilchenbeschleuniger während des Zweiten Weltkrieges allmählich an Bedeutung. Nach dem politischen »Anschluss« hofften die Wiener Kernphysiker und Kernphysikerinnen daher, endlich an die nötigen finanziellen Mittel zu gelangen, um Anschluss an die internationalen Entwicklungen in der Kernphysik zu finden.145 Gelegenheit dazu ergab sich im Rahmen des deutschen Kernenergieprojektes. 1939 erteilte das Heereswaffenamt (HWA) Stetter den Auftrag, für den »Uranverein« kernphysikalische Daten zu erheben. Die Arbeiten fanden im I. und II. Physikalischen Institut der Universität sowie am Institut für Radiumforschung statt.146 Der Auftrag des HWA sollte vorerst allerdings »der erste und lange Zeit einzige Kriegsauftrag« bleiben, zumal das deutsche Militär bald das Interesse an der Kernphysik als potenzieller Waffentechnologie verlor.147 Nicht nur Stetter, auch der neue Leiter des Instituts für Radiumforschung, Gustav Ortner, entfaltete eine rege Korrespondenz mit verschiedenen staatlichen Institutionen, um »das ursprünglich nur der Radiumforschung gewidmete Haus dem größeren Aufgabenkreis eines modernen kernphysikalischen Instituts möglichst rasch anzupassen«.148 Die finanzielle Wende für die Wiener Kernforschung kam jedoch erst, als zivile Institutionen des NS-Regimes die Förderung kernphysikalischer Forschung übernah142 Vgl. z.B. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, K 11, Fiche 173, Weiterbewilligung der DFG-Forschungsstipendien an Dr. Merhaut und Dr. Prankl vom 9.10.1939. 143 Siehe dazu AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, Behördenschriftwechsel 1938–1944 (G. Ortner), K 32, Fiche 442, Korrespondenz Ortners mit dem REM und Verwaltungsstellen der Wiener Hochschulen. 144 Vgl. Jentschke/Prankl 1939, 134. Siehe auch ADM, FA 002/44, Willibald Jentschke, Friedrich Prankl, Energien und Massen der Urankernbruchstücke, Deutsche Berichte zum Atom-Programm 1938–1945, August 1940. 145 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Fiche 173, Ortner an DFG vom 13.10.1939 und Ortner an Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Berlin, undatiert [1941]. 146 Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, ab sofort: ÖStA, AdR, Kurator der wissenschaftlichen Hochschulen, K 3/AZ 1315, 1 (Teil 2), Stetter an Kurator der wissenschaftlichen Hochschulen vom 29.12.1942. 147 OOFR, Mappe 19143, Bl. 66–69, Aussagen des Doktors Alfred Bönisch vom 1. Physikalischen Institut der Wiener Universität vom 4.5.1945. Siehe zum Wandel der Trägerschaft im »Uranverein« Walker 1990, 49–51. 148 ÖStA, AdR, Kurator der wissenschaftlichen Hochschulen, K 19/6147A, Georg Stetter, Antrag auf Umwandlung der ao. Professur für Physik (Radiumforschung) in eine o. Professur, undatiert [Januar 1943].
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men. Im Frühjahr 1942 vergab das Reichsamt für Wirtschaftsausbau (RWA) an Stetter einen Forschungsauftrag zur Durchführung kernphysikalischer Untersuchungen, insbesondere von Neutronenprozessen, der mit rund 77.000 Reichsmark dotiert war.149 Diese Mittel reichten allerdings nicht aus, um das lange geplante Projekt eines Neutronengenerators für Wien zu verwirklichen.150 Das RWA erklärte sich schließlich bereit, zu diesem Zweck weitere Sondermittel in Höhe von 118.000 Reichsmark bereitzustellen.151 Da das Amt »für diejenigen technischen Gebiete, bei denen Forschungsmöglichkeiten nicht oder in ungenügendem Umfange bei bestehenden öffentlichen oder privaten Instituten gegeben sind« eigene Forschungsinstitute einrichtete, war eine erneute Umstrukturierung der Wiener Physikalischen Institute erforderlich.152 Im April 1943 übernahmen Stetter und Ortner gemeinsam die Leitung des Vierjahresplan-Instituts für Neutronenforschung, das aus dem Zusammenschluss von Teilen des II. Physikalischen Instituts und des Instituts für Radiumforschung hervorging.153 Mit diesem Schritt rückte der Erwerb des großtechnischen Gerätes in greifbare Nähe. Kriegseinwirkungen führten jedoch dazu, dass der bereits bezahlte Neutronengenerator der Hamburger Firma C.H.F. Müller Wien bis Kriegsende nicht mehr erreichte.154 Ein apparativ-instrumentell bedingter ›Quantensprung‹ war der österreichischen Kernforschung damit bis auf Weiteres verbaut. Vieles deutet darauf hin, dass auch aus diesem Grunde die »Kriegsaufträge […] sich in wesentlichen Teilen mit den normalerweise im Frieden […] bearbeiteten Aufgaben« deckten.155 Dessen ungeachtet, erhielt die Wiener Gruppe um Stetter vom Reichsforschungsrat, der Anfang 1942 die Kontrolle über das deutsche Kernenergieprojekt übernommen 149 Vgl. AÖAW, Vierjahresplaninstitut für Neutronenforschung, K 1, Konv. 5, Fiche 6, Reichsamt für Wirtschaftsausbau an Stetter vom 18.2.1944. 150 Die ÖAW hatte bereits 1940 eine Zusage gegeben, dem Institut für Radiumforschung 12.000 Reichsmark zum Aufbau einer Hochspannungsanlage für kernphysikalische Zwecke bereitzustellen. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Fiche 173, Ortner an Reichserziehungsministerium, undatiert [1941]. 151 Bereits im Jahr davor hatte das Reichserziehungsministerium den Wiener Instituten Sondermittel in Höhe von 40.000 Reichsmark zur Anschaffung eines Neutronengenerators bewilligt. Vgl. ÖStA, AdR, Kurator der wissenschaftlichen Hochschulen in Wien 1940–1945, K 19/6147A, Ortner an Kurator der wissenschaftlichen Hochschulen vom 3.3.1943. 152 BAB, R 3112/309, Allgemeine Geschäftsordnung für die Forschungsinstitute des Reichsamts für Wirtschaftsausbau vom 18.12.1940. 153 BAB, R 4901/13974, Kurator der wissenschaftlichen Hochschulen an Rust vom 24.1.1944. 154 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, Tätigkeitsberichte, K 5, Fiche 96, Bericht über das Institut für Radiumforschung der Akademie der Wissenschaften in Wien (1939–1946) vom 4.1.1947. 155 ADM, Berichte des deutschen Atomprogramms 1938–45, FA 002/Vorl. Nr. 0705, Bl. 6, Zusammenfassender Bericht über das II. Physikalische Institut der Wiener Universität derzeit in Thumersbach bei Zell am See Salzburg (Austria), 3. Ausfertigung vom 1.7.1945. Siehe zu den Arbeiten im Einzelnen ebd. sowie den Artikel von Rainer Karlsch in diesem Band.
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hatte, bis in die letzten Kriegsjahre hinein beträchtliche finanzielle Zuwendungen. Zwischen April 1943 und Mai 1944 summierten sich die Zahlungen an die Wiener Physikalischen Institute und das Institut für Radiumforschung auf 22.500 Reichsmark – ein Betrag mittlerer Größenordnung, wie ihn etwa auch die Gruppen um Boris Rajewsky in Frankfurt, Klaus Clusius in München oder Kurt Diebner in Gottow erhielten.156 Im Rechnungsjahr 1944/45 sollte das II. Physikalische Institut nach Kalkulationen des Sonderbeauftragten für Kernphysik, Walther Gerlach, noch einmal 20.000 Reichsmark erhalten.157 Die Arbeiten des I., II. und III. Physikalischen Instituts zur »Energiegewinnung aus Kernprozessen« wurden als zum Teil geheime Reichssache mit der Dringlichkeitsstufe »SS« belegt.158 Von der im Vergleich zu den Vorkriegsjahren üppigen staatlichen Unterstützung profitierten nicht nur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Vierjahresplan-Instituts für Neutronenforschung deren kriegswichtige »Nebentätigkeit« mit Sonderzahlungen vergolten wurde.159 Auch das Institut für Radiumforschung war »kernphysikalisch in den letzten Jahren sehr gut eingerichtet worden«, hielt Karlik 1946 fest, und vieles sei vorhanden, »das auch für andere Untersuchungen sehr wertvoll ist«.160
Schlussbetrachtung Die österreichische Atomzertrümmerungsforschung begann in den frühen 1920erJahren als internationales Projekt. Zu einer Zeit massiver wirtschaftlicher und politisch-gesellschaftlicher Schwierigkeiten bedurfte es in der jungen Republik Österreich eines Impulses aus dem Ausland, um die innovative Forschungsrichtung in Wien zu etablieren. Die Arbeitsgruppe um den Schweden Pettersson kam bis in die 1930erJahre in den Genuss umfangreicher ausländischer Fördermittel. Das amerikanische IEB beziehungsweise in späteren Jahren die RF stellte den Hauptteil der Spenden bereit. Doch auch schwedische Mäzene, die deutsche Notgemeinschaft und ihre Unter156 Vgl. American Institute of Physics, ab sofort : AIP, Samuel Goudsmit Papers, Series IV, Box 27, Folder 30, Walther Gerlach, Abrechnung über die Zeit vom 1.4.43–1.5.44 vom 26.5.1944. 157 Vgl. AIP, Samuel Goudsmit Papers, Series IV, Box 27, Folder 30, Walther Gerlach, Voranschlag für die im Rechnungsjahr 1944/45 zu erwartenden Ausgaben vom 26.5.1944. 158 Vgl. AIP, Samuel Goudsmit Papers, Series IV, Box 27, Folder 30, Aufstellung der für April und Mai neu erteilten kernphysikalischen Forschungsaufträge vom 3.6.1944. 159 ÖStA, AdR, Kurator der wissenschaftlichen Hochschulen, K 5/2104, Vergütung für Nebentätigkeit im Rahmen des Vierjahresplaninstitutes für Neutronenforschung für Prof. Dr. Alfred Brukl vom 27.11.1943. 160 AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, XII. Nachlaß Karl Przibram, K 33, Fiche 461, Karlik an Przibram vom 30.1.1946.
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und Nachfolgergesellschaften ÖDW und DFG förderten die österreichische Atomzertrümmerungsforschung in beträchtlichem Ausmaß. Während die Unterstützung aus dem Ausland groß war, scheiterte der Versuch, die österreichische Regierung als Geldgeber stärker in die Pflicht zu nehmen. Doch darf dies über eines nicht hinwegtäuschen : In Zeiten knapper Budgets erhielten die Wiener Atomzertrümmerer mehr Unterstützung von staatlicher Seite als jedes andere Physikalische Universitätsinstitut in Österreich. Der Zufluss an Geldern und Humankapital aus dem Ausland war indes keine Einbahnstraße. Vielmehr hatte der Standort Wien einen für die damalige Zeit einmaligen Wettbewerbsvorteil. Die reichlich vorhandenen radioaktiven Präparate waren die Voraussetzung dafür, dass die Wiener nach der Gruppe um Rutherford als Pioniere in die atomphysikalische Forschung einsteigen konnten. Auch wenn ihre Ergebnisse im Ausland umstritten blieben, gaben sie doch in vielerlei Hinsicht Anstöße für die Weiterentwicklung des Faches. In der Kernforschung, die sich in den 1930er-Jahren unter Einsatz von Teilchenbeschleunigern, Massenspektroskopen und anderen großtechnischen Geräten stürmisch entwickelte, gerieten die Wiener Atomzertrümmerer zunehmend ins Hintertreffen. Wie der Vergleich mit den damaligen Kernforschungszentren in Europa und den USA zeigt, bedurfte es sehr viel größerer Mittel als zuvor, um Anschluss an laufende technische Entwicklungen zu finden und auf diese Weise die Forschung an vorderster Front mitzubestimmen. Die politische Situation in Österreich und namentlich die Austeritätspolitik der »ständestaatlichen« Regierung trugen das Ihre dazu bei, die materielle Lage der Forschungsgruppe um Stetter und Kirsch zu verschlechtern. Sie kann aber nicht alleine für das grundlegende Strukturproblem verantwortlich gemacht werden, das die österreichische Kernforschung prägte. Denn auch andernorts förderten staatliche Stellen die Kernphysik in nur geringem Umfang. Dort bestand aber die Möglichkeit, auf private oder halb staatliche Spenden aus dem In- und Ausland zurückzugreifen. Im zunehmend härteren internationalen Wettbewerb um knappe Mittel hatten die Wiener Kernforscher schlechte Karten, da ihnen mit Petterssons Rückkehr nach Göteborg der entscheidende Geld- und Materialbeschaffer abhandengekommen war. Auch fehlte ein Spiritus rector vom Format der Joliot-Curies oder Bohrs, der die Forschungsgruppe fachlich in neue Bahnen geleitet und auf diese Weise attraktiv für die internationale Wissenschaftsförderung gemacht hätte. Der »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich führte zu einem massiven personellen Umbruch, durch den nationalsozialistisch gesinnte Physiker nunmehr offiziell die Führungsrolle in der österreichischen Kernforschung übernahmen. Sie suchten und fanden im Rahmen des deutschen »Uranvereins« finanzielle Unterstützung, zuerst von militärischer Seite und später auch von zivilen NS-Institutionen. Damit bot sich die
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Möglichkeit, Forschungen aus den 1930er-Jahren auch während des Krieges fortzuführen und die Ausstattung der Physikalischen Institute zu verbessern. Doch gleichzeitig waren es die Folgen des Krieges, die den lange erhofften Umstieg auf eine großtechnisch unterstützte Kernforschung schließlich verhinderten.
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Das Forschungsinstitut Gastein in der Forschungslandschaft des »Ständestaats« und des »Dritten Reichs« Wolfgang Knierzinger, Wien
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lag dem Begriff »Radioaktivät« eine stark vom heutigen Verständnis abweichende Bedeutung zugrunde. »Radioaktivität« war noch weitgehend positiv konnotiert. Vor allem in der Konsumwelt trieb der vielfach unreflektierte Gebrauch des Prädikats radioaktiv seltsame Blüten.1 Die positive Konnotation mag insofern ein wenig überraschen, als die Gefahren radioaktiver Strahlung bereits zur Jahrhundertwende ausführlich dokumentiert worden waren.2 In der öffentlichen Wahrnehmung wurden die mit Radioaktivität einhergehenden Risiken jedoch von frühen, im Bereich der Strahlentherapie beziehungsweise der Balneotherapie erzielten Behandlungserfolgen überdeckt. Auch in Gastein, das seit Jahrhunderten für sein heilbringendes Quellwasser bekannt war, wollte man noch 1935 auf die eingängige Selbstbezeichnung »radioaktivste Therme der Welt« nicht verzichten.3 Zur Erforschung der Gasteiner Radioaktivität wurde 1936 das Forschungsinstitut Gastein gegründet. Primäre Aufgabe des Instituts war die Erforschung des radonhaltigen Heilwassers in Gastein unter physiologischen, physikalischen, chemischen und biologischen Gesichtspunkten. Auf praktische Nutzbarmachung der gewonnenen Erkenntnisse für Kurzwecke wurde hierbei Wert gelegt. Der vorliegende Beitrag analysiert das Forschungsinstitut Gastein im Rahmen der universitären und außeruniversitären Forschungslandschaft Österreichs. Besonderes Augenmerk gilt dem institutionellen Aufbau, den am Institut durchgeführten wissenschaftlichen Arbeiten sowie den institutionellen und wissenschaftlichen Vernetzungen mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und ihren Instituten sowie anderen Forschungseinrichtungen beziehungsweise anderen Akteuren. Ferner
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Beispielsweise wurde von der Berliner Auergesellschaft noch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs eine radioaktive Zahncreme produziert. Sie wurde als »neuartig schmeckend« und »herrlich schäumend« beworben, außerdem attestierten ihr die Hersteller unter anderem eine keimtötende Wirkung. Vgl. Doramad Radioactive Toothpaste, unter : http ://www.orau.org/ptp/collection/quackcures/toothpaste.htm ; Zugriff : 29.12.2010. Vgl. Caufiled 1994, 21. Vgl. Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien, FE-Akten, Radiumforschung, ab sofort : AÖAW, FE-Akten, IR, Nachlass Stefan Meyer, K 9, Fiche 154, Zimburg an Meyer vom 13.5.1935. Heinrich Zimburg war von 1934 bis 1964 Kurdirektor in Bad Gastein.
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werden die finanziellen, forschungspolitischen und die auf den Tourismus bezogenen Hintergründe bei der Errichtung des Forschungsinstituts analysiert. Die Untersuchung umfasst die Zeit von 1936 bis zur Wiedereröffnung des Instituts nach dem Zweiten Weltkrieg. 1942 kam es kriegsbedingt zu einer bis 1946 andauernden Einstellung der Institutstätigkeiten. Zunächst wird die Gründungsphase des Instituts von 1936 bis 1938 behandelt. Im Anschluss daran werden die Geschichte des Gasteiner Forschungsinstituts in der Zeit des Nationalsozialismus sowie die Institutstätigkeiten in der unmittelbaren Nachkriegszeit dargestellt.
Das Forschungsinstitut Gastein im institutionellen Kontext Die ÖAW nimmt eine zentrale Position in der österreichischen Wissenschaftslandschaft ein, auch wenn sie, verglichen mit ähnlichen Institutionen im Ausland, relativ spät gegründet wurde.4 Bereits Anfang des 18. Jahrhunderts bestanden konkrete, auf Gottfried Wilhelm Leibniz zurückgehende Überlegungen, eine Akademie in der Kaiserstadt Wien zu errichten. Dessen ungeachtet sollte es noch bis 1847 dauern, bis der lang gehegte Plan umgesetzt wurde.5 Zuvor waren auf dem Gebiet der k. u. k. Monarchie bereits die Königliche Böhmische Akademie der Wissenschaften in Prag (1776), die Ungarische Akademie der Wissenschaften in Pressburg (1825) sowie die Südslawische Akademie der Wissenschaften und Künste in Agram (1836) gegründet worden. Nach dem Zerfall des Habsburgerreichs wurde die ÖAW zur einzigen außeruniversitären Wissenschaftsorganisation auf österreichischem Staatsgebiet.6 Im Vergleich mit der Situation in Deutschland, wo es durch die starke territoriale Fragmentierung vor der Konsolidierung des Deutschen Reichs zur Errichtung von sechs eigenständigen Akademien und zahlreichen außeruniversitären Forschungseinrichtungen gekommen war,7 4
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Die ÖAW wurde als Kaiserliche Akademie der Wissenschaften gegründet, führte aber ab 1921 die Bezeichnung Akademie der Wissenschaften in Wien. 1947 wurde sie schließlich in ÖAW unbenannt. Der Einfachheit halber wird im Folgenden nur auf letztere Bezeichnung bzw. auf die Abkürzung zurückgegriffen. In den 1830er- und 1840er-Jahren fand die Idee einer Akademiegründung einen tatkräftigen Fürsprecher im Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall. Er wurde auch zum ersten Präsidenten der Gelehrtengesellschaft ernannt. Vgl. Meister 1947, 12–44. Vgl. ebd., 64. Im Deutschen Reich gab es am Vorabend des Ersten Weltkriegs eine Reihe von Akademien, so die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften (gegr. 1700), die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (1751), die Bayerische Akademie der Wissenschaften (1759), die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig (1846) sowie die Heidelberger Akademie der Wissenschaften (1909), die gemeinsam mit der ÖAW im sogenannten »Kartell der Akademien« zusammengeschlossen waren. Ferner bestand die nicht dem Kartell zugehörige, bereits Mitte des 17. Jahrhunderts gegründete Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina. Vgl. Grau 2000, 281–283.
Das Forschungsinstitut Gastein
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nahm die ÖAW nach dem Ersten Weltkrieg im Rumpfstaat Österreich eine ungleich zentralere Stellung ein. Mit Ausnahme der 1849 in Wien gegründeten Geologischen Reichsanstalt8 befanden sich alle namhaften außeruniversitären naturwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen Österreichs, die bis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs gegründet werden sollten, in einem Kooperationsverhältnis mit der ÖAW. Die herausragende Stellung der ÖAW innerhalb der österreichischen Forschungslandschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts darf dennoch nicht über die gewichtige Rolle hinwegtäuschen, die private Mäzene insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei der Institutionalisierung außeruniversitärer Forschung spielten.9 Ab Ende der 1920er-Jahre waren drei naturwissenschaftliche Forschungseinrichtungen an die ÖAW angebunden : das Wiener Institut für Radiumforschung und die Biologische Station Lunz, die beide auf Stiftungen des Industriellen Carl Kupelwieser zurückgingen, sowie die Anfang des Jahrhunderts von Hans Leo Przibram, Leopold von Portheim und Wilhelm Figdor errichtete Biologische Versuchsanstalt im Wiener Prater. Auf informeller Ebene hielt die ÖAW darüber hinaus stets Beziehungen zur Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) und dem Sonnblick-Observatorium aufrecht.10 Ebenso informell und überwiegend durch die Kooperation mit dem Institut für Radiumforschung bestimmt, gestaltete sich das Verhältnis zum Forschungsinstitut Gastein, das erst 1952 offiziell an die ÖAW angegliedert werden sollte. Darüber hinaus trat die ÖAW als Teilstifterin der 1930 errichteten Hochalpinen Forschungsstation Jungfraujoch in Erscheinung.11 Wie das Institut für Radiumforschung, die Biologische Station Lunz und die Biologische Versuchsanstalt fußte auch die Errichtung des Gasteiner Forschungsinstituts auf einer privaten Initiative. Die Forschungseinrichtung wurde durch den jüdischen Großindustriellen und Chemiker Emerich Granichstädten gestiftet, dem Anfang des Jahrhunderts eine Erfindung im Bereich der Lebensmittelindustrie zu beträchtlichem Reichtum verholfen hatte.12 Sie war von Anfang an eng mit der ÖAW verbunden. 8 Die Geologische Reichsanstalt konnte nach anfänglichen Übernahmebestrebungen durch die ÖAW ihre Unabhängigkeit behaupten. Vgl. Bachl-Hofmann 1999, 55–77. 9 Vgl. Kropf 1982, 314 ; Reiter 1999, 58–69. 10 Vgl. Meister 1947, 337–338. 11 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, Splitternachlässe, Nachlass Egon von Schweidler, Stiftungsurkunde der Internationalen Stiftung Hochalpine Forschungsstation Jungfraujoch vom 30.9.1930. 12 Granichstädten optimierte eine großindustriell einsetzbare Fetthärtungstechnik. Nachdem 1928 das Unternehmen Centra (Vereinigte Seifen, Stearin-, Kerzen- und Fettwaren Werke AG), bei dem Granichstädten als Geschäftsführer tätig war, mit der holländischen Margarine Union fusioniert hatte, bezog er für seine Erfindung Abgeltungszahlungen in Höhe von 125.000 Holländischen Gulden. Im Zuge einer weiteren Fusionierung wurde Centra schließlich in das holländisch-britische Unternehmen Unile-
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Etwa die Hälfte der im wissenschaftlichen Kuratorium des Gasteiner Instituts vertretenen Forscher waren »wirkliche Mitglieder« der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der ÖAW. Der Aufbau der unter der Präsidentschaft von Karl Drexel13 stehenden Gesellschaft der Freunde Gasteins orientierte sich stark am Aufbau der Biologischen Station Lunz14 beziehungsweise des Sonnblick-Vereins.15 Enge personelle Verflechtungen zwischen Gastein, Lunz und dem Sonnblick-Verein bestanden vor allem durch die ÖAW-Mitglieder Hans Molisch, Arnold Durig und Wilhelm Schmidt, die bereits in den Jahren vor der Gründung des Forschungsinstituts Gastein fördernd auf die Entwicklung der außeruniversitären Forschung in Österreich eingewirkt hatten.16 Die informelle Anbindung an die ÖAW wird auch durch eine im Jahr 1936 schriftlich festgehaltene Übereinkunft zwischen der Gesellschaft der Freunde Gasteins und Vertretern der Gemeinden Bad Gastein17 und Bad Hofgastein18 deutlich. »Im Falle der Auflösung der Gesellschaft der Freunde Gasteins fällt das Forschungsinstitut den beiden Gemeinden Bad- und Hofgastein im Verhältnis der von beiden Gemeinden aufgebrachten Beiträge zu, mit der Verpflichtung[,] das Forschungsinstitut in seiner Aufgabe zu
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ver eingegliedert. Vgl. Pauls 1999, 31–32 ; vgl. auch Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, ab sofort : ÖStA, AdR, Bestand Vermögensverkehrsstelle, Quellen zur wirtschaftlichen Entrechtung der Wiener Juden durch die NS-Vermögensverkehrsstelle, Dr. Emerich Granichstädten, VA 40718, K 319, Bl. 3, Teichner an Werner vom 7.3.1939. Karl Drexel war jahrelang Mitglied der Christlich Sozialen Partei (Abgeordneter zum Vorarlberger Landtag 1902, Reichsratsabgeordneter 1907–1911, Mitglied der Vorarlberger Landesregierung 1910, Stellvertretender Vorsitzender des Bundesrates 1920–1923, Abgeordneter zum Nationalrat 1923–1931). Zudem war Drexel Vorsitzender des Reichsverbandes der Kriegsopfer Österreichs. Er fungierte als eine Art Ehrenpräsident des Gasteiner Instituts. Seine weitreichenden Kontakte sowie insbesondere eine langjährige Freundschaft zum damaligen Landeshauptmann von Salzburg, Franz Rehrl, prädestinierten ihn für diese Funktion. Vgl. Ruttner 1956, 28–29. Vgl. Sonnblick-Verein 1936, 24. Der Leiter des Physiologischen Instituts der Universität Wien und Vorsitzende des wissenschaftlichen Kuratoriums des Forschungsinstituts Gastein, Durig, war in einer Vielzahl von ÖAW-Kommissionen tätig und vertrat unter anderem1930 die ÖAW bei der Stiftung der Forschungsstation Jungfraujoch. Der Biologe Molisch war bereits Anfang des Jahrhunderts Mitglied des wissenschaftlichen Kuratoriums der Biologischen Versuchsanstalt. Im Jahre 1911 wurde er Mitglied einer Kommission, welche die Übernahme der Biologischen Versuchsanstalt durch die ÖAW diskutieren sollte. Molisch fungierte von 1931 bis 1937 als Vizepräsident der ÖAW. Im Jahre 1936 wurde er gemeinsam mit Schmidt zu einem Mitglied des wissenschaftlichen Kuratoriums der Gasteiner Forschungseinrichtung ernannt. Schmidt war seit Anfang des Jahrhunderts Präsident des Sonnblick-Vereins und von 1931 bis 1936 Direktor der mit der ÖAW verbundenen ZAMG. Die Gemeinde führte von 1906 bis 1996 den Namen Badgastein. Mit 1. Jänner 1997 wurde die Schreibweise auf Bad Gastein abgeändert. Hofgastein erhielt im Jahre 1936 den auf einen Kurort verweisenden Beinamen »Bad«.
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erhalten ; für den Fall, dass die beiden Gemeinden diese Verpflichtung nicht übernehmen können oder wollen, fällt das Forschungsinstitut der Akademie der Wissenschaften in Wien zu.«19
Für die Gründung des Gasteiner Forschungsinstitut waren die engen Bande zur ÖAW von großem Vorteil : Die bereits bestehenden Arbeitskontakte, die Erfahrung im Umgang mit den Behörden und Politikern, die Vertrautheit mit Finanzierungsfragen derartiger Institutsgründungen, die Verbindung zum Wissenschaftsbetrieb an heimischen Universitäten sowie zu Forschungseinrichtungen im Ausland – all dies trug dazu bei, dass das Gasteiner Institut bereits ein halbes Jahr nach den ersten konkreten Überlegungen seinen offiziellen Betrieb aufnehmen konnte. Obwohl in den Jubiläumsschriften des Instituts Granichstädten zum alleinigen »Vater« der Forschungseinrichtung stilisiert wird,20 kam das Vorhaben, in Gastein eine Forschungseinrichtung zu gründen, ursprünglich in Wiener Hochschulkreisen beziehungsweise in der ÖAW auf. 1932 schlugen die Leiter der Biologischen Versuchsanstalt im Wiener Prater der ÖAW die »Errichtung eines Laboratoriums [zur] Erforschung der Wirkung des Radiums auf Tiere und Pflanzen« vor.21 Der Plan sah vor, dass »interessierte Mediziner und Biologen« gegen Entgelt »Arbeitsplätze an der Anstalt erhalten« sollten.22 Er zielte letztlich auf eine Aufbesserung des Etats der Biologischen Versuchsanstalt ab und wurde schließlich von der ÖAW abgelehnt. Da am Wiener Institut für Radiumforschung die biologische und medizinische Erforschung von Radioaktivität untersagt war, ist zu vermuten, dass die Idee, eine Radiumabteilung in der Biologischen Versuchsanstalt zu installieren, auf die Leiter eben jenes Instituts für Radiumforschung, Stefan Meyer und seinen Stellvertreter Karl Przibram, zurückging.23 Nach der Entdeckung der Radioaktivität durch Antoine Henri Becquerel wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Gasteiner Thermalwasser unter Mitwirkung des Wiener Instituts für Radiumforschung erstmalig systematisch untersucht.24 Meyer selbst beschäftigte sich ab 1929 ausführlich mit der physiologischen Wirkung von radonhaltigem Wasser.25 Es erscheint vor diesem Hintergrund naheliegend, dass im Umfeld Meyers schon 19 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 10, Fiche 150, Gesellschaft der Freunde Gasteins an Rehrl vom 1.12.1936. 20 Vgl. Zimburg 1961, 12. 21 Vgl. AÖAW, Biologische Versuchsanstalt (Vivarium), K 2, Mappe 1, Tätigkeitsbericht für 1921 und Programm für 1922. 22 Ebd. 23 Vgl. dazu auch Reiter 1999, 608–609. 24 Vgl. Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, ab sofort : ÖStA-AVA, Bundesministerium für Unterricht, 18499, Univ. Wien, Univ. Prof. Heinrich Mache, Curriculum Vitae, ohne Datum. 25 Vgl. Rentetzi 2007.
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seit den 1930er-Jahren Überlegungen zur Errichtung einer Forschungsstation im Gasteiner Tal bestanden. Die Vorarbeiten zur Errichtung des Gasteiner Forschungsinstituts wurden ab 1935 von einem Organisationsausschuss unter Vorsitz von Granichstädten in Angriff genommen, dem Chemiker Gustav Teichner, ein Geschäftspartner von Granichstädten, sowie der Bad Gasteiner Gemeinderatsabgeordnete Arzt Leo von Wikullil angehörten.26 Wikullil, der gute Kontakte zu politischen Entscheidungsträgern des »ständestaatlichen« Regimes unterhielt, war gemeinsam mit Granichstädten leitend an den Verhandlungen mit der Salzburger Landesregierung und dem Sozialministerium beteiligt.27 Der Eröffnung des Instituts am 28. Juni 1936, dem Tag der 500-Jahr-Feier Gasteins,28 wohnten unter anderem Bundespräsident Wilhelm Miklas, der Landeshauptmann Franz Rehrl, der spätere Staatssekretär des Äußeren Guido Schmidt sowie hohe »Funktionäre des Bundes und Landes« nebst »zahlreichen Persönlichkeiten des wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens« bei.29 Der 1936 auf Betreiben von Granichstädten gegründeten Gesellschaft der Freunde Gasteins kamen als Rechtspersönlichkeit des Instituts die alleinigen Besitzansprüche zu. Unter dem Vorsitz des Oberrats des Bundesamtes für Statistik, Karl Drexel, und der eigentlichen Leitung durch Granichstädten und Teichner umfasste der Vorstand insgesamt 20 Personen. Der vorrangige Zweck der Gesellschaft bestand laut Vereinssatzung darin, »durch systematische Erforschung der in Gastein gegebenen natürlichen Heilmittel die Kenntnis von ihrem Wesen und ihrer Wirkung sowie derart den Umfang ihrer Anwendungen zu erweitern. Es soll dies insbesondere durch Einrichtung und Betrieb einer wissenschaftlichen Forschungsstation in Bad Gastein geschehen, diese kann sich auch mit Untersuchungen und Forschungen auf verwandten Arbeitsgebieten beschäftigen, die der wirtschaftlichen Förderung des Gasteiner Tals dienen.«30
Der Vorstand setzte sich aus Personen aus ganz unterschiedlichen Kreisen zusammen. In etwa die Hälfte lässt sich einem bürgerlichen Umfeld zurechnen (Unternehmer, Rechtsanwälte, Regierungsbeamte, Bankdirektoren). Es besteht Grund zu der Annahme, dass ihre Einbeziehung in das Projekt mit dem Hintergedanken einer zusätzlichen Finanzierung erfolgte, entweder durch sie als direkte Förderer oder als Mittelsper26 27 28 29 30
Vgl. Zimburg 1961, 7–8. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 9, Fiche 145, Granichstädten an Meyer vom 9.3.1936. Vgl. Granichstädten 1937, 34. Ebd., 34–35. Gesellschaft der Freunde Gasteins 1937, 45.
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sonen. Der Einfluss dieses Personenkreises auf den wissenschaftlichen Forschungsbetrieb des Instituts war jedoch äußerst gering. Die andere Hälfte des Vorstands setzte sich aus kommunalen Vertretern und Mitgliedern des wissenschaftlichen Kuratoriums zusammen. Im Gründungsjahr stammte der Großteil des Budgets des Gasteiner Instituts aus der Tasche von Granichstädten. Aufgrund seiner unternehmerischen Verflechtungen mit dem Chemiekonzern Unilever N.V. kann angenommen werden, dass es sich bei einem Drittel des Stiftungsbetrages von 30.000 Schilling um Geld aus dem Unternehmensumfeld von Unilever handelte.31 Ab 1937 kamen zu den übrigen Einkünften aus Erlösen durch Vorträge und Werbeaktionen sowie Spenden ein Betrag, der sich aus Gebühren der Kurgäste zusammensetzte und dem Institut etwa 33.000 Schilling einbrachte. Damit konnte das Gasteiner Institut in den ersten beiden Jahren seines Bestehens im Vergleich mit anderen außeruniversitären Forschungseinrichtungen in Österreich auf ein großes Budget vertrauen. Abzüglich eines von Granichstäden zur Verfügung gestellten Darlehens verfügte die Gasteiner Forschungseinrichtung 1936/37 über einen Etat von über 53.000 Schilling. Das entsprach dem Budget der ungleich renommierteren Biologischen Versuchsanstalt im Jahr 1936.32 Der Sonnblick-Verein beispielsweise, der für den Erhalt des Sonnblick-Observatoriums und der Wetterstation am Hochobir aufkam, musste im selben Jahr mit etwa 25.000 Schilling auskommen.33 Dem Vorstand der Gesellschaft der Freunde Gasteins oblag neben der Verwaltung der Finanzmittel die Bestellung des für die wissenschaftliche Leitung des Instituts zuständigen Kuratoriums, das von dem Physiologen Durig geleitet wurde. Zum Zeitpunkt der Eröffnung des Instituts umfasste das nach verschiedenen Fachsparten (Physik, Biologie, Physiologie, Chemie, Geologie, Meteorologie und Medizin) aufgegliederte Gremium 16 Personen. Bei der Festlegung der Forschungsagenda stützte sich das Kuratorium dabei auf Anregungen eines von ihm gewählten wissenschaftlichen Beirats, der im Mai des Jahres 1937 aus 85 Mitgliedern bestand.34 Davon waren mehr als ein Drittel Ärzte beziehungsweise Physiologen. Die Anzahl der Physiker (etwa 13 Prozent) 31 Aus der Finanzaufstellung des Jahres 1937 geht hervor, dass 10.000 Schilling einer nicht näher deklarierten französisch-holländischen Unternehmensgruppe entstammten. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 10, Fiche 151, Auszug aus der Liste aller Mitglieder, Förderer, Gründer, Stifter und Spender vom 30.4.1937. 32 Vgl. AÖAW, FE-Akten, Biologische Versuchsanstalt, Sitzungsprotokolle, K 2, Mappe 4, Protokoll der Sitzung des Kuratoriums der Biologischen Versuchsanstalt (No. 93 1937) vom 4.3.1937. 33 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 10, Fiche 151, Aufstellung der Eingänge und Ausgaben der Gesellschaft der Freunde Gasteins vom 30.4.1937 ; vgl. auch Meister 1947, 339 sowie Sonnblick-Verein 1936, 36. 34 Vgl. Gesellschaft der Freunde Gasteins 1936, 10.
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fiel dagegen – auch im Vergleich zu den Biologen (etwa 19 Prozent) und Chemikern (etwa 17 Prozent) – recht bescheiden aus. Nur Geologen (etwa 7 Prozent) waren im Beirat noch seltener vertreten. Ungeachtet des zahlenmäßigen Übergewichts an Medizinern, wurden am Institut in der Zeit von 1936 bis 1938 zahlreiche physikalische, biologische, chemische, aber auch meteorologische Arbeiten durchgeführt.
Forschungsaufgaben und Öffentlichkeitsarbeit Der eigentliche, von Laborarbeiten und Thermalquellenuntersuchungen geprägte Forschungsbetrieb begann im Juli 1936. Nachdem in den ersten Monaten Granichstädten interimistisch die Institutsleitung übernommen hatte, wurde im Herbst 1936 der Physiologe Ferdinand Scheminzky zum Leiter des Forschungsinstituts Gastein ernannt. Ihm unterstanden die Radiologen Erhard Ruschitzka und Helmut Wallner sowie der Biologe Franz Bukatsch, die dauerhaft an der Forschungseinrichtung tätig waren.35 Das Institut verfügte über neun Arbeitsräume, in denen bis zu 26 Personen gleichzeitig wissenschaftliche Arbeiten verrichten konnten. Wenngleich sich weder unter den ständig vor Ort tätigen Assistenten noch im wissenschaftlichen Kuratorium beziehungsweise dem wissenschaftlichen Beirat Frauen befanden, lag im ersten Jahr der Anteil der Frauen unter den Stipendiaten und Stipendiatinnen bei etwa 50 Prozent. Im Zeitraum von Sommer 1936 bis Ende 1937 waren an der Einrichtung zumindest vier Wissenschaftlerinnen längerfristig tätig.36 Prinzipiell wurde der Förderung von Nachwuchsforschern und -forscherinnen ein hoher Stellenwert beigemessen. Allein im ersten Arbeitsjahr (Frühsommer 1936 bis April 1937) wurden von Granichstädten 13.000 Schilling für Stipendien und Reisekosten zur Verfügung gestellt.37 Für den Winter 1937/38 bemühte sich das Institut bei verschiedenen, vorwiegend Wiener Hochschulinstituten um 20 Stipendiaten und Stipendiatinnen für einen Zeitraum von vier Monaten,38 von denen die eine Hälfte physikalisch-geologische Arbeiten und die an-
35 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 10, Fiche 147, Schreiben des vorbereitenden Komitees an Meyer vom 12.5.1936 ; vgl. auch AÖAW, NL Meyer, K 9, Fiche 146, Vorbereitendes Komitee an Meyer vom 4.5.1936. 36 Es handelte sich um die Physikerinnen Berta Karlik, Hilde Schellauf und Elisabeth Rona sowie die Physiologin Susanne Kann. Die Angabe beruht auf Durchsicht der vorliegenden Arbeitsberichte und Korrespondenzen aus der Zeit zwischen 1936 und 1938. 37 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 10, Fiche 151, Aufstellung der Eingänge und Ausgaben der Gesellschaft der Freunde Gasteins vom 30.4.1937. 38 Vor dem Hintergrund des Stipendiensystems unterlag die Anzahl der am Institut arbeitenden Personen größeren Schwankungen.
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dere Hälfte medizinische Untersuchungen durchführen sollte.39 Für die ersten beiden Jahre lässt sich eine Schwerpunktsetzung auf medizinisch-balneologische Arbeiten ausmachen. In wöchentlichen Abständen wurden Messungen an verschiedenen Thermalwasserquellen durchgeführt. Größere Abweichungen zu früheren Messresultaten wurden mit sich ändernden geologischen und meteorologischen Verhältnissen erklärt.40 Im Hinblick auf eine Erhöhung des Radon-Aufnahmevermögens der Haut experimentierte man auch mit diversen Zusätzen. Es zeigte sich, dass das Auftragen von Fetten auf die Haut sowie der Zusatz von Kohlensäure während des Thermalbades das Aufnahmepotenzial der Haut erhöhten, eine Praxis, die bald von Gasteiner Badeärzten aufgegriffen wurde.41 Die direkte Nutzbarmachung der Institutsforschung für Belange des Kurwesens lässt sich auch am Beispiel einer auf Anregung von Meyer entwickelten Radonsalbe verdeutlichen. Der Einsatz dieser den Radongehalt des Thermalwassers um das 30- bis 40-Fache übersteigenden Salbe zog rasche Behandlungserfolge nach sich.42 Um den Einfluss des Thermalwassers auf »niedere Lebewesen tierischer und pflanzlicher Natur« zu untersuchen, wurden am Institut Versuchsreihen mit Mikroorganismen (Bakterien und Wimpertierchen) sowie Pflanzen durchgeführt.43 Aufzuchtversuche mit verschiedenen Algenarten belegten, dass die Fotosyntheseleistungen sowie die CO2-Assimilationsraten je nach Algenart erheblich voneinander abwichen.44 Die bereits im Vorfeld der Institutsgründung von lokalen Medizinern vertretene Auffassung, wonach sich die heilende Wirkung des Gasteiner Wassers nicht auf einen einzelnen Faktor reduzieren lasse, sondern vielmehr einer Reihe von lokalen Einflüssen geschuldet sei, erfreute sich mit fortschreitendem Forschungsbetrieb breiter Zustimmung.45 Die Kritik an einer monokausalen Erklärung der Heilwirkung des Wassers zielte implizit die Aufwertung der gesamten Gasteiner Kurregion an.46 Um zusätzliche Geldmittel von öffentlichen Stellen (Gemeinden, Land oder Bund) zu akquirieren, definierte das Kuratorium die Heilwirkung des Gasteiner Wassers mitunter relativ undeutlich und führte sie auf eine Vielzahl von lokal-spezifischen, in ihrem Zusam39 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 10, Fiche 152, Granichstädten an Meyer vom 10.12.1937. 40 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 10, Fiche 150, Helmut Wallner, Bericht über die Arbeiten im Forschungsinstitut Badgastein 29.11.–24.12.1936. 41 Vgl. ebd. 42 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 10, Fiche 149, Teichner an Meyer vom 24.9.1936. 43 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 9, F 145, Hans Molisch, Botanische Anregungen für ein Forschungsprogramm des Forschungsinstitutes in Bad Gastein vom 18.3.1936. 44 Vgl. Bukatsch 1937, 32–33. 45 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 10, Fiche 149, Granichstädten an Meyer vom 27.10.1936. 46 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 10, Fiche 148, Gesellschaft der Freunde Gasteins an Bundesministerium für Unterricht vom 22.9.1936.
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menwirken aber nicht näher erläuterten Faktoren (diverse Zusatzstoffe, klimatische Bedingungen) zurück. Die Absicht war es, den Kurstandort gegenüber anderen Heilbäderstandorten zu profilieren. Indirekt ging damit der Versuch einher, eine Aufwertung der eigenen Institutsforschung zu erreichen. Generell kann festgehalten werden, dass die Öffentlichkeitsarbeit in den Verhandlungen und Korrespondenzen des wissenschaftlichen Kuratoriums einen hohen Stellenwert hatte. In einem Fall wurden auf Anraten von Meyer sogar unerbetene Messresultate, die nachwiesen, dass der Radongehalt des Wassers beim Transport von den Quellen zum Pumpwerk abnahm, der Öffentlichkeit verschwiegen : »Die Verhältnisse liegen also wirklich so, wie wir befürchteten, dass infolge von Lufteinwirkung viel Emanation verloren geht. Glücklicherweise ist das aber jetzt dank der Untersuchungen des Forschungsinstituts klargestellt […] und der Badeort kann Ihnen dafür nur dankbar sein. Das heißt, er sollte es. Man muss aber auch […] an den Ibsen’schen Volksfeind denken, den Baderarzt, der auf gewisse Verseuchungen aufmerksam macht und somit die Beliebtheit des Kurorts gefährdet.47 Das heisst, dass die ganze Angelegenheit äußerst diskret behandelt werden muss, so dass die aufgedeckten Mängel rechtzeitig vor der nächsten Saison aufgehoben sind.«48
Um das Interesse der einheimischen Bevölkerung an der Forschungseinrichtung zu fördern, veranstaltete die Institutsleitung regelmäßig Vorträge sowie Diskussionsabende und organisierte werbewirksame Institutsführungen.49 Teil der Öffentlichkeitsarbeit war auch die Zusammensetzung des wissenschaftlichen Beirats. Er setzte sich zu einem großen Anteil (über 40 Prozent) aus Physiologen zusammen. Allerdings wurden diese, verglichen mit anderen Wissenschaftlern aus anderen Disziplinen, nur zu einem relativ bescheidenen Ausmaß in die Institutsarbeiten integriert. Warum die Expertise der Physiologen des wissenschaftlichen Beirates nur eingeschränkt berücksichtigt wurde, kann an dieser Stelle nicht eindeutig beantwortet werden. Fest steht, dass die zahlreichen Physiologen im Beirat das balneologische und somit touristisch wertvolle Profil des Forschungsinstituts zusätzlich schärften, was ebenfalls dem Einwerben von Land- und Gemeindesubventionen dienlich war.
47 Meyer nimmt hier Bezug auf das von Henrik Ibsen verfasste Drama »Ein Volksfeind« von 1882. Es handelt von einem Arzt, der die Kontamination des Trink- und Badewassers eines Kurortes aufdeckt, und sich dadurch den Unmut der dortigen Bevölkerung zuzieht. Vgl. Ibsen 1999. 48 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 10, Fiche 151, Meyer an Wallner vom 23.2.1937. 49 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 10, Fiche 149, Niederschrift über die Institutsaussprachen, 13. und 31.8.1936.
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Das breite Spektrum wissenschaftlicher Arbeiten am Gasteiner Institut, das neben der spezifischen Ausrichtung auf die Balneologie und Physiologie auch biologische, physikalische, chemische und meteorologische Forschungen abdeckte, zog eine Fülle von Forschungskooperationen auf universitärer und außeruniversitärer Ebene nach sich. Das Gasteiner Institut war Teil eines Netzwerkes der an die ÖAW angebundenen Forschungseinrichtungen, an dessen Knotenpunkten ein beträchtliches Maß an Wissenstransfer beziehungsweise ein starker Austausch einzelner Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen möglich wurde. Innerhalb dieses nationalen Forschungsnetzwerkes können verschiedene Unterscheidungen getroffen beziehungsweise einzelne Strukturelemente herausgearbeitet werden. Im Hinblick auf den Sonnblick-Verein und die Biologische Station Lunz kann eine starke Anbindung an die deutsche Wissenschaftslandschaft konstatiert werden. Beide befanden sich ab den 1920er-Jahren in der Einflusssphäre der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und bezogen ab diesem Zeitpunkt das Gros ihrer finanziellen Mittel von der deutschen Wissenschaftsorganisation.50 Im Falle des Sonnblick-Vereins, der zudem durch den seit Anfang des 20. Jahrhunderts unverhohlen antisemitischen Deutschen und Österreichischen Alpenvereins beeinflusst wurde, kann darüber hinaus eine deutschnationale politische Ausrichtung ausgemacht werden.51 Demgegenüber befanden sich das Institut für Radiumforschung, das Gasteiner Forschungsinstitut sowie die Biologische Versuchsanstalt in der Zwischenkriegszeit allesamt unter dem Einfluss von österreichischen Personen mit jüdischem Hintergrund. Während des über antisemitische Tendenzen verfügenden Schuschnigg-Regimes war dieser Umstand noch nicht unbedingt mit Repressalien verbunden, wie polizeilichen, im Zusammenhang mit der Gründung des Instituts stehenden Akten zu entnehmen ist. Granichstädten, Teichner und Wikullil,52 die maßgeblichen Akteure des Organisationsausschusses, unterstanden im Vorfeld der Gründung einer polizeilichen Überwachung.53 In Zusammenarbeit mit Bezirkspolizeikommissariaten der Bundesbehörde in St. Johann sowie unter Einbeziehung der Ergebnisse verdeckter Ermittlungen gelangte die Staatspolizei zur Überzeugung, dass es sich bei Wikullil und Granichstädten um gut beleumdete, »vaterländisch« eingestellte Zeitgenossen 50 Vgl. Sonnblick-Verein 1936, 15–32 ; Ruttner 1956, 28–29 ; Freytag 2007, 215. 51 Vgl. Bergmann 2002, 81 sowie Coen 2009, 479. 52 Insgesamt setzte sich das Kuratorium des Forschungsinstituts Gastein zu mehr aus einem Drittel aus Personen mit jüdischem Hintergrund zusammen. Hierzu ist auch Granichstädten zu zählen, der 1877 in Wien als Sohn ungarischstämmiger Juden geboren wurde. 53 Über das Ausmaß der staatlichen Überwachungspolitik während der Zeit des Austrofaschismus liegen keine geschichtswissenschaftlichen Arbeiten vor, so dass die Überwachung des Gasteiner Instituts nicht abschließend bewertet werden kann.
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handle, während Teichner als »politisch indifferent« charakterisiert wurde.54 Die Untersuchungsergebnisse, in denen keinerlei Bedenken gegenüber dem politischen Hintergrund der Forschungseinrichtung zum Ausdruck kamen, wurden dem Bundeskanzleramt übermittelt.55 In der Zeit zwischen 1936 und 1938 entsandten in etwa 12 bis 15 österreichische Universitätsinstitute Wissenschaftler an das Gasteiner Institut.56 Zudem bestanden Kooperationen mit einer Reihe ausländischer Forschungseinrichtungen. Granichstädten verweist in einer zum einjährigen Bestehen des Instituts herausgegebenen Jubiläumsschrift auf das Institut für Hochgebirgs-Physiologie und Tuberkuloseforschung in Davos und die Forschungsinstitute in Wiesbaden und Nauheim, mit denen Ideen und Publikationen ausgetauscht wurden.57 Außerdem lag, zumindest zeitweilig, eine Verbindung nach England vor. Der von den Nationalsozialisten aus Deutschland geflüchtete Chemiker Friedrich Adolf Paneth analysierte am Imperial College in London Gasteiner Quellgas.58 Für die Zeit vor 1938 lässt sich keine direkte Kooperation zwischen Gastein und dem bekannten deutschen Radiumbad Oberschlema belegen. Allerdings wurde bereits in den ersten beiden Jahren der Gasteiner Forschungsanstalt auf in Oberschlema gewonnene Untersuchungsergebnisse vertraut. Vor allem der Gasteiner Gemeindearzt Otto Gerke brachte sein durch einen Forschungsaufenthalt in Oberschlema erworbenes Wissen in die Planung und Ausübung der Arbeiten am Gasteiner Institut ein.59 Nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich wurde die Forschungseinrichtung Gastein in die Reichsanstalt für das deutsche Bäderwesen eingegliedert. Dadurch wurde ein engerer Austausch mit deutschen Heilbädern möglich.60 Bei der am 1. Dezember 1936 gegründeten Reichsanstalt für das deutsche Bäderwesen handelte es sich um die Leitstelle einer zwischen deutschen Heilbädern und Kurorten errichteten Arbeitsgemeinschaft, die sich der Förderung der balneologischen Forschung verschrie54 Granichstädten und Wikullil waren Mitglieder der 1933 gegründeten Vaterländischen Front. ÖStAAVA, Polizeidirektion Wien, Gesellschaft der Freunde Gasteins XIV–1194, Bezirkspolizeikommissariat Währing an Bundespolizei-Direktion Wien, ohne Datum. 55 ÖStA-AVA, Polizeidirektion Wien, Gesellschaft der Freunde Gasteins XIV–1194, Bundespolizei-Direktion an Bundeskanzleramt, Generaldirektion für öffentliche Sicherheit vom 13.7.1936. 56 Die Angabe beruht auf Durchsicht der vorliegenden Arbeitsberichte und Korrespondenzen aus der Zeit zwischen 1936 und 1938. 57 Vgl. Granichstädten 1937, 4. 58 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K10, Fiche 149, Bl. 15, Niederschrift über die Institutsaussprachen vom 13. und 31.8.1936. 59 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 10, Fiche 149, Bl. 4–6, Niederschrift über die Institutsaussprachen vom 13. und 31.8.1936. 60 Vgl. Hüfner 1994, 81–82.
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ben hatte. Bereits im Jahre 1937 gehörten dieser Arbeitsgemeinschaft 20 wissenschaftliche Institute an. Die Finanzierung der Reichsanstalt erfolgte überwiegend durch den Reichsfremdenverkehrsverband.61
Kontinuitäten und Brüche nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich Am 18. März 1938 wurde Albert Hoffmann durch den kommissarischen Leiter der NSDAP von Österreich zum Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände ernannt.62 Hoffmann, der später auch die Funktion des Stillhaltekommissars im Reichsgau Sudentenland und dem Protektorat Böhmen und Mähren ausüben sollte, hatte dafür Sorge zu tragen, dass »sämtliche Organisationen nationalsozialistisch ausgerichtet und geführt« wurden.63 Kurz zuvor hatte der kommissarische Leiter der NSDAP von Österreich angewiesen, dass bis zum 10. April 1938 – dem Tag der Volksabstimmung über die Vereinigung mit dem Deutschen Reich – jedwede Tätigkeit von Vereinen und Verbänden stillgelegt werden müsse.64 Auf Basis des am 17. Mai 1938 erlassenen Gesetzes zur Überleitung und Eingliederung von Vereinen, Organisationen und Verbänden wurden in den kommenden Monaten im Kontext der Arisierung österreichische Vereine zerschlagen, wovon auch die Gesellschaft der Freunde Gasteins nicht verschont blieb.65 Insgesamt wurden rund 70.000 Vereine von der Dienststelle Stillhaltekommissar bearbeitet.66 In Gastein war bereits vor dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich in Teilen der einheimischen Bevölkerung ein gewisser Argwohn gegenüber der von einer Person mit jüdischem Hintergrund gestifteten, finanziell gut ausgestatteten Gasteiner Forschungseinrichtung zu registrieren.67 Die Leitung der Gesellschaft der Freunde Gasteins wurde im April 1938 auf Anordnung des Stillhaltekommissars auf das Vorstandsmitglied Fritz Straubinger, einen bekannten Badgasteiner Hotelier, übertragen. Auf das wissenschaftliche Kuratorium wurde fortan verzichtet.68 Von den 14 ehema61 62 63 64 65 66
Vgl. ebd., 75–76. Vgl. Pawlowsky 2003, 26. Vgl. Osterloh 2006, 265. Vgl. Pawlowsky 2003, 50. Vgl. ebd., 26. Die Historikerin Gertrude Rothkappl schätzt, dass sogar 115.000 Vereine betroffen waren. Vgl. DuizendJensen 2004, 95–96. 67 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 10, Fiche 151, Scheminzky an Meyer vom 24.8.1937. 68 Vgl. ÖStA, AdR, Stillhaltekommissar, 33-X (11), Straubinger an Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände vom 1.6.1938, 31.
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ligen Kuratoriumsmitgliedern, die Anfang 1938 noch lebten, hatten sechs Personen (Emil Epstein, Granichstädten, Walther Hausmann, Hermann Mark, Stefan Meyer und Franz Eduard Süss) jüdische Wurzeln. Von diesen sechs Personen sahen sich im Jahre 1938 Epstein, Granichstädten und Mark zur Emigration gezwungen. Auch Durig, Präsident des Kuratoriums und Ordinarius für Physiologie an der Wiener Universität, wurde von seiner Lehrkanzel vertrieben und ob seiner ideologischen Nähe zum ständestaatlichen Regime vorübergehend interniert.69 Im Kuratorium des Gasteiner Instituts war somit der Anteil der durch die Nationalsozialisten unmittelbar betroffenen Wissenschaftler höher als an den österreichischen und deutschen Universitäten.70 Bereits am 12. Mai 1938 wurde von Karl Drexel und den beiden Bürgermeistern der Gemeinden Badgastein und Bad Hofgastein eine auf den Statuten des Instituts beruhende Übereinkunft getroffen, wonach die weitere »finanziell-administrative Führung« der Forschungseinrichtung den Gemeinden übergeben werden sollte.71 Wenige Tage später vereinbarten Drexel und Teichner, die beiden Bürgermeister sowie andere Gemeindevertreter und ein juristischer Berater, dass sich die zukünftige Arbeit der Forschungseinrichtung an dem in den vorangegangen Jahren gepflegten interdisziplinären Wissenschaftsbetrieb orientieren sollte.72 Anfang März 1939 – rund ein Jahr nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich – war die Auflösung der Gesellschaft der Freunde Gasteins juristisch vollzogen.73 Zum neuen Institutsleiter wurde der Physiker Gerhard Kirsch ernannt, der seit 1938 auch als kommissarischer Vorstand des III. Physikalischen Instituts an der Wiener Universität fungierte.74 Auch nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten blieb die systematische Analyse der Wirkung des Gasteiner Wassers die vordringliche Aufgabenstellung des Instituts, wenngleich seit Beginn des Krieges diese Zielsetzung unter veränderten Rahmenbedingungen verfolgt wurde. So hob Kirsch in einem Arbeitsbericht über den Zeitraum von 1938 bis 1941 die Behandlung von Kriegsverletzten mit Gasteiner Ther-
69 Vgl. die biografischen Informationen über Arnold Durig auf der Seite der Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien,unter : http ://ub.meduniwien.ac.at/blog/ ?p=609 ; Zugriff : 21.06.2010. 70 Vgl. Posch/Ingrisch/Dressel 2008, 157–177 ; Deichmann 2001, 112. 71 ÖStA, AdR, Stillhaltekommissar, 33-X (11), Bl. 4, Entwurf eines Berichtes des Vorsitzenden der Gesellschaft der Freunde Gasteins und Antrag für die ehestens einzuberufende Vollversammlung der Gesellschaft der Freunde Gasteins, ohne Datum. 72 ÖStA, AdR, Stillhaltekommissar, 33-X (11), Bl. 1–3, Besprechung im Bürgermeisteramt Badgastein betreffend die Ueberlassung des Forschungsinstitutes Gastein an die beiden Gemeinden Badgastein und Bad Hofgastein vom 3.6.1938. 73 ÖStA, AdR, Stillhaltekommissar, 33-X (11), Wiener Magistrat an Drexel vom 16.3.1939. 74 Vgl. Stetter 1957, 388–392.
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malwasser hervor.75 Dieser Versuch, die balneologisch ausgerichtete Institutsarbeit in den Dienst der Wehrmacht zu stellen, muss im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Konzeption von Gesundheitspolitik als »Leistungsmedizin«, und zwar primär unter dem Gesichtspunkt der Arbeitseinsatzpolitik, verstanden werden.76 Auch die Heilbäderforschung wurde nunmehr als Teil des nationalsozialistischen Gesundheitswesens und als volksgesundheitliches Instrument begriffen, das seinen spezifischen Beitrag zum Erhalt des deutschen »Volkskörpers« zu leisten hatte.77 Unklarheit bestand allerdings über die Art des Beitrags : Als Kirsch beim Heeressanitätsinspektor Anton Waldmann um eine Ausweitung des Einsatzes von Gasteiner Thermalwasser bei Kriegsverletzten ersuchte, wurde ihm keine Unterstützung zuteil. Allerdings erklärte sich der Kommandant des Wiener Reservelazaretts I (des heutigen Hanusch-Krankenhauses) und Medizinhistoriker Fritz Lejeune dazu bereit, einige Fässer Gasteiner Thermalwasser für chirurgische Zwecke nach Wien überstellen zu lassen.78 Nach den noch in der Scheminzky-Ära vorgenommenen Versuchen zur Wirkung von Thermalwasser auf Wasserflöhe,79 gab es ab 1938 auch Wissenschaftler, die mit Säugetieren experimentierten. So wurde beispielsweise Meerschweinchen und Mäusen, denen zuvor letale Sparteinsulfat-Dosen verabreicht worden waren, Gasteiner Thermalwasser injiziert. Das Ergebnis sorgte für Erstaunen : Die Thermalwasserinjektionen hatten eine entgiftende Wirkung und die Tiere überlebten. Die Untersuchung schien abermals die vielfach vertretene Auffassung zu unterstreichen, dass das Radon nicht die einzige Komponente im Wirkungsmechanismus war, zumal das verwendete Wasser bereits lange der Quelle entnommen und deswegen der Radongehalt stark abgefallen war.80 Neben den physiologischen und biologischen Untersuchungen wurde die meteorologische Forschung durch den Bau einer luftelektrischen Station intensiviert.81 Bei Wiener Studierenden bemühte sich Kirsch darüber hinaus um eine Kartografierung der Uranerzverteilung im Großraum Badgastein, die im Sommer 1941 im Rahmen 75 Vgl. Bundesarchiv Berlin, Berlin Document Center, ab sofort : BAB, BDC, Kirsch, Gerhard, DS – G 124, Bl. 1, Bericht der Leitung des Forschungsinstitutes Gastein über die Arbeitsjahre 1938 bis 1941 von Prof. Dr. Gerhard Kirsch, undatiert, [1942 ?]. 76 Süß 2003, 35. Unter Arbeitseinsatzpolitik im Nationalsozialismus ist eine planmäßig gelenkte, höheren staatlich Zielen verpflichtete Arbeitsmarktpolitik zu verstehen. 77 Vgl. Malina/Neugebauer 2000, 705 ; vgl. auch Ash 2002, 32–51 sowie Kratz/Kratz 2004, 98–99. 78 Vgl. BAB, BDC, Kirsch, Gerhard, DS – G 124, Bl. 6, Bericht über die in der Zeit vom 12. Sept. bis 12. Okt. 1942 von Prof. Kirsch am Forschungsinstitut Gastein durchgeführten Untersuchungen vom 18.3.1942. 79 Vgl. Fröhlich 1938, 128–132. 80 Vgl. Gerke 1939, 280. 81 Vgl. BAB, BDC, Kirsch, Gerhard, DS – G 124, Bl. 1, Bericht der Leitung des Forschungsinstitutes Gastein über die Arbeitsjahre 1938 bis 1941 von Prof. Dr. Gerhard Kirsch, undatiert, [1942 ?].
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einer studentischen Gemeinschaftsarbeit unternommen wurde. Insgesamt wurden jedoch in der Zeit zwischen 1938 und 1942 wenig geologische Untersuchungen durchgeführt, wie Kirsch betonte.82 Für die ersten beiden Jahre hatte Stefan Meyer als eine Art graue Eminenz des Gasteiner Instituts fungiert und aus dem Hintergrund die Geschicke der Forschungseinrichtung bestimmt. Nachdem Meyer im Jahr 1938 als Jude zwangspensioniert worden und im oberösterreichischen Bad Ischl untergetaucht war,83 verringerte sich die Kooperation zwischen Gastein und dem nun unter der Leitung von Gustav Ortner stehenden Institut für Radiumforschung.84 Doch noch immer war das Gasteiner Institut wissenschaftlich stark an die Wiener Hochschulinstitute angebunden. Der »Anschluss« Österreichs an Hitler-Deutschland brachte zwar keine stärkere Vernetzung mit Forschungseinrichtungen des »Altreichs«, doch durch die institutionelle Eingliederung in die Reichsanstalt für das deutsche Bäderwesen an der Universität Breslau entwickelte sich ein stärkerer wissenschaftlicher Austausch mit der Universität Breslau. So entsandte beispielsweise der Direktor der Reichsanstalt, Heinrich Vogt,85 einen Dissertanten nach Gastein, der 1941 mit einer Arbeit über die physiologische Wirkung von eingenommenem Gasteiner Thermalwasser promovierte.86 Die Eingliederung in die Reichsanstalt trug dazu bei, dass es unter der Leitung von Kirsch im Vergleich zur Forschungsagenda der Gründungsära zu einer noch stärkeren Fokussierung auf medizinisch-balneologische beziehungsweise physiologische Forschungsarbeiten kam. 1942 erfolgte eine vorübergehende Einstellung der Institutstätigkeiten. Aus heutiger Sicht muss dieser Schritt als Rationalisierungsmaßnahme verstanden 82 Vgl. BAB, BDC, Kirsch, Gerhard, DS – G 124, Bl. 6, Bericht über die in der Zeit vom 12. Sept. bis 12. Okt. 1942 von Prof. Kirsch am Forschungsinstitut Gastein durchgeführten Untersuchungen vom 18.3.1942. In den 1920er und 1930er hatte Kirsch neben Forschungen zur Atomzertrümmerung vor allem auf dem Gebiet der Geophysik (geologische Zeitmessung) gearbeitet. Vgl. Kirsch 1933 ; vgl. auch Stetter 1957, 393–394. 83 Vgl. Reiter 2004, 715. 84 Meyer selbst spielte seine eigene Rolle gegenüber Granichstädten herunter und sah sich nur als »1/10 des Kuratoriums oder noch weniger« : AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 10, Fiche 152, Meyer an Kirsch vom 28.8.1937 ; vgl. auch Molisch 1912, 121. Eine Episode aus dem Jahr 1937 belegt jedoch die einflussreiche Stellung Meyers. Nachdem der am Gasteiner Institut beschäftigte Physiker Erhard Ruschitzka wegen Ruhestörung bei einer nächtlichen Autofahrt angezeigt worden war, stellte Scheminzky umgehend die Kompetenz und Verlässlichkeit des vom Institut für Radiumforschung vermittelten Physikers infrage. Dass Ruschitzka dennoch seinen Arbeitsplatz behalten konnte, hatte er Meyer zu verdanken, der sich gegen eine Entlassung des jungen Wissenschaftlers aussprach. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 10, Fiche 152, Scheminzky an Meyer vom 24.8.1937 sowie Meyer an Kirsch vom 28.8.1937. 85 Heinrich Vogt war zudem Herausgeber der wissenschaftlichen Zeitschrift Der Balneologe, in der regelmäßig über Arbeiten am Gasteiner Forschungsinstitut berichtet wurde. 86 Vgl. BAB, BDC, Kirsch, Gerhard, DS – G 124, Bl. 2–3, Bericht der Leitung des Forschungsinstitutes Gastein über die Arbeitsjahre 1938 bis 1941 von Prof. Dr. Gerhard Kirsch, undatiert, [1942 ?].
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werden, die der für das Deutsche Reich zunehmend schlechter verlaufende Krieg notwendig machte.87
Die Wiederaufnahme des Forschungsbetriebs in der Nachkriegszeit Der Institutsleiter Gerhard Kirsch musste nach der Niederlage Nazi-Deutschlands seinen Beamtenstatus abtreten. Bald wurden allerdings Stimmen laut, die seine Rehabilitierung forderten : »Es befindet sich im Lande Salzburg, Bischofshofen […] ein gewisser Herr Prof. Kirsch. Derselbe war Lehrer für Physik und Mathematik […] und soll nach seinen Angaben wegen seiner Zugehörigkeit zur Partei aus seiner Stellung entlassen worden sein. Die Landesregierung – Amt für Wirtschaft frägt an, ob Prof. Kirsch derart belastet erscheint, dass er im Lande Salzburg nicht als wissenschaftlicher Experte für Industrie Betriebe [sic] verwendet werden könnte bezw. ob die Landesregierung ihm Unterstützung in seiner Bestrebung um Erlangung einer Existenz gewähren kann.«88
Die Universität Wien ließ jedoch zunächst keinerlei Absicht erkennen, die Entlassung des Physikers rückgängig zu machen. Im Zuge einer größeren Rehabilitierungswelle im Jahre 1947 wurde der Fall neu bewertet.89 Die Entlassung Kirschs wurde aufgehoben und der Physiker in den Ruhestand versetzt, wenngleich ihm bis zur Vollendung des sechzigsten Lebensjahres die Bezüge verwehrt blieben.90 Er starb am 15. September 1956.91 Nach der Entlassung Kirschs wurde die Leitung des Forschungsinstituts Gastein auf Anregung der Kurverwaltung erneut Ferdinand Scheminzky übertragen. Scheminzky entwarf in Abstimmung mit den Gemeinden zu Beginn des Jahres 1946 ein kompaktes, überschaubares Arbeitsprogramm für die kommenden Monate.92 Das Programm 87 Vgl. Zimburg 1961, 12–15. 88 Archiv der Universität Wien, ab sofort : AUW, Personalakt Gerhard Kirsch, Phil. Fak. 2188, Sch. 112, 143, Schreiben der Landesregierung Salzburg, Abteilung V.3, Amt für Wirtschaft an das Rektorat der Universität von Wien vom 17.1.1946. 89 Vgl. Fleck 1996, 80–81 ; Feichtinger/Uhl 2005, 336. 90 Vgl. AUW, PA Gerhard Kirsch, Phil. Fak. 2188, Sch. 112, 148, Schreiben des Bundesministeriums für Unterricht an den ordentlichen Professor für Physik an der physikalischen Fakultät der Universität Wien Herrn Dr. Gerhard Kirsch vom 23.7.1947. 91 Vgl. Online Recherche, in : Archiv der Universität Wien, unter : http ://scopeq.cc.univie.ac.at/Query/ detail.aspx ?ID=147313 ; Zugriff : 22.12.2010. 92 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche 299, Scheminzky an Meyer vom 5.3.1946.
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sah eine Intensivierung der Analyse von radioaktiven Mineralen vor. Ansonsten schloss der wieder aufgenommene Forschungsbetrieb weitestgehend an die zwischen 1936 und 1938 erfolgten Forschungstätigkeiten an. Die vor Kriegsbeginn bestehende informelle Anbindung an die ÖAW wurde nach 1945 aufgewertet und führte schließlich zur Übernahme des Instituts durch die Gelehrtengesellschaft. Meyer schlug vor, wie in den ersten Jahren des Instituts ein wissenschaftliches Kuratorium einzurichten, was jedoch bei den beiden Gemeinden Badgastein und Bad Hofgastein zunächst auf wenig Gegenliebe stieß, da man befürchtete, es würde zu einer »Zersplitterung der Arbeitskraft« kommen.93 Außerdem wollten die beiden Gemeinden und Scheminzky keine Beschneidung ihres Einflusses hinnehmen. Nach Verhandlungen mit der ÖAW wurde das wissenschaftliche Kuratorium wiederbelebt. Darüber hinaus wurde aus Vertretern der beiden Gemeinden eine Institutskommission gegründet, die sich um regionale Belange kümmerte.94 Heute ist das Forschungsinstitut Gastein an die Paracelsus Medizinische Privatuniversität in Salzburg angegliedert. Als vorrangige Aufgabe wird die »unabhängige Durchführung und Koordination klinischer und grundlagenwissenschaftlicher Studien, die zum Verständnis, zur Qualitätssicherung, zur Weiter- und Neuentwicklung sowie zur Außendarstellung der Gasteiner Gesundheitsangebote beitragen, insbesondere aus den Bereichen der Balneologie, der physikalischen Therapie, der Kur- und Rehabilitationsforschung sowie der Schmerz(therapie)forschung« ausgewiesen.95
Fazit Das Gasteiner Forschungsinstitut befand sich seit seiner Gründung 1936 in der Einflusssphäre der ÖAW und wies vor allem in den beiden ersten Jahren seines Bestehens eine rege Kooperation mit dem unter der Leitung von Stefan Meyer stehenden Wiener Institut für Radiumforschung auf. Meyers großes Interesse an den am Gasteiner Institut durchgeführten Arbeiten muss vor dem Hintergrund verstanden werden, dass die Statuten des Instituts für Radiumforschung untersagten, biologisch beziehungsweise medizinisch ausgerichtete Versuche mit Radioaktivität durchzuführen. In der Gründungsära von 1936 bis 1938 fungierte das Gasteiner Forschungsinstitut als eine Art Außenstelle des renommierten Wiener Instituts für Radiumforschung. Gleichzeitig 93 Ebd. 94 Vgl. Zimburg 1936, 14. 95 Vgl. Forschungsinstitut Gastein – PMU, unter : http ://www.pmu.ac.at/de/710.htm ; Zugriff : 22.12. 2010.
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diente es als lokale, in den Kurbetrieb eingebettete Forschungsstelle, an der balneologischen Fragestellungen nachgegangen wurde und neue Kurmittel und Therapieansätze entwickelt wurden. Die Vielzahl der biologischen, chemischen, geologischen und meteorologischen Experimente und Untersuchungen, die zusätzlich durchgeführt wurden, unterstreichen den transdisziplinären Charakter der Forschungseinrichtung. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wandte sich das nunmehr von Gerhard Kirsch geleitete Institut verstärkt physiologischen, im Zusammenhang mit der Nutzbarmachung des Thermalwassers für Kriegsverletzte stehenden Forschungsfragen zu. Das am Gasteiner Institut im Untersuchungszeitraum von 1936 bis 1942 deutlich werdende, zum beiderseitigen Vorteil bestehende Wechselverhältnis zwischen Tourismus respektive Kurwesen einerseits und Wissenschaft andererseits bildet in der österreichischen Wissenschaftsgeschichte ein frühes Beispiel für eine institutionalisierte, anwendungsorientierte Forschungstätigkeit.
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Sowjetische Missionen auf der Suche nach den Hinterlassenschaften der österreichischen Kernphysik Rainer Karlsch, Berlin
Die Anfänge des sowjetischen Atomprojekts : Technologietransfer mittels Spionage Wie kaum ein anderes militärisch-industrielles Großvorhaben des 20. Jahrhunderts profitierte das sowjetische Atomprojekt von Spionage.1 Für das Design der ersten sowjetischen Kernspaltungsbombe war der Wissenstransfer aus den USA von immenser Bedeutung. Zudem spielte die Erbeutung von Rohstoffen und Ausrüstungen aus Deutschland und Österreich sowie die Rekrutierung deutscher und österreichischer Wissenschaftler eine wesentliche Rolle für den Aufbau des sowjetischen Atomkomplexes und die raschen Fortschritte des Atomprojektes.2 Informationen über das britische und das deutsche Atomprojekt waren für die sowjetische Führung ausschlaggebend gewesen, um ein eigenes Projekt zu beginnen. So war das sowjetische Volkskommissariat des Inneren (NKWD) bereits im Herbst 1941 detailliert über die Sitzungen des britischen Urankomitees (MAUD) informiert. Außerdem hatte der aus Deutschland emigrierte Physiker Klaus Fuchs, der am britischen Atomprojekt mitarbeitete, den militärischen Nachrichtendienst der Roten Armee (GRU) auf das deutsche Atomprojekt hingewiesen.3 Nach Auswertung dieser und anderer Geheimdienstinformationen schlug der Volkskommissar des Inneren und Stellvertretende Vorsitzende des Ministerrates, Lawrenti Berija, dem Staatlichen Verteidigungskomitee (GKO) vor, eine wissenschaftliche Kommission zur Untersuchung der Uranfrage zu gründen.4 In dieser militärisch dramatischen Zeit – deutsche Truppen standen kurz vor Moskau – hatte der Diktator Josef Stalin jedoch andere Sorgen, als sich mit Meldungen über Forschungsprojekte zu 1 2 3 4
Vgl. insbesondere Heinemann-Grüder 1992 ; Holloway 1994 ; Rjabew 2002 ; Vizgin 2002 ; Lota 2002 ; Nekrasow 2007. Vgl. Oleynikov 2000 ; Starowerow 2005. Vgl. Nekrasow 2007, 59 ; Chiffretelegramm Nr. 150000 vom 10.8.1941 aus London an die Zentrale von GRU, Faksimile abgedruckt in : Lota 2002, 160. Vgl. Entwurf eines Schreibens des NKWD an Stalin über die notwendige organisatorische Arbeit zur Entwicklung einer Atomwaffe, nicht früher als 10.10.1941 und nicht später als 31.3.1942, in : Rjabew 1998, 244–245.
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befassen, deren Erfolgschancen noch höchst ungewiss schienen. Es kam zu keiner Entscheidung. Neue Informationen über die deutsche Atomforschung verstärkten allerdings ab Frühjahr 1942 den Handlungsdruck.5 Sergej Kaftanow, wissenschaftlicher Berater Stalins und Minister für Hochschulwesen der UdSSR, konsultierte mehrere der besten sowjetischen Wissenschaftler. Gemeinsam mit dem Physiker Abram Ioffe verfasste er einen Brief an das GKO und schlug ein eigenes Atomprojekt vor.6 Stalin bestellte daraufhin im August 1942 die wichtigsten Physiker des Landes in den Kreml und stimmte den Plänen Kaftanows zu. Von Anfang an lag die Organisation des Atomprojektes in der Verantwortung des NKWD. Die wissenschaftliche Leitung wurde dem 39-jährigen Physiker Igor Kurtschatow übertragen. Nur er erhielt vollständigen Einblick in die Ergebnisse der Atomspionage des NKWD und der GRU, die heftig miteinander rivalisierten. Auch entschied er eigenständig, welche Schlüsse aus den Materialien zu ziehen seien und wer von seinen Mitarbeitern darüber informiert werden sollte. Kurtschatow gelangte zu der Auffassung, dass die kernphysikalischen Arbeiten in Deutschland und den USA ganz ähnlich abliefen. Über die deutschen Forschungen wollte er Genaueres erfahren, unter anderem, welche Methoden zur Gewinnung von Uran-235 besonders weit entwickelt waren, ob Reaktoren mit Schwerwasser oder Grafit als Moderator gebaut wurden, und wenn ja, wie diese konstruiert waren. Des Weiteren interessierten ihn die Mengen des in Norwegen produzierten schweren Wassers und des in Joachimsthal geförderten Uranerzes sowie die anderen Uranvorkommen im deutschen Machtbereich.7 Mitte 1944 war ihm schon klar, dass das amerikanische Atomprojekt weiter vorangekommen war als das deutsche. Während in den USA Reaktoren zur Produktion von Plutonium und großtechnische Anlagen zur Uranisotopentrennung in Betrieb waren, lagen keine vergleichbaren Meldungen aus dem Deutschen Reich vor. Dennoch war sich Kurtschatow nicht sicher, ob die Deutschen nicht ebenfalls in der Lage wären, Atombomben herzustellen. Daher sollten die Geheimdienste noch mehr Informationen beschaffen. Ende März 1945 sorgte eine GRU-Meldung über einen angeblichen kleinen deutschen Atomtest in Thüringen für erhebliche Unruhe in Moskau. In dem Bericht hieß es unter anderem : »Die Bombe enthält vermutlich Uran-235 und hat ein Gewicht von zwei Tonnen. […] Die Bombenexplosion wurde von einer starken Detonationswelle und der Entwicklung hoher 5 6 7
Vgl. Karlsch 2010. Vgl. Kaftanow 1985. Vgl. ebd.
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Temperaturen begleitet. Außerdem wurde ein starker radioaktiver Effekt beobachtet. […] Ohne Zweifel führen die Deutschen Tests einer Bombe mit großer Zerstörungskraft durch. Im Falle ihres erfolgreichen Tests und der Herstellung solcher Bomben in ausreichender Menge werden sie über eine Waffe verfügen, die in der Lage ist, unsere Offensive zu verlangsamen.«8
Aufgrund dieses Berichts verfasste Kurtschatow am 30. März 1945 einen Brief an Stalin »Über eine deutsche Atombombe«. Darin sprach er von »sehr glaubwürdigen Konstruktionsbeschreibungen« und bat um weitere Informationen : »Es wäre äußerst wichtig, zu diesen Fragen detailliertere und exaktere Informationen zu erhalten. Noch wichtiger wäre es, Einzelheiten über den Prozess der Gewinnung von Uran-235 aus Natururan zu erfahren.«9
Bis heute ist strittig, was es mit den Tests in Thüringen auf sich hatte.10 Jedenfalls wurde diese GRU-Meldung in Moskau ernst genommen. Kurtschatow beauftragte einen seiner besten Physiker, Georgi Flerow, mit der weiteren Prüfung der Meldung und schickte ihn nach Deutschland. Die Ergebnisse seiner Recherchen sind nicht bekannt.
Kriegsbeute in Wien Abgesehen von der Sondermission Flerows, die nach Berlin und Thüringen führte, hatte sich das NKWD seit Mitte 1944 auf das Aufspüren der Hinterlassenschaften des deutschen »Uranvereins« vorbereitet. Dessen Zentrum vermutete man in Berlin, insbesondere in den Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Auch war das NKWD über die Bedeutung des Werks der Auergesellschaft in Oranienburg, nördlich von Berlin, als Hersteller von Uranmetall und Uranoxyd informiert.11 Bekannt waren ebenfalls die wichtigsten Wissenschaftler, die am deutschen Uranprojekt mitwirkten. Den österreichischen Atomphysikern maß das NKWD keine erstrangige Bedeutung bei. Lediglich 8 Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation, Fonds 93, Abteilung 81 (45), Liste 37, Iljitschow an Antonow vom 23.3.1945, Verteiler : Stalin, Molotov, Antonow. Unterstreichungen im Original. Dieses und weitere Dokumente wurden von Irina Bulawa (Berlin) und Wladimir Sacharow (Moskau) wörtlich aus dem Russischen übersetzt, wofür der Autor beiden zu großem Dank verpflichtet ist. 9 Stellungnahme von Igor Kurtschatow zu Unterlagen »Über eine deutsche Atombombe« vom 30.3.1945, in : Rjabew 2002, 260f. 10 Vgl. Karlsch/Petermann 2008. 11 Vgl. Heinemann-Grüder 1992, 63–65.
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Georg Stetter und Willibald Jentschke wurden in einer »Fahndungsliste« aufgeführt.12 Hinweise auf größere Aktivitäten des »Uranvereins« in Österreich hatte man in Moskau zwar nicht. Trotzdem hoffte man, in Wien auf Spuren zu stoßen, die das Bild vom Stand der deutschen kernphysikalischen Forschungen vervollständigen würden. Interessant erschienen die Wiener Institute auch im Hinblick auf dort vielleicht lagerndes Uran und Radium sowie wissenschaftliche Apparate und Geräte. Bereits Ende November 1944 waren den sowjetischen Truppen Unterlagen des deutschen Radiumsyndikats, zu dem auch die Treibacher Chemische Werke AG (TCW) in Kärnten gehörte, über ein Uranerzvorkommen in der Nähe der bulgarischen Stadt Buchovo in die Hände gefallen. Berija ordnete daraufhin den schnellstmöglichen Beginn des Uranerzabbaus in Bulgarien an.13 Die UdSSR verfügte zu dieser Zeit kaum über eigene Uranerzvorräte und stand bei der Entwicklung einer Technologie zur Herstellung von metallischem Uran erst am Anfang.14 Insofern hatte die Erschließung von Uranerzvorkommen im Ausland und das Aufspüren der deutschen Uranvorräte höchste Priorität, um überhaupt die für den Bau von Uranreaktoren benötigte Mindestmenge an Uranoxyd beziehungsweise Uranmetall herstellen zu können. Allerdings wusste man zu diesem Zeitpunkt in Moskau noch nicht, dass die Deutschen im Frühjahr 1942 mehr als 1.200 Tonnen verschiedener Uranverbindungen – das war der weltweit größte Vorrat – in Belgien beschlagnahmt hatten.15 Berija erhielt erst Anfang April 1945 davon Kenntnis.16 Das NKWD vermutete einen Teil dieses Urans in Schlesien. Tatsächlich war es jedoch zum größten Teil in ein mitteldeutsches Salzbergwerk nahe Staßfurt gebracht worden. Die Amerikaner erbeuteten es Mitte April 1945, wenige Tage bevor sowjetische Truppen die Stadt erreichten. Die Suche nach Uranvorräten spielte auch beim Einmarsch in Österreich eine Rolle, da über Uranerzvorkommen nahe Badgastein spekuliert wurde. Doch es ging nicht nur um den knappen Rohstoff Uran. Ebenso wichtig war es, die sowjetischen Forschungseinrichtungen zu modernisieren. Am 24. März 1945 schrieb Berija diesbezüglich an Georgi Malenkow, Mitglied des GKO und Vorsitzender des Komitees für den Wiederaufbau der Volkswirtschaft in den von der deutschen Besetzung befreiten Gebieten : »Das Laboratorium Nr. 2 der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und das neu gegründete Institut für spezielle Metalle des NKWD der UdSSR benötigen dringend Laborgeräte und Prä12 13 14 15 16
Vgl. Kurtschatow an Berija vom 8.5.1945, in : Rjabew 2002, 286. Vgl. Karlsch/Zeman 2002, 39. Vgl. Heinemann-Grüder 1992, 52. Vgl. Karlsch 2007, 28. Vgl. Wsewoljod Merkulow an Berija vom 11.4.1945, in : Rjabew 2002, 267–268.
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zisionsmessgeräte. Die einheimischen Betriebe stellen solche Ausrüstungen und Geräte nicht her und es ist nicht möglich, sie im Ausland zu bestellen.«17
Daraufhin wurden Physiker des Moskauer Laboratoriums Nr. 2, des wissenschaftlichen Leitinstituts des Atomprojektes, und Offiziere des NKWD an die Fronten entsandt, um in den besetzten Gebieten nach Ausrüstungen für ihr Institut zu suchen. Anfang April 1945 zeichnete sich ab, dass die Rote Armee Wien eher erobern würde als Berlin. Die Suche nach den Hinterlassenschaften des deutschen Uranprojektes begann daher in Wien. Am 8. April 1945 schlug Generalmajor Wassili A. Machnew, Leiter des Sekretariats des Sonderkomitees, seinem Chef Berija vor, die Physiker Flerow und Igor Golowin zur Dritten Ukrainischen Front zu schicken, »um sich mit dem Radiuminstitut in Wien bekannt zu machen, das, wie es scheint, von den Deutschen für Uranarbeiten genutzt worden ist«.18 Da Flerow, wie erwähnt, mit einer Sondermission betraut wurde, reiste Golowin vom 23. April 1945 bis zum 14. Mai 1945 allein nach Wien und Budapest.19 Schon in den letzten Kriegswochen begann sich eine Konkurrenz der Alliierten bei der Jagd nach Fachleuten und Know-how abzuzeichnen, so dass die Geheimdienstmissionen aller vier Siegermächte mit großer Eile in Europa agierten. Dies traf auch auf Golowins Mission zu. Die Rote Armee hatte Wien vor den Amerikanern erreicht. Nun sollte der zeitliche Vorsprung genutzt werden, um vor den Verbündeten an Informationen über die kernphysikalischen Forschungen im einstigen deutschen Machtbereich zu gelangen. Die Chancen dafür standen für Golowin jedoch nicht besonders gut. In den letzten Kriegsmonaten hatten die meisten Physiker und Physikerinnen Wien verlassen und waren in Ausweichquartieren in den westlichen Landesteilen untergekommen, die später von den Amerikanern und Franzosen besetzt wurden. Verblieben waren nur der Leiter des Instituts für Radiumforschung, Gustav Ortner, Alfred Böhnisch vom I. Physikalischen Institut sowie Hertha Wambacher vom II. Physikalischen Institut. Sie wurden in wenigen Tagen vom NKWD aufgespürt. Als Erster wurde Gustav Ortner am 28. April 1945 verhört. Er legte seine Aussagen schriftlich nieder.20 Ein wichtiger Beitrag seines Instituts zu den Forschungen des »Uranvereins« bestand in der Fertigung von Strahlungsquellen. Außerdem informierte er über die Forschungsschwerpunkte des II. Physikalischen Instituts, wobei die Schil17 Berija an Malenkow vom 24.3.1945, in : Rjabew 2002, 249–250. 18 Machnew an Berija vom 8.4.1945, in : ebd., 266–267. 19 Am 17. Mai 1945 flog Golowin nach Berlin, wo inzwischen auch Flerow eingetroffen war. Mitte Juni 1945 kehrte er nach Moskau zurück. Zu den Reisedaten vgl. ebd., 249–250. 20 Vgl. Abteilung der Archivfonds der staatlichen Kooperation der Atomenergie, ab sofort : OOFR, Mappe 19143, Bl. 83–98, Aussagen von Ortner vom 28.4.1945, handschriftlich.
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derungen der Experimente zur Ermittlung von Absorptionswirkungsquerschnitten schneller Neutronen in verschiedenen Substanzen für Golowin am aufschlussreichsten waren. Von den Reaktorversuchen des »Uranvereins« besaß Ortner hingegen nur ungefähre Vorstellungen. Auch seine Bemerkungen über die mehr oder weniger erfolglosen Versuche, das Uranisotop 235 mittels Trennrohr, Ionenquellen und Ultrazentrifugen zu gewinnen, dürften Golowin nicht sonderlich beeindruckt haben, da man im Kurtschatow-Institut in Moskau bereits wusste, an welchen Verfahren in den USA und Deutschland gearbeitet wurde, um angereichertes Uran produzieren zu können.21 Am 30. April 1945 wurden Böhnisch und der Mechaniker des II. Physikalischen Instituts, Walter Opawsky, befragt.22 Böhnisch verwies darauf, dass Forschungsaufträge des »Uranvereins« hauptsächlich vom II. Physikalischen Institut unter der Leitung von Georg Stetter bearbeitet worden seien. Details vermochte er nicht zu nennen. Stetters Mitarbeiter, so Böhnisch, hätten sich vor allem mit der Gewinnung von kernphysikalischen Daten, wie Wirkungsquerschnitten und dergleichen, befasst. Eine höhere Dringlichkeitsstufe als die Uranforschung hätten Forschungen im Rahmen des Projektes »schwarzes U-Boot«, das heißt eines Bootes, das nicht zu orten war, besessen. Der einzige erwähnenswerte Beitrag des I. Physikalischen Instituts zur Uranforschung bestand nach Meinung von Böhnisch im Bau eines Massenspektrometers zur Untersuchung des Anreicherungsgrades von Isotopengemischen.23 Der Auftrag dafür war von Stetter an Richard Herzog, Oberassistent am I. Physikalischen Institut, vergeben worden. Auch Böhnisch selbst, der sich als »scharfer Nazigegner« ausgab, hatte an der Realisierung dieses Auftrags mitgearbeitet. Allerdings war es ihm und Herzog nicht gelungen, die Funktionsfähigkeit des Massenspektrometers zu gewährleisten, da es Probleme mit der Vakuumdichtigkeit gab. Das fast fertige Gerät befand sich nicht mehr in Wien. So blieb eine Dose mit metallischem Uranpulver die einzige sowjetische Kriegsbeute im I. Physikalischen Institut.24 Walter Opawsky berichtete ebenfalls von den Laborversuchen mit Uran und der Standortverlagerung des II. Physikalischen Instituts. Er erwähnte auch die Auslagerung der Radiumreserve :
21 Vgl. das Gutachten Kurtschatows über das von der GRU beim Generalstab der Roten Armee erhaltene Material über die Arbeiten in Deutschland und den USA vom 11.7.1944, in : Rjabew 2002, S. 97–98. 22 Vgl. OOFR, Mappe 19143, Bl. 13–23, Befragung von Böhnisch über militärgebundene Forschungsarbeiten vom 30.4.1945. Die schriftlichen Antworten von Böhnisch wurden von Golowin am 4.5.1945 in Kurzform ins Russische übersetzt ; OOFR, Mappe 19143, Bl. 28–29, Aussagen von Opawsky vom 30.4.1945. 23 Archiv des Deutschen Museums München, ab sofort : ADM, Berichte des deutschen Atomprogramms, 1939–1945, G-375, Richard Herzog : Bericht über den Stand der Arbeiten beim Bau des neuen großen Massenspektrometers, Wien, 1.7.1943. 24 Vgl. OOFR, Mappe 19143, Bl. 39, Böhnisch an Zima vom 30.4.1945.
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»Zu einem früheren Zeitpunkt [im Februar 1945, R.K.] wurden die Radiumlösungen in Kolben eingedampft und die Kristalle nach Salzburg in einen Stollen von einigen Herren der Akademie der Wissenschaft gebracht. Dieser Transport fand wegen der fortgesetzten alliierten Bombenangriffe statt. Prof. Ortner war bei dem Transport dabei.«25
Außerdem übergab Opawsky der sowjetischen Kommission mehrere Schriftstücke über den Geschäftsverkehr des Instituts mit verschiedenen Firmen, ein Exemplar eines Hitler-Befehls, der die Geheimhaltung kriegswichtiger wissenschaftlicher Arbeiten betraf, zwei geschliffene Stücke Uranmetall mit einem Gewicht von 335 Gramm und Proben pulverförmigen Urans.26 Am 1. Mai 1945 wurde Ortner nochmals verhört und einen Tag später auch Wambacher vom II. Physikalischen Institut.27 Von ihr erfuhr Golowin unter anderem, dass nahezu die gesamte Laborausrüstung des II. Physikalischen Instituts, wichtige Dokumente und auch etwa 100 Kilogramm metallisches Uran nach Schwallenbach beziehungsweise Thumersbach, das heißt in die künftige amerikanische Besatzungszone, verlagert worden waren.28 Tatsächlich war mit Verfügung der deutschen Rüstungsinspektion XVII vom 22. Oktober 1943 das Institut in das »Glöcklein von Schwallenbach«, einen Gast- und Fremdenhof in Schwallenbach, eingewiesen worden.29 Der vom Reichsamt für Wirtschaftsausbau finanzierte Ausbau der Ausweichstelle zog sich dann noch bis Anfang 1945 hin. Die Verlegung einer Hochspannungsleitung nach Schwallenbach durch die Brown Boveri Werke AG kam nicht mehr zum Abschluss. Erst in den letzten Kriegswochen erfolgte die Verlagerung nach Thumersbach bei Zell am See, südlich von Salzburg. Wenige Tage nach der ersten Inspektion des II. Physikalischen Instituts entdeckten NKWD-Einheiten, wohl aufgrund der Hinweise von Böhnisch, dort noch weiteres Uran.30 Es handelte sich um acht Kisten mit metallischem Uranpulver zu je etwa 30 25 Vgl. OOFR, Mappe 19143, Bl. 28, Aussagen Opawskys vom 30.4.1945. Das Radium wurde im Februar 1945 im Salzbergwerk Hallein eingelagert und nach Kriegsende von den amerikanischen Militärbehörden beschlagnahmt. 26 Vgl. OOFR, Mappe 19143, Bl. 47, Opawsky an Zima vom 30. April 1945. 27 Vgl. OOFR, Mappe 19143, Bl. 30–33, Protokoll der Vernehmung von Ortner durch Zemlinskij vom 1.5.1945 ; ebd., Bl. 25–27, Protokoll der Vernehmung von Wambacher durch Zemlinskij vom 2.5.1945. 28 Vgl. OOFR, Mappe 19143, Bl. 50, Sonderbericht des Kommandeurs des 336. NKWD-Grenzregiments an Pawlow vom 4.5.1945. 29 Vgl. Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien, Anhang: Vierjahresplaninstitut für Neutronenforschung, Akten: Materialienforschungen, K1 Konv. 5, Fiche 6, Kraus an Fenzl vom 11.2.1944. Ich danke Ralf Kegler (Wien) dafür, dass er mir diese Quelle zur Verfügung gestellt hat. 30 Vgl. OOFR, Mappe 19143, Bl. 50, Major Barannikow an Pawlow vom 4.5.1945.
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Kilogramm, vier Flaschen mit metallischem Uranpulver zu je neun Kilogramm und zwei Flaschen Uranoxyd zu je 12 Kilogramm. Das gesamte Material musste am 5. Mai 1945 förmlich an die sowjetische Kommission übergeben werden.31 Obwohl es sich um vergleichsweise geringe Mengen handelte, war dies angesichts des bereits erwähnten sowjetischen Uranengpasses eine wertvolle Beute. Sie wurde am 10. Mai 1945 zusammen mit diversen Dokumenten nach Moskau geflogen.32 Auch Ortner und Wambacher waren an Bord, konnten nach einigen Wochen allerdings wieder nach Wien zurückkehren.
Der Golowin-Bericht vom 4. Mai 1945 Igor Golowin fasste die Aussagen der beiden Physiker und der Physikerin sowie des Mechanikers am 4. Mai 1945 eiligst zu einem Bericht zusammen.33 Als wichtigste Forschungseinrichtung nannte er das II. Physikalische Institut : »Das Institut hatte die Aufgabe, mit allen nur erdenklichen Mitteln alle physikalischen Daten zu ermitteln, die notwendig sind, um einen Uranreaktor zu bauen. Der eigentliche Bau eines Uranreaktors war nicht Aufgabe dieses Instituts. Die Bearbeitung des Uranproblems in Wien oblag dem Leiter des Neutroneninstituts, Professor Georg Stetter, Nationalsozialist. Unmittelbar betraut mit der Uranproblematik waren Dr. Willibald Entschke [Jentschke], Nationalsozialist, Dr. Karl Lindner [Lintner], Dr. Joseph Schädelmeister [Josef Schintlmeister], Nationalsozialist, der Chemiker Professor [Alfred] Bruckl, Nationalsozialist. In der praktischen Arbeit wurden sie unterstützt von Karl Kaindel [Kaindl], Leopold Winninger [Wieninger], Otto Mergaut [Merhaut] und Gudlach [Franz Gundlach]. Alle genannten Mitarbeiter, außer Professor Bruckl, haben zusammen mit den Deutschen Wien verlassen.«34
Insgesamt erfuhr Golowin in Wien über die Reaktorexperimente des »Uranvereins« nichts, was in Moskau nicht schon bekannt gewesen war. Auch erbrachte seine Mission keine neuen Laborausrüstungen und Großgeräte für kernphysikalische Forschungen. 31 Vgl. OOFR, Mappe 19143, Bl. 48, Akte der Übergabe des metallischen Urans in Pulverform und Uranoxyd aus dem II. Physikalischen Institut der Wiener Universität an die Kommission der Roten Armee vom 5.5.1945. 32 Vgl. OOFR, Mappe 19143, Bl. 51–52, Sukarew an Schernyschew vom 11.5.1945 ; Zarew an Schernyschew vom 12.5.1945. 33 Vgl. OOFR, Mappe 19143, Bl. 22–24, Golowin : Materialien über die Recherchen zur Tätigkeit des Instituts für Radiumforschung der Wiener Akademie der Wissenschaften, des II. Physikalischen Instituts der Wiener Universität und des Instituts für Neutronenforschung in Wien vom 4.5.1945. 34 Ebd. Viele Namen sind im Text falsch geschrieben. Die richtige Schreibweise wurde von mir in Klammern ergänzt.
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Anders verhielt es sich in Bezug auf die TCW, deren Rolle als Produzent von Uranverbindungen und Radium in den Verhören angesprochen wurde. Golowin wies in seinem Bericht, gestützt auf die Aussagen von Wambacher, auch darauf hin, dass sich »nahe Gastein radioaktive Quellen befinden« und »auch radioaktive Erze befinden könnten«. Er resümierte : »Das oben Genannte zeigt, dass sich Deutschland während des Krieges intensiv mit der Uranproblematik beschäftigte. Die angegebenen Daten dürfen nicht als 100-prozentig sicher angenommen werden, da zwei der Beteiligten Mitglieder der nationalsozialistischen Partei sind und nicht direkt in die Problematik des Uranbergbaus involviert waren. Auf Grund der voneinander unabhängigen und übereinstimmenden Aussagen von Professor Ortner und Dr. Wambacher kann man davon ausgehen, dass 1. die genannten Namen der Mitarbeiter, die die Arbeit in Berlin leiteten, stimmen ; 2. Versuche mit einer großen Menge Uran unternommen worden sind ; 3. eine Industrie geschaffen worden ist, die sich mit der Uranproduktion befasst. Da die Lösung des Uranproblems eine große wirtschaftliche und militärische Bedeutung hat, ist es unumgänglich, möglichst viel metallisches Uran zu produzieren und zu verwenden, Industriebetriebe ausfindig zu machen, die sich mit der Uranproblematik befassen können, und Informationen über die theoretische und experimentelle Arbeit sowie deren praktische Erfolge zu bekommen.«35
Bei Kriegsende waren sich die sowjetischen Physiker demnach sicher, dass in Deutschland und Österreich intensive Uranforschungen betrieben worden waren. Allerdings wusste man in Moskau noch nicht genau, wie viel Uranmetall und schweres Wasser für die deutschen Projekte zur Verfügung gestanden hatte und wieweit die Versuche mit den »Uranmaschinen« vorangekommen waren. Nicht zur Sprache kam in Golowins Bericht die Rolle der Wiener Elin AG. Dabei war der Branchenführer der österreichischen Elektrotechnik maßgeblich am Bau von Zyklotronen für die Reichspost beteiligt gewesen. Im Dezember 1939 hatte der Erfinder Manfred von Ardenne Reichspostminister Wilhelm Ohnesorge auf die Möglichkeit des Baus einer »Uranbombe« hingewiesen und das »Fehlen leistungsfähiger Atomumwandlungsanlagen« beklagt.36 Ohnesorge entschloss sich zu einem Einstieg in die Kernphysik. Er bewilligte auch das von Ardenne vorgeschlagene Projekt »für die technische 35 OOFR, Mappe 19143, Bl. 24, Golowin, Materialien über die Recherchen zur Tätigkeit des Instituts für Radiumforschung der Wiener Akademie der Wissenschaften, des II. Physikalischen Instituts der Wiener Universität und des Instituts für Neutronenforschung in Wien vom 4.5.1945. 36 Vgl. Barkleit 2006, 65. Nur in der Urfassung der Autobiografie von Manfred von Ardenne ist von der Möglichkeit einer Uranbombe die Rede. In der publizierten Fassung schreibt Ardenne allgemeiner von der »ungeheuren Bedeutung der Kernspaltung«. Vgl. Ardenne 1988, 89.
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Entwicklung von Verfahren und Anlagen auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung«.37 Wichtigster Partner der Reichspost wurde die Elin AG, zumal die Siemens AG mit mehreren Zyklotronprojekten für Kaiser-Wilhelm-Institute (KWI) in Heidelberg und Berlin, das Heereswaffenamt und ein eigenes Vorhaben bereits überlastet war. Die Reichspost beantragte im Mai 1941 beim Wirtschafts- und Rüstungsamt des Oberkommandos der Wehrmacht eine höhere Dringlichkeitsstufe für den Bau von Zyklotronen durch die Elin AG. Es fehlte auch nicht der Hinweis auf die »Bedeutung der Atomzertrümmerung für die Herstellung von Bomben mit ungeheurer Sprengkraft«.38 Von der Elin AG wurden zwei Zyklotronmagneten für das Institut von Ardenne und das Amt für physikalische Sonderfragen in Miersdorf gebaut.39 In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass der Wiener Physiker Hans Thirring nach seiner vorzeitigen, aus politischen Gründen erfolgten Versetzung in den Ruhestand im Dezember 1938 einen Beratervertrag von der Elin AG erhielt und für die Berechnungen der Zyklotronmagneten verantwortlich war.40 Ob die von Golowin befragten Wiener Physiker nichts von den Verbindungen zwischen der Elin AG und der Reichspost wussten, muss offen bleiben. Jedenfalls kam dieser Komplex nicht zur Sprache.
Die Treibacher Chemischen Werke in Kärnten als Hersteller von Uranverbindungen Die TCW in Kärnten lagen außerhalb des sowjetischen Zugriffs. Dennoch versuchte das NKWD die Rolle dieser Firma im Rahmen des deutschen Atomprojektes zu klären. Das Unternehmen war der wichtigste Hersteller von radioaktiven Substanzen in Österreich und belieferte unter anderem das Institut für Radiumforschung sowie verschiedene Leuchtfarbenhersteller.41 Auf Weisung des Reichswirtschaftsministeriums hatten die Auergesellschaft AG in Berlin, die Chininfabrik Buchler & Co. in Braunschweig und die TCW am 7. März 1939 die unrentablen Joachimsthaler Uranminen übernommen und die Joachimsthaler Bergbau GmbH gegründet.42 Jede der drei Fir37 Vgl. Stange 2001, 10. 38 Vgl. Bundesarchiv Berlin, ab sofort : BAB, Film 8273, KTB WiRüAmt/Stab, Besprechung mit Major Grube (OKW) und Dr. Gladenbeck (Reichspostministerium) vom 5.5.1941. 39 Vgl. Siemens Archiv München, 11 LG 42, Handakten Flir, Vertraulicher Aktenvermerk von Dr. Mehlhorn (Siemens AG), Betr. : Forschungsinstitut der Reichspost – Atomumwandlungsanlagen vom 16. Januar 1942. 40 Vgl. Thirring/Grümm 1963, 160 ; Zimmel/Kerber 1992. 41 Vgl. OOFR, Mappe 19143, Bl. 49, Lieferschein TCW an das Institut für Radiumforschung in Wien vom 3.4.1937. 42 Vgl. Karlsch/Zeman 2002, 60.
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men erhielt ein Drittel der geschürften Erze. Zwischen 1940 und 1944 lag die jährliche Förderung in Joachimsthal bei jeweils rund zwölf Tonnen reinem Uranerz.43 Die Uranerze sollten zur Herstellung von jährlich bis zu vier Gramm Radium und 20 Tonnen Farbstoffen dienen. Ganz erreicht wurden diese Vorgaben nicht. Die höchste Produktion wurde 1943/44 mit einer Radiumausbeute von 3,3 Gramm erzielt.44 Gemeinsam mit der Allgemeinen Radium AG in Berlin und der Radiumchemie AG in Frankfurt am Main gründeten die drei Firmen 1940 die Radium-Syndikat GmbH. Im Auftrag der Reichsstelle Chemie hatte das Syndikat vor allem für die Herstellung und Verteilung des Radiums Sorge zu tragen. Im Herbst 1940 wurde bei TCW eine Spezialabteilung zur Aufarbeitung der Joachimsthaler Pechblende eingerichtet.45 Außerdem bezog TCW aus Schmiedeberg Uranerze.46 Auch gab die Auergesellschaft das ihr zustehende Drittel der Uranerze aus Joachimsthal nach Treibach zur Umarbeitung. Pro Monat konnten bis zu 2.500 Kilogramm Uranverbindungen hergestellt werden. Produktion, Absatz und Umarbeitung von Ammoniumuranat in den TCW (in Kilogramm)47 Jahr
Produktion
Absatz und Umarbeitung
1940
3.455,00
3.374,70
1941
8.342,76
8.423,40
1942
5.442,24
941,14
1943
6.791,70
3.196,00
1944
8.540,00
5.334,50
1945
1.141,00
–
Die TCW konnten seit 1940 die Produktion von Ammoniumuranat kontinuierlich steigern. Es wurde an medizinische Institute und Keramik-Hersteller verkauft. Ab Mitte 1942 wurden aufgrund einer Verordnung des Reichswirtschaftsministeriums und der Reichsstelle Chemie alle Uransalze beschlagnahmt und wehrwirtschaftlichen 43 Vgl. Staatliches Archiv der Russischen Föderation, ab sofort : GARF, Fonds 1458, Findbuch 10, Akte 308, Bl. 41, Vertrag zwischen der Deutschen Revisions- und Treuhand AG und der Firma Joachimsthaler Bergbau GmbH vom 12.6.1939. 44 Vgl. OOFR, Nr. 47, Bl. 53. Streng geheimer Bericht über die Ausbeute an Uranerzen in Jachymov (Tschechoslowakei) und die Verfahren ihrer Aufbereitung sowie über die deutschen Untersuchungen von Uranlagerstätten in Bulgarien, Spanien und Portugal vom 24.5.1946. 45 Vgl. TCW-Archiv, Jahresberichte der Radium-Abteilung, 1935–1948, Ordner J 21. 46 Vgl. Gollmann 1994, 112–113. 47 Zusammengestellt nach : TCW-Archiv, Jahresbericht der Radium-Abteilung 1940, Ordner J21, o. S. ; TCW-Archiv, Jahresberichte der Radium- und Uranabteilung 1941–1945, Ordner J21.
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Zwecken zugeführt. Seitdem nahm die Firma W. Maier K.G. Radium-chemische Industrie und Laboratorium in Schwenningen große Teile der Produktion der Radiumund Uranabteilung ab.48 Golowin hatte in Wien Hinweise auf diese Firma wie auch auf die Bedeutung der Chemischen Fabrik Dr. Theodor Schuchardt GmbH, Görlitz/ Niederschlesien gefunden, ohne diesen Informationen jedoch weiter nachgehen zu können.49 Das von den TCW hergestellte Ammoniumuranat gelangte über Dritte, im Auftrag des Reichswirtschaftsministeriums agierende Firmen, zur Weiterverarbeitung an die Deutsche Gold- und Silberscheideanstalt in Frankfurt am Main (Degussa) beziehungsweise die Auergesellschaft und in die Lager der Rohstoff-Handelsgesellschaft mbH Berlin (Roges).50 TCW stellte außerdem einen Teil der für die deutschen Uranversuche dringend benötigten Neutronenquellen her und lieferte diese an das Heereswaffenamt.51 Das Unternehmen beteiligte sich auch an der letztlich erfolglosen Suche nach Uranerzen in Österreich52 sowie der Erschließung kleiner Uranvorkommen in Bulgarien und Portugal.53 Der österreichische Historiker Stefan Karner stellte 1976 die zutreffende These auf, dass die TCW indirekt am deutschen Atombombenprojekt mitgewirkt haben.54 Schon die hinlänglich belegte Kooperation mit der Auergesellschaft reicht als Beleg dafür aus. Hinzu kommt die Belieferung des II. Physikalischen Instituts mit Uran und Radiumpräparaten. Ins Bild passt auch die im Dezember 1943 erfolgte Einstufung der Radium- und Uranabteilung der TCW als Produktionsstätte »höchster Kriegswichtigkeit«.55 48 Vgl. Gollmann 1994, 123. 49 Vgl. OOFR, Mappe 19143, Bl. 35, Golowin, Bericht über die Firmen, die mit dem Institut für Radiumforschung der Wiener Akademie der Wissenschaften zusammenarbeiteten, vom 4. Mai 1945. 50 Die Roges kaufte und lagerte im Auftrag des Reichswirtschaftsamts unter anderem Uranverbindungen, Beryllium, Kobalt und Cadmium. Bei Kriegsende hatte die Roges noch sieben Tonnen Ammoniumuranat in ihren Lagern, vgl. BAB, R 121, Nr. 583. 51 Vgl. BAB, R 26 III, Nr. 442, Übersichten Neutronenquellen. 52 Vgl. OOFR, Mappe 19143, Bl. 34, TCW an Ortner vom 13.2.1942, übersetzt von Golowin am 4.5.1945. 53 Vgl. Gollmann 1994, 107. 54 Vgl. Karner 1976, 238–251. 55 Vgl. Schausberger 1970, 135. Der ehemalige Leiter der Radium- und Uranabteilung der TCW, Fritz Huber, mutmaßte nach dem Krieg, dass die in Treibach verarbeiteten Uranmengen nicht für die Entwicklung einer herkömmlichen Kernspaltungsbombe ausgereicht hätten (vgl. Karner 1976, 245). Streng genommen stimmt dies nicht. Theoretisch kann nämlich aus einem Kilogramm Ammoniumdiuranat (ADU) bei vollständiger Isotopentrennung die Ausbeute von 0,0054 Kilogramm Uran-235 erzielt werden. Aus den mehr als 21 Tonnen ADU hätten also über 100 Kilogramm reines Uran-235 gewonnen werden können, was bereits mehr ist als zwei kritische Massen für nicht komprimierte Urankugeln. (Ich danke Gernot Eilers [Wolfenbüttel] für diesen Hinweis.) Das Problem waren nicht die Rohstoffe, sondern die technisch ungenügenden Verfahren zur Isotopentrennung.
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Der Korsunski-Bericht vom Dezember 1945 Nach Golowins erster Bestandsaufnahme der kernphysikalischen Forschung in Österreich folgten bis Ende des Jahres 1945 weitere.56 Ziel der sowjetischen Kommissionen war es, noch detailliertere Informationen über die kernphysikalische Forschung in Österreich zu sammeln, Wissenschaftler für eine Mitarbeit am sowjetischen Atomprojekt zu gewinnen und zu klären, ob sich in der sowjetischen Besatzungszone in Österreich Rohstoffe und kernphysikalische Apparaturen befanden, die für das eigene Atomprojekt von Nutzen sein konnten. Daher wurden weitere Gespräche mit Ortner, Wambacher und Opawsky geführt. Auch der inzwischen nach Wien zurückgekehrte Karl Lintner wurde befragt. Ortner wiederholte die bereits zuvor dargelegten Fakten, ging auf die nicht realisierte Bestellung eines Teilchenbeschleunigers bei der Firma Müller in Hamburg ein und schilderte nochmals die Verlagerung des Instituts und der Apparaturen nach Schwallenbach.57 Die Befragungen fassten Moisei I. Korsunski und Nadeschda S. Iwanowa vom sowjetischen Büro für »Neue Technik« in Wien am 27. Dezember 1945 zusammen. Sie hoben hervor, dass sich das Zentrum der Uranforschung in Berlin befand und von dort aus auch die Arbeiten der Wiener Institute koordiniert wurden. Die Wiener Institute sollten vor allem die Wirkungsquerschnitte des Urans für eine »Uranmaschine« ermitteln und die Energie der Teilchen bei der Uranspaltung bestimmen. An die Resultate der Forschungen zu den Wirkungsquerschnitten konnte sich Lintner allerdings nicht erinnern. Die Frage, welche Energie die Teilchen bei der Freisetzung des Urans hatten, wurde von Lintner durch die Übergabe von Kopien der Forschungsberichte von Jentschke und Prankl sowie von ihm selbst beantwortet. Dazu stellten Korsunski und Iwanowa fest : »Aus diesen Arbeiten geht hervor, dass die Energie, die bei der Spaltung des Urans freigesetzt wird, bei 180 bis 240 MeV liegt. Mit der Forschung über die Neutronen, die bei der Spaltung freigesetzt werden, hat man sich in Wien nicht befasst ; aber den Mitarbeitern des Wiener Institutes waren die Ergebnisse der Arbeiten von Bothe, die in Deutschland durchgeführt wurden, bekannt. […] Forschungen über die Neutronen, die bei der Spaltung freigesetzt werden, wurden in Wien nicht durchgeführt. Trotzdem geben Linter und Wambacher die Zahl der Neutronen pro Spaltung mit drei bis fünf an, was ihnen nach den deutschen Angaben bekannt ist.«58 56 Vgl. OOFR, Mappe 24, Bl. 1–5, Bericht von Korsunski und Iwanowa vom 27.12.1945. 57 Vgl. OOFR, Österreich 1, Bl. 105–110, Ortner, Forschungen über die Uranprobleme vom 21.12.1945, aufgezeichnet von Samsonow ; OOFR, Österreich 1, Bl. 95–99, Ortner, Bericht über das Neutroneninstitut des II. Physikalischen Institus der Universität Wien und das Radiuminstitut der Wiener Akademie der Wissenschaften vom 30.3.1946, aufgezeichnet von Samsonow. 58 OOFR, Mappe 19143, Bl. 160–165, Bericht von Korsunski und Iwanowa vom 27.12.1945.
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Die Mitarbeiter des sowjetischen Büros für »Neue Technik« konnten aus den ihnen übergebenen Studien der Wiener Physiker und Physikerinnen und den Verhören ableiten, dass an österreichischen Forschungsinstituten keine Reaktorversuche durchgeführt worden waren. Den Wiener Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen waren lediglich geringe Materialmengen für Versuche im Labormaßstab zugeteilt worden. Dazu hieß es : »Laut den übereinstimmenden Angaben von Lintner, Wambacher und Opawsky betrug die Menge des Urans, die der Wiener Gruppe zur Verfügung stand, 300 bis 400 Kilogramm. Metallisches Uran, mit Ausnahme einer kleinen Platte, hatte das Institut nicht. Auch bei der Besichtigung des Instituts fanden wir keine Hinweise, die uns das Vorhandensein größerer Mengen Uran hätten bestätigen können. Im Institut gab es eine bestimmte Menge an schwerem Wasser. Lintner benutzte für die Messungen des Wirkungsquerschnitts drei Liter schweres Wasser. Wambacher behauptete, dass am Institut auch eine Menge (jeweils bis zu einem Kilogramm) von schwerem Paraffin und schwerem Wasserstoff vorhanden war.«59
Angesichts dieser Angaben, die noch durch weitere Befragungen geprüft wurden, rechnete die sowjetische Kommission nicht damit, in Österreich Produktionsstätten für metallisches Uran und schweres Wasser zu finden : »Es gab keine Produktion von schwerem Wasser in Österreich. Weder Lintner noch Wambacher wissen darüber etwas. Die Liste der österreichischen chemischen Betriebe zeigt, dass diese Behauptung zutrifft. Nur in den Tiroler elektrochemischen Werken könnte prinzipiell eine solche Produktion organisiert werden, aber wir fanden keine genaueren Hinweise, die zugunsten dieser Vermutung sprechen.60 Wir konnten diese Werke auch nicht besichtigen, weil sie sich in der Zone der Alliierten befinden.«61
59 Ebd. 60 Dieser vage Verdacht sollte sich überraschenderweise als begründet erweisen. In der Tat war in der letzten Phase des Krieges in Tirol in der Ortschaft Weer, nahe der Stadt Wattens, eine Versuchsanlage zur Hochkonzentrierung von schwerem Wasser von dem Elektriker und Reichsbahnangestellten Ludwig Werth (1903–1951) gebaut worden (vgl. Interview mit der Familie Werth, aufgezeichnet von Markus Schmitzberger am 20.7.2009). Die Anlage arbeitete nach dem Elektrolyseprinzip. Helfer und Lieferanten, die es gegeben haben muss, sind ebenso wenig bekannt wie der Auftraggeber für das Projekt. Die Anlage wurde erst 1950 von den französischen Besatzungsbehörden entdeckt. Ferdinand Cap erhielt den Auftrag, die Anlage zu begutachten. Er verfasste daraufhin im November 1950 ein Kurzgutachten und ein ausführlicheres Gutachten im Juli 1951. (Vgl. Ferdinand Cap, Gutachten über die Schwerwasser-Gewinnungs-Versuchsanlage des Herrn Werdt in Weer bei Wattens in Tirol, 23.11.1950 und Ergänzungsgutachten vom Juli 1951. Die Gutachten befinden sich im Besitz von Ferdinand Cap, Universität Innsbruck.) Ich danke Silke Fengler (Universität Wien) für den Hinweis auf diese Quellen. 61 OOFR, Mappe 19143, Bl. 160–165, Bericht von Korsunski und Iwanowa vom 27.12.1945.
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Weiter hieß es im Bericht : »Wir konnten auch keine größeren Mengen an Thorium in Österreich feststellen. Auch die Mitarbeiter des Z[entral]K[omitees] der österreichischen KP wissen nichts über eine Thorium-Produktion. Von sich aus berichtete Lintner nichts über die Großversuche mit Urananordnungen, die in Deutschland durchgeführt wurden. Wir fragten, was ihm darüber bekannt ist, zum Beispiel über die Urantemperatur und die Mengen, die bei diesen Versuchen eingesetzt wurden. Er sagte uns daraufhin, dass man in Deutschland einige Tonnen Uran benutzt habe, aber er konnte nicht präzisieren, ob es fünf Tonnen oder mehr waren. Über die Temperaturmessung beim ›Großversuch‹ weiß Lintner auch nicht Bescheid, aber er hat gehört (weiß aber nicht mehr von wem), dass die Temperatur im Kessel um 100 Grad lag. Erst in der letzten Zeit hatten Herzog und Böhnisch mit dem Bau eines Massenspektrometers nach Nier begonnen. Die Arbeiten wurden jedoch bereits im Anfangsstadium abgebrochen. Wir konnten nicht feststellen, ob es irgendwelche Erfolge bei der Gewinnung der Uranisotope [gemeint ist vermutlich Uran-235, R.K.] gab oder ob sie mit dieser Aufgabe noch nicht angefangen hatten. Es wäre wünschenswert, diese Frage zu klären. Nach den Angaben von Wambacher und Lintner haben Prof. Bruckl und Schintlmeister zu Transuranen geforscht. Bruckl hat sich mit der Methode der chemischen Gewinnung von Transuranen befasst, Schintlmeister hat diese Frage mit physischen Methoden erforscht. Nach den Angaben von Lintner, die später durch die Mitteilung von ›August‹ [vermutlich der Deckname eines Spions, R.K.] bestätigt wurden, hat Bruckl positive Ergebnisse erzielt. Schintlmeister hat bei der Untersuchung der Bewegung der Alpha-Teile festgestellt, dass man nach der Bestrahlung von Uran mit Neutronen, die Erscheinung von Alpha-Teilchen mit neuer Bewegung messen (etwa zwei Zentimeter) kann. Das kann man bei gewöhnlichem Uran und seinen Spaltprodukten nicht sehen. Schintlmeister dachte, dass die Ausstrahlung dieser Alpha-Teilchen bei allen Transuranen passiert. Die Röntgenuntersuchung der Ergebnisse von B. [Bruckl, R.K.] verlief in Wien negativ. […] Das war ein Grund für die Zweifel der Wiener Physiker an seinen Ergebnissen. Eine ausführliche Befassung mit den Arbeiten von Bruckl ist wünschenswert. Aus den Gesprächen und Besichtigungen konnten wir definitiv feststellen, dass man sich mit den Hauptfragen – dem Bau von »Uranmaschinen«, der günstigen Anordnung des Urans und des Moderators sowie mit der Trennung der Uranisotope – in Wien nicht befasst hat. Hier wurden nur Teilfragen behandelt. Dies erklärt teilweise die Hinweise des Mechanikers Opawsky, dass man in Wien ab Anfang 1945 kein großes Interesse mehr an den Uranarbeiten hatte.«62
62 Ebd.
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Die Thumersbach-Berichte Im Frühjahr 1946 erhielt Awraami Sawenjagin, Berijas Stellvertreter und wichtigster Manager des sowjetischen Atomprojektes, eine Materialsammlung über die kernphysikalischen Forschungen in Österreich.63 Diese war vom Büro für »Neue Technik« in der sowjetischen Besatzungszone Österreichs zusammengestellt worden.64 Das Büro hatte auch – auf welchem Weg, geht aus den Dokumenten nicht hervor – die Thumersbach-Berichte erhalten. Sie waren im Juni und August 1945 von den Mitarbeitern des II. Physikalischen Instituts für die amerikanischen Besatzungsbehörden verfasst worden und informierten über die personelle Struktur des Instituts sowie alle vor und während des Krieges durchgeführten Forschungen und Experimente.65 Die für den »Uranverein« erarbeiteten Geheimberichte wurden offengelegt und fanden Eingang in die amerikanische Materialsammlung über die kernphysikalischen Forschungen des »Uranvereins«, die so genannten »German Reports«.66 Für das Büro für »Neue Technik« ergab sich folgendes Bild : Das II. Physikalische Institut samt dem Institut für Neutronenforschung sowie Teile des Radiuminstituts, des I. Physikalischen Instituts, des Instituts für theoretische Physik und des Instituts für technische Chemie der Wiener Universität waren 1944 zunächst nach Schwallenbach und im Frühjahr 1945 nach Thumersbach bei Zell am See, südlich von Salzburg, verlagert worden. Im Sommer 1945 hatten die Wissenschaftler um Stetter versucht, das Einverständnis der amerikanischen Besatzungsbehörden für die Fortsetzung ihrer Forschungen zu erhalten und das beschlagnahmte Radium zurückzubekommen. Sie hatten unter anderem vor, Reaktorexperimente in großem Maßstab zu beginnen, Wirkungsquerschnitte zu messen, die Spaltbarkeit von Uran-235 durch schnelle und thermische Neutronen zu prüfen und nach neuen Elementen zu suchen. Ihr ambitionierter Arbeitsplan enthielt noch zahlreiche weitere Forschungsvorhaben im Bereich der biologisch-medizinischen Forschung, der Hochfrequenzphysik, der Elektronenbeugung, Gasphysik, Gasdynamik sowie der Chemie.67 63 Vgl. OOFR, Österreich 1, Bl. 1, Machnew an Sawenjagin vom 20.4.1946. 64 Vgl. OOFR, Österreich 1, Bl. 4–5, Schernyschew und Donskoi vom Büro für »Neue Technik« an Scheltow, undatiert. 65 Vgl. OOFR, Österreich 1, Bl. 55–88, II. Physikalisches Institut der Wiener Universität und Institut für Neutronenforschung, Außenstelle Thumersbach bei Zell am See, Salzburg : Personal, Arbeitsgebiete, Einrichtungen, Anlaufvoraussetzungen, Kommerzielle Angaben, 27.6.1945 ; II. Physikalisches Institut der Wiener Universität in Verbindung mit Arbeitsgruppen anderer Wiener Hochschulinstitute, derzeit Thumersbach, Zell am See : Geplante Arbeiten, 18.8.1945. 66 Vgl. Walker 1990, 313–319. Es handelte sich unter anderem um folgende Berichte : »Schnelle Neutronen im Uran« (Stetter, Lintner) ; »Abhängigkeit des Gesamtabsorptionsquerschnittes von der Temperatur« (Gundlach, Jentschke), »Die Spaltbarkeit des UII« ; »Bestimmung der zur Spaltung von UI nötigen Mindestenergie der Neutronen (Jentschke, Koch, Protiwinsky) ; »Schnelle Neutronen im Uran. Absorption von Neutronen mit Energien zwischen 0,1 und 0,9 MeV am Uran« (Jentschke, Lintner). 67 Vgl. OOFR, Österreich 1, Bl. 77–88, II. Physikalisches Institut der Wiener Universität in Verbindung
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Die Thumersbach-Berichte stellten nicht nur für die Amerikaner, sondern auch für das sowjetische Büro für »Neue Technik« die wohl wichtigste Grundlage für die Bewertung des Forschungsstandes der österreichischen Physiker dar, da sie einen guten Überblick über deren Forschungsschwerpunkte boten. Die Studien von Jentschke, Lintner und Stetter zeigten, dass sich die Wiener Forscher intensiv mit den Kettenreaktionen schneller Neutronen befasst und Wirkungsquerschnitte für die Spaltungsund Absorptionsprozesse bestimmt hatten. Zu den Merkwürdigkeiten der Geschichte des deutschen Uranprojekts gehörte die Thorium-Frage. Otto Hahn, Fritz Strassmann und Siegfried Flügge vom KWI für Chemie in Berlin hatten sich in mehreren Artikeln über die Spaltung von Thorium geäußert.68 Auch in Wien befasste man sich seit 1940 mit der sogenannten »Schnellspaltung« des Uran-238 und des Thorium-Isotops 230, damals als Ionium bezeichnet.69 Entsprechende Forschungsergebnisse wurden auf Tagungen des »Uranvereins« vorgestellt. Als Spaltstoff taugt Thorium-230 nicht. Hingegen kann aus Thorium-232 durch Bestrahlung mit einer starken Neutronenquelle über die Zwischenschritte Thorium-233 (Halbwertzeit 23 Minuten) und Proactinium-233 (Halbwertzeit 27 Tage) der Kernsprengstoff Uran-233 (Halbwertzeit 160.000 Jahre) gewonnen werden. Sowohl amerikanischen als auch sowjetischen Physikern war dies geläufig. Daher suchten ihre technischen Missionen und Geheimdienste nach Thorium-Vorräten im deutschen Machtbereich und Indizien für die Gewinnung von Uran-233. Metallisches Thorium und Thorium-Erze fanden sowjetische Kommissionen im Werk der Auergesellschaft in Oranienburg, jedoch keine Hinweise auf eine Verwendung für die Gewinnung von Uran-233.70 Von den deutschen Physikern hatte nur Friedrich Houtermans diese Möglichkeit der Spaltstoffgewinnung kurz nach Kriegsende zutreffend skizziert.71 In britischer Internierung in Farm Hall diskutierten Walther Gerlach und Otto Hahn im August 1945, ob man mit Ionium eine Bombe herstellen könne.72 Gerlach meinte, in Belgien seien 60 Kilogramm Ionium hergestellt worden, was Hahn bezweifelte. Gerlach erwähnte auch, dass sich Stetter für das Ionium interessierte und dass die Spaltung von Ionium im Wiener Institut für Radiumforschung experimentell nachgewiesen wurde. Das eigentliche Problem, die Gewinnung des Spaltstoffs Uran-233, kam jedoch nicht zur Sprache.
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mit Arbeitsgruppen anderer Wiener Hochschulinstitute, derzeit Thumersbach, Zell am See : Geplante Arbeiten, 18.8.1945. Vgl. Hahn/Strassmann/Flügge 1939, 544 ; Hahn/Strassmann 1941, 285. Vgl. Jentschke/Prankl/Hernegger 1940. Vgl. Beschluss des Staatlichen Verteidigungskomitees Nr. 8568cc vom 15.5.1945, Dokument Nr. 348, in : Rjabew 2002, 292–293. Vgl. Houtermans 1945, 40. Vgl. Hoffmann 1993, 187–188.
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Von den Farm-Hall-Protokollen, das heißt den vom britischen Geheimdienst aufgezeichneten Gesprächen der zehn internierten deutschen Wissenschaftler, konnten die sowjetischen Missionen in Österreich nichts wissen. Ihr Büro für »Neue Technik« in Wien dürfte jedoch bezüglich der Thorium-Frage zu den gleichen Schlüssen gelangt sein wie die Briten und Amerikaner. Die sowjetischen Kommissionen hatten zwar Hinweise darauf gefunden, dass in Wien über die Spaltung des Thorium-Isotops 230 geforscht worden war, jedoch nicht zur eigentlich spannenden Frage der Bestrahlung des Thorium-Isotops 232. Sie konnten also davon ausgehen, dass der Weg zur Gewinnung des Spaltstoffs Uran-233 den Wiener Physikern unbekannt geblieben war. Während demnach die Forschungen Stetters zur »Schnellspaltung« des ThoriumIsotops 230 reine Grundlagenforschung blieben, kann den Experimenten von Jentschke und Kaindl zur Messung der Resonanzabsorption bei verschiedenen Temperaturen eine praktische Relevanz zugemessen werden. Daher soll an dieser Stelle noch kurz auf die Verbindungen zur Forschungsgruppe von Kurt Diebner in Kummersdorf bei Berlin eingegangen werden. Ein Teil der Diebner-Gruppe wurde im Herbst 1944 nach Stadtilm in Thüringen verlegt, hielt aber dennoch bis kurz vor Kriegsende Kontakt zu den Wiener Wissenschaftlern. Jentschke und Kaindl kamen bei Laborversuchen zu dem Ergebnis, dass bei tiefgekühltem Uran wahrscheinlich schon die Verwendung von gewöhnlichem Wasser oder Paraffin ausreichen würde, um eine Neutronenvermehrung in einer »Uranmaschine« zu erreichen. Damit schien sich für den »Uranverein« ein Ausweg aus den permanenten Materialproblemen anzudeuten, denn für die Großversuche Werner Heisenbergs und Kurt Diebners stand nur sehr wenig schweres Wasser zur Verfügung. Davon erfuhren die sowjetischen Physiker allerdings nicht in Wien, sondern erst einige Monate nach Kriegsende durch die Befragung deutscher Physiker, die zur Forschungsgruppe von Kurt Diebner gehörten. Nun wurde klar, dass die Experimente und Studien der Wiener Physiker der Vorbereitung eines Tieftemperaturversuchs gedient hatten. Weitere Überlegungen zur Gestaltung des Versuchsdesigns lieferten Paul Harteck (Hamburg) und seine Mitarbeiter. Durchgeführt werden sollte der Versuch in der Ausweichstelle Stadtilm. Der Physiker Georg Hartwig, Mitarbeiter von Diebner, sprach davon, dass dort ein »Kugelexperiment« mit einem »Reaktor mit Kugeln und fester Kohlensäure bei tiefer Temperatur« vorbereitet wurde.73 Offenbar wollte Diebner einen bereits Anfang 1944 konzipierten Tieftemperaturversuch – auch als »Kälteversuch mit 400 Würfeln 5 x 5 cm bezeichnet« – realisieren.74 Wieweit dieser Versuch noch kam, ist nicht 73 Vgl. Nagel 2002, 129. 74 Vgl. Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, ab sofort : AMPG, Rep. 34, KWI für Physik, Rep. 34/7, Bl. 94–96, Besprechung am KWI für Physik vom 24.3.1944.
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klar. Friedrich Berkei und Hartwig sagten dazu im November 1945 gegenüber einer sowjetischen Kommission in Berlin aus : »Dieser Versuch ist über die Vorbereitungen nicht hinausgekommen.«75 Werner Czulius hingegen behauptete, dass ein Versuch mit einer Anordnung aus Uranstangen, umhüllt von Bakelit und Paraffin, konzipiert und auch noch begonnen wurde, ohne dass eine Neutronenvermehrung gemessen werden konnte.76 Frederic Wardenburg, Mitglied der Alsos-Mission, schrieb unmittelbar nach der Besetzung Stadtilms am 12. April 1945, dass seine Gruppe auf eine »Goldmine« gestoßen sei und sie auch Teile der »Uranmaschine« gefunden hätte.77 Wie dem auch sei, die Experimente und theoretischen Überlegungen des Wiener Neutroneninstituts bildeten eine wichtige Voraussetzung für die Konzipierung und Durchführung der letzten Reaktorexperimente der Diebner-Gruppe.
Stetters Fusionsexperimente Ein interessanter Nachtrag über die Forschungen Stetters erreichte General Sawenjagin im Mai 1946.78 Es ging dabei um Stetters Forschungen zur Kernfusion.79 Dem NKWD waren in Wien Notizen des Physikers Carl Kober vom 12. April 1944 in die Hände gefallen. Von März 1940 bis Kriegsende war Kober als leitender Angestellter der Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate mbH (GEMA) in Berlin in der Ultrakurzwellenforschung tätig und mit der Entwicklung sowie mit Tests von Funkortungsanlagen (Radar) befasst. Seit Juli 1942 leitete er das Hochfrequenzlabor des Unternehmens in Berlin.80 Zu den Notizen Kobers wurde im August 1945 ein knappes Gutachten angefertigt :
75 AMPG, KWI für Physik, Mappe : Befragung deutscher Physiker durch sowjetische Kommissionen, Bl. 288, Friedrich Berkei, Georg Hartwig : Bericht über die Arbeiten, die in Deutschland über die Gewinnung der Atomkernenergien durchgeführt wurden, undatiert (vermutlich Oktober 1945). 76 Vgl. AMPG, KWI für Physik, Mappe : Befragung deutscher Physiker durch sowjetische Kommissionen/19207, Bl. 113–114, Werner Czulius : Gedächtnis-Bericht (ohne schriftliche Unterlagen), undatiert (vermutlich November 1945). 77 Vgl. ADM, Irving-Paper 311153, Wardenburg an Goudsmit vom 12.4.1945. 78 Vgl. OOFR, Österreich 2, Bl. 194, Eljan an Sawenjagin vom 6.5.1946. 79 Vgl. OOFR, Österreich 2, Bl. 85–86, Annotation einer Aussage von Dr. Rober [Kober, R.K.] vom 21.8.1945. 80 Vgl. National Archives Washington, JIOA Foreign Scientists Case Files, 1945–1958, RG 330, Box 89, Entry 1B : Kober, Carl ; Kroge 1998, 152, 180–184. Hier ist zu erfahren, dass die Institute von Stetter und Ortner für die GEMA Forschungsaufträge, hauptsächlich auf dem Hochspannungsimpuls-Gebiet, bearbeiteten.
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»Prof. Stetter aus Wien, der sich mit dem Zerfall des Kernes von Lithium-Hydrid […] beschäftigte, hat entdeckt, dass diese Reaktion nicht stabil ist, das heißt, dass sie sich nach dem Anfang automatisch weiter fortsetzt, dabei wird eine außerordentlich große Energie des Kernes freigesetzt, und die ganze Versuchseinrichtung explodiert (Versuche auf dem Erprobungsgelände). Prof. Bethe81 schätzt diese Reaktion als Quelle der Sonnenenergie ein, außerdem bringt diese Reaktion eine Wende in der Technik der Sprengstoffe, weil die Stärke der Explosion 106-mal größer ist als bei Nitroglyzerin. Diese Reaktion wurde in vielen Instituten untersucht, unter Teilnahme der Professoren Gerlach und Tomaschek – in München. Prof. Stetter aus Wien hat eine Theorie entwickelt, dass diese Reaktion bei der Temperatur 106 °C beginnen soll. Falls diese Theorie richtig ist, ist eine Versuchsanlage, die diese Energie zum praktischen Zweck benutzen darf, leicht zu bauen. […] Dr. Rober [Kober, R.K.] bittet um Erlaubnis, sich damit zu beschäftigen und wies darauf hin, dass AEG schon einige Patente in dieser Frage hat.«82
Die Erklärung des »Sternenfeuers« stellte für Physiker und Astronomen auf der ganzen Welt eine faszinierende Denkaufgabe dar. Den entscheidenden Ansatz für die Lösung des Problems präsentierten Friedrich Houtermans und Robert Atkinson im Frühjahr 1929.83 Sie stellten die These auf, dass in den Fixsternen eine Art Kernverbrennung ablaufe, bei der sich Wasserstoff langsam in Helium umwandle. Bei diesem Prozess würden gewaltige Energien freigesetzt. Angesichts der dabei herrschenden extrem hohen Temperaturen prägte man dafür den Begriff »thermonukleare Reaktionen«. Unabhängig voneinander publizierten der in die USA emigrierte Hans Bethe und Carl Friedrich von Weizsäcker 1937 bis 1939 grundlegende Aufsätze zu dem Thema.84 Auch sie führten die Strahlungsenergie der Sterne auf die Kernfusion, also die Verschmelzung von Wasserstoffkernen zu Helium, zurück. Neu an ihrer Theorie war, dass sie für den Sonnenzyklus neben Wasserstoff und Helium noch weitere Elemente identifizierten, die als Katalysatoren wirkten, nämlich Kohlenstoff, Stickstoff und Sauerstoff.85 Nach den Arbeiten von Bethe und Weizsäcker galt die Physik der Sterne als theoretisch geklärt. Zu den heute kaum noch bekannten Pionieren der Fusionsforschung gehörten die Berliner Physiker Fritz Lange und Arno Brasch.86 Anstöße für die Beschäftigung mit 81 Ein Bezug auf den Bethe-Weizsäcker-Zyklus, den der sowjetische Gutachter A. Kokin ganz offensichtlich nicht im Detail kannte. 82 OOFR, Österreich 2, Bl. 302–304, Gutachten von Kokin zur Annotation einer Aussage von Dr. Rober [Kober, R.K.] vom 21.8.1945. 83 Vgl. Atkinson/Houtermans 1929. 84 Vgl. Weizsäcker 1937 und 1938 ; Bethe1939. 85 Vgl. http ://www.astro.uni-bonn.de/~deboer/pdm/pdmastrostar.html ; Zugriff : 25.10.2006. 86 Vgl. Weiss 1999.
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Kernprozessen erhielten Lange und Brasch durch die Entdeckung des Neutrons (1932) und des Tritiums (1934). Bereits im Dezember 1934 meldeten sie ein »Verfahren zur Anregung und Durchführung von Kernprozessen« zum Patent an.87 Sie wollten Stoffe mit niedriger Ordnungszahl, also leichte Elemente, einer Temperatur von etwa 10 Millionen Grad Celsius aussetzen, um Kernprozesse einzuleiten. Konnten solch hohe Temperaturen auf der Erde überhaupt künstlich erzeugt werden ? Dies galt damals als ausgeschlossen. Verschiedene einfache Experimente brachten diese Sichtweise jedoch ins Wanken. So hatte der Leiter des AEG-Forschungslabors in Berlin, Carl Ramsauer, beim Abfeuern eines Geschosses aus einem Gewehrlauf in einen anderen Gewehrlauf enormen Druck und Temperaturen von bis zu 200.000 Grad Celsius erreicht.88 Freilich, dieser Wert lag noch um mehr als zwei Zehnerpotenzen unter den benötigten Temperaturen für die Deuterium-Tritium-Fusion. Auch das von Lange und Brasch vorgeschlagene Verfahren sollte sich nicht als ausreichend erweisen, um die benötigten Temperaturen zu erzielen. Dennoch waren die Ideen von Brasch und Lange wesentlich für die weitere Entwicklung der Fusionsforschung. Beide emigrierten und meldeten ihre Erfindung 1939 in den USA zum Patent an.89 Stetter erhielt alsbald von dieser Patentanmeldung Kenntnis. So finden sich Auszüge des Patents von Lange und Brasch in seinem Nachlass.90 Wahrscheinlich gab dies den Anstoß für die Fusionsforschungen in Wien. Friedrich Hernegger, Mitarbeiter am Wiener Institut für Radiumforschung, und Stetter wollten mittels Funkenentladung Kernreaktionen bei leichten Elementen initiieren. Versuche dazu fanden auf dem Truppenübungsplatz Klosterneuburg statt.91 Näheres ist darüber nicht bekannt. Im Sommer 1941 reichte Stetter einen Patententwurf zur Kernreaktion mit leichten Elementen ein.92 Das Oberkommando des Heeres bat daraufhin das KWI für Physik um eine Stellungnahme. Diese wurde im Juli 1941 von Karl Wirtz verfasst : »Es ist wahrscheinlich, dass diese Kernreaktionen niemals auf der Erde zu praktisch verwertbarer Energieerzeugung herangezogen werden können […]. Außerdem ist in diesem Patent stets von hohen Temperaturen als sehr wesentlich für den autokatalytischen Ablauf der ver87 Vgl. Deutsches Patent- und Markenamt Berlin, Patentschrift Nr. 662036, Erfinder : Arno Brasch und Fritz Lange, Patentiert am 21. Dezember 1934, Einreicher : AEG, Tag der Patenterteilung : 9.6.1938. 88 Vgl. ebd. 89 Vgl. Thyssen-Krupp Archiv, Nr. B 10, Petersen (Verein Deutscher Eisenhüttenleute) an Vögler, Bothe, Hoffmann vom 3.1.1939. 90 Vgl. Archiv der Universität Wien, ab sofort : AUW, Nachlass Georg Stetter, AT-UAW, Inv. 131,410. 91 Vgl. AUW, NL Stetter, AT-UAW, Inv. 131,410, Salzburger Tageblatt, undatiert. Ich danke Günter Nagel (Potsdam) für den Hinweis auf diese Quelle. 92 Vgl. AMPG, KWI für Physik, Rep. 34/29, Bl. 328–329, Wirtz an das OKH (Befehlshaber des Ersatzheeres) vom 2.7.1941.
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muteten Prozesse die Rede. Die Patentschrift von Stetter bezieht sich ihrem ganzen Inhalt nach mehr – ja praktisch ausschließlich – auf leichte Kerne. Immerhin scheinen die im ersten Teil des Patents von Stetter für ionisierte Teilchen (geladene Kerne), die bei hohen Temperaturen Kernprozesse auslösen sollen, und auch das vorgebrachte Beispiel der Verbrennung schweren Wasserstoffs sich zum Teil mit den Forderungen des Patents 662 036 [von Brasch und Lange, R.K.] zu berühren.«93
Die Notizen von Kober deuten darauf hin, dass sich Stetter während des Krieges weiterhin mit Forschungen zur Kernfusion befasste. Parallelen zu den Arbeiten der Forschungsgruppen der Sprengstoffphysiker Walther Trinks und Hubert Schardin, die unter der Regie der Forschungsabteilung des Heereswaffenamtes beziehungsweise der Luftwaffe stattfanden, sind nicht zu verkennen. Für die sowjetischen Physiker waren solche Informationen durchaus von Interesse, da sie fast zeitgleich zu den Arbeiten an der Kernspaltungsbombe auch mit Forschungen zur thermonuklearen Bombe begannen.94 Allerdings konnten sie aus den kryptischen Notizen Kobers über Stetters Forschungen zur thermonuklearen Fusion wohl kaum einen Erkenntnisgewinn ziehen.
Resümee Bis zur Besetzung Wiens durch die Rote Armee waren die Verantwortlichen des sowjetischen Atomprojektes kaum über den Stand der kernphysikalischen Arbeiten in Österreich und deren Stellenwert im deutschen Atomprojekt informiert. Plausibel erschien schon wegen der langen Forschungstradition der Institute auf dem Gebiet der Kernforschung die Einbeziehung des Wiener Radiuminstituts und der kernphysikalischen Institute in die Tätigkeit des »Uranvereins«. Die Befragung österreichischer Wissenschaftler im Zuge mehrerer NKWD-Missionen sowie die Auswertung von Dokumenten ergaben bis zum Frühjahr 1946 ein konkretes Bild. In Wien, hauptsächlich am Vierjahresplaninstitut für Neutronenforschung, war kernphysikalische Grundlagenforschung betrieben worden. Dieser Befund wurde auch durch die Tatsache unterstrichen, dass noch bis 1943 ein Großteil der Forschungsergebnisse offen publiziert werden konnte. Am 8. Mai 1945, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches und des Kriegsendes in Europa, übergab Igor Kurtschatow, der wissenschaftliche Leiter des sowjetischen Atomprojektes, eine »Fahndungsliste« mit den Namen der aus seiner 93 Ebd. 94 Vgl. Kosyrew 2005, 7–9.
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Sicht 35 wichtigsten deutschen und österreichischen Physiker an Berija.95 Auf Platz eins der Liste stand Werner Heisenberg, gefolgt von Hahn, Straßmann, Bothe und Ardenne. Nur zwei Österreicher wurden auf den Plätzen 32 und 33 genannt : Stetter und Jentschke. Zu Recht vermuteten die sowjetischen Kernphysiker und Geheimdienstler die Zentren des deutschen Uranprojektes in Berlin, Hamburg, München, Leipzig und Heidelberg. Die Beauftragten des Reichsforschungsrates für die kernphysikalische Forschung kamen nicht ein einziges Mal nach Wien. Die österreichischen Physiker fühlten sich auch deshalb am Rande des Geschehens. Jentschke vermisste eine zentrale Steuerung und charakterisierte die Arbeiten in Wien als eine Art »Trostforschung«.96 Dieses von den Akteuren geprägte Bild ist später auch in die wissenschaftshistorischen Darstellungen über das Uranprojekt eingeflossen. Die Beiträge der österreichischen Forscher werden zumeist nur beiläufig erwähnt.97 Ganz so randständig waren ihre Arbeiten aber nicht. Hervorzuheben sind die Bestimmung von Wirkungsquerschnitten des Urankerns für schnelle und thermische Neutronen, die das Wissen über die Spaltprozesse erweiterten ; die erfolgreiche Suche nach Transuranen (Element 93 und 94) ohne große Teilchenbeschleuniger durch Josef Schintlmeister ;98 die Beteiligung an den theoretischen Vorbereitungen von Reaktorversuchen ; die Anfänge der Fusionsforschung sowie der Bau von speziellen Messinstrumenten. Von der Bedeutung der Arbeiten des Vierjahresplaninstituts für Neutronenforschung zeugte auch die Tatsache, dass die Projekte von Stetter zu den wenigen Vorhaben gehörten, die in Gerlachs »Notprogramm« vom 26. Februar 1945 aufgenommen wurden.99 Großversuche mit »Uranmaschinen« fanden in Österreich nicht statt. Daher konnten vom NKWD auch nur 335 Kilogramm Uran und wenige Liter schweres Wasser erbeutet und nach Moskau geschafft werden. Einige Fragen konnten die sowjetischen Missionen nicht klären beziehungsweise kamen nicht zur Sprache. So blieb ihnen das Schwerwasserprojekt in Tirol unbekannt. Warum man sich in Wien zwar mit der Spaltbarkeit von Thorium-230, aber nicht mit der Gewinnung des Spaltstoffs Uran-233 95 96 97 98
Vgl. Kurtschatow an Berija vom 8.5.1945, in : Rjabew 2002, 284–286. ADM, Irving-Paper, Bl. 31595, Interview mit Willibald Jentschke vom 31.10.1965. Vgl. Walker 1990, 70. Schintlmeister hatte eine Substanz beobachtet, die Alphateilchen ausstrahlte und von der er annahm, es handle sich um das Element 94 (vgl. Walker 1990, 37). Einen überzeugenden Nachweis konnte er jedoch nicht führen. In Kontakt mit den sowjetischen Besatzungsbehörden geriet Schintlmeister Anfang 1946. Er erklärte sich zur Mitwirkung am sowjetischen Atomprojekt bereit und flog am 29.4.1946 in die Sowjetunion. Als Spezialist für Elektronenröhren baute er im Institut Nr. 9 Messgeräte, u.a. Spektrometer. Sein Beitrag zum sowjetischen Projekt wurde von Heinemann-Grüder mit der Wertung »qualifizierte Zuarbeit« bedacht ; vgl. Albrecht/Heinemann-Grüder/Wellmann 1992, 78. 99 Vgl. ADM, Irving-Paper, Bl. 291158–291159, Notprogramm : Energiegewinnungsvorhaben, 26.2.1945.
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befasste, wurde nicht erörtert. Offen blieben auch die Hintergründe der Fusionsforschungen Stetters. Die für das sowjetische Atomprojekt interessantesten Firmen und Anlagen, wie die TCW und die Schwerwasseranlage in Tirol, lagen außerhalb der sowjetischen Besatzungszone. Auch die Radiumvorräte des Wiener Radiuminstituts befanden sich nicht im sowjetischen Zugriff. Die Elin AG mit ihrer Produktion von Zyklotronen rückte nicht in ihr Blickfeld. Alles in allem blieben die Beschlagnahmungen in Österreich im Gegensatz zur materiellen Beute in Deutschland gering und die Gewinnung von Wissenschaftlern für das sowjetische Atomprojekt wenig erfolgreich. Nur Schintlmeister ging Anfang 1946 auf das sowjetische Werben ein und reiste Ende April 1946 nach Moskau. Dort arbeitete er als Spezialist für den Bau und die Anwendung elektronenphysikalischer Messgeräte am Kurtschatow-Institut und später auch noch an anderen Instituten.100 Als weitaus folgenreicher sollte sich die Tätigkeit eines anderen österreichischen Physikers in der Sowjetunion erweisen : Gernot Zippe. Er hatte 1939 bei Ortner promoviert, den Krieg als Soldat durchlebt und wurde schließlich Mitte 1946 aus einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager herausgeholt, um am Institut A in Suchumi als Physiker zu arbeiten. Als Mitarbeiter von Max Steenbeck war er maßgeblich an der Entwicklung einer Gaszentrifuge für die Uranisotopentrennung beteiligt, die sich als »Jahrhundertmaschine« erweisen sollte und der Sowjetunion auf diesem Gebiet einen großen Vorsprung sicherte.101 Doch dies ist bereits eine andere Geschichte.
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100 Vgl. OOFR, Personalakte Josef Schintlmeister. 101 Vgl. Steenbeck 1977.
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Zur Geschichte der österreichischen Kernenergieprogramme Christian Forstner, Jena
Kernenergieprogramme in Österreich ? Kernenergie in Österreich ?, wird man verwundert fragen. Die Republik Österreich ist weithin berühmt für die Stromgewinnung aus Wasserkraft, nicht aber für die erfolgreiche Umsetzung eines Kernenergieprogramms. Beispielsweise beziehen zahlreiche deutsche Ökostromanbieter, wie die LichtBlick AG oder die Greenpeace Energy eG große Teile ihres Stromangebots von österreichischen Wasserkraftwerken.1 Auch aus historischer Perspektive nimmt die Wasserkraft eine zentrale Rolle ein. So wurde die Fertigstellung der hochalpinen Tauernkraftwerke Kaprun im Jahr 1955 zu einem wesentlichen Bestandteil des Gründungsmythos der Zweiten österreichischen Republik.2 Die Ursprünge dieses Großprojektes reichen in die Zwischenkriegszeit zurück und es wird bis heute als Beispiel für den Aufbauwillen der österreichischen Nation nach 1945 genannt.3 Ganz anders die Kernenergie. Zwar gehen auch die Anfänge der österreichischen Kernenergieprogramme auf die Zeit des »Ständestaates« zurück.4 Sie wurden in der späten Nachkriegszeit wieder aufgegriffen, allerdings ohne Erfolg. Der erste Versuch, solch ein Programm im Rahmen des deutschen »Uranvereins« zu institutionalisieren, fand mit der Niederlage des NS-Regimes und seiner Verbündeten ein jähes Ende. Nichtsdestotrotz blieb die Energiegewinnung aus Kernspaltung in der österreichischen Nachkriegspolitik als eine vage Idee präsent, obwohl mangelnde finanzielle Ressourcen die Konkretisierung und praktische Umsetzung dieser Ideen verhinderten. Dies änderte sich mit Dwight D. Eisenhowers berühmter Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 1953, dem Auftakt des US-amerikanischen »Atoms for Peace«-Programms. Nun schien die Möglichkeit eines österreichischen Forschungsreaktors in greifbare Nähe zu rücken.
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Vgl. für die Lichtblick AG http ://www.lichtblick.de/h/strommix_und_herkunft_21.php ; Zugriff : 1.10.2009 ; für die Greenpeace Energy eG http ://www.greenpeace-energy.de/oekostrom/strommix.html ; Zugriff : 1.10.2009. Vgl. Rathkolb 2005, 106–109. Vgl. http ://www.oberpinzgau.de/Highlights/tauernkraftwerke.htm ; Zugriff : 1.10.2009. Vgl. etwa den Beitrag von Silke Fengler in diesem Band.
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Kurz vor der Unterzeichnung des Staatsvertrages im Mai 1955 und der wiedererlangten Souveränität beschloss der Ministerrat, mit amerikanischer Unterstützung einen Reaktor zu bauen. Schließlich gingen in den 1960er-Jahren drei Forschungsreaktoren mit dem Ziel der Grundlagen- und angewandten Forschung in Betrieb und nicht zuletzt, um die Möglichkeiten der Energiegewinnung auszuloten. Diese Entwicklung führte schließlich zum Baubeschluss für das Kernkraftwerk Zwentendorf in Niederösterreich während der Regierung Bruno Kreiskys. Das Ende dieses Kraftwerks ist bekannt : Nachdem es fertiggestellt war, verhinderte ein Volksentscheid mit einer hauchdünnen Mehrheit von 50,47 Prozent seine Inbetriebnahme und begründete damit ein neues sinnstiftendes Narrativ als zentralen Bestandteil der heutigen österreichischen Identität : Österreich ist frei von Kernenergie. Als Forschungsthema bietet sich der oben skizzierte Rahmen der Geschichte der österreichischen Kernenergieprogramme geradezu an : In einem relativ langen Zeitraum, von der NS-Zeit bis in die Zweite Moderne, lassen sich die personellen und die damit verbundenen wissenschaftlichen Kontinuitäten in einem begrenzten Raum über politische Brüche hinweg analysieren. Dennoch finden sich nur wenige Arbeiten, die sich dieser Aufgabe stellen. Darunter sticht der Aufsatz des österreichischen Technikhistorikers Helmut Lackner5 hervor, der die Geschichte von Seibersdorf bis Zwentendorf im Kontext der Leitbilder der österreichischen Energiepolitik untersucht und damit den Untersuchungszeitraum erstmals umreißt. Alle anderen Arbeiten betrachten Einzelaspekte des Themas. Die Geschichte des Kernkraftwerks Zwentendorf war bisher nur in Magisterarbeiten der Universität Wien ein Untersuchungsgegenstand, zumeist im Kontext von weiteren Fragestellungen. Insbesondere sei hier auf die Arbeiten von Katharina Schmidt zur Kernenergie-Debatte in Österreich und von Andrea Zehetgruber zur Geschichte des Kernkraftwerkes Zwentendorf sowie Florian Premstallers Arbeit zur Kernenergiepolitik unter Kreisky verwiesen.6 Nicht unerwähnt bleiben sollte auch der Aufsatz von Wolfgang L. Reiter und Reinhard Schurawitzki, die die personellen und forschungspolitischen Kontinuitäten und Brüche nach 1945 in den Fächern Physik und Chemie an der Universität Wien erstmals exemplarisch untersuchten.7 All diesen Arbeiten ist gemein, dass die frühe Phase der Kernenergiepolitik nur unzureichend behandelt wird. Hinzu kommt, dass praktisch kein Archivmaterial ausgewertet wurde. Insofern bietet die Forschung ein mehr als lückenhaftes Bild, das lediglich Einzelaspekte der Geschichte der österreichischen Kernenergieprogramme erfasst. Zentrale 5 6 7
Vgl. Lackner 2000. Vgl. Schmidt 2007 ; Zehetgruber 1994 ; Premstaller 2001. Vgl. Reiter/Schurawitzki 2005.
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Fragen nach der historischen Kontinuität der Programme wurden ebenso wenig untersucht wie Prozesse des Wandels von Wissenstransfers in einem internationalen Netzwerk von Akteuren über politische Brüche hinweg. Diesen Aufgaben will sich der vorliegende Aufsatz stellen. Der Fokus liegt dabei auf der Nachkriegszeit. Um die Entwicklungen unter der genannten Fragestellung adäquat bewerten zu können, ist zunächst ein kurzer Überblick bezüglich der vorangehenden Periode notwendig.
»Anschluss«, Befreiung und Nachkriegszeit Die ersten Forschungsarbeiten zur Uranspaltung und ihrer möglichen Anwendung im Rahmen einer »Uranmaschine«8 führten österreichische Physiker als Mitglieder des deutschen »Uranvereins« nach dem »Anschluss« an das nationalsozialistische Deutschland durch. Hatte die österreichische Radioaktivitäts- und Kernforschung von Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 1930er-Jahre hinein eine zentrale Rolle in einem europäischen Netzwerk eingenommen,9 so marginalisierte sich ihre Position im Rahmen des deutschen »Uranvereins« zunehmend. In Wien existierten zwei Zentren der Radioaktivitäts- beziehungsweise Kernforschung : Eines war am II. Physikalischen Institut der Universität Wien angesiedelt, das andere am Institut für Radiumforschung, dem so genannten Radiuminstitut, welches auf eine private Stiftung zurückging und von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität Wien gemeinsam getragen wurde. 1943 wurde das Vierjahresplaninstitut für Neutronenforschung gegründet, eine Fusion von Teilen des II. Physikalischen Instituts und des Instituts für Radiumforschung. Bereits Ende der 1930er-Jahre zog die Entdeckung der Kernspaltung die Aufmerksamkeit der österreichischen Physiker auf sich, und der deutsche »Uranverein« eröffnete neue und willkommene Möglichkeiten der Forschung. Die österreichischen Projekte im Rahmen des »Uranvereins« nannten nur gelegentlich die »Uranmaschine« als das Ziel der Forschung.10 Jenseits aller Grundlagenforschung zeigt jedoch der Patentantrag für einen heterogenen Kernreaktor, den der Direktor des 8 Bei der »Uranmaschine« handelt es sich um die zeitgenössische Bezeichnung für einen Kernreaktor zur Energiegewinnung. Vgl. Walker 1990. 9 Vgl. Rentetzi 2004 sowie Rentetzi 2009. 10 Archiv des Deutschen Museums München, ab sofort : ADM, Berichte des deutschen Atomprogramms 1938–45, FA 002/Vorl. Nr. 0159 (Alt-Sig. G-186) Josef Schintlmeister, Die Aussichten für eine Energieerzeugung durch Kernspaltung des 1,8 cm Alphastrahlers, Bericht vom 26.2.1942 ; FA 002/Vorl. Nr. 0212 (Alt-Sig. G-269) Willibald Jentschke und Karl Kaindl, Vorläufige Mitteilung über die Abhängigkeit der Größe der Resonanzabsorption bei verschiedenen Temperaturen ; FA 002/Vorl. Nr. 0705 (Alt-Sig. G-345) N.N., Bericht über die Tätigkeit des II. Physikalischen Institutes der Wiener Universität und des Institutes für Radiumforschung der Wiener Akademie der Wissenschaften, Juli 1945.
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Vierjahresplaninstituts Georg Stetter 1939 beim Reichspatentamt einreichte, dass ein Kernreaktor Ziel der österreichischen Forschung war.11 Das wird auch in einem Nachkriegsbericht über die Tätigkeiten des II. Physikalischen Instituts während des Krieges deutlich, in dem die Autoren für Großexperimente zur »Uranmaschine« zwei Tonnen Uranmetall, eine Tonne Paraffin und etwa 500 Kilogramm schweres Wasser einforderten.12 Gegen Kriegsende wurden weite Teile des Materials und Personals in den Westen Österreichs verlagert, zum einen, um sich gegen die zunehmenden Bombenangriffe zu sichern, zum anderen wohl auch, um nicht den näherrückenden sowjetischen Truppen in die Hände zu fallen. Die Maßnahmen, die nach Kriegsende getroffen wurden, lassen sich am besten als eine Rückkehr zur Zeit vor 1938 beschreiben, ungeachtet dessen, dass in Österreich bereits damals ein autoritäres Regime an der Macht war. Sie umfassten sowohl personelle als auch institutionelle Veränderungen. Einer der ersten Schritte bestand in der Liquidation des Vierjahresplaninstituts für Neutronenforschung und der Wiederherstellung der alten Strukturen der Universitäts- und Akademieinstitute. Im Zuge der Entnazifizierung verloren die ehemaligen Mitglieder der NSDAP ihre Positionen, unter ihnen Georg Stetter und Gustav Ortner. Letzterer hatte während der NS-Zeit als Direktor des Instituts für Radiumforschung gewirkt. Beide hatten ihre Positionen aufgrund der antijüdischen Maßnahmen der Nationalsozialisten erhalten. Gleichzeitig wurden einige der ehemaligen Stelleninhaber eingeladen, auf ihre alten Positionen zurückzukehren, unter ihnen Stefan Meyer, der Vorstand des Instituts für Radiumforschung vor 1939, der erneut zum Institutsvorstand berufen wurde, während Berta Karlik zunächst kommissarisch die Leitung des Instituts übernahm.13 1947 trat Meyer in den Ruhestand und Karlik wurde nun auch formell zum Vorstand des Instituts für Radiumforschung ernannt. Karlik hatte 1928 an der Universität Wien promoviert, ihre ersten Forschungsarbeiten 1929/30 am Institut für Radiumforschung aufgenommen und wurde 1933 zur wissenschaftlichen Hilfskraft ernannt. Von November 1930 bis Dezember 1931 forschte sie mit Unterstützung eines Stipendiums der International Federation of University Women unter William H. Bragg an der Royal Institution in London. Vier Jahre später erhielt sie eine Einladung nach Schweden, um in der Kommission für Meeres11 Sondersammlung der Österreichischen Zentralbibliothek für Physik, Universität Wien, ab sofort : ZBP, Nachlass Georg Stetter, Patentantrag beim Reichspatentamt vom 14.6.1939. Siehe auch Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien, FE-Akten, Institut für Radiumforschung, ab sofort : AÖAW, FE-Akten, IR, Nachlass Berta Karlik, K 55, Fiche 812. 12 ADM, Berichte des deutschen Atomprogramms 1938–45, Bestell-Nr. FA 002/Vorl. Nr. 0705 (Alt-Sig. G-345), 23. 13 Vgl. Reiter/Schurawitzki 2005, 243–251.
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forschung Arbeiten zum Urangehalt von Meerwasser durchzuführen. 1937 habilitierte sich Karlik an der Universität Wien und erhielt die Venia Legendi. Nach mehreren Stipendien wurde sie 1942 zur Dozentin mit Diäten ernannt. Sie beteiligte sich nicht an den Arbeiten im Rahmen des »Uranvereins«, sondern versuchte, ihr eigenes Forschungsfeld zu definieren. Nach dem »Anschluss« war es keineswegs klar, dass sie ihre Universitätskarriere fortsetzen konnte. Ihr Antrag um eine Verlängerung ihres Stipendiums bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft wurde mit der Begründung abgelehnt, dass sie als Frau nur wenige Aussichten auf eine Universitätskarriere habe. Dank einer Intervention des Institutsvorstands Ortner wurde das Stipendium schließlich doch verlängert und Karlik konnte mit Bezügen am Institut verbleiben. In einem Bericht des NS-Dozentenführers wurde sie als politisch unauffällig und eher desinteressiert beschrieben. Es scheint, als hätte dieses weder positiv noch negativ auffallende Verhalten in Kombination mit ihrem selbstdefinierten Forschungsfeld den Weg für ihre Nachkriegskarriere geöffnet.14 Im Gegensatz zu Deutschland scheinen die Besatzungsmächte in Österreich keine Restriktionen für die Kernforschung vorgegeben zu haben. Vielmehr unterstützten die Alliierten, insbesondere die amerikanischen Truppen, die österreichischen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen beim Wiederaufbau der Forschungsanlagen, so zum Beispiel beim Rücktransport der Radiumstandards und der Instrumente, die gegen Kriegsende in die westlichen Teile Österreichs ausgelagert worden waren.15 Zeitzeugen, wie beispielsweise Karl Lintner, der während des Krieges als Assistent von Stetter gearbeitet hatte, erinnerten sich in Interviews mit dem Autor an keinerlei Einschränkungen für die Kernforschung. Lintners 1949 fertiggestellte Habilitation zur Wechselwirkung schneller Neutronen mit den schwersten stabilen Kernen (Quecksilber, Thallium, Bismut und Blei) basierte auf zahlreichen Forschungsarbeiten, die im »Uranverein« durchgeführt wurden.16 Ebenso wenig konnte sich der Physiker Ferdinand Cap, der 1945 als Übersetzer für die sowjetischen Truppen tätig war, an Restriktionen erinnern.17 Diese Zeitzeugenberichte werden unterstützt von Archivmaterial aus dem Archiv der ÖAW. So forderte beispielsweise Karlik 1947 den deutschen Hersteller eines während des Krieges bestellten Neutronengenerators auf, seinen Verpflichtungen nun endlich nachzukommen. Diese Anfrage wurde aber aufgrund der gesetzlichen Einschränkungen 14 AÖAW, FE-Akten, IR, IV. Mitarbeiter, Personalakte Berta Karlik, K 1, Fiche 14 ; sowie Archiv der Universität Wien, ab sofort : AUW, Personalakte Berta Karlik, Nr. 2152 ; Angetter/Martischnig, 2005, 58–60. 15 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 55, Fiche 812, Adrienne Janisch, Wie das Radium nach Wien zurückkam. Ein 10-Tonnen-Lastkraftwagen war zum Transport von zwei Gramm nötig (Radio Wien, 18.5.1946). 16 Lintner 1949 sowie Interview des Autors mit Karl Lintner, Wien, 9.6.2007. 17 Interview des Autors mit Ferdinand Cap, Innsbruck, 3.8.2007.
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durch die Alliierten in Deutschland abgelehnt. Außerdem seien bereits Teile des Neutronengenerators von den Alliierten beschlagnahmt worden, so der deutsche Partner.18 Bedenkt man all diese Aspekte, wird es plausibel, dass nach dem Krieg keine gesetzlichen Restriktionen für Kernforschung in Österreich existierten.19 Während die Wiederaufnahme des Forschungsbetriebs am Institut für Radiumforschung vorbereitet wurde, bemühte sich Meyer als Vorstand des Instituts, die alten Netzwerke der Vorkriegszeit wiederherzustellen. Das Institut für Radiumforschung war neben Paris der zweite Aufbewahrungsort eines primären Radiumstandards und Meyer wurde nach der Gründung der Internationalen Radiumstandardkommission im Jahr 1910 zunächst als Sekretär und später als deren Präsident gewählt.20 Wissenschaftliche Netzwerke basieren auf dem gegenseitigen Vertrauen der Mitglieder in die fachliche Kompetenz, die Methoden und die Fähigkeiten der anderen Akteure im Netzwerk. Messungen und eine darauf aufbauende Publikation eines Mitglieds der Physikalisch Technischen Reichsanstalt in Berlin stellten während des Krieges die Exaktheit der Wiener Standards und damit auch die Verlässlichkeit des Instituts für Radiumforschung infrage.21 Deshalb war es eine der vorrangigen Tätigkeiten Meyers nach Kriegsende, die Glaubwürdigkeit des Instituts wiederherzustellen. In diesem Zusammenhang beauftragte er zwei Doktorandinnen, die Exaktheit des Wiener Standards nachzuweisen, was schließlich auch gelang, so dass die Reputation des Instituts wiederhergestellt war.22 Meyers letztendlich erfolgloser Versuch, die Radiumstandardkommission als Joint Commission on Standards Units, and Constants of Radioactivity im Rahmen des International Council of Scientific Unions wiederzubeleben, kann ebenfalls als Teil seiner Anstrengungen gesehen werden, die Wiener Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wieder in die alten Netzwerke zu integrieren.23 Der Erfolg von Meyers und auch Karliks Wissenschaftsmanagement wird aber an anderer Stelle sichtbar : Das Institut für 18 AÖAW, FE-Akten, IR, XI. Behördenschriftwechsel 1938–1944, K 32, Fiche 448, Hans Suess an Karlik vom 20.4.1947 und C.H.F. Müller Aktiengesellschaft an Karlik vom 8.6.1949. 19 Eine weitere Kuriosität soll noch am Rande erwähnt werden : Im Jahr 1966 bot Karlik 400 kg hochreines Uranylnitrat zum Verkauf an, welches dem Institut für Radiumforschung während des Krieges von Deutschland überlassen, nicht von den Alliierten beschlagnahmt und bis dahin im Keller des Radiuminstituts gelagert worden war. AÖAW, FE-Akten, Radiumforschung, NL Karlik, K 50, Fiche 722, Karlik an die Austro-Merck G.m.b.H. vom 7.10.1966. 20 Vgl. Reiter 2001, 113–114. 21 AÖAW, FE-Akten, IR, Nachlass Stefan Meyer, K 31, Fiche 427–428. Siehe auch die Korrespondenz zwischen Stefan Meyer und Gustav Ortner, ebd., IR, K 17, Fiche 271. 22 Vgl. Meyer 1945, 25–30 sowie Kremenak 1947, 299–311. 23 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, Nachlass Stefan Meyer, K 22, Fiche 352–354, Korrespondenz zwischen Stefan Meyer und Frédéric Joliot-Curie 1945–1949.
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Radiumforschung wurde 1949 zur zentralen Isotopenstelle ernannt, die den Import und die Verteilung von radioaktiven Präparaten aus Großbritannien (seit 1949) und den USA (seit 1952) koordinierte.24 Nichtsdestotrotz verhinderten kalte Winter, der Mangel an Material, Ressourcen und nicht zuletzt finanziellen Mittel einen regulären Betrieb des Instituts bis zum Ende der 1940er-Jahre. Aus materiellen Gründen schien auch die Etablierung eines Forschungsprogramms zur friedlichen Nutzung der Kernenergie in der näheren Zukunft unmöglich zu sein.25 Dies wurde deutlich in einer Rede Fritz Reglers, Experimentalphysiker an der Technischen Hochschule Wien (TH Wien), über die neuen Möglichkeiten der Kernphysik und ihrer Anwendungen, insbesondere der nichtdestruktiven Materialprüfung. Die Planung eines Kernenergieprogramms erachtete er aufgrund der notwendigen Kosten im Jahr 1949 noch als einen Zukunftstraum.26
Anstoss von aussen : Atome für den Frieden Die friedliche Nutzung der Kernenergie war eine der zentralen Leitideen in den 1950er-Jahren, in denen ein technologieorientierter Fortschrittsglaube den öffentlichen Diskurs und die öffentliche Meinung dominierte.27 Allerdings bedurfte es für ein kleines Land wie Österreich eines externen Anstoßes, um diese vagen Ideen in konkrete Möglichkeiten zu verwandeln. Der Zündfunke kam aus den USA, als Präsident Eisenhower am 6. Dezember 1953 seine berühmte »Atoms for Peace«-Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen hielt und mit ihr das gleichnamige Programm einläutete.28 Eisenhowers Rede fiel auf fruchtbaren Boden, insbesondere in den Diskussionen der österreichischen Techniker und Ingenieure. Bereits 1953 und 1954 hatte der Elektrotechnische Verein Österreichs (EVÖ) eine Vortragsreihe initiiert, die die verschiedenen Aspekte der Kernphysik einem breiteren Fachpublikum nahebringen sollte.29 Im Dezember 1954 gründete sich im EVÖ eine Studiengruppe, die die Möglichkeiten der friedlichen Nutzung der Kernenergie in Österreich evaluieren sollte. Zu ihren Mitgliedern zählten Heinrich Sequenz, der ehemalige Rektor der TH Wien bis 1945, Universitätsangehörige wie der ehemalige Direktor des Vierjahresplaninstituts 24 Vgl. Karlik, 1950, 40 ; AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 55, Fiche 816–818 ; vgl. Reiter/Schurawitzki 2005, 250. Vgl. dazu den Beitrag von Alexander von Schwerin in diesem Band. 25 Vgl. Karlik 1950, 37–41. 26 Vgl. Regler 1949, 49. 27 Vgl. Hanisch 2005, 429 ; vgl. Lackner 2000, 201–226. 28 Vgl. Krige 2006 zur Kernenergiepolitik der USA im Kalten Krieg. 29 Vgl. dazu auch den Beitrag Günther Luxbachers in diesem Band.
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für Neutronenforschung Stetter sowie der Theoretiker Hans Thirring, die Experimentalphysiker Erich Schmid und Lintner, der Ministerialrat Alexander Koci und Karlik, die das konstituierende Treffen mit organisierte. Die Organisation einer solchen Studiengruppe war bereits früher geplant gewesen, aber praktische Belange, wie der Umzug des EVÖ in ein neues Büro ebenso wie die vage Perspektive einer solchen Gruppe, verzögerten die Konkretisierung der Pläne.30 Nur fünf Tage nach der Gründung der Studiengruppe fand das erste interministerielle Treffen statt, bei dem die internationale Zusammenarbeit zur friedlichen Nutzung der Atomenergie diskutiert wurde. Es nahmen bis auf das am Bundeskanzleramt angesiedelte Amt für Landesverteidigung alle Ministerien teil ; allerdings war nur ein akademischer Vertreter geladen : Berta Karlik, die als Vorstand des Instituts für Radiumforschung eine zentrale Rolle in den Planungen spielte. Während dieses Treffens wurde die Gründung einer Expertenkommission für die friedliche Nutzung der Atomenergie beschlossen, die die Möglichkeiten und Aufwendungen zum Bau eines Forschungsreaktors mit US-amerikanischer Unterstützung evaluieren sollte. Auch die Elektrizitätsgewinnung aus der Kernspaltung wurde diskutiert, schien aber zum damaligen Zeitpunkt nur eine Zukunftsperspektive zu sein, die neben anderen Formen der Energiegewinnung stehen sollte.31 Nach einer Sitzung des Ministerrats im Januar 1955 und weiteren interministeriellen Treffen sandte das Erziehungsministerium ein Zirkular an alle österreichischen Universitäten aus, in dem Stellungnahmen über einen Forschungsreaktor erbeten wurden.32 Einen Monat später hatten die Universitäten die Delegierten für die Kommission benannt. Es wurden Unterkomitees für experimentelle und theoretische Kernphysik, Chemie, Medizin, Biologie und für die Technik von Kernreaktoren gegründet. Alle Delegierten kamen von der Universität Wien, mit einer Ausnahme im Bereich der Reaktortechnik. Karlik wurde beauftragt, alle notwendigen Memoranda zu verfassen, was ihre zentrale Rolle erneut unterstrich.33 In ihrem Gutachten über den Bau eines Kernreaktors legte Karlik eine Übersicht über die verschiedenen Reaktortypen und die damit verbundenen Kosten an. Des Weiteren berichtete sie über den Stand der friedlichen Nutzung der Kernenergie in anderen europäischen Staaten, unter ihnen Frank-
30 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 51, Fiche 750, Sitzungsbericht über die Gründung einer Studiengruppe Atomenergie im EVÖ am 16.12.1954 vom 10.1.1955. 31 Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, ab sofort : ÖStA, AdR, Bestand BMU Atom, Zahl 157.959-INT/54. 32 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 56, Fiche 829, Rundschreiben des Bundesministeriums für Unterricht, ab sofort : BMUK, an die Rektorate der österreichischen Universitäten und Hochschulen vom 11.2.1955. 33 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 56, Fiche 829, Korrespondenz zwischen BMUK und der Universität Wien, Februar und März 1955.
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reich, Norwegen, die Niederlande, Schweden, die Schweiz, Italien und die Bundesrepublik Deutschland. Großbritannien und auch die USA wurden aufgrund der Beteiligung des Militärs an den verschiedenen Projekten explizit von dieser Analyse ausgenommen. Karlik betonte, dass alle diese europäischen Staaten lediglich den Bau von Forschungsreaktoren anstrebten und die finanzielle Situation in Österreich nur die Errichtung eines solchen Reaktortyps zulassen würde. Um dies zu erreichen, empfahl sie ein gemeinsames Projekt der beteiligten Ministerien, der Hochschulen und der Industrie. Außerdem hob sie ein anderes Problem hervor, nämlich den Mangel an qualifiziertem Personal, um einen Reaktor zu betreiben.34 Der Personalmangel war eines der Hauptprobleme des geplanten Projekts, so dass das Erziehungsministerium begann, im Ausland nach österreichischen Kernphysikern zu suchen, um diese eventuell zu einer Rückkehr zu bewegen. Unter den aufgespürten Physikern befand sich eine der zentralen Personen der österreichischen Kernforschung, die nun die erste Möglichkeit für eine Rückkehr erhielt :35 Ortner, der ehemalige Vorstand des Instituts für Radiumforschung, wurde von Karlik als Koordinator des Projekts vorgeschlagen.36 Nachdem Ortner 1945 aus dem österreichischen Staatsdienst entlassen worden war, hielt er sich zunächst notdürftig als freier Wissenschaftler und Autor über Wasser, bis er 1950 eine Professur in Kairo antreten konnte. Karlik und Ortner blieben während dieser Zeit in regelmäßigem Kontakt, der bis zum Austausch von Materialproben reichte, die Karlik nach Kairo sandte.37 Um die Chance auf eine Rückkehr nicht zu verspielen, sah Ortner in einem sehr zurückhaltenden Brief an das Ministerium von jeglichen Gehaltsforderungen ab. Karlik auf der anderen Seite wies den Wunsch des Ministeriums nach einem zweiten möglichen Kandidaten zurück und beharrte auf Ortner als einzigem Kandidaten.38 Am Ende lief alles wie gewünscht : Ortner erhielt eine Stelle als Projektkoordinator, formal als Konsulent im Bundesministerium für Unterricht, wurde zu Fortbildungskursen über Reaktortechnik in die USA geschickt und nachträglich als österreichischer Experte für die Atomenergiekonferenz in Genf im August 1955 nominiert.39 34 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 49, Fiche 706, Gutachten über die Zweckmäßigkeit der Errichtung eines Reaktors in Österreich, verfasst von Berta Karlik im April 1955. 35 Neben Ortner befanden sich auch andere Wissenschaftler aufgrund ihrer NS-Vergangenheit im Ausland, unter ihnen Willibald Jentschke, der später zum Direktor des DESY in Hamburg wurde, oder Josef Schintlmeister, der Abteilungsleiter am Zentralinstitut für Kernforschung in Rossendorf bei Dresden wurde. 36 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 56, Fiche 829, Karlik an BMUK vom 28.4.1955. 37 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 46, Fiche 665, Briefwechsel zwischen Karlik und Ortner. 38 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 56, Fiche 829, Karlik an BMUK vom 28.4.1955 ; Karlik an BMUK vom 4.5.1955 ; Ortner an Karlik vom 17.5.1955. 39 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 56, Fiche 830, Karlik an BMUK vom 16.7.1955.
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Der österreichische Ministerrat nahm alle Empfehlungen der Expertenkommission, die auf Karliks Vorarbeiten basierten, auf und fällte, kurz bevor Österreich mit der Unterzeichnung des Staatsvertrages im Mai 1955 die volle Souveränität erhalten sollte, den Entschluss, möglicherweise mit amerikanischer Unterstützung einen Forschungsreaktor zu bauen. All dies geschah während des Kalten Krieges. Österreich war besetzt und erhielt seine Souveränität unter der Voraussetzung politischer Neutralität. Deshalb verwundert es nicht, dass Österreich auch Angebote für den Bau eines Forschungsreaktors aus der Sowjetunion und aus der Republik Jugoslawien erhielt. Diese Angebote wurden allerdings nur an die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zirkuliert, ohne dass irgendwelche weiteren Maßnahmen getroffen wurden, was angesichts der fortschreitenden Integration Österreichs in den westlichen Block kaum anders zu erwarten war.40 Karlik empfahl die Annahme des umfassenden amerikanischen Angebots, da dieses Ausbildungskurse, die Versorgung mit Brennelementen und deren Entsorgung einschloss.41 Allerdings war schon in einer der ersten interministeriellen Besprechungen im Dezember 1954, noch bevor die Expertenkommission gegründet worden war, nur von der USamerikanischen Option die Rede gewesen.42 Es kann deshalb angenommen werden, dass die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen den politischen Vorgaben folgten. Hatte es bei der Debatte um den österreichischen Beitritt zum europäischen Kernforschungszentrum CERN noch Kontroversen über die Zuständigkeit der TH beziehungsweise der Universität Wien gegeben, so stand drei Jahre später Karlik, umgeben von den Mitgliedern des Instituts für Radiumforschung und der Universität Wien, im Zentrum der Diskussion um den Forschungsreaktor und bestimmte diese entscheidend mit, während die TH nur als Randakteur in Erscheinung trat. Diese Entwicklung führte im Dezember 1955 zur Gründung einer eigenen Studiengruppe an der TH, um die Interessen an den möglichen neuen Forschungsressourcen besser artikulieren zu können.43 Ein halbes Jahr nach ihrer Gründung wandte sich diese Studiengruppe in einem Brief an das Unterrichtsministerium. Der Verfasser Heinrich Sequenz hob die Bedeutung von Ingenieuren für die neuen Entwicklungen in der Kernenergietechnik hervor und betonte, dass ein neues Institut nicht nur der Universität Wien, sondern auch der TH zugeordnet werden sollte und in diesem Rahmen beide Institutionen über die gleichen Rechte verfügen sollten.44 40 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 56, Fiche 830, BMUK an Karlik vom 21.6. und 5.7.1955. Vgl. Rathkolb, 1997. 41 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 56, Fiche 830, Karlik an H. Küpper vom 10.11.1955. 42 ÖStA, AdR, Bestand BMUK Atom, Zl. 157.605-INT/54, Brief des Bundeskanzleramts, Auswärtige Angelegenheiten, ab sofort : BKA AA, an das BMUK vom 6.12.1954. 43 Archiv der Technischen Universität Wien, ab sofort : ATU, R.Z. 2787/55, 31, Sitzungsprotokoll vom 19. 12.1955. 44 ATU, R.Z. 2787/55, 32–33, Sequenz an BMUK vom 6.7.1956.
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Noch bevor dieser interne Konflikt ausbrach, demonstrierten die österreichischen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen im August 1955 Einigkeit auf der First International Conference on the Peaceful Uses of Atomic Energy in Genf. In der Vorbereitung der Konferenz beauftragte das Bundeskanzleramt für Auswärtige Angelegenheiten die Erstellung eines Memorandums mit dem Ziel : »Der Welt soll gezeigt werden, dass Österreich seit Jahren Atomenergie für friedliche Zwecke verwendet und auf diesem Gebiet zu den führenden europäischen Nationen gehört.«45 Vergleicht man diesen Auftrag mit den Argumenten, die den Beitritt Österreichs zum CERN begleitet hatten, wird deutlich, dass die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit ihrer Argumentation erfolgreich gewesen und die Mehrzahl ihrer Argumente von den Politikern übernommen worden waren. Es war auch dieses Mal Karlik, die den Auftrag erhalten hatte, das Memorandum zu verfassen. In weiten Teilen diskutierte sie den Einsatz von radioaktiven Isotopen in unterschiedlichen Anwendungsgebieten : von der Medizin über die verschiedenen Naturwissenschaften bis hin zu industriellen Anwendungen. Im letzten Abschnitt konzentrierte sie sich auf die Planungen zum Bau eines Reaktors : »Austria is considering building a research reactor as a joint project of science and industry and is engaged in preparations. It is expected that within a period of one year, it will be possible to clear the major problems as there are juridical forms of cooperation for the partners in the project, the financial problem, the coordination of the research programs as well as the reactor type, a time schedule, etc. – The construction of a power reactor is not considered advisable at the moment.«46
Die Konferenz wirkte wie ein Katalysator für das österreichische Projekt, allerdings nicht in der Weise, wie es von den österreichischen Physikern und Physikerinnen angestrebt worden war. Parallel zu den akademischen Studiengruppen hatte sich eine Allianz aus Energiewirtschaft, Industrie und Politik gebildet, die am 15. Mai 1956 zur Gründung der Österreichischen Studiengesellschaft für Atomenergie GmbH (SGAE) führte. Die Kapitaleinlage von sechs Millionen öS teilten sich zu 51 Prozent der österreichische Staat und zu 49 Prozent die insgesamt mehr als 80 beteiligten Industrieunternehmen. Im Aufsichtsrat der SGAE war nur ein Wissenschaftler, Ortner, vertreten. Nichtsdestotrotz waren die Wissenschaftler eingeladen, sich an den neu gegründeten Arbeitskreisen zu beteiligen, beispielsweise zu Biologie, Medizin, Sicherheitsfragen, 45 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 50, Fiche 727, BKA AA an das Institut für Radiumforschung vom 27.1.1955. 46 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 55/56, Fiche 825, Entwurf des Memorandums.
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Forschungs- und Energiereaktoren, Metallurgie, Physik, Chemie sowie zu rechtlichen Fragen.47 Im Juni 1956 wurde ein Vertrag unterzeichnet, der die Zusammenarbeit bei der friedlichen Nutzung der Atomenergie zwischen den USA und der Republik Österreich regelte. Die Errichtung eines neuen Forschungszentrums sowie eines Forschungsreaktors vom Typ »swimming-pool« in Seibersdorf bei Wien wurde entschieden. Etwa 40 Prozent der notwendigen Investitionen von 102 Millionen öS stammten aus dem European Recovery Program Fund, neun Millionen öS wurden direkt von der American Atomic Energy Commission finanziert.48 Im weiteren Verlauf der Planungen wurden die akademischen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zwar angehört, allerdings hatten sie im Kampf um finanzielle und personelle Ressourcen die schwächste Position, ebenso wie bei der Frage, wer die Richtung der künftigen Forschung angeben sollte. Schlussendlich scheiterte die Kooperation zwischen Wissenschaft und Industrie im Mai 1957, als der Beschluss fiel, dass das neue Reaktorzentrum nicht als Hochschulinstitut organisiert werden sollte.49 Gleichzeitig forcierten die Universitäten ihre Forderungen nach einem eigenen Forschungsreaktor, denen schließlich im August 1957 stattgegeben wurde.50 Dies führte zur Gründung des Atominstituts der Österreichischen Universitäten im Jahr 1959, das für 258.625 US-Dollar einen TRIGA MARK II-Reaktor, genannt Austria 30, von General Dynamics Corporation erhielt.51 Der Standort des neuen Forschungsinstituts und damit auch des Reaktors wurde in der Öffentlichkeit heftig debattiert, da zunächst der kleine Flakturm im Wiener Augarten, einer zentralen Parkanlage zwischen dem 2. und 20. Wiener Bezirk, vorgesehen war. Doch bei der Begutachtung des Flakturms zeigte sich, dass dieser aufgrund von Rissen ungeeignet war. Außerdem führten massive Proteste von Anwohnern schließlich dazu, dass der so genannte Grüne Prater, ein Grüngürtel in den Außenbereichen Wiens, als Standort gewählt wurde.52 Das neue Institut wurde administrativ der TH zugeordnet, aber die Geschäftsordnung sah vor, dass es für die Mitglieder aller öster-
47 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 56, Fiche 832, BMUK an Karlik vom 23.8.1956. 48 Vgl. Müller 1977, 83–87 ; Lackner 2000, 209–212. 49 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 56, Fiche 832, BMUK an die Rektorate aller wissenschaftlichen Hochschulen vom 24.5.1957. 50 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 56, Fiche 832, BMUK an die Rektorate aller wissenschaftlichen Hochschulen und das Dekanat der Katholisch-theologischen Fakultät in Salzburg vom 30.8.1957. 51 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 56, Fiche 834/835, Vertrag zwischen BMUK und der General Dynamics Corporation. 52 ATU, R.Z. 1250/58, 70, Gedächtnisprotokoll über die Sitzung des Aktionskomitees für Atomenergie, Dienstag 1.4.1958, im kleinen Sitzungssaal des Bundesministeriums für Unterricht, verfasst von Fritz Regler, 2.4.1958.
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reichischen Hochschulen zur Forschung offenstehen sollte.53 Dennoch stammten die beiden Direktoren Ortner, seit 1960 ordentlicher Professor an der TH, und Regler beide von der TH. Sie wurden im März 1961 nominiert, als die Bauarbeiten am Reaktor noch in vollem Gange waren.54 Die Diskussionen der Geschäftsordnung, insbesondere der Frage des Zugangs zu den neuen Ressourcen für Forschung und Lehre, entzündeten sich nach der Eröffnung des Instituts. Sie erreichten schließlich sogar den Punkt, an dem die Universität Wien ein Rechtsgutachten von der juristischen Fakultät einholte. Ohne zu einer klaren juristischen Lösung zu gelangen, wurde schließlich ein Modus der friedlichen Koexistenz gefunden. Langfristig verloren die Universitäten diesen Wettstreit, als zu Beginn des 21. Jahrhunderts das Atominstitut der TH Wien zugeordnet wurde.55 Zu guter Letzt gingen drei Forschungsreaktoren in Betrieb : Der ASTRA-Reaktor der von der Industrie dominierten SGAE in Seibersdorf im Jahr 1960, der TRIGA MARK II der österreichischen Universitäten im Wiener Prater 1962 und abseits des Hauptgeschehens ein kleiner Siemens-Argonaut-Reaktor an der Technischen Universität Graz im Jahr 1963. Letzterer wurde vom Land Steiermark mit Unterstützung der lokalen Industrie relativ unberührt von den Diskussionen in Wien errichtet. Die Arbeitsaufteilung zwischen den einzelnen Instituten verlief nach den Kontroversen in der Aufbauphase eher reibungslos. Während sich das Atominstitut im Prater vor allem der Grundlagenforschung widmete, wurden in Seibersdorf vorrangig Arbeiten zur Nutzung der Atomenergie ausgeführt. Dazu zählten bald auch Forschungsarbeiten zur Energiegewinnung aus Kernspaltung.56
Vom Versuchskraftwerk über ein Kernkraftwerk zur Ausbildungsanlage Die Entwicklung von Reaktortechnologie war eine der zentralen Aufgaben der SGAE. Im Rahmen einer österreichischen Beteiligung arbeiteten Mitglieder der SGAE seit 1959 am High Temperature Reactor Project DRAGON der OECD in England und 53 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 56, Fiche 834, Entwurf eines Erlasses des BMUK betreffend der Zuordnung des Atominstituts, 2.2.1959, Erlass des Ministeriums vom 20.2.1959. 54 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 56, Fiche 836, Protokoll der 5. Sitzung der Atomkommission der österreichischen Hochschulen am 11.3.1961 um 10 :00 Uhr im großen Sitzungssaal der Technischen Hochschule Wien. 55 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 56, Fiche 836/837/838, darin insbesondere Fiche 838, Gutachten des Dekans der Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien vom 27.3.1962. 56 Vgl. Interview des Autors mit Helmuth Böck und Helmut Rauch, Wien, 25.8.2009.
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am Schwerwasser-Siedewasser-Reaktorprojekt HALDEN in Norwegen mit. Zentral für die folgende Darstellung ist das Institut für Reaktorentwicklung, das 1961 in Zusammenarbeit mit der Reaktor-Interessengemeinschaft (RIG), die ihrerseits aus zehn an der Seibersdorfer GmbH beteiligten Unternehmen bestand, gegründet wurde.57 Ziel war es, in Kooperation mit der Elektrizitätswirtschaft Leistungsreaktoren zu untersuchen und eine Gruppe von Experten heranzubilden, die bei künftigen Kernenergievorhaben in Österreich für das Projektmanagement, den Bau, Betrieb und die Sicherheit zur Verfügung standen. Für die nach damaligem Verständnis »angewandte Grundlagenforschung« im Rahmen des Instituts wurden zunächst zahlreiche Mitarbeiter für das HALDEN- und DRAGON-Projekt abgestellt. Ab 1963 wurde gemeinsam mit der RIG, der Arbeitsgemeinschaft Kernkraftwerk der Elektrizitätswirtschaft und der Studiengruppe Kerntechnik im Bauwesen ein 15-Megawatt-Versuchskraftwerk namens Austria geplant. Gemeinsam mit den Siemens-Schuckert-Werken in Erlangen wurde dieses Projekt über eineinhalb Jahre hinweg ausgearbeitet. Der sechsbändige Projektbericht für einen Druckwasserreaktor enthielt genaue Kostenangaben und Wirtschaftlichkeitsberechnungen unter Berücksichtigung der Angebote der österreichischen Industrie. Realisiert wurde das Kernkraftwerk Austria nie – das Projekt kam über die Standortsuche in Seibersdorf nicht hinaus. Vielmehr wurde es von der aktuellen Entwicklung der Kernenergietechnik mit immer leistungsfähigeren Kraftwerken überholt. Schuld daran war auch die zögerliche Haltung der zentralen Verbundgesellschaft, die zunächst andere Projekte realisieren wollte. Nichtsdestotrotz macht das Beispiel das große Interesse der österreichischen Industrie am Bau eines Kernkraftwerkes deutlich, lange bevor der Startschuss für Zwentendorf fiel.58 Energieproduktion war in Österreich bis in die späten 1980er-Jahre ein Regierungsmonopol, das zum einen über die von der Bundesregierung kontrollierte zentrale Verbundgesellschaft (Österreichische Elektrizitätswirtschafts-Aktiengesellschaft) organisiert war, zum anderen über die Landesgesellschaften, die den jeweiligen Landesregierungen unterstanden. Energiegewinnung aus Kernspaltung erschien noch zu Beginn der 1960er-Jahre, als die Forschungsreaktoren gebaut wurden, als zu kostspielig gegenüber Wasserkraft oder thermischen Kraftwerken basierend auf Öl oder Kohle. Auch die 1956 vorhergesagte Verdopplung des Energiebedarfs innerhalb des Jahrzehnts 57 Es sei an dieser Stelle auf die Vielfalt der Forschungsarbeiten in Seibersdorf hingewiesen. So wurde beispielsweise im Rahmen eines gemeinsamen Projekts mit der seit 1957 in Wien ansässigen Internationalen Atomenergie Organisation die Haltbarmachung von Fruchtsäften untersucht. Das gesamte Spektrum der Arbeitsbereiche umfasste Biologie und Landwirtschaft, Chemie, Elektronik, Isotopenanwendung in der Industrie, Metallurgie, Physik und nicht zuletzt auch die Reaktorentwicklung und den Strahlenschutz. Vgl. Studiengesellschaft 1966, 4–10. 58 Vgl. Studiengesellschaft 1966, 105–106.
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von der Mitte der 1950er- bis in die 1960er-Jahre führte zu keinem Meinungsumschwung.59 Die Vorhersage trat ein und der benötigte Energiezuwachs konnte nicht mehr aus Wasserkraft allein gedeckt werden, sondern erforderte den Bau weiterer thermischer Kraftwerke. Dabei darf Österreichs Abhängigkeit von Energieimporten nicht vernachlässigt werden. Bereits seit 1955 musste Österreich Primärenergie importieren. Im Jahr 1970 machte dies bereits mehr als 50 Prozent aus, heute werden nahezu zwei Drittel der Gesamtenergiebilanz durch Importe aus dem Ausland gedeckt. Diese Abhängigkeit von Importen unterlag jahreszeitlichen Schwankungen. Während im Winter der Stromverbrauch besonders hoch lag, erreichten Wasserlaufkraftwerke ihre Produktionsspitzen im Sommer, so dass der Mehrverbrauch im Winter durch zusätzlichen Import von Kohle und Öl gedeckt werden musste. Die Kernenergie schien ein möglicher Ausweg aus der wachsenden Abhängigkeit Österreichs von Primärenergieimporten aus dem Ostblock und den OPEC-Staaten zu sein. Hinzu kam das verstärkte Drängen der Industrie, der oben genannten Arbeitsgemeinschaft und des neu gegründeten Österreichischen Atomforums, einem weiteren Zusammenschluss von Industrieunternehmen.60 Ende der 1960er-Jahre war schließlich die Zeit gekommen, um die Kernenergiegewinnung zu realisieren. Unter der konservativen Regierung ergriff das Bundesministerium für Verkehr und verstaatlichte Betriebe die Initiative und veranstaltete im Oktober 1967 eine Enquete zur Atomenergie in Österreich. Die Energiegesellschaften waren zu diesem Zeitpunkt noch uneinig, insbesondere was den Zeitpunkt der Realisierung eines Kernkraftwerks betraf, und standen im Gegensatz zur konservativen Regierung, die das Projekt stark forcierte.61 Ein Ergebnis der Anhörung war die Gründung der Kernkraftwerksplanungsgesellschaft m.b.H. (KKWP) im April 1968. Später, nachdem man den Standort des künftigen Kernkraftwerks gewählt hatte, wurde die Gemeinschaftskraftwerk Tullnerfeld Ges.m.b.H. (GKT) gegründet. Während die KKWP für die Planung der weiteren Kernkraftwerke in Österreich zuständig war, sollte die GKT die konkrete Planung für das Kraftwerk in Zwentendorf übernehmen. Die zentrale Verbundgesellschaft trug 50 Prozent der jeweiligen Gesellschaften, die anderen 50 Prozent teilten sich auf die Landesgesellschaften auf. Vermutlich zögerten unterschiedliche Auffassungen der Gesellschaften den Baubeginn hinaus. Der Baubeschluss fiel schließlich im März 1971 unter der neuen sozialdemokratischen Regierung mit Bundeskanzler Bruno Kreisky. Nach 59 Vgl. Kohlenholding GmbH 1956, 49–50. 60 Vgl. Lackner 2000, 216–217 ; Vetter 1983, 18–55 ; Statistik Austria http ://www.statistik.at/web_de/statistiken/energie_und_umwelt/energie/energiebilanzen/index.html ; Zugriff : 3.2.2010 ; vgl. Interview des Autors mit Thomas G. Dobner, Wien, 3.9.2009. 61 Vgl. Schaller 1987, 116–118.
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der Ausschreibung entschieden sich Gesellschafter der GKT für einen Siedewasserreaktor, der von einem Konsortium der österreichischen Siemens GmbH, der österreichischen Elin Union AG und der deutschen Kraftwerk Union AG (KWU)62 angeboten wurde. Insbesondere der damalige Verbunddirektor hatte für einen Siedewasserreaktor plädiert, während die anderen Beteiligten sich eher für einen moderneren Druckwasserreaktor ausgesprochen hatten. Das beste Angebot kam vom schwedischen ASEA, dennoch wurde dem oben genannten Konsortium der Vorzug gegeben, um insbesondere der österreichischen Industrie Möglichkeiten zur Beteiligung zu bieten.63 Nachdem die notwendigen Gutachten eingeholt worden waren, konnten im Februar 1972 die ersten Baumaßnahmen in Zwentendorf beginnen. Das Bundesministerium für Umwelt, das für das Genehmigungsverfahren verantwortlich war, betraute als Sicherheitsgutachter eine Arbeitsgemeinschaft um Ortner vom Atominstitut sowie das Institut für Reaktorentwicklung der Studiengesellschaft unter der Leitung ihres Direktors Hans Grümm und des Institutsleiters Walter Binner. Ein weiterer Gutachter war der Technische Überwachungsverein (TÜV) gemäß der Dampfkesselverordnung aus dem Jahr 1950. Insgesamt wurden über den gesamten Bauzeitraum von acht Jahren 59 Teilerrichtungsbewilligungen und 1277 Auflagen erteilt. Insbesondere ein Störfall am deutschen Kraftwerk Würgassen im April 1972, bei dem das Containment beschädigt wurde, führte dazu, dass nochmals wesentliche Planänderungen vorgenommen werden mussten. Nach der Einschätzung von Zeitzeugen führte dies zu einer Bauverzögerung von etwa zwei Jahren.64 Während dieser zwei Jahre Verzögerung erstarkte die Anti-Atomkraft-Bewegung in Österreich.65 Zu Beginn des Projekts blieb die Kritik am Bau des Atomkraftwerks großteils unbeachtet. In den nächsten Jahren weitete sich der Protest zu einer Massenbewegung quer durch alle gesellschaftlichen Schichten aus und konnte nicht länger ignoriert werden. Als schließlich 1976 die schwedischen Sozialdemokraten nicht zuletzt aufgrund ihrer Atompolitik die Wahlen verloren, initiierte Kreisky eine öffentliche Expertendiskussion der Kernenergie. Dabei spielten die Erfahrungen aus der Ölkrise 1973/74 nur eine geringe Rolle. Während Kernenergiebefürworter die Abhän-
62 Die KWU ist eine Tochterfirma der deutschen AEG. 63 Vgl. Interview des Autors mit Thomas G. Dobner, Wien, 3.9.2009 ; Interview des Autors mit Walter Binner und Johann Pisecker, Wien, 27.8.2009 ; Interview des Autors mit Helmuth Böck und Helmut Rauch, Wien, 25.8.2009 ; Interview des Autors mit Walter Binner, Wien, 7.9.2009 ; Lackner 2000, 219–220. 64 Vgl. Interview des Autors mit Walter Binner und Johann Pisecker, Wien, 27.8.2009 ; Interview des Autors mit Walter Binner, Wien, 7.9.2009. 65 Ein differenziertes Bild der öffentlichen Debatte um Zwentendorf würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Es sei hier deshalb insbesondere auf Vetter 1983 und Schmidt 2007 sowie Halbrainer/Murlastis/Schönfelder 2008 verwiesen.
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gigkeit vom Primärenergieimport betonten, hielten die Gegner den geringen Anteil, den ein Kernkraftwerk zur Verbesserung der Bilanz beitragen würde, dagegen.66 Insbesondere die Frage der Endlagerung und der Erdbebensicherheit war bis zum Schluss umstritten. Politische Auseinandersetzungen verzögerten die Inbetriebnahme des Kraftwerks weiter. Schließlich stieß Kreisky im November 1978 ein Referendum über die Inbetriebnahme des Kraftwerks Zwentendorf an, verbunden mit dem Versprechen, zurückzutreten, falls er mit seiner Zielsetzung scheitern sollte. Was geschah, ist wohl bekannt : 50,47 Prozent stimmten gegen die Inbetriebnahme, unter ihnen vermutlich auch zahlreiche Konservative, die keine prinzipiellen Gegner der Kernenergie waren, sich aber einen Rücktritt Kreiskys erhofften. Aber sie täuschten sich. Kreisky blieb im Amt und einen Monat nach dem Referendum nahm der Nationalrat das Atomsperrgesetz einstimmig an. Dieses Gesetz verbot die Nutzung von Kernspaltung zur Energiegewinnung in Österreich und eine Zweidrittelmehrheit im Parlament sowie ein weiteres Referendum wären notwendig gewesen, um es aufzuheben. Die kerntechnische Forschung war von dem Gesetz nicht betroffen. Nach den Störfällen im Kernkraftwerk Three Mile Island in der Nähe von Harrisburg in den USA 1979 und in Tschernobyl in der Sowjetunion 1986 erhielt die Anti-AtomkraftBewegung vermehrt Zulauf und Popularität. Alle weiteren Versuche, das Atomsperrgesetz rückgängig zu machen, scheiterten.67 Vielmehr zeichnete sich eine andere Richtung ab. Die Entwicklung führte zu einem neuen Gesetz, dem Bundesverfassungsgesetz für ein atomfreies Österreich,68 das Folgendes festlegte : 1. In Österreich dürfen keine Atomwaffen hergestellt, getestet, transportiert oder stationiert werden. 2. Ebenso wenig dürfen neue Atomkraftwerke gebaut beziehungsweise bestehende in Betrieb genommen werden. 3. Spaltbares Material darf in Österreich nicht befördert werden, es sei denn, es dient zur friedlichen Nutzung ausgenommen der Energiegewinnung. 4. Durch Gesetz ist zu gewährleisten, dass Schäden in Österreich aufgrund eines nuklearen Unfalles angemessen entschädigt werden. 5. Die Vollziehung des Gesetzes liegt bei der Bundesregierung.
66 Die Diskussionen wurden in vier Bänden vom Bundespressedienst herausgegeben und zeichnen ein lebendiges Bild der unterschiedlichen Positionen. Vgl. Bundespressedienst 1977. 67 Vgl. Vetter 1983, 219–321 ; Lackner 2000, 223–226. 68 Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich, ausgegeben am 13.8.1999, 149. Bundesverfassungsgesetz für ein atomfreies Österreich, http ://www.salzburg.gv.at/1999a149.pdf ; Zugriff : 26.10.2009.
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Heute ist es ein weithin akzeptierter Konsens, dass es in Österreich keine Zukunft für Atomstrom gibt. Aber was geschah mit dem fertiggestellten Kernkraftwerk in Zwentendorf ? Die bereits im Lagerbecken eingebrachten Brennstäbe wurden zu Beginn des Jahres 1979 wieder abtransportiert. Nachdem eine weitere Gesetzesinitiative der Sozialdemokraten im Jahr 1985 scheiterte, wurde beschlossen, das Kraftwerk auf die bestmögliche Weise zu nutzen. Es wurde als Ersatzteillager für westdeutsche Reaktoren des gleichen Bautyps verwendet. Bis heute wird die Anlage zum Training und zur Ausbildung von Kerntechnikern und Ingenieuren in einer Umgebung frei von Radioaktivität verwendet und verschafft so der Betreibergesellschaft EVN (Energieversorgung Niederösterreich) zusätzliches Einkommen. Eine kurze Anekdote soll nicht unterschlagen werden : Das Kraftwerk diente auch als Kulisse für einen Film mit dem schwedischen Actionstar Dolph Lundgren. Allerdings wurde der Film nie fertiggestellt, da die Produktionsgesellschaft pleiteging …69
Was bleibt ? Ein Resümee Was bleibt von den österreichischen Kernenergieprogrammen ? Mehr als eine Industrieruine ? Von Beginn der Radioaktivitätsforschung im frühen 20. Jahrhundert bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Nationalsozialisten die Macht in Österreich übernahmen, waren die österreichischen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in ein europäisches Netzwerk der »Radioaktivisten« integriert, das sich später in Kernchemie und Kernphysik teilte. Mit dem »Anschluss« brachen Teile des Netzwerkes zusammen und wurden in einer neuen Formation reorganisiert. Der deutsche »Uranverein« bot den österreichischen Forschern und Forscherinnen Arbeitsmöglichkeiten, die auf eine »Uranmaschine« und damit auch auf die Energiegewinnung aus Kernspaltung abzielten. Diese Chance wurde bereitwillig genutzt. Mit der Niederlage des Deutschen Reichs kam dieses erste Programm zu einem plötzlichen Ende. Die Befreiung, die Wirtschaftskrise in der Nachkriegszeit, personelle Brüche und der Mangel an Ressourcen verhinderten eine Fortführung der Arbeiten. Nichtsdestotrotz scheint es, als hätten im Gegensatz zu Deutschland keine Restriktionen für Kernforschung vonseiten der Alliierten bestanden. Allerdings gelang es nach Kriegsende nur in begrenztem Umfang, die internationalen wissenschaftlichen Netzwerke, die vor 1938 bestanden hatten, wiederherzustellen. Innerhalb der österreichischen »scientific community« der Kernforscher und Kernforscherinnen können wir hingegen feststellen, dass die Netzwerke auch die politischen 69 Vgl. Die Presse vom 13.10.2008.
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Brüche überdauerten. Nach 1938 wurde in zahlreichen Fällen der Kontakt mit ehemaligen Institutsmitgliedern wieder aufgenommen, die ihre Position aufgrund der rassistischen Maßnahmen der Nationalsozialisten verloren hatten. Ebenso wurde nach 1945 der Kontakt gehalten, als wiederum Institutsmitglieder ihre Position verloren – diesmal aufgrund der Entnazifizierung. Unter den Akteuren der NS-Zeit finden sich alle politischen Schattierungen, bis hin zu Personen wie Karlik, die versuchten, unabhängig von allen Projekten des NS-Staates ihr eigenes Forschungsfeld zu definieren. Karlik hielt alle persönlichen Verbindungen über die politischen Brüche hinweg und wurde zur zentralen Figur in der österreichischen Kernforschung der Nachkriegsgeschichte. Österreichs zweiter Versuch, ein Kernenergieprogramm zu etablieren, steht im Kontext des Kalten Krieges und der fortschreitenden Westintegration Österreichs. Dies wird besonders an der schnellen Annahme des amerikanischen »Atoms for Peace«Programms deutlich. Seit Inkrafttreten des Staatsvertrags agierte Österreich als souveräner und politisch neutraler Staat. Im Unterschied zu anderen neutralen Staaten wie Finnland setzte Österreich seine Neutralität nie als Verhandlungsmasse ein und akzeptierte das amerikanische Angebot, während solche aus dem Ostblock nicht weiter beachtet wurden. Anders als in anderen europäischen Staaten wie beispielsweise Norwegen70 spielte das Militär in den österreichischen Programmen keine Rolle. Parallelitäten zeigen sich insbesondere in den Anfangsjahren zu Dänemark, das zu den Gründungsmitgliedern der NATO zählt. Am Institut von Niels Bohr in Kopenhagen existierte wie in Wien eine lange kernphysikalische Tradition. Wie das österreichische Programm erfuhr auch das dänische mit dem »Atoms for Peace«-Programm und der Genfer Konferenz 1955 einen signifikanten Aufschwung, was zum Bau eines amerikanischen und eines britischen Forschungsreaktors in Risø führte. Ebenso wie in Österreich war die dänische Entwicklung anfangs von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen dominiert. Diese mündete allerdings in Dänemark nach einer heftigen Debatte um die Energiepolitik, ausgelöst durch die Ölkrise 1973/74, zum Parlamentsbeschluss im Jahr 1976, alle weiteren Entscheidungen bezüglich Kernenergie zu vertagen. In der Folge unterlag das Forschungszentrum Risø einem Transformationsprozess und entwickelte neue Forschungsschwerpunkte im Bereich der Umwelttechnologie und der alternativen Energien, insbesondere der Windenergie. Ähnlich wie in Österreich verabschiedete das Parlament 1985 ein Gesetz, das die Stromgewinnung aus Kernenergie verbot.71 Doch zurück zu Österreich : Wie handelten die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen ? Zunächst bot der Kalte Krieg zahlreichen Wissenschaftlern, die ihre Positio70 Vgl. Wittje 2007, 406–433. 71 Vgl. Nielsen/Nilsen/Petersen/Jensen 1999, 64–92 ; Nielsen/Knudsen 2010.
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nen aufgrund ihres engen Verhältnisses zum NS-Staat verloren hatten, eine Rückkehrmöglichkeit. Einer der letzten von ihnen war Ortner, der 1959 zum Vorstand des Atominstituts der Österreichischen Universitäten ernannt wurde. In Bezug auf die Westintegration ist zu bedenken, dass die meisten Kooperationen mit Wissenschaftlern aus den westlichen Nationen bereits vor dem Kalten Krieg bestanden hatten. Zudem hatten nur sehr wenige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen positive Einstellungen gegenüber dem Sowjetsystem. Aus diesen Gründen akzeptierten sie die Westintegration im Rahmen des amerikanischen Programms bereitwillig. Außerdem bot das »Atoms for Peace«-Programm neue Möglichkeiten und Ressourcen für die Forschung. Die Wissenschaftler nahmen diese Chance wahr und forcierten anfänglich das Programm. Dennoch sollte ihr Einfluss gegenüber anderen sozialen Gruppen nicht überschätzt werden, selbst wenn wir eine Technikeuphorie in der Öffentlichkeit der 1960er-Jahre feststellen können. Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen konnten diese Stimmung nur begrenzt für sich nutzen und ihre Forderungen im ersten Reaktorprojekt in Seibersdorf nicht gegenüber der Industrie durchsetzen. Nichtsdestotrotz erhielten die österreichischen Universitäten zwei Forschungsreaktoren. Aus dieser Perspektive war Österreichs zweites Kernenergieprojekt ein Erfolg. Im Gegensatz dazu endete der Versuch, ein Kernenergieprogramm zur Stromgewinnung zu etablieren, in einem Desaster für die Politik und die Energieunternehmen. Die öffentliche Meinung hatte sich gewendet und mit einer kleinen Mehrheit wurde die Inbetriebnahme des startbereiten Kraftwerks verhindert. Was bleibt, ist eine Ausbildungsanlage und ein Ersatzteillager als Grundlage für ein neues sinnstiftendes Narrativ : Österreich ist frei von Kernenergie.
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Carl Freiherr Auer von Welsbach (1858–1929). Erfinder, Entdecker und Entrepreneur Ingrid Groß, Gerd Löffler, Klagenfurt
Carl Freiherr Auer von Welsbach gelang 1885 mit der Erfindung des Gasglühlichts der wissenschaftliche Durchbruch. Dies beruhte nicht zuletzt auf seinem wissenschaftlichen und technischen Know-how, das er als Student während eines zweijährigen Aufenthaltes bei Robert Wilhelm Bunsen in Heidelberg erworben hatte. Bunsen, gemeinsam mit Robert Gustav Kirchhoff Erfinder der Spektralanalyse, vermittelte Auer von Welsbach diese neue Untersuchungsmethode. Damit legte er den Grundstein für Auer von Welsbachs weitere Forschungen auf dem Gebiet der Seltenen Erden. Auer von Welsbach entdeckte mithilfe der Spektralanalyse und der von ihm weiterentwickelten Methode der fraktionierten Kristallisation nicht nur vier Seltene Erdelemente, Praseodym, Neodym, Ytterbium und Lutetium. Die fraktionierte Kristallisation galt auch bei der Ermittlung der radioaktiven Elemente Radium, Actinium und Polonium als wesentlicher Verfahrensschritt bei der späteren Herstellung von Radiumsalzen. Mit der erfolgreichen Erforschung der Seltenen Erden reihte sich Auer von Welsbach in eine Tausch- und Verleihökonomie ein, die aus seinem persönlichen Netzwerk entstanden war.1 Viele Chemiker und Physiker der damaligen Zeit bezogen kostenlos ihre Präparate von ihm. Auer von Welsbach beschränkte sich allerdings nicht nur auf die Forschung. Viele wissenschaftliche Ergebnisse wurden von ihm wirtschaftlich verwertet. Aus der Verbindung von Forschung und wirtschaftlichem Denken entstand binnen kurzer Zeit ein umfassendes Wirtschaftsimperium. Mehr noch : Durch geschickte geschäftliche Kooperationen und die Organisation eines effizienten Bezugs der Rohstoffe, vor allem des Monazitsands, gelang es ihm, eine Branche, nämlich den Beleuchtungssektor, zeitweise nahezu monopolartig zu beherrschen und seinem Unternehmen gegenüber der Konkurrenz einen strategischen Vorsprung zu verschaffen.2 Charakteristisch für Auer von Welsbach war, dass er sich, sobald sich die wirtschaftlich ausgewerteten Erfindungen am Markt etabliert hatten, sogleich wieder neuen Forschungsarbeiten zuwandte.3 Er blieb trotz seines unternehmerischen Erfolges ein Experimentalchemiker, der sich vor1 2 3
Vgl. Ceranski 2008, 416. Vgl. Groß 2010, 120. Ebd., 90.
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wiegend in seinem Labor aufhielt und der fast alle Arbeitsschritte selbst erledigte, von der Glasbläserei bis zum Bau von Laborgeräten. Einige Geräte, wie zum Beispiel das Funkenspektrometer, ließ er nach seinen Angaben von Firmen anfertigen. Damit war Auer von Welsbach Teil eines Trends des ausgehenden 19. Jahrhunderts : In der frühen Phase der Entwicklung der chemischen und elektrotechnischen Industrie bildete die Forschungsarbeit des Gründers eine wesentliche Voraussetzung für die Fortexistenz des Unternehmens. Im ersten Teil des vorliegenden Beitrags wird untersucht, welche Rolle die Unternehmen Auer von Welsbachs – insbesondere die Österreichische Gasglühlicht- und Elektrizitätsgesellschaft in Atzgersdorf und ihr deutsches Pendant, die Deutsche Auergesellschaft in Berlin, sowie die Treibacher Chemischen Werke (TCW) in Treibach (heute Althofen) – in der frühen Radiumwirtschaft, aber auch für die Produktion von und den Handel mit anderen radioaktiven Stoffen bis 1929 gespielt haben. Dabei wird ein Einblick in den Aufbau und die Struktur seiner österreichischen Unternehmen gegeben und die Frage erörtert, warum die Österreichische Gasglühlicht- und Elektrizitätsgesellschaft für den Einstieg in die Radiumwirtschaft prädestiniert war und inwieweit Auer von Welsbach persönlich mit der im Jahr 1901 gegründeten Radiumkommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien (ÖAW) zusammenarbeitete. Im zweiten Teil wird ein Blick auf die wissenschaftliche Forschungstätigkeit Auer von Welsbachs geworfen. Auer von Welsbach war wissenschaftlich nicht nur in die industrielle Herstellung von Radiumsalzen im Auftrag der ÖAW involviert, sondern untersuchte selbst einen Teil der in Atzgersdorf verarbeiteten Rohstoffe, sog. Hydrate, in seinem Labor in Kärnten. Es gilt, seine Herstellung radioaktiver Präparate im Kontext seines wissenschaftlichen Netzwerkes zu beschreiben. Besonderes Augenmerk wird auf die Frage gerichtet, welchen Beitrag er gemeinsam mit dem Wiener Institut für Radiumforschung zur Radioaktivitätsforschung geleistet hat.
Die Österreichische Gasglühlicht- und Elektrizitätsgesellschaft und die Anfänge der Radioaktivitätsforschung in Österreich Auer von Welsbach war 25 Jahre alt, als er die Basis für seine weiteren Erfindungen legte. Durch das 1883 von ihm weiterentwickelte Trennungsverfahren der fraktionierten Kristallisation der Lanthan- und Didymammoniumdoppelnitrate gelang es ihm, nach mehrhundertfacher Wiederholung des Trennungsverfahrens die dabei gewonnenen Elemente als phosphoreszierende Leuchtmittel heranzuziehen.4 Indem er Baum4
Vgl. Sedlacek 1934, 18.
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wollgewebe mit den Salzen der Seltenerdelemente tränkte und anschließend veraschte, schuf er auf Basis der Seltenen Erden ein neues Geschäftsfeld. 1893 gründete er die Österreichische Gasglühlicht-Aktiengesellschaft mit Sitz in Atzgersdorf bei Wien mit einem Stammkapital von 1,5 Millionen Gulden.5 Aufgrund des geringen natürlichen Vorkommens der Seltenen Erden gab es berechtigte Zweifel, ob es überhaupt möglich sei, diese Stoffe in so großer Menge zu beschaffen, um eine Massenproduktion innerhalb der Glühlampenindustrie unter Einsatz der Auer-Glühstrümpfe, welche aus feinem Baumwollgewebe bestanden und zu Beginn per Hand gestrickt wurden, bewerkstelligen zu können.6 Um die wirtschaftliche Prosperität des Atzgersdorfer Unternehmens nicht zu gefährden, wurde mit einer rigiden Rohstoffbeschaffungspolitik begonnen.7 Ludwig Camillo Haitinger, wie Auer von Welsbach ein ehemaliger Assistent Adolf Liebens, wurde als Direktor der Österreichischen Gasglühlicht- und Elektrizitätsgesellschaft damit betraut, die Rohstoffgrundlage für das Gasglühlichtunternehmen abzusichern. Als besonders geeignete Basis der Imprägnierflüssigkeit für den Glühstrumpf stellte sich der Monazitsand heraus. Der unter anderem in Brasilien vorkommende erzhaltige Sand war im Vergleich zum Thorit sehr günstig. Der Monazitsand war das Ausgangsmaterial für weitere Produkte wie das Thoriumoxid und seine Salze, für die radioaktiven Zerfallsprodukte des Thoriums (Mesothor, Radiothor, Thorium X), für Ceriterden, Ceriumsalze und »Auermetall«, für Helium und für Phosphorsaure-Salze.8 Der Weg von der fraktionierten Kristallisation bis zur Entwicklung der richtigen Zusammensetzung seiner Imprägnierflüssigkeit 1889 war mühsam. Waren die ersten beiden Jahre (1885–1887) von einem wissenschaftlichen und geschäftlichen Erfolg geprägt, setzte Ende der 1880er-Jahre ein Wachstumsstillstand ein. Das war nicht so sehr eine Folge der allgemeinen ökonomischen Krise der Zeit. Die Gründe waren hausgemacht. Denn das Gasglühlicht schien an seiner eigenen Technologie zu scheitern. Nicht nur dass sich die chemische Zusammensetzung der Tinktur für das Gasglühlicht als wenig optimal erwiesen hatte – das Licht schreckte durch seine grünliche Färbung ab –, auch hielten die Strümpfe und Glaszylinder der Lampen den Erschütterungen des Straßen- und Alltagslebens nicht stand. Das Atzgersdorfer Unternehmen geriet in eine Krise. Um einen Konkurs abzuwenden, übernahm Auer von Welsbach 5 6 7 8
Wiener Stadt- und Landesarchiv, Handelsgericht, A 41 – Ges-Firmen, Bd. 40/20, Statuten der »Österreichischen Gasglühlicht- und Elektrizitätsgesellschaft« 1905, 25–27. Vgl. Böhm 1905, 47. Vgl. Groß 2010, 54 . Das aus dem Monazitsand gewonnene Thornitrat wurde zum wichtigsten Ausgangsmaterial für die Imprägnierung des Glühstrumpfs. Vor der Entdeckung über die hohe Bedeutung des Monazitsandes diente er im Wesentlichen als Ballast für die Rückfahrten der Schiffe aus Südamerika nach Europa, vgl. Krusch 1938, 5.
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die gesamten Anteile der Fabrik.9 »Das Gasglühlicht kam ins Stocken«, so Auer von Welsbach Jahre später, »allmählich bereitete sich eine Art Stagnation vor, die ursprünglichen Zweifler wurden wieder laut. Für mich kam eine sehr böse Zeit. Denn die in ihren Hoffnungen getäuschten Kapitalisten fingen an, ungehalten zu werden, und statt mir Zeit und Muße zur Arbeit zu lassen, drohte man mir mit Prozessen. Die Fabrik, die einige Jahre früher errichtet worden war, kam außer Betrieb, das Heer der Chemiker verlief sich nach allen Weltgegenden. Schließlich erwarb ich die Fabrik selbst und war zuletzt deren einziger Chemiker.«10 Auch die in England beheimatete Gesellschaft Welsbach and Williams Ltd., die für die Herstellung und den Vertrieb der Atzgersdorfer Glühstrümpfe in Großbritannien, Frankreich und Belgien zuständig war, geriet ins Straucheln. Mitarbeiter mussten entlassen werden und auch Haitinger kehrte ans Wiener Chemische Institut zurück, von wo aus er jedoch weiterhin an der Verbesserung des Gasglühlichtes arbeitete. Auer von Welsbach, der gemeinsam mit seinem Sekretär und Assistenten Felix Kuschenitz in der Atzgersdorfer Fabrik zurückgeblieben war, nützte seinerseits ebenfalls die wirtschaftliche Dürreperiode, um intensiv an der Weiterentwicklung des Gasglühlichtes zu arbeiten. In der Zwischenzeit war der Wert der Gasglühlichtpatente auf ein Minimum gesunken. Es war »hohe Zeit, daß das neue Licht kam, wenn nicht die wenigen Getreuen, die das Gasglühlicht damals noch zählte, abfallen sollten«.11 Die Anregung zu neuen, erfolgreichen Arbeiten ging schließlich von Haitinger aus. Gemeinsam mit Haitinger gelang es Auer von Welsbach, die exakte Mischung zu finden, um die Probleme in der Strumpfproduktion zu lösen. Der von Haitinger und Auer von Welsbach gemeinsam verbesserte Auer-Strumpf wurde ein technischer wie auch kommerzieller Erfolg und markierte eine Wende in den Auer von Welsbach’schen Entwicklungen. Im August 1891 ließ dieser sein neues Gasglühlicht patentieren, wobei die Herstellung der Imprägnierflüssigkeit ein Fabrikgeheimnis blieb. Um der steigenden Nachfrage nach den Glühstrümpfen nachzukommen, hatte Auer von Welsbach 1887 für 50.000 Gulden die ebenfalls in Atzgersdorf befindliche Fabrik Würth & Co. gekauft, die auf die Erzeugung chemisch-pharmazeutischer Präparate spezialisiert war.12 Diese neu erworbene Firma hatte nicht nur die Aufarbeitung der Seltenen Erden sowie die Herstellung der Imprägnierflüssigkeit für die Gasglühstrümpfe zum Zweck, sondern sollte auch die Distribution der präparierten Glühstrümpfe übernehmen. Haitinger wurde als engagierter Mitarbeiter in der chemischen 9 Die Quellen geben keine Auskunft darüber, wer vor der Krise zusätzlich an der Firma beteiligt gewesen war. 10 Sedlacek 1934, 35. 11 Böhm 1905, 83. 12 Vgl. D’Ans 1931, 8.
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Abteilung mit deren Leitung beauftragt. Kuschenitz übernahm die Organisation des Verkaufs. Auer von Welsbachs Expertenwissen bei der Trennung der Seltenerdelemente im industriellen Maßstab, das er sich über die Jahre bei der Gasglühlichtproduktion angeeignet hatte, war die Grundlage für die Aufbereitung des Monazitsandes und die Gewinnung von Thoriumnitrat beziehungsweise Thoriumoxid. Es war gerade jene Erfahrung mit den Thor-Präparaten (der Imprägnierflüssigkeit für den Glühstrumpf ), die ihn zu einem Fachmann bei der Trennung von Seltenerdelementen (fraktionierte Kristallisation) machte, welche auch für die Radiumgewinnung angewandt wurde. Aber nicht nur im chemisch-naturwissenschaftlichen Bereich zeigten sich Erfindergeist und Entrepreneurship Auer von Welsbachs. Basis seines unternehmerischen Erfolgs war die Anwendung technologischer Neuerungen bei der Produktion. Die Wiener Fabrik wurde mit Maschinen ausgestattet, die technisch auf dem neuesten Stand waren. Denn um eine Fabrikation in großem Stil durchführen zu können, waren von ihm und seinen Mitarbeitern zahlreiche Neukonstruktionen von Aufschlusskesseln, Filterund Rührbottichen notwendig.13 Die Österreichische Gasglühlichtgesellschaft und die 1892 gegründete Deutsche Auergesellschaft in Berlin hatten seit ihrem Bestehen etwa 1.500 Tonnen Thoriumnitrat erzeugt, was mindestens 1.500 Millionen Glühkörpern entsprach. Hinzu kam die Produktion der amerikanischen Auer-Gesellschaft Welsbach Incandescent Gas Light Company in Philadelphia und der vielen fremden Fabriken, die zusammen wohl noch mehr als das Doppelte erzeugten.14
Die Österreichische Gasglühlicht-Aktiengesellschaft und die Radiumgewinnung aus St. Joachimsthaler Pechblende-Rückständen Das Ehepaar Pierre und Marie Curie hatte bei der Entdeckung des Poloniums und des Radiums Pechblende-Rückstände aus der böhmischen Silbermine in St. Joachimsthal genutzt, die ihm das k. u. k. Ministerium für Bergbau in großen Mengen kostenlos zur Verfügung gestellt hatte. Am 20. Juli 1901 wurde von der ÖAW in Wien eine Radiumkommission eingesetzt. Ziel war es, den Rohstoff Pechblende für die Forschung im eigenen Land nutzbar zu machen. Außerdem sollte die Radiumkommission dafür Sorge tragen, dass die Pechblende-Rückstände aus St. Joachimsthal in einem industriellen Verfahren zu radiumhaltigen Präparaten aufgearbeitet wurden. Mitglieder der Radiumkommission waren die Naturwissenschaftler Franz Serafin Exner, Viktor von Lang, 13 Vgl. Peters 1959, 5. 14 Vgl. Sedlacek 1934, 40.
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Adolf Lieben und andere.15 Das Ehepaar Curie in Paris musste, um 1/10 Gramm Radiumchlorid zu erhalten, bei der Aufarbeitung der Pechblende-Rückstände einen erheblichen Aufwand betreiben, der mit einem normalen Laborbetrieb schon damals nicht zu erreichen war. Im günstigsten Fall konnten aus zehn Tonnen Ausgangsmaterial etwa 3,4 Gramm Radium gewonnen werden.16 Gefordert war in Wien daher von vornherein eine industrielle Produktionsmethode, wenn über ein bloßes Versuchsstadium hinausgekommen werden sollte. Darüber war sich auch die ÖAW beziehungsweise die Radiumkommission im Klaren. Am 16. Juni 1901 stellte die ÖAW eine Anfrage an Auer von Welsbach, ob er geneigt sei, seine Atzgersdorfer Fabrik für diesen Zweck unter seiner persönlichen Leitung oder der von Direktor Haitinger einzusetzen, »da derartige Untersuchungen mit gewöhnlichen Mitteln nicht auszuführen sind«.17 Als sich die ÖAW entschloss, die Vorkommen des Bergwerks in St. Joachimsthal zu nutzen, um in die Radium-Herstellung einzusteigen, beauftragte man 1904/05 die Österreichische Gasglühlicht- und Elektrizitätsgesellschaft mit deren Aufarbeitung.18 Dafür sprachen zum einen die maßgefertigten Maschinen der Firma, zum anderen aber auch die jahrelangen Erfahrungen Auer von Welsbachs mit dem Verfahren der fraktionierten Kristallisation zur Aufarbeitung von Rohstoffen wie etwa dem Monazitsand, der unter anderem ebenfalls in Spuren begehrtes radioaktives Material enthielt. Auer von Welsbach unterbreitete daraufhin schon Mitte 1901 der ÖAW ein Angebot, die Pechblende-Rückstände aus St. Joachimsthal in Atzgersdorf aufzuarbeiten, um Radiumsalze herzustellen.19 Aus dem Angebot geht auch hervor, dass er aus der Anfangszeit der Glühstrumpfproduktion, das heißt bevor Monazitsand als Rohstoff eingesetzt wurde, noch nordische Materialien zur Verfügung hatte. Dieses Material, es waren Thorite mit einem geringen Urangehalt, wollte er in seinem Laborbetrieb in Treibach aufbereiten.20 Die ÖAW stimmte dem ersten Teil des Angebots, nämlich das Monazit zu verarbeiten, zu. Es ist anzunehmen, dass die Thorite später in den TCW verarbeitet wurden, weil seit den 1920er-Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs auch in Treibach radioaktive Produkte hergestellt wurden. Anhand der noch vorhandenen Quellen ist dies aber nicht mehr nachzuvollziehen.
15 Vgl. Meister 1947, 297. 16 Vgl. Henrich 1918, 298. 17 Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, FE-Akten, Institut für Radiumforschung, K 1, Fiche 1, Suess u. von Lang an Auer von Welsbach vom 6.7.1901. 18 Vgl. Braunbeck 1996, 56. 19 Archiv Auer von Welsbach Forschungsinstitut, ab sofort: AAWF, AvW-Briefwechsel, Auer von Welsbach an die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften Wien vom 31.7.1901. 20 Daraus entstand erst 1907 ein richtiger Produktionsbetrieb, nämlich die Treibacher Chemischen Werke GmbH.
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Auer von Welsbach war kein Mitglied der Radiumkommission der ÖWA. Er hatte aber inoffiziellen Kontakt zu diesem Gremium durch Lieben, da er zum Gesellschaftskreis der Familie Lieben in Wien gehörte.21 Der offizielle Kontakt zur Radiumkommission lief über den Vorsitzenden der Kommission, Franz S. Exner. Lieben, Mitglied der ÖAW, war ebenfalls ein Schüler von Bunsen und kannte die fachlichen Qualitäten Auer von Welsbachs. Wie aus dem Handelsregistereintrag hervorgeht, war Auer von Welsbach bereits am 11. Oktober 1904 als Mitglied des Verwaltungsrates des Atzgersdorfer Unternehmens ausgeschieden.22 Er war zwischenzeitlich nach Kärnten umgezogen, wo er in seinem 1898 gegründeten Dr. Carl Auer von Welsbachschen Werk Treibach, den späteren TCW, forschte.23 Lieben ließ in Briefen an Auer von Welsbach aus dem Jahr 1904 und 1908 deutlich durchblicken, dass er die weitere Aufbereitung der Radium-Fraktionen beziehungsweise -Präparate durch ihn persönlich wünschte.24 Durch die früher gemeinsam verbrachte Zeit im chemischen Institut in Wien hatte Lieben großes Vertrauen in Auer von Welsbachs fachlichen Qualitäten gewonnen. Daraus entstand ein jahrelanger Briefwechsel. Parallel zur Produktion der Radiumsalze aus den radiumhaltigen Fraktionen wurde ab 1904 eine spezielle Fraktion, die wegen des chemisch gebundenen Wassers als Hydrate bezeichnet wurde, von Auer von Welsbach in AlthofenTreibach beziehungsweise auf seinem Schloss Welsbach bei Althofen vorerst zwischengelagert. Er hatte sie, nach der Quellenlage zu urteilen, nicht angefordert. Vielleicht war dies ein Signal der ÖAW, Auer von Welsbach in die Aufbereitung der Pechblende-Rückstände einbinden zu wollen. Naheliegend ist aber auch, dass in Wien für die Aufarbeitung dieser Hydrate, in denen Spuren von Actinium, Thorium und Polonium vermutet wurden, nicht genügend Personal beziehungsweise keine Experten vorhanden waren. Es mag dahingestellt bleiben, ob diese Zuweisung nur ein Trostpflaster für Auer von Welsbach sein sollte oder wirklich eine Anerkennung seiner speziellen Fähigkeiten als Chemiker bedeutete. Auer von Welsbach bemühte sich ab 1904 – damit dem Wunsch und Hinweis Liebens folgend –, einen Teil der radiumhaltigen Fraktionen, die bei der Aufbereitung der Pechblende-Rückstände in Atzgersdorf angefallen waren, für weitere Analysen, Anreicherungen und Forschungen nach Kärnten in sein Labor zu holen. Eventuell waren darunter auch schon erste schwach mit Radiumsalzen angereicherte Präparate,25 da in 21 Vgl. Soukup/Stadler 2009, 167. 22 Wiener Stadt- und Landesarchiv, Handelsregister der »Österreichischen Gasglühlicht- u. Elektrizitätsgesellschaft«, 102f. –, B 75 – Ges-Register, Bd. 20/40. 23 Vgl. Gollmann 1994, 310. 24 AAWF, AvW-Briefwechsel, Lieben an Auer von Welsbach vom 24.04.1904 und vom 19.1.1908. 25 Haitinger und Ulrich machten in Atzgersdorf Vorversuche (»orientierende Versuche«, vgl. Haitinger
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Atzgersdorf zur Anreicherung des Radiums ja auch mit der fraktionierten Kristallisation gearbeitet wurde. Schließlich wurden ihm radiumhaltige Präparate für Forschungszwecke zugesagt. Im letzten Moment – die Präparate waren zur Übergabe schon bereitgestellt und verpackt – kam die Order von der ÖAW, die Auslieferung der Präparate nach Kärnten zu unterbinden.26 Der Vorsitzende der Radiumkommission, Exner, begründete einige Tage später die Entscheidung per Telegramm an Auer von Welsbach damit, dass ein Mitarbeiter, der Chemiker Karl Ulrich, in Wien bleiben und die Arbeit an den Präparaten dort weiter fortsetzen solle.27 Ulrich war neben Direktor Haitinger in dieser Phase des Projekts in der Gasglühlampenfabrik in Atzgersdorf der wichtigste Mitarbeiter und war mit der Abgabe der radiumhaltigen Präparate an Auer von Welsbach nicht einverstanden. Ein abermaliger Versuch 1909 – zwei Jahre später –, radiumhaltiges Material nach Kärnten zu bekommen, wurde mit der Begründung abgelehnt, dass die ÖAW entschieden habe, vor der Eröffnung des Instituts für Radiumforschung keine Präparate herauszugeben.28 Ulrich war ebenfalls ein qualifizierter Chemiker und hatte ebenso wie Auer von Welsbach ein vertrauensvolles Verhältnis zu Meyer, dem Leiter des Instituts für Radiumforschung, aufgebaut. Ulrich musste Auer von Welsbach – soweit es die Herstellung von Radiumpräparaten anbetrifft – als einen Konkurrenten ansehen.29 Diese Entscheidung erscheint angesichts der guten Beziehungen zwischen Auer von Welsbach und Exner und wegen der anzunehmenden Fürsprache Liebens in der Radiumkommission zunächst schwer verständlich. Allerdings war der Wunsch der ÖAW, die Kontrolle über die ersten in Österreich produzierten Radiumsalze nicht zu verlieren, offenbar größer als die Sorge, dadurch die freundschaftlich-kollegialen Verbindungen mit Auer von Welsbach zu gefährden. Wien war die Hauptstadt der Monarchie und die Produktion und der Besitz von Radiumsalzen war auf der internationalen Bühne schon längst eine Prestigeangelegenheit geworden. Allerdings darf nicht verges-
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27 28 29
1908, 486) mit den Pechblende-Rückständen, bevor sie sich für die endgültige Verfahrensweise bei der Verarbeitung von ca. 10 Tonnen Rückstände entschieden haben. Bei diesen Vorversuchen können durchaus in kleinen Mengen schon schwach angereicherte Radium-Präparate entstanden sein. AAWF, AvW-Briefwechsel, Bericht eines unbekannten Emissärs [Name im Dokument nicht lesbar] an Auer von Welsbach vom 7.3.1907. Aus diesem handschriftlichen Bericht geht auch hervor, dass es Widerstand des Chemikers Karl Ulrich in Atzgersdorf gegen die Abgabe der radiumhaltigen Präparate gab. AAWF, AvW-Briefwechsel, Telegramm von Exner an Auer von Welsbach vom 6.7.1907. AAWF, AvW-Briefwechsel, Exner an Auer von Welsbach vom 8.5.1909. Die Briefe (ca. 300 Dokumente) zwischen Meyer und Ulrich, die aus der Zeit, als Ulrich Direktor der Uranfabrik in St. Joachimsthal war, stammen und die zurzeit im Rahmen eines Forschungsprojektes (siehe http ://stipendien.oeaw.ac.at/georg-steinhauser ; Zugriff : 11.4.2011) ausgewertet werden, ist ein beeindruckendes Zeugnis der Vertrautheit und der gegenseitigen Hochachtung beider Forscher, vgl. AÖAW, FE-Akten, Institut für Radiumforschung, K 20, 31, 68.
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sen werden, dass der Einfluss von Auer von Welsbach auf die Atzgersdorfer Firma schwand, da er 1904 als Gesellschafter beziehungsweise Vorsitzender des Verwaltungsrates ausgeschieden war und sein engster Vertrauter in der Firma, Haitinger, bereits 1907 kurz vor der Pensionierung stand. Die Aufarbeitung der zehn Tonnen Uranerzrückstände, welche aus St. Joachimsthal bezogen wurden, dauerte bis 1907. Haitinger und sein Mitarbeiter Ulrich legten 1908 einen Bericht über diese Arbeiten vor. Aus diesem geht hervor, wie in Atzgersdorf das Radium angereichert und Radiumpräparate hergestellt wurden. Es wird auch geschildert, wie die Hydrat-Fraktion, die Auer von Welsbach zum Teil für die Anreicherung des Actiniums überlassen wurde, im Verarbeitungsprozess zustande kam.30 Insgesamt ist dieser Bericht aus historiografischer und technikgeschichtlicher Sicht interessant, weil er zeigt, welcher Aufwand betrieben werden musste, um 10 Tonnen PechblendeRückstände zu Radiumsalzen (vorwiegend Radiumchlorid) aufzuarbeiten. Außerdem wird deutlich, dass auch während der Zeit bis 1907/08 spezielles Know-how von Auer von Welsbach in den Prozess der fraktionierten Kristallisation eingeflossen ist, nämlich das so genannte Oxidverfahren,31 eine Variante der Kristallisation, die er als Alternative bei der Verarbeitung der Hydrate zur Anreicherung actiniumhaltiger Präparate weiter entwickelt hatte. Für die ÖAW ergaben sich Gesamtkosten von knapp 20.000 Kronen, die einem Marktwert der gewonnenen Radiummenge von etwa zwei Millionen Kronen gegenüberstanden.32 Die Österreichische Gasglühlicht- und Elektrizitätsgesellschaft verrechnete der ÖAW nichts außer einem Unkostenbeitrag von 9.185 Kronen.33 Daraus lässt sich schließen, dass sich die Radium-Produktion aus Pechblende im Gegensatz zu den Glühstrümpfen und der späteren Mesothoriumproduktion aus reinem wissenschaftlichem Interesse geschah. Als die wirtschaftliche Bedeutung der Entdeckung erkannt wurde – ein Gramm reines Radiumchlorid hatte von 1910 bis 1915 einen Wert von 200 bis 240 Kilogramm Gold – gerieten die aus den Abfallprodukten gewonnenen Elemente Radium, die Radiumemanation, und das aus Monazit gewonnene Radiothor und Mesothorium in einen neues Licht. Franz Fattinger, Direktor der TCW, bemerkte dazu : »Die stürmische Nachfrage nach diesen außergewöhnlichen Elementen, insbesondere nach Radium, rief eine neue Industrie ins Leben. […] Die Nachfrage nach Radium und schließlich auch die Preisgestaltung desselben hatte zur Folge, dass eine große Zahl von Staaten
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Vgl. Haitinger/Ulrich 1908, 619–630. Gemeint ist wahrscheinlich das »Oxalatverfahren«. Vgl. Ceranski 2008, 426. Vgl. Ceranski 2005, 108.
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daran ging, das für die Radiumgewinnung notwendige Rohmaterial sich in größeren Mengen sicherzustellen, um einer eventuellen Monopolisierung zu entgehen.«34
Begünstigt wurde der wirtschaftliche Erfolg durch die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten des Radiums in der Medizin, insbesondere bei der Bekämpfung von Krebserkrankungen. Daneben wurde Radium bei der Herstellung von Leuchtfarben eingesetzt.35 Seine Produktion wurde zu einem einträglichen Geschäft.36 Auch der österreichische Staat wollte an der Vermarktung des Radiums partizipieren. 34 Vgl. Fattinger 1937, 1. 35 Ebd., 2. 36 Im Zeitraum von 1898 (Entdeckung des Radiums durch Madame Curie) bis 1926 wurden weltweit 506 Gramm Radium gewonnen. Die Produktion bis Ende 1928 wurde mit 138 Millionen Reichsmark bewertet, vgl. Gollmann 1994, 43.
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Im Zuge der Glühlampenproduktion fielen große Mengen vorerst wertloser Abfallprodukte an, unter anderem die sogenannten Ceriterden (siehe Abbildung 1).37 Zur Verdeutlichung : Bei einem jährlichen Weltkonsum von 300 Millionen Gasglühkörpern, bei dem jeder Glühkörper 0,5 Gramm Thoroxid enthielt – das entspricht einem Gramm Thoriumnitrat –, bedeutete das einen jährlichen Weltkonsum von 300.000 Kilogramm Thornitrat.38 Durch die Entdeckung der Radioaktivität des Thoriums und später der radioaktiven Folgeprodukte bekam das Thorium selbst einen neuen Wert. Auer von Welsbach nutzte als einer der Ersten die erwähnten Abfallprodukte. Systematische Untersuchungen der Cerit- und Yttererden, die in diesen Abfallprodukten enthalten waren, sicherten ihm den unternehmerischen wie auch analytischen Erfolg. Die Herstellung reinen Thoriums und Zirkoniums war jedoch ungleich schwieriger, denn dass gerade die gehandelten Thoriumpräparate ganz unterschiedliche Radioaktivität besaßen, wusste man seit etwa 1906.39 Mitarbeiter der Deutschen Auergesellschaft und von der Chemischen Fabrik Dr. Knöfler & Co. hatten Beiträge zur Messung von Thorium-X-Präparaten geliefert.40 Schon 1903 hatte Auer von Welsbach in der Sitzung des Verwaltungsrats der Österreichischen Gasglühlicht- und Elektrizitätsgesellschaft dem Antrag seines Direktors Haitinger zugestimmt, den Radiumanteil im Monazitsand zu bestimmen, was in Anbetracht des zu erwartenden geringen Gehalts ein anspruchsvolles Unterfangen war.41 Veröffentlicht wurde das Forschungsergebnis im Jahr 1904,42 wobei nach heutigem Wissensstand damals das Radiumisotop Mesothorium 1 gefunden wurde, das Otto Hahn 1907 entdeckte und in die Thorium-Zerfallsreihe einordnete. Durch seine 1903 getroffene Entscheidung stellte Auer von Welsbach den frühen Einstieg seiner Firma in diese wichtige Technologie der Radium-Produktion sicher. Das war deswegen von Bedeutung, weil das Mesothorium als preiswerter Ersatzstoff für Radium bei medizinischen Anwendungen bald eine wichtige Rolle spielen sollte. Radium war ein begehrtes und zugleich teures Produkt.
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Ein Sammelbegriff von verschiedenen Erden in der Nachbarschaft von Cer. Vgl. Böhm 1913, 4. Ebd., 65. Vgl. Böhm 1913, 19. AAWF, Sonstige Dokumente, Sitzungsprotokoll der Auergesellschaft Wien vom 10.5.1903. Vgl. Haitinger/Peters 1904, 569–570.
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Expansion der Auer von Welsbach’schen Unternehmungen : Die Berliner Auergesellschaft, die Treibacher Chemischen Werke und der Beginn der Mesothorium-Produktion Die in Berlin ansässige Auergesellschaft stellte Thoriumnitrat im Umfang von 100.000 Kilogramm jährlich her. Um die Produktion zu bewältigen, wurde die Fabrik 1912 ausgebaut. Der Direktor der Österreichischen Gasglühlicht- und Elektrizitätsgesellschaft, Karl Peters, wurde nach Berlin-Oranienburg berufen, um dort eine Thorium-Cer- und Mesothoriumfabrikation nach Atzgersdorfer Vorbild einzurichten.43 Unter seiner Leitung wurden in den Jahren 1920/21 auch 200 Kilogramm Pechblende-Rückstände aus St. Joachimsthal verarbeitet. Im Anschluss daran wurde der von Peters gelieferte Rückstand im Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie weiter gereinigt.44 Die Deutsche Auergesellschaft entwickelte sich unter der Leitung des preußischen Bankiers Leopold Koppel zu einem erfolgreichen Konzern, der mit seinen zwei Thorium-Fabriken zu einem weltweit führenden Unternehmen aufstieg.45 Es wurde eine radiologische Abteilung mit insgesamt zwei Arten von radiologischen Erzeugnissen eingerichtet. Unter der Bezeichnung Auer-Radium-Erzeugnisse wurden Radium, Mesothorium, Thor-X-Stäbchen, Filter und Instrumente sowie Emanationsapparate angeboten. Zusätzlich gab es die AuerRöntgen-Erzeugnisse. Außerdem wurde Thorium-X-Degea, eine kurzlebige radioaktive Substanz in Form von Salbe, Alkohol oder Lack für die Behandlung von Haut-, Blutund Stoffwechselkrankheiten produziert.46 Ein weiteres Angebot bestand in der Dosierung neuer und in der Umarbeitung alter radioaktiver Präparate. Im Vergleich zu den anderen Betrieben erfolgte in den TCW die Verwertung der radioaktiven Bestandteile – der Monazitrückstände aus der Gasglühlicht- und Cerchloridfabrikation in Treibach – erst relativ spät. Die TCW, welche ihre Haupteinnahmen mit einer weiteren Erfindung Auer von Welsbachs, dem »Auermetall«, verdienten, waren in der Folgezeit an der Herstellung und am Vertrieb des sogenannten Georadiums als Heilmittel interessiert.47 Das Treibacher Unternehmen benötigte für seine Mischmetallerzeugung Rohstoffe, die von Thoriumfabriken bezogen wurden. Bei der Aufarbeitung dieser 43 Vgl. Adunka 2007, 3. 44 Vgl. Ernst 1992, 103. 45 Vgl. Böhm 1913, 102. Auer von Welsbach war selbst nicht in die Aktivitäten des deutschen Unternehmens involviert. Jedoch war er mit einem Prozent am Kapital und Gewinn der Firma beteiligt. 46 Archiv des Deutschen Museums München, ab sofort: ADM, Auergesellschaft, Auergesellschaft A.G. Berlin, 214/19. Das Thorium-X entstand als Folgeprodukt beim Zerfall vom Radiothor. Dieses hatte fast die gleiche mittlere Lebensdauer wie Radium-Emanation und die von beiden Elementen ausgehende Strahlung war praktisch gleich. 47 Ebd., 35. Das »Auermetall« war ein aus Cereisen bestehender Zündstein, der in Feuerzeuge eingebaut wurde.
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Ressourcen fielen Gipshalden an, welche die Geschäftsführung in den 1920er-Jahren wirtschaftlich nutzen wollte. 1926 wurde festgestellt, dass gerade diese Gipshalden schwach radioaktiv waren, da ein Teil der Radioaktivität des Monazits auf sie übergegangen war. Aus diesen schwach radioaktiven Beständen wurden nun Heilbäderpackungen unter dem Namen Georadium hergestellt, welche in Form von Kompressen verkauft und zur Selbstherstellung für die Verbraucher erzeugt wurden.48 Nachdem im ersten Produktionsjahr 15.000 Kilogramm Georadium verkauft wurden, kam es ausgehend von diesem Stoff zur Erweiterung der Produktionspalette.49 Zusätzlich wurden ab circa 1928 aus den Rückständen des Monazitsandes Mesothoriumsalze und Radiothoriumverbindungen hergestellt. Sie waren ein Aktivator für Phosphoreszenzfarben. Aber auch zu Bestrahlungszwecken, insbesondere von bösartigen Geschwüren, verwendete man sie.50 Letztendlich war es der Wissenschaft gelungen, sämtliche im Monazitsand enthaltenen Bestandteile zu verwerten. Es waren vor allem Thorium- und Ceriumsalze, die aus dem Monazitsand gewonnen wurden. Erstere waren zur Herstellung von Glühstrümpfen unentbehrlich, während die Cersalze zur Herstellung von Zündsteinen, bei der Glasentfärbung und auch in der Medizin Verwendung fanden. Für die Gewinnung von einem Gramm Mesothorium waren immerhin 200.000 Kilogramm Monazitsand notwendig. Hätte man Monazitsand nur zur Herstellung des Mesothoriums aufbereitet, hätte dieses ein Vielfaches seines damaligen Preises gekostet.51
Auer von Welsbachs wissenschaftliche Beiträge zur frühen Radioaktivitätsforschung Auer von Welsbach war von Beginn an persönlich und in seiner Eigenschaft als Mitgesellschafter der Österreichischen Gasglühlicht-Aktiengesellschaft viel enger in die Radioaktivitätsforschung in Österreich eingebunden, als bisher wahrgenommen wurde. 1958 wurde diese Tatsache anlässlich seines 100. Geburtstages in der Literatur noch erwähnt.52 In der Folgezeit wurde er, wenn überhaupt, nur mit der Erforschung der Seltenen Erden und der Erfindung des Gasglühstrumpfes in Verbindung gebracht. So erscheint er im »Meyers Lexikon der Physik« von 1973 überhaupt nicht mehr.53 Auch in internationalen Standardwerken, wie zum Beispiel im Chemie-Fachbuch »Holle48 49 50 51 52 53
Vgl. Gollmann 1994, 36. Ebd., 37. Vgl. Fattinger 1998, 61. ADM, Auergesellschaft A. G. Berlin, 214/13, Radioaktive Stoffe im Dienst der Medizin, undatiert. Vgl. Peters 1958. Vgl. Fachredaktion 1973.
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mann Wiberg« von 1985 findet er unter Actinium oder generell unter Radioaktivität, Radium und/oder Pechblende keine Erwähnung mehr.54 Auer von Welsbachs jahrelangen Forschungen auf dem Gebiet des Ioniums und der Anreicherung des radioaktiven Actiniums finden auch dort keine Erwähnung, wo die Lexika der Physik einen historischen Rückblick gewähren.55 Allein in der historiografischen Spezialliteratur wird auf seine Forschung zum Actinium beziehungsweise seine Forschungen im Bereich der Radioaktivität Bezug genommen.56 Zum Allgemeinwissen gehört seine Tätigkeit in diesen Bereichen der Forschung aber unter Chemikern und Physikern nicht. Aus dem Schriftwechsel mit Franz S. Exner sowie aus seinen handschriftlichen »Notizen über radioaktive Arbeiten«,57 die den Charakter eines Laborbuchs haben, geht hervor, dass Auer von Welsbach 1907/08 konzentriert mit der Aufbereitung und Analyse der Hydrate – die aus der Aufarbeitung der Pechblende-Rückstände in Atzgersdorf stammten – in Kärnten begann. Diese Arbeit sollte ihn mit vielen Höhen und Tiefen ungefähr fünfzehn Jahre beschäftigen. Besonders zeitaufwendig war die Herstellung von Actinium-Präparaten. Der Franzose André Louis Debierne hatte das Actinium 1899 als radioaktiven Strahler entdeckt.58 In der Pechblende war es ungefähr 1.000mal seltener als Radium anzutreffen. Es galt nun, die chemischen Eigenschaften dieses stark radioaktiven Elements genauer zu untersuchen und in die radioaktiven Zerfallsreihen einzuordnen. Das Wissen über dieses Element war zu jener Zeit äußerst fragmentarisch. Der amerikanische Chemiker Bertram Borden Boltwood glaubte festgestellt zu haben, dass das Verhältnis von Uran zu Actinium in Uranmineralien immer konstant sei. Er vermutete, dass die Actinium-Zerfallsreihe als Abzweigung der Uranradiumreihe anzusehen sei.59 Über die Muttersubstanz wurde spekuliert. Die Halb54 Vgl. Wiberg 1985. 55 Der letzte deutliche Hinweis auf die Actinium-Forschung Auer von Welsbachs in einem international verbreiteten Standardwerk ist bei Meyer/Schweidler 1927, 471 zu finden. Dort heißt es z.B. im Zusammenhang mit der Untersuchung der Reichweite von Actinium-Zerfallsprodukten : »Die […] Autoren konnten dank der großen Intensität der Produkte C. Auer v. Welsbachs diese α-Strahlung näher untersuchen und 1914 ihre Reichweite R15 = 3,56 cm bestimmen.« Auch in Georg von Hevesys und Fritz Paneths »Lehrbuch der Radioaktivität« findet sich ein Hinweis, dass Auer von Welsbach Radiochemiker war und um 1913 dazu beitrug, die Isotopie der Elemente zu entdecken, vgl. Hevesy/Paneth 1931, 278. 56 Löffler 2008, 890–892. Vgl. auf der Homepage des Auer von Welsbach-Museums in Althofen, unter : http ://www.althofen.at/welsbach.htm. Steinhauser, Georg, Bader-Preis für die Geschichte der Naturwissenschaften 2010 »Carl Auer von Welsbach – Discoverer of Neutron Activation ?«, http ://stipendien. oeaw.ac.at/georg-steinhauser ; Zugriff : 1.4.2011. 57 AAWF, Notizen über radioaktive Arbeiten, Handschriftliche Notizen des Carl Auer von Welsbach [1908– 1913]. 58 Quadbeck-Seeger 2007, 76. Ebenso hatte der deutsche Chemiker F. Giesel bei seinen Forschungen 1902 dieses Element anreichern können, vgl. Fricke 2001, 115. 59 Henrich 1918, 243.
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wertszeit wurde auf 20 bis 30 Jahre geschätzt. Wegen der engen Vergesellschaftung mit den Seltenerdelementen war auch noch kein eindeutiges Spektrum bekannt. Das Phänomen der Isotopie, das heißt die Existenz von Elementen mit gleicher Ordnungszahl (Protonen), aber verschiedener Masse, war ebenfalls noch völlig unbekannt. Auch ihre Einordnung im Periodensystem der Elemente war noch nicht vorgenommen worden.
Eichung der Auer von Welsbach-Präparate In den ersten Jahren der Radioaktivitätsforschung waren die experimentellen Möglichkeiten der Chemiker und Physiker äußerst beschränkt. Die Radioaktivität musste mühsam mit einem Spinthariskop durch Abzählen der durch α-Strahlen erzeugten Lichtblitze auf einer Zinksulfidschicht (Sidot-Blende) oder durch Einsatz von Elektrometern beziehungsweise Elektroskopen ermittelt werden, die allerdings schon erstaunlich genaue Messwerte lieferten und seit 1905 von Auer von Welsbach genutzt wurden. Es gab auch noch keine international genormte Maßeinheit für die Aktivität radioaktiver Strahler, das heißt für die Anzahl der radioaktiven Zerfälle pro Zeiteinheit, was ein Vergleichen von Messergebnissen verschiedener Forscher äußerst schwierig gestaltete und zu Fehlinterpretationen führte. Auer von Welsbach klassifizierte die Strahlungsintensität seiner radioaktiven Präparate zu Beginn seiner Arbeiten auf diesem Gebiet wie folgt : Als Eichprobe wurde ein Pechblendepräparat (U3O8) eingesetzt. Es lässt sich nicht nachweisen, woher Auer von Welsbach dieses Präparat bezog und wo er sein Elektroskop geeicht hat. Das Elektroskop wurde mit einem Glasstab bis zum maximalen Zeigerausschlag aufgeladen. Wenn die Luft in unmittelbarer Nähe des Elektroskops durch ein radioaktives Präparat ionisiert wurde, so wurde mit einer Stoppuhr die Zeitspanne gemessen, in der der Zeigerausschlag sich auf Null reduzierte. Das Elektroskop wurde also entladen. Diese Zeitspanne wurde in Relation zum U3O8-Präparat gesetzt. Entlud sich das Elektroskop zum Beispiel in 0,2 Sekunden, also relativ schnell, so wurde die Strahlungsintensität mit 1.000 bis 10.000 Uraneinheiten (Ur.E.) angegeben und von Auer von Welsbach in den Messprotokollen unter der Bezeichnung »h.r.« – hoch radioaktiv – notiert. Ließ sich das Elektroskop in Gegenwart eines radioaktiven Präparats mit einem Glasstab gar nicht aufladen, da selbst der Glasstab sofort seine Ladung verlor, so fiel das Präparat in die Kategorie über 10.000 Ur.E. und wurde als »e.r.« – extrem radioaktiv – eingestuft.60 In Anbetracht der beschränkten technischen und messtechnischen Möglichkei60 AAWF, Notizen über radioaktive Arbeiten, Handschriftliche Notizen des Carl Auer von Welsbach [1908–
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ten ist es beachtlich, dass Auer von Welsbach schon 1910 eine umfassende Arbeit über seine bis dahin vorgenommenen Analysen der Hydrate unter dem Thema »Über die chemische Untersuchung der Actinium enthaltenden Rückstände der Radiumgewinnung (I. Teil)« veröffentlichte.61
Zusammenarbeit mit Franz S. Exner und dem Institut für Radiumforschung Auer von Welsbach schickte 1910/11 seine ersten radioaktiven, mit Actinium angereicherten Proben für weitere spektralanalytische Untersuchungen und zur Überprüfung der Radioaktivität an Exner. Die Spektralanalyse im sichtbaren Bereich beherrschte Auer von Welsbach zwar selbst exzellent, aber es gehörte zu den wissenschaftlichen Gepflogenheiten, seine eigenen Ergebnisse von anderen überprüfen zu lassen. Das Gleiche galt für die Messung und Überprüfung der Aktivitäten der radioaktiven Strahlung und die Beobachtung des zeitlichen Verlaufs der Intensität dieser Strahlung. Nach der Eröffnung des Instituts für Radiumforschung 1910 arbeitete Auer von Welsbach vermehrt mit Stefan Meyer zusammen, der als Exners Assistent das Institut seit der Gründung inoffiziell leitete. Von jetzt an gingen auch die von Auer von Welsbach in seinem Labor in Kärnten hergestellten Ioninum- und Actinium-Präparate direkt an das Wiener Institut, um überprüft zu werden. Seine Präparate wurden dort auch für weitere Experimente in der Radioaktivitätsforschung genutzt. Es galt zum Beispiel, der Muttersubstanz des Radiums näher auf die Spur zu kommen, das Isotopengemisch des Thoriums zu analysieren (Atomgewichtsbestimmungen), die Halbwertszeit des Actiniums genauer zu bestimmen und die Struktur der radioaktiven Zerfallsreihen weiter aufzuklären. Das Institut für Radiumforschung war modern und speziell für die Radioaktivitätsforschung ausgerüstet. Wir erfahren allerdings durch den Schriftwechsel zwischen Auer von Welsbach mit Stefan Meyer nicht, welche weiteren Mitarbeiter des Instituts im Einzelfall bei der Überprüfung und Kontrolle der Präparate eingeschaltet wurden. Auer von Welsbachs Vernetzung auf dem Gebiet der Radioaktivitätsforschung und der Produktion von Radiumsalzen soll durch Abbildung 2 verdeutlicht werden.
1913]. 61 Auer von Welsbach 1910, 1011–1054. Diese Publikation ist als erster Teil seiner Arbeit angekündigt und stellt keineswegs den Abschluss seiner Ac-Forschung dar. Anfang 2010 wurde ein handschriftlich verfasster, nicht publizierter Teil 2 dieser Arbeit in den Archivunterlagen des Auer von Welsbach-Forschungsinstituts in Althofen entdeckt, der allerdings kein Datum trägt. Die Auswertung des 2. Teils ist noch nicht abgeschlossen.
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Mit Exner, dem Vorstand des II. Physikalischen Instituts der Universität Wien, stand er nach 1911 in Briefkontakt. Diese Korrespondenz bezog sich weitgehend auf die Präparate der Seltenerdmetalle, für die Auer von Welsbach ebenfalls spektroskopische Untersuchungen wünschte. Exner und sein Mitarbeiter Eduard Haschek leisteten mit der Herausgabe der drei Bände »Die Spektren der Elemente bei normalem Druck« (Leipzig und Wien 1911/12) Pionierarbeit. Sie waren für damalige Verhältnisse mit den modernsten Apparaten (Spektrometern) ausgerüstet und galten als Spezialisten auf diesem Gebiet, was Auer von Welsbach zu nutzen versuchte, um seine eigenen Messungen zu kontrollieren. Ein geeichtes Radiumchlorid- Präparat besaß Auer von Welsbach ab der zweiten Jahreshälfte 1913.62 Erst von nun an waren seine Messungen der Radioaktivität mit den in anderen Labors vorgenommenen Messungen vergleichbar, soweit diese auch mit Radium-Standardpräparaten arbeiteten. 62 AAWF, Notizen über radioaktive Arbeiten, Zertifikat der K. k. Bergwerksprodukten-Verschleißdirektion über ein geeichtes Radium-Präparat vom 21.7.1913.
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Die Herstellung von Actinium- und Thorium-Ionium-Präparaten als Grundlage erfolgreicher Forschungstätigkeiten im Institut für Radiumforschung Die 1910 publizierte Arbeit, mit der Auer von Welsbach ein Sulfatverfahren und ein Hydratverfahren vorstellte, woraus er dann ausgehend von den Hydraten das zur Anreicherung des Actiniums geeignete Oxalatverfahren entwickelte, macht deutlich, wie im wahrsten Sinn des Wortes noch experimentiert werden musste, um zu brauchbaren Actinium-Präparaten zu kommen. Immer wieder wurde in den einzelnen Verfahrensschritten die Technik der zeitaufwendigen fraktionierten Kristallisation eingesetzt. Bevor das Actinium angereichert werden konnte, mussten die Thoriumverbindungen aus den Hydraten entfernt werden. Die Konzentration dieses schwach radioaktiven Elements war als Thorium-Ionium-Gemisch schon länger Gegenstand der Forschung. Auch Auer von Welsbach versuchte, Gemische mit einem erhöhten Ionium-Anteil herzustellen. Noch war nicht bekannt, dass Ionium ein Isotop des Thoriums ist, so dass diese Arbeit mit chemischen Methoden ein hoffnungsloses und zeitraubendes Unterfangen war. Auer von Welsbach schickte die von ihm hergestellten Thorium-IoniumPräparate schon vor 1910 für weitere Untersuchungen an Meyer.63 Die Auer von Welsbach-Präparate waren Grundlage einer Reihe wichtiger Publikationen der Wiener Radioaktivitätsforscher : 1914 publizierten die Physiker Stefan Meyer, Victor Hess, Entdecker der Höhenstrahlung, und Fritz Paneth eine Arbeit, mit der sie die Ergebnisse ihrer Reichweitemessungen von α-Strahlen präsentierten.64 Als α-Strahler dienten fast ausschließlich die Polonium-, Ionium- und Actinium-Präparate, die Auer von Welsbach hergestellt hatte. 1916 wurden diese Arbeiten von Meyer fortgesetzt, ebenfalls unter Einsatz der Auer’schen Präparate.65 Im Januar 1918 veröffentlichten Meyer und Paneth ihre Ergebnisse über die Reichweite von α-Strahlen der ActiniumPräparate.66 Diese Arbeit beschäftigte sich ausschließlich mit dem Actinium und seinen radioaktiven Folgeprodukten und testete unter anderem die Geiger-Nutall’sche Regel (das heißt den empirisch gefundenen Zusammenhang zwischen der Reichweite der α-Strahlen und der Zerfallskonstante λ eines radioaktiven Elements). Auch die Radiochemikerin Stefanie Horovitz und ihr Kollege Otto Hönigschmid nutzten die Auer von Welsbach-Präparate, um das Atomgewicht des Ioniums zu bestimmen und das Verhältnis von Thorium und Ionium in den Präparaten einzugrenzen.67 63 64 65 66 67
Vgl. Meyer/Schweidler 1927, 388. Vgl. Meyer/Hess/Paneth 1914, 1459–1488. Vgl. Meyer 1916, 723–733. Vgl. Meyer/Paneth 1918, 147–193. Vgl. Hönigschmid/Horovitz 1916, 335–345.
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Der Austausch von Informationen und Präparaten zwischen Auer von Welsbach und dem Wiener Institut für Radiumforschung war keine Einbahnstraße. Im Zuge der Aufbereitung und Analyse der Hydrate schickte Auer von Welsbach die kostbaren Präparate in gewissen Zeitabständen nach Wien, um ihre Reinheit überprüfen und die radioaktiven Folgeprodukte untersuchen zu lassen. Nach 1918 übernahm das Institut für Radiumforschung insbesondere auch röntgenspektrografische Analysen der Auer’schen Präparate. Umgekehrt bat Meyer um die Klärung chemisch-physikalischer Fragen, die mit dem Herstellungsverfahren der zugesandten Präparate zu tun hatten. So konnte er seine eigenen Forschungen sowohl zum Actinium als auch zu den magnetischen Eigenschaften der Seltenerdelemente anhand der Auer’schen Präparate gezielt fortsetzen. In einem Schreiben aus dem Jahr 1913 formulierte Meyer einen zentralen Wunsch und eine wichtige Rückfrage : »Auf die angekündigten Actiniumproben sind wir schon sehr begierig […]. [D]arf ich Sie noch fragen, ob die gesandten Proben thoriumfrei sind ?«68 Es war ungemein wichtig, mit möglichst reinen Präparaten zu arbeiten. Der Physiker Meyer wusste, dass die Trennung eines Gemischs unterschiedlicher radioaktiver Stoffe, die in der Natur oft miteinander vergesellschaftet sind, beim damaligen Stand der Technik außerordentliche Fähigkeiten eines Chemikers erforderten. Deswegen war Auer von Welsbach für Meyer ein geschätzter Partner. Er gehörte in den wirtschaftlich schwierigen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg bis zu seinem Tod zu den wichtigsten Geldgebern des Instituts für Radiumforschung. 1923 leistete er eine Spende von zwei Millionen Kronen und verdoppelte damit den damaligen Jahresetat dieser Forschungseinrichtung.69
Actinium – für Auer von Welsbach von Anfang an ein widerspenstiges Element Die von Auer von Welsbach in seinem Labor auf Schloss Welsbach in Rastenfeld bei Althofen allein durchgeführten chemischen Arbeiten und spektroskopischen Analysen (im sichtbaren Bereich) waren langwierig und mühevoll. In der Zeit des Ersten Weltkriegs war Auer von Welsbach in seinen Laborarbeiten stark eingeschränkt, da sein Personal für die Bewirtschaftung seiner Güter (Landwirtschaft, Wälder) zum Kriegsdienst eingezogen wurde und er diese Arbeiten selbst leisten musste.70 Im Frühjahr 1917 berichtete er Meyer über die Herstellung von vier Actinium-Proben unter An68 AAWF, AvW-Briefwechsel, Meyer an Auer von Welsbach vom 20.11.1913. 69 AAWF, AvW-Briefwechsel, Meyer an Auer von Welsbach vom 29.11.1923. 70 AAWF, AvW-Briefwechsel, Auer von Welsbach an Exner vom 28.11.1917.
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wendung der fraktionierten Kristallisation. Auch wenn er die Verzögerung seines Briefs mit Gichtanfällen entschuldigte, strahlte er noch den Willen aus, die Arbeit trotz aller Schwierigkeiten erfolgreich zu beenden. Die Zukunft beschrieb er mit den Worten : »Das Ac wird Ihnen ebenso wie mir noch viel Mühe machen. Ich bin überzeugt, dass es kein einheitlicher Körper ist und dass wir noch überraschende Ergebnisse erzielen werden.«71 Im Dezember 1917 bedankte sich Meyer abermals für die weitere Zusendung einer Reihe von Präparaten und wartete auf den angekündigten Abschlussbericht zu den Actinium-Forschungen.72 Aber einige Monate später ist in einem »vorläufigen Abschlussbericht« an Exner die Stimmung doch niedergeschlagen : »Das war eine unendlich mühsame Arbeit und in Anbetracht der geringen Ausbeute an Ac so wenig lohnend.«73
Versäumte Chancen bei der Entdeckung des Elements Protactinium ? Das Institut für Radiumforschung und Auer von Welsbach hatten bis 1918 erhebliche Energie in die Anreicherung von Actinium und die Aufklärung der radioaktiven Eigenschaften dieses Elements investiert. Die Entdeckung der lange gesuchten Muttersubstanz des Actiniums, des Protactiniums, im März 1918 blieb aber Hahn und Lise Meitner in Berlin vorbehalten.74 Vergleicht man die Aktivitäten in Berlin und Wien, so kann man schon fast von einem Wettlauf in der Actinium-Forschung sprechen, ohne dass dieser offiziell ausgerufen wurde. Möglicherweise hat Meyer diesen Wettlauf sogar zum eigenen Nachteil beeinflusst. Denn obwohl er in Kontakt mit den Berliner Forschern stand, war er über die Einzelheiten der Forschungsarbeiten von Meitner und Hahn nicht genau informiert. Gleichwohl schickte er nicht nur Pechblende-Rückstände nach Berlin, sondern auch die »stärksten Actinium-Präparate« aus dem Wiener Institut für Radiumforschung.75 Diese Präparate, die mit großer Wahrscheinlichkeit von Auer von Welsbach stammten, dienten den Berlinern zur Messungen der γ- und β-Spektren.76 Um den Zusammenhang mit dem neu entdeckten Element Protactinium herzustellen, sei hier abermals auf die 1914 unter der Federführung von Meyer und unter Verwendung von Actinium-Präparaten aus Kärnten durchgeführte Reichweitebestimmung von α-Strahlen hingewiesen. Dort heißt es, dass unter anderem eine 71 72 73 74 75 76
AAWF, AvW-Briefwechsel, Auer von Welsbach an Meyer vom 20.3.1917. AAWF, AvW-Briefwechsel, Meyer an Auer von Welsbach vom 14.12.1917. AAWF, AvW-Briefwechsel, Auer von Welsbach an Exner vom 28.11.1917. Vgl. Hahn/Meitner 1918, 208–218. Vgl. Meyer 1950, 19. Ebd.
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α-Strahlung mit einer Reichweite von 3,56 Zentimeter beobachtet wurde, die nicht ein- beziehungsweise zuzuordnen sei.77 Genau diese α-Strahlung, die auch Hahn und Meitner identifiziert und genauer untersuchten, führte in Berlin, sicher auch bedingt durch die enge Zusammenarbeit von Hahn und Meitner, zum Mutterelement des Actiniums (Ac227). Auer von Welsbach bemerkte dazu in einem Schreiben an Meyer vom 16. April 1918, in dem er um weitere Informationen zum Protactinium bat : »Schade, dass uns das entgangen ist.«78 Die Bedeutung der erfolgreichen Arbeit von Hahn und Meitner war Auer von Welsbach sicherlich bewusst und seine Reaktion darauf verständlich. Schließlich waren damals von 34 bekannten radioaktiven Elementen nur fünf Elemente im chemischen Sinn neu, nämlich Radium, Actinium, Polonium, Radiumemanation (Radon) und nun das Protactinium.79
Die Nutzung radioaktiver Auer von Welsbach-Präparate durch andere Forscher 1919 überprüften die Physiker Meyer und Hess in einer aufwendigen Untersuchung die bisherige Annahme der Fachwelt, dass das Verhältnis von Uran zu Actinium in natürlichen Erzen konstant sei. In die Untersuchung wurden auch Thorium-Präparate einbezogen, die Auer von Welsbach aus Thorianit, einem Mineral aus Ceylon, hergestellt und die der Chemiker und Spezialist für Atomgewichtsbestimmung, Hönigschmid, anlässlich der Untersuchung des Ionium-Thorium-Isotopengemisches in den Jahren 1914 und 1916 weiter gereinigt hatte. Die Konstanz des Uran-Actinium-Verhältnisses wurde unabhängig von der Herkunft der Erze bestätigt.80 1928 war die Halbwertszeit des Actiniums nach wie vor umstritten. Die Angaben verschiedener Forscher (Marie Curie, Hahn, Meitner und Meyer) schwankten zwischen 14 und 30 Jahren. Das veranlasste Meyer, am Institut für Radiumforschung in Wien unter Verwendung von bis zu 14 Jahre alten Präparaten, unter denen sich auch Auer’sche Actinium-Präparate fanden, abermals eine experimentelle Bestimmung durchzuführen. Er hoffte, durch eine größere Probenzahl zu einem besser abgesicherten Ergebnis zu kommen und kam zu einer Halbwertszeit von »wahrscheinlich« 13,5 Jahren.81 Dieser Wert liegt um circa 30 Prozent unter der heute akzeptierten Halbwertszeit von 21,8 Jahren für Ac227. Das Ergebnis zeigt, dass es einige Jahrzehnte gedauert hat, bis die 77 78 79 80 81
Vgl. Meyer/Hess/Paneth 1914, 1487. AAWF, AvW-Briefwechsel, Auer von Welsbach an Meyer vom 16.4.1918. Vgl. Hahn/Meitner 1918, 216. Vgl. Meyer/Hess 1919, 904–924. Vgl. Meyer 1928, 235–239.
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experimentelle Technik sowohl in der anorganischen Chemie als auch in der Physik ausgereift war. Rückblickend hatten Meitner und Hahn, da sie Spuren der Muttersubstanz des Actiniums – das Protactinium – isolieren konnten, bereits 1918/19 mit ungefähr 20 Jahren den genauesten Wert für die Halbwertszeit des Actiniums ermittelt. Auch viele Jahre später kamen die Präparate Auer von Welsbachs den Wiener Forschungsarbeiten noch zugute : Willibald Jentschke, Friedrich Prankl und Friedrich Hernegger wiesen 1940 durch Beschuss eines Auer’schen Thorium-Ionium-Präparates mit thermischen (langsamen) Neutronen nach, dass der Spaltungsquerschnitt für Ionium größer ist als für das Thorium 232.82 Sie bestätigten damit eine theoretische Prognose, die Niels Bohr und John Archibald Wheeler, ausgehend vom Tröpfchenmodell für Atomkerne, abgeleitet hatten. Die Physikerin Berta Karlik nutzte noch 1944 bei ihren Experimenten zum Nachweis des Elements Astat (Element 85) in der Natur die im Institut für Radiumforschung vorhandenen Actinium-Präparate Auer von Welsbachs.83
Auer von Welsbachs internationales Netzwerk zur Bereitstellung radioaktiver Präparate und Seltener Erden Auer von Welsbachs Netzwerk ging weit über die Habsburgermonarchie hinaus. Als Experimentalchemiker, der Physikern und Chemikern in ganz Europa kostenlos seine Präparate zur Verfügung stellte, leistete er einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Entwicklung der frühen Quantentheorie. An Präparaten der Seltenerdelemente, die Auer von Welsbach in seinem Labor in Kärnten hergestellt hatte, konnte die neue Theorie unter Einsatz der Röntgenspektroskopie getestet werden. 1923 entdeckten Georg von Hevesy und Dirk Coster in Kopenhagen das lang gesuchte Element Hafnium in einem Zirkonmineral, nachdem sie unter anderem auch einige Auer von Welsbach-Zirkon-Präparate eingehend röntgenspektrografisch untersucht hatten. Hevesy besuchte Auer von Welsbach 1923 zu diesem Zweck in Kärnten sogar persönlich auf.84 Bohr, dem die Bedeutung dieser Präparate wohl bewusst war, dankte dem Kärntner Chemiker überschwänglich. Auch die Cambridger Physiker Ernest Rutherford und Francis William Aston, der den Massenspektrografen, von der Apparatur des englischen Physikers Joseph John Thomson ausgehend, 1919 zur Einsatzreife brachte, wurden, teils auf Umwegen über die dänische Botschaft und Kopenhagen, von Auer 82 Vgl. Jentschke/Prankl/Hernegger 1942, 147–157. 83 Vgl. Karlik 1944, 52–73 ; Kästner 2001, 50. 84 AAWF, AvW-Briefwechsel, Hevesy an Auer von Welsbach vom 23.4.1913.
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von Welsbach mit Präparaten versorgt.85 Insgesamt verschickte er rund 500 Präparate an Forscher in ganz Europa.86 Das Netzwerk, das Auer von Welsbach allein durch den Versand seiner Präparate aufgebaut hatte, verdeutlicht Abbildung 3.
Carl Auer von Welsbach – eine aussergewöhnliche Forscher- und Unternehmerpersönlichkeit Auer von Welsbach war ein Gelehrter, der sich durch seinen Ideenreichtum und seine Kooperations- und Risikobereitschaft als Wissenschaftler wie auch als Unternehmer gleichermaßen auszeichnete. Innovationen und nicht das bloße Nachahmen von Erfindungen ermöglichte ihm eine gewinnbringende Produktion.87 Seine Erfolge als Unternehmer mit dem weltweiten Absatz des Gasglühlichts, der Osmium-Lampe und des
85 Vgl. AAWF, AvW-Briefwechsel, Bohr an Auer von Welsbach vom 13.5.1923 ; Rutherford an Auer von Welsbach vom 9.5.1924 ; Aston an Auer von Welsbach vom 8.4.1924 ; Auer von Welsbach an Rutherford vom 7.7.1924. 86 Eingeschlossen sind hier nicht die Briefwechsel mit den Forschern. Der Versand bestand in der Regel aus mehreren Präparaten. Der Versand nach Cambridge (z.B. an Rutherford und Aston) verlief zum Teil über die Dänische Botschaft in Wien nach Kopenhagen, teils auch durch Mitnahme von Reisenden (Georg von Hevesy) nach Cambridge. Vgl. AAWF, Versandlisten und AvW-Europakarte im Auer von WelsbachMuseum, vgl. Löffler 2008, Abb. 2, 890. 87 Vgl. Danzer 1972, 8.
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Zündsteins waren keine glücklichen Zufälle, sondern das Glück des Tüchtigen. Alle Projekte hätten auch scheitern können, wenn Auer von Welsbach neben seinem Geschick als Erfinder und Forscher nicht das Gespür dafür gehabt hätte, fähige Personen in seinen Unternehmen einzusetzen und ihnen Verantwortung zu übertragen. Die Unternehmen um Auer von Welsbach – namentlich die Österreichische Gasglühlichtund Elektrizitätsgesellschaft, die Deutsche Auergesellschaft Berlin88 und die TCW – waren vertraglich auf das Engste miteinander verbunden. Dieses vielseitige unternehmerische Beziehungsgeflecht gründete sich auf den Austausch von Patenten und Rohstoffen, aber auch auf die gemeinschaftliche Inanspruchnahme qualifizierter Mitarbeiter. Als Forscher entdeckte Auer von Welsbach vier Elemente der Seltenerdelemente. Die dabei gemachten Erfahrungen und nicht zuletzt auch die Bereitschaft, bei der mühsamen Durchführung der fraktionierten Kristallisation zur Anreicherung dieser Elemente und bei der Interpretation ihrer Spektren bis ins kleinste Detail zu gehen, prädestinierten ihn darüber hinaus sehr früh dafür, sich der Radioaktivitätsforschung zuzuwenden. Auer von Welsbach hat sich persönlich ab 1907/08 in seinem Privatlabor in Kärnten intensiv der Erforschung des Thorium-Ioniums und des Actiniums gewidmet. Spektakuläre Entdeckungen wie das Element Protactinium sind ihm dabei versagt geblieben. Doch die Darstellung für die damalige Zeit hochreiner Präparate trug dazu bei, dass insbesondere die Forscher am Wiener Institut für Radiumforschung wichtige Beiträge zur Aufklärung der radioaktiven Zerfallsreihen leisten konnten. Die Auer’schen Präparate dienten in Wien und anderswo bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs dazu, quantentheoretische Modellannahmen zu verifizieren und neue natürliche Elemente zu entdecken.
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Zertrümmerung : Marietta Blau in Wien Ruth Lewin Sime, Sacramento
Marietta Blau war eine herausragende Physikerin, deren Leben und wissenschaftliche Leistungen eng mit den Institutionen und politischen Voraussetzungen in ihrer Geburtsstadt Wien verbunden waren. Von 1923 bis 1938 arbeitete sie am Institut für Radiumforschung, wo sie beim Einsatz von fotografischen bildgebenden Verfahren für nukleare Prozesse Pionierarbeit leistete und 1937 zusammen mit Hertha Wambacher in fotografischen Emulsionen »Zertrümmerungssterne« entdeckte. Mit dieser Entdeckung setzte die moderne Teilchenphysik ein ; Blau selbst aber konnte sich an der Entwicklung dieses Forschungsgebiets nicht beteiligen. Nachdem sie 1938 zur Emigration gezwungen war, wurde sie lange Jahre wissenschaftlich marginalisiert. Ihre Beiträge wurden von ihren ehemaligen Kollegen und Kolleginnen in Wien unterdrückt und im Laufe der Zeit auch von der weiteren wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht mehr anerkannt. Zum Zeitpunkt ihres Todes im Jahre 1970 waren Blau und ihre Arbeit nahezu vollständig in Vergessenheit geraten. Dies begann sich in den späten 1980er-Jahren zu ändern. Unter den Ersten, die auf sie aufmerksam wurden, waren Wolfgang Reiter, der die Beiträge Blaus in seiner Studie über die Auswanderung aus dem Institut für Radiumforschung beschrieb,1 und Leopold Halpern, ein theoretischer Physiker, der ausführlich über Blaus Arbeit und ihre Marginalisierung im Wien der Nachkriegszeit schrieb.2 Brigitte Bischof nahm Beiträge über Blau und die Frauen am Institut für Radiumforschung in ihren Sammelband auf3 und Maria Rentetzi stellte Blaus Lebensweg in ihrer Geschlechtergeschichte der Zwischenkriegszeit in Wien heraus.4 In seiner Studie über die materielle Kultur der Mikrophysik konzentrierte sich Peter Galison auf Blaus Beiträge zu nuklearen bildgebenden Verfahren,5 und schließlich erschien 2003 ein umfangreicher biografischer, von Robert Rosner und Brigitte Strohmaier herausgegebener Sammelband über Blau.6
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Vgl. Reiter 1988b, 709–729. Vgl. Halpern 1992 ; ders. 1993, 57–64 ; ders. 1997, 196–204 ; Halpern/Shapiro 2006, 109–126. Bischof 1998b ; Bischof 2004, 91–116. Rentetzi 2008. Galison 1997a, Kap. 3 ; ders. 1997b, 42–48 ; ders. 1998, 81–84. Vgl. Rosner/Strohmaier 2003a.
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Ruth Lewin Sime
Im Folgenden verwende ich diese Literatur sowie neue Quellen, um Blaus wissenschaftliche Forschung in Wien zu skizzieren und die Folgen ihrer erzwungenen Emigration zu untersuchen. Dabei gehe ich insbesondere auf das Verhalten ihrer ehemaligen Kollegen und Kolleginnen, die Enteignung und das ›Vergessen‹ in der Nachkriegszeit sowie auf die Fehlentscheidungen ein, die dazu führten, dass Blau den Nobelpreis nicht bekam.
Die frühen Jahre Marietta Blau wurde 1894 in einer gebildeten, nicht religiösen und politisch liberalen jüdischen Familie geboren, als drittes Kind und einzige Tochter von Markus (Mayer) und Florentine (Goldenzweig) Blau. Zwar wurden Frauen an österreichischen Universitäten erst im Jahre 1897 zugelassen, aber als Blau das schulpflichtige Alter erreichte, hatte sich die Frauen- und Mädchenbildung bereits einigermaßen normalisiert. Blau besuchte ein Mädchengymnasium und trat im November 1914 in die Universität Wien ein. 1919 schloss sie ihre Doktorarbeit, eine Studie über die Absorption divergenter γ-Strahlung, unter Franz Serafin Exner ab ; Stefan Meyer gehörte dem Ausschuss an, der ihre Dissertation annahm.7 Damit war sie fest in der Wiener Forschungstradition zu Radioaktivität und Atomwissenschaft verankert. Exner und Meyer hatten die Radioaktivitätsforschung in Wien initiiert und Meyer war auf diesem Gebiet einer der prominentesten Wissenschaftler gewesen. Im Jahre 1910 wurde unter ihrer Leitung das Institut für Radiumforschung, das erste seiner Art weltweit, gegründet.8 Beide förderten weibliche Studierende von Anfang an. Vermutlich wusste Blau, dass beispielsweise die Wienerin Lise Meitner, die damals als Physikerin in Berlin erfolgreich war, ebenfalls bei Exner promoviert hatte und von Meyer, mit dem sie eng befreundet blieb, in die Radioaktivität eingeführt worden war. In den nächsten zwei Jahren arbeitete Blau als Wissenschaftlerin für einen Hersteller von Röntgenröhren in Berlin, anschließend als Assistentin an der Universität Frankfurt am Main. Hier unterrichtete sie Medizinstudenten und -studentinnen in radiologischen Techniken und veröffentlichte zwei Arbeiten über die Wirkung von sichtbarem Licht und Röntgenstrahlung auf fotografische Emulsionen. Diese Forschung führte sie in das Grenzgebiet zwischen Physik und Fotografie und machte sie mit den Verfahren zur Her-
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Eine Liste von Blaus Publikationen enthält Rosner/Strohmaier 2003a, 210–215 ; vgl. auch Bischof 2004, 92–93. Vgl. Karlik/Schmid 1982, 89–95 ; Reiter 2001a, 106–127.
Zertrümmerung : Marietta Blau in Wien
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stellung fotografischer Bilder vertraut.9 Obwohl ihre Karriere in Deutschland recht vielversprechend war, kehrte Blau 1923, als ihre Mutter krank wurde, nach Wien zurück.
Am Institut für Radiumforschung Von 1923 bis 1938 war das Institut für Radiumforschung Blaus berufliche und kollegiale Basis. Seit seiner Gründung beherbergte das Institut eine ungewöhnlich große Zahl von Frauen. Während der Zwischenkriegszeit stellten Frauen fast ein Drittel des wissenschaftlichen Personals und hatten einen ebenso hohen Anteil an den Veröffentlichungen des Instituts, ein Zeichen dafür, dass die Frauen den Männern nicht untergeordnet waren, sondern sich wissenschaftlich auf Augenhöhe mit ihnen bewegten.10 Es ist oft bemerkt worden, dass es in der Radioaktivitätsforschung insgesamt eine relativ hohe Konzentration von Frauen gab ; offenbar wurden sie von diesem Forschungsfeld besonders angezogen. Diese Tatsache wurde dem Vorbild Marie Curies in Paris zugeschrieben, im Fall des Wiener Instituts für Radiumforschung außerdem der außergewöhnlichen Atmosphäre, die Meyer schuf. Es gab in den 1920er-Jahren in Europa eine »unsichtbare Hochschule« von Frauen aus der Radioaktivitätsforschung und Kernphysik, die sich in Paris oder Wien kennengelernt hatten und ihr Leben lang berufliche und persönliche Kontakte aufrechterhielten. Sie reichten von Ellen Gleditsch, einer Chemieprofessorin in Oslo, über Forscherinnen an der Spitze der Atomphysik, wie Blau und ihre Kolleginnen in Wien, bis zu Frauen in eher normalen wissenschaftlichen Positionen in ganz Europa.11 Als vollbeschäftigte wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Radiumforschung führte Blau ihr eigenes Forschungsprogramm durch und beaufsichtigte die Forschung einer Reihe von Doktoranden, darunter fünf Frauen. Wie die meisten anderen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Institut hatte Blau keine bezahlte Anstellung.12 Sie erhielt finanzielle Unterstützung von ihrer Familie, sie unterrichtete, bekam Stipendien, war für die Industrie beratend tätig und erhielt befristete, aber entlohnte Arbeitsaufträge an anderen Instituten. Es scheint, als hätten sich in den 1930er-Jahren, als der Antisemitismus in Österreich immer offener zutage trat,
9 Vgl. Galison 1997a, 148–149. 10 Vgl. Bischof 1998b ; Bischof 2004, Kap IV ; Rentetzi 2001, 9–12 ; dies. 2004, 359–393 ; dies. 2008, Kap. 4 ; Rosner/Strohmaier 2003b, 21–89, hier 27–28. Zum Einfluss Meyers auf das Geschlechterverhältnis vgl. auch Zelger 2008. 11 Vgl. Rayner-Canham/Rayner-Canham 1997c, 12–28, hier 25–27 ; Rentetzi 2008, Kap. 3. 12 Galison 1997a, 148 ; Rosner/Strohmaier 2003b, 27 ; Zegler 2008, 31, 63–74.
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ihre wissenschaftlichen Aufstiegschancen verringert.13 Als Blau sich nach den Voraussetzungen für ein Habilitationsverfahren erkundigte, wurde ihr gesagt, »Frau und Jüdin, das ist zuviel«.14 Das Zitat mag zweifelhafter Herkunft sein ; Tatsache ist jedoch, dass sich Blau nicht habilitierte, obgleich zwei nichtjüdische Physikerinnen dies sehr wohl taten : Franziska Seidl 1933 und Berta Karlik im Jahre 1937.15
Die Cambridge-Wien-Kontroverse Bald nachdem Blau an das Institut für Radiumforschung kam, fing sie an mit fotografischen Methoden zu arbeiten, um Spuren von geladenen Teilchen, insbesondere von schnellen Protonen, nachweisen zu können. Die Untersuchung war mit einem spannenden neuen Gebiet der Kernphysik verbunden : künstlichen Kernreaktionen, bei denen ein α-Teilchen auf einen Zielkern trifft, einen neuen Kern hervorbringt und in diesem Prozess ein energetisches Proton emittiert. Ernest Rutherford hatte 1919 die erste »künstliche Zertrümmerung« entdeckt und 1923 stellten Hans Pettersson und Gerhard Kirsch in Wien ähnliche Versuche an. Sie berichteten über den Zerfall von wesentlich mehr Zielkernen, als er von Rutherford und seiner Gruppe in Cambridge beobachtet worden war. Pettersson, ein charismatischer junger Schwede, war sich sicher, dass die Methoden, Ergebnisse und theoretischen Interpretationen in Wien denen in Cambridge überlegen waren, und es entspann sich ein hartnäckiger Streit um die Szintillationsmethode, die in beiden Labors für den Nachweis der emittierten Protonen verwendet wurde. Um die Ergebnisse zu verifizieren, sahen sich die Physiker nach alternativen Detektoren um − darunter Wilson’sche Nebelkammern und elektrische Schalter −, und Pettersson bat Blau, fotografische Methoden zu erforschen. 1925 veröffentlichte sie ihre ersten beiden Berichte über die fotografischen Emulsionen. Um die Kontroverse zwischen Cambridge und Wien zu bereinigen, kam James Chadwick aus der Rutherford-Gruppe 1927 nach Wien und bewies, dass die Protonenmessungen in Wien offenbar seit Jahren nach oben verzerrt worden waren.16 Das Ansehen des Instituts für Radiumforschung und vor allem Petterssons Ruf wurden 13 Zum Antisemitismus an österreichischen Universitäten vgl. Reiter 1988a, 664–680 und Broda 1988, 681–692 ; vgl. auch Reiter 2001a, 260–268. Zu den Auswirkungen von Antisemitismus und Geschlechterdiskriminierung auf die Karrieren von Physikerinnen in Wien vgl. Bischof 2006. 14 Reiter schreibt das Zitat Gustav Jäger zu, vgl. ders. 1988b, 728, Fn. 33. Hervorhebung im Original. Vgl. auch Halpern 1997, 197. 15 Vgl. »Franziska Seidl«, »Berta Karlik« und »Hertha Wambacher«, in Bischof 1998b. 16 Stuewer 1985, 239–307 ; Hughes 1993, Kapitel 3 und 4. Ich danke Jeffrey Hughes, der mir diese Kapitel zur Verfügung gestellt hat. Zur Institutionenkultur in Wien vgl. Rentetzi 2008, Kap. 5.
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durch das Ergebnis nachhaltig beschädigt. Dies führte unmittelbar auch zum Niedergang der Szintillationsmethode, da die Kernphysiker und -physikerinnen nun überall nach zuverlässigeren Möglichkeiten suchten, Protonen und andere schwer geladene Teilchen zu ermitteln. Obwohl statistische Methoden, mit denen eine große Zahl von nuklearen Ereignissen aufgezeichnet werden konnte, noch immer unerlässlich waren – Szintillationsbildschirme sollten bald durch Geigerzähler ersetzt werden –, hatte die Kontroverse über künstliche Zertrümmerungen gezeigt, dass es einen Bedarf an bildgebenden Verfahren gab. Bilder von einzelnen nuklearen Ereignissen sollten durch Wilson’sche Nebelkammern oder direkt auf den Film aufgenommen werden können.
Physik der Emulsionen und Zertrümmerungssterne Die Methode, Teilchenspuren auf Film festzuhalten, versprach reproduzierbar und objektiv zu sein, aber die ersten Emulsionen waren unzuverlässig und instabil. Blau arbeitete an der Schwelle von Atomphysik und fotografischer Abbildung, indem sie schnelle Protonenquellen bekannter Energie vorbereitete und ihr Verhalten in Emulsionen erforschte. Sie untersuchte Emulsionen mit unterschiedlicher Empfindlichkeit sowohl für sichtbares Licht als auch für α-, β- und γ-Strahlung, und es gelang ihr, zwischen den Spuren von α-Teilchen, schnellen Protonen und Hintergrundereignissen zu unterscheiden. 1927 zeichnete sie rund 10.000 Protonenspuren auf, entdeckte die quantitative Übereinstimmung zwischen Zählungen mit feinkörnigen Emulsionen und der Ionisierungskammer, und es gelang ihr, Protonenenergien durch Messung der Abstände zwischen den belichteten Körnern in ihren Bahnen zu bestimmen. Um die langen Bahnen von schnellen Protonen genauer aufzeichnen zu können, gewann sie Ilford, den britischen Filmgiganten dafür, die Emulsion auf seinen kommerziellen Filmen zu verdicken, und sie experimentierte mit jedem anderen Emulsionsparameter – Korngröße, latenten Bildern und Entwicklungsbedingungen, einschließlich der chemischen Mittel zur Desensibilisierung, die die Sichtbarkeit von α-Teilchen und schnellen Protonenbahnen durch eine Verringerung der Empfänglichkeit der Emulsion für andere Ereignisse verbessern.17 Von 1932 bis 1938 arbeitete Blau mit einer ihrer ehemaligen Studentinnen, Hertha Wambacher, zusammen. Nach der Entdeckung des Neutrons durch Chadwick im Jahre 1932 gelang es ihnen, Neutronenenergien aus den Bahnen zu bestimmen, die Rückstoßprotonen in den wasserstoffreichen Emulsionen auslösten. Für diese und 17 Vgl. Schönfeld 2003, 111–141 ; Rosner/Strohmaier 2003b, 34–39 ; Galison 1997a, 149–154 ; Zegler 2008, 56–57.
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andere Experimente mit nuklearen Prozessen wurden sie 1937 mit Österreichs prestigeträchtigstem Vorkriegspreis, dem Ignaz L. Lieben-Preis, ausgezeichnet.18 Blau schrieb später : »Es gelang uns schließlich, die besten Bedingungen für die damals zur Verfügung stehenden Emulsionen auszuarbeiten und die Methode reproduzierbar und innerhalb gewisser Grenzen quantitativ zu gestalten.«19 Nachdem sie zuverlässige Emulsionen gefunden hatten, mit denen die Spuren schwerer, hochenergetischer Teilchen quantitativ erfasst werden konnten, begannen Blau und Wambacher mit einer Studie zur kosmischen Strahlung. Kosmische Strahlen waren 1912 von Victor F. Hess entdeckt worden, der damals Assistent Meyers am Institut für Radiumforschung war. Er begab sich allein mit einem Elektroskop auf gewagte Ballonfahrten, um bis zu einer Höhe von fünf Kilometern ionisierende Strahlung zu messen.20 Später wurde festgestellt, dass die kosmische Strahlung aus schweren Teilchen von sehr hoher Energie besteht, hauptsächlich Protonen. In einigen wenigen Fällen waren durch Zufall extraterrestrische Protonen in Ionisierungskammern und Wilson’schen Nebelkammern entdeckt worden, aber Blau und Wambacher begriffen, dass Emulsionen mit ihren langen Belichtungszeiten für die Aufnahme solch seltener Vorkommnisse von großem Vorteil waren. Die Erforschung kosmischer Strahlung war in den 1930er-Jahren ein produktives Feld und Hess unterhielt auf dem Hafelekar, einem Berg in der Nähe von Innsbruck, auf einer Höhe von 2.300 Metern eine Forschungsstation. Zur Erfassung der langen Bahnen von energiereichen Protonen verwendeten Blau und Wambacher außergewöhnlich dicke Emulsionen, die Ilford erstmals 1936 zur Verfügung stellte. Anfang 1937 installierten sie einen vertikalen Stapel Platten an der Station Hafelekar und setzten sie vier Monate lang der Strahlung aus. Wie erwartet fanden sie viele Spuren der kosmischen Protonen, aber es gab auch eine erstaunliche Entdeckung : elf »Sterne« mit jeweils mehreren starken Bahnen, die strahlenförmig von einem Punkt ausgingen. Sie konnten sich nur durch hochenergetische Teilchen der kosmischen Strahlung gebildet haben, welche die schweren Kerne (wie zum Beispiel Silber oder Brom) in der Emulsion explosionsartig zertrümmert hatten. Dergleichen
18 Vgl. Soukop 2004, 314–321. Der hochangesehene Ignaz L. Lieben-Preis, den die Österreichische Akademie der Wissenschaften verwaltete, wurde von 1865 bis 1937 vergeben ; aufgrund der Verfolgung der Familie Lieben durch die Nationalsozialisten musste er nach dem »Anschluss« eingestellt werden. Seit 2004 konnte der Preis durch die finanzielle Förderung von Alfred Bader, einem jüdischen Emigranten, der 1938 aus Wien floh, als jährlich verliehene Auszeichnung erneut ausgelobt werden. Persönliche Mitteilung von Alfred Bader am 5.6.2006. 19 Dr. Marietta Blau, geb. 1894 in Wien, Autobiographische Skizze Marietta Blaus. Ich danke Leopold Halpern, Tallahassee, für eine Kopie dieses Materials. 20 Vgl. dazu den Beitrag von Vanessa Cirkel-Bartelt in diesem Band.
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hatte man zuvor noch nie gesehen. Blau und Wambacher schickten am 25. August 1937 eine Mitteilung an Nature und begannen anschließend, einen umfassenden Bericht zu schreiben.21 Die Aufregung war außerordentlich und es gingen unaufhörlich Anfragen von Physikern aus der ganzen Welt ein. Blau und Wambacher bereiteten rasch Platten für neue Experimente auf dem Hafelekar vor, und im September begann sich Blau mit dem Radiochemiker Fritz Paneth, einem Emigranten am Imperial College in London, darüber auszutauschen, fotografische Platten beim Aufstieg von Stratosphärenballons anzubringen.22 Pettersson war 1929 nach Schweden zurückgekehrt und hatte eine Stelle am Ozeanographischen Institut in Göteborg übernommen. Er unterhielt jedoch weiterhin enge berufliche und persönliche Beziehungen zum Institut für Radiumforschung. Da er wusste, dass dort viele Frauen, darunter Blau, in einer unsicheren finanziellen Lage waren, erwies sich Pettersson stets als hilfreich, indem er während des Sommers bezahlte Forschungsaufenthalte in seinem Institut arrangierte, Beratertätigkeiten mit der Industrie aushandelte und Geld für Stipendien und Beihilfen auftrieb.23 Er und Berta Karlik unterhielten einen regen Briefwechsel. Sie teilte ihm Ende des Jahres 1937 die letzten Neuigkeiten über Blaus und Wambachers Entdeckung der Zertrümmerungssterne mit. »I don’t know […] if you realize of what first rate importance the phenomenon is for the present state of the whole field of nuclear physics. The theoreticians are quite excited about it, [Werner] Heisenberg takes personally the most vivid interest in it and is in continual correspondence with Blau and Wambacher. […] Sir [C.V.] Raman was quite wild about it and took plates to India.«24
21 Berta Karlik übersetzte ihre Mitteilung für Nature ins Englische, vgl. Göteborgs Universitetsbibliotek, ab sofort: GUB, Hans Pettersson Vetenskapling korrespondens, Karlik an Pettersson vom 23.8.1937; Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, FE-Akten, Institut für Radiumforschung, Nachlass Stefan Meyer, ab sofort: AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 14, Fiche 235, Karlik an Meyer vom 24.8.1937. 22 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Fiche 175, Blau an Meyer vom 8.9.1937; Archiv der MaxPlanck-Gesellschaft, ab sofort: AMPG, Nachlass Friedrich Adolf Paneth, Abt. III/Rep. 45/17, Bl. 77. 23 1929 erkundigte sich Pettersson nach einer Besoldung für Elisabeth Kara-Michailova und schlug vor, für Blau 1.200 schwedische Kronen zur Verfügung zu stellen, vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 281, Pettersson an Meyer vom 11.12.1929. 1933 beauftragte Pettersson Blau mit einer Analyse von Bodenproben, vgl. GUB, Hans Pettersson Vetenskaplig korrespondens, Blau an Pettersson vom 25.9.1933. 1936 setzte Pettersson sich für ein Arrangement ein, das Blau ermöglichen sollte, während einer einjährigen Zusammenarbeit mit Ilford ein schwedisches Gehalt zu beziehen, AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 284, Pettersson an Meyer vom 29.4.1936; GUB, Hans Pettersson Vetenskaplig korrespondens, Karlik an Pettersson vom 11.5.1936. 24 GUB, Hans Pettersson Vetenskaplig korrespondens, Karlik an Pettersson vom 30.12.1937.
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Für Physiker und Physikerinnen war die Entdeckung der Zertrümmerungssterne ein »golden event«, das ganz neue Perspektiven eröffnete, sowohl für die Erforschung der kosmischen Strahlung als auch für die experimentelle und theoretische Kernphysik. Am wichtigsten war der Synergieeffekt zwischen Entdeckung und Methode, denn indem sich erwies, dass die Emulsionen so weit gediehen waren, hochenergetische nukleare Ereignisse zuverlässig aufzuzeichnen, brachte die Entdeckung das Gebiet der Teilchenphysik voran.
»Between Nazis and Nuclei«25 Gerade zu dieser Zeit entstanden für Blau plötzlich große Probleme. Sie kamen nicht aus der Wissenschaft, sondern von ihren nationalsozialistischen Kollegen und Kolleginnen. Gerhard Kirsch, Gustav Ortner und Georg Stetter, drei langjährige Mitarbeiter am Institut, traten in den frühen 1930er-Jahren den Parteiorganisationen bei. Wambacher beantragte die Mitgliedschaft in der NSDAP im Jahr 1934.26 Obwohl die NSDAP seit 1934 in Österreich verboten war, war das Institut für Radiumforschung vollkommen von ihr durchdrungen. Hess, der 1938 aus politischen Gründen emigrierte, erinnerte sich später mit Bitterkeit an das »Verbrechertrio Stetter-KirschOrtner«27 und nannte Stetter und Kirsch »Erznazis«.28 Für Blau muss die Situation im Alltag sehr angespannt gewesen sein, da nicht nur ihre Mitarbeiterin eine glühende Nationalsozialistin war. Sie musste zudem häufig mit Stetter und Ortner kommunizieren, die in einem eng verwandten Bereich mit elektronischen Mitteln an der Bestimmung der Energie nuklearer Teilchen arbeiteten.29 Im Jahre 1937 griffen sie Blau direkt an. So schrieb Karlik im Dezember an Pettersson : »And now, all of a sudden a bomb has exploded : while the two [Blau and Wambacher, R.S.] were getting a publication ready, Stetter asked Blau to have a talk with him and told her that he thought she was treating Wambacher in an unfair way, that she (W.) had found the first ›star‹ (it was a mere question of who was the first to look into the mikroskop [sic] ; all the preparations, not to speak of Fr. Dr. Blau’s systematic researches for years, had been made
25 26 27 28 29
Nach Galison 1997a, 146 und Galison 1997b, 42–48. Galison 1997a, 153, 157, 158 ; Rosner/Strohmaier 2003b, 42–43. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 210, Hess an Meyer vom 10.12.1947. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 210, Hess an Meyer vom 22.1.1948. Galison 1997a, 153.
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jointly !) ; that he expected her to change the alphabetic order of the names on the publication and to sign W. and B.«30
Blaus Kollegen waren empört und besorgt. Sie wussten, dass Blau eher sensibel, überaus bescheiden und äußerst gewissenhaft war und dass »the worst thing you can do to Fr. Dr. Blau [is] to tell her she is unfair to anybody«.31 Es war bekannt, dass Stetter eine außereheliche Beziehung zu Wambacher unterhielt, aber Karlik und Pettersson waren beide überzeugt, dass Stetters primärer Beweggrund Rassismus war. Pettersson schlug ein »Gedankenexperiment« vor : »Gesetzt dass es Frau Dr. Blau die Arierin gewesen wäre und Frau Dr. Wambacher die Nichtarierin, hätte der Stetter sich dann um die Reihenfolge ihrer Namen gekümmert ? Für ihn wie für so vielen ist es ein Axiom nein ein Dogma dass Nicht-Arier der Originalitet oder gar einer Entdeckung [nicht] fähig seien.«32
Pettersson hoffte, dass Blau Stetters Forderung nicht nachgeben würde. »[Im] schlimmste[n] Falle muss jemand Frau Dr. Blau sagen dass es ihr nicht ansteht, jetzt fahnenflüchtig zu werden.«33 Er meinte »H[ertha]W[ambacher] ist ein Schaf oder etwas viel schlimmeres falls sie nicht die Sache säubert«.34 Blau gab nicht nach, und die Reihenfolge der Autorinnennamen des am 16. Dezember 1937 eingereichten Artikels blieb alphabetisch.35 Gleichzeitig fingen Karlik, Pettersson und andere Kollegen und Kolleginnen an, für Blau nach einer Möglichkeit zu suchen, Wien für ein paar Monate zu verlassen – als eine Art »Luftloch«,36 bis sich die Dinge beruhigt hätten. Ellen Gleditsch hatte den Sommer 1937 mit Arbeiten am Institut für Radiumforschung verbracht. Als sie von Blaus Schwierigkeiten erfuhr, lud sie diese ein, das Frühjahrssemester in ihrem Institut in Oslo zu verbringen. Später schrieb Gleditsch : »I can tell you that Dr. Blau has been abominably treated by the Nazis and among them Dr. W[ambacher]. It was in fact the difficulties with Dr. W. that in January [1938] made me ask
30 GUB, Hans Pettersson Vetenskaplig korrespondens, Karlik an Pettersson vom 30.12.1937. 31 Ebd. 32 GUB, Hans Pettersson Vetenskaplig korrespondens, Pettersson an Karlik vom 3.1.1938 (fälschlicherweise auf 1937 datiert). Orthographie und Grammatik wie im Original. 33 GUB, Hans Pettersson Vetenskaplig korrespondens, Karlik an Pettersson vom 8.1.1938. 34 GUB, Hans Pettersson Vetenskaplig korrespondens, Pettersson an Karlik vom 10.1.1938. Hervorhebung im Original. 35 Wiedergegeben in Rosner/Strohmaier 2003a, 197–209. 36 GUB, Hans Pettersson Vetenskaplig korrespondens, Pettersson an Karlik vom 10.1.1938.
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Dr. Blau to work here for some time. I had heard about them, not from Dr. Blau herself, but from other workers in the laboratory. And the future has fully proved that Dr. W. works against Dr. Blau.«37
Anscheinend ging auch eine Nachricht nach Princeton, wo Einstein begann, sich für eine Planstelle für Blau in Mexiko einzusetzen. Er hatte gehört, dass sie »trotz aller Schätzung der Fachkollegen aus den bekannten politischen Gründen als Jüdin fortgegrault wird«.38 All dies geschah vor dem »Anschluss«. Enteignung Am 12. März 1938 verließ Blau Wien, um nach Oslo zu fahren ; aus dem Zug konnte sie sehen, wie deutsche Truppen über die Grenze nach Österreich eindrangen. Unterwegs hielt sie am Niels-Bohr-Institut in Kopenhagen einen Vortrag. Dies hatte Pettersson empfohlen, um der »Legendenbildung« der Wiener gegen sie zuvorzukommen.39 Als sie in Oslo ankam, war sie, wie sie Paneth schrieb, »ganz verzweifelt«, weil sie begriff, dass sie zum »Flüchtling« geworden war und nicht nach Wien zurückkehren konnte, um ihre Mutter herauszuholen. Sie hörte jedoch nicht auf zu arbeiten : Im selben Brief erörterte sie im Detail die Anforderungen an die fotografischen Platten, die sie bei einem Aufstieg der Paneth’schen Stratosphärenballons einzusetzen plante.40 Aus dem Institut für Radiumforschung waren die jüdischen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen inzwischen vertrieben worden, insgesamt ein Viertel des Personals, einschließlich Meyer und des stellvertretenden Direktors Karl Przibram.41 Die Nazis waren natürlich geblieben : Ortner als Direktor des Instituts für Radiumforschung, Stetter als Leiter des II. Physikalischen Instituts der Universität,42 Wambacher als besoldete 37 AMPG, Nachlass Friedrich Adolf Paneth, Abt. III, Rep. 45/39, Gleditsch an Paneth vom 15.11.1938. 38 Galison 1997a, 155 ; Einstein an Gustav Bucky vom 14.2.1938, zit. n. Rosner/Strohmaier 2003b, 39–41, 84 Fn. 52 und 53. 39 GUB, Hans Pettersson Vetenskaplig korrespondens, Pettersson an Karlik vom 17.2.1938 ; AÖAW, FEAkten, IR, K 39, Blau an Karlik vom 15.3.1938. 40 AMPG, NL Paneth, Abt. III, Rep. 45/17, Blau an Paneth vom 21.3.1938 ; vgl. auch Rosner/Strohmaier 2003b, 42–43. 41 Reiter 1988a, 667–668. Die Universität Wien verlor 32 Prozent ihrer Professoren und Dozenten in Physik ; der Prozentsatz lag in anderen Wissenschaften höher, insgesamt waren es 36 Prozent (97 Mitglieder) der Philosophischen Fakultät. Davon emigrierten 37 Personen, von denen acht zurückkehrten. Das Institut für Radiumforschung verlor 25 Prozent seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen (elf Personen, vgl. 670). Reiter zufolge waren es »jene, die das Profil des Radiuminstituts durch ihre wissenschaftlichen Leistungen geprägt hatten«. Vgl. auch Reiter 2006 ; für die Analyse von Statistiken über entlassene und emigrierte Physikerinnen vgl. auch Bischof 2006. 42 Reiter 1988a, 672 ; Reiter 1988b, 711–716 ; Galison 1997a, 159 ; Rosner/Strohmaier 2003b, 50–51.
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Hochschulassistentin von Stetter und Kirsch.43 Es gibt keinerlei Beleg dafür, dass Blau je wieder ein Wort mit Wambacher gewechselt hätte, seit sie Wien verlassen hatte.44 Wambacher veröffentlichte einige Zeit später in jenem Jahr ihren ersten selbstständigen Artikel über Zertrümmerungssterne. Sie führte nicht an, dass die Daten aus Experimenten stammten, die in Zusammenarbeit mit Blau begonnen worden waren ; tatsächlich zitierte sie Blau kaum. Da sie dem Artikel offenbar eine stärkere nationalsozialistische Aura verleihen wollte, hielt sie am Ende fest, dass ein gewisser Eduard Steinke darauf hingewiesen habe, Emulsionen seien für die Beobachtung des Kernzerfalls nützlich.45 Dies war wissenschaftlich gesehen bedeutungslos, da die Vorteile von Emulsionen zur Detektion seltener nuklearer Ereignisse für jeden, vor allem für Blau und Wambacher, seit Jahren auf der Hand lagen − das Problem bestand lange Zeit darin, verlässliche Emulsionen zu bekommen.46 Politisch diente diese Äußerung allerdings Wambachers Absicht, Steinke einzubeziehen, einen Professor in Freiburg, der in wissenschaftlichen Kreisen einschließlich der Deutschen Physikalischen Gesellschaft als Nationalsozialist bekannt war.47 Obwohl nicht ersichtlich ist, dass Steinke von Wambacher je wieder öffentlich erwähnt wurde, sollte dieser eine Fall zwölf Jahre später bei den Beratungen zum Nobelpreis eine Rolle spielen. Blaus Freunde außerhalb Österreichs waren alarmiert. Im November 1938, als Paneth Blaus Fotoplatten nach einem Ballonaufstieg wieder einholte, bestand Gleditsch darauf, dass die Platten an Blau geschickt würden, die damals in Mexiko war, und nicht an Wambacher in Wien.
43 Archiv der Universität Wien, ab sofort : AUW, Personalakt Hertha Wambacher, Österreichisches Unterrichtsministerium vom 7.4.1938. Wambacher wurde 1940 habilitiert ; vgl. auch AÖAW, FE-Akten, IR, K 32, Fiche 441, Direktive an das Dekanat der Universität vom 15.4.1938. 44 Rosner/Strohmaier 2003b, 57. 45 Wambacher 1938, 883–890. Der Aufsatz, der auf einem Vortrag bei der Deutschen Physiker- und Mathematikertagung beruht, schließt mit einem Diskussionsbeitrag von Steinke, aber nicht mit einer Zitation. 46 Schönfeld 2003, 130–131 und 138–139, bemerkt, dass Blau und Wambacher in ihrer ersten Mitteilung über Emulsionsspuren von schwer geladenen Teilchen (Protonen) in kosmischer Strahlung schrieben, sie hätten ähnliche Experimente mit fotografischen Platten seit 1932 gemacht, allerdings ohne Ergebnis (Blau/Wambacher 1937a, 469). In diesem Text geben sie an, der Wert der Emulsionen habe für sie eher darin bestanden, »statistisches Material« zu sammeln, als sie bei der »Aufzeichnung einzelner seltener Ereignisse« (474) zufriedenzustellen, ein deutlicher Hinweis auf den Vorzug von Emulsionen gegenüber dem Verfahren mit Wilson’schen Nebelkammern. In einem weiteren Text, in dem sie über die Zertrümmerungssterne berichten, verzeichnen Blau und Wambacher 60 Fälle von »Mehrfachzertrümmerung« und erklären deutlich : »Dieser auf Grund von Wilson-Aufnahmen schon vermutete Zertrümmerungsvorgang durch kosmische Strahlung ist nunmehr […] sichergestellt und der näheren Untersuchung zugänglich gemacht worden« (Blau/Wambacher 1937b, 635). 47 Hoffmann 2007, 178.
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»What we, her friends, can do is to keep for her the work that she has planned and undertaken – continuations in fact of the work that she began years ago and which Dr. W. joined later.«48
Dem stimmte Pettersson aus Schweden zu und schlug Paneth vor, Gleditsch könnte Blau die belichteten Platten in einem gekühlten Paket durch die norwegische Diplomatenpost senden. Pettersson zeigte sich besorgt über die »grosse Gefahr, dass Blau in Mexiko isoliert und mit neuen Pflichten überhäuft nicht auf längere Zeit zur Forschungsarbeit kommt«.49 Er war über die Situation in Wien erbost : »Über die wirklich ganz empörende Art, in welcher man sie [Blau, R.S.] von ihrer schönen Arbeit in Wien schon vor dem Umbruch vertrieben hat, dürften Sie schon informiert sein. Es gehört zum ›System‹, dass man jetzt ihre Mitarbeiterin Dr. Wambacher als eine begnadigte [sic] Wissenschaftlerin aufmacht und sie mit allen Mitteln der Propaganda in ihrer weiteren Arbeit fördert.«50
Seit jener Zeit zitierte Wambacher Blau fast gar nicht mehr, wenn sie etwas mit Stetter zusammen veröffentlichte, während Ortner Blaus Namen aus seinen Veröffentlichungen vollkommen strich.51 Derartige Versuche, Blau in den Schatten zu stellen, mögen belanglos erscheinen, da die grundlegende Bedeutung ihrer Arbeit ja andernorts sehr wohl wahrgenommen wurde. So werden Blaus Publikationen (mit und ohne Wambacher) zum Beispiel in einem 1941 erschienenen Artikel über die Physik der Emulsionen in Reviews of Modern Physics neunzehnmal zitiert, öfter als alle anderen.52 Diese Versuche erscheinen auch deshalb belanglos, weil aus Wien, nachdem Blau es verlassen hatte, nichts mehr kam, das für die Physik der Emulsionen oder die Erforschung kosmischer Strahlung von Bedeutung gewesen wäre. Stattdessen expandierten diese Forschungsbereiche sehr rasch in den Vereinigten Staaten und vor allem in England, wo Cecil Powell Emulsionen als bevorzugtes Werkzeug zur Untersuchung hochenergetischer nuklearer Prozesse systematisch nutzte.53 In einem anderen Sinn sind jedoch die Verfälschungen von früheren Kollegen und Kolleginnen Blaus überhaupt nicht belanglos. Sie trugen zur Entstehung einer Kultur der Enteignung und Unehrlichkeit innerhalb der Wiener 48 49 50 51 52 53
AMPG, NL Paneth, Abt. III, Rep. 45/39, Gleditsch an Paneth vom 15.11.1938. AMPG, NL Paneth, Abt. III, Rep. 45/36, Pettersson an Paneth vom 3.12.1938. Ebd. Schönfeld 2003, 134–135 ; Galison 1997b, 183. Shapiro 1941, 58–71 ; persönliche Mitteilung von Maurice M. Shapiro vom 17.11.1997. Galison 1997b, 178–183.
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physikalischen Gemeinschaft bei, die noch lange fortdauerte, nachdem die Zeit des Nationalsozialismus scheinbar beendet war.
Exil Trotz der quälenden Ungewissheit setzte Blau in Oslo 1938 ihre Arbeits- und Publikationstätigkeit fort.54 Im Juli bot ihr die Technische Universität in Mexiko-Stadt (heute : Instituto Nacional Politécnico) eine Professur an, und im November 1938 konnte sie ihre Mutter in London treffen, um von dort aus mit ihr nach Nordamerika zu reisen. Ihren Brüdern gelang es, nach London und New York zu emigrieren. Zwar bedeutete Mexiko die Rettung Blaus und ihrer Mutter vor dem Holocaust. Wie ihre Kollegen befürchtet hatten, konnte sie dort jedoch ihre eigene Forschung nicht weiterverfolgen.55 An der Universität unterrichtete sie im Grundstudium mehr als zwanzig Wochenstunden Physik auf Spanisch. Sie befasste sich mit Problemen von lokalem geologischem Interesse, so dass ihre sechs Publikationen in Mexiko Untersuchungen der Radioaktivität lokaler Böden waren.56 Im Jahr 1944 wurde ihr − abermals durch Einsteins Vermittlung − eine Stelle bei der Canadian Uranium and Radium Corporation angeboten und sie zog nach New York. Erst 1948 nahm Blau die Forschung in ihrem eigenen Bereich wieder auf. Über die US Atomic Energy Commission bekam sie zunächst an der Columbia University eine Anstellung und 1950 dann am Brookhaven National Laboratory.
Teilchenphysik in der Nachkriegszeit Während des Krieges hatten sich die Emulsionstechniken bewährt, da sie ein wichtiges Mittel zur Untersuchung von Kernspaltungsprozessen waren.57 Als Blau ihre Forschung nach dem Krieg wieder aufnahm, war sie zehn Jahre lang von der Physik der Emulsionen abgeschnitten, aber sie wurde in dem Bereich als Pionierin anerkannt und profitierte von der raschen Entwicklung der Teilchenphysik in der Nachkriegszeit. Die Forschungsstellen an der Columbia und am Brookhaven Laboratory sagten ihr − zumindest am Anfang − zu, sie veröffentlichte viel und ging neue kollegiale 54 Blau 1938, 613. 55 Galison 1997b, 156. 56 1939 bat Blau zum Beispiel Elisabeth Rona um Literatur zu Radioaktivität und Erdöl. AÖAW, FE-Akten, IR, Nachlass Beata Karlik, K 47, Fiche 683, Rona an Karlik vom 25.11.1939. 57 Galison 1997a, 178–183, 186.
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Beziehungen ein.58 Beschleuniger hatten die kosmische Strahlung als Quelle hochenergetischer Teilchen ersetzt, aber für die Aufzeichnung der Kernzertrümmerung und der neuen Teilchen, die daraus hervorgingen, waren Emulsionen wichtiger als je zuvor. In Brookhaven gehörte Blau zu einer Gruppe, die die Meson-induzierte Produktion von Mesonen und die Erzeugung von Hyperfragmenten und K-Mesonen bestimmte und ein Instrument zur Messung der Ionisierungsparameter in Kernemulsionen entwickelte.59 Im Jahre 1955 nahm Blau eine Professur an der University of Miami an, wo sie eine Abteilung für Teilchenphysik gründete, einrichtete und ausbaute. Wie in ihrer ganzen Laufbahn stellte sie auch hier ihre erstaunliche Fähigkeit zu Innovation und Arbeit unter Beweis. Ihre Studenten und Studentinnen hielten sie für die »Päpstin« der Physik der Emulsionen, einige von ihnen kamen später auf hervorragende Universitätsstellen.60 Ihre Gesundheit war jedoch schlecht − sie hatte wahrscheinlich durch längere Strahlenexposition auf beiden Augen grauen Star −, und 1960 ging sie in den Ruhestand und zog zurück nach Wien. Nach fast vierzig Jahren Arbeit war ihre einzige Einkommensquelle ihr amerikanischer Sozialversicherungsscheck über monatlich 200 US-Dollar − aus Österreich oder aus Mexiko bekam sie nichts. Sie hoffte, es wäre für den Lebensunterhalt und die medizinische Versorgung in Wien ausreichend.61 In Wien wurde Blau vom Institut für Radiumforschung angezogen, wo sie mit einer kleinen Gruppe arbeitete, die am CERN hergestellte Fotoplatten untersuchten. Sie betreute einen Doktoranden, veröffentlichte Artikel und hielt gelegentlich Gastvorträge an anderen Instituten. Persönlich und wissenschaftlich aber blieb sie isoliert. Sie hätte es vorgezogen, in die Vereinigten Staaten zurückzukehren, wenn ihre Gesundheit und ihre Finanzen dies zugelassen hätten.62 Österreich bot seinen Flüchtlingen fast niemals berufliche Restitution oder finanzielle Entschädigung an. Blau erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter 1962 den Erwin-Schrödinger-Preis und den Preis für Naturwissenschaften der Stadt Wien, aber sie wurde nicht zum Mitglied der Österrei58 Rona zufolge hatte Blau »endlich den richtigen Arbeitskreis gefunden, und die Arbeitsstelle, die Ihrem Wesen und Talenten entspricht«, AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 18, Fiche 292, Rona an Meyer vom 3.5.1948. Ebenfalls 1948 schrieb Blau an Meyer, sie sei »sehr glücklich« über ihre Stelle an der Columbia University, AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Blau an Meyer vom 14.3.1948 und vom 5.8.1948. 59 Zu Blaus Forschungsarbeit nach 1948 vgl. Perlmutter 2003 ; Halpern/Shapiro 2006 ; Rentetzi 2008, Kapitel 7. 60 Perlmutter 2003, 162–171 ; Perlmutter 1998, 81 ; Rosner/Strohmaier 2003b, 69. 61 In den 1960er-Jahren waren 200 US-Dollar in Österreich ein ziemlich gutes Einkommen (persönliche Mitteilungen von Robert Rosner im Juni 2003 und Roger H. Stuewer im September 2003). Vgl. auch Rosner/Strohmaier 2003b, 64. 62 Nach Halpern/Shapiro 2006, 122, ging Blau nur wegen der Staroperation nach Wien und hoffte in die USA zurückzukehren.
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chischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Ab 1964 kam sie aufgrund einer beschwerlichen Herzkrankheit und einem insgesamt schlechter werdenden Gesundheitszustand nicht mehr in das Institut für Radiumforschung. Blau starb am 27. Januar 1970 an Lungenkrebs. Auf ihren Wunsch hin wurde ihre Asche im Grab ihres Vaters auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt.63 In keiner wissenschaftlichen Zeitschrift erschien ein Nachruf auf sie. Zu diesem Zeitpunkt war Marietta Blau, wie Galison bemerkt hat, »ganz und gar vergessen«.64 Angesichts Blaus überragender Leistung muss man sich fragen, wie es zu diesem ›Vergessen‹ kam. Ich werde mich im Folgenden mit zwei Aspekten befassen, die dazu beigetragen haben : mit der Verleihung des Nobelpreises für Physik an Powell und mit Blaus Rückkehr nach Wien.
Der Nobelpreis 1950 wurde dem britischen Physiker Cecil F. Powell der Nobelpreis für Physik verliehen »for his development of the photographic method of studying nuclear processes and his discoveries regarding mesons made with this method«.65 Powell war 1938 von Nebelkammern zu fotografischen Methoden übergegangen, nachdem er − wie alle anderen Forscher auf diesem Gebiet − die Bedeutung von Emulsionen bei der Untersuchung von kosmischer Strahlung und nuklearen Prozessen durch Blau und Wambacher verstanden hatte.66 Während des Krieges baute er die fotografische Technik zu einem Großunternehmen aus. 1947 entdeckte er auf Platten, die der kosmischen Strahlung ausgesetzt waren, Beweise für das Pi-Meson. Hätte Blau 1950 den Preis mit Powell zusammen bekommen (Wambacher starb in diesem Jahr), wäre ihr Platz in der Wissenschaftsgeschichte sicher gewesen. Da ihr aber kein Anteil an diesem Preis zugesprochen wurde, wurden sie und ihr Werk dem Vergessen überantwortet. Schrödinger hatte 1950 Blau und Wambacher für den Nobelpreis nominiert. Ihnen gebühre bei der Verwendung der fotografischen Methode, der Entdeckung jener »berühmten Sterne« und deren richtiger Interpretation als »Explosionen von Atomkernen«, die von hochenergetischer kosmischer Strahlung hervorgerufen wurden, der Vorrang.67 Stefan Meyer, der offenbar von Schrödingers Nominierung wusste, äußerte 63 64 65 66 67
Rosner/Strohmaier 2003b, 65–73. Galison 1997a, 144. Nobel Lectures 1964, 137. Galison 1997a, 167–168. Kungliga Vetenskapsakademien Archive (Archiv der Königlichen Schwedischen Akademie der Wissenschaften), ab sofort : KVA Archive, Schrödinger an das Nobelkomitee für Physik vom 8.1.1950. Blau
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Bedenken dagegen, auch Wambacher auszuzeichnen. Er erinnerte daran, dass sie »sich 1938 so unschön gegen Marietta verhalten« habe und war unsicher, ob Wambacher den gleichen Anteil verdiene wie Blau, »deren Schülerin sie ja war«.68 Der Evaluationsbericht für diese Nominierung wurde von Axel E. Lindh, einem Mitglied des Nobelkomitees für Physik geschrieben. In seinem Bericht räumte Lindh ein, dass Blau und Wambacher als Erste die fotografische Methode verwendet hätten, um die kosmische Strahlung zu untersuchen und die Kernzertrümmerung darzustellen, ging dann aber dazu über, die Originalität und Priorität jeden Aspektes ihrer Arbeit zu bestreiten. Lindh schrieb den Ilford-Laboratorien die Herstellung von Emulsionen zu, die auf schnelle Teilchen empfindlich reagierten. Er wies nicht auf die Bedeutung der langen beruflichen Zusammenarbeit Blaus mit industriellen Filmherstellern bei der Entwicklung neuer Emulsionen hin und bezog sich auch nicht im Einzelnen auf die zahlreichen Publikationen Blaus sowie Blaus und Wambachers über fotografische Methoden aus der Zeit vor 1937. Er bemerkte, dass Kernzertrümmerungen zuerst in Wilson’schen Nebelkammern beobachtet worden wären, ohne hinzuzufügen, dass diese Beobachtungen selten und nicht beweiskräftig waren, was ja der eigentliche Grund dafür war, warum man die fotografische Methode für so wertvoll und unerlässlich hielt. Schließlich ging Lindh auf Wambachers Artikel von 1938 ein, der die Information enthalte, »dass Steinke derjenige war, der die Idee hatte, mit der fotografischen Methode […] die Kernzertrümmerung durch kosmische Strahlung zu erforschen, die zuvor in Wilson-Kammern zu beobachten gewesen war.« Ohne die Rolle, die Steinke angeblich gespielt hatte, einer unabhängigen Prüfung zu unterziehen, schloss Lindh, dass Blaus und Wambachers Werk einen Nobelpreis nicht verdiene, da sie »einer von Steinke vorgegebenen Idee« gefolgt waren und die Kernzertrümmerung »bereits von mehreren anderen Forschern festgestellt worden war, die Nebelkammern benutzten«.69 Alles in allem macht es den Anschein, als sollte Lindhs neunseitiger Bericht nicht eine wirkliche Bewertung ihrer Arbeit vornehmen, sondern eher eine Verleumdung sein, mit der eine bereits gefällte Entscheidung gerechtfertigt werden sollte, nämlich die, dass Powell und niemand anderer diesen Preis erhalten sollte. Im Jahre 1949 war der Physikpreis Hideki Yukawa für seine Vorhersage der Existenz von Mesonen, die aus seiner Theorie der Kernkräfte in den 1930er-Jahren hervorging, verliehen worden. Auch Powell war in jenem Jahr nominiert und Lindh schrieb einen 58 Seiten langen Evaluationsbericht, der eine umfassende Geschichte des gesamten wurde von Thirring 1955 zum Nobelpreis nominiert und noch einmal vor 1960 durch Schrödinger ; vgl. Rosner/Strohmaier 2003b, 60 ; Bischof 2004, 110. 68 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 45, Fiche 235, Meyer an Karlik vom 23.11.1949. 69 KVA Archive, Axel E. Lindh, Utredning över Marietta Blaus och Hertha Wambachers till prisbelöning föreslagna arbeten vom 1.7.1950, 132–140. Ich danke Elisabeth Crawford für ihre Übersetzung.
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Gebiets der Teilchenphysik und eine detaillierte Analyse von Powells Veröffentlichungen enthielt. Im Gegensatz zu der Bewertung von Blau und Wambacher stellt Lindh Powells Gesamtwerk im Zusammenhang der Beiträge anderer vorteilhaft dar. Powell entwickelte keine Emulsionen (Lindh wies darauf hin, dass Blau und andere dies zuerst allein und später in Zusammenarbeit mit den Wissenschaftlern bei Ilford und Kodak taten), aber Lindh schrieb Powell das Verdienst zu, die fotografische Methode in ein verlässliches Forschungsinstrument für viele Aspekte der Kern- und Teilchenphysik verwandelt zu haben. Powell war weder der einzige noch der erste Wissenschaftler, der ein Meson gesichtet hatte und damit Yukawas Theorie verifizieren konnte,70 aber Lindh schrieb Powell die Entwicklung der Techniken zu, die die Entdeckungen ermöglicht hatten. Im Jahre 1949 kam Lindh zu dem Schluss, dass Powells Arbeit einen Nobelpreis verdiene und 1950 empfahl er, dass Powell ihn in diesem Jahr erhalten solle.71 Es ist eine verbürgte Tatsache, dass Entscheidungen beim Nobelpreis häufig von außerwissenschaftlichen Erwägungen beeinflusst werden.72 In Powells Fall macht es den Anschein, als habe es das Nobelkomitee für Physik für notwendig gehalten, der Auszeichnung für Yukawas Theorie sehr schnell eine Auszeichnung für deren experimentelle Verifikation folgen zu lassen.73 Da Powell als führende Figur in der Teilchenphysik weithin anerkannt war und zahlreiche Nominierungen für den Nobelpreis erhalten hatte,74 war es durchaus berechtigt, dass Lindh seine Arbeit positiv bewertete, auch wenn andere bei bestimmten Aspekten den Vorrang hatten oder ihm sehr nahe gekommen waren. Allerdings gab es Präzedenzfälle für die gleichzeitige Auszeichnung einer grundlegenden Entdeckung zusammen mit einer Entdeckung, die sich später daran anschloss. Im Jahre 1936 wurde zum Beispiel der Physikpreis zwischen Carl D. Anderson, der 1932 das Positron in der kosmischen Strahlung entdeckt hatte, und Victor Hess, dessen bahnbrechende Entdeckungen der kosmischen Strahlung bereits 1912 stattfanden, geteilt.75 Was an der Entscheidung von 1950 verblüfft, ist der vollkommen andere Maßstab, den Lindh bei Blau und Wambacher anlegte, die er in jeder Hinsicht negativ bewertete. Lindhs Voreingenommenheit war am deutlichsten in seinem Hinweis auf Steinke. Seit er 1949 seinen umfassenden Evaluationsbeitrag zu Po70 Galison 1997a, 203–204. 71 KVA Archive, Axel E. Lindh, Utredning om prof. Powells till prisbelöning föreslagna arbeten vom 30.7.1949, 128–185 ; Kompletterrande utredning över prof. Powells till prisbelöning föreslagna arbeten vom 1.7.1950, 106. 72 Vgl. Friedman 2001 zur Politik der Nobelpreisverleihung in den ersten fünfzig Jahren. 73 Persönliche Mitteilung von Elisabeth Crawford im April 2002. 74 Powell wurde in den Jahren 1949 und 1950 insgesamt 22-mal nominiert. Vgl. Crawford 2002. 75 Für diesen Hinweis danke ich Elisabeth Crawford.
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well geschrieben hatte, in dem Blau und Wambacher neben vielen anderen genannt wurden, Steinke dagegen überhaupt nicht vorkam, wusste Lindh mit Sicherheit, dass Steinke auf diesem Gebiet keinerlei Geltung besaß. Unter dem Strich führt diese Entscheidung zu beunruhigenden Fragen hinsichtlich der Fairness, der Kompetenz und der eigentlichen Beweggründe bei Nobelpreisverleihungen. Zunächst ist da die Frage des Geschlechts : Es ist eine Tatsache, dass eine erhebliche Zahl verdienter Frauen zu Unrecht von den Nobelpreisen ausgeschlossen wurde. Nur wenige Jahre vor der Entscheidung über Blau und Wambacher war zum Beispiel Meitner der Nobelpreis für ihren Anteil an der Entdeckung der Kernspaltung und deren Interpretation verweigert worden, eine Entscheidung, die schon damals als außerordentlich fragwürdig galt und es bis heute ist ; auch dabei hat sich gezeigt, dass das Nobelkomitee für Physik erwiesenermaßen falsche Evaluationsberichte einbezogen hat.76 Bei der Nobelstiftung schien man darüber hinaus die Probleme zu übergehen, die sich aus der rassischen Verfolgung und der erzwungenen Emigration während der NS-Zeit ergaben.77 Dies traf sowohl Blau wie Meitner, die beide 1938 emigrierten, zu einem Zeitpunkt, an dem sie jeweils an einer wichtigen Entdeckung beteiligt waren. Die Nobelgutachter zogen ihre Beiträge in Zweifel, indem sie auf eine Periode verminderter Produktivität unmittelbar nach den Entdeckungen verwiesen, ohne zu berücksichtigen, dass dies eine Folge ihrer Emigration und ihres Exils war.78 Derartig verdrehte Begründungen können einer Mischung aus politischer Dummheit und Antisemitismus zugeschrieben werden. Insbesondere in der Blau betreffenden Entscheidung ist es aber auch möglich, dass tief verwurzelte Feindseligkeiten innerhalb der schwedischen Wissenschaftsgemeinschaft eine wichtige Rolle spielten. Dieser interne Konflikt ging auf die 1930er-Jahre zurück, als die Nobelkomitees in Physik und Chemie mehrere Jahre lang die Preise zurückhielten und das Geld stattdessen verwendeten, um schwedische Forschungen zu finanzieren, wobei ein Großteil des Geldes an Mitglieder der Nobelkomitees ging. Hans Pettersson und sein Vater Otto Pettersson, ein ehemaliges Mitglied des Nobelkomitees für Chemie, gingen 1936 öffentlich gegen diese Praxis vor, die daraufhin zum nachhaltigen Ärger derjenigen, die davon profitiert hatten, eingestellt wurde.79 Einer der Nutznießer war Manne Siegbahn gewesen, Schwedens einflussreichster Physiker, der in den 1930er- und 1940er-Jahren zusammen mit zwei Kollegen – Lindh, der in Siegbahns Forschungsfeld der Röntgenspekt76 Crawford/Sime/Walker 1997, 26–32. 77 Friedman 2001, 221–223 ; Ash 2004, 93–94, 103–106. 78 1941 bemerkte The Svedberg, ein Mitglied des Nobelkommitees für Chemie, dass Meitner in den beiden letzten Jahren nichts von großer Bedeutung geschaffen habe ; 1950 schrieb Axel Lindh, Wambacher habe in den Jahren nach 1938 weiterhin in dem Gebiet veröffentlicht, während Blau dies nicht getan habe. 79 Friedman 2001, 215–219, 224.
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roskopie arbeitete, und Erik Hulthén, ein ehemaliger Student Siegbahns, der 1946 die negative Bewertung Meitners schrieb – das fünfköpfige Nobelkomitee für Physik dominierte. Man kann die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Blaus Beziehungen zu Hans Pettersson für Siegbahn und seine Gruppe das Hauptmotiv waren, ihr einen Preis auf jeden Fall vorenthalten zu wollen. Es sollte festgehalten werden, dass die offiziellen Publikationen des Nobelpreises für Physik von 1950 nicht einmal die Namen von Blau und Wambacher erwähnen. In seiner Eröffnungsrede zur Verleihung des Preises an Powell bezog sich Lindh sowohl auf die Entdeckung der Sensibilisierung von Emulsionen wie auf die der Zertrümmerungssterne, ohne Blau oder Wambacher zu nennen, obwohl er einige andere Wissenschaftler erwähnte, die nie für einen Preis nominiert waren und weitaus weniger wissenschaftliche Beiträge geleistet hatten. In seiner Nobelvorlesung erörterte Powell die kosmische Strahlung und die Mesonen, zitierte aber keine Arbeit von vor 1947.80 So wurde für Blau mit dem Nobelpreis von 1950 jene Vertreibung vollendet, mit der die Nationalsozialisten zwölf Jahre zuvor begonnen hatten : In Stockholm war sie nicht einmal mehr eine Fußnote in der Geschichte der Physik hochenergetischer Teilchen.
In der Nachkriegszeit in Wien Die Remigration von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen nach Österreich stand jüngst im Mittelpunkt mehrerer Untersuchungen, darunter vor allem diejenigen Faktoren, die jüdische Emigranten nach dem Krieg von einer Rückkehr nach Österreich abhielten.81 Insbesondere Reiter stellt fest, dass der Antisemitismus im Österreich der Nachkriegszeit so heftig war wie eh und je und dass sich an dem verbreiteten Drang, die Ereignisse der NS-Zeit zu vergessen und zu unterdrücken, bis zur Waldheim-Affäre im Jahr 1986 nichts änderte.82 Juden waren seit 1938 verbannt worden, sie wurden kaum vermisst. Von denjenigen, die überlebten, wurden einige zur Rückkehr eingeladen, aber nur sehr wenige akademische Emigranten leisteten dieser Einladung Folge. Wie Bischof zeigt, hatten der wachsende Antisemitismus und die Geschlechterdiskriminierung der 1930er-Jahre außerdem dazu geführt, dass beinahe alle emigrierten Frauen wie Blau nie in eine Position in Österreich gelangt waren, auf die sie zurückkehren konnten.83 80 Vgl. Powells Rede unter http ://nobelprize.org/nobel_prizes/physics/laureates/1950/powell-lecture.html ; Zugriff : 3.3.2011. 81 Vgl. bspw. Reiter 2006 und Bischof 2006. 82 Reiter 2001 ; vgl. auch ders. 1998 and 2006. 83 Vgl. Bischof 2006.
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Obwohl Blau zu den angesehensten Physikern gehörte, die aus Österreich emigriert waren, war sie nicht vermisst worden, und niemand hatte sie eingeladen wiederzukommen. Vielmehr fuhren die Kollegen, die sie nach ihrer Emigration aus den wissenschaftlichen Berichten gestrichen hatten, damit auch in der Nachkriegszeit fort. Dieser Prozess ist zum Beispiel in den Nachrufen für Wambacher, die 1950 an Brustkrebs starb, erkennbar. Wambacher wurde in diesen Nachrufen als Entdeckerin der Zertrümmerungssterne dargestellt, während Blau kaum erwähnt wurde. Es wurde nicht deutlich gemacht, dass sie Wambachers Mentorin und in der Zusammenarbeit führend gewesen war.84 Beispielsweise schrieb der Chemiker Georg Wagner Wambacher die Entwicklung der Emulsionstechniken und die Entdeckung der Zertrümmerungssterne zu. Er betonte, dass Wambacher den Ignaz L. Lieben-Preis erhalten, aber nicht, dass sie ihn gemeinsam mit Blau bekommen hatte. Er erwähnte Blau ein einziges Mal aufgrund »teilweiser Zusammenarbeit« mit Wambacher.85 In gesonderten Beiträgen bescheinigten auch Stetter und Ortner Wambacher das alleinige Verdienst an der Entdeckung der Zertrümmerungssterne.86 Ein Nachruf auf Wambacher bezog Blau mit ein : »Ein tragisches Schicksal hat es gefügt, daß jene beiden von wahrem Forschergeist beseelten Frauen durch die Wucht der äußeren Verhältnisse unserer unruhigen Zeit aus ihrer Laufbahn geworfen wurden ; und die Früchte ihrer Untersuchungen und Entdeckungen glücklicheren Nachfolgern überlassen mußten.«87
In diesem Beispiel eines Nachkriegsdiskurses machen »tragisches Schicksal« und »äußere Verhältnisse« jeden zum Opfer ; niemand ist verantwortlich und es gibt keine moralischen Unterscheidungen : Die geflüchtete jüdische Wissenschaftlerin wird mit der glühenden Nationalsozialistin gleichgesetzt, die ihre Arbeit unterdrückt und von ihrer erzwungenen Emigration profitiert hat. Jeden historischen Zusammenhangs oder eines Gefühls von Gerechtigkeit entbehrend, hat die Passage einen seltsam sterilen Ton, ein Beispiel für die psychische Betäubung der Nachkriegszeit. Interessanterweise schien es in diesem Nachruf so, als wäre auch Blau tot, dabei ging es ihr zu jener Zeit in den Vereinigten Staaten sehr gut und sie publizierte häufig in führenden Zeitschriften. Der Nachruf wurde von Georg Stetter und Hans Thirring, einem recht ungleichen 84 85 86 87
Rosner/Strohmaier 2003b, 57. Wagner 1950, 142. Stetter 1950, 234–235 ; Ortner 1950, 135. Stetter/Thirring 1950, 318–320 ; Galison 1997a, 186, merkt an, dass keiner der Nachfolger mehr Glück hatte als Cecil Powell und die Firmen Kodak und Ilford, die Emulsionen herstellten. Sie profitierten von Blaus und Wambachers Arbeit mit Emulsionen.
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Paar, geschrieben. Stetter war, wie erwähnt, ein Nationalsozialist gewesen, der von den Entlassungen jüdischer Kollegen profitiert hatte. Nach dem Krieg leugnete er alles, was er konnte, und 1953 wurde seine Professur mit allen Rentenansprüchen wiederhergestellt.88 Thirring dagegen war ein erklärter Pazifist und Professor für theoretische Physik, der 1938 entlassen worden war. Er verbrachte die Kriegsjahre in der »inneren Emigration« und kam erst 1946 auf seine Stelle zurück.89 Dass ein Mann wie Thirring, ein engagierter Antifaschist, gemeinsam mit Stetter einen Nachruf auf Wambacher verfassen konnte, ist ein Hinweis darauf, dass sich Nazi-Anhänger und Nazi-Gegner in der »scientific community« der Physiker und Physikerinnen nie völlig voneinander entfremdet hatten.90 Im Jahr 1950 zog es Thirring vor, ohne Schuldzuweisungen in die Zukunft zu blicken, während Stetter natürlich nicht zurückblickte. In diesem Umfeld konnten zurückkehrende Emigranten nur als Außenseiter angesehen werden, auch von denen, die während der Jahre der NS-Herrschaft anständig gewesen waren. Reiter schrieb dazu : »Man wollte im Nicht-Erinnern unter sich bleiben.«91 Eine der ältesten und engsten Freundinnen Blaus in Wien war Berta Karlik gewesen, die seit 1929 im Institut für Radiumforschung gearbeitet hatte.92 Viele, darunter Blau, hielten sie für eine wirklich ›gute‹ Österreicherin : Sie verabscheute den Nationalsozialismus, hielt die Korrespondenz mit Blau und anderen Emigranten aufrecht und sie half Meyer und seiner Familie, als sie während des Krieges untertauchten, um der Deportation zu entgehen, sowie bei Meyers späterer Rückkehr an das Institut für Radiumforschung. Im Jahre 1949 wurde Karlik als Direktorin des Instituts Meyers Nachfolgerin und 1956 als erste Frau in Wien Ordinaria für Physik. Als Blau 1960 nach Wien zurückkehrte, war Karlik integraler Bestandteil einer »scientific community«, in der enthusiastische Nationalsozialisten wie Stetter und Ortner als Professoren rehabilitiert worden waren (Kirsch war mit einer Rente in den Ruhestand gegangen), während den Opfern des Nationalsozialismus Wiedergutmachung verweigert wurde.93 Blau war eine Außenseiterin, die mit Bitterkeit feststellte, dass Karlik den Eindruck vermittelte, sie und Wambacher seien wissenschaftlich gleichrangig gewesen, und Stetter und Wambacher hätten die Arbeit mit Emulsionen 88 Galison 1997a, 184–186. 89 Glaser 1988, 1064–1074. 90 Rosner/Strohmaier 2003b, 58–59, schreiben, dass Thirring 1946 eidesstattlich versicherte, Stetter habe sich ihm gegenüber korrekt verhalten. Ich danke Leopold Halpern für seine Analyse der versöhnlichen Haltung, die Thirring nach dem Krieg gegenüber Nazikollegen an den Tag legte, ebenso wie für sein unveröffentlichtes Manuskript von 1992. Auch Robert Rosner danke ich für weitere Diskussionen über diesen Punkt. 91 Reiter 1998. Hervorhebung im Original. 92 Rayner-Canham/Rayner-Canham 1997b ; Bischof 1998 ; Rosner/Strohmaier 2003b, 22–25, 31–32. 93 Galison 1997a, 183–186 ; Rosner/Strohmaier 2003b, 57–60.
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deutlich vorangebracht.94 So schrieb Blau 1964 an einen Freund : »[I]ch war nur im Moment so verbittert, weil ich verschiedentlich von Äusserungen von Karlik über mich gehört habe u. weil sie es wissen muss u. weiss, wie es damals war, sie u. Stetter u. Ortner. Von den letzteren habe ich natürlich nichts anderes erwartet, aber von ihr hat es mir sehr weh getan.«95
Blaus Freundschaft mit Karlik war beendet. Nach dem Krieg war es für Emigranten nicht ungewöhnlich, dass sie sich von ihren antinazistischen Freunden, die sie zurückgelassen hatten, entfremdeten. Ein gut dokumentiertes Beispiel in Deutschland bezieht sich auf den Chemiker Otto Hahn, dessen Abneigung gegen die nationalsozialistische Ideologie den Emigranten im Ausland wohl bekannt war. Nach dem Krieg hatte Hahn in seiner Position als Präsident der KaiserWilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft kräftig an der von Carola Sachse beschriebenen »Persilscheinkultur« mitgewirkt.96 Er verteidigte Mitarbeiter, deren Politik er einmal verachtet hatte, behauptete, dass die Wissenschaft »rein« geblieben sei und Wissenschaftler unpolitisch seien, und bestand darauf, die Deutschen seien allesamt Opfer des Nationalsozialismus und des Krieges geworden. Als seine emigrierten Freunde ihre Empörung und Enttäuschung zum Ausdruck brachten, tat er sie als Außenseiter ab.97 Er war im Deutschland der Nachkriegszeit eine überaus bewunderte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens und ist als solche bis heute in Erinnerung geblieben. Obwohl Karlik weder so prominent noch so einflussreich war wie Hahn, deuten die Ähnlichkeiten beider Fälle darauf hin, dass Menschen, die während der NS-Zeit politische Nonkonformisten waren, möglicherweise begierig darauf warteten, sich der Mehrheit anzuschließen, sobald die Notwendigkeit zum Nonkonformismus nicht mehr bestand.98 Nach dem Krieg machte auch Karlik die Rehabilitierung ihrer wissenschaftlichen Gemeinschaft zu einer Priorität. Sie unterhielt kollegiale Beziehungen zu offenkundig unverbesserlichen Nazis, mit all dem ›Vergessen‹ und der Verleugnung, die damit einhergingen. In einer solchen Kultur wurde eine rückkehrende Emigrantin als Eindringling betrachtet. Ihre Anwesenheit warf unerwünschte Fragen auf, wie die nach Entschädigung und Gerechtigkeit oder doch zumindest nach Erinnerung. Als Meitner 1968 starb, schrieb Karlik mehrere wichtige Gedenkartikel, und sie tat 94 Halpern 1992, 20. 95 Österreichische Zentralbibliothek für Physik, Wien, Sondersammlung Leopold Halpern, Blau an Halpern vom 28.4.1964, zit. n. Rosner/Strohmaier 2003b, 68–69. 96 Sachse 2002, 223–252. 97 Sime 2004 ; dies. 2001, Kapitel 13 ; dies. 2007, 245–262. 98 Arendt 1968, 6.
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es zehn Jahre später erneut.99 Es muss für sie eine angenehme Aufgabe gewesen sein, einer prominenten Physikerin wiederholt Denkmäler zu setzen, denn ein Abglanz fiel auch auf die Schreiberin und ihre Kollegen und Kolleginnen. Als gebürtige Wienerin hatte Meitner ihr berufliches Zuhause in Berlin gefunden, bis sie 1938 zu fliehen gezwungen war, so dass die Österreicher sie sentimental als eine der Ihren beanspruchen konnten, ohne sich mit der Ungerechtigkeit und Verfolgung aufhalten zu müssen, die sie in der NS-Zeit erlebt hatte. Blau war offenbar auch für Selbsttröstungen dieser Art zu nahe an den wirklichen Ereignissen. Als sie 1970 starb, schrieb Karlik eine kurze Notiz − kaum einen Absatz −, und das war es.100 In Wien begann Blaus Unsichtbarkeit mit dem Tag, an dem sie es 1938 verließ, und sie wurde durch ihre Rückkehr nur verstärkt.
Postskriptum Nach 1945 begannen Privatpersonen und Institutionen nach Belieben ihre eigenen Erzählungen der jüngsten Vergangenheit zu konstruieren. Die daraus resultierenden Lebenserinnerungen, Memoiren, Institutionengeschichten, Nachrufe, Festschriften und Ähnliches sind in der Regel so ahistorisch und dienen so sehr der Selbstentlastung, dass sie die Realität jener Zeit nur insofern offenlegen, als sich in ihnen die Kontinuität der Naziideologie in der Nachkriegszeit manifestiert. Wir haben dies an Marietta Blaus ehemaligen Kollegen und Kolleginnen in Wien gesehen : Weder wurde das Unrecht von Blaus erzwungener Emigration und deren Folgen anerkannt noch finanzielle oder moralische Wiedergutmachung erwogen oder Zugeständnisse bezüglich der Enteignung ihrer Arbeit gemacht – vielmehr genau das Gegenteil. Historisch gesehen hat sich die Situation in Österreich und Deutschland in den letzten Jahren natürlich stark verändert und eine neue, von der Vergangenheit nicht belastete Generation verfügt über neue Quellen und ist für die Mikrogeschichte der NS-Zeit aufmerksam geworden.101 Dies hat zusammen mit einem Interesse an Frauenund Geschlechterforschung einen erheblichen Teil dazu beigetragen, dass Blaus Biografie dokumentiert werden konnte. Der 2003 in Wien veröffentlichte biographische Band wurde schnell ins Englische und Spanische übersetzt,102 und das Instituto Nacional Politécnico organisierte 2005 anlässlich seines siebzigsten Geburtstags in Mexiko99 Karlik 1968 ; dies. 1969 ; dies. 1970b ; dies. 1979a ; dies. 1979b. 100 Karlik 1970a, 200. 101 Feldman 2004. 102 Rosner/Strohmaier 2006a ; dies. 2006b.
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Stadt eine feierliche Zeremonie zur Erinnerung an Blau und gründete eine Professur mit ihrem Namen.103 Im selben Jahr wurde Blau in Wien durch die Universität anerkannt, indem ein neuer Sitzungs- und Seminarraum als Marietta-Blau-Saal benannt und eine Gedenktafel im Raum angebracht wurde.104 Aufgrund solcher Bemühungen wird Blau schließlich der ihr gebührende Platz in der Geschichte der Physik des 20. Jahrhunderts zuerkannt werden. Man muss sich aber auch im Klaren sein, dass die Darstellungen der Nachkriegszeit, die – wie verlogen sie auch sein mögen – vom kollektiven Gedächtnis einer ganzen Generation und deren Vermächtnis getragen wurden, sich unweigerlich halten werden.105 Als Ergebnis haben wir, zumindest bis jetzt, zwei konkurrierende Erzählungen : eine, die einen historischen Bericht von Blaus Leben und Werk bietet, und eine andere, die ihn zu verdecken versucht – jede ist auf ihre Art erhellend für die wissenschaftliche und politische Kultur der »scientific community« in Wien während der NS-Zeit und danach. Aus dem Amerikanischen von Regine Othmer
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Experimentaltechniken, Strahlenwerkzeuge und Reaktorwerkstoffe. Erich Schmid und die Anfänge der »Kernumwandlungsmetallurgie« in Österreich Günther Luxbacher, Berlin
Radioaktive Strahlen und Metalle Das Institut für Radiumforschung und das benachbarte II. Physikalische Institut der Universität Wien pflegten nach dem Zweiten Weltkrieg eine »rege Zusammenarbeit«.1 Eine wesentliche Verbindung zwischen den beiden Einrichtungen stellte die Erforschung der Einwirkung radioaktiver Strahlung auf Festkörper, insbesondere auf Metalle, dar. Im Zentrum stand dabei zweierlei. Erstens konnten mithilfe radioaktiver Strahlen Kristallstrukturen, etwa in Halbleitern, verändert werden. Zweitens war zu untersuchen, wie man Kettenreaktionen von Teilchen modifizieren und Strahlenwirkungen einschließen konnte. Diese Forschungsrichtung wurde damals »Kernumwandlungsmetallurgie«2 genannt. Eugene Wigner, der von 1942 bis 1945 im Rahmen des Manhattan-Projektes im Metall-Labor der Universität von Chicago arbeitete, gilt als Pionier auf diesem Forschungsgebiet.3 Allerdings fand Österreichs Forschung und Industrie nach 1945 auf dem Gebiet der Strahlen- und Festkörperphysik rasch Anschluss an die internationale Forschung. Das ging vor allem auf die enge Zusammenarbeit des Metallphysikers Erich Schmid mit dem österreichischen Kernphysiker Karl Lintner zurück.4 Schmids Werdegang ist wissenschafts- und technikhistorisch interessant, weil er bereits in der Zwischenkriegszeit zu einem der Begründer der Metallphysik aufgestiegen war. Er forschte ebenso im Universitätslabor wie am Prüfstand von Industrieunternehmen. Trotz seines Interesses an der Lösung grundlegender kristallografischer Pro1
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Festschrift 1950, 36 ; Vgl. Rosner/Strohmaier 2003 ; Archivraum der Fakultät für Physik der Universität Wien, ab sofort : Archivraum, Nachlass Erich Schmid, Ordner »Atomenergie«, Schreiben der Vorstände der Physikalischen Institute der Universität Wien an das Rektorat vom 25.2.1955. Der Begriff ist heute unüblich geworden. Vgl. Hoch 1992, 184–190. 1996 veranstaltete die Österreichische Zentralbibliothek für Physik eine Gedenkausstellung zu Erich Schmid. Siehe auch http ://www.zbp.univie.ac.at/webausstellung/erichschmid/ ; Zugriff : 2.2.2011.
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bleme waren ihm ein ungewöhnlich praxisorientiertes Denken und eine starke Technikaffinität zu Eigen. Anhand seiner Arbeitsweise lässt sich deshalb einiges über die „triple Helix“ von Hochschule, Staat und Industrie sowie zum Verhältnis von naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung, angewandter und technikwissenschaftlicher Forschung sowie technischer Entwicklungsarbeit lernen.5 Schmid interessierte nicht nur die Beschreibung naturwissenschaftlicher Prinzipien von Festkörpern und die Ausarbeitung der dazu nötigen Experimentalpraxis, sondern auch deren potenzielle Anwendung als Werkzeug und Werkstoff. Daher wird nicht nur zu zeigen sein, welche Rolle ihm bei der Entfaltung der österreichischen Kernforschung,6 sondern auch bei der Entwicklung früher Forschungs- und Leistungsreaktoren zukam.7 Damit wird die Frage des Verhältnisses zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung berührt. Außerdem werden einige Schlaglichter auf deren Beziehung zur technischen und konstruktiven Praxis geworfen. Schmid zählte zu den prominentesten Physikern der Zweiten Republik Österreich.8 1960 vertrat er den kranken Nobelpreisträger Erwin Schrödinger, dem anlässlich der 900-Jahr-Feier Villachs der Paracelsus-Ring verliehen wurde. In seinem Festvortrag »Probleme der Atomtechnik« verwies er auf die Wechselwirkungen zwischen Strahlen und Metallen. Strahlen waren Werkzeug, um bestimmte Festkörpereigenschaften zu erzeugen und Festkörper waren das Werkzeug, um die Wirkung von Strahlen zu optimieren. Aus seinen Worten sprach die damalige »Atomeuphorie«,9 die man für und durch neue Beiträge der Festkörperphysik nutzen und fördern wollte. Es sollten, so Schmid, »die dunklen Schatten der Angst, die das Atom über große Teile der Menschheit breitet, der Freude am Atom weichen«.10 5 6 7 8
Vgl. Etzkowitz 2003. Vgl. Fengler/Forstner 2008, 269. Siehe für Deutschland Radkau 1983, 39–46. Von Schmids Ämtern und Ehrungen seien hier nur einige aufgezählt : Ernennung zum Honorarprofessor der Universität Frankfurt am Main 1938/39, Auswärtiges Mitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und auswärtiger Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Metallforschung, Ehrendoktorat der Montanistischen Hochschule Leoben 1956, Heyn-Denkmünze 1957, Erwin-Schrödinger-Preis 1960, Österreichisches Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst 1966, Ehrenmitglied mehrerer gelehrter Gesellschaften. Schmid war seit 1963 (Vize-)Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und gilt als ihr wesentlicher Modernisierer. Siehe Archivraum, NL Schmid, Die Österreichische Akademie der Wissenschaften ihrem Vizepräsidenten emer. Univ.-Prof. Dr. DDr. h.c. Erich Schmid zum 80. Geburtstag am 4.5.1976 ; Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, ab sofort: AÖAW, Personalakt, ab sofort : PA, Erich Schmid, Curriculum Vitae von Prof. Dr. Erich Schmid. Zur Hon. Prof. siehe Wassermann/ Wincierz 1981, 33–34 ; zur ÖAW-Umstellung vgl. Lintner 1983a, 313–321 ; AÖAW, Handakten Erich Schmid, Schreiben IATAS-Verlag an Schmid vom 29.11.1974 und ebd. Beilage Biographische Angaben. 9 Radkau 1983, 78–91. 10 Schmid 1965, 21.
Experimentaltechniken, Strahlenwerkzeuge und Reaktorwerkstoffe
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Schubspannungsgesetz, Metallplastizität und eine flexible Physiker-Karriere Schmid wurde 1896 im steirischen Bruck an der Mur geboren. Der Erste Weltkrieg unterbrach sein Physik- und Mathematikstudium an der Universität Wien. Er leistete Kriegsdienst an der Südfront. Um seinen Weg zur Kernumwandlungsmetallurgie genauer verstehen und in seine Karriere einordnen zu können, muss bis in die 1920erJahre zurückgegangen werden. In Schmids Karriere waren Grundlagen- und angewandte Forschung besonders deutlich verflochten. 1920 erhielt er unmittelbar nach seiner Lehramtsprüfung und Promotion eine Assistentenstelle bei dem theoretischen Physiker Ludwig Flamm am II. Physikalischen Institut der Universität Wien.11 1922 bis 1924 folgte er einer Einladung an das Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Faserstoffchemie in BerlinDahlem.12 Von 1924 bis 1928 war er im Metalllaboratorium der Metallgesellschaft in Frankfurt am Main tätig. Daran anschließend kehrte er als Leiter der Physikalischen Abteilung an das KWI für Faserstoffchemie zurück und blieb dort bis 1932. Er habilitierte sich bei Richard Becker, Ordinarius für theoretische Physik an der Technischen Hochschule (TH) Berlin und wurde 1932 zum außerordentlichen Universitätsprofessor an der TH Berlin ernannt.13 Noch im selben Jahr folgte er dem Ruf als Ordinarius und Leiter des Physikalischen Instituts an die Universität Fribourg in der Schweiz. Von 1936 bis 1945 leitete er die Forschung am führenden Unternehmen der deutschen Metallindustrie, der Metallgesellschaft in Frankfurt am Main. Ab 1946 organisierte er maßgeblich den Wiederaufbau der metallkundlichen Forschung und des Labors der Vacuumschmelze AG in Hanau.14 1950 wurde er Lehrbeauftragter an der Bergakademie in Clausthal. 1951 erhielt er einen Ruf der Universität Wien, wo er als Nachfolger des Physikers und Radioaktivitätsforschers Karl Przibram die Leitung des II. Physikalischen Instituts übernahm.15 Sein Kollege und Freund Lintner betonte später, »daß dies, die Rückholung an Deine Heimatuniversität, für Dich einer der größten Auszeichnungen und Freuden Deiner Lauf-
11 Vgl. Lintner/Mitsche 1966, 97–99 ; siehe auch Angetter/Martischnig, 127–129 ; Lintner 1983b, 541. 12 Stüwe 1994, 173 ; Wassermann 1994, 73 spricht von 1921–1925. 13 Archivraum, NL Erich Schmid, Die Österreichische Akademie der Wissenschaften ihrem Vizepräsidenten emer. Univ.-Prof. Dr. DDr. h.c. Erich Schmid zum 80. Geburtstag am 4.5.1976. 14 Vgl. AÖAW, PA Schmid, Redetext der ÖAW-Präsidiumsansprache im Mai 1976 ; AÖAW, PA Schmid, Curriculum Vitae ; zum Dienstbeginn vgl. Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, ab sofort : HHStAW, Abt. 520, Frankfurt/Main, Schmid, Erich, Eidesstattliche Erklärung von Ing. Walter Deisinger, 27.5.1947. Deisinger war Vorstandsmitglied und technischer Direktor der Vacuumschmelze AG. 15 Stüwe 1994, 173.
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bahn war«.16 Von 1963 an leitete er über ein Jahrzehnt als Präsident und Vizepräsident die Geschicke der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Unter seinem Präsidium wurden die meisten der Forschungsinstitute gegründet. 1971 wurde ihm zu Ehren das Erich-Schmid-Institut für Festkörperphysik in Leoben eröffnet. Als Alterswerk veröffentlichte er 1982 gemeinsam mit Berta Karlik den Band »Franz Exner und sein Kreis«.17 Am Dahlemer KWI für Faserstoffchemie arbeitete Schmid ab 1922 mit prominenten Kollegen wie dem Chemiker Herman Francis Mark und dem Physikochemiker Michael Polanyi zusammen.18 Auf dem Feld der Metallforschung interessierten sich Mark, Polanyi und Schmid insbesondere für die Beschreibung der mikrostrukturellen Veränderungen im Metallgefüge aufgrund mechanischer Verformung. Dabei wurden Röntgenstrahlen in Verbindung mit speziellen fotografischen Verfahren eingesetzt. Die Stelle in Dahlem diente Schmid nicht nur als Sprungbrett zur Metallgesellschaft, sondern sie half ihm auch als symbolisches Kapital bei der Einwerbung von Drittmitteln. Schließlich arbeitete er in Dahlem nicht alleine, sondern hatte bald eine kleine Forschergruppe um sich geschart. Darunter befand sich etwa der damals als Doktorand arbeitende prominente Metallforscher und spätere Mitarbeiter der Metallgesellschaft Günter Wassermann, den mit Schmid eine lebenslange Freundschaft verband.19 Mithilfe von Polanyi und Mark konnte er die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, die spätere Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), und deren erstes Schwerpunktprogramm »Metallforschung« ab 1924/25 als wesentlichen Geldgeber gewinnen. Innerhalb dieses Programms zählte Schmid mit 29 Publikationen zu den produktivsten und deutschlandweit am meisten geförderten Wissenschaftlern.20 Mark und Polanyi widmeten sich bald anderen Themen. An ihre Stelle rückten Schmids Dahlemer Kollegen vom KWI für Metallforschung, Georg (später George) Sachs und der Stuttgarter Physiker und Röntgenstrukturaufklärer Ulrich Dehlinger. Alle drei widmeten sich mit vorrangig physikalischen Methoden der Analyse von Metallkristallen und deren Modifikation durch mechanische und thermische Einwirkungen. Sie wurden damit zu den Gründern der nach 1945 so genannten Metallphysik.21 16 Archivraum, NL Schmid, Die Österreichische Akademie der Wissenschaften ihrem Vizepräsidenten emer. Univ.-Prof. Dr. DDr. h.c. Erich Schmid zum 80. Geburtstag am 4.5.1976. 17 Stüwe 1994, 173 ; Karlik/Schmid 1982. 18 Siehe etwa Polanyi/Schmid 1923, 336–339 ; AÖAW, Handakten Schmid, Rückblick auf die Dahlemer metallphysikalische Forschung der 20er-Jahre, undat. MS. Mit Polanyi hatte Wigner übrigens bereits in den 1920er-Jahren an der TH Berlin geforscht. Vgl. Hoch 1992, 185. 19 Vgl. Köster 1994. 20 Diese Angaben beruhen auf einer Auswertung der Angaben in Deutsche Forschung 1928, 1930 und 1933. 21 Wassermann 1994, 73.
Experimentaltechniken, Strahlenwerkzeuge und Reaktorwerkstoffe
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Obwohl Schmid klar war, dass die Kenntnis kristalliner Vorgänge für die Metall schaffende und verarbeitende Industrie in irgendeiner Form von Bedeutung sein würde, ging es ihm vor allem um die Analyse von Naturgesetzen im kristallinen Mikrokosmos. Die konkrete Nutzbarmachung derartiger Beobachtungen faszinierte den Physiker, dessen Hang zum Technischen zwar ausgeprägter war als der seiner Kollegen, doch überwog letztlich auch bei ihm die physikalische Fragestellung. So entwickelte er eine innovative Methode zur Herstellung großer metallischer Einkristalle auf der Basis des Tiegelziehverfahrens.22 Eine zweite Innovation bestand in der Ausarbeitung eines speziellen röntgenografischen Analyseverfahrens, des sogenannten »Laue-Rückstrahlverfahrens«.23 Sein dritter und gleichzeitig bekanntester Forschungsbeitrag war das sogenannte »Schmid’sche Schubspannungsgesetz«, mit dem er Gesetzmäßigkeiten des Verhaltens verschiedener Kristallarten bei plastischer Verformung beschrieben hatte.24 Damit war das Forschungsgebiet der Verformungstexturen geschaffen.25 Die weitere Analyse von »Deformationstexturen« kalt bearbeiteter Metalle sowie die damit zusammenhängenden Festigkeitszustände beschäftigten Schmid in den 1920er-Jahren weiter.26 Mit diesem Forschungsfeld war er für die Industrieforschung interessant. So ließ er sich 1930 unter Beibehaltung seiner Institutsstellung für einen Beratervertrag bei der IG Farben in Bitterfeld beurlauben.27 Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich experimentell bis zur atomaren Ebene vorgearbeitet. Er selbst beschrieb seine Arbeiten als »erste[n] Etappe auf dem Weg zur atomistischen Erklärung der Werkstoffplastizität«.28 Hier zeigt sich einmal mehr der an Prinzipien und Gesetzen interessierte Naturwissenschaftler. Aber Schmid ergänzte, dass diese atomistische Durchdringung von Festkörpern »auch technische Fortschritte erwarten« ließ.29 Außerdem widmete er sich in seiner Zeit bei der Metallgesellschaft vor allem produktionstechnischen Forschungen im Bereich der Aluminium-Sintertechnologie und meldete gelegentlich auch Patente an.30 Dennoch rangierten naturwissen22 Lintner/Mitsche 1966, 97–99 ; vgl. auch Polanyi/Schmid 1923, 337 ; ursprünglich siehe Czochralski 1918, 219–221. 23 Vgl. Schmid 1932, 530–536 ; Schmid 1934, 126 ; Heuck/Macherauch 1995 ; fast zeitgleich mit Laue durch Vater und Sohn Bragg. Siehe dazu Cahn 2001, 66–72. 24 Lintner/Mitsche 1966, 97–99. 25 D.h. die Analyse der Lage und Orientierung von Kristallen. 26 Vgl. Schmid 1928. 27 Maier 2007, 303 ; Telefoninterview des Autors mit Hans-Erich Schmid am 11.3.2010. 28 Schmid 1930, 892. 29 Ebd., 896. 30 Als Beispiel für ein solches Patent : Dr. Erich Schmid in Frankfurt/Main : Behandlung von Leichtmetallen, DRP. 425452, Klasse 40b, Gruppe 18, patentiert im Deutschen Reiche vom 11. Juni 1924 an, ausgegeben am 25. Februar 1926.
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schaftliche Fragestellungen über den technischen. So kehrte er nach dem Ruf an die Universität Fribourg wieder stärker zur Grundlagenforschung zurück. Er betrieb Röntgenstrukturanalyse von Zweistofflegierungen.31 Gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Walter Boas fasste er sein im Bereich der Kristallplastizität gesammeltes Wissen im Handbuch »Kristallplastizität mit besonderer Berücksichtigung der Metalle« zusammen.32
Forschung am Maschinenprüfstand für die NS-Rüstung Im Herbst 1936 übernahm Schmid die Leitung des Labors der Metallgesellschaft AG in Frankfurt am Main. Vor allem seine Kenntnisse auf dem Gebiet von Zink und Aluminium waren für die nationalsozialistische Roh- und Werkstoffpolitik wertvoll. Er folgte damit auf die Position des bereits damals aufgrund seiner jüdischen Herkunft verfolgten Metallkundlers Sachs.33 Dennoch gab er seinen Fribourger Lehrstuhl auf und half dabei mit, die Metallgesellschaft tiefer in die NS-Rüstung zu integrieren.34 Die Forschungsabteilung der Metallgesellschaft war ab 1939/40 ein Zentrum der deutschen Forschung zu Zink, Zinkzündern und Metallen und arbeitete in weiten Teilen direkt und indirekt für die nationalsozialistische Rüstung.35 Die deutsche Industrie sollte durch die Verwendung von im Inland vorhandenen Stoffen von ausländischen Rohstofflieferungen unabhängiger gemacht werden.36 Schmids Engagement auf diesem Feld brachte ihm einen Direktorenposten bei der Metallgesellschaft ein.37 Obwohl er sich auch weiterhin kristallografischen Fragen widmete, waren seine Arbeiten nun stärker an konkreten technischen Problemen ausgerichtet. So untersuchte er unter Heranziehung von Prüfmaschinen Sparstrategien und ErsatzstoffMöglichkeiten bei in großer Stückzahl produzierten Maschinenbauteilen wie Maschi31 Vgl. Schmid 1934, 126–131. 32 Maier 2007, 223. Der Band von Schmid/Boas 1935 galt bis in die 1970er-Jahre international als das Standardwerk zum Thema. Selbst die englische Ausgabe wurde 1968 noch einmal aufgelegt, vgl. Lintner/ Mitsche 1966, 97–99. 33 Vgl. Maier 2007, 222 ; vgl. Wassermann 1981, 29. 34 Vgl. Maier 2007, 222. 35 Maier 2007, 974, 983 ; vgl. auch Wassermann 1981, 33–34, 36–48. 36 Obwohl bereits während des Ersten Weltkrieges an Zinklagerlegierungen gearbeitet worden war, war damals »trotz einer großen Zahl empfohlener Legierungen […] eine Einführung auf breiter Basis nicht erfolgt«. Schmid/Weber 1939, 1005. 37 Beswick/Fraser 1945, 12. Nach dem Entnazifizierungsverfahren war Schmid kein Mitglied von Vorstand oder Geschäftsleitung mehr, durfte sich aber »Direktor« nennen. Siehe dazu HHStAW, Abt. 520, Frankfurt/Main, Schmid, Erich, Spruch vom 22.1.1948 und Begründung. Eine angebliche Honorarprofessur an der Universität Frankfurt am Main konnte im dortigen Universitätsarchiv nicht nachgewiesen werden.
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nenlagern.38 Gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Richard Weber erarbeitete er ab 1939 »eine Reihe von Austauschwerkstoffen« und verbesserte andere.39 Schmid und seine Forschergruppe bei der Metallgesellschaft blieben dabei nicht bei Festkörperanalysen und -empfehlungen stehen, sondern testeten die Werkstoffe auch praktisch aus. Sie verglichen deren Festigkeit, Dehnung, Härte, Wechselbiegefestigkeit, den Ausdehnungskoeffizienten und die Wärmeleitfähigkeit. Sie untersuchten technische Faktoren wie etwa das Material im Verhältnis zur Durchbiegung und Dimensionierung der Welle, das verwendete Schmieröl, die optimal zu verwendenden Werkzeuge bei der Herstellung der Lager, deren Laufgeschwindigkeit und so weiter.40 Hatte Schmid bislang nur die technische Relevanz der Ergebnisse seiner atomistischen Festkörperstudien für die Zukunft in allgemeiner Form angekündigt, so arbeitete er hier nun tatsächlich an technischen Lösungen mit. Dennoch wurden nur wenige Ergebnisse des technisch arbeitenden Physikers für die Werkstattpraxis auch wirklich relevant.41 Auch über die unmittelbare Industrieforschung hinaus stellte Schmid seine Kenntnisse der NS-Politik zur Verfügung. Bereits im Juni 194042 hatte er als Leiter des Arbeitsringes »Zink und Zinkmetalle« im Auftrag des Speer-Ministeriums und der Überwachungsbehörde Reichsstelle für Metalle die Koordination der deutschen Zinkindustrie übernommen.43 Im Herbst desselben Jahres nahm er als einer von vier Universitätsprofessoren an einer Tagung teil, die von der Reichsstelle für Metalle, dem Verein Deutscher Ingenieure (VDI), dem Wehrkreisbeauftragten und den Sparkommissaren des Reichsministeriums für Bewaffnung und Munition organisiert wurde und das Thema »Werkstoffumstellung im Maschinen- und Apparatebau« hatte.44 Auf einer politischen Linie mit der NS-Autarkie- und Kriegswirtschaftspolitik betonte er, von der Notwendigkeit dieses Forschungszweiges fest überzeugt zu sein.45 Folgerichtig trat er 1941 der NSDAP bei.46 38 39 40 41 42 43
Vgl. Schmid 1937, 281–286 ; Goeler/Schmid 1939, 61–68 ; Englisch/Schmid/Weber 1948, 141–154. Lintner/Mitschke 1966, 97–99. Schmid/Weber 1939, 1009 ; Schmid/Weber 1940, 1017–1020 ; Schmid/Weber 1942, 210. Weber/Schmid/Mann 1948, 86. Vgl. HHStAW, Abt. 520, Frankfurt/Main, Schmid, Erich, Spruch vom 22.1.1948 und Begründung. HHStAW, Abt. 520, Frankfurt/Main, Schmid, Erich, Spruch, Sitzung am 19.4.1947 ; Schmid/Wolf 1942, 749 ; vgl. auch Maier 2007, 685. 44 Vgl. Werkstoffumstellung 1940. 45 So schrieb er : »Der Zwang zur Einsparung dieser Metalle hat uns gelehrt, daß wir aus Heimstoffen gleichwertige, teilweise sogar überlegene Lagerlegierungen erhalten können, daß also das gedankenlose Festhalten am Hergebrachten in vielen Fällen eine unentschuldbare Metallvergeudung bedeutet.« Schmid 1941, 285. 46 Eine Recherche zu Schmids NSDAP-Mitgliedschaft im Bundesarchiv Berlin blieb ergebnislos. HansErich Schmid bestätigte jedoch in einem Telefoninterview am 22.6.2010, dass Erich Schmid, wenn auch »ohne Überzeugung«, Parteimitglied gewesen sei.
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Aufgrund seiner kriegswirtschaftlich wichtigen Tätigkeit wurde er 1945 von englischen Kollegen als »important person« eingestuft. Er erschien »apparently faithful to the Nazi Regime, since he attempted to report to Berlin according to Government instructions when the Allied Forces moved across the Rhine«.47 Schmid hatte nicht nur die erste Verlagerungsstufe des Metallgesellschaft-Labors nach Niedernhausen bei Limburg an der Lahn organisiert, sondern am 26. März 1945 auch die darauf folgende nächste Stufe, die er noch mit Berliner Dienststellen abstimmte. Eine Gruppe sollte sich in Richtung Bergakademie Clausthal durchschlagen, eine andere, von Schmid geführte, zur Bergakademie Leoben in der Steiermark. Vermutlich auf dem Weg dahin wurde die Schmid’sche Gruppe im salzburgischen Zell am See von US-Einheiten aufgegriffen.48 Dort war er »[…] einige Wochen« interniert. Erst im Sommer kam er nach Frankfurt zurück.49 Schmids Position und Wissen war für die Alliierten von so großer Bedeutung, dass er in ihrem Auftrag zwei FIAT-Reviews verfasste.50 Das während der NS-Zeit erarbeitete Wissen über Austauschstoffe in Gleitlagern war jedoch nach dem Krieg weitgehend entwertet und für niemanden mehr relevant. Nach wie vor wichtig bleiben Schmids Erkenntnisse im Bereich der Reibung und Lagererprobung. Deshalb resümierten Schmid und Weber 1953 noch einmal ihre Erfahrungen mit Gleitlagern.51 In seinem Entnazifizierungsverfahren 1947/48 wurde Schmid zunächst als Minderbelasteter eingestuft und zu einer Bewährungszeit von zwei Jahren verurteilt.52 Nach seinem Einspruch wurde das Urteil auf »Mitläufer« abgemildert. Belastend wurde seine Parteimitgliedschaft gewertet, seine Rückkehr nach Nazi-Deutschland sowie die Leitungsfunktion im Arbeitsring Zink und Zinklegierungen. Als erschwerend wurde betrachtet, dass er, auch international, zu den »Repräsentanten der deutschen Wissenschaften« gezählt und innerhalb seines Wirkungskreises als »Vorbild« gegolten habe.53 Zahlreiche »Persilscheine«,54 Schreiben von Bekannten, Freunden und Kollegen, die 47 48 49 50 51 52
53 54
Beswick/Fraser 1945, 12. Vgl. Wassermann/Wincierz 1981, 50 ; zum Aufgriff in Zell am See siehe Beswick/Fraser 1945, 12. Telefoninterview des Autors mit Hans-Erich Schmid, 22.6.2010. Field Information Agency Technical Report. Siehe Bayer/Löhberg/Schmid 1948, 67–69 ; Weber/Schmid/ Mann 1948, 84–121. Schmid/Weber 1953. HHStAW, Abt. 520, Frankfurt/Main, Schmid, Erich, Spruch, Sitzung am 19.4.1947. Schmid hatte die Anstellung von Boas sowie eines weiteren »jüdischen Mitarbeiters« als entlastend angegeben. Der sehr emotional formulierte Spruch wertete dies jedoch als erschwerend, da diese Ereignisse Schmid den wahren Charakter des Regimes hätten klar machen und ihn zur Aufgabe seiner Mitarbeit an den NSRüstungsbestrebungen hätten veranlassen müssen. HHStAW, Abt. 520, Frankfurt/Main, Schmid, Erich, Spruch, Sitzung am 19.4.1947. Grundlegend bei Sachse 2002.
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Schmids Distanz zum Nationalsozialismus belegen sollten, führten schließlich zur Herabstufung von Schmids Belastung. Zwar sprach der Betriebsrat der Metallgesellschaft von einer prinzipiellen »Hinneigung zum Nazismus«. Gleichzeitig betonte er Schmids »etwas weltfremde[n] und nachgiebige[n] Veranlagung«55 und auch andere griffen in ihren Gutachten das Klischee des »typischen Gelehrten« und dessen »Weltfremdheit«56 auf, so etwa Alfred Petersen, Vorstandsmitglied der Metallgesellschaft bis 1938. Um als politisches Vorbild zu dienen, sei Schmid, so seine Kollegen, aufgrund »seiner weltabgewandten und zurückhaltenden, fast schüchternen Natur«, die den »Typ des […] unpraktischen und beschaulichen Professors« und ein »stilles, zurückhaltendes Wesen« offenlege, nicht geeignet.57 Schmids Kollege und Freund Wassermann erstellte ein eigenes Gutachten, in dem er Schmid durch zwei Argumente entlasten wollte. Er behauptete, dass der Leiter eines Arbeitsringes den Leitern von Haupt- und Sonderringen unterstellt gewesen sei. Außerdem sei Zink vor allem »Ersatz« für den »zivilen Bedarf« gewesen : »Die Verwendung von Zink für unmittelbare militärische Zwecke hat keine grosse Bedeutung gehabt.«58 Beide Behauptungen erscheinen fragwürdig,59 doch sie dienten der Entlastung Schmids. Das Gericht stellte darüber hinaus in der zweiten Verhandlung fest : »Es waren nicht politische Gründe […] zurückzukehren«, sondern die exzellente Ausstattung des Labors der Metallgesellschaft.60 Das Vorstandsmitglied Petersen, das Schmid den Ruf erteilt hatte, rechtfertigte Schmid außerdem mit der Behauptung, dass 1936 »seine österreichische Herkunft eine Gewähr dafür [gab], dass er in seiner exponierten Position ausser Reichweite der im Dritten Reich beliebten Machenschaften stand«. Darüber hinaus hätte durch Schmids Rückkehr nach Deutschland der von der Frankfurter Universität vertriebene Physiker und Röntgenstrahlenforscher Friedrich Dessauer seine Nachfolge in Fribourg übernehmen können.61 Zur seiner Parteimitgliedschaft gab Schmid an, er sei von Parteivertretern in der Metallgesellschaft massiv dazu gedrängt worden, der NSDAP beizutreten. Nach längerem Drängen habe er nachgegeben, um 55 HHStAW, Abt. 520, Frankfurt/Main, Schmid, Erich, Auskunft des Betriebsrates der Metallgesellschaft vom 3.10.1946. 56 HHStAW, Abt. 520, Frankfurt/Main, Schmid, Erich, Stellungnahme Alfred Petersen vom 29.5.1947. 57 HHStAW, Abt. 520, Frankfurt/Main, Schmid, Erich, Stellungnahme Johannes Jaenicke vom 28.5.1947. 58 HHStAW, Abt. 520, Frankfurt/Main, Schmid, Erich, Gutachten Wassermann vom 21.3.1947. 59 Wassermann äußerte sich zum Beispiel nicht zu den hier angeführten Veröffentlichungen Schmids zur Ersatzstoffpolitik in repräsentativen Zeitschriften, aus denen durchaus seine wirtschaftspolitische Initiative spricht ; zu Zink und Zinkzündern siehe etwa Maier 2007, 669–675. 60 HHStAW, Abt. 520, Frankfurt/Main, Schmid, Erich, Spruch vom 22.1.1948 und Begründung ; dieses Motiv seines Vaters vermutete Hans-Erich Schmid in einem Telefoninterview mit dem Autor am 11.3.2010. 61 HHStAW, Abt. 520, Frankfurt/Main, Schmid, Erich, Petersen vom 29.5.1947.
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seine Mitarbeiter zu schützen und damit der »Friede im Labor stabil« würde.62 Die Berufungskommission akzeptierte alle in den »Persilscheinen« vorgebrachten Entlastungen. Die Berufungskammer bestätigte metaphorisch doppeldeutig, dass Schmid »als reiner Wissenschaftler im Jahre 1936 zur Metallgesellschaft zurückgekehrt ist und dass er dort bis zur Beendigung des Nazi-Regimes ein reiner Wissenschaftler geblieben ist«.63
Radioaktive Strahlen als Werkzeug 1949, noch in Hanau beim Wiederaufbau der Forschungslabors der Vacuumschmelze tätig, publizierte Schmid seinen ersten längeren Zeitschriftenbeitrag nach dem Krieg. Dabei knüpfte er an seine Arbeiten aus den 1920er-Jahren zu neuen Experimentaltechniken, Deformationstexturen und zum Schubspannungsgesetz an.64 Auch die folgenden Veröffentlichungen widmeten sich diesen Themenkreisen.65 Dem prominenten Metallphysiker wären für seine erste Nachkriegspublikation zweifellos alle bekannten deutschen Medien offen gestanden. Er aber wählte, möglicherweise mit dem Hintergedanken an eine Rückkehr in die Heimat, mit den Berg- und Hüttenmännischen Monatsblättern erstmals eine österreichische Zeitschrift. 1947 veröffentlichte er gemeinsam mit Karlik nochmals in einer österreichischen Zeitschrift, diesmal einen kurzen Lebenslauf von Przibram.66 Leider erwähnte Schmid nicht, wann und wie es zu seinem ersten Kontakt mit Karlik gekommen war.67 Immerhin wissen wir von ihm selbst, dass »der erste Anstoß zu unserer Beschäftigung mit Reaktorwerkstoffen« von Karlik ausgegangen war.68 Karlik war nicht nur an physikalischen und chemischen, sondern auch an Fragen der Strahlen- und Reaktortechnik außerordentlich interessiert.69 Zudem bestätigt eine ehemalige Mitarbeiterin, dass das berufliche Verhältnis von Schmid und Karlik stets
62 HHStAW, Abt. 520, Frankfurt/Main, Schmid, Erich, Spruch vom 22.1.1948 und Begründung ; vgl. ebd. Erklärung von Marie Holdheide vom 15.5.1947. 63 Ebd. 64 Vgl. Schmid 1949, 267–274. 65 Vgl. Schmid 1950, 45–49. 66 Karlik/Schmid 1947, 329–330. 67 Auch Lintner konnte dazu im Interview mit dem Autor am 5.6.2009 am keine sichere Aussage treffen. 68 Schmid/Lintner 1962, Einleitung ; Lintner wies im Interview am 5.6.2009 darauf hin, dass er Schmid erst anlässlich dessen Berufung kennengelernt hätte und die neue Forschungsidee erst in diesem Jahr »geboren« worden sei. 69 Karlik 1955, 407–412.
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»innigst« gewesen sei.70 Man darf daher annehmen, dass Schmids Berufung als Nachfolger von Przibram als Leiter an das II. Physikalische Institut der Universität Wien 1951 von Karlik wohlwollend verfolgt worden war.71 Schmid knüpfte mit seinem neu erwachten Interesse für metallphysikalische Grundlagenforschung und neue Analysetechniken an die bereits erwähnte, auf die Zwischenkriegszeit zurückgehende »enge fachliche Zusammenarbeit«72 der benachbarten Institute an.73 Dies deutete er etwa in seiner Antrittsvorlesung klar an.74 Für seine Analysen der Kramer’schen Exoelektronen suchte er eine praktische Verwendungsmöglichkeit.75 Die »experimentelle Verfolgung der Exoelektronen« stelle nämlich auch eine neue Analysemethode zur »Prüfung von metallischen Oberflächen u.a. bei Gleitlagern dar«.76 Wichtiger wurde jedoch ein anderes Einsatzgebiet. Ab den 1980er-Jahren wurden mit Unterstützung der Bonner Strahlenschutzkommission und des Frankfurter Battelle-Instituts nach diesem Verfahren Personendosimeter, sogenannte Dünnschicht-Exoelektronen-Dosimeter, gebaut. Zum wichtigsten Arbeitsgebiet Schmids nach 1945 entwickelte sich die Wechselbeziehung zwischen Metallen und α-, β- und γ-Strahlen. Auch hier interessierten ihn die Strahlen zunächst als Analyseinstrument, später jedoch immer mehr als Werkzeug zur Erzeugung bestimmter Metalleigenschaften. Auf breiter Basis wurden Bestrahlungsversuche, meist mit »idealen« Einkristallen, durchgeführt und zwar anfangs mit α- und β-Strahlen.77 Anfangs interessierte nur das plastische Verhalten, dann auch die Elektronenstruktur der Metalle, die Gitterfehler sowie die Diffusions- und Entmischungsvorgänge, wie sie in Stählen und aushärtbaren Legierungen auftraten. Schmid wandte sich wieder der Grundlagenforschung zu und bemühte sich um die möglichst umfas70 Interview des Autors mit Brigitte Weiss (geb. Hollerwöger), Wien, 7.10.2009. Für seine freundliche Unterstützung danke ich auch Michael J. Zehetbauer, ebenfalls von der Forschungsgruppe Physik nanostrukturierter Materialien der Fakultät Physik der Universität Wien. 71 Reiter/Schurawitzki 2005, 249. 72 Archiv des Deutschen Museums München, G-345, Bl. 11, Bericht über das II. Physikalische Institut der Wiener Universität, derzeit in Thumersbach bei Zell am See Salzburg (Austria), 1.7.1945, ohne Autorennennung. 73 Schmids Arbeitsgebiet am nächsten kam damals in Wien der 1940 nach Wien berufene Chemiker Ludwig Ebert. Vgl. Schindewolf 2000, 143. 74 Schmid referierte über das Feldelektronenmikroskop von E.W. Müller. Erst in den 1960er-Jahren war ein Feldionenmikroskop in Wien möglich. Siehe Lintner/Schmid 1965, 380 und 382 ; Lintner/Mitsche 1966, 97–99. 75 Lintner/Schmid 1965, 380 ; Bruna/Lintner/Müller/Schmid 1954, 610–611. 76 Lintner/Schmid 1954, 285. 77 Schmids Ausgangspunkt waren ältere Röntgenbestrahlungsversuche von Wassermann und neuere von dem Physiker Berthold Stech. Stech verursachte mit α-Teilchen Gitterstörungen. Siehe Müller/Schmid 1954, 719–721.
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sende Beobachtung von Vorgängen im Gitter. Und wieder spekulierte er nebenher über sich daraus ergebende technische Möglichkeiten.78 Die erste Publikation zu diesem Ansatz erschien 1954 in der Schriftenreihe der ÖAW.79 Dieser Forschungsstrang war in Wien bereits gepflegt worden. Karlik hatte zu den Ersten gezählt, die in den 1920er-Jahren zur Luminiszenz von Metallen unter dem Einfluss von radioaktiven Strahlen gearbeitet hatte.80 Przibram hatte sich »als einer der ersten an außerordentlich komplexe Probleme der Festkörperphysik gewagt und frühzeitig das Gebiet der Strahlenbeeinflussung der Festkörper« aufgegriffen.81 Nun führte Schmid in Zusammenarbeit mit dem Kernphysiker Lintner diese Tradition fort. Ihre Bestrahlungsversuche und ihre Kenntnis der internationalen Literatur machten sie zu anerkannten Innovatoren und Multiplikatoren.82 Schmid durfte von sich behaupten, er habe als »einer der ersten Forscher in Kontinentaleuropa […] auch die Wichtigkeit von Untersuchungen über die Beeinflussung der Festkörpereigenschaften durch Bestrahlung« erkannt.83 1955 publizierten sie zu diesem Thema eine Übersicht über den internationalen Forschungsstand. Diesen Übersichtsbericht leiteten die beiden Autoren mit verschiedenen Theorien und Modellen der Wirkung von Strahlen auf anorganische Körper ein. Paradigmatisch dabei waren die Seitz’sche Theorie der Strahlungseinwirkung als Stoßvorgang im Kristallgitter sowie die Bildung von Frenkel-Defekten, also in Kristallgittern vorkommende Punktfehler.84 Das Arbeitsgebiet der Festkörperbeeinflussung durch Korpuskularstrahlung habe, so Schmid, durch Reaktoren, Halbleiter und Kunststoffe neue technische Relevanz erfahren. Darüber hinaus, und dies interessierte ihn in erster Linie, »kommt dem Studium der Strahleneinwirkung wesentliche Bedeutung auch für das grundsätzliche Verständnis der Festkörper zu«, etwa bei der künstlichen Erzeugung von Fehlstellen in Kristallen.85 Auf ihrem derart eingegrenzten Gebiet beabsichtigten die Autoren, einen »Überblick über die neueren Ergebnisse« zu liefern und diese nach Möglichkeit weiterzuentwickeln. Bezüglich der US-amerikanischen Arbeiten beklagten sie, »daß die Forschungsarbeiten vielfach vertraulichen Charakter haben«.86 78 79 80 81 82 83 84
Lintner/ Schmid 1965, 381. Schmid/Lintner 1954, 109–121. Lintner/Schmid 1955, 303. Karlik/Schmid 1947, 329–330 ; zu Przibram siehe auch Rechenberg 2001, 752. Lintner/Schmid 1965, 380. AÖAW, Handakten Erich Schmid, Schmid an IATAS-Verlag vom 4.12.1974. Lintner/Schmid, 1955a, 304. Der US-amerikanische Physiker und Wigner-Schüler Frederick Seitz befasste sich seit den 1930er-Jahren mit Fragen der Strahlungseinwirkung auf Kristallgitter. 85 Schmid/Lintner 1955, 71. 86 Lintner/Schmid 1955a, 303–406, 303.
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1946 hatten Forscher in den USA erstmals einen eigenen Material-Prüfreaktor gefordert, um Werkstoffeigenschaften unter Neutronenstrahlen-Einfluss langfristig und systematisch untersuchen zu können. 1952 ging dieser in Arco, Idaho als erster Reaktor dieses Typs in Betrieb.87 Für die Erzeugung intensiver Protonen-, Deuteronen- und α-Strahlen standen den US-Forschern Teilchenbeschleuniger zur Verfügung. Mit diesen Werkzeugen konnten etwa gezielt Frenkel-Defekte88 erzeugt werden. Einerseits erkannte man in ihnen eine Ursache für die Versprödung von Reaktorhüllen. Andererseits ermöglichte der gezielte Einbau von Fremdatomen die Herstellung von Germanium- und Silizium-Halbleitern sowie die Züchtung besonderer Eigenschaften von Hochpolymeren. So gelang 1954 in den USA die Vulkanisierung von Rohkautschuk zu Gummi ohne Zugabe von Schwefel allein durch ionisierende Strahlung.89 Diese und andere Ergebnisse der US-amerikanischen Forschung gelangten, soweit sie nicht geheim waren, vor allem durch die Zusammenfassungen von Schmid und Lintner an die deutschsprachige Physikerschaft. Ihnen selbst standen zwar nur einfache Neutronenquellen zur Verfügung, diese aber nutzten sie vollständig aus.90 Trotz der bescheidenen Laborausstattung und geringer Experimentiermöglichkeiten in Wien zählte Schmid zu den Ersten seines Fachgebiets. So erreichte er 1955/56 den ersten Listenplatz für den Lehrstuhl für allgemeine Metallkunde und Metallphysik der TH Aachen, lehnt den Ruf aber ab.91
Werkstoffe des Kernreaktors Mit dem Einsetzen der Diskussion über einen österreichischen Forschungsreaktor konzentrierten sich Schmid und Lintner stärker auf Fragen der Reaktorwerkstoffe.92 Sie waren durch drei Gründe aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft motiviert. Erstens tat sich hier ein neues, spannendes und noch wenig bearbeitetes Feld der Metallkunde auf, in dem man sich profilieren konnte. Zweitens öffneten sich in den Minis87 Mit ihm wurde eine neuartige, steuerbare Neutronendichte möglich sowie die Erzeugung schneller Neutronen. Siehe Lintner/Schmid 1955a, 324–325, 327. 88 Gitterfehler in Kristallgittern, benannt nach dem russischen Physiker Jakow Iljitsch Frenkel. 89 Lintner/Schmid 1955a, 327, 378, 385, 390. 90 Lintner erwähnte im Interview am 5.6.2009 Radium-Beryllium-Quellen mit 300 Millicurrie und Radon-Beryllium mit 600 Millicurie. 91 Hochschularchiv der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, ab sofort : HAAc, Fakultätsakten Bergbau- und Hüttenwesen Nr. 117, Fak. für Bergbau und Hüttenwesen TH Aachen an das Kultusministerium NRW vom 25.2.1956. Die Stelle erhielt der zweitplazierte Kurt Lücke, der sich ebenfalls mit Kristallbestrahlungen befasste, 1953 einen Ruf in die USA erhalten hatte und nun zurückkehrte. 92 Zur Kerntechnik siehe grundlegend Müller 1990.
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terien beim Schlagwort »Atomtechnik« die Türen. Drittens verfügte Österreich über eine im internationalen Vergleich relativ hoch entwickelte Metallindustrie. Schmid sah seine Chance gekommen, als er 1963 formulierte, es gäbe »eine Unzahl von Problemen, die auch mit den beschränkten Mitteln eines kleinen Landes erfolgreich behandelt werden können. Vielfach liegt hierfür, beispielsweise im Gebiet der Kernphysik, der Reaktorphysik, der Festkörperphysik, der Werkstoffkunde, neben der wissenschaftlichen Bedeutung die unmittelbare wirtschaftliche Bedeutung der Untersuchungen klar zutage. Bereitstellung von Mitteln für derartige Untersuchungen ist daher nicht nur Förderung der Wissenschaft, sondern darüber hinaus bedeutungsvoller Beitrag zur Sicherung der wirtschaftlichen Existenz der kommenden Generation.«93
Obwohl Schmid hier einmal mehr unterstellte, dass wirtschaftliche Erfolge aus der Metallphysik entsprangen, konnte er natürlich nicht wissen, welche Speziallegierungen für welche Konstruktionen wann und mit welchem wirtschaftlichen Erfolg nutzbar sein würden. Doch Klappern gehörte seit jeher zum Handwerk. Bereits der Metallchemiker Rudolf Schenck, ab 1924/25 Leiter des erwähnten DFG-Schwerpunktprogramms »Metallforschung«, hatte auf eine ihm weitgehend fremde industrielle Praxis rekurriert, um den staatlichen Mittelstrom zu rechtfertigen.94 Bis heute wird Technik gerne als Anwendung von naturwissenschaftlichen Ergebnissen dargestellt, sobald es um die Begründung neuer Forschungsmittel für naturwissenschaftliche Fächer oder auch um den Nachweis deren gesamtgesellschaftlicher Relevanz, vorzugsweise aus einer Ex-post-Perspektive, geht. Teilweise ist die Vorstellung anzutreffen, dass einer technischen Innovation immer eine naturwissenschaftliche Entdeckung vorangehe, teilweise herrscht die Vorstellung, dass Naturwissenschaft und Technik in einer »Technoscience« miteinander verschmelzen. Diesen Vorstellungen ist gemein, dass sie die grundlegend verschiedenen Ziele von Naturwissenschaften (Erkenntnisgewinn) und Technik (Gestaltung und Realisierung) nicht ausreichend würdigen. Darüber hinaus stellen Erkenntnisse der Naturwissenschaften für Ingenieure und Konstrukteure nur einen Bruchteil der von ihnen insgesamt benötigten Kenntnisse und Fähigkeiten dar.95 Statt die Nähe von Ingenieuren zu suchen, verlegten sich die Hochschulforscher Schmid und Lintner abermals auf die Anfertigung einer internationalen Forschungsübersicht über Reaktorwerkstoffe, die für Physiker, vor allem für technische Physiker und Materialprüfer von Bedeutung war. 1955 publizierten sie ein Resümee über die 93 Erich Schmid bei der Übernahme des ÖAW-Präsidiums am 11.10.1963, zit. nach Lintner 1983a, 318. 94 Schenck 1928. 95 Siehe zusammenfassend König 2009, 21–23.
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Werkstoffprobleme des Kernreaktors, für Spaltmaterial, Hülle, Moderator, Strahlenschutzwände, Kühlmittel und Bremsstäbe.96 Sie erstellten eine der ersten Tabellen mit allen in Betracht kommenden Reinmetallen, Legierungen und Konstruktionswerkstoffen, die sie nach den Faktoren Absorptionsquerschnitt, Festigkeit, Duktilität, Temperatur-Werkstoffverhalten sowie Korrosionsfestigkeit in Wasser und Luft organisierten. Bemerkenswert aber erscheint, und hier erweist sich Schmid wieder als Hochschulforscher mit Sinn für Technisches und Wirtschaftliches, dass auch Möglichkeiten für Verbindungsarbeiten (zum Beispiel Schweißen oder Schrauben) und ein »Wirtschaftlichkeitsfaktor« in diese Tabelle mit einflossen.97
»Auch Österreich muss ins internationale Geschäft kommen«98 Die Berufung Schmids an das II. Physikalische Institut war ein Signal zur Stärkung der Materialwissenschaft im Kontext der Kerntechnik. Die großen westlichen Kernforschungszentren in Aldermaston und Capenhurst in Großbritannien verfügten bereits über metallurgische Abteilungen. Material- und Schweißprobleme bei Druckgefäßen traten vor allem bei dem mit besonders hohen Temperaturen arbeitenden schottischen Reaktor in Dounreay auf. Ein britischer Kernkraftspezialist wies 1956 speziell auf Werkstofffragen im Bereich der Kerntechnik hin : »Much effort has gone into these studies in recent years.«99 Als sich die Deutsche Gesellschaft für Metallkunde (DGM) auf ihrer Klagenfurter Hauptversammlung kurz vor der Genfer Atomkonferenz 1955 damit zu beschäftigen begann, war Schmid der erste Vortragende.100 1956 wurde ein DGM-Fachausschuss »Reaktormetalle« gebildet. Man war überzeugt, dass die Weiterentwicklung der Reaktortechnik »viel mehr von der Lösung der auftretenden schwierigen Werkstoffprobleme abhängt als von der Förderung kernphysikalischer Probleme«.101 1955, unmittelbar nach der Genfer Atomkonferenz, erreichte diese Botschaft durch einen Bericht des für Kernenergie zuständigen Sektionsrats im Bundeskanzleramt, Richard Polaczek, auch die österreichische Politik :
96 Lintner/Schmid 1955b, 334–344. 97 Ebd. 98 AÖAW, FE-Akten, Institut für Radiumforschung, Datierte Zeitungsausschnitte, ab sofort: IR, Zeitungsausschnitte, K8, Fiche 139, Der nächste Schritt : Atomkraftwerk, in : Neues Österreich, 27.9.1960. 99 Rotherham 1956, 91–92. 100 Angetter/Martischnig 2005, 128. 101 Schmid/Lintner 1962, Vorwort.
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»Die industrielle Tätigkeit, die die Errichtung von Atomkraftwerken hervorgerufen hat, umfasst ein weit grösseres Bereich [sic] der Industrie als bisher angenommen wurde. Betriebe der Kessel- und Wärmeaustausch-Erzeugung, der Pumpenfertigung, Maschinenindustrie und Stahlbau ; in hervorragendem Ausmaße chemische Betriebe, Fertigungen des Geräteund Apparatebaues, Rohstoffgewinnung und Verarbeitung, alle stehen vor neuen Aufgaben.«102
Deshalb gehörten der Metallkundler Schmid zusammen mit Lintner, Karlik, dem Kernphysiker Georg Stetter sowie dem theoretischen Physiker Hans Thirring zur siebenköpfigen Elite der Universität Wien, die am 24. März 1955 in das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (BMUK) zur Bildung einer Fachkommission für die friedliche Verwendung der Atomenergie in Österreich gebeten wurde.103 Karlik und Schmid sprachen sich im Juli 1955 im Namen dieser Fachkommission für die Entsendung von Lintner und Gustav Ortner als Experten nach Genf aus.104 Ende Juni 1956 wurde von Vertretern des Bundes, der Elektrizitätswirtschaft und der Industrie die Österreichische Studiengesellschaft für Atomenergie GmbH (SGAE) gegründet.105 In der SGAE waren Schmid und Lintner gleich in mehreren der 15 Arbeitskreise vertreten, unter anderem im Arbeitskreis VI (Metallurgie) unter der Leitung von Helmut Krainer,106 im Arbeitskreis IX (Physik) und im Arbeitskreis XIII (Ausbildung). Die Forschungsgegenstände des Arbeitskreises Metallurgie bezogen sich auf »Untersuchungen von Strahlungseinflüssen an Materialien«, auf die »Entwicklung von Legierungen, die intensiver Strahlenbeeinflussung widerstehen«, die »Entwicklung korrosionsfester Materialien« sowie die »Herstellung von Uran- und Thoriumlegierungen«.107 Zudem fungierte Schmid als österreichischer Ansprechpartner bei 102 Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, ab sofort : ÖStA, AdR, Bundeskanzleramt, ab sofort : BKA, Zentralbüro für European Recovery Programme (ERP)-Angelegenheiten 1955, Schachtel A–O, GZ 145.584–10/55, Richard Polaczek : Zusammenfassender Bericht betr. Atomenergiekonferenz Genf vom 19.8.1955. 103 ÖStA, AdR, BKA, Zentralbüro für ERP-Angelegenheiten 1955, Schachtel A–O, GZ 145.584–10/55, Rundschreiben BMUK an die Universitäten, 24.3.1955 ; AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 56, Fiche 829, MS mit der Überschrift »Memorandum«, 1953/54. 104 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 56, Fiche 829, Karlik an Hoyer vom 16.7.1955 sowie ebd., K 51, Fiche 745, Karlik an BMUK vom 4.5.1955. 105 Schaller 1987, 102. 106 Krainer, Jahrgang 1909, war Leiter der Forschungsabteilung der verstaatlichten Gebr. Böhler in Kapfenberg, vgl. Helmut Krainer, Gebr. Böhler & Co. AG. : Steels for tools operating at elevated temperatures, US. Pat. 2.576.229 vom 27.11.1951. 107 ÖStA, AdR, BMUK, 1 ZstB-Atom, Allgemein 1956, K 64, Nr. 883981/1956, Liste der bis zum 20.9.1956 eingegangenen Meldungen der Gesellschafter über Mitarbeit in den einzelnen Arbeitskreisen, nicht dat., 1–5 ; ÖStA, AdR, BMUK, 1 ZstB-Atom, Allgemein 1956, K 64, Nr. 883981/1956, Nr.
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der Arbeitsgruppe für Ausbildungsfragen des Special Committee for Nuclear Energy der OECD.108 Darüber hinaus waren Schmid und Lintner zur Mitarbeit in der Studiengruppe für Atomenergie im Elektrotechnischen Verein Österreichs (EVÖ) eingeladen worden. Der Leiter der Studiengruppe und Präsident des EVÖ, Alexander Koci, sprach sich 1956 gegenüber Ministerialrat Adalbert Meznik vom BMUK für eine weiter gehende Finanzierung der Kernforschung in Österreich aus. Es sei vertretbar, so Koci, dass das kleine Österreich sich an den internationalen Arbeiten beteilige. So seien auf »theoretisch-wissenschaftlichem Gebiet in Österreich schon wesentliche Leistungen und Erfolge erzielt worden«. Dagegen seien Arbeiten auf dem »technischen Gebiete der Kernenergieverwertung […] in Schwung zu bringen«.109 Dabei dachte die EVÖ-Studiengruppe Atomenergie auch an die Bearbeitung metallkundlicher Probleme. Lintner war überzeugt davon, dass »von einer positiven Lösung dieser Frage das künftige wirtschaftliche Geschehen und damit wenigstens in gewissem Sinne auch die Existenz Österreichs abhängt«.110 Die Literatur, auf die Lintner in seinem umfangreichen Wunsch-Forschungsprogramm hinwies, bestand aus acht Aufsätzen, von denen sieben aus seiner und Schmids Feder stammten.111 Die Expertise der beiden war auch bei der Vorbereitung des ersten österreichischen Kernreaktors gefragt.112 In dasselbe Horn stießen die Medien, etwa der Chemiker und Publizist Heimo Hardung-Hardung in der Wiener Presse. Es könne »bei oberflächlicher Betrachtung für ein kleines Land als aussichtslos erscheinen, an diesem internationalen Wettlauf teilzu-
875931/1956, ÖStA : Bildung von Arbeitskreisen vom 6.11.1956, 1–8 ; ÖStA, AdR, BMUK, 1 ZstBAtom, Allgemein 1956, K 64, Nr. 883981/1956, Nr. 875931/1956, Die Vorstände der Physikalischen Institute der Univ. Wien an das BMUK betr. Nennung von Fachvertretern als Mitglieder der bei der SGAE gebildeten Arbeitskreise vom 8.10.1956. Zusätzlich wirkte Schmid auch im Arbeitskreis X »Spaltmaterial und spezielle Materialien«, Untergruppe »Aufarbeitung von Uran, Thorium, Zirkon, Berillium, Lithium und Graphit« mit. Schmid, Karlik, Stetter und Thirring wurden auch in den Arbeitskreis II »Organisation der Forschung und wissenschaftliche Ausrüstung« unter der Leitung des Sektionschefs im BMUK, Adalbert Meznik, entsandt. 108 ÖStA, AdR, BMUK, Nr. 57749–1/1956, Vermerke Brunner und Hoya vom BMUK, 8.5.1956 ; ÖStA, AdR, BMUK, Nr. 57749–1/1956, OECD : Special Committee for Nuclear Energy, Working party No. IV (Training), Training and Needs in Specialists in Austria, 11.5.1956. 109 ÖStA, AdR, BMUK, Nr. 769251/1956, Koci an Meznik vom 20.7.1956. 110 ÖStA, AdR, BMUK, Nr. 741591/1956, Rundschreiben Lintner auf EVÖ-Briefpapier und Beilage III vom 6.7.1956. 111 Ebd. 112 Archivraum, NL Schmid, Ordner »Atomenergie«, Meznik an Schmid vom 3.5.1956 ; ÖStA, AdR, BMUK Nr. 593921/1956, Schmid an BMUK vom 15.6.1956 ; siehe auch Archivraum, NL Schmid, Ordner »Atomenergie«, Institut für Radiumforschung : Gutachten über die Zweckmäßigkeit der Errichtung eines Reaktors in Österreich, nicht dat.
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nehmen. Diese Ansicht ist aber durchaus irrig.«113 Ähnlich war der Tenor im Beitrag »Auch Österreich braucht Atomwirtschaft« : »Zwar werden österreichische Firmen kaum in der Lage sein, ganze Reaktoranlagen zu exportieren […], aber [es] wäre durchaus denkbar, daß sie sich auf Teilgebieten erfolgreich in den Konkurrenzkampf einschalten könnten.«114
Österreich verfüge über ein Edelstahlwerk, das sich bereits auf Reaktorstähle spezialisiert habe.115 Andere Medien forderten : »Auch Österreich muß ins internationale Geschäft kommen.«116 All dies deutet darauf hin, dass die Politik und Teile der Öffentlichkeit von der Großindustrie Engagement auf dem Feld der Kernenergie erwartete, das von dieser auch lebhaft aufgenommen wurde.117 Im Vergleich dazu blieb das Interesse der Elektrizitätswirtschaft verhalten.118 »Kernumwandlungsmetallurgie« – eine österreichische Forschungsinitiative von Hochschule und Industrie Ein wesentliches Forum, auf dem die Kontakte zwischen Hochschulen und Industrie hergestellt wurden, waren die bereits genannte SGAE und ihre Arbeitskreise, in denen sich die wichtigsten Industriellen und Forschungsvorstände der österreichischen Metall-, Eisen- und Elektroindustrie trafen. Als weitere Plattform fungierten technischwissenschaftliche Vereine. So war es die 1925 gegründete, in der NS-Zeit in den Verein Deutscher Eisenhüttenleute (VDEh) eingegliederte und 1950 neu organisierte österreichische metallurgische Gesellschaft »Eisenhütte Österreich«, die sich an der Schnittstelle von Kernforschung und Metallforschung befand. Ihr Vorsitzender war der Generaldirektor der Österreichisch-Alpine Montangesellschaft (ÖMAG) Josef Oberegger.119 113 AÖAW, FE-Akten, IR, Zeitungsausschnitte, K 8, Fiche 138, Heimo Hardung-Hardung : Auch für Österreich Chancen in der »Atomindustrie«, in : Die Presse, 18.9.1955, 15. 114 AÖAW, FE-Akten, IR, Zeitungsausschnitte, K 8, Fiche 138, Auch Österreich braucht Atomwirtschaft (nicht genannte Tageszeitung). 115 Ebd. 116 AÖAW, FE-Akten, IR, Zeitungsausschnitte, K 8, Fiche 138, Der nächste Schritt : Atomkraftwerk, in : Neues Österreich, 27. 9.1960. 117 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik 53785, Bericht über eine Besprechung am 17.11.1955 im Großen Sitzungssaal der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft Wien ; AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik 53791, Protokoll der konstituierenden Sitzung des Aufsichtsrates der ÖSGAE am 15.5.1956. 118 Vgl. etwa Schaller 1987, 112. 119 Obereggers Karriere vom Heimwehr-Funktionär zum ÖMAG-Vermögensverwalter beschreibt Schleicher 1999, 327–329.
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Oberegger organisierte 1956 gemeinsam mit Karlik und Roland Mitsche, dem österreichischen Metallkundler und Ordinarius an der Montanuniversität Leoben, ein Kolloquium mit dem Titel »Kernumwandlungsmetallurgie«, bei dem Mitarbeiter des Instituts für Radiumforschung, Metallphysiker und Vertreter der Industrie zusammenfanden.120 Das Kolloquium bot einen breiten Überblick über dieses Feld, das von Hochschulen und Industrie zu einem nationalen Forschungsschwerpunkt auserkoren worden war. Einleitend beschworen Oberegger und Mitsche ohne Beteiligung eines Vertreters der Energiewirtschaft einen angeblich »in gar nicht so ferner Zeit zu erwartenden Energieengpaß der Weltwirtschaft«.121 Anschließend stellte Karlik die vielfältigen Beziehungen zwischen der Kernphysik und der Metallkunde dar. Die Leistungen künftiger Reaktoren hingen, so die Kernphysikerin, »ganz wesentlich von den Leistungen der Metallkunde und Metallurgie ab«.122 Eine Assistentin am Institut für Radiumforschung, Traude Bernert, stellte die Einsatzgebiete von Radioisotopen in der Metallurgie und Metallkunde vor123 und der Chemiker Engelbert Broda hoffte darauf, dass die Industrie radioaktive Verfahren zur Messung von Spurenelementen nutzen würde.124 Schließlich zeigte Krainer, Leiter der Forschungsanstalten der Gebrüder Böhler & Co. AG in Kapfenberg, an praktischen Beispielen die Sinnhaftigkeit der neuen Analysemethoden.125 Sein Vortrag bot einen Überblick über die Anwendungsfelder radioaktiver Isotope als Analyseinstrument
120 Auch Mitsche hatte, ähnlich wie Schmid, während der NS-Zeit Ersatzstoff-Forschungen im Auftrag des Reichsforschungsrates und des Oberkommandos des Heeres betrieben. Siehe div. Forschungsaufträge im Bundesarchiv Berlin, Bestand RFR, R 26 III, Nr. 6, Bl. 93 und Nr. 9. 121 Oberegger/Mitsche 1956, Einleitung. Es fällt auf, dass ein Vortrag von Schmid ankündigt wurde, dieser aber nicht in dem Themenheft abgedruckt ist. 122 Karlik ging konkret auf den schon erreichten und noch zu erwartenden Beitrag der Metallkunde ein : Geringe Neutronenverluste in Werkstoffen seien anzustreben, die Ausarbeitung neuer chemischer Analysemethoden, zerstörungsfreier Methoden, von Verfahren der Strukturbestimmung, Kontrollverfahren bei der Produktion durch Radioisotope sowie die Modifikation von Metallen durch Bestrahlung oder »erzwungenen Einbau« eines Elementes in ein anderes über ein Radioisotop. Gelänge es, Silberatome in ein Stahlgitter einzubauen, würde sich eine gegen Salzsäure und Chlor beständige Schicht ausbilden und damit ein für spezielle Zwecke brauchbarer Edelstahl. Karlik 1956, 210. Siehe dazu auch Rapatz 1951, 287–288. 123 Bernert hoffte auf Messverfahren von Diffusionsprozessen zur Untersuchung von Mikrostrukturen, von Verschleiß und Abrieb, zur Qualitätsoptimierung von Aluminiumguss durch Markierung und der Dickemessung von Blechen und Metallschichten. Vgl. Bernert 1956, 213–219. 124 Broda 1956, 228–232. 125 Krainer war einer der Mitarbeiter der Wissenschaftlich-Technischen Arbeitsgemeinschaft für HärtereiTechnik und Wärmebehandlung in Bremen gewesen, die aus den ab 1941 gehaltenen Härterei-Kolloquien von Paul Riebensahm, dem Inhaber des Lehrstuhls für Mechanische Technologie an der TH Berlin, hervorgegangen war. Vgl. Hengerer 2004, 3–7 ; zudem war er einer der Mitarbeiter des Stahlfachmannes Paul Riebensahm gewesen. Vgl. VdEH-Archiv, Ordner La 1-Ld 21, hier La 1, »Werkstoffausschuss. Aufbau und Gestaltung«, 11–13, Bericht über das 10-jährige Bestehen des Werkstoffausschusses in Essen, MS, Nov. 1929. Vgl. auch Rapatz unter Mitwirkung von Krainer u.a. 1942, Vorwort.
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bei der Prüfung von Stahl und Werkstücken, etwa von Druckwasserleitungen im Gebirge oder bei der Endabnahme von Überhitzertrommeln mit Kobalt-60-Isotopen, bei der Auffindung von Phosphorseigerungen im Thomas-Konverter oder der Messung des Abnutzungsgrades von Schnellstahl.126 In Nachfolge der Untersuchungen von Schmid und Lintner gründete Mitsche unmittelbar nach dem Kolloquium »Kernumwandlungsmetallurgie« in Leoben einen zweiten Forschungsschwerpunkt zu Strahlen und Metalle in Österreich, der von der SGAE gefördert wurde.127 Zu diesem Zeitpunkt war man bei Böhler bereits in das neue Geschäftsfeld der Reaktorwerkstoffe eingestiegen. So sehr Schmids Arbeiten auf diesem Feld anwendungsorientiert gewesen waren, blieben sie für die Industrie eher »vom theoretischen Standpunkt höchst bedeutungsvoll«.128 Die Industriepraxis griff höchstens selektiv im Bedarfsfall auf die Ergebnisse und das Basiswissen der Hochschullabors zu.129 Krainer betonte, dass das Erfahrungswissen der Industrie und der Ingenieure von größerer Relevanz für die technische Realisierung sei. Nur mit dessen Hilfe könnten die entscheidenden technischen und konstruktiven Fragen wie die nach Größe und Sicherheit von Druckbehältern sowie der Gestaltung von Schweißnähten beantwortet werden. Dasselbe gelte für Fragen des Verhaltens von Brennstoffen, Moderatoren, Kühlmitteln und zur Neutronenökonomie. Da beispielsweise Kobalt stark neutronenaktiv war, musste man erst lernen, neutronenabsorbierende Stähle herzustellen, zu bearbeiten und konstruktiv einzusetzen. Die Kobaltgehalte der österreichischen Erze vom Erzberg und von Hüttenberg lägen so niedrig, so Krainer, »daß unter Anwendung entsprechender Vorsichtsmaßnahmen bei der Stahlherstellung in Österreich mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand Baustähle mit niedrigen Kobaltgehalten herstellbar sind«.130 Es muss offen bleiben, wie profitabel das Geschäft mit Reaktorstählen für Böhler war. Fest steht, dass es weitergeführt wurde. So baute der Nachfolger Krainers, Gundolf E. Rajakovics, ab 1964 bei Boehler in Kapfenberg eine nukleare Forschungsabteilung auf. Dort wurden nicht nur Spezialstähle für verschiedene Kraftwerkstypen und -funktionen etwa unter dem geschützten Warenzeichen »Neutronit« oder »Antinit« hergestellt, sondern auch Kraftwerkskomponenten zusammengebaut.131 Vor allem beim
126 Vgl. Krainer 1956, 249–255. 127 Für die Arbeit »Einflüsse von Bestrahlung auf Umwandlungsvorgänge von Metallen« erhielt Mitsche bspw. 1958 75.000 öS für sein Institut für Metallkunde und Werkstoffprüfung ; siehe AÖAW, NL Karlik, 53787, Forschungsanträge an die SGAE vom 18.4.1956, Projektvorstellung und Stellungnahme des Unterausschusses. 128 Krainer 1958, 128. 129 Ebd. 130 Krainer 1958, 125–128 ; später gab es andere Lösungen. 131 Vgl. Rajakovics 1967, 71–73, 82–84.
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Bau von Abwasseranlagen für Kernkraftwerke war Böhlers Know-how gefragt. So wurde die Eindampfanlage des Kernforschungszentrums Jülich aus dem besonders korrosionsfesten »Antinit«-Stahl von Böhler hergestellt.132 Auch beim Bau des Hochtemperaturreaktors Dragon in Großbritannien, dem Schwerwasserreaktor Halden in Norwegen und der Wiederaufbereitungsanlage Mol in Belgien wirkten österreichische Unternehmen mit.133 Ab Ende der 1960er-Jahre baute der Stahl- und Apparatebau der VOEST-Alpine AG ebenfalls Kernkraftwerk-Komponenten.134 Ein Reaktorbau-Lehrbuch und ein neues Analysewerkzeug Boten die Arbeiten des II. Physikalischen Instituts grundlegendes Material für die Werkstoffingenieure bei Böhler, so profitierten die weiteren Arbeiten von Schmid und Lintner von den Erfahrungen der Industrie.135 Diese Erfahrungen gaben sie an ihre Schüler und Schülerinnen weiter.136 1962 fassten sie ihre bisherigen Arbeiten zu Reaktorwerkstoffen zusammen und erweiterten sie zur ersten deutschsprachigen Gesamtdarstellung »Werkstoffe des Reaktorbaues«.137 Das Buch behandelte kernphysikalische, materialwissenschaftliche, metallurgische und werkstofftechnische Aspekte. Es gehörte lange Zeit zum Standardrepertoire an den physikalischen und metallurgischen Instituten deutschsprachiger Hochschulen.138 Unmittelbar nach Erscheinen des Bandes gab es eine erste Welle einschlägiger Publikationen.139 Der Teil über Reaktorwerkstoffe umfasste zunächst die Brennstoffe Uran, Plutonium und Thorium, die Moderatoren und Reflektoren wie leichtes und schweres Wasser, Graphit, Beryllium, die Regelstäbe, Kühlmittel sowie die eigentlichen Konstruktionswerkstoffe. Auffallend ist, dass Lintner und Schmid häufig auf praktische werkstofftechnische Aspekte wie etwa Erzaufbereitung, Reduktionsverfahren, Verarbeitbarkeit, Verbindungstechnik und dergleichen zu sprechen kamen. Es blieb eine der Eigenschaften von Schmid, dass er, obwohl Physiker, doch eine beachtliche Affinität 132 Rajakovics 1972, 161. 133 Vgl. Schaller 1987, 104–105. 134 Neunteufel 1991, 115. 135 Der Band zeigt das Wechselverhältnis von »science based industry« und »industry based science«, siehe dazu König 1995, 297–303. 136 Aus Platzgründen seien hier nur die Dissertationen von Hollerwöger 1960 und Vogl 1965 erwähnt. 137 Schmid/Lintner 1962. 138 Siehe etwa Bibl. der TU Berlin, Sign. 4 Qf 462, das Vorlesungsskript Feller 1966, 1. »Metallische Reaktorwerkstoffe« des Ordinarius für Werkstoffwissenschaften Heinz Gerhard Feller an der TU Berlin, Berlin 1966, S. 1. 139 Kurz zuvor erschien der Aufsatz von Boettcher 1960 und das allerdings noch sehr theoretisch angelegte Werk von Epprecht 1961 ; Zentralinstitut 1963/1964 ; Gebhardt/Thümmler/Seghezzi 1964 und 1969.
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zu technischen Problemen und praktischen Lösungen erkennen ließ. 1965 fasste er seinen Ansatz mit den Worten zusammen : »Fast immer sind es Festkörperprobleme, die sich der Realisierung an sich möglicher physikalischer Vorgänge entgegenstellen […].«140 Dieser Erkenntnis entsprechend, erweiterte Schmid seinen Werkzeugkasten zu Beginn der 1960er-Jahre um die Anwendung von Ultraschall.141 Dies sprach sich bis in die USA herum. Durch einen Schüler Schmids vermittelt142 arbeiteten Teile des II. Physikalischen Instituts ab 1963 für mehrere Jahre für die US-amerikanische Rüstungsforschung im Rahmen des European Research Contracts Program. So wünschte die Marine etwa, dass Schmid den formgebenden Einfluss von Ultraschall auf Metallkristalle untersuchte.143 1970, Schmid war seit drei Jahren emeritiert144 und Präsident der ÖAW, ließen die beiden auf ihrem interdisziplinären Feld der Strahlen und Metalle prominenten Forscher noch einmal zwei zusammenfassende Darstellungen zur Strahlenbeeinflussung folgen, diesmal in englischer Sprache.145
Zusammenfassung Die Radioaktivitäts- und Kernforschung umfasst auch die Wechselwirkungen von radioaktiver Strahlung mit organischen und anorganischen Körpern. In Österreich war die Zusammenarbeit zwischen Strahlenforschung und Festkörperphysik seit der Zwischenkriegszeit vor allem durch das Institut für Radiumforschung und das II. Physikalische Institut der Universität Wien, die beide auch räumlich verbunden waren, 140 Lintner/Schmid 1965, 382. 141 Bertwin Langecker und Friedrich Blaha hatten unter Schmids Ägide mit der Ultraschallforschung in Wien begonnen, vgl. Blaha/Langecker 1959 ; vgl. auch AÖAW, PA Erich Schmid, undat. MS, E. Schmid : Research in Ultrasonics at the University of Vienna. Ultraschall ist heute eine Waffe von wachsender Bedeutung. 142 Das Verbindungsglied war vermutlich Langecker, der zu dieser Zeit am Michelson Laboratory der USMarine im kalifornischen China Lake arbeitete. Siehe Langenecker 1961 ; siehe außerdem den Lebenslauf von Langenecker auf der Homepage von Macro-Dynamic Inc. unter : http ://www.globeprotect.com/ company/dr-bertwin-langenecker.php ; Zugriff : 3.2.2011. Langenecker verstarb 2007. 143 Archivraum, NL Schmid, kl. braune Schachtel ohne Inv.-Nr., MS II. Physikalisches Institut der Universität Wien : Investigation on the Effects of Ultrasonics on the Deformation Characteristics of Metals. Prepared under US Government European Research Contracts Program, Contract No. N 62558–3436, Final Report covering Period February 1, 1963 to January 31, 1964. Dort weitere gleichlautende Jahresberichte bis 31.1.1966. Der Jahresbericht 1964/65 ist gestempelt mit »For information and retention distributed by the Bureau of Naval Weapons«. 144 Tel. Datenauskunft durch die Redaktion des Österreichischen Biographischen Lexikons vom 13. Juni 2010, mit Dank an Frau Offenthaler. 145 Schmid 1970 und Schmid/Lintner 1970.
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gegeben. Radioaktive Strahlen konnten als Werkzeug zur Modifikation von Kristallstrukturen von Festkörpern, etwa von Halbleitern, eingesetzt werden. Umgekehrt waren Metalle in ihren Eigenschaften so zu optimieren, dass damit radioaktive Teilchen in einem Reaktor nutzbringend beeinflusst werden konnten. Nachdem Przibram als Leiter des II. Physikalischen Instituts diese Forschungsrichtung in Österreich als einer der Ersten eingeschlagen hatte, folgte ihm 1951 Schmid. Die Biographie Schmids ist aus mehreren Gründen für die Wissenschafts- und Technikgeschichte bedeutsam. Erstens begründete Schmid in den 1920er-Jahren gemeinsam mit Sachs und Dehlinger die Metallphysik. Schmid war einer der am meisten geförderten Metallforscher und gehörte zu den erfolgreichsten Forschern auf dem Feld der Röntgenstrahlung, insbesondere der Röntgenstrukturanalyse, in der Weimarer Republik. Das sogenannte Schmid’sche Schubspannungsgesetz ist noch heute ein Begriff. Zweitens zeichnete Schmid ein breit gestreutes Interesse an Problemen metallischer Körper aus. Trotz seiner prinzipiellen Orientierung an der Ergründung von Naturgesetzen, die er als Physiker mitbrachte, interessierte er sich für die praktische technische Verwertung seiner analytischen Beobachtungen. Er beteiligte sich sowohl an der Materialwissenschaft als auch der Werkstofftechnik. Dieses Interesse ging so weit, dass sein Arbeitsgebiet von der universitären Forschung über die Industrieforschung bis hin zum Prüfstand reichte. Dieses seltene Zusammenfallen von naturwissenschaftlichen und technischen Forschungsinteressen erleichterte Schmid, je nach gegebener Lage, die Finanzierung seiner Forschungen. Hinzu kam eine außerordentliche institutionelle, räumliche und politisch-weltanschauliche Flexibilität. Je nach Auftraggeber und Aufgabenstellung finden wir eher den Grundlagenforscher, den anwendungsorientierten Tüftler sowie später den Wissenschaftsmanager. Zur Einwerbung von Drittmitteln verwies er gerne auf die früher oder später zu erwartende Umsetzung der Physik in technische Sachsysteme. Dass diese Umsetzung manchmal gar nicht, in ganz anderer Form oder häufig Jahrzehnte später erfolgte, erwies sich erst im Laufe der weiteren Entwicklung. Dieser Sachverhalt zeigt deutlich, dass die technische Forschung, Entwicklung und Erprobung durch Ingenieure, Konstrukteure, Maschinenbauer, Betriebstechniker und auch Werkstattpraktiker meistens eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorchte. Diese kannte der Physiker Schmid trotz seiner zeitweise ausgeprägten Orientierung auf funktionierende Produkte nur zu kleinen Teilen. Werkstoffe, die von technisch orientierten Physikern wie Schmid für bestimmte Einsatzbereiche ›zurechtgeschneidert‹ worden waren, stellten für Ingenieure und Konstrukteure allenfalls gut begründete Vorschläge dar, die ihre Funktionsfähigkeit im technischen Gebrauch erst erweisen mussten. Dies gilt auch für seine Arbeiten an »Austauschstoffen«, etwa für Maschinenlager während der NS-Autarkiepolitik. Schmid opponierte nicht gegen die NS-Politik, sondern nahm die karriereförderli-
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che Leitung eines gut ausgestatteten Metall-Laboratoriums an. Für die mit dieser Position einhergehende Einbindung in die NS-Rüstungsarbeiten gab er seine Schweizer Professur auf. Für die Wissenschaftsmissionen der alliierten Streitkräfte zählte er zu einer fixen Größe der Metallforschung in Deutschland. Schließlich war er es, den etwa ein so renommiertes Unternehmen wie die Vacuumschmelze in Hanau darum bat, ihr Forschungslabor wieder aufzubauen. Leider wissen wir nicht, welches Interesse bei Schmid 1951 schwerer wog : das an einer Professur in seiner Heimat oder das an der »Kernumwandlungsmetallurgie«, wie es Karlik bereits vorschwebte. Als Leiter des II. Physikalischen Instituts der Universität Wien orientierte er sich nach Jahren industrienaher, praktischer Tätigkeit wieder stärker an der Kristallanalyse und der Grundlagenforschung. Mit der »Kernumwandlungsmetallurgie« griff er ein neues Forschungsgebiet auf und knüpfte an die bestehende Verbindung zum Institut für Radiumforschung an. Dabei erhielt er große Unterstützung von der Industrie sowie vom österreichischen Staat, der durchaus einen wirtschaftlichen Nutzen in der Hochschulforschung sah. Im Falle der Kernforschung hatte die Regierung die staatspolitische Bedeutung der Naturwissenschaften voll erkannt und half bereits in den frühen 1950er-Jahren bei der Ankopplung an internationale Entwicklungen mit, wovon Schmid und Lintner massiv profitierten. Zunächst interessierten Schmid und den Kernphysiker Lintner Fragen der Gitterbeeinflussung durch radioaktive Strahlung, später zunehmend Reaktorbaustoffe. Die im internationalen Vergleich bescheidene Laborausstattung in Wien kompensierten sie durch systematische Zusammenschau der weltweit erzielten Forschungsergebnisse in Verbindung mit experimenteller Kreativität. Mit den Plänen zum Bau eines österreichischen Forschungsreaktors ab etwa 1954 und noch mehr mit den Überlegungen zu Leistungsreaktoren setzte sich in Politik und Wirtschaft die Überzeugung durch, dass die Metallurgie integraler Bestandteil dieser Projekte werden müsse. Schmid, Lintner und viele andere befeuerten gezielt die »Atomeuphorie« und wurden in zahlreiche staatliche, private sowie internationale Forschungsgremien der Atomforschung optiert. Radioaktive Strahlen wurden als das Werkzeug von morgen betrachtet, Österreich als potenzieller Lieferant von Reaktoranlagen oder wenigstens ihrer Bauteile. Die staatlich unterstützte Aktion mündete in ein großes Symposium zur »Kernumwandlungsmetallurgie«, an dem unter anderen Schmid teilnahm. De facto blieb von diesem nationalen Hoffnungsprojekt der systematischen Zusammenarbeit von Hochschule und Industrie der Unternehmensbereich Reaktor-Spezialstähle beim verstaatlichten Spezialstahlhersteller Böhler in Kapfenberg, in den im Laufe der Sechzigerjahre auch die VOEST-Alpine einstieg.
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Die Fehler der Wissenschaftler, die Schwankungen der Natur und das Gesetz des radioaktiven Zerfalls, 1899–1926 Deborah R. Coen, New York
Die Geschichte des Wahrscheinlichkeitsdenkens in den physikalischen Wissenschaften wurde lange Zeit als eine Geschichte der physikalischen Theorie geschrieben. Die Historiker suchten in den Schriften der theoretischen Physiker, ihren philosophischen Neigungen und kulturellen Vorlieben nach Erklärungen für den Reiz des Indeterminismus im frühen 20. Jahrhundert. In diesem Aufsatz soll dagegen die Wahl einer probabilistischen Darstellung der mikroskopischen Welt aus der Perspektive der Laborarbeit untersucht werden. Bereits 1908 interessierten sich viele der bedeutendsten Physiker in Europa für eine probabilistische Darstellung des radioaktiven Zerfalls, allerdings aus Gründen, die mit Metaphysik wenig zu tun hatten. Der Reiz der »Zufälligkeit« lag vielmehr in der profanen Ordnung, die durch ein statistisches Gesetz des radioaktiven Zerfalls entstand.1 Dieses Gesetz bot den Physikern einen zunächst scheinbar einfachen Leitfaden, um zu beurteilen, ob die Streuung in ihrem Datenmaterial ein Zeichen von Ungenauigkeit war oder eine Veränderlichkeit widerspiegelte, die der Natur selbst innewohnte. Für die Physiker an der Wende zum 20. Jahrhundert wurde es zu einem entscheidenden Problem, zwischen Laborfehlern und mikroskopischen Schwankungen unterscheiden zu können. Rasche Fortschritte in den hochpräzisen Messtechniken ermöglichten es, Diskontinuitäten in der mikroskopischen Welt zu erfassen, in manchen Fällen sogar bevor sie theoretisch begründet werden konnten. Als die Physiker diese experimentellen Untersuchungen allmählich mit den neuesten theoretischen Methoden der statistischen Mechanik zusammenbrachten, begannen sie, über »Schwankungserscheinungen« als neues Teilfeld der physikalischen Forschung nachzudenken, in dem sich Parallelen zwischen so unterschiedlichen Phänomenen wie der Brown’schen Bewegung, der kritischen Opaleszenz und den unvollkommenen Kristallen entdecken ließen.2 Die Schwankungen ermöglichten eine »Sondierung« der Quantenprozesse, wie es der Philosoph Martin Krieger nennt, die den makroskopischen Phänomenen zugrunde liegen.3 Sie sind für die Physiker und Physikerinnen bis heute ein entschei1 2 3
Hacking 1990, 1–2. Vgl. Fürth 1920, 1–11. Vgl. Krieger 1992, 96–7,109–113.
272
Deborah R. Coen
dendes Hilfsmittel geblieben. In den ersten fünf Jahren des 20. Jahrhunderts überholten die Messtechniken jedoch die Theorie. Mit dem 1903 eingeführten Ultramikroskop zeigte sich, dass der Weg der Teilchen weitaus unregelmäßiger war, als bisher angenommen, ein Ergebnis, das die Beobachter mit der kinetischen Theorie in Einklang zu bringen versuchten.4 Mit Hilfe elektrischer Instrumente entdeckten Wissenschaftler mikroskopische Schwankungen, bevor sie begriffen, was sie sahen. In ihren Augen hätten die Störungen, die ihre neuen Instrumente verzeichneten, ebenso gut experimentelle Artefakte wie natürliche Unregelmäßigkeiten sein können. In diesem Artikel wird beschrieben, welche Anstrengungen die Physiker unternahmen, um diese Störungen zu ›bändigen‹. Es gab in diesem Prozess insgesamt vier Stadien. In der ersten Forschungsphase, von der Entdeckung des Radiums Ende 1898 bis 1907, priesen die Physiker radioaktive Elemente als eine überaus konstante Energiequelle. Da sie zu einer Zeit ausgebildet worden waren, als ein großer Teil der Physik sich auf die Messung von physikalischen Konstanten konzentrierte, neigten die Radioaktivitätsforscher dazu, Abweichungen von einer konstanten Emissionsrate als Mängel ihrer Apparate zu behandeln. Deshalb versuchten sie, alle Schwankungen der Zerfallsrate zu unterdrücken. 1908, als neue Instrumente es den Forschern und Forscherinnen erlaubten, die Emission einzelner Teilchen optisch zu vergrößern, waren die relativen Schwankungen der Anzahl zerfallender Teilchen pro Sekunde plötzlich zu groß, um sie zu ignorieren. Dies führte zu einer kurzen zweiten Phase, in der die Physiker die Schwankungen sogar noch vergrößern wollten. In der dritten Phase, von 1909 bis 1912, entschloss sich die Mehrheit der Physiker, die probabilistische Erklärung der Schwankungen nach oberflächlichen Prüfungen zu akzeptieren. Sie gingen dazu über, die vorausgesagte Durchschnittsabweichung von einer konstanten Zerfallsrate als »Schwankungsgesetz« zu behandeln, anhand dessen sie elektrische Detektoren und Szintillationszähler gleichermaßen eichten. Es gab in der Gemeinschaft der Radiumforscher aber auch Andersdenkende, die auf einem strengen Nachweis dieses statistischen Gesetzes bestanden. Während der vierten Phase, nach 1912, hatte sich dieser Nachweis fast überall als Problem erledigt, außer in Wien.5 Im Folgenden wird eine eingehende Betrachtung der hartnäckigen Nachforschungen der Österreicher zeigen, dass die Übernahme der probabilistischen Annahmen im Rest Europas keineswegs zwangsläufig aus den experimentellen Befunden folgte. 4 5
Vgl. Nye 1972, 99–102. Zu den Wiener Untersuchungen vgl. Hiebert 1997 ; Karlik/Schmid 1982 ; Hanle 1975 und 1980, 225– 269 ; Stöltzner 2000 ; Hiebert 2000 und Moore 1984 ; zur Geschichte des Wahrscheinlichkeitsdenkens in Österreich : Coen 2007.
Die Fehler der Wissenschaftler
273
Störungen : 1899–1905 In den fünf Jahren nach der Entdeckung des Radiums 1899 hatte dessen vermeintlicher therapeutischer Nutzen eine überwältigende Nachfrage nach diesem Element erzeugt. Als die Preise stiegen, taten sich führende europäische Radioaktivitätsforscher zusammen, um einen internationalen Standard zur Radioaktivitätsmessung zu entwickeln.6 Während einige Wissenschaftler behaupteten, ein Standard, der auf dem Energieertrag statt auf dem Gewicht beruhe, könnte die Genauigkeit erhöhen, hielten andere dagegen, dass es keine Einigkeit darüber gäbe, wie der Radiumertrag genau zu messen sei. Zwar hatte das Radium die Physiker und Physikerinnen seit seiner Entdeckung wegen seiner gleichmäßigen Emission beeindruckt. Es war eine Energiequelle, die vollkommen unempfindlich gegenüber Umweltbedingungen zu sein schien, so dass führende Physiker sich fragten, ob es überhaupt mit dem Prinzip des Energieerhalts in Einklang zu bringen sei.7 Pierre Curie war so von der Unveränderlichkeit der Radiumstrahlung überzeugt, dass er vorschlug, diesen als einen »absoluten Zeitstandard« zu verwenden.8 Dennoch bestand noch keine Einigkeit über eine Frage, die dem Problem der Standards zugrunde lag : Würden radioaktive Elemente an unterschiedlichen Orten, in verschiedenen Höhenlagen und Klimazonen denselben Strahlungsgrad haben ? Wenn ein Gramm Radium von Wien nach Paris geliefert würde, wie erheblich dürfte dann die zu erwartende Strahlung in Paris von dem Wert abweichen, der im österreichischen Laboratorium festgestellt worden war ? Um dieses Problem zu lösen, begannen die führenden Radioaktivitätsforscher, die radioaktive Zerfallsrate unter allen erdenklichen Umweltveränderungen zu prüfen. Jahr Autor(en)
Ort
Methode
1906 Kohlrausch
Wien
Massenmessung
1908 Geiger
Manchester
Massenmessung
1908 Regener und Edgar Meyer
Berlin
Massenmessung
1908 Rutherford und Geiger
Manchester
Einzelmessung (elektrisch)
1910 Rutherford und Geiger
Manchester
Einzelmessung (Szintillation)
1911 Marsden und Barratt
Manchester, London
Einzelmessung (Szintillation)
1913 Curie
Paris
Einzelmessung (elektrisch)
1918 Bormann
Wien
Massenmessung
1921 Muszkat und Wertenstein
Warschau
Massenmessung
Tabelle 1 : Experimentelle Studien von Schwankungen in der α-Teilchen-Emission, 1906–1921. 6 7 8
Vgl. Boudia 1997 ; Hessenbruch 1994. Vgl. Pais 1986. Vgl. Curie 1954, 515.
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Deborah R. Coen
Gegen Ende 1904 setzte Ernest Rutherford einen seiner neuen Studenten auf die Arbeit an diesem Problem an. Howard L. Bronson, ein Yale-Absolvent, bestimmte präzise den Effekt hoher Temperaturen auf die Zerfallsrate der radioaktiven Zerfallsprodukte B [Pb214] und C [Bi214], Materialien mit einer Lebensdauer in der Größenordnung von zwanzig Minuten.
Abb. 1a : Bronsons ursprüngliches Modell für eine »Methode der konstanten Ausschläge«. Die Batterie verursacht eine potenzielle Abweichung zwischen den Metallplatten des Behälters, der die radioaktive Quelle enthält, und bringt die geladenen Teilchen, die von der Quelle abgestrahlt werden, dazu, zur entgegengesetzt geladenen Platte zu wandern. Im Gleichgewicht wird der Strom, der vom Behälter in das Elektrometer fließt, aufgehoben durch den Strom, der im Widerstand umgewandelt wurde, und erlaubt dem Elektrometer somit, kleine Abweichungen von einem Nullstrom aufzuzeichnen. Quelle : Bronson 1906, 144.
Um diese empfindliche Messung durchführen zu können, musste Bronson Messwerte in rascher Folge erheben können, doch die verfügbaren Methoden verlangten vom Beobachter, die Ablenkungsrate aufzuzeichnen. Beim normalen Aufbau wurde eine Batterie verwendet, um zwischen den Metallplatten des Behälters, der die radioaktive Materialprobe enthielt, eine Spannungsdifferenz aufzubauen. Dadurch wanderten die
Die Fehler der Wissenschaftler
275
geladenen Teile, die von der Materialprobe abgestrahlt wurden, zu der entgegengesetzt geladenen Platte, wobei sie einen Ionisationsstrom bildeten. Wenn alle Ionen die Platte erreichten, ohne zu rekombinieren (der »Sättigungszustand«), würde der Strom durch das Gas, das die Platten trennte, zu einem Maß für die Aktivität der Substanz, messbar als Ablenkungsrate. Bronsons Innovation bestand in der Umwandlung des Elektrometers in ein direkt anzeigendes Messgerät, indem er dem Stromkreis einen Hochohmwiderstand hinzufügte.9 Im Gleichgewicht wäre der vom Kondensator hineinfließende Strom gleich stark wie der Strom, der vom Widerstand abgeleitet wird, I = V/R. Mit dieser Anordnung, die Bronson als »Methode der konstanten Ausschläge« bezeichnete, würde das Elektrometer geringe Abweichungen von einem Nullstrom messen (vgl. Abb. 1a). Bronson suchte nach einem Widerstand, der hoch genug war, um schwache Ströme zu messen, aber seine Ergebnisse waren unter den extremen Bedingungen des Experiments »not satisfactory, because the resistances did not remain sufficiently constant«.10 Bronson bat Rutherford um einen Rat ; dieser empfahl, Bronson solle eine Schicht ionisierter Luft ersetzen : »The possibility of doing this is due to the fact that the ionization current through a gas, subject to a constant source of ionization, is proportional to the potential-difference between the plates when this potential difference is small.«11
So bliebe die Proportionalität zwischen den Strömen in den beiden Hälften des Stromkreises erhalten. Rutherford behauptete, eine langlebige radioaktive Quelle könnte möglicherweise einen passenden konstanten Ionisationsstrom liefern (Abb. 1b).12 Diese Methode schien aussichtsreich zu sein. Trotzdem berichtete Bronson von einer Beeinträchtigung : »The precision of an individual measurement is, however, limited by a slight oscillation of the needle. Repeated attempts have been made to eliminate this by better shielding from external electrostatic action, and by careful attention to contacts, but all to no purpose. The most probable explanation seems to be that it is due to exceedingly small and rapid changes in the ionization current itself. This difficulty, however, is not serious, for it seldom causes an error in a single observation of as much as one per cent.«13 9 10 11 12 13
Bronson 1906, 143–145. Ebd., 144. Ebd., Hervorhebung D.C. Ebd., 144. Ebd., 145.
276
Deborah R. Coen
Abb. 1b : Bronsons überarbeiteter Aufbau benutzte eine zweite radioaktive Quelle, um eine konstantere Balance hervorzurufen. Quelle : Bronson 1906, 145.
Für Massenmessungen von α-Teilchen waren solche Schwankungen im Vergleich zur Intensität der Einfallsstrahlung in der Tat unbedeutend. In einer Forschungstradition, die das konstante, gesetzmäßige Verhalten radioaktiver Substanzen betonte, waren mikroskopische Schwankungen ein Nicht-Effekt, ein reiner »Fehler«. Dennoch gelang es Bronson nicht, einige seiner Kollegen zu beschwichtigen, die sich über die »Störungen« beschwerten, für die diese Methode anfällig war.14 Durch eine ironische Wendung des Schicksals sollte ihm jedoch schon zwei Jahre später das Verdienst zugeschrieben werden, als Erster das untrügliche Zeichen für die Inkonsistenz von Radioaktivität beobachtet zu haben.15
14 Vgl. z.B. die Diskussion über E. Ladenburgs Vortrag in der Naturforscherversammlung von 1907 in Dresden, Naturforscherversammlung 1907, 775. 15 Vgl. z.B. Meyer/Regener 1908, 760 ; Geiger 1908, 539.
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Von der Störung zum Signal : 1905–1908 Im September 1905 traf sich die internationale Gemeinschaft der Radioaktivitätsforscher auf dem Ersten Internationalen Kongress für Radiologie und Ionisation in Lüttich. Im Mittelpunkt der Diskussion stand die Notwendigkeit einer internationalen Zusammenarbeit, um radioaktive Materialien finden und sie der wissenschaftlichen Gemeinschaft zum allgemeinen Gebrauch verfügbar machen zu können. Manche Redner drangen darauf, gemeinsam Karten von radioaktiven Vorkommen in Europa zu erarbeiten und ein internationales Zentrum für besonders kostspielige Forschungen einzurichten. Die Wiener Physiker Stefan Meyer und Heinrich Mache sprachen die Schwierigkeiten einer groß angelegten wissenschaftlichen Zusammenarbeit an. Sie erinnerten daran, dass die jüngste Publikationsflut zur Radioaktivität in der Sache kaum weiterhelfen würde, sofern es den Forschern nicht gelänge, die Koordinierungsprobleme der Messungen zu bewältigen. Es gäbe bereits jetzt einen Mangel an »absoluten Ergebnissen, die miteinander verglichen werden« könnten. Meyer und Mache beschworen ihre Kollegen, so einfache Aufgaben wie eine genaue Bestimmung der Kapazitäten des Messinstruments nicht zu vernachlässigen und Verbesserungsvorschläge umzusetzen. Inmitten all dieser Forderungen nach internationaler Koordination trug Stefan Meyer eine Abhandlung seines Kollegen Egon von Schweidler vor : »Über Schwankungen der radioaktiven Umwandlung«. Schweidler stellte in diesem prägnanten Bericht eine alternative Auslegung des bekannten Zerfallsgesetzes vor, das Ernest Rutherford und Frederick Soddy 1902 aus Beobachtungen abgeleitet hatten. Nach diesem Gesetz war der radioaktive Zerfall als eine Exponentialfunktion der Zeit zu verstehen : Wenn N die ursprüngliche Anzahl der Atome eines bestimmten Elements ist, und n die nach der Zeit t verbleibende Anzahl, dann ist n = Ne–λt, wobei λ als der reziproke Wert der »mittleren Lebensdauer« bestimmt wurde. Schweidler merkte an, dass dieselbe Formel als Grenzwert für groß N und groß t herauskomme, wenn λdt stattdessen als »die Wahrscheinlichkeit, dass ein Atom innerhalb der Zeit dt eine Umwandlung erfährt« interpretiert würde.16 Er fügte allerdings hinzu : »Es ist selbstverständlich, dass bei einer geringeren Anzahl von Atomen der tatsächliche Verlauf ihrer Verminderung von diesem idealen Gesetze abweichen wird, und es soll im Folgenden untersucht werden, ob die durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung zu ermittelnde ›Streuung‹ die Grenzen empirischer Nachweisbarkeit erreichen kann.«17 16 Von Schweidler 1905, 1. Hervorhebung D.C. 17 Ebd.
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Er stellte das Problem folgendermaßen dar : Nimmt man eine Auswahl an N Atomen, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit W(x), dass x der Atome nach einem gegebenen Zeitintervall zerfallen sein werden ? Wenn die Wahrscheinlichkeit, dass ein gegebenes Atom im Intervall zerfallen wird, p ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass es unverändert bleibt (1-p), und die Wahrscheinlichkeit von x zerfallenden Atomen ist einfach durch die Binomialverteilung gegeben : W(x) = px (1-p)N–x N !/[x !(N-x) !]. Um durch eine Differenzierung von x auf den Maximalwert von W zu kommen, errechnete Schweidler, dass der wahrscheinlichste Wert für die Anzahl der zerfallenden Atome x = Np sei. Zur Verdeutlichung erklärte er, Rutherfords und Soddys grundlegendes »Zerfallsgesetz« gebe die wahrscheinlichste Anzahl von Atomen an, die in einem gegebenen Zeitintervall zerfallen würden. Um die Verteilung der Schwankungen um diesen wahrscheinlichsten Wert zu finden, suchte Schweidler die Wahrscheinlichkeit, dass x innerhalb eines Bereichs ε von Np liege. Indem er Stirlings Approximation für groß N benutzte und eine Änderung der Variablen t = (n-Np)/Np vornahm, ergab sich 2 das von Schweidler so genannte »Fehlergesetz« : W = ∫ e –t2dt. Dabei verläuft das √π 1 Integral von 0 bis Npε √ 2 Np(1 – p). Die wohlbekannten Eigenschaften dieser Funktion setzten voraus, dass die durchschnittliche relative Schwankung von x von seinem Mittelwert Np gegeben ist durch :
()
1 < ε > = N √ < (x – ε)2 > =
√
1–p Np
Wenn ein kleines Zeitintervall gewählt wird, dann ist die Wahrscheinlichkeit des Zerfalls p sehr klein, (1-p) ist annähernd 1, und < ε >=
1 √ Np
Schweidler erklärte : »Mit anderen Worten : die Schwankungen der tatsächlich vorkommenden Werte x um den theoretischen Normalwert Np sind nach dem Fehlergesetze verteilt.«18 Wie jedoch Norman R. Campbell und Harry Bateman unabhängig voneinander 1909 und 1910 bemerkten, ist Schweidlers Integralformel für den unstetigen 18 Ebd., 2. Hervorhebung D.C.
Die Fehler der Wissenschaftler
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Prozess des α-Zerfalls nicht geeignet. Sie schlossen, dass die Schwankungen eher einer Poisson- als einer Gauß-Verteilung entsprächen, aber sie fanden Schweidlers Formel für die durchschnittlichen relativen Schwankungen im Grenzwert des kleinen p wieder. Eine Frage musste Schweidler noch ansprechen : Würden Experimentatoren den wahrscheinlichkeitstheoretischen Charakter des Zerfalls durch physikalische Messung der Schwankungen bestätigen können ? Damit die Messung überhaupt durchführbar war, musste die Messunsicherheit des Stroms, der durch N Atome erzeugt wurde, kleiner sein als die Menge der absoluten Schwankung √ Np . Angesichts der begrenzten Präzision der vorhandenen Elektrometer (zum Beispiel durch die Entladungsfrequenz und die Trägheit der Anzeigenadel), bestand nur die Möglichkeit, eine Kompensationsmethode wie die Bronson’sche anzuwenden. Wenn man zwei radioaktive Materialproben in entgegengesetzter Richtung Ionisationsströme I1 und I2 hervorbringen lässt, werden die Schwankungen in dem Strom I1–I2 um einen Faktor √ 2 größer sein als die aus einer einzigen Quelle.19 Wenn die Schwankungen auf diese Weise vergrößert würden, könnten die Physiker sie einfach als Ablenkungen um den Nullpunkt des Elektrometers messen. Schweidlers Kollege Fritz Kohlrausch unterzog die Theorie sofort einer Prüfung, indem er eine solche Kompensationsmethode verwendete. Er stellte jedoch fest, dass die gemessenen Schwankungen größer waren, als es die Theorie voraussagte. Er schloss daraus, dass wahrscheinlich eine zusätzliche Schwankungsquelle gestört hatte.20 Schweidler hatte vor dieser Gefahr gewarnt, indem er unter anderem auf die Möglichkeit der Veränderlichkeit der durch die einzelnen α-Teilchen hervorgebrachten Ionenzahl aufmerksam gemacht hatte. Die Experimentatoren würden darauf achten müssen, die dem Phänomen innewohnenden Schwankungen von den Artefakten des Versuchsaufbaus zu trennen.
Bestätigung : 1908–1911 Bis fast drei Jahre nach der Konferenz von Lüttich hatte außerhalb von Wien kein Physiker etwas über die α-Teilchen-Schwankungen veröffentlicht. Anfang 1908 bestä19 Man erinnere sich, dass die mittlere Abweichung durch die Gaußsche Theorie definiert ist als √ ∑δi2/(n – 1) , wobei δi die Differenzen zwischen den individuellen Messungen und deren Durchschnitt sind, und n die Anzahl der Messungen ist ε12 = δ12/(n – 1), ε22 = δ22/(n – 1). Für die Schwankungen ε in (I1 – I2), ε2 = (δ1 ± δ2)(δ1 ± δ2)/(n – 1) = [(δ1 δ1) + (δ2 δ2) ± 2(δ1 δ2)] / (n – 1). Für eine lange Serie von Messungen, bei der das Produkt δ1 δ2 ebenso oft positiv wie negativ sein und deshalb gleich Null gesetzt werden kann, ergibt sich ε2 = ε12 + ε22. Vgl. Kohlrausch 1906, 677–678. 20 Vgl. ebd. Meyer und Regener merkten später an, Kohlrauschs Resultate seien unzuverlässig, weil er den Sättigungsstrom nicht gemessen habe.
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tigten Physiker sowohl in Manchester als auch in Berlin schließlich Schweidlers Vorhersage. Ihre Berichte über diese Versuche erschienen fast gleichzeitig mit der Bekanntmachung beider Labors, sie hätten Methoden zur Ermittlung einzelner α-Teilchen entdeckt. Hans Geiger gab im Februar 1908 aus Rutherfords Labor in Manchester eine vorläufige Bestätigung von Schweidlers Hypothese bekannt. In seiner Einleitung zu dem Bericht, der in den Proceedings of the Royal Society veröffentlicht wurde, stellte er klar, dass sein Ziel darin bestand, eine lästige Störung in der Messung von Radioaktivität nachzuweisen : »In all experiments in which the ionization currents due to two radioactive substances are balanced against each other by means of an electrometer, it is not found possible to obtain an exact balance. The needle of the electrometer always moves quite irregularly over a certain number of divisions on the scale. This effect cannot be eliminated, no matter how much care is taken in the adjustment. Bronson, who was troubled by this effect in the use of his steady deflection electrometer, suggests that the effect may be due to an exceedingly small and rapid change in the ionization itself. E. v. Schweidler has in a special paper drawn attention to the fact, that according to the disintegration theory certain irregularities in the radiation from radioactive substances are to be expected.«21
Geiger wollte »die Ursache und das Ausmaß dieser Unregelmäßigkeiten« überprüfen. Zuerst teilte er die Emission einer radioaktiven Quelle, um zwei gegensätzliche Ionisationsströme zu erzeugen, die jeweils mit dem gleichen Betrag jedes α-Teilchens gespeist wurden. In diesem Fall verschwanden die Unregelmäßigkeiten fast ganz, was darauf hindeutete, dass sie tatsächlich eher auf die Quelle als auf einen »sekundären Effekt« zurückzuführen waren. Als nächstes verglich er einen durch α-Teilchen mit einem durch β-Teilchen erzeugten Ionisationsstrom. Dass es in Letzterem »fast keine beobachtbaren Schwankungen« gab, zeigte, dass die Unregelmäßigkeiten »wirklich durch die unregelmäßige Beschaffenheit der α-Strahlung bedingt waren«. Schließlich maß er die Größe der Unregelmäßigkeiten : Er stimmte zwei radioaktive Quellen aufeinander ab, maß die Schwankungen im daraus hervorgehenden Ionisationsstrom, indem er die Teilstriche zählte, die die Elektrometernadel auf der Anzeigenskala innerhalb einer Zeitspanne von fünfeinhalb Minuten passierte, und teilte sie dann durch die Anzahl der Schwankungen der Nadel während dieser Zeit. Dies nannte er die »experimentelle Bestimmung des Fehlers«. Festzuhalten ist, dass es sich nicht um den »mittleren Fehler« handelt, der nach der Gauß’schen Theorie definiert wird als √ ∑ ∆i2 / (n – 1) , wobei ∆i den Unterschieden 21 Vgl. Geiger 1908, 539
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zwischen den einzelnen Messungen und ihrem Durchschnitt entspricht und n die Anzahl der Messungen ist. Um den »theoretischen Fehler« abzuleiten, maß Geiger die Intensität der Einfallsstrahlung, wandelte diese in die Anzahl von Einfallsteilchen um, und folgte dann Schweidler, indem er die vorausgesagte Durchschnittsstrahlung gleichsetzte mit der Quadratwurzel der Gesamtzahl der Teilchen, die er aus der Intensität des Ionisationsstroms errechnete. Dieses Verfahren setzte schlicht voraus, dass die Schwankungen einer Fehlerverteilung folgten, es wurde aber kein Versuch gemacht, die Verteilung zu messen. Dass die Schwankungen als »Fehler« bezeichnet wurden, verwirrte die Angelegenheit noch mehr. Geiger schlussfolgerte, dass der »experimentelle Fehler« (die beobachtete Durchschnittsschwankung) etwa 15 Prozent kleiner war als der »theoretische Fehler« (die vorausberechnete Durchschnittsschwankung). (Statistiker könnten dies als Zeichen für eine sub-normale Streuung betrachtet haben und damit als Anzeichen für die statistische Nicht-Unabhängigkeit der abgestrahlten α-Teilchen.) Geiger meinte jedoch, diese Übereinstimmung wäre »besser als zu erwarten war, wenn man die Bedingungen des Experiments berücksichtigt und die Unsicherheit der Daten, aus denen die Anzahl der α-Teilchen abgeleitet ist«.22 Geigers Artikel war noch nicht erschienen, als die Annalen der Physik am 10. Februar 1908 einen Bericht zu den Schweidler’schen Schwankungen von den Berliner Physikern Edgar Meyer und Erich Regener erhielten.23 Sie benutzten einen ähnlichen Aufbau wie Bronson in Abbildung 1b, nutzten aber zusätzlich die Möglichkeit, Schirme verschiedener Größen einzusetzen, um die Intensität der Strahlung von der Quelle anzupassen. Auf diese Weise konnten sie Z, die Gesamtzahl der α-Teilchen, variieren und bestimmen, ob das Produkt ε √ Z wie vorausgesagt konstant blieb. Ihre Ergebnisse deuteten jedoch darauf hin, dass dieses Produkt mit der Intensität der Strahlung zunahm. Sie schrieben diese Diskrepanz kleinen Variationen im Potenzial der Batterie zu, die als Kompensationsmethode verwendet wurde, um die Quadranten des Elektrometers, die nicht mit der Quelle verbunden waren, aufzuladen. Meyer und Regener boten für die Wahrscheinlichkeitsbeschreibung von Radioaktivität die folgende Interpretation an : »Da wir in dem einzelnen Falle nicht die Gründe dafür anführen können, warum ein Atom früher oder später zerfällt, so müssen wir sagen, dass der Zeitpunkt des Zerfalles eines Atoms durch den Zufall bestimmt wird. Hier ist der Begriff des Zufalls so zu nehmen, wie er in der Wahrscheinlichkeitsrechnung definiert wird.«24 22 Ebd., 546. 23 Meyer/Regener 1908. 24 Meyer/Regener 1908, 757.
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Indem die Berliner sich eine subjektivistische Wahrscheinlichkeitsdefinition als Erkenntnismaßstab zu eigen machten, interpretierten sie die probabilistische Beschreibung von Radioaktivität als eine streng phänomenologische Theorie, die jeder metaphysischen Implikation entbehrte. Die Wissenschaftler aus Manchester und Berlin machten ihre Entdeckungen in den Techniken zur Detektion einzelner α-Teilchen in der selben Februarwoche publik. Regener meldete am 7. Februar seine »Szintillationsmethode« bei der Deutschen Physikalischen Gesellschaft an ; Rutherford und Geiger stellten ihre »elektrische« Methode am 11. Februar der Manchester Literary and Philosophical Society vor. In diesen und in späteren Berichten über die neuen Detektoren bezogen sich beide Forscherpaare auf Schweidlers Vorhersage zufälliger Emission, um die Unregelmäßigkeiten in ihren Zählungen zu erklären. Gleichzeitig stellten sie die neuen Zählmethoden als ideale Mittel vor, um Schweidlers Prognose zu überprüfen. Regeners erster Bericht war knapp und präzise. Er verwendete einen phosphoreszierenden Schirm, der, wenn er von einem α-Teilchen getroffen wurde, eine einzige sichtbare Szintillation hervorbrachte, ein Phänomen, das fünf Jahre zuvor zum ersten Mal beobachtet worden war. Indem er sich auf seine und Edgar Meyers Überprüfung von Schweidlers Hypothese bezog, hielt Regener fest : »[I]nfolge der Schweidler’schen Schwankungen […] ist natürlich die Zahl der pro Sekunde aufblitzenden Lichtpunkte sehr verschieden.«25 Mit dieser Formulierung hatte Regener die Veränderlichkeit seiner Daten aus einem Zeichen subjektiver Ungewissheit in die Spur eines bekannten Phänomens verwandelt. Aber der nächste Satz warf Zweifel an dem Stellenwert dieser Veränderlichkeit auf : 1
»Die Schweidlersche Beziehung ε = läßt sich natürlich durch Zählung der Lichtpunkte √Z sehr bequem prüfen.«26
War die Zufälligkeit der α-Emission eine bereits feststehende Tatsache, auf deren Grundlage Regener die Verlässlichkeit seines neuen Apparates bestätigen konnte, oder war sie immer noch eine Hypothese, die mit dieser neuen Präzisionstechnik überprüft werden konnte ? Diese Doppeldeutigkeit kam auch in Rutherfords und Geigers erstem ausführlichem Bericht zum Vorschein, der der Royal Society im Juni vorgestellt wurde.27 Ihre »elektrische« Methode beruhte auf einer Ausweitung des Ionisierungseffekts der Teilchen. Eine schwach mit Gas gefüllte Röhre wurde in ein starkes elektrisches Feld ge25 Regener 1908, 79, Fn 2. 26 Ebd. 27 Vgl. Rutherford/Geiger 1908a.
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setzt. Sobald ein einfallendes α-Teilchen ein Molekül des Gases ionisierte, sollte das ausgestoßene Ion andere Moleküle ionisieren und eine Kaskade von Ionen produzieren. Auf diese Weise konnte das Laboratorium in Manchester die Ionisierungsstärke eines einzelnen α-Teilchens mehrtausendfach vergrößern und jedem einzelnen Teilchen die Möglichkeit eines deutlichen Ausschlags einer Elektrometernadel geben. Diese Methode führte jedoch zu auffallend unregelmäßigen Zählungen. Eine Quelle der Unregelmäßigkeiten war die kosmische Strahlung, was allerdings bis zu ihrer Entdeckung 1928 unerkannt bleiben sollte. Die Schwankungen zeigten sich außerdem in der Variationsbreite des Ausschlags eines α-Teilchens auf dem Elektrometer (die Zahl von Teilstrichen auf der Anzeige, über die sich die Nadel bewegt). Rutherford und Geiger vermuteten, dass die Teilchen durch die Streuung auf ihrem Weg zum Detektor unterschiedliche Energiebeträge verlören. Eine sorgfältige Untersuchung der Streuung von α-Teilchen über die nächsten drei Jahre führte Rutherford dann zu seiner bahnbrechenden Theorie des Atomkerns. In ihrem Artikel von 1908 erwähnten Rutherford und Geiger schließlich eine dritte Art der Unregelmäßigkeit, die Anzahl der pro Zeitintervall gezählten α-Teilchen. Sie behaupteten, dass dies die von Schweidlers Theorie prognostizierten Schwankungen seien. Der zentrale Abschnitt in Rutherfords und Geigers Artikel bezog sich auf ihre experimentelle Bestimmung der Anzahl von α-Teilchen, die ein Gramm Radium pro Sekunde emittierte. Für diese Messungen wurde der Detektor hinter eine Blende platziert, durch die Strahlung aus der α-Quelle kam. Rutherford und Geiger kamen zu dem Schluss, die Zahl der gefundenen α-Teilchen müsse der Gesamtzahl der α-Teilchen entsprechen, die pro Sekunde von der Quelle ausgestoßen wurden, multipliziert mit dem Quadrat aus dem Abstand zwischen Quelle und Blende, geteilt durch die Fläche der Blende. Sie bemerkten, dass diese Rechnung zu der Annahme führe, die α-Teilchen würden gleichmäßig in alle Richtungen ausgestrahlt, eine Hypothese, die sie »innerhalb der Grenzen des Versuchsfehlers« durch weitere Beobachtungen bestätigten. Ein Beispiel ihrer Ergebnisse zeigt Tabelle 2.
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Abstand zwischen aktiver Quelle und Blende
DurchschnittsStrahlenaktivität der Quelle
Anzahl der in zehn Minuten beobachteten Stöße
Anzahl der pro Gramm ausgestoßenen α-Teilchen
350 cm
0,309 mg Ra
45
3,06 x 1010
350 cm
0,154 mg Ra
25
3,33 x 1010
350 cm
0,110 mg Ra
16
2,96 x 1010
150 cm
0,055 mg Ra
49
3,43 x 1010
150 cm
0,031 mg Ra
25
3,11 x 1010
Gesamtzahl der Stöße = 160. Durchschnittlich = 3,18 x 1010. Tabelle 2 zeigt Rutherfords und Geigers Zählung von α-Teilchen, die vom Radium abgestrahlt wurden. Sie beruhte auf der elektrischen Methode, mit der sie Teilchen innerhalb eines kleinen Raumwinkels ausmachten. Die Gesamtzahl der pro Gramm ausgestoßenen α-Teilchen in Spalte 4 wird nach der Geometrie des Experiments gemessen, in der von einer räumlich gleichmäßigen Emission ausgegangen wird. Quelle : Rutherford/Geiger 1908a, 101.
Zwanzig Jahre später sollte der österreichische Physiker Fritz Kohlrausch hervorheben, dass bei dieser Zählmethode – durch die bloße Messung der Emission über einen kleinen Raumwinkel – die Schwankungen in der Emissionsrate durch räumliche Schwankungen der Emissionsrichtung überlagert wurden. Berechnungen zeigen, dass der relative Fehler in den Zählungen, wie er in der dritten Spalte gezeigt wird, etwa 20 Prozent beträgt. Die Autoren erklärten in einer Fußnote : »On account of the probability variation, it is not to be expected that the numbers in the fourth column should agree very closely.«28 Schließlich drehten Rutherford und Geiger im dritten Abschnitt ihres Aufsatzes den Spieß um und verwendeten ihren neuen Zähler, um Schweidlers Voraussage zu überprüfen. Sie berichteten, dass sie die Verteilung der Zeitintervalle zwischen aufeinander folgenden Teilchen gemessen und herausgefunden hatten, dass diese »is similar in general shape to the [theoretical] probability-curve of distribution in time«.29 Sie lieferten allerdings keine theoretische Ableitung für die erwartete Verteilung – tatsächlich wurde dieses scheinbar einfache Problem nicht gelöst, bis sich drei Jahre später die Londoner Physiker Ernest Marsden und T. Barratt seiner annahmen. Das Problem ist durch das folgende von Fritz Kohlrausch eingeführte Modell leicht nachzuvollziehen.30 Stellen wir uns eine Urne vor, die schwarze und weiße Kugeln in einem Verhältnis enthält, dass die Wahrscheinlichkeit, eine weiße Kugel zu ziehen, p, die Wahrscheinlichkeit, eine schwarze Kugel zu ziehen, q = (1–p) ist. Lassen wir die Ziehung einer 28 Ebd., 99. 29 Ebd., 107. 30 Kohlrausch 1926, 195–196.
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weißen Kugel das Auftreten eines Zerfalls darstellen und die Ziehung einer schwarzen Kugel einen »Nicht-Zerfall«. Wie hoch ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass eine Reihe von x schwarzen Kugeln gezogen wird, auf die die Ziehung einer weißen Kugel folgt ? Dies ergibt sich einfach aus W(x) = pqx. Ersetzen wir nun x, die Dauer einer Reihe von aufeinander folgenden schwarzen Ziehungen, durch t, die Dauer eines Zeitintervalls zwischen aufeinander folgenden Zerfällen, sodass W(t) die Wahrscheinlichkeit eines zerfallenden Atoms im Intervall von t zu t+dt ist. Wie zuvor ist die Wahrscheinlichkeit eines Zerfalls e-λt, wobei λ der reziproke Wert der durchschnittlichen Lebensdauer des Atoms, das heißt der reziproke Wert des durchschnittlichen Zeitintervalls zwischen den Zerfällen ist. Nimmt man weiter an, dass die Wahrscheinlichkeit des Zerfalls p viel kleiner als 1 sei, und das Differenzial in Bezug auf die Zeit nimmt, findet man für die Verteilung der Intervalle die Formel : W(t) dt = (1/)e–t/ dt. Wie Marsden und Barratt festhielten, stimmte diese Verteilung nicht mit der Fehlerkurve überein : »This result is at first sight somewhat surprising, for it indicates that whatever the value of [the average lifetime, D.C.] small intervals are more probable than large ones, whereas one would at first sight expect that the intervals would be distributed according to a law somewhat similar to that of Maxwell for the distribution of the velocities of the molecules of a gas.«31
Dies muss auch Rutherfords und Geigers Erwartung gewesen sein. Wie Abbildung 2a zeigt, behaupteten sie, die Dauer der Zeitintervalle zwischen aufeinanderfolgenden α-Teilchen gemessen zu haben. Statt aber die von Marsden und Barratt abgeleitete Exponentialverteilung aufzuweisen, zeigt ihre Darstellung die bekannte Glockenkurve.32 Wie sollen wir aus diesem Durcheinander klug werden ? Am Anfang ihres Aufsatzes hatten Rutherford und Geiger behauptet, die Schwankungen würden die Durchschnittswerte ihrer Messungen nicht verfälschen. Vielleicht waren sie einfach ein bisschen zu schnell auf eine Bestätigung dieser Behauptung aus, indem sie zeigten, dass die Schwankungen eigentlich einer Gauß’schen Verteilung folgten. 31 Vgl. Marsden/Barratt 1911, 367–373. 32 Rutherfords und Geigers Absichten sind schwer zu entwirren : Wenn die x-Achse in ihrer Kurve die »Zeit zwischen aufeinanderfolgenden α-Teilchen« ist, dann müsste die y-Achse eher die »Zahl von Intervallen« statt die »Zahl von α-Teilchen« sein.
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Abb. 2a (links) : Rutherfords und Geigers Resultate der gemessenen Verteilung von Intervallen zwischen nacheinander abstrahlenden α-Teilchen, 1908. Quelle : Rutherford/Geiger 1908a, 107. Abb. 2b (rechts) : Marsdens und Barratts Graphik der vorausgesagten und beobachteten Verteilung von Intervallen, 1910. Nach der klassischen Wahrscheinlichkeitsrechnung müsste die Verteilung exponentiell (b), nicht Gauß-verteilt (a) sein. Quelle : Marsden/Barratt 1910, 371.
Die Spuren des Zufalls Bei ihrer Überprüfung der neuen Einzelzählmethoden gingen die Physiker in Berlin und Manchester von der Annahme eines stochastischen Charakters der Emission von α-Teilchen aus, die sie brauchten, um die Unregelmäßigkeit ihrer Zählungen zu erklären. Während sie im theoretischen Teil ihrer Berichte nach strengeren Prüfungen für Schweidlers Theorie verlangten, äußerten sie in der Analyse von Versuchsfehlern keinen Zweifel an der Zufälligkeit der α-Teilchen-Emission. Rutherford und Geiger erklärten am Ende ihres Aufsatzes über Schwankungen von 1910 : »Apart from their bearing on radioactive problems, these results are of interest as an example of a method of testing the laws of probability by observing the variations in quantities involved in a spontaneous material process.«33
33 Vgl. Rutherford/Geiger 1910.
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Zwanzig Jahre vor der Einführung einer quantenmechanischen Berechnung des α-Zerfalls kennzeichnete das Team aus Manchester dieses Phänomen als den eigentlichen Maßstab für Zufälligkeit. Und doch zögerten Rutherford und seine Kollegen, eine mechanistische und deterministische Sichtweise von Radioaktivität aufzugeben. Auch nach 1908 hielt Rutherford daran fest, die Zerfallsrate von Radium als eine Naturkonstante zu betrachten, auf deren Basis andere grundlegende Quantitäten wie die elektronische Ladung gemessen werden konnten.34 Zufälligkeit war in diesem Sinne keine Gefahr für die Berechenbarkeit. Aber sie war ein Problem für die mechanische Erklärung.35 Auf der Solvay-Konferenz von 1913 schilderte Marie Curie dieses Dilemma. Sie stellte fest, dass durch Schweidlers Ableitung des Zerfallsgesetzes die Frage aufgetreten sei, warum ein bestimmtes Atom in einem bestimmten Augenblick zerfallen würde. Da durch Versuche keinerlei Einfluss äußerer Bedingungen auf die Zerfallsrate entdeckt worden war, standen die Physikerinnen und Physiker vor einem Dilemma : »Wenn wir auf die Einwirkung äußerer Umstände verzichten, wird es schwierig, einen Mechanismus zu konzipieren, der zum Exponentialgesetz führt.«36 Curie und ihr Mitarbeiter André Debierne hatten zwei Möglichkeiten erwogen : eine Störung des Atoms von außen oder eine von innen. Persönlich stimmte Schweidler mit Curie und Debierne überein. In einem Brief an Edgar Meyer aus dem folgenden Jahr dachte er über die Konsequenzen seiner These von 1905 nach. Es schien zwei Alternativen zu geben : Entweder die Atome sind identisch und der Zerfall wird durch äußere Bedingungen veranlasst oder die Atome sind »prädestiniert«, zu einer bestimmten Zeit zu zerfallen, zum Beispiel durch die Raumund Geschwindigkeitsverteilung der Bestandteile des Kerns.37 Rutherford verhielt sich dagegen skeptisch zu den Überlegungen der Pariser auf der Solvay-Konferenz : »In the present state of our knowledge it does not seem possible to form a very clear idea as to the constitution of the atomic nucleus itself, nor of the causes that lead to its disintegration.«38
Angesichts dieses Zögerns war die Übernahme der stochastischen Sichtweise des α-Zerfalls keineswegs jene Konversion zur Metaphysik, als die sie manchen Historikern später erschien. Es ging nicht um eine spontane Aufnahme des Indeterminismus, wie 34 35 36 37
Vgl. z.B. Rutherford/Geiger 1908b. Vgl. Pais 1986, 122–123. Curie 1954, 507–510, 508. Vgl. Zentralbibliothek für Physik, Wien, Nachlass Egon von Schweidler, Schweidler an Meyer vom 16.5.1914. 38 Conseil 1921, 71.
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der Physiker Eduardo Amaldi behauptet hat. Sie blieb aber auch nicht folgenlos für die Geschichte des Indeterminismus in den physikalischen Wissenschaften, wie Amaldis Kritiker Japp van Brakel betont hat.39 Es handelte sich vielmehr um einen pragmatischen Schachzug, um die nächste Generation von Präzisionsinstrumenten für die Arbeit einsetzen zu können. Die Experimentatoren übernahmen Schweidlers statistisches Gesetz, um ihren Daten einen Sinn zu verleihen, und berücksichtigten dabei zugleich den Grundsatz, dass der α-Zerfall »zufällig« sei. In ihren Auslegungen von Schweidlers These wechselten die Physiker wiederholt zwischen einem anwendungsbezogenen und einem theoretischen Kontext hin und her. Diese Flexibilität erlaubte ihnen festzustellen, dass der α-Zerfall »zufällig« war, metaphysischen Fragen gegenüber aber agnostisch zu bleiben. Der Zerfall war zufällig, damit sie die Unberechenbarkeit ihrer neuen Zählmethoden ihren Absichten entsprechend auslegen konnten.
Von der Ungewissheit zur Berechenbarkeit : 1911–1924 Weder die elektrische noch die Szintillationsmethode erwiesen sich als so verlässlich, wie erhofft. Die Physiker mussten hart arbeiten, um ihre Behauptung zu stützen, dass die Zufallsverteilung der Zählungen, die sie mit ihren Techniken aufzeichneten, tatsächlich durch mikroskopische Teilchen und nicht durch reine Störanfälligkeit verursacht wurde. Durch eine Kritik der elektrischen Methode alarmiert, schrieb Geiger 1914 an Rutherford : »I suppose you saw a paper by two Russians in the last number of the Annalen.40 They seem to think that all experiments on counting of α rays were nonsense. They say that it is merely the ionisation which produces an irregular discharge, but that the kicks have nothing to do with the individual particles. They also go so far as [as to dispute, D.C.] my last paper, without having done a single experiment by that method. As a matter of fact I can send the same α particles through two independent counters with 2 string electrometers & get nearly all kicks absolutely coinciding. I think this is absolutely conclusive.«41
Rutherford antwortete, dass er, als er das Abstract des russischen Aufsatzes gelesen habe, »only laughed […] for I think we both agree that there is not the least doubt 39 Amaldi 1977, 10–13 ; Brakel 1985, 369–385. 40 Myssowsky/Nesturch 1914, 461–480. 41 University of Cambridge, University Library, Rutherford Collection, Geiger an Rutherford vom 15. 3.1914.
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about the correctness of our counting experiments«.42 Dennoch meinte er, Geiger »had better send a short reply«, und zwar »brief and to the point, and indicate indirectly that you consider their experimental methods were untrustworthy«.43 Rutherford wusste natürlich sehr wohl, dass solche kritischen Äußerungen zur elektrischen Methode nicht einfach mit Lachen abgetan werden konnten. Bereits 1908 hatten er und Geiger über »natural disturbances of the electrometer needle […] which were comparable in magnitude and character with those due to the entrance of an α-particle« berichtet. Es ging um Störungen, »that were sufficient to interfere with an accurate counting of the number of α-particles«.44 Angesichts solcher Unberechenbarkeit erkannte Geiger die Notwendigkeit, auf statistische Argumente zu vertrauen, wie er sie in seiner Arbeit über »Koinzidenzmethoden« entwickeln sollte. Auch Marie Curie fand, dass die »Feinpräzision« von Rutherfords Methode durch eine entscheidende Einschränkung entwertet wurde. Die Trägheit der Anzeigenadel machte es unmöglich, zwischen nahezu simultan auftretenden Teilchen zu unterscheiden, sogar wenn ein selbstregistrierender Apparat verwendet wurde. Um dies zu kompensieren, bediente auch sie sich statistischer Argumente. Glücklicherweise, so berichtete sie im Jahre 1911, lieferte Schweidlers Theorie eine Korrektur, die »leicht zu machen war« – man musste »nur« das feststellbare Minimum-Intervall berechnen.45 Ihre Korrektur beinhaltete eine Annäherung für die Gesamtzahl N0 von Intervallen zwischen Partikeln, einschließlich jener, die »dem Beobachter entgingen«, und zwar in Bezug auf N, die Anzahl von Intervallen, die tatsächlich in der Gesamtzeit T aufgezeichnet wurden. Lassen wir ε das Minimum der Intervalldauer sein, die aufgezeichnet werden kann, und beachten wir, dass das Durchschnittsintervall θ durch T/N0 gegeben ist (wobei N0 die unbekannte Menge ist). Um N0 auf N zu beziehen, berief sich Curie auf etwas, das sie »das Gesetz der Distribution von Intervallen« nannte, wie es von Marsden und Barratt abgeleitet worden war – die Hypothese, die sie gerade überprüfte. Der dabei prognostizierten Streuung entsprechend ist N = N0e–ε/θ oder N0 = Neε/θ. In einer ersten Approximation ersetzte Curie θ1, das »rohe« Durchschnittsintervall, wie es direkt von den Daten abgeleitet wurde. Sie benutzte dann die daraus resultierende Approximation erster Ordnung an N0, um eine Approximation zweiter Ordnung für θ, θ2 = T/(N0)1 zu berechnen, und sie fuhr damit für Korrekturen höherer Ordnung fort. Wie ihre Kollegen aus Manchester verließ sich auch Curie auf Schweidlers Theo42 University of Cambridge, University Library, Rutherford Collection, Rutherford an Geiger vom 18.3.1914. 43 Ebd. 44 Geiger/Rutherford 1908. Die Quelle dieser Störungen blieb bis 1928 ein Rätsel, als Walther Müller deren Ursache in der kosmischen Strahlung bestimmen konnte. Vgl. Trenn 1986. 45 Curie 1954, 397.
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rie, um die Unberechenbarkeit selbst der empfindlichsten α-Teilchen-Detektoren auszugleichen. Schweidlers Theorie machte nicht nur neue Methoden handlicher ; sie half auch, die »Störungen« zu korrigieren, von denen ältere Methoden heimgesucht worden waren. Zum Beispiel erweckte die Theorie den störenden Bronson-Widerstand zu neuem Leben. Dieser Apparat hatte seit seiner Einführung im Jahre 1906 zu zahlreichen Beschwerden geführt.46 Seit 1908 konnte Schweidlers Theorie dazu genutzt werden, die Strom-Schwankungen, die er verursachte, zu korrigieren. »[T]he error due to the resistance can be eliminated by calculating the value of the mean fluctuations by means of an approximate value of the electronic charge«, wie Norman Campbell in einer Analyse von Edgar Meyers und Regeners Experiment hervorhob (dabei wird vermutlich der Wert e gebraucht, um den Ionisationseffekt einzelner α-Teilchen zu berechnen). Campbell fügte in Klammern hinzu : »It may be noted that it might be possible to use some other form of high resistance, but probably all conductivity is ultimately discontinuous and we know far more about the conductivity of a gas than about that of a solid or liquid.«47
Der Bronson-Widerstand war zu einer relativ transparenten Komponente geworden. So wie Schweidlers Theorie dazu beitrug, die Unberechenbarkeit der Messinstrumente zu ›bändigen‹, verhalf sie den Laboratorien auch dazu, die Eigenheiten menschlicher Beobachter zu kompensieren.48 Jeff Hughes hat das ausgeklügelte Vorgehen beschrieben, das Rutherford in den 1920er-Jahren zur Schulung und Beaufsichtigung der Personen entwickelt hatte, die am Cavendish Laboratory in Cambridge Szintillationen zählten. Eine disziplinierte Vorbereitung auf die Zählung war unverzichtbar geworden, um die Vertrauenswürdigkeit der Laborresultate bescheinigen zu können. Dies war die Lehre aus der Kontroverse zwischen den Laboratorien in Cambridge und Wien in den Jahren 1923/24, die sich erst auflöste, als den Beobachtern in Wien eine theoretische Verzerrung nachgewiesen werden konnte.49 Schulung und Erfahrung wurden als entscheidende Voraussetzungen für genaues Zählen betrachtet. In seiner Beschreibung der 1911 durchgeführten Experimente betonte Curies Mitarbeiter Debierne, dass »die Methode, sobald man sich daran gewöhnt hat, Szintillationen zu beobachten, zu sehr guten Resultaten führen kann«.50 46 47 48 49 50
Wie von Meyer und Regener erörtert ; dies. 1908, 760. Campbell 1909, 129–130. Zur Standardisierung von Beobachtern vgl. Schaffer 1988, 115–145. Stuewer 1985. Debierne 1914, 79. Zur Reglementierung der Beobachtung von Szintillationen vgl. Hughes 1993.
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Marsden und Barratt hoben anlässlich ihrer Experimente zur Emission von α-Teilchen im Jahre 1911 hervor, wie schwierig es war, Szintillationsbeobachter so zu schulen, dass sie auch ausgetauscht werden konnten. Das Team in London schlug vor, zu untersuchen, ob die α-Teilchen unabhängig voneinander oder in Gruppen ausgestrahlt werden. Das Problem bestand darin, festzustellen, ob die beobachtete Verteilung eine größere Zahl von kleinen Zeitintervallen zwischen den Teilchen aufwies, als zu erwarten wäre, wenn die Teilchenemissionen statistisch unabhängig voneinander wären. In einer vorläufigen Mitteilung berichteten Marsden und Barratt, ihre Resultate wiesen darauf hin, dass die Teilchen unabhängig emittiert würden. Sie hielten jedoch fest, eine größere Fehlerquelle »might be the missing of scintillations through temporary fatigue of the eyes«.51 Trotz dieser Ungewissheit in ihren Schlussfolgerungen hielten sie in einem weiteren Artikel das »Intervallgesetz« für verlässlich genug, um es als Richtlinie für die Beobachter zu verwenden : »The law of intervals may be employed in all experiments in which α particles are counted to give some indication as to whether the results are reliable. Thus, when counting α particles of short range by the scintillation method, the scintillations are so faint that with an untrained observer they are often missed, and generally in such a way that the eye fails to recognize, not merely a single scintillation here and there, but frequently a whole group of successive scintillations. An analysis of the intervals between successive records of scintillations would reveal such errors and give some idea of the correction necessary.«52
Wie Marsden und Barratt beschrieben, ermöglichte die vorausgesagte statistische Unabhängigkeit von aufeinanderfolgenden α-Teilchen-Emissionen zumindest näherungsweise eine Korrektur der fehlbaren Beobachter. Die Beobachterfehler konnten von den Schwankungen im radioaktiven Zerfall nur aufgrund der Annahme getrennt werden, dass die vom menschlichen Auge übersehenen Partikel nicht zufällig verteilt waren, im Unterschied zum typischen Beobachtungsfehler. Doch die Physiker waren sich nicht einig, ob menschliche Fehler immer eine so vorhersehbare Form annehmen würden. Im Jahre 1924 wiederholte Geiger die Aussage Marsdens und Barratts, indem er betonte, »wie wichtig es ist, den persönlichen Fehler bei Szintillationszählungen auszuschalten«.53 Während die Londoner von ihrer Fähigkeit überzeugt waren, zwischen Fehlern und wirklichen Schwankungen unterscheiden zu können, beklagten sich die Berliner, »wie schwer es oft ist, zu entscheiden, ob eine 51 Vgl. Marsden/Barratt 1910. 52 Marsden/Barratt 1911, 50. Hervorhebung D.C. 53 Geiger/Werner 1924, 196.
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längere Pause im Auftreten der Szintillationen auf statistischen Schwankungen beruhte oder ob sie durch Überanstrengung des Auges vorgetäuscht war«.54 Deshalb wandte Geiger eine »Koinzidenzmethode« an, die er zum ersten Mal zur Verifizierung der Leistungsfähigkeit seiner elektrischen Zähler im Jahre 1914 benutzt hatte, und die dann im darauf folgenden Jahr zum Grundbestandteil seiner experimentellen Widerlegung der BKS-Theorie werden sollte.55 Um den persönlichen Fehler bei der Zählung von Szintillationen auszuschalten, führte Geiger eine Methode der Lösung für die »wirkliche« Anzahl von Zählungen Z auf der Grundlage der Zählberichte verschiedener Beobachter ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Beobachter 1 beziehungsweise 2 eine Szintillation beobachtet ist λ1 beziehungsweise λ2. Dann ist die aufgezeichnete Zahl der Szintillationen Z1 = λ1Z und Z2 = λ2Z. Die Wahrscheinlichkeit, dass beide Beobachter ein bestimmtes Teilchen registrieren, ist 1112, und die Zahl der simultanen Registrierungen Z3 = λ1λ2Z. Wenn Z1, Z2 und Z3 von den chronografischen Aufzeichnungen der Beobachtungen bestimmt werden, kann die »wirkliche« Anzahl der Szintillationen Z als Z1Z2/Z3 berechnet werden. In der Praxis litt die Geiger-Werner-Methode jedoch an einer Unsicherheit bezüglich der Bestimmung, welche der aufgezeichneten Zählungen vom selben Teilchen stammten. Wie der Wiener Physiker Victor Hess hervorhob, entstammte ein Teil dieser Unsicherheit den Veränderungen der Reaktionszeiten der Beobachter, die sich sowohl von einem Beobachter zum anderen als auch bei einem einzelnen Beobachter von einem Tag zum nächsten ergaben.56 Die Spanne, innerhalb derer Zählungen als simultan betrachtet werden sollten, hing also sowohl von dem eingesetzten Beobachterpaar wie von der Verfassung jedes einzelnen Beobachters zum jeweiligen Zeitpunkt ab. Die Ungewissheit bei der Festlegung simultaner Zählungen leitete sich indes gleichermaßen aus dem Schwankungscharakter der radioaktiven Emission ab. Wie Curie im Jahre 1911 einräumte, war es notwendig, die Wahrscheinlichkeit einzuschätzen, dass zwei Teilchen nahezu simultan emittiert wurden, um zu beurteilen, ob zwei Zählungen dasselbe Teilchen identifizierten oder nicht. Daher musste jedes Argument, dass das Zeitintervall zwischen zwei Zählungen ein Zeichen ihrer statistischen Abhängigkeit oder Unabhängigkeit sei, sich auf eine Schätzung der statistischen Verteilung der Teilchenemission stützen oder doch zumindest auf die Annahme, dass die Teilchen unabhängig voneinander und der Richtung und Zeit nach zufällig emittiert wurden. Ebendieses Argument hatte Geiger zur Verwendung seiner Koinzidenzzähler weiterent54 Ebd., 197. 55 1924 schlugen Niels Bohr, Hans Kramers und John Slater vor, dass die Quantisierung des elektromagnetischen Feldes vermieden werden konnte, wenn angenommen wurde, dass Energieerhaltung und Kausalität nur statistisch galten. 56 Hess/Lawson 1924, 402–407.
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wickelt.57 Unabhängig von den Entwicklungen in der physikalischen Theorie war die Inanspruchnahme von Wahrscheinlichkeit für die Experimentalphysiker unverzichtbar geworden. Schließlich trug Schweidlers Theorie dazu bei, das Problem zu lösen, dem sich zuerst Bronson gewidmet hatte : War ein Radium-Standard für Umweltbedingungen anfällig ? Diese Frage blieb während der gesamten 1920er-Jahre unbeantwortet, und im Jahre 1929 publizierte das Journal de Physique et le Radium eine Studie des sowjetischen Büros für Maße und Gewichte, in der versucht wurde, die Zerfallsrate von Polonium an verschiedenen Orten in der UdSSR festzulegen.58 Der Autor vertrat die Auffassung, dass die Zerfallsrate sich mit der Geologie der Gebiete verändere (Abb. 3). In einem Nachtrag zu dieser Veröffentlichung kritisierte Marie Curie die Methoden der russischen Physiker und schloss eine Beschreibung ihrer eigenen kürzlich durchgeführten Experimente über die Invariabilität radioaktiver Konstanten an.59 Um die größte Genauigkeit zu erreichen, bediente sie sich einer Kompensationsmethode und maß γ-Strahlen anstelle von α- oder β-Strahlen, weil, wie eine schnelle Rechnung belegte, sich die Größe der radioaktiven Schwankungen proportional zum Ionisationseffekt der Strahlen verhielt. Der letzte Schritt in ihrer Analyse bestand in »der Auswertung einer Serie von Messungen unter dem Aspekt der radioaktiven Schwankungen«.60 Dabei ging sie von geläufigen wahrscheinlichkeitstheoretischen Überlegungen aus, um die vorausgesagten und die beobachteten Schwankungen miteinander zu vergleichen. »Diese Beispiele zeigen, dass die Abweichungen in einer Serie von Messungen von jener Art waren, wie sie die Schwankung in der Emission von α-Strahlen hervorrufen muss.«61 Nach dreißig Jahren war die Frage nach der Unveränderlichkeit radioaktiver »Konstanten« dank Schweidlers Hypothese endlich geklärt.
Die Bedeutung des Schweidler’schen Gesetzes Bereits um 1919 hatten Physiker damit begonnen, mit kritischer Distanz über die ersten Antworten auf Schweidlers Theorie nachzudenken. Schweidlers Kollege Erwin Schrödinger in Wien behauptete, zu viele Physiker hätten den Sinn von Schweidlers »Entdeckung« missdeutet. Deren Bedeutung bestünde nicht in der Ableitung einer bestimmten Beziehung zwischen der mittleren Schwankung und der Anzahl von Ato57 58 59 60 61
Zur turbulenten Geschichte dieser Zähler vgl. Trenn 1986. Bogoiavlensky 1929. Curie 1929a und 1929b. Curie 1929b, 603. Ebd., 604.
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Abb. 3 : Messungen der Zerfallsrate von Polonium in verschiedenen Gebieten der UdSSR von M. L. Bogoiavlensky aus dem Büro für Masse und Gewichte in Leningrad. Der Autor vermutete, dass die Ablenkung in der Zerfallsrate in den Gebieten des Kaukasus auf den hohen Grad an tektonischer Aktivität in der Region zurückzuführen sei. Quelle : Bogoiavlensky 1929, 325.
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men, sondern vielmehr in der Erkenntnis, dass die durchschnittliche Lebensdauer eines radioaktiven Elements lediglich die Wahrscheinlichkeit bestimmte, dass ein einzelnes Atom zerfallen würde : »[Die Bedeutung] besteht bekanntlich nicht, wie manche meinen, in irgendwelcher √ z - oder √ i -Beziehung oder dergleichen, sondern in der fundamentalen Erkenntnis des wahrscheinlichkeitstheoretischen Charakters der Zerfallskonstante λ.«62
Schrödingers Argument gilt für Physikhistoriker und -historikerinnen ebenso wie für seine Zeitgenossen. Bruce Wheaton, einer der wenigen Historiker, der sich zu Schweidlers Theorie überhaupt äußert, beschreibt Schweidlers Innovation als »ein Mittel, um die absolute Zahl zerfallender Atome zu bestimmen«, indem die Schwankungen nach dem exponentiellen Zerfallsgesetz gemessen werden.63 Statt diese anwendungsbezogene Deutung von Schweidlers Theorie zu diskreditieren, sollten wir anerkennen, dass sie der Interpretation einer großen Mehrheit der Physiker außerhalb Wiens entspricht. Sie verstanden Schweidlers Theorie vor allem als eine unverzichtbare Orientierungshilfe, um Instrumente und Beobachter zu eichen, und erst in zweiter Linie als eine Aussage über eine grundlegende Zufälligkeit der Natur.
Wien : Ein Epilog Die Physiker in Franz Serafin Exners Laboratorium in Wien folgten diesen neuen statistischen Konventionen nicht ohne Weiteres.64 Zwischen 1905 bis 1927 fuhren Schweidler, Schrödinger und ihre Kollegen unablässig fort, neue Versuche zu Schweidlers Voraussage zu entwerfen und die vorhandenen Daten zu überprüfen. Die Wiener Kritiker konzentrierten sich auf das Problem der Unterscheidung vorausgesagter Schwankungen der α-Teilchen-Emission von Schwankungsursachen im experimentellen Aufbau. Während die Kollegen an anderen Orten in Europa die Unterscheidung zwischen experimentellen »Fehlern« und natürlichen »Schwankungen« aufgaben, versuchten die Wiener zu bestimmen, welche Veränderungen dem Phänomen inhärent und welche experimentelle Artefakte waren.
62 Schrödinger 1919, 179. 63 Wheaton 1983, 143. Andere Diskussionen zu Schweidlers These finden sich bei Brakel 1985, 369–385, 373–374 ; Amaldi 1977 ; Gigerenzer/Swijtink/Daston u.a. 1989, 181. 64 Vgl. dazu auch den Beitrag von Michael Stöltzner in diesem Band.
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Fritz Kohlrauschs Arbeit fasst die skeptische Einstellung jener Physiker zusammen, die von Franz Serafin Exner, dem Direktor des Physikalischen Instituts an der Universität Wien, ausgebildet worden waren. In einem Überblicksartikel von 1928 wandte Kohlrausch im Anschluss an Walter Kutzner aus Berlin den Dispersionstest des Statistikers Wilhelm Lexis auf die ersten Daten von α-Teilchen-Schwankungen an, und fand Belege für statistische Nicht-Abhängigkeit.65 Anders als Kutzner jedoch bezweifelte Kohlrausch seine Daten. Er stellte Messmethoden der »Einzelbeobachtung« Messmethoden der »Massenbeobachtung« gegenüber : Bei Ersteren kamen Szintillationsbeobachtungen und elektrische Zähler zum Einsatz, bei Letzteren dagegen Techniken zur Messung von Ionisationsströmen, die durch eine hohe Zahl von α-Teilchen mittels einer Kompensationsmethode hervorgebracht wurden. Kohlrausch argumentierte, dass Einzelzählmethoden irreführend seien, weil sie nur demonstrierten, dass im Experiment irgendwo »ein Zufallsmoment beteiligt ist«, nicht notwendigerweise aber am Zerfallsprozess selbst.66 Einzelmethoden erfassten Teilchen normalerweise nur innerhalb eines kleinen Raumwinkels. Angenommen, die Richtung, in die α-Teilchen ausgestrahlt werden, wäre zufällig, so führte diese Winkelauswahl zu räumlichen Schwankungen, die nicht von temporären Schwankungen, wie sie von Schweidlers Theorie vorausgesagt wurden, zu unterscheiden waren. Im Jahre 1912 hatten Kohlrausch und Schweidler eine Probe mit einer Einzelmethode durchgeführt, ohne von der Winkelauswahl Gebrauch zu machen, hatten aber rein »qualitative« Ergebnisse erzielt. Deshalb, betonte Kohlrausch, seien »derartige Versuche nicht geeignet zur Entscheidung der Frage nach der Zufallsnatur des Atomzerfalles«.67 Die Unzufriedenheit beschränkte sich nicht auf die Gruppe um Exner. Der Physiker Norman R. Campbell aus Cambridge hatte bereits 1909 damit begonnen, die konkurrierenden Quellen von Schwankungen in α-Teilchen-Experimenten im mathematischen Detail zu entwickeln. Campbell war sowohl ein versierter Experimentalphysiker als auch ein produktiver Wissenschaftsphilosoph. Nachdem er die Hindernisse für einen strengen Nachweis der Schweidler’schen Hypothese beseitigt hatte, verbrachte er viele Jahre damit, eine ungewöhnliche philosophische Interpretation der Wahrscheinlichkeitstheorie zu entwickeln. Seiner Darstellung nach können probabilistische Aussagen wie die über die Zufälligkeit der α-Teilchen-Emission niemals bewiesen werden, aber die experimentelle Praxis bedarf ihrer als Voraussetzung. Campbells Lösung be65 Lexis’ Formel, ein Test der Stabilität einer Sequenz von statistischen Stichproben, wurde auf radioaktiven Zerfall erstmals von Lexis’ Schüler L. von Bortkiewiecz in seiner Monographie von 1913 angewandt. 66 Kohlrausch 1926, 197. 67 Ebd., 198. Hervorhebung im Original.
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stand darin, eine subjektive Wahrscheinlichkeitsdefinition auszuarbeiten, die für Experimentalphysiker geeignet ist.68 Während Campbells Analyse ihn zur Philosophie brachte und er sich damit vom Mainstream der britischen Physikergemeinschaft entfernte, sorgte Exners Gruppe dafür, dass derartige Fragen für die österreichischen Physiker weiterhin an vorderster Stelle standen. Die Österreicher verhielten sich nicht nur kritisch gegenüber den Versuchsmethoden, die bei früheren Versuchen zu Schweidlers Theorie zur Anwendung gekommen waren, sondern mehr noch gegenüber dem schlecht definierten »Fehlerbegriff«, mit dem die Physiker gearbeitet hatten. Wenn andernorts eine rasche Prüfung der Größe der Durchschnittsschwankungen den Physikern genügte, um ihre Instrumente zu kalibrieren, so war damit die epistemologische Strenge, die die Österreicher verlangten, noch lange nicht befriedigt. Kohlrausch zufolge bedurfte es einer besseren Messung der Abweichung des Experiments von der Theorie, also einer neuen Fehlerdefinition. Er schlug deshalb vor, die α-Teilchen-Versuche mit einem Lotteriespiel zu simulieren. Analogien zur Lotterieziehung waren in Wahrscheinlichkeitstheorien seit der Aufklärung vorgekommen, aber es war ein überraschender Schritt, eine solche Simulation durchzuführen. Den Anstoß dazu scheinen Kohlrausch Paul und Tatyana Ehrenfest mit ihrer Idee gegeben zu haben, Boltzmanns H-Theorem durch eine Analogie mit Lotterieziehungen »intuitiver« zu machen.69 In einem gemeinsamen Artikel aus dem Jahre 1926 führten Kohlrausch und sein Freund Schrödinger ein »Urnenspiel« durch, um die H-Kurve darzustellen, während Kohlrausch die gleiche Vorgehensweise auf das α-Teilchen-Problem anwandte (Abb. 4). Indem Kohlrausch 5.000 Ziehungen aus einer Urne mit 100 bezifferten Lotteriekarten aufzeichnete, baute er einen Vorrat an Versuchsmaterial auf, »von dem man weiß, dass es Zufallscharakter hat«.70 Mit diesen Daten konnte er frühere Experimente modellhaft nachbilden und ihre Resultate überprüfen. Indem er zum Beispiel die Auswahl der Losnummern veränderte, die den »abgeschleuderten α-Teilchen« oder »nicht-abgeschleuderten α-Teilchen« entsprachen, konnte er die Zerfallswahrscheinlichkeit variieren. Dann konnte er die Zählung der in einer gegebenen Zeitspanne zerfallenden Atome simulieren, indem er aufzeichnete, wie viele Lose im vorgeschriebenen Vorrat in jeder Sequenz einer gegebenen Anzahl von Ziehungen aufschienen. Er wollte einerseits die Abweichung der radioaktiven Daten von dem aufgestellten statistischen Gesetz, andererseits die Abweichung der Urnenziehungen von Wahrscheinlichkeitsrechnungen miteinander vergleichen.
68 Campbell 1957, 195–197 ; ders. 1922, 67–79 (der Text stammt von 1919). 69 Ehrenfest, P. und T. 1907. 70 Kohlrausch 1926, 192. Hervorhebung im Original.
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Abb. 4 : Fritz Kohlrauschs Ergebnis der beobachteten/vorausgesagten Häufigkeit radioaktiver Schwankungen einer gegebenen Größe (obere Kurve), verglichen mit der beobachteten/vorausgesagten Häufigkeit bei vorbestimmten Urnenziehungen (untere Kurve). Quelle : Kohlrausch 1926, 209.
Genauer gesagt definierte Kohlrausch den »mittleren Fehler« als den erwarteten Wert des Unterschiedes zwischen der Größe der beobachteten Schwankung um den beobachteten Durchschnitt und der vorausgesagten Größe der Schwankung. Wenn der Durchschnitt der beobachteten Werte n ist, ε die vorausgesagte Schwankung nach den Wahrscheinlichkeitsrechnungen und w(n) die theoretische Wahrscheinlichkeit jedes Wertes n ist, dann ist der »mittlere Fehler« gegeben durch M(ε2) = √ (∑ [(n-)2 – ε 2]2 w(n)).
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In jedem Experiment konnte der mittlere Fehler des entsprechenden Lotteriemodells mit dem mittleren Fehler des Experiments selbst verglichen werden. Der mittlere Fehler fungierte also als ein Maßstab der Genauigkeit, die bei einem Vergleich zwischen Theorie und Experiment für ein statistisches Gesetz zu erwarten war. Nicht nur auf dem Gebiet der Radioaktivität widersetzten sich die Wiener den geltenden Auffassungen von Fehlern. Es ist hilfreich, zum Vergleich auf eine andere Debatte aus dieser Zeit einzugehen : die Kontroverse über Robert Millikans Messungen der elektronischen Ladung. Felix Ehrenhaft, der seine Dissertation bei Exner geschrieben hatte, war ein Assistent in dem Labor, das an Exners Labor angrenzte. Ehrenhaft führte seine eigenen Messungen durch, indem er ein Ultramikroskop benutzte, um den Fall geladener Tröpfchen in einem elektrischen Feld zu beobachten, und er fand heraus, dass die Ladung eines einzelnen Tröpfchens um ein Vielfaches von Millikans Wert für die elektronische Ladung e abwich ; zudem war die Ladung der kleinsten Tröpfchen durchweg kleiner als diese vermeintlich nicht mehr unterteilbare Einheit. Wie Gerald Holton bemerkt hat, kamen Ehrenhafts anormale Ergebnisse ironischerweise wahrscheinlich durch die Vergrößerungsstärke seines Instruments zustande, denn viele seiner Berechnungen wurden durch die genaue Anzeige des Ultramikroskops zunichtegemacht.71 Um den Radius seiner Tröpfchen einzuschätzen, verwendete Ehrenhaft zum Beispiel das Stokes’sche Gesetz, eine für kontinuierliche Medien abgeleitete Formel.72 Im Grunde stieß Ehrenhaft auf das gleiche Problem, mit dem sich Bronson schon im Jahre 1905 konfrontiert sah : Sein Instrument machte unstetige atomare Effekte sichtbar, bevor die Theorie sie berücksichtigen konnte. Ehrenhaft lehnte jedoch jeden Atomismus ab und beschuldigte Millikan, seine Resultate verzerrt zu haben, indem er beobachtete Abweichungen von der durchschnittlich gemessenen Ladung als bloßen »Fehler« behandelte. Ehrenhaft stellte das Problem wie folgt dar : »Wohl könnte man denken, daß Abweichungen auf die verschiedene Genauigkeit und Sicherheit der Methoden zurückzuführen wären, es blieben jedoch dann die großen Schwankungen der Werte, z.B. nach der Wilson’schen Methode,73 auch bei verschiedenen Beobachtern zunächst unerklärt usf. Unter solchen Umständen, wenn man sich von weiteren 71 Vgl. Holton 1978, 25–83. 72 Die Anwendbarkeit des Stokes’schen Gesetzes unter solchen Umständen war bereits 1908 infrage gestellt worden, doch Jean Perrin hatte Belege veröffentlicht, die darauf hinwiesen, dass es für Durchmesser unterhalb von 0,1 Mikron taugte. Vgl. Nye 1972, 108–109. 73 Ehrenhaft bezog sich vermutlich eher auf C.T.R. Wilsons Wassertropfen-Zählmethode, die 1909 eingeführt worden war, als auf die ältere Wolken-Methode wie sie von H. A. Wilson und Robert Millikan benutzt wurde.
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Hypothesen und den Deutungen, die ein Autor gerade bei diesen Messungen sehr häufig an den Resultaten eines anderen vornahm, fernhalten will, wäre der Gedanke nur zu nahe liegend, diese Schwankungen des Elementarquantums oder der Elektronenladung in der Natur selbst begründet zu sehen und die Deutung der Experimente vielleicht zu modifizieren.«74
Für Ehrenhaft wie für Kohlrausch war das entscheidende Problem, zwischen den Schwankungen, die durch den experimentellen Aufbau ins Spiel kamen, und denen, »die in der Natur selbst begründet« sind, zu unterscheiden. Als die Debatte über »Sub-Elektronen« eskalierte, überprüften Ehrenhafts Kollegen in Wien dessen Forschungsergebnisse. Karl Przibram, der an Messungen der elektronischen Ladung gearbeitet hatte, indem er die Nebelkammer-Methode von C.T.R. Wilson anwendete, machte sich 1910 an eine Analyse von Ehrenhafts Daten. In einem ersten Artikel lobte Przibram Ehrenhafts Experimente, »deren Deutung der Elektronentheorie in ihrer heutigen Gestalt beträchtliche Schwierigkeiten bereitet«.75 Aber in einer darauffolgenden Publikation ging Przibram genauer auf die Verteilung der Ladungswerte ein, die Ehrenhaft gemessen hatte. Przibram zeigte, dass es eine enge Übereinstimmung zwischen Ehrenhafts Resultaten und der zu erwartenden Ladung gab, wenn man die Daten durch die Fehlerkurven charakterisierte, die um ein Mehrfaches der Elementarladung zentriert waren. Vielleicht waren Millikans Durchschnittswerte schließlich doch von Bedeutung. Przibram deutete an, dass die Variabilität in der Fallzeit der ionisierten Tröpfchen durch die Brown’sche Bewegung hervorgerufen werden könnte, ein Phänomen, das sowohl er wie auch Ehrenhaft mithilfe des Ultramikroskops untersucht hatten.76 Zu diesem Zeitpunkt verschob sich der Fokus in den Wiener Untersuchungen der »Sub-Elektronen«, da Exners Protegés ihre Erfahrung mit α-Teilchen-Schwankungen auf das Problem der Voraussage und der Messung des Effekts der Brown’schen Bewegung auf die Messungen von e anwendeten. Während des Krieges lenkte sich Schrödinger mit der folgenden Frage ab : Wie genau sollten die beobachteten Werte mit den wahren Werten übereinstimmen, die durch Brown’sche Bewegung produzierten Schwankungen vorausgesetzt ?77 Er erklärte : »Gegenwärtig ist für die Beurteilung dieser Frage ein Kriterium üblich, dem ich nicht zustimmen kann.«78 Die Methode, die Schrödinger ablehnte, beinhaltete die Berechnung der Durchschnittsfalldauer aus einer immer längeren Serie von Messungen bis die Oszillation im Durchschnitt zu einer 74 75 76 77 78
Ehrenhaft 1910, 815–866, 826. Hervorhebung im Original. Przibram 1910a, 869. Przibram 1910b. Schrödinger 1915, 289–295 ; vgl. Hanle 1980, 104–108. Schrödinger 1915, 294.
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akzeptablen Größe schrumpfte. Schrödinger wandte ein, da die Messungen von früheren Serien in jeder späteren Serie enthalten wären, könnten die späteren statistisch nicht unabhängig von den früheren sein. Deshalb könne nur erwartet werden, dass die Wiederholung dieses Vorganges schrittweise die Datenspanne reduzieren werde. Schrödinger schlug vor, dass »ein brauchbares Präzisionsmaß« anderswo gesucht werden müsste. Ein passendes Maß wäre die mittlere Schwankung der gemessenen Werte der Fallgeschwindigkeit einerseits und der Brown’schen Verschiebung – der »wahren Werte« dieser Quantitäten – andererseits. »Natürlich ist es praktisch unmöglich, […] die wahren Werte […] einzusetzen«, gab Schrödinger zu. Hier stieß er jedoch auf die fundamentale Schwierigkeit, statistische Schwankungen zu messen – was ist die Bedeutung eines »wahren Wertes« für eine Quantität, die nur durch ihre statistische Verteilung bekannt ist ? Allerdings verfolgte Schrödinger das Thema an diesem Punkt nicht weiter. Er ersetzte stattdessen die wahren Werte durch die durchschnittlich beobachteten Werte dieser Quantitäten. Schrödinger und Kohlrausch sollten eine befriedigende Lösung für das Problem der Ableitung eines geeigneten »Präzisionsmaßes« erst 1926 durch die Konstruktion einer wahrscheinlichkeitstheoretischen Simulation finden. Für Exners Studenten war die Messung von Schwankungen nicht bloß ein Schritt zur ›Zähmung‹ von Laborinstrumenten wie für ihre Kollegen an anderen Orten. Ein ehemaliger Schüler Exners, Marian von Smoluchowski, kündigte das ikonoklastische Potenzial der Schwankungsforschungen auf der Deutschen Naturforscherversammlung 1912 in einem Vortrag über »Experimentell nachweisbare, der üblichen Thermodynamik widersprechende Molekularphänomene« an. Er begann defensiv : »Der Titel meines Referats klingt etwas revolutionär, und ich glaube tatsächlich, vor zehn Jahren wäre es ein Wagnis gewesen, sich in dieser Versammlung so respektwidrig über die traditionelle Auffassung der Thermodynamik zu äußern. Doch heute haben wir erstens überhaupt weniger Respekt vor Dogmen in der Physik, und zweitens ist in der Wertschätzung des kinetischen Atomismus und der Thermodynamik ein gewaltiger Umschwung eingetreten.«79
Schrödinger, der sich akribisch mit Smoluchowskis Theorie der Schwankungen beschäftigt hatte, erklärte später, dass das Schwankungsphänomen die Hoffnung hatte aufkommen lassen, den Unumkehrbarkeitsgesetzen der Thermodynamik entscheidend zu widersprechen. Denn die klassische Thermodynamik sagt keine mikroskopischen Schwankungen voraus, sondern nur den »Brown’schen Rest«, wie Schrödinger es aus79 Smoluchowski 1912, 226.
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drückte. Schwankungserscheinungen in ihren unterschiedlichen Formen machten »Abweichungen« von den Gesetzen der Thermodynamik experimentell beobachtbar und waren dadurch eine wichtige Stütze für Boltzmanns statistische Mechanik. In diesem Sinne konnten Schwankungsphänomene »ein neues experimentum crucis, und sobald Konsens herrscht, einen neuen Beweis für die relative Gültigkeit von Boltzmanns Konzeption [bieten], im Gegensatz zur [klassischen] Thermodynamik. (Absolut gültige Theorien gibt es nicht)«.80 Dieser Wiener Kreis verdankte seinen unerschütterlichen Skeptizimus gegenüber »absolut gültigen Theorien« vermutlich Exner. Exners Schüler Kohlrausch stellte einmal einer seiner eigenen Arbeiten eine erhellende Passage von Exner als Epigraph voran : »Es sind uns aber diese Gesetze nicht von der Natur gegeben wie ein Stück Materie, wir folgern sie aus der Beobachtung einzelner Fälle und die daraus abgeleitete Verallgemeinerung als Gesetz ist immer ein Produkt des Menschen ; dieses auf seine Eigenschaften, speziell auf den Umfang seiner Gültigkeit zu prüfen, bleibt jedenfalls eine unserer wichtigsten Aufgaben.«81
Exner betonte in seinen Vorlesungen, dass Wissenschaftler auch in ihren Grundhypothesen flexibel bleiben müssten, um neue empirische Beweise aufnehmen zu können und die Bildung eines »neuen« Dogmas zu vermeiden. In diesem Geiste nahmen Exners Schüler sich der Schwankungsphänomene an, um das dogmatische Glauben an absolute Gesetze infrage zu stellen. Indem sie ihre Loyalität gegenüber Boltzmanns Statistik unterstrichen und einen Hang zum Mach’schen Pragmatismus entwickelten, positionierten sie sich innerhalb einer spezifisch österreichischen Tradition des Wahrscheinlichkeitsdenkens. Eine allgemeinere Bedeutung könnte dem Wahrscheinlichkeitsdenken des Exner-Kreises auch im Zusammenhang mit den an österreichischen Universitäten lange anhaltenden Verteidigungskämpfen der akademischen Freiheit gegen religiösen Dogmatismus und philosophische Systeme zukommen. Durch ihre Weigerung, in den Naturwissenschaften nach absoluten Gesetzen zu streben, sollten Exners Schüler ihre Bindung an eine österreichische Tradition des freiheitlichen Empirismus bekräftigten. Schweidlers wahrscheinlichkeitstheoretische Beschreibung radioaktiver Schwankungen entstand in den für die internationale Gemeinschaft der Radioaktivitätsforscher 80 Schrödingers Notizbücher über Smoluchowskis Arbeit wurden von Hanle transkribiert und ins Englische übersetzt. Vgl. Hanle 1980, 268. 81 Kohlrausch 1927, i; Exner 1917, v.
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prägenden Jahren, als sich die Physiker und Physikerinnen mit den Schwierigkeiten einer koordinierten Forschung befassten, denen sie überall in den europäischen und nordamerikanischen Laboratorien begegneten. Sie stellten sich der Herausforderung durch die unterschiedlichen Bedingungen, indem sie zunächst nach vertrauenswürdigen Instrumenten suchten, die in der Lage waren, konstante Messungen hervorzubringen und diskontinuierliche Schwankungen so gut wie möglich zu unterbinden. Mit der Einführung leistungsfähiger Methoden zur Bestimmung einzelner α-Teilchen änderten sich jedoch die unmittelbaren Ziele der Physiker. Sie konnten die Schwankungen zwar nicht ignorieren, konnten aber auch nicht entscheiden, ob es sich dabei um Versuchsfehler, natürliche Veränderlichkeit oder um beides handelte. Die Gleichsetzung der Bronson’schen »Störungen« mit den Schweidler’schen »Schwankungen« bestärkte die Physiker darin, dass sie es mit einem physikalischen Phänomen zu tun hatten und nicht mit instrumentellen Verzerrungen. Aber bereits in Schweidlers kurzer Darstellung seiner Theorie wurde deutlich, dass er sie nicht einfach als ein Laborwerkzeug zu behandeln gedachte. Für Schweidler und seine Kollegen in Wien bestand die Herausforderung darin, ihre Instrumente so weit zu bringen, dass sie Schwankungen der Natur vor dem Hintergrund menschlich erzeugter Störungen fokussieren konnten. Schrödinger erinnerte 1919 seine Kollegen daran, dass Schweidlers These von 1905 die »Entdeckung« des »grundlegenden Wissens über den Wahrscheinlichkeitscharakter der Zerfallskonstante« gewesen war.82 Als solche fand sie allerdings keine unmittelbare Beachtung. Kurz und bündig geschrieben und jeder weiteren Begründung oder eines Zusammenhangs entbehrend, machte Schweidlers Aufsatz wenig Anspruch auf metaphysische Bedeutung. Außerhalb seines Wiener Kreises interessierte sich kaum jemand dafür, bis die Physiker in diesem Text einen weitaus prosaischeren Wert entdeckten, weil er ihnen eine Erklärung für die Unregelmäßigkeit der Daten ihrer neuen TeilchenDetektoren lieferte. Und so wurde Schrödinger zufolge Schweidlers Theorie auf eine »√Z Relation« reduziert, eine Formel, mit der sich die ungleichmäßigen Ausschläge einer Elektrometernadel messen ließen. Diese pragmatische Deutung ließ sich nicht aufrechterhalten. In ihrer privaten Korrespondenz und bei beruflichen Zusammenkünften spekulierten selbst die nüchternsten Experimentatoren über die Implikationen von Schweidlers Theorie für die Grenzen mechanischer Erklärungen und die Natur des Zufalls. Und so machte die Gleichung zwanzig Jahre lang die Runde und wurde in alltäglichen oder intellektuellen, anwendungsbezogenen oder abstrakten, pragmatischen oder metaphysischen Zusammenhängen immer wieder aufgegriffen. Mara Beller und Peter Galison haben darauf hingewiesen, dass die metaphysischen Innovationen, die wir Physikern und Physikerinnen 82 Vgl. Schrödinger 1919.
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verdanken, möglicherweise zum Teil als Lösungen alltäglicher technischer Probleme entstehen. Dank ihrer Arbeit können wir nun erkennen, dass Albert Einstein und Werner Heisenberg, als sie jene metaphysischen Umwälzungen vorbereiteten, die mit der Relativitätstheorie und der Unschärferelation verbunden waren, ihrem eigenen Selbstverständnis nach praktischen Schwierigkeiten auf den Grund gehen wollten, die dringend zur Lösung anstanden.83 In diesen Fällen hatte zwar der praktische Kontext Anteil an der Inspiration, war aber kaum noch Bestandteil der Rezeption der neuen Theorien, die als metaphysisch (oder in einem positivistischen Sinne anti-metaphysisch) verstanden wurden. Im Falle der Schweidler’schen Schwankungen war der praktische Zusammenhang das Medium, in dem die Theorie sich ausbreitete. Ging es also um eine pragmatische oder um eine metaphysische Aussage ? Zweifellos erweiterte ihre vielseitige Auslegbarkeit ihre Bedeutung ebenso wie ihre Lebensdauer. Aus dem Amerikanischen von Regine Othmer und Adele Kuenrath
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83 Vgl. Beller 1988, 147–162; dies. 1999, 92–95; Galison 2003.
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Zur Genese der Schweidler’schen Schwankungen und der Brown’schen Molekularbewegung Michael Stöltzner, South Carolina*
Mir gefällt ein lebendiges Leben, mir ein ewiges Schwanken und Schwingen und Schweben auf der steigenden, fallenden Welle des Glücks. Schiller: Die Braut von Messina 1, 7.
Auf dem ersten Kongress für Radioaktivität, der vom 12. bis 14. September 1905 im belgischen Lüttich stattfand, trug Stefan Meyer eine kurze Notiz seines Freundes und Kollegen Egon von Schweidler »Ueber Schwankungen der radioaktiven Umwandlung« vor.1 Die dort mittels einer verblüffend einfachen wahrscheinlichkeitstheoretischen Überlegung abgeleiteten Schwankungen im Zerfall radioaktiver Präparate sollten bald Schweidlers Namen tragen und von den meisten Zeitgenossen als sein wichtigstes theoretisches Ergebnis bezeichnet werden. Der vorliegende Beitrag fragt nach den wissenschaftlichen und philosophischen Voraussetzungen der Schweidler’schen Entdeckung und stellt diese in den Kontext einer nahezu gleichzeitig durch Marian von Smoluchowski, einen Studienkollegen von Meyer und Schweidler, gefundenen Erklärung des Phänomens der Brown’schen Molekularbewegung. In beiden Fällen, so meine erste These, führte eine Kombination explorativer Experimentalstrategien mit profundem Verständnis der statistischen Mechanik dazu, die Schwankungen einer physikalischen Größe als eigenständige Beobachtungsgröße ernst zu nehmen und sie von Messfehlern zu unterscheiden. Dabei war, so meine zweite These, das philosophische Verständnis der statistischen Mechanik ein ausschlaggebender Faktor, und zwar gerade dadurch, dass es nicht auf das vermeintlich zentrale Grundlagenproblem, die statistische Interpretation des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, be*
1
Die Forschungen zu diesem Aufsatz wurden während eines vom FWF finanzierten Gastaufenthalts am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien durchgeführt. Ich danke dem Institut und Carola Sachse für die Gastfreundschaft. Silke Fengler, Wolfgang Reiter, Beate Ceranski, Roger Stuewer sowie meiner Frau Veronika Hofer bin ich für Hinweise und kritische Anmerkungen zu den hier behandelten Themen in besonderer Weise verbunden. Ina Heumann hat Korrektur gelesen und viele hilfreiche Verbesserungsvorschläge beigesteuert. Ebenso danke ich dem Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Zentralbibliothek für Physik in Wien und der Dokumentationsstelle für Österreichische Philosophie in Graz. Vgl. Schweidler 1906.
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Michael Stöltzner
schränkt blieb, sondern sich in zwei konkrete Anwendungskontexte erstreckte. Drittens existierte unter den Mitgliedern des Kreises um Franz Serafin Exner, seit 1891 Professor für Physikalische Chemie an der Universität Wien, eine enge Verzahnung mehrerer Forschungsgebiete. Im Gegensatz dazu verfolgte der andere große Wiener Physiker, Ludwig Boltzmann, konsequent ein einziges Forschungsprogramm, das er aufgrund mannigfacher Einwände immer wieder modifizierte, nämlich die statistische beziehungsweise atomistische Grundlegung der Thermodynamik, insbesondere des zweiten Hauptsatzes. Dieses Programm umfasste auch die philosophische Auseinandersetzung mit seinen Gegnern, insbesondere der von Wilhelm Ostwald propagierten Energetik, welche die strenge Gültigkeit des zweiten Hauptsatzes annahm und diesen aus einem universellen Energieerhaltungsprinzip ableiten wollte. In dieser Auseinandersetzung konnte Boltzmann, der von 1894 bis 1900 und dann wieder von 1902 bis zu seinem Tod an der Wiener Universität lehrte, alle seine lokalen Kollegen auf seiner Seite wissen.
Das Exner’sche Denkkollektiv : Empiristischer Indeterminismus als Denkstil Die eben skizzierte physikalisch-epistemologische Melange charakterisierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts jenes Denkkollektiv, das sich um Franz Serafin Exner an der Wiener Universität entwickelt hatte. Exner, 1849 als Sohn des Philosophen und Universitätsreformers Franz Exner geboren, war Mitglied einer der prägenden Gelehrtendynastien des ausgehenden Habsburgerreiches.2 Aus diesem Denkkollektiv sollten nicht nur die führenden Forscher des 1910 gegründeten Instituts für Radiumforschung hervorgehen, darunter Meyer und Schweidler, sondern nahezu alle Inhaber von Lehrstühlen der Experimentalphysik in Österreich. So bezeichnete der Münchner Physiker Arnold Sommerfeld Exner in einem Nachruf als »einen vielseitigen und feinsinnigen Gelehrten«, der »während eines Menschenalters Mittelpunkt des physikalischen Lebens in Österreich« gewesen sei.3 Exners Schüler Hans Benndorf beschrieb ausführlich die Abende in Exners Haus, bei denen der engere und weitere Kreis physikalische, kulturelle und künstlerische Fragen diskutierte und fasziniert Franz Serafins Reiseberichten lauschte. Zur Zeit seines Rektorats im Jahre 1908/09 stand Exner »auf der Höhe seiner Wirksamkeit, umgeben von einer Schar von Schülern, die ihn wie einen Vater verehrten«.4 Darunter waren auch Mitglieder einer zehn Jahre jüngeren Generation 2 3 4
Eine Geschichte der Exnerfamilie gibt Coen 2007. Sommerfeld 1927, 27. Benndorf 1927, 403
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wie Fritz Kohlrausch und Erwin Schrödinger. Kohlrausch wurde 1920 an die Technische Hochschule in Graz berufen, im selben Jahr, als Schrödinger seine Wanderjahre begann, die ihn über Jena, Stuttgart, Breslau und Zürich 1927 auf den Planck’schen Lehrstuhl in Berlin führen sollten. In der Literatur werden Exners wissenschaftliche Leistungen bisweilen als weniger bedeutend oder als Teil der Physik des 19. Jahrhunderts betrachtet.5 Für das hier zu untersuchende erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ist dies jedoch unzutreffend. Exners »Forschungstätigkeit betraf meist schwierige, kontroverse Probleme«,6 heißt es zu Recht bei Sommerfeld. Farbenlehre und Spektroskopie wurden damals viel diskutiert, und die luftelektrische Forschung war zu einem Schwerpunkt des Kartells der deutschsprachigen Akademien geworden.7 Es ist daher kein Wunder, dass sich auch nach 1910 die Forscher des Instituts für Radiumforschung und die anderen Mitglieder des ExnerKreises weiterhin mit diesen Themen beschäftigten Ich betrachte den Exner-Kreis nicht lediglich als ein Netzwerk, zusammengehalten von der einzigartigen Persönlichkeit Exners und einer Reihe gemeinsamer Forschungsthemen, sondern als ein Denkkollektiv, dessen charakteristischer Denkstil nahezu gleichzeitig entscheidende Durchbrüche auf den Gebieten der Schweidler’schen Schwankungen und der Brown’schen Bewegung sowie, auf beide gestützt, weitreichende Veränderungen im philosophischen Verständnis der modernen Physik ermöglichte. Ludwik Fleck definiert ein Denkkollektiv »als Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen, [als] den Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebiets, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstiles«.8 Der Denkstil ist dabei das epistemologische Korrelat des sozial konstituierten Denkkollektivs und wird definiert »als gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen«.9 Diese epistemologische Bestimmung erlaubt mir, auch Smoluchowski in dieses Denkkollektiv miteinzubeziehen, obwohl dieser bereits seit 1899 an der Universität Lemberg lehrte und 1913 einem Ruf nach Krakau folgen sollte. Indem Fleck epistemische und soziale Charakteristika konsequent verbindet, erfordert Exners Rolle als Vaterfigur des um ihn gruppierten Denkkollektivs nicht, dass der entsprechende Denkstil von Exner explizit geschaffen und von den Schülern schlicht übernommen würde. Oder anders gesagt : Das Denkkollektiv als »Personifikation des 5 6 7 8 9
So etwa bei Mehra/Rechenberg 1987, 79. Sommerfeld 1927, 27. Eine Darstellung der Exner’schen Arbeiten und der Beteiligung seines Kreises findet sich bei Karlik/ Schmid 1982. Fleck 1993, 54–55. Ebd., 130.
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durch Wechselwirkung entstandenen Gemeinschaftsergebnisses«10 ist mit der historischen Persönlichkeit durchaus verträglich, solange man sich bewusst bleibt, dass ein Individuum immer mehreren Denkkollektiven angehört. Prägend für den Denkstil des Exner-Kreises waren (i) die eingangs erwähnte Kombination explorativer Experimentalstrategien mit profundem Verständnis der statistischen Mechanik ; (ii) die gleichzeitige Arbeit auf bestimmten experimentellen Gebieten, darunter Luftelektrizität und Radiumforschung, in denen Schwankungsphänomene auftreten ; (iii) die Verpflichtung auf einen empiristischen Kausalitätsbegriff im Sinne Ernst Machs, der phänomenologisch festgestellte Abhängigkeiten als gültige Naturgesetze anzunehmen erlaubte und der deterministischen Naturerklärung keinen automatischen Vorzug vor einer statistischen Beschreibung einräumte. Ich werde im Folgenden zeigen, dass es der eben geschilderte Denkstil Schweidler und Smoluchowski ermöglichte, Schwankungen als gesetzesfähige physikalische Größe zu akzeptieren. Auf diese Weise zwei physikalische Phänomene erklären zu können, nämlich die radioaktiven Schwankungen und die Brown’sche Bewegung, macht wiederum die bemerkenswerte Sicherheit verständlich, mit der die Wiener nach 1908 zunehmend die indeterministische Natur der physikalischen Gesetze als Denkmöglichkeit betonten und als das eigentliche Erbe des späten Boltzmann gegenüber Max Plancks Darstellung des physikalischen Weltbildes vertraten.11 Ich habe diese Tradition in früheren Arbeiten als »Wiener Indeterminismus« bezeichnet und sehe in Exners Inaugurationsrede als Rektor der Wiener Universität im Herbst 1908 »Über Gesetze in Naturwissenschaft und Humanistik« ihr philosophisches Manifest.12 Der oben beschriebene Denkstil ermöglichte es einer ganzen Reihe von in Wien ausgebildeten Forschern, in der 1926 entdeckten Quantenmechanik keine fundamentale Krise der Kausalität zu erblicken, sondern eine weitere Bestätigung des Boltzmann’schen Denkweges. Die über einen derart langen Zeitraum unvermeidliche Fluidität der philosophischen Begriffsbildungen wird durch die Identität des Denkkollektivs historiographisch zusammengehalten. Dies ist auch deshalb wichtig, weil der philosophische Kern der Wiener Tradition nicht in einem a priori vorausgesetzten Indeterminismus lag, sondern in einer Beweislastumkehr, die den Deterministen verpflichtete, die kausalen Gesetze entweder explizit anzugeben oder sich mit einer statistischen Gesetzmäßigkeit auf der Ebene der Einzelprozesse zufrieden zu geben.13 10 Ebd., 60. 11 Ich lese Plancks Rektroratsrede »Dynamische und statistische Gesetzmäßigkeit« (1914) als Kritik von Exners Rektoratsrede, nicht zuletzt weil dieser im 94. Kapitel seiner »Vorlesungen« (1919) detailliert auf Planck antwortete. 12 Vgl. Stöltzner 1999 und meine Dissertation Stöltzner 2003. 13 Innerhalb der von Stephen Brush beschriebenen Entwicklung eines indeterministischen Weltbildes
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Schweidlers Argumentationsgang Schon bald nach Entdeckung der radioaktiven Umwandlungsprozesse hatten Ernest Rutherford und Frederick Soddy 1902 durch präzise Wägungen das allgemeine Zerfallsgesetz gefunden. Es folgte aus der plausiblen Annahme, dass die zeitliche Abnahme der radioaktiven Substanz in einem jeden Zeitpunkt dN/dt proportional zur jeweiligen Menge der Substanz N war. Integration dieser Beziehung führt auf die Beziehung N(t) = Nt=0e –λt ; λ ist dabei die Zerfallskonstante, ihr Kehrwert 1/λ die mittlere Lebensdauer. Das allgemeine Zerfallsgesetz war lediglich eine phänomenologische Beziehung, die keinerlei Annahmen über einen der radioaktiven Umwandlung zugrunde liegenden Mechanismus enthielt. Schweidler ging in seinem Beitrag für die Lütticher Konferenz davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein radioaktives Atom die Zeit t überdauere, durch e –λt gegeben sei. Auch er machte keine Annahmen über die Natur dieses Prozesses : »Bei einer sehr grossen Anzahl N gleichartiger solcher Atome wird daher, entsprechend dem Gesetz der grossen Zahlen, die Anzahl der nach der Zeit t noch vorhandenen Atome gegeben sein durch n = Ne –λt. Es ist selbstverständlich, dass bei einer geringeren Anzahl von Atomen der tatsächliche Verlauf ihrer Verminderung von diesem idealen Gesetze abweichen wird, und es soll im Folgenden untersucht werden, ob die durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung zu ermittelnde ›Streuung‹ die Grenzen empirischer Nachweisbarkeit erreichen kann.«14
Die Zerfallskonstante war in Schweidlers Analyse ebenfalls lediglich ein Mittelwert. War die Beobachtungszeit klein gegenüber der Halbwertszeit des Präparats, so vereinfachte sich die Formel für die mittlere Schwankung zu ε- = 1/√ Z , wobei Z die Anzahl der Atome bezeichnete, die bei strenger Gültigkeit des Zerfallsgesetzes innerhalb der Beobachtungszeit zerfallen würden. Eine derart einfache Abhängigkeit zweier Größen empfahl sich geradezu für eine experimentelle Untersuchung. Diese war schon deswegen unabdingbar, da das in Schweidlers Argument benutzte Gesetz der großen Zahlen schlicht ein mathematisches Theorem ist und keinen physikalischen Grenzprozess darstellt. Denn seine Gültigkeit ist lediglich eine Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Wahrscheinlichkeitsrechkommt dieser Denktradition eine eigenständige Rolle zu, gerade weil sie die Unterscheidung zwischen ontologischem und epistemologischem Indeterminismus letztlich in empiristischer Perspektive negiert. Der von der Kopenhagener Deutung nahegelegte ontologische Indeterminismus ist deshalb von den Wienern gerade nicht gutgeheißen worden ; vgl. Brush 1976 ; vgl. Benndorfs (1948) weiter unten zitierte Beschreibung von Schweidlers philosophischem Standpunkt. 14 Schweidler 1906, 1.
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nung auf einen Phänomenbereich, enthält aber keine physikalisch begründete Aussage über Art und Größenordnung eines Zufallsphänomens. Dass die Schwankungen bei wenigen Atomen »selbstverständlich« – so Schweidler in obigem Zitat – auftraten, war daher zunächst einmal eine noch zu prüfende experimentelle Erfahrungstatsache, die in Schweidlers Arbeit in mathematische Form gegossen wurde, und keine Konsequenz aus einem umfassenderen Prinzip. Schweidlers hauptsächliche Leistung bestand mithin darin, dass er Schwankungen überhaupt zu einer Größe gemacht hatte, die selbst in einem Naturgesetz auftreten konnte und nicht auf die Analyse der bei der Prüfung eines Naturgesetzes auftretenden Messfehler beschränkt blieb. Schweidler betonte, dass die zum Nachweis der Schwankungen »erforderliche Messgenauigkeit nicht ausserhalb der Grenzen des praktisch Erreichbaren« lag.15 Im darauffolgenden Jahr legte Kohlrausch den Schweidler’schen Gedankengang in den Wiener Sitzungsberichten noch einmal ausführlich dar und berichtete von seiner eigenen experimentellen Überprüfung der Radioaktivitätsschwankungen. Der gemessene Effekt war jedoch zu groß, so dass Kohlrausch folgerte, »daß noch eine zweite Schwankung von anderer Ursache als der bisher angenommenen über die betrachtete Streuung gelagert ist und so den zu erwartenden mittleren Fehler vergrößert«.16
Schon Schweidler hatte seinen Beitrag mit der Überlegung geschlossen, dass die für den experimentellen Nachweis gemachte Annahme, »dass jedes α-Partikel cirka 70.000 Ionenpaare erzeugt […] selbst ein Mittelwert ist, [so dass] sich über die Schwankung der Zahl der ausgesandten α-Partikel noch die Schwankung der Zahl der von ihnen erzeugten Ionen [lagert] und die mittlere Abweichung ε- […] noch grösser [wird]«.17
Damit ist das zentrale epistemologische Problem der Schweidler’schen Schwankungen benannt : die Unterscheidung zwischen den statistischen Schwankungen als einem genuin physikalischen Phänomen und den ebenfalls statistisch zu beschreibenden Messfehlern. Oder anders formuliert : Man isoliert aus den vielen statistischen Abhängigkeiten zwischen den kontrollierten Variablen und den Fehlerquellen eines Experiments diejenigen, über die man gesetzmäßige Abhängigkeiten behauptet, und versucht nicht, ein angenommenes oder zu überprüfendes deterministisches Gesetz von den statistisch verteilten Messfehlern abzusondern, indem die Schwankungen unterdrückt oder he15 Ebd., 2. 16 Kohlrausch 1906, 682. 17 Schweidler 1906, 3.
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rausgerechnet werden. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist dieser Konstituierungsprozess einer neuen physikalischen Größe und eines statistischen Gesetzes keinesfalls geradlinig und isoliert von anderen Entwicklungen verlaufen.
Schweidler’sche Schwankungen im Kontext Die Wissenschaftshistorikerin Deborah Coen hat die Debatten um die Schweidler’schen Schwankungen bis zur Entdeckung der Quantenmechanik im Jahre 1926 detailliert beschrieben, insbesondere die Geschichte ihrer experimentellen Verifikation und Interpretation. Repräsentierten die Schweidler’schen Schwankungen – so ihre Forschungsfrage – ein neuartiges Phänomen oder waren sie dank der einfachen Formel ε- = 1/√ Z schlicht ein besonders geeignetes Vehikel zur Untersuchung des Stoffgehalts unbekannter Präparate ? Die Wiener vertraten dezidiert ersteren Standpunkt und betrachteten Schwankungen zunehmend als ein nicht nur auf die Radioaktivität beschränktes Phänomen : »Während die Kollegen an anderen Orten in Europa die Unterscheidung zwischen experimentellen ›Fehlern‹ und natürlichen ›Schwankungen‹ aufgaben, versuchten die Wiener zu bestimmen, welche Veränderungen dem Phänomen inhärent und welche experimentelle Artefakte waren.«18
Eine Untersuchung der verschiedenen Experimente zeige, »dass die Übernahme der probabilistischen Annahmen im Rest Europas keineswegs zwangsläufig aus den experimentellen Befunden folgte«.19 Vielmehr bedurfte es einer ganz bestimmten epistemischen Grundstimmung. In »Vienna in the Age of Uncertainty« stellt Coen den probabilistischen Ansatz der Wiener Radiumforscher in den breiten ideen- und kulturhistorischen Kontext des österreichischen Liberalismus, als dessen typische Repräsentanten die Mitglieder der Gelehrtendynastie der Exners vorgestellt werden. Exners Inaugurationsrede, in welcher er den Zufall als die Wurzel aller Naturgesetze bezeichnete, entwickelte daher den Indeterminismus sogleich zu einer Grundlegung der modernen Gesellschaft im Sinne des österreichischen Liberalismus fort. Trotz einer Zwangsläufigkeit des Kulturverlaufs im Ganzen, insbesondere hinsichtlich der Ungleichheiten in physischer, intellektueller und sozialer Beziehung, bleibt Exner zufolge das einzelne Individuum in seinem Wirken vollkommen frei. Der sozialistische Ruf nach vollstän18 Vgl. den Beitrag von Coen in diesem Band, 295. 19 Ebd., 272.
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diger Gleichheit, etwa bezüglich des Reichtums, sei daher schon deshalb zwecklos, weil die statistische Verteilung sämtlicher Kulturgüter schlicht die »notwendige Folge des jeweiligen Kulturzustandes ist«.20 Die Exners waren nicht nur Bürger des »wahrscheinlichsten Staates« – so eine Kapitelüberschrift Coens, die unterstreicht, dass bereits ein soziales Gleichgewicht auf probabilistischer Grundlage erreicht sei –, sondern eine einflussreiche Gelehrtenfamilie des ausgehenden Habsburgerreichs, die sich alljährlich zur Sommerfrische im Brunnwinkl einfand, dort ein naturkundliches Privatmuseum betrieb und wissenschaftliche Beobachtungen anstellte. Als Paradigma einer derartigen »alpine physics« präsentiert Coen die Forschungen zur Luftelektrizität. Sie bildeten einen wichtigen Hintergrund für den einheitlichen Zugang zu den Schwankungserscheinungen im Exner-Kreis : »They began to think of ›fluctuation phenomena‹ as a new subfield of physical inquiry, one that drew analogies among phenomena as diverse as radioactivity, Brownian motion, critical opalescence [of gases], and imperfect crystals. […] [T]heir training in the Alps had taught them to treat fluctuations as signal rather than noise.«21
Coen ist darin zuzustimmen, dass die Forschungen zur Luftelektrizität prägend für Schweidlers Deutung der radioaktiven Zerfallsschwankungen waren.22 Allerdings fehlten bei Schweidler im Jahre 1905 noch wichtige Aspekte des von Exner 1908 propagierten Indeterminismus, insbesondere der eindeutige Bezug auf die Häufigkeitsinterpretation der Wahrscheinlichkeit und die Erhebung des zweiten Hauptsatzes zum universalen Gesetz allen Naturgeschehens. Auf der Kombination beider beruhte jedoch Exners Brückenschlag zur Tradition des Liberalismus.23 Davon ist weder bei Schweidler noch im Falle der Brown’schen Bewegung die Rede. Unter den Elementen des vom Exner-Kreis gepflegten Denkstils erscheinen mir daher die bereits erwähnte Beweislastumkehr in Sachen Determinismus und die Kombination einer empiristischen Grundhaltung mit einer genauen Kenntnis der kinetischen Gastheorie entscheidend dafür, dass Schweidler den Indeterminismus des späten Boltzmann aus einer theoretischen Debatte über die Grundlagen der Physik in ein Gebiet explorativen Experimentierens überführen konnte.24 Ähnlich war es auch im Falle der Brown’schen Bewegung. Zwar 20 Exner 1909, 40. 21 Coen 2007, 264. 22 Ich werde dies weiter unten noch genauer erläutern und auf eine semantische Analyse des Begriffs »Schwankung« stützen. 23 Bezieht man Exners unveröffentlichte Kulturtheorie mit ein, wird dies noch deutlicher ; vgl. Stöltzner 2002. 24 Dies ist auch mehr als der von Coen zu Recht diagnostizierte Wechsel »zwischen einem anwendungsbe-
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existierten hierüber eine Fülle theoretischer Vorstellungen, aber sie bezogen sich alle auf eine physikalische Größe, die, obwohl dem Betrachter unmittelbar evident, gar nicht wohl definiert war, nämlich die Geschwindigkeiten der Brown’schen Teilchen unter dem Mikroskop. Auch hier galt es mithin, überhaupt erst die experimentell zugängliche Größe zu finden und das Vertrauen in die Universalität der kinetischen Theorie nicht zu verlieren. Die bereits vor Coen von Edoardo Amaldi und Japp van Brakel diskutierte Frage, ob die Radioaktivität und insbesondere Schweidlers Schwankungen als Beweis für die indeterministische Natur des physikalischen Geschehens gelten konnten,25 erweist sich in gewisser Weise orthogonal zum empiristischen Ansatz der Wiener, jedenfalls bevor Exner den zweiten Hauptsatz ins Zentrum rückte. Daher ist, soweit es um den Indeterminismus als metaphysische These geht, auch Helge Kragh zuzustimmen : »Statistical physics, whether in gas theory, Brownian motion, or radioactivity, was not associated with acausality and thus not seen as contrary to microphysical explanation.«26 Es ging vordringlich um die Beweislast, wobei die Brown’sche Bewegung sogar das wesentlich häufiger gebrauchte Beispiel war.27 Allerdings sollte sich die Stoßrichtung der Wiener nach Exners Rektoratsrede in signifikanter Weise ändern, insofern der statistisch-probabilistische Standpunkt nun als verbindendes Element aller Naturgesetze betrachtet wurde. Es dauerte jedoch gut ein Jahrzehnt, bis auch die Schwankungserscheinungen in diesem Sinne als ein mehrere physikalische Gegenstandsbereiche umfassendes Phänomen betrachtet wurden. Coens Analyse der Schweidler’schen Schwankungen setzt diesen Standpunkt bereits voraus, während er meines Erachtens erst eine Folge der simultanen Entwicklungen in den Gebieten der Forschungen zur Radioaktivität, zur Brown’schen Bewegung und zur Luftelektrizität war.
Der Endpunkt der Entwicklung : Schwankungen als genuines Phänomen Um diese Entwicklung besser herauszuarbeiten, werde ich wie Coen mit dem Überblicksartikel »Schwankungserscheinungen in der Physik« beginnen, den der Prager zogenen und einem theoretischen Kontext, [der ihnen erlaubte] metaphysischen Fragen gegenüber […] agnostisch zu bleiben«. Coen in diesem Band, 288. 25 Vgl. Amaldi 1979 ; Brakel 1985. 26 Kragh 1997, 354. 27 Vgl. Brakel 1985, 378. Allerdings ist es nicht richtig, hieraus zu schließen, dass vor 1925 keine Veröffentlichung die indeterministische Natur der Radioaktivität herausstrich ; vgl. hierzu den im letzten Abschnitt behandelten Aufsatz Schrödingers (1919).
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Physiker Reinhold Fürth 1919 in der Physikalischen Zeitschrift veröffentlichte. Fürth hatte 1916 bei Anton Lampa, einem der ersten Schüler Exners, promoviert und wurde danach Assistent des Boltzmann-Schülers Philipp Frank, einem Mitglied des Wiener Kreises. Fürths Ziel war es, durch eine mathematisch »einheitliche Betrachtungsweise den innigen Zusammenhang« der Schwankungserscheinungen, »der […] in der Literatur zu wenig betont zu werden pflegt, zeigen zu können«.28 Exners Denkkollektiv warb somit bei den deutschen Physikern intensiv für den eigenen Standpunkt. Fürth verortete Schwankungen im Zwischenbereich von makroskopischer Phänomenologie – das heißt der experimentell direkt zugänglichen Physik – und der Physik der einzelnen Atome und Moleküle. Wie sich für »die meisten physikalischen Erscheinungen bei Annäherung an mikroskopische Dimensionen gezeigt hat, [sind diese] im Gegensatz zu ihrem makroskopischen Verhalten gewissen Schwankungen unterworfen […], die vollkommen nach den Gesetzen des Zufalls vor sich gehen […]. Während nun die Phänomenologie bei der Deutung dieser Erscheinungen versagen muß, sind diese durch die kinetischen Theorien von vornherein gefordert, so daß die Auffindung der Schwankungserscheinungen in einem gewissen Sinne direkt als Beweis der kinetischen Auffassung dienen kann. […] Es muß nun ein Gebiet geben, wir wollen es das mikroskopische nennen, in dem der Beobachter zwar auch, wie im Makroskopischen nicht die Einzelereignisse, sondern nur die Wirkung einer größeren Anzahl solcher zugleich wahrnehmen kann, aber dennoch die Zahl der Einzelereignisse schon so stark reduziert ist, daß die beobachteten Größen unregelmäßigen Schwankungen unterworfen erscheinen.«29
Eine Beobachtung dieser Schwankungen lasse dann auch quantitative Schlüsse auf die nicht direkt beobachtbaren molekularen Vorgänge zu und erlaube eine Prüfung der kinetischen Theorie. Neben einer umfassenden mathematischen Darstellung gab Fürth einen Überblick über die verschiedenen Schwankungsphänomene. Darunter waren sowohl solche, die zum Siegeszug der atomistischen Auffassung beigetragen hatten und für die es eine Fülle experimenteller Nachweise gab – insbesondere die Brown’sche Bewegung und die Schweidler’schen Schwankungen – als auch rein aus theoretischen Überlegungen erwartete, aber bisher nicht experimentell verifizierte Schwankungen des elektrischen und magnetischen Zustandes sowie die Planck’sche Quantenhypothese. 28 Fürth 1919, 303 ; Fürth gab später die Arbeiten Einsteins und Smoluchowskis zur Brown’schen Bewegung in der Reihe »Ostwalds Klassiker« heraus ; vgl. Einstein 1922 und Smoluchowski 1923. 29 Fürth 1919, 303. Das von Fürth als »mikroskopisch« bezeichnete Gebiet würden wir heute »mesoskopisch« nennen und ersteren Term der Ebene der Einzelereignisse vorbehalten.
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Boltzmann als Ausgangspunkt Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der von Fürth beschriebene einheitliche Standpunkt jedoch auch in Wien noch keinesfalls erreicht. Zwar gibt es beim späten Boltzmann weitreichende Überlegungen über den atomistischen Charakter sämtlicher Naturvorgänge, aber diese waren eher spekulativer Natur und blieben in ihrer Wirkung auf Wien beschränkt. So lesen wir in Boltzmanns Vorlesungsnotizen zur Naturphilosophie aus dem Sommersemester 1904 : »Ist die Energie wirklich Continuum ? … Abweichung vom Energieprinzip, vielleicht nur vom zweiten Hauptsatz, auch vom Flächensatz, Schwerpunktsatz ; Ausnahme durch Strahlungsdruck.«30
Und in Boltzmanns Vortrag »Über statistische Mechanik« von 1904 wird auch die Radiumforschung als Bestätigung der atomistischen Theorie erwähnt,31 nicht jedoch in dem Sinne, dass eine statistische Geltung des Zerfallsgesetzes nahegelegt würde. Denn der späte Boltzmann fasst den Atomismus als ein Grundlagenproblem und in sehr allgemeiner Weise als eine Kritik der Kontinuumsvorstellung auf, welche überhaupt nur dann sinnvoll sei, wenn wir uns »zuerst eine große endliche Anzahl von Teilchen denken, die mit gewissen Eigenschaften begabt sind«.32 In diese Kritik schloss er sogar die übliche Begründung der Differenzialrechnung durch Grenzwertbildung mit ein. Es hat daher sowohl die Zeitgenossen als auch heutige Interpreten immer wieder verwundert, dass Boltzmann im zweiten Band seiner »Vorlesungen zur Gastheorie« Suspensionen – und damit die Brown’sche Bewegung – im Gegensatz zu Lösungen ausdrücklich aus dem Geltungsbereich seiner kinetischen Theorie ausgeschlossen hat, obwohl diese gerade hier ihren endgültigen Durchbruch gegen die Energetik erringen konnte :33 »Wir setzen in der Molekulartheorie stets voraus, dass die […] Erscheinungen nicht mehr wesentlich von der Limite abweichen […]. Selbst in der nächsten Umgebung der kleinsten in einem Gase suspendirten Körperchen ist die Zahl der Moleküle schon so gross, dass es aussichtslos erscheint, selbst in sehr kleinen Zeiten irgendwie eine beobachtbare Abweichung von der Limite zu hoffen.«34 30 31 32 33
Fasol-Boltzmann 1990, 106. Vgl. Boltzmann 1905, 357. Ebd., 358. Vgl. etwa die bei Sommerfeld 1917, 535, zitierte Verwunderung Einsteins, dass Boltzmann »diese sinnfällige Folgerung seiner kinetischen Prinzipien nicht selbst gezogen hat«. 34 Boltzmann 1898, 111–112.
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Die Gründe hierfür sind meiner Ansicht nach zweierlei, und sie bezeichnen nicht zufällig genau zwei grundlegende Charakteristika des Denkstils des Exner-Kreises. Zum einen war der Atomismus für Boltzmann immer ein Grundlagenproblem und eng mit seinem wesentlichsten theoretischen Resultat verbunden, der statistischen Begründung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik. Schwankungsphänomene gehörten hingegen eher zum Betätigungsfeld der angewandten Physik, im Falle der Brown’schen Bewegung zu Biologie und Stadthygiene. Dies waren zweifelsohne zentrale wissenschaftliche Probleme der Zeit, jedoch keine theoretischen Grundlagenfragen. Setzt man Boltzmanns Vertrautheit mit der Arbeit seines Münchner Akademiekollegen Karl von Nägeli voraus,35 so war es für ihn sicherlich genugtuend zu sehen, dass ein Botaniker unter durchaus geschickter Benutzung der kinetischen Gastheorie im Jahre 1879 zeigen konnte, dass die unter dem Mikroskop beobachteten Geschwindigkeiten um vier Größenordnungen über denjenigen lagen, die aus der kinetischen Gastheorie abgeleitet werden konnten. Die Ursache der Zitterbewegung musste mithin eine andere sein, und seit der Entdeckung der Zitterbewegung durch den Botaniker Robert Brown im Jahre 1827 herrschte an Vorschlägen nicht-atomistischen Charakters kein Mangel.36 Zum anderen stand Boltzmann niemals auf dem Boden der Häufigkeitsinterpretation der Wahrscheinlichkeit, sondern blieb der vom Physiologen und Psychologen Johannes von Kries 1886 publizierten Spielraumtheorie verbunden, deren Ziel es war, Platz für den objektiven Zufall in einer deterministischen Welt zu finden.37 Zum Werk des Physikers und Physiologen Gustav Theodor Fechner, aus dessen Nachlass 1897 die »Kollektivmaßlehre« veröffentlicht wurde, scheint ihm – im Gegensatz zu Exner – der philosophische Zugang gefehlt zu haben.38 Fechner definierte die Wahrscheinlichkeit als den Grenzwert der relativen Häufigkeiten. Die Annahme eines von Schwankungen bestimmten Übergangsbereichs ergab sich in diesem Rahmen ganz natürlich in der von Fürth dargestellten Weise, indem der Grenzwert für gewisse Molekülzahlen eben noch nicht erreicht war. Auf dem Boden der Spielraumtheorie machte sie hingegen zunächst wenig Sinn und bedurfte einer weiteren Untergliederung des Spielraumes. Dies hin35 Boltzmann lehrte vor seiner Rückkehr nach Wien von 1890 bis 1894 an der Universität München. 36 Maiocchi unterschätzt hier meines Erachtens den Erklärungsanspruch vieler Forscher, auch wenn sich die einschlägigen Vorstellungen nicht zu einer umfassenden Theorie verbanden. Die Geschichte der Brown’schen Bewegung ist zugegebenermaßen ein Gegenbeispiel gegen eine induktivistische Methodologie, dennoch geschah der Fortschritt nicht erst nach Aufstellung einer Theorie der Brown’schen Bewegung, sondern durch den Schritt hin zu einer neuen Größe, den Schwankungen ; vgl. Maiocchi 1990. 37 Es findet sich zwar nur eine kurze positive Referenz in den »Populären Schriften« (vgl. Boltzmann 1905, 37), aber Boltzmann scheint damit zufrieden gewesen zu sein, das philosophische Interpretationsproblem dergestalt vom Tisch zu haben. 38 Näheres dazu in Stöltzner 2003.
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derte zwar Kries nicht daran, Schmoluchowskis Interpretation der Schwankungsphänomene in seinen eigenen Zugang zu integrieren.39 Aber man kann insbesondere an Exners Rektoratsrede deutlich sehen, wie gut die Häufigkeitsinterpretation auf empiristischer Basis ein konsequentes Weiterdenken des Boltzmann’schen Indeterminismus ermöglichte. Für die Geschichte der Schweidler’schen Schwankungen ist meines Erachtens der erste Punkt, der Transfer des Probabilismus in den Anwendungskontext, der entscheidende, nicht bereits die Häufigkeitsinterpretation. Denn das in Schweidlers Arbeit zur Ableitung der Schwankungsformel benutzte Bernoulli’sche Theorem der großen Zahlen gehörte zum Repertoire der klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie und die oben zitierte Bemerkung Schweidlers, dass das Auftreten der Schwankungen bei geringen Atomzahlen »selbstverständlich« sei, mag sich schlicht auf die Fülle empirischer Evidenz bezogen haben. Zudem war die frühe Radioaktivitätsforschung vor allem ein Gebiet explorativer Experimentalstrategien, in dem außer dem Zerfallsgesetz wenig theoretische Konzepte vorhanden waren. Für das Verständnis der Brown’schen Bewegung als Schwankungsphänomen überwiegt hingegen der zweite Punkt, der Schritt von der Betrachtung des Verhältnisses zwischen der Mikro- und der Makroebene hin zur Häufigkeitsinterpretation, wodurch der Zwischenbereich der Schwankungen aufgeschlossen wurde.
Exners Rektoratsrede und das philosophische Denken der Wiener Physiker Der oft beschworene »Titanenkampf« um die Existenz der Atome war um die Jahrhundertwende lediglich ein Aspekt im philosophischen Denken der Wiener Physiker. Zeitzeugen strichen eine bemerkenswerte Verbindung aus Mach’schem Empirismus und Boltzmann’schem Theorieverständnis heraus. So berichtete etwa Philipp Frank – er promovierte 1906 und habilitierte sich 1909–1962 in einem Interview mit Thomas S. Kuhn : »It wasn’t the case that people would hold any antipathy against Boltzmann’s theory because of Mach. And I don’t even think that Mach had any antipathy. At least it did not play as important a role as is often thought. [I]t never occurred to me that because of the theories of Mach one shouldn’t pursue the theories of Boltzmann.«40 39 Vgl. Kries 1919 ; Smoluchowski 1918. 40 Zitiert nach Blackmore/Itagaki/Tanaka 2001, 63.
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Ähnliches findet sich auch in einem Brief Schrödingers an den britischen Physiker Arthur S. Eddington aus dem Jahre 1940, der zudem Boltzmanns Theoriebegriff näher ausführt : »Boltzmann’s ideal consisted in forming absolutely clear, almost naively clear and detailed ›pictures‹ – mainly in order to be quite sure of avoiding contradictory assumptions. Mach’s ideal was the cautious synthesis of observational facts that can, if desired, be traced back till the plain, crude sensual perception. […] However, we decided for ourselves that these were just different methods of attack, and that one was quite permitted to follow one or the other provided one did not lose sight of the important principles […] of the other one.«41
Frank berichtete Kuhn von der internen Reaktion auf Exners Rektoratsrede, die auch Benndorf zufolge »großes Aufsehen«42 erregte : »It was widely discussed even when I was a student. […] All the physicists in Vienna were interested in the philosophy of science. […] Admittedly, Franz Exner was not well-known for his interest or publications in philosophy of science, but in this matter [dem Status statistischer Gesetze, M.S.] he did clearly lead the way. […] At this time, I think that Exner’s main field was connected with electricity, atmospheric electricity. It was the beginning of ion theory – of ions and electrons at this time. Oh yes, it was much discussed whether the foundation of this was statistical or not, because everything was connected with philosophy.«43
Die Synthese aus Mach’schem und Boltzmann’schem Denken auf den Punkt gebracht und diesen Standpunkt mit der Häufigkeitsinterpretation der Wahrscheinlichkeit begründet zu haben, war das philosophische Verdienst von Exners Rektoratsrede. Indem er Gesetze ganz allgemein »in dem Sinne einer mathematisch formulierbaren, jederzeit und ausnahmslos zutreffenden quantitativen Beziehung« verstand,44 folgte er dem Mach’schen Kausalitätsbegriff einer hinreichend stabilen funktionellen Abhängigkeit der bestimmenden Umstände. Naturgesetze waren demnach nicht mehr – wie in einem kantischen Ansatz – an eine apriorische Kategorie der Kausalität gebunden, sie waren auch keine objektive Eigenschaft der Welt ; vielmehr formulierte sie der Mensch selbst als »sprachl[iche] und rechn[erische] Hilfsmittel« zur Beschreibung der Natur.45 Alle 41 Zitiert nach Moore 1989, 41. 42 Benndorf 1927, 403. Benndorf erwähnt nicht, dass dies wohl auch mit universitätspolitischen Entwicklungen zu tun hatte ; vgl. dazu Coen 2007. 43 Zitiert nach Blackmore/Itagaki/Tanaka 2001, 61–62. 44 Exner 1909, 4. 45 Ebd., 7.
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Objekte wissenschaftlicher Forschung waren Exner zufolge Vorgänge in der Natur – seien es biologische, historische, ökonomische oder sprachliche. Daher gehorchten sie auch den physikalischen Gesetzen, deren gemeinsame Grundlage der Boltzmann’sche Atomismus war. Die kinetische Gastheorie leitete aus zufälligen Stößen der einzelnen Atome oder Moleküle die Gesetze der phänomenologischen Thermodynamik im Grenzwert sehr vieler Teilchen ab. Aus einer großen Anzahl zufälliger Einzelereignisse entstanden erst auf makroskopischer Ebene strenge Gesetze : »[W]ir beobachten an den Körpern Gesetzmäßigkeiten, die ausschließlich durch den Zufall hervorgebracht werden.«46 Bei diesem probabilistischen Ansatz waren neben den Gesetzen im engeren Sinne zwei Aspekte entscheidend – die Anzahl der Einzelereignisse und die Randbedingungen. Streng gelten statistisch begründete Naturgesetze erst im Limes unendlich vieler Einzelereignisse. Daraus folgt für Exner, dass es keine absoluten Gesetze geben könne, sondern immer nur Durchschnittsgesetze, deren Wahrscheinlichkeit so groß sei, »daß sie für menschliche Verhältnisse der Gewißheit gleichkommt«47 und zufällige Abweichungen unterhalb der Nachweisgrenze blieben. Sogar die physikalischen Naturgesetze könnten sich im Laufe kosmologischer Zeiten ändern, wenn die Randbedingungen nicht konstant blieben. Im Gegenzug könne dort, »wo die zufälligen Ereignisse zu langsam aufeinander folgen, auch von einem Gesetz nicht die Rede sein«.48 So lägen die Verhältnisse in der Humanistik,49 aber auch in den deskriptiven Wissenschaften, gleichgültig, ob diese wie die Biologie lebende oder wie die Geologie unbelebte Systeme studieren. Exners umfassender Probabilismus kannte nur ein durch »tausendfältige Erfahrung«50 bestätigtes Grundgesetz, das Gesetz der großen Zahlen, welches die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses mit seiner Häufigkeit verknüpft. Als das physikalisch-philosophische Grundprinzip allen Naturgeschehens erwies sich somit der zweite Hauptsatz der Thermodynamik : »[D]ie Welt [geht] in ihrer Entwicklung unentwegt aus minder wahrscheinlichen in wahrscheinlichere und damit auch immer stabilere Zustände über.«51 Damit war letztlich der zweite Hauptsatz nicht nur ein Grundprinzip des Atomismus wie für Boltzmann, sondern er drückte die uns direkt erfahrbare Gerichtetheit aller Na46 47 48 49
Ebd., 13. Ebd., 16. Ebd., 14. Mit dieser eher eigenwilligen Terminologie unterstreicht Exner, dass er keine fundamentale Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften annimmt, sondern sich vielmehr beide derselben Methoden bedienen ; siehe unten. 50 Exner 1909, 19. 51 Ebd., 9–10.
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turprozesse in mathematisch präziser Weise aus. Indem Exner den zweiten Hauptsatz und das Gesetz der großen Zahlen letztlich als Mach’sche Erfahrungstatsachen las – im letzteren Falle gegen Machs Verständnis des Bernoulli’schen Theorems –, konnte er den atomistisch-probabilistischen Ansatz auf alle Naturgesetze anwenden, ohne wie Boltzmann eine zumindest theoretische Reduktion auf mechanische Vorgänge fordern zu müssen. Der zweite Hauptsatz in statistischer Lesart war damit im Anwendungskontext angekommen. Exners Argument setzte die Häufigkeitsinterpretation der Wahrscheinlichkeit voraus, innerhalb derer das Gesetz der großen Zahlen nicht mehr nur ein mathematisches Theorem der Wahrscheinlichkeitsrechnung ist, sondern in natürlicher Weise empirische Bedeutung erhält. Während Schweidler es drei Jahre zuvor lediglich in seiner Ableitung benutzte, wurde es von Exner zu einem Fundamentalsatz der statistischen Physik erhoben, als deren Gegenstand er Massenerscheinungen, Kollektive im Fechner’schen Sinne, als Grundentitäten der Theorie definierte. Diese repräsentierten diejenigen Phänomene, für die ein Grenzwert der Häufigkeiten existiert. In dieser Reinterpretation des Gesetzes der großen Zahlen wurde umgekehrt aus den Schweidler’schen Schwankungen ein Prüfstein für die indeterministische Natur der Radioaktivität.52 Und so wurde in der Folge Schweidlers Entdeckung von den Wienern präsentiert, bis hin zum oben erwähnten Überblicksartikel Fürths.53 Bei all der Kontinuität Mach’schen Gedankenguts gab es dennoch signifikante Unterschiede zum philosophischen Denkstil des Exner-Kreises. Assoziiert man den Positivismus, insbesondere die Mach’sche Elementenlehre, mit einem Antirealismus oder Phänomenalismus, wie dies etwa Planck54 in seiner Polemik gegen Mach getan hatte, so bezog Exners Rektoratsrede eindeutig Stellung. Denn das Ziel des neu gewählten Rektors Exner war nichts weniger, als seine Kollegen aus den Natur- und Geisteswissenschaften demselben Erkenntnisziel zu verpflichten, nämlich der »Erforschung der Wahrheit, jener objektiven Wahrheit, die unbeeinflußt von menschlichem Fühlen und Denken existiert«.55 Dieser Punkt ist wichtig zum genauen Verständnis der Charakterisierung von Schweidlers erkenntnistheoretischem Standpunkt.
52 Dieser Punkt ist später von Richard von Mises, der die Kollektivmaßlehre mathematisch streng begründete, klar herausgearbeitet worden, vgl. Mises 1927. 53 Vgl. Coen in diesem Band und den letzten Abschnitt des vorliegenden Aufsatzes. 54 Vgl. Planck 1909. 55 Exner 1909, 3.
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Schweidler und Alois Höflers Philosophische Gesellschaft »Obwohl Schweidler stark von Mach beeinflusst war, ist er doch kein Positivist geworden, sondern hat den Standpunkt eines kritischen Realismus eingenommen. Er glaubte an die Erklärbarkeit der Außenwelt, von der uns nur unsere Sinne Kunde geben, und betrachtete als die Aufgabe der Naturwissenschaft, die Vorgänge nach Möglichkeit zu erforschen und zu erklären, d.h. auf immer einfachere Vorgänge zurückzuführen, die schließlich mit Begriffen zu beschreiben sind, die unserer unmittelbaren Erfahrung entstammen, keiner weiteren Erklärung mehr fähig, aber auch nicht bedürftig sind. Der modernen theoretischen Physik stand er kritisch und abwartend gegenüber, er war fest überzeugt, daß sie nur ein von der Not erzeugtes Zwischenprodukt sei […]. Vollständig aber verwarf Schweidler die jetzt von vielen Physikern vertretene Anschauung, daß es die einzige Aufgabe der Physik sei, zukünftige Ereignisse vorherzusagen. […] Matrizengleichungen auf irgendeine Art gewonnen, können zwar die Aufgabe eines Propheten erfüllen, der richtige Physiker könne sich aber erst zufrieden geben, wenn er wisse, was sie bedeuten.«56
Der in Benndorfs Nachruf verwendete Begriff von Positivismus scheint stark von den Debatten um die Interpretation der Quantenmechanik geprägt zu sein – was nicht verwundern sollte, waren doch sowohl Benndorf als auch Schweidler Kernphysiker. Denn die Rückführung von Naturvorgängen auf einfache Vorgänge, die der unmittelbaren Erfahrung entstammen, war ein zutiefst Mach’scher Gedanke, auch wenn Benndorf von »Erklärung« anstatt wie Mach von »Beschreibung« sprach. Im Beharren auf dem vorläufigen Charakter der modernen theoretischen Physik, sprich der Quantenmechanik, folgte Schweidler etwa auch der Kritik Schrödingers, dass Grundbegriffe mit eingeschränktem Gültigkeitsbereich unbefriedigend seien.57 Die Kritik am Prognostizismus war ganz offensichtlich gegen die Kopenhagener Deutung gerichtet, deren Grundbegriffe für Schweidler lediglich operationalen Wert besaßen. Der Neopositivismus, insbesondere der Wiener Kreis, hatte hingegen die Kopenhagener Deutung erkenntnistheoretisch zu untermauern versucht. Mit »kritischem Realismus« meinte Benndorf wohl vor allem eine im Wien der Jahrhundertwende verbreitete Position, die trotz Betonung der Nähe zwischen Philosophie und Psychologie und trotz einer empiristischen Grundorientierung Machs Elementenlehre als phänomenalistisch ablehnte und eher an die durch Robert Zimmermann vermittelte Herbart’sche Tradition und eine durch Alois Höfler entwickelte spezifische Kant-Rezeption anknüpfte. 56 Benndorf 1949, 241. 57 Diese Kritik Schrödingers kann letztlich auf Boltzmanns Verständnis physikalischer Theorien als universeller Bilder zurückgeführt werden ; vgl. Stöltzner 2003, Kap. 6.
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Schweidler lernte die österreichische Tradition der Philosophie nicht nur auf der Wiener Universität, sondern auch dort kennen, wo sie am breitesten diskutiert wurde : in der 1888 vom Privatdozenten und Gymnasialprofessor Höfler gegründeten Philosophischen Gesellschaft an der Universität zu Wien. Deren Bedeutung für das wissenschaftliche Leben Wiens ist bisher nur in besonderen Kontexten erwähnt worden, so in Bezug auf Boltzmann und weitaus systematischer auf den frühen Wiener Kreis.58 Höfler hatte in Wien Mathematik, Physik und Philosophie studiert ; er unterrichtete diese Fächer am Wiener Theresianum, wo auch Smoluchowski zu seinen Schülern gehörte, publizierte einschlägige Lehrbücher und habilitierte sich 1895 in Wien für Pädagogik und Philosophie. Blickt man auf die Liste der Mitglieder und Vortragenden der Gesellschaft, so spannte sich der Reigen von den führenden Fachphilosophen der Donaumonarchie bis zu Vertretern der Geistes- und der Naturwissenschaften. Höflers Gesellschaft war nicht nur der Schauplatz intellektueller Auseinandersetzungen zwischen Berühmtheiten – so etwa zwischen Ostwald und Boltzmann –, sondern bot auch ein Betätigungsfeld für junge Doktoren und Privatdozenten, darunter fast alle späteren Mitglieder des Wiener Kreises. Franz Serafin Exners Name findet sich in der Liste nicht, wohl aber eine große Anzahl seiner Schüler, darunter Schweidler, Smoluchowski, Meyer und Lampa.59 Schweidlers Nationale60 verzeichnet eine beeindruckend lange Liste philosophischer Vorlesungen.61 Es ist daher nicht verwunderlich, dass Schweidler im Vereinsjahr 1893/94 der Philosophischen Gesellschaft beitrat. Für ein Jahrzehnt, von 1895 bis 1905, fungierte er als Beirat und übernahm anschließend bis zu seiner Berufung nach Innsbruck im Jahre 1911 das Amt des Schriftführers. Er hielt über die Jahre auch 58 Vgl. Blackmore 1995 und Uebel 2000. 59 Ich nenne hier nur die Vortragenden bis 1912, nicht die einfachen Mitglieder. Alle Angaben, auch zu den Vorträgen, stammen aus Rückblick 1913. 60 An der Wiener Universität zur Kollegiengeldabrechnung verwendete Liste der von einem Hörer besuchten Vorlesungen (Archiv der Universität Wien). 61 Dies sind »Psychognosie« (Franz Brentano, Wintersemester 1890/91), »Logik« und »Geschichte der Philosophie IV« (beide bei Robert Zimmermann, Sommersemester 1891), »Geschichte der Philosophie« und »Philosophisches Conversatorium« (beide bei Zimmermann, Wintersemester 1891/92), »Geschichte der Philosophie II« (Zimmermann, Sommersemester 1892), »Geschichte der Philosophie III« und »Philosophisches Conversatorium« (beide bei Zimmermann, Wintersemester 1892/93), »Philosophisches Conversatorium« (Zimmermann, Wintersemester 1893/94), »Zeitbewegende philosophische Fragen« und »Philosophische Übungen« (beide bei Brentano, Wintersemester 1893/94), »Psychologie« (Franz Hillebrand, Wintersemester 1893/94), »Erkenntnistheorie« (Hillebrand, Sommersemester 1894), »Psychologie« (Theodor Vogt, Sommersemester 1894) ; und als bereits promovierter außerordentlicher Hörer »Ausgewählte Capitel der Psychophysik« (Hillebrand, Wintersemester 1894/95), »Disputierübungen« (Höfler, Sommersemester 1895), »Psychologie und Discussionen« (Höfler, Wintersemester 1895/96), »Psychologie und Logik der Forschung« (Mach, Wintersemester 1895/96).
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fünf reguläre Vorträge und leitete vier Besprechungen. Die Vorträge geben sehr gut das Interessenspektrum des Exner-Kreises wieder : »Einige Experimente zur Helmholtzschen Farbenlehre« (9. Mai 1898), »Die Bedeutung des Äthers für das Problem der absoluten Bewegung« (7. Juni 1900), »Über [den] Begriff der Entropie« (29. Mai 1901), »Die Theorie der Radioaktivität und ihre allgemeinere Bedeutung« (8. November 1909) – aufgeführt unter der Rubrik »Mathematik, Physik, Chemie« – sowie »Über die objektive Geltung der Wahrscheinlichkeitsrechnung« (20. Dezember 1906) – unter »Logik, Erkenntnistheorie, Metaphysik«. Die meisten der von Schweidler geleiteten Besprechungen62 stehen in engem Zusammenhang mit einem der wichtigsten Publikationsprojekte Höflers, den »Vorreden und Einleitungen zu classischen Werken der Mechanik : Galilei, Newton, D’Alembert, Lagrange, Kirchhoff, Hertz, Helmholtz«.63 Im Folgejahr besorgte Höfler eine Neuausgabe von Kants »Metaphysischen Anfangsgründen«, der er einen langen Kommentar beigab.64 Höflers Kantbild war durchaus eigenständig, insbesondere was das Apriori und den Kausalitätsbegriff angeht, den er weitaus liberaler als Kant fasste. Thomas Uebel zufolge »rang Höfler um eine Formulierung der Position eines wissenschaftlichen und kausalen Realismus. Gegenüber überhöhten Ansprüchen an den Erkenntnisbegriff bestimmte er einerseits, dass ‚auch evident begründete Vermutung […] schon ein ›Erkennen‹‘ ist, andererseits wies er Humes Regularitätsanalyse als dem modalen Anspruch der wissenschaftlichen Verwendung des Kausalbegriffs nicht genügend zurück«.65
Der erste Punkt bietet eine wichtige Rechtfertigung dafür, Schwankungen als Gegenstand möglicher Erkenntnisse zu akzeptieren, wie dies Schweidler und Smoluchowski taten. Was den zweiten Punkt angeht, so stand Höfler der Mach’schen Reformulierung Humes mittels funktioneller Abhängigkeiten eher skeptisch gegenüber. Er verstand Kausalität vielmehr als eine Summierung von Teilursachen. Dies passte durchaus zu Schweidlers Problem, die Schwankungen von den Messfehlern – für die ebenfalls funktionelle Abhängigkeiten bestanden – zu isolieren. 66 62 Neben der Besprechung seines eigenen Vortrags vom 7.6.1900 (am 18.6.1900) führt er drei Besprechungen über die Einleitung zur Mechanik von Heinrich Hertz mit Referaten ein : »Über die Weltmodelle der Mechanik« (12.11.1895), »Hertz’ Einwürfe gegen den Galilei-Newtonschen Kraftbegriff« (3.12.1895) und »Hertz’ Einwürfe gegen die energetische Mechanik, sodann Hertz’ eigenes Weltmodell der Mechanik.« (28.1.1895). 63 Vgl. Höfler 1899. 64 Vgl. Kant 1900. 65 Uebel 2000, 150. 66 Höfler hatte Smoluchowski auch bereits in dessen erstem Semester für die Philosophische Gesellschaft rekrutiert, er wurde im Jahr 1893/94 Säckelwart und leitete zwei Besprechungen zur Frage »Ist die Voraus-
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Periodizitäten und Schwankungen : Zur atmosphärischen Elektrizität Unter den verschiedenen Faktoren, die den Exner-Kreis zusammenhielten, nahm die Luftelektrizität einen besonderen Platz ein, verband sie doch Franz Serafins Faszination für Reisen in ferne Länder und Alexander von Humboldts physische Erdbeschreibung67 mit der familiären Sommerfrische. Das von Exner entwickelte tragbare Elektrometer oder eine der späteren Verbesserungen konnte sowohl Expeditionen der Wiener Akademie mitgegeben als auch im Brunnwinkl aufgestellt und täglich abgelesen werden. Auch Exners Schüler nahmen an dieser alpinen Physik teil und veröffentlichten alljährlich ihre »Beiträge zur Kenntnis der atmosphärischen Elektrizität« in verschiedenen Sommerdomizilen in den Wiener Sitzungsberichten. Dieser Titel grenzte sie auch von den an gleicher Stelle publizierten Beobachtungsberichten der Meteorologen ab. Schweidler unternahm auf seinem Landsitz Seeham mit großer Akribie bis fast an sein Lebensende luftelektrische Messungen und hinterließ einen »Bericht über die Beobachtungen an der luftelektrischen Station Seeham in den Sommern 1921–1942«, den Benndorf und Meyer nach Schweidlers Tod der Akademie als 78. und letzten der »Beiträge« vorlegten. Sie betonten, dass es Schweidler zu verdanken sei, »daß Österreich durch zwei Jahrzehnte auf dem Gebiet der Luftelektrizität führend war«.68 In den frühen Jahren war die luftelektrische Forschung eng mit der Radiumforschung verbunden und zwar sowohl in apparativer als auch in methodologischer Hinsicht. Dasselbe Instrument, das Elektrometer, diente sowohl zur Bestimmung der ionisierenden Wirkung der radioaktiven Strahlung und damit zur Analyse der verschiedenen Emanationen als auch zur Messung des Ionisierungsgrades der Luft. In seinem Beitrag aus dem Jahre 1904 diskutierte Schweidler ausdrücklich die Frage, ob das Messgerät durch diese doppelte Verwendung weniger verlässlich oder sogar fehlerhaft werden könnte : »Das Elektroskop meines Zerstreuungsapparates diente mir durch mehrere Monate im verflossenen Sommersemester zur Untersuchung radioaktiver Substanzen (Uranverbindungen, Radiobleipräparate, Pechblende, auch einige schwächere Radiumverbindungen), ohne dass dadurch die Isolation des Elektroskopes merklich verändert wurde.«69
setzung der Einfachheit der letzten Naturgesetze logisch berechtigt ?« (21.11. und 5.12.1898). Während seines Studiums belegte er allerdings weitaus weniger philosophische Vorlesungen als Schweidler. 67 Vgl. Stöltzner 2002, insbes. S. 299–305. 68 Schweidler 1948, 195. 69 Schweidler 1904, 1434
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Es bestand keine Gefahr einer Infektion durch radioaktive Körnchen. Eine solche Vorsicht war nicht übertrieben, existierten doch auf beiden Gebieten keine klaren Vorstellungen über die Ursachen der jeweils untersuchten Prozesse. Dies erhöht, ganz im Sinne gegenwärtiger wissenschaftshistorischer Debatten, die Bedeutung der sich überschneidenden Experimentaltraditionen für die Definition des Forschungsfeldes. Die Parallelität von luftelektrischen Messungen und Radiumforschung war nicht auf Wien beschränkt. Auch die Deutschen Julius Elster und Hans Geitel verfolgten beide Programme parallel und arbeiteten an der Entwicklung verbesserter Elektrometer.70 Es gelang ihnen sogar, radioaktive Induktion in der Luft nachzuweisen. Die Daten der beiden Wolfenbütteler Gymnasiallehrer konnten also durchaus mit denen aus der alpenländischen Sommerfrische mithalten. Über das Kartell der deutschsprachigen Akademien bemühte sich Exner in der Folge um ein weltumspannendes Netz von Messstationen, ganz im Sinne der Humboldt’schen Idee, die Verteilung eines Phänomens zu beschreiben. Ähnlich wie die frühe Radiumforschung war die Untersuchung der atmosphärischen Elektrizität im Wesentlichen ein exploratives Experimentieren im Sinne Friedrich Steinles.71 In beiden Fällen ging es zuerst um die Auffindung der die ionisierende Wirkung bestimmenden oder verändernden Umstände. Radioaktive Präparate wurden in die verschiedensten Umgebungen gebracht oder von möglichen Einflüssen abgeschirmt. Ebenso wurden Wetterdaten und ihre Veränderung, die verschiedensten physikalischen Größen und geographischen Charakteristika detailgetreu aufgezeichnet und auf wechselseitige Abhängigkeiten untersucht. Exners eigene Theorie der Luftelektrizität, der zufolge negative Ladungen mit dem Wasserdampf in die Luft entweichen und mit dem Regen zum Erdboden zurückkehren, entsprach bestenfalls einer Leitvorstellung über die kausal relevanten Faktoren. Sie wurde durch Benndorfs Messungen in Sibirien entkräftet. Häufiges Thema der luftelektrischen Arbeiten war das genaue Vermessen verschiedener Periodizitäten und die Bestimmung ihrer Rangfolge. Exner unterschied 1901 : »a) eine doppelte tägliche Periode mit zwei Maximis etwa um 8h a.[m.] und 8h p.[m.] Ortszeit, die durch eine starke Mittagsdepression des Potentialgefälles voneinander getrennt sind ; b) eine einmalige tägliche Periode mit einem flachen, über alle Tagesstunden sich erstreckenden Maximum, dem ein gleichfalls ausgedehntes Nachtminimum entspricht ; c) einen Verlauf des Potentialgefälles ohne wesentliche Änderung während 24 Stunden.«72 70 Vgl. Reiter 2000 und Ceranski 2006. 71 Vgl. Steinle 2005. 72 Exner, Franz 1901, 371.
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Ein Zusammenhang dieser Tatsachen mit der geographischen Lage der Beobachtungsorte sei bisher nicht festgestellt worden ; unklar sei auch, ob der Zusammenhang der doppelten Periode mit der ultravioletten Strahlung »ein zufälliger oder in der Natur begründeter ist«.73 Exner versuchte nun, die beiden Perioden voreinander zu isolieren und eine auszuzeichnen : »Ganz ohne über die Natur der absorbierenden Schicht irgendeine specielle Annahme zu machen, was gegenwärtig wohl verfrüht wäre, kann man die doppelte tägliche Periode als eine Störungserscheinung auffassen, die aus der normalen einfachen Periode durch das Auftreten einer localen Mittagsdepression entsteht.«74
Auch in der Arbeit seines Neffen, des späteren Meteorologen und Geophysikers Felix M. Exner, über »Messungen der täglichen Temperaturschwankungen in verschiedenen Tiefen des Wolfgangsees« ging es um periodische Abhängigkeiten : »Die Temperatur der Luft und des Wassers lässt sich durch die Summe zweier Sinuswellen darstellen, die eine 24- und 12-stündige Periode haben ; beide zeigen eine Abnahme der Amplitude, die erstere auch eine geringe Phasenverschiebung mit zunehmender Tiefe.«75
Schwankungen wurden hier mithin durch reguläre Funktionen beschrieben. In Schweidlers Arbeiten jener Zeit finden wir bereits eine interessante Mehrdeutigkeit des oft verwendeten Begriffs »Schwankung«, der zum einen wie bei Felix Exner schlicht periodische Abhängigkeiten bezeichnete, zum anderen aber auch keiner derart einfachen Beziehung gehorchende, hin und her schwingende Größen. Diese Mehrdeutigkeit war damals im Deutschen gängig.76 Die nicht auf strikt periodische Prozesse zielende zweite Verwendung von »Schwankungen« findet sich in den Jahren bis 1905 immer häufiger in Schweidlers Arbeiten zur atmosphärischen Elektrizität. So schreibt er es etwa 1902 unter »Theoretisches« : »Einfachere Gesetzmäßigkeiten für den Verlauf der Zerstreuung [der elektrischen Ladung, M.S.] in Bezug auf tägliche und jährliche Periode, sowie für den Zusammenhang mit anderen 73 74 75 76
Ebd., 372. Ebd., 380. Exner, Felix 1901, 922. Der 1899 erschienene Band von Grimms »Wörterbuch der deutschen Sprache« (online unter : http ://urts 55.uni-trier.de :8080/Projekte/DWB ; Zugriff : 20.12.2010) nennt als Synonyme von »schwanken« die Worte »hin und her schwingen, wanken, taumeln« und führt das diesem Aufsatz vorangestellte Schillerzitat als Beispiel an ; »Schwankungen« gibt es ebenfalls bei Waagen und bei Betrunkenen.
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meteorologischen Factoren dürften erst dann erhalten werden, wenn diese beiden Bestimmungsstücke getrennt zur Beobachtung kommen, beziehungsweise aus der Combination von zwei verschiedenartigen Messungsmethoden rechnerisch getrennt werden können. Die verschiedene Wichtigkeit, welche der Luftdurchsichtigkeit, die als Index der Ionenbeweglichkeit aufgefasst werden kann, bei verschiedenen Beobachtern (und daher an verschiedenen Orten) zuzuschreiben ist, beruht vielleicht auf dem Umstande, dass an dem einen Orte die Schwankungen der Ionenzahl, an einem anderen Orte mit anderen meteorologisch-klimatischen Verhältnissen die der Ionenbeweglichkeit das Ausschlaggebende sind.«77
Hier ist der zentrale Punkt, dass eine kausale Abhängigkeit zwischen Schwankungen erwogen wurde, die keine einfachen Periodizitäten darstellen. Im Folgejahr untersuchte Schweidler die beiden Periodizitäten und das Verhältnis der Zerstreuungen der negativen und der positiven Elektrizität q = Z-/Z+ : »Die Größe q folgt im allgemeinen dem Gange der Zerstreuung der negativen Elektrizität, deren Schwankungen größer als die der nahe parallel gehenden Zerstreuung positiver Ladungen sind.«78
Schwankungen waren nun eine eigenständige Beobachtungsgröße geworden, deren charakteristische Verteilung untersucht werden konnte. Sie waren nicht länger Messfehler oder zufällige, nicht weiter aufzuklärende Phänomene. Die doppelte Semantik des Wortes Schwankungen war der Schweidler’schen Entdeckung sicherlich förderlich, jedoch nur dann, wenn sie in einen konsequent empiristischen Ansatz eingebettet wurde, der die neue Messgröße akzeptabel und mit der kinetischen Gastheorie verbindbar machte. Wie man am Beispiel Felix Exners sieht, reichte die Semantik allein für die Transformation vom Messfehler zur Messgröße nicht aus. Interessanterweise findet sich auch bei Einstein im Jahre 1904 der Schritt, Schwankungen der Energie eines Systems als genuine physikalische Größe zu betrachten ; Jürgen Renn sieht dies zu Recht als wichtigen Schritt hin zu Einsteins Lösung des Problems der Brown’schen Bewegung.79 Im Exner-Kreis sollte dies durch Smoluchowski kurz nach Schweidlers Arbeit geschehen.
77 Schweidler 1902, 1476. 78 Schweidler 1903, 1512. 79 Vgl. Einstein 1904, 360–361 ; Renn 2005, 29–30.
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Die Brown’sche Bewegung im Exner-kreis Ausgangspunkt war eine kurze Arbeit von Franz Serafins Neffe, Felix Exner, der in den Fußstapfen seines Vaters Sigmund Exner wandelnd eine bestechend genaue Untersuchung zur Brown’schen Bewegung des Gummigutts durchgeführt hatte.80 Felix Exner isolierte das Mikroskop aufwendig und perfektionierte die Methode zur Bestimmung der Geschwindigkeiten : »Zur Schätzung der Größe der Partikeln befand sich im Ocular eine Teilung, während ich die zurückgelegten Wege mittels eines Abbe’schen Zeichenapparates auf berussten Glasplatten mit einer Nadel nachzeichnete. Die Zeichnungen wurden fixiert, ein Bild von ihnen durch eine Projectionslinse auf einen Schirm entworfen und mit einem Curvenmesser ausgemessen ; der Weg durch die Vergrösserung des Mikroskopes und der Linse und durch die Beobachtungszeit dividirt, gab die Geschwindigkeit.«81
Es folgte die wohlbekannte Abhängigkeit der im Bereich von 0,002 bis 0,005 mm/s liegenden Geschwindigkeiten von der Temperatur und der Größe der Teilchen. Felix Exner nahm nun den allgemeineren Standpunkt der statistischen Mechanik ein und verteilte unter Benutzung des Äquipartitionstheorems die kinetische Energie gleichmäßig auf die suspendierten Partikel und die Flüssigkeitsmoleküle. Indem er von der Geschwindigkeit der Ersteren auf die der Letzteren schloss, verwendete er mithin die Brown’sche Bewegung bereits genau im von Fürth bezeichneten Sinne zum Studium des unbeobachtbaren molekularen Geschehens und nutzte nicht wie Nägeli Annahmen über das molekulare Geschehen zu einer gaskinetischen Bestimmung der Geschwindigkeiten der Brown’schen Teilchen. Das Ergebnis war aber ebenso ernüchternd. Aus den gemessenen Geschwindigkeiten der Brown’schen Teilchen folgten Molekülgeschwindigkeiten von 0,3 m/s, während eine direkte Rechnung 270 m/s ergab.82 Wie bei Nägeli lag Felix Exners Ergebnis also um vier Größenordnungen daneben ; dies war aber einerseits dank der Präzision seiner Messungen und andererseits wegen der Allgemeinheit des Äquipartitionstheorems weitaus dramatischer. Entweder war somit etwas fundamental falsch im Verständnis der Brown’schen Bewegung oder das Phänomen lag tatsächlich außerhalb des Geltungsbereichs der statistischen Mechanik – und war somit Wasser auf die Mühlen der energetischen Kritiker von Boltzmanns Atomismus. Schon 80 Exner, Sigmund 1867 bzw. Exner, Felix 1900. 81 Exner, Felix 1900, 844–845. 82 Vgl. Nägeli 1879 ; Felix Exner verwendete hier ein Resultat des Wiener Physikers Gustav Jäger ; Jäger 1890.
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aufgrund ihres Ansatzes konnte Exners kurze Arbeit nicht den Weg aus dem Dilemma weisen. Denn das Äquipartitionstheorem ist der Ergodenhypothese äquivalent und vermittelt wie diese zwischen dem molekularen und dem makroskopischen Standpunkt.83 Damit legt es auch die Existenz jenes Übergangsbereichs, in dem die Schwankungen noch nicht ausgeglichen sind, nicht wirklich nahe. Die Erklärung musste also sozusagen von unten kommen. In seinem ausführlichen Nachruf auf Smoluchowski bezeichnete Sommerfeld diesen »als den eigentlichen Erben des Boltzmannschen Geistes der Naturbetrachtung«84 und charakterisierte dessen Beitrag zur Boltzmann-Festschrift als den ersten wesentlichen Schritt des Verstorbenen in der statistischen Beschreibung von Schwankungsphänomenen.85 Smoluchowskis Thema waren lokale Dichteschwankungen der Luft beziehungsweise, in seiner eigenen Terminologie, Unregelmäßigkeiten in der Verteilung von Gasmolekülen. Er hatte sich schon zuvor mit Fragen der Atmosphärenphysik beschäftigt.86 Dieses Forschungsinteresse führte zu einer Reihe von Untersuchungen über die Opaleszenz von Gasen in der Nähe ihres kritischen Punktes, durch die man die Schwankungen direkt nachweisen konnte.87 Es steht auch hinter seiner ersten Arbeit zur Brown’schen Bewegung.88 Anders als Einstein, der sich eher ausweichend dazu äußerte, ob die von ihm behandelten Bewegungen mit den Brown’schen identisch waren,89 durchmusterte Smoluchowski die gesamte Geschichte der theoretischen Vorstellungen und die verfügbare experimentelle Evidenz dafür. Für die vorliegende Untersuchung besonders wichtig ist die Debatte über die Augenscheinlichkeit des Phänomens. Schon Nägeli hatte sich sehr bildhaft gegen einen kinetischen Ursprung der Brown’schen Bewegung ausgesprochen. Ein Stärkekörnchen von 0,003 mm Durchmesser erhalte beim Stoß eines Flüssigkeitsmoleküls die Geschwindigkeit 0,000002 mm/s, was unter Berücksichtigung der 500-fachen Vergrößerung des Mikroskops einer Geschwindigkeit von 0,001 mm/s entspreche. Diese »ist immer noch 3mal langsamer als die Bewegung des Stundenzeigers einer Taschenuhr dem blossen Auge erscheint, und würde die Geschwindigkeit der Tanzbewegung noch lange nicht erreichen, wenn sie sich um das Zehntausendfache beschleunigt. [Daher] können wir wohl
83 Ich übergehe an dieser Stelle, dass die Ergodenhypothese zu jener Zeit alles andere als gut verstanden war und damit offen war, unter welchen Bedingungen diese Vermittlung auch wirklich gelang. 84 Sommerfeld 1917, 534. 85 Vgl. Smoluchowski 1904. 86 Vgl. Smoluchowski 1901. 87 Vgl. Smoluchowski 1908. 88 Vgl. Smoluchowski 1906. 89 Vgl. Einstein 1905.
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behaupten, das [sic] eine Million von Wassermolecülen das Stärkekörnchen im nämlichen Moment in der gleichen Richtung treffen müsste, um den einzelnen Ruck des tanzenden Stärkekörnchens zu erklären.«90
Doch die nach beliebigen Raumrichtungen wirkenden Einzelstöße hoben sich Nägeli zufolge in Wahrheit auf. Hierzu bemerkte Smoluchowski : »Dies ist derselbe Denkfehler, wie wenn ein Hazardspieler glaubte, daß er nie eine größere Summe verlieren könne, als der Einsatz für einen einzelnen Wurf beträgt.«91 Die Schwankungen könnten nicht einfach vom Tisch gewischt werden, vielmehr »sind wir wohl berechtigt, das Brown’sche Phänomen als einen augenscheinlichen Beweis unserer molekular-kinetischen Hypothesen anzusehen«.92 Die entscheidende Differenz zu den Schweidler’schen Schwankungen ist, dass sich Smoluchowski gegen eine jahrzehntelange Experimentaltradition durchsetzen und die unter dem Mikroskop vermeintlich augenscheinlichen Geschwindigkeiten letztlich als Produkte der durch das Instrument selbst gegebenen Beobachtungsskala verstehen musste : »Jene Geschwindigkeit ist in Anbetracht der erforderlichen Mikroskopvergrößerung so groß, daß sich das Teilchen gar nicht direkt mit dem Auge verfolgen lassen würde. Das was wir sehen, ist nur die mittlere Lage eines mit jener Geschwindigkeit sich bewegenden, aber 1016 bis 1020 mal pro Sekunde seine Bewegungsrichtung ändernden Teilchens.«93
Der Prozess der Isolation einer Messgröße von den Messfehlern war mithin acht Jahrzehnte lang immer wieder misslungen. Erst in Bezug auf die neu konstituierte Größe der mittleren Ortsschwankungen konnte das jeweilige Beobachtungsgerät korrekt verstanden werden. Die Wissenschaftshistorikerin Charlotte Bigg hat am Beispiel der Arbeiten Jean Baptiste Perrins zu Recht die Wichtigkeit der Visualisierung für die Klärung des Problems der Brown’schen Bewegung und die Durchsetzung des Atomismus hervorgehoben.94 Vergleicht man Perrins Bilder zur Zählung von Teilchen mit denjenigen, die Felix Exner mittels des Abbe’schen Zeichenapparats auswertete, so wird das Ausmaß des Gestaltwechsels im Blick durch das Mikroskop deutlich, der sich innerhalb eines knappen Jahrzehnts ereignet hatte. In der Fähigkeit, die scheinbar schwächer begründete Größe 90 91 92 93 94
Nägeli 1879, 417. Smoluchowski 1906, 762. Ebd., 776. Ebd., 764. Vgl. Bigg 2008.
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der Ortsschwankungen gegenüber einer vertrauten und acht Jahrzehnte nahezu allen Forschern evidenten Größe wie den Teilchengeschwindigkeiten vorzuziehen, sehen wir auch bei Smoluchowski jene für den Exner-Kreis charakteristische Kombination eines empiristischen Zugangs mit großem Vertrauen auf die statistische Mechanik. Darüber sollte uns nicht die Tatsache hinwegtäuschen, dass Smoluchowskis Ableitung mathematisch weitaus aufwendiger war als diejenige Schweidlers. Letztere ist trotzdem von den Zeitgenossen als theoretisches Resultat wahrgenommen worden, nicht als induktiv gefundenes Resultat aus der Frühzeit eines noch sehr explorativen Forschungsprogramms.95
Ein einheitliches Schlussbild : Schrödinger 1919 Erwin Schrödinger widmete 1919 dem Thema der Schweidler’schen Schwankungen einen langen Aufsatz, der auch die Brown’sche Bewegung einbezog und die Perspektive zwischen Schwankungen und Messfehlern in einer Weise fasste, wie man dies erst Jahre später bei Theorien quantenmechanischer Messung hören sollte : »Die sichere Basis [meiner] Überlegungen bildet die grundlegende Schweidlersche Entdeckung, samt allem, was deduktiv aus ihr folgt. Jene besteht bekanntlich nicht, wie manche meinen, in irgendeiner √z - oder √i -Beziehung oder dergleichen, sondern in der fundamentalen Erkenntnis des wahrscheinlichkeitstheoretischen Charakters der Zerfallskonstante.«96
Diese Zufälligkeit der radioaktiven Abklingkurve erforderte bei dem für die praktische Arbeit wichtigen Abgleich zweier Präparate eine genaue statistische Analyse. Denn die beiden Schwankungen waren unabhängig voneinander, führten also bei erneutem Vergleich zu differenziellen Schwankungen eines hinreichend empfindlichen Elektrometers. Schrödinger entwickelte zu deren Verständnis eine Analyse der Zeigerschwankungen des Elektrometers : »Die Bewegung gleicht vollkommen der eines längs einer Geraden Brownisch bewegten Massenpunktes, der gegen einen festen Punkt dieser Geraden – in unserem Fall der neutrale 95 Vgl. den Brief von Albert Einstein an Rudolf Wegscheider vom 7.2.1920, der Schweidlers Leistungen mit denen Ehrenhafts für die Nachfolge Exners zu vergleichen hatte (Österreichisches Staatsarchiv Wien, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Ministerium für Kultus und Unterricht 1848–1940, F 640 / 4 / 5770 [1920], Bl. 41, Einstein an Ludwig Flamm u.a. : Stellungnahme zur Wiederbesetzung des Lehrstuhls Exners vom 25.6.1920). Auf diesen Brief hat mich Silke Fengler aufmerksam gemacht. 96 Schrödinger 1919, 179.
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Punkt [der selbst nicht fixe Mittelpunkt, um den die Zeigerstellungen schwanken, M.S.] – mit einer entfernungsproportionalen Kraft gezogen wird, woraus – im widerstehenden Mittel – ein gegen den festen Punkt gerichteter Geschwindigkeitsantrieb entsteht. Ich will das der Kürze halber immer eine Smoluchowski-Bewegung nennen.«97
Der aus historischer und philosophischer Sicht interessante Aspekt an Schrödingers Vorgehen ist, dass seine Objekttheorie in den Schweidler’schen Schwankungen besteht, für die zum damaligen Zeitpunkt keine deterministische Mikrotheorie formulierbar war, während dies für seine Theorie des Messfehlers, der Brown’schen Schwankung des Zeigers, der Fall ist. Aus einer konsequent probabilistischen Perspektive, wie sie im Exner-Kreis herrschte, ist diese Differenz sekundär. Es ging ja eben nicht mehr um die Trennung zwischen einer deterministischen verfassten Objekttheorie von den statistisch verteilten Messfehlern. Auch implizierte Schrödingers Ansatz nicht, dass eine Ableitung der Schweidler’schen Schwankungen aus Einzelprozessen unmöglich wäre. Das zentrale Element des Wiener Indeterminismus war ja die Beweislastumkehr. Schrödinger hat übrigens in seiner erst 1929 publizierten Zürcher Antrittsvorlesung aus dem Jahre 1922 diesen Standpunkt philosophisch klar und mit explizitem Verweis auf Exners Priorität formuliert und dabei die schlichte Annahme einer deterministischen Theorie des Mikrogeschehens bei gleichzeitiger statistischer Makrotheorie als eine Verdoppelung der Naturobjekte im Stile des Animismus bezeichnet.98 Für den Exner-Kreis stellte die Quantenmechanik, jedenfalls in Hinsicht auf ihren indeterministischen Charakter, keine Überraschung dar. Der entscheidende Wandel in der Auffassung war bereits zwei Jahrzehnte zuvor geschehen.
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Kooperation und Konkurrenz. Die Erforschung der kosmischen Strahlung vor dem Zweiten Weltkrieg Vanessa Cirkel-Bartelt, Wuppertal
Die Entdeckung der Röntgenstrahlen und der Radioaktivität Ende des 19. Jahrhunderts stellte die damaligen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen vor eine neue Herausforderung : Offensichtlich waren die Atome eben gerade nicht »átomos« – also unteilbar, sondern sandten eine bisher unbekannte Art von Strahlen aus. Schnelle Fortschritte auf dem Gebiet der Radioaktivitätsforschung führten innerhalb weniger Jahrzehnte zu neuen Erkenntnissen über den Aufbau der Materie und die Existenz der Elementarteilchen. Neben der Radiochemie und den allmählich entstehenden Disziplinen der Kern- und Teilchenphysik entstand ein weiteres Forschungsfeld : die Erforschung der kosmischen Höhenstrahlung.1 Da die Höhenstrahlungsforschung vor allem zu Beginn sowohl personell als auch institutionell stark mit anderen physikalischen Forschungsfeldern verwoben war, ist eine Untersuchung des Verhältnisses von Physikern2 dieser Arbeitsgebiete untereinander ein vielversprechender Ansatz, um etwas über Kooperations- und Konkurrenzbeziehungen zwischen den beteiligten Wissenschaftlern zu erfahren.3 Als Kooperation beziehungsweise Konkurrenz soll hier jede Form wissenschaftlicher Zusammenarbeit beziehungsweise des Wettstreits – auf persönlicher, institutioneller oder interdisziplinärer Ebene – verstanden werden. Auch wenn es sich bei Kooperation und Konkurrenz nicht um Verhaltensweisen handelt, die nur Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen zu eigen sind, sondern um allgemeine Formen menschlicher Interaktion, so scheint ihre Betrachtung doch geeignet, um die sich oftmals überlagernden und nur schwer zu fassenden Wechselwirkungen zwischen persönlichen Beziehun1
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Bezeichnungen wie »durchdringende Strahlung«, »Höhenstrahlung« oder »kosmische Strahlung« wurden von den zeitgenössischen Physikern im Untersuchungszeitraum meist nicht synonym verwendet. Zu unterschiedlichen Zeitpunkten waren unterschiedliche Namen der Strahlung mehr oder weniger gebräuchlich. Da diese Trends für die vorliegende Untersuchung aber unerheblich sind, werden die verschiedenen Bezeichnungen im Folgenden synonym gebraucht. Bis auf wenige Ausnahmen, die an gegebener Stelle explizit erwähnt werden, handelte es sich bei den an der Erforschung der Höhenstrahlung Beteiligten um Männer. Hierzu gibt es bisher kaum historische Arbeiten. Zu Kooperation und Konkurrenz in der Hochenergiephysik (HEP) aus soziologischer Sicht vgl. Gaston 1973. Einen ersten Überblick über Kooperationen in der HEP aus wissenschaftsorganisatorischer Sicht gibt z.B. Marshak 1970.
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gen, beruflichen Kontakten und ihrem jeweiligen Einfluss auf das wissenschaftliche Arbeiten näher zu untersuchen. Inwiefern förderten oder hemmten die verschiedenen Beziehungen der Kooperation oder Konkurrenz die Etablierung der Höhenstrahlungsforschung ? Wie wirkten sich bedeutende Ereignisse außerhalb der Wissenschaften, wie zum Beispiel der Erste Weltkrieg, auf diese Entwicklung aus ? Die Sekundärliteratur zur Geschichte der Erforschung der kosmischen Strahlung ist bisher eher dünn. Einigkeit besteht jedoch darin, dass dieses Forschungsfeld im Laufe seiner Entwicklung immer wieder von Prioritätsstreitigkeiten, aber ebenso von wichtigen inhaltlichen Fortschritten geprägt war.4 Dabei werden die Entwicklungen in der Höhenstrahlungsforschung allerdings oft nur als erste Schritte auf dem Weg zur Entstehung der Teilchenphysik ab den späten 1920er-Jahren verstanden. In diesem Zusammenhang werden die verschiedenen Konflikte zwischen den beteiligten Forschern in der Literatur daher als persönliche Auseinandersetzungen gewertet, die beispielsweise durch den jeweiligen Charakter der Kontrahenten oder nationalistische Motive erklärt werden könnten.5 Doch die Erforschung der kosmischen Strahlung hatte nicht nur einen eigenen Entstehungskontext, sondern etablierte sich bis in die 1930er-Jahre als eigene physikalische Teildisziplin. Im Folgenden soll daher gefragt werden, ob die Prioritätsstreitigkeiten möglicherweise Ausdruck des gesteigerten Konkurrenzdrucks innerhalb eines noch jungen Forschungsfeldes waren. Als Grundlage für die folgende Untersuchung wurden die Korrespondenzen aus dem Nachlass von Stefan Meyer, dem langjährigen Leiter des Wiener Instituts für Radiumforschung, herangezogen. Dieser Teil des Nachlasses umfasst mehrere 1.000 Schriftstücke, darunter auch einige Antwortbriefe Meyers, von denen er in späteren Jahren Durchschläge anfertigte.6 Während seiner fast zwei Jahrzehnte dauernden Tätigkeit als Institutsleiter war Meyer nicht nur mit vielen der an der Höhenstrahlungsforschung beteiligten Physiker beruflich verbunden, sondern pflegte mit einer Vielzahl von ihnen auch persönliche Freundschaften.7 Obwohl er selbst nicht über die kosmische Strahlung arbeitete, teilten ihm seine Kollegen den Stand ihrer Arbeit mit und baten ihn oft um seine Hilfe, etwa um die Leihgabe von Apparaten. Die in
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Für eine umfassendere Diskussion der Sekundärliteratur vgl. Cirkel-Bartelt 2008. Zu den Prioritätsstreitigkeiten vgl. v.a. Xu/Brown 1987 ; Kevles 1978 ; De Maria/Ianniello/Russo 1989 ; De Maria/Russo 1990. Zur Bedeutung technischer Weiterentwicklungen für die Entstehung der Höhenstrahlungsforschung vgl. z.B. Ziegler 1989. Die einzelnen systematisch-historischen Arbeiten werden durch (auto-)biografische Publikationen ergänzt, vgl. z.B. Sekido/Elliot 1985. Vgl. De Maria/Russo 1990, 211–212 ; De Maria/Ianniello/Russo 1989, v.a. 178–189. Zur Bedeutung der Korrespondenz vieler Forscher und Forscherinnen für die Entstehung von Kooperationen in der Physik im frühen 20. Jahrhundert vgl. Desser 1991, v.a. 40–42. Zu Leben und Werk von Stefan Meyer vgl. Reiter 2000.
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Meyers Nachlass erhaltenen Briefe sind daher der ideale Ausgangspunkt für diese Untersuchung. Nach einem Überblick über die historische Entwicklung dieses Forschungsfeldes wird zunächst die Herausbildung eines eigenständigen Profils der Höhenstrahlungsforschung in der wissenschaftlichen sowie der nicht wissenschaftlichen Öffentlichkeit nachgezeichnet. Danach wird die Verbindung zu benachbarten Forschungsfeldern am Beispiel der Astrophysik untersucht. In einem weiteren Schritt werden die Beziehungen der an der Erforschung der kosmischen Strahlung beteiligten Physiker hinsichtlich der eingangs gestellten Frage analysiert. Abschließend werden Kooperation und Konkurrenz in der frühen Höhenstrahlungsforschung in den historisch-politischen Kontext gestellt.
Die Erforschung der kosmischen Strahlung – ein Überblick Bei meteorologischen und luftelektrischen Untersuchungen8 entdeckten um 1900 verschiedene Wissenschaftler in England und Deutschland unerwartete elektrische Entladungs- beziehungsweise Ionisierungsphänomene, die sich nicht restlos auf Messfehler, (radioaktive) Verunreinigungen der benutzten Instrumente oder Ähnliches zurückführen ließen. In den Folgejahren wurde nach den möglichen Ursachen dieses so genannten Resteffekts gesucht. Bis 1909 etablierten sich, abhängig von den jeweiligen Arbeitsgebieten der Forscher, drei Hypothesen zur Erklärung dieses Effekts :9 1. Die von radioaktiven Elementen in der Erdkruste ausgehende Emanation wird in der Luft gespeichert. 2. Aus dem Weltall, zum Beispiel von der Sonne, trifft eine ionisierende Strahlung auf die Atmosphäre. 3. Die Atmosphäre selbst hat bisher unbekannte ionisierende Eigenschaften. Vonseiten der Theoretiker wurde vor allem die erste These als wahrscheinlich eingestuft.10 Experimentelle Überprüfungen dieser Annahme durch Messungen der Ionisation von Luft in größeren Höhen, beispielsweise durch den deutschen Physiker Theodor Wulf auf dem Eiffelturm oder durch den deutsch-schweizerischen Physiker Albert Gockel bei Ballonfahrten, brachten jedoch nicht die erhofften eindeutigen Ergebnisse.11 Denn würden tatsächlich radioaktive Emanationen den Resteffekt ver8 9 10 11
Vgl. Galison/Assmus 1989, 225 und 250–251 sowie 256. Vgl. Kurz 1909, 834. Vgl. Kurz 1909, v.a. 843. Vgl. Wulf 1910 ; Gockel 1911. In seiner Arbeit zur durchdringenden Strahlung von 1909 deutet der theoretische Physiker Karl Kurz an, dass bereits vor 1909 Ballonfahrten zur Überprüfung des kosmischen solaren Ursprungs des Resteffekts unternommen wurden, allerdings schloss er eine Herkunft von der
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ursachen, müsste dieser mit der Höhe abnehmen, was jedoch nicht der Fall war. Der Technikhistoriker Charles A. Ziegler hat darauf hingewiesen, dass die technischen Schwierigkeiten der Ballonexperimente sicheren Messergebnissen entgegenstanden ; sie könnten ebenfalls für das lange Zweifeln am kosmischen Ursprung der Strahlung verantwortlich sein.12 Nachdem der österreichische Physiker Victor F. Hess 1911 bei Messungen der »durchdringenden Strahlung« bei Freiballonfahrten zunächst ebenfalls keine Abnahme der Ionisationsrate mit der Höhe feststellen konnte, wiederholte er die Experimente im Folgejahr und schloss nun nach der Auswertung verschiedener Messreihen, dass die »in geschlossenen Gefäßen beobachtete durchdringende Strahlung sehr komplexen Ursprungs ist«.13 Neben den »radioaktiven Substanzen der obersten Erdschichten« und »den radioaktiven Induktionen in der Atmosphäre und an der Erdoberfläche« konstatierte Hess, dass ein Anteil an der Strahlung existiere, der »mit zunehmender Höhe erheblich wächst und daher offenbar von oben her in unsere Atmosphäre eindringt«.14 Damit war die zweite Hypothese von einem kosmischen Ursprung der Strahlung, die den bis dahin unerklärlichen Ionisationseffekt verursachte, bestätigt. Dennoch wurden Hess’ Ergebnisse nicht sofort allgemein akzeptiert. Vor allem Gockel und einige andere »Luftelektriker« suchten noch bis in die 1920er-Jahre nach einer bisher unbekannten Eigenschaft der Atmosphäre, um den Resteffekt zu erklären.15 Diejenigen Physiker, die Hess’ Schlussfolgerungen akzeptierten, begannen umgehend, die Eigenschaften der neuartigen Strahlung näher zu untersuchen. So veröffentlichte zum Beispiel der deutsche Physiker Werner Kolhörster bereits 1913 mehrere Artikel, in denen er neben einer druck- und temperaturstabileren Version des Wulf-Elektrometers auch Messungen mit diesem Elektrometer in extremer Höhe von über neun Kilometern sowie unter Wasser vorstellte.16 In den Folgejahren ging die Zahl der Veröffentlichungen zum Thema Höhenstrahlung zwar etwas zurück, womöglich auch durch die allgemeine Einschränkung des wissenschaftlichen Betriebs durch den Ersten Weltkrieg. Dennoch ist beachtlich, welcher materielle und personelle Aufwand für die einzelnen Experimente betrieben wurde.
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Sonne durch eine mathematische Beweisführung aus, vgl. Kurz 1909, 838. Auch in der Sekundärliteratur gibt es Hinweise auf diese frühen Ballonexperimente, vgl. Xu/Brown 1985, 27. Vgl. Ziegler 1989, v.a. 940. Hess 1912, 31. Hess 1912, 31–32. Vgl. z.B. Gockel 1924. Vgl. z.B. Kolhörster 1913a, Kolhörster 1913b.
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In Europa, besonders in Deutschland und Österreich, aber auch in der Sowjetunion,17 schritt die Erforschung der kosmischen Strahlung stetig voran.18 So konnten 1929 die ersten fotografischen Aufnahmen von Teilchenspuren aus der kosmischen Strahlung in einer Nebelkammer veröffentlicht19 und die Koinzidenzmethode vorgestellt werden.20 Mit dieser Methode, bei der zwei oder mehr Geigerzähler nebeneinander geschaltet werden, die durch ein Absorptionsmedium, wie eine Bleiplatte, getrennt sind, ließ sich der Teilchencharakter der gemessenen Strahlung eindeutig nachweisen : Nur äußerst energiereiche Teilchen sind in der Lage, in mehreren Geigerzählern gleichzeitig einen Entladungsvorgang auszulösen. Damit war nun auch ein Maß für die Durchdringungskraft, also die Energie der einzelnen Teilchen, gefunden. Parallel zu den Arbeiten der Experimentalphysiker gab es schon ab 1921 Bemühungen des deutschen Chemikers und Physikers Walther Nernst, die Höhenstrahlung mit astrophysikalischen Fragen in Verbindung zu bringen.21 Auch wenn Nernst – wie noch gezeigt wird – als Physiker auf diesem Gebiet nicht besonders ernst genommen wurde, so boten seine Überlegungen zur stellaren Herkunft der Strahlung eine interessante Alternative, den kosmischen Ursprung der Strahlen zu erklären, ohne von einer solaren Komponente ausgehen zu müssen. Dies hatten verschiedene Forscher bereits ausgeschlossen,22 auch wenn diese Option im Laufe der Jahre immer wieder neu diskutiert wurde.23 In den USA hingegen blieb das Thema der durchdringenden Strahlung lange relativ marginal.24 Erst im Laufe der 1920er-Jahre begann sich mit Robert Andrews Millikan ein renommierter amerikanischer Physiker näher mit der Höhenstrahlung zu befassen. In ihren Veröffentlichungen, die sie zunächst in Kurzmitteilungen und Vorträgen vor17 Kolhörster war bis in die frühen 1930er-Jahre der mit Abstand produktivste Forscher zum Thema Höhenstrahlung deutschland- und weltweit, ähnlich viel publizierten in diesem Zeitraum nur der Österreicher Hess und der US-Amerikaner Robert Andrews Millikan. Es gab außerdem einige sowjetische Physiker, die auf diesem Gebiet forschten und regelmäßig in europäischen Fachzeitschriften publizierten, aber ohne eine zusätzliche Untersuchung der sowjetischen Veröffentlichungen lässt sich keine valide Aussage über die Menge oder die Qualität dieser Artikel machen. 18 Die deutschsprachige Schweiz bildet hier eine Ausnahme ; möglicherweise wirkte die herausragende Stellung von Gockel als Hemmnis, da dieser sich erst Mitte der 1920er-Jahre von einer kosmischen Herkunft der Strahlung überzeugen ließ. 19 Skobelzyn beschrieb bereits 1927 sehr schnelle Teilchen, vgl. Skobelzyn 1927 ; 1929 veröffentlichte er die Aufnahmen, vgl. Skobelzyn 1929. 20 Vgl. z.B. Bothe/Kolhörster 1929. 21 Vgl. z.B. Nernst 1921. 22 Vgl. Kurz 1909, 838 ; Hess 1912, 29. 23 Vgl. z.B. Swann 1925. 24 Dies wirkt noch in der englischsprachigen Sekundärliteratur nach ; so schreiben De Maria/Russo 1989, die Höhenstrahlungsforschung sei »a marginal and esoteric field« (211) gewesen. Diese Einschätzung scheint angesichts des finanziellen Aufwands, der für die Höhenstrahlungsforschung betrieben wurde, eher unplausibel.
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stellten, räumten Millikan und seine jeweiligen Koautoren 1926 ein, dass es »very hard etherial rays of cosmic origin« gebe, die gleichmäßig auf die Erde träfen.25 Nicht zuletzt durch die geringe Beachtung der europäischen Arbeiten war es möglich, dass bereits 1925 ein anonymer Autor in einem Artikel in der New York Times – der wohl auch aufgrund seiner patriotischen Formulierungen für solches Aufsehen sorgte, dass er in Journalen wie Science und Nature nachgedruckt wurde – behaupten konnten, Millikan habe eine neue Art von Strahlen, die »Millikan Rays«, entdeckt.26 Damit entbrannte ein Streit um die Entdeckung der kosmischen Strahlung, der vor allem in Veröffentlichungen europäischer Physiker ausgetragen wurde, die besonders um eine Klarstellung der genauen Entdeckungsumstände bemüht waren.27 In der Sekundärliteratur wird der Grund dieses Streits oft in den schwierigen Persönlichkeiten der beteiligten Forscher gesehen ;28 allerdings dürften dabei noch weitere Aspekte eine Rolle gespielt haben, die im Folgenden zur Sprache kommen werden. Im Jahr 1932, als mit dem Positron ein neues Teilchen aus der kosmischen Strahlung entdeckt wurde,29 entwickelte sich die Höhenstrahlungsforschung zu einem wichtigen Bereich der noch jungen Teilchenphysik. Diese Entwicklung setzte sich Ende der 1930er-Jahre fort, als sowohl der Kern- als auch der Teilchenzerfall in der Form von »Sternen« – so der von den Wiener Physikerinnen Marietta Blau und Hertha Wambacher benutzte Begriff30 – und »Schauern«31 mithilfe der Untersuchung der kosmischen Strahlung entdeckt worden waren. Die Vergabe des Nobelpreises für Physik 1936 an Hess und den US-amerikanischen Physiker Carl David Anderson markierte die endgültige Anerkennung dieses Forschungsfeldes durch die internationale Forschungsgemeinschaft. Neben den wissenschaftlichen Erfolgen konnte sich die Höhenstrahlungsforschung in den 1930er-Jahren auch institutionell etablieren. Waren anfangs meist bereits bestehende Einrichtungen physikalischer Institute genutzt worden, entstanden nun allmählich eigene Messstationen und Forschungslabore.32 Wie noch zu zeigen sein 25 26 27 28 29 30
Vgl. Millikan/Cameron 1926. Vgl. N.N. 1925, v.a. 461–462. Vgl. Bergwitz/Hess/Kolhörster 1928. So z.B. De Maria/Russo 1989, v.a. 188–189. Vgl. Anderson 1932. Vgl. z.B. Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, FE-Akten, Institut für Radiumforschung, ab sofort : AÖAW, FE-Akten, IR, Nachlass Stefan Meyer, K 11, Fiche 175, Blau an Meyer vom 22.7.1937. Siehe dazu den Beitrag von Ruth Lewin Sime in diesem Band. 31 Vgl. Auger/Maze/Grivet-Meyer 1938. 32 Welche Institutionen und Orte dies genau waren, welche Akteure im besonderen Maße an dieser Entwicklung beteiligt waren und wie groß diese Forschungsgemeinschaft insgesamt war, ist Gegenstand der aktuellen Forschungsarbeit der Autorin, vgl. auch Cirkel-Bartelt 2008. Für einen ersten Überblick über die frühe Höhenstrahlungsforschung empfiehlt sich der Sammelband von Sekido/Elliot 1985.
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wird, gab es bereits zu dieser Zeit Bestrebungen, die Höhenstrahlungsforschung als eigenständige Forschungsrichtung zu etablieren, doch der Zweite Weltkrieg vereitelte diese Bemühungen. Ab den 1950er-Jahren begann die Hochenergie-Teilchenphysik, hinsichtlich der Entdeckung bis dahin unbekannter Teilchen an Bedeutung zu gewinnen. Mit der Astroteilchenphysik gibt es auch gegenwärtig eine Disziplin, die wieder Bezüge zu diesen historischen Wurzeln sucht.33
Die Profilierung der Höhenstrahlungsforschung In Briefen und Tagungsprogrammen zeigt sich gegen Ende der 1930er-Jahre eine verstärkte Profilbildung der Höhenstrahlungsforschung gegenüber benachbarten Disziplinen. Auch wenn es in Briefen des Wiener Physikers Egon von Schweidler schon 1914 Hinweise auf fachspezifische Treffen, wie zum Beispiel eine »Terminwoche der ddr. [durchdringenden] Strahlung« gibt, häufen sich in den 1930er-Jahren die Hinweise darauf, dass sich die Höhenstrahlungsforschung nun als eigenständiges Forschungsfeld zu etablieren versuchte.34 Vor allem Hess trug zu dieser Profilierung bei, indem er beispielsweise auf die Gestaltung von großen Konferenzen Einfluss nahm. So wurde in einem Schreiben der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) an Meyer vom 2. März 1933 als Thema der kommenden DPG-Tagung »Atomzertrümmerung einschl. astrophysik. Fragen (Hess)« angegeben.35 Doch Hess lehnte diese Vermischung von Atomphysik und Höhenstrahlungsforschung ab und berichtete zwei Wochen später, dass er gebeten habe, die beiden Themen bei der Tagung in Berlin strikt auseinanderzuhalten : »Ich habe [Karl] Scheel schon geantwortet und die Annahme [der Einladung, V.C.-B.] meinerseits an gewisse Bedingungen knüpfen müssen, so insbesondere daran, dass eine reinliche – auch zeitliche Scheidung der Verhandlungen über Atomzertrümmerung und Ultrastrahlung stattfinde.«36
Wie aus einem Brief der DPG an Meyer hervorgeht, dem eine Tagungsübersicht der Jahre 1930 bis 1933 beiliegt, fand die Tagung aus politischen Gründen nicht wie geplant statt und die Themen wurden geändert beziehungsweise das Thema Ultrastrahlung ganz gestrichen.37 33 34 35 36 37
Vgl. z.B. Stanev 2003, 3. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche 303, Schweidler an Meyer vom 10.2.1914. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Fiche 169, DPG an Meyer vom 2.3.1933. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 206, Hess an Meyer vom 16.3.1933. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Fiche 169, DPG an Meyer vom 21.3.1934. Die Verlegung der
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Wie rasch sich die Erforschung der kosmischen Strahlung in den folgenden Jahren weiterentwickelte und damit auch von ihren Nachbardisziplinen abzugrenzen begann, zeigt ein Brief des in den USA lebenden österreichischen Physikers Arthur Erich Haas an Meyer aus dem Jahr 1938, dem die Einladung zum Symposium »The Physics of the Universe and the Nature of Primordial Particles, May 2 and 3, 1938« beilag (s. Abb.).38 Der Titel des Symposiums sowie die Themen der Vorträge zeigen, dass nun keine meteorologischen oder »luftelektrischen« Aspekte, sondern nur noch teilchenphysikalische und astrophysikalische Fragen diskutiert wurden. Auch wenn dies noch nicht viel mit einer modernen Astroteilchenphysik zu tun haben mag, zeigen sich hier die historischen Grundlagen der grundsätzlichen Fragen, die auch heute noch in dieser Disziplin erforscht werden, wie etwa die Verteilung der Materie im Universum, die Wechselwirkungen zwischen Elementarteilchen oder die Expansion des Universums.39 Ende der 1930er-Jahre zeichnete sich ab, dass die Suche nach neuen Elementarteilchen – für die die Höhenstrahlungsforschung einen vielversprechenden Ansatz darstellte – wichtiger wurde als die Suche nach neuen radioaktiven Elementen. Darüber klagte Meyer seinem schwedischen Physikerkollegen Hans Pettersson in einem Brief vom 19. Februar 1938 sein Leid. Er sei als neu gewählter Präsident der Radiumstandardkommission mit dem Problem konfrontiert, dass man sich nach den Schwierigkeiten hinsichtlich der Bezeichnung der radioaktiven Elemente nun nicht auf eine einheitliche Nomenklatur für die Teilchen einigen könne.40 »Ich möchte […], dass wir Vorschläge zur Behebung der grauslichen Unordnung in der Nomenklatur machen. […] Für das Neutron allein gibt es jetzt die Namen Neutron, Neuton, E-Element Null. […] Für das positive Elektron, Positron ; Positon ; Positiv ; Oreston (aus Tagung von Salzburg nach Würzburg könnte – neben der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten und der von ihnen vorangetriebenen »Gleichschaltung« – mit dem erfolglosen Versuch des deutschen Physikers Johannes Stark zusammenhängen, sich auf der DPG-Tagung 1933 als Nachfolger des Physikers Max von Laue als DPG-Vorsitzender wählen zu lassen. Diese Überlegung wird in der Forschungsliteratur jedoch nicht weiter diskutiert, vgl. z.B. Hoffmann 2005, 54. 38 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 12, Fiche 195, Haas an Meyer vom 30.1.1938. 39 Zur Bedeutung dieses Symposiums für die kosmische Physik und die Teilchenphysik vgl. Kragh 1996, 96. 40 Die 1910 zunächst unter dem Vorsitz von Rutherford eingesetzte Internationale Radiumstandardkommission war für die Herstellung und Überprüfung von sogenannten »Radiumstandards« zuständig, die als Vergleichsgröße bei der Bestimmung radioaktiver Präparate dienten. Diese Bemühungen um Vereinheitlichung in der Messung und Bestimmung radioaktiver Präparate sind im Kontext der Etablierung dieses Forschungsfeldes zu sehen. Zu diesem Prozess gehörte auch die sprachliche Standardisierung der Namen von Elementen. Die Zitate von Meyer legen nahe, dass er – in Anlehnung an dieses Vorgehen in der Radioaktivitätsforschung – eine wenigstens sprachliche Vereinheitlichung in der noch jungen Kernund Teilchenphysik wünschte.
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Abb. : Programm zum Symposium »The Physics of the Universe and the Nature of Primordial Particles, May 2 and 3, 1938«, Notre Dame, Indiana, USA
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Orestes und Elektra !), Ateb (Spiegelbild von Beta !) eine Menge von Buchstaben und so geht das fort. Z.B. noch das Neutrino : Mikroneutron ; Neutret ; Ergon ; Nulliton. […] Es wäre hoch an der Zeit, dass da Ordnung geschaffen würde und oft fehlt nur die Initiative irgendeiner Körperschaft.«41
Pettersson stimmte Meyer nicht nur zu, sondern konstatierte in seiner Antwort : »Es scheint die ehemalige Elementenjagd nunmehr in eine Teilchenjagd übergegangen zu sein.« Es gebe mittlerweile eine regelrechte »Nomenklaturkeilerei«.42 Dabei nahm Meyer wohl auch Anstoß daran, dass einige dieser Teilchen bisher nur theoretisch vorhergesagt und noch nicht experimentell bestätigt worden waren. So antwortete er Pettersson : »Es soll also, wie das Neutron zum Proton und wie das Neutrino zum Elektron zum ‚schweren‘ Elektron ein ‚Neutretto‘ existieren. Nun ist freilich das ‚Neutrino‘ noch gar nicht experimentell gesichert, obwohl die Theoretiker auf sein Vorhandensein schwören ; es ist ferner noch nicht ganz sicher, ob die ‚schweren Elektronen‘ nicht vorgetäuscht sind, wenn auch ihre Existenz durchaus möglich erscheint. Ob es da wirklich dringlich ist, an das reale Vorhandensein des Neutretto zu glauben, möchte ich nicht entscheiden. Sie wissen ja, dass es schon einmal den entzückenden Druckfehler gab : Statt ‚Nuclear Physics‘ hatte der Setzer ‚Unclear Physics‘ für passender gefunden !«43
Die Probleme ließen sich aber nicht so schnell lösen. Noch im Februar 1939 berichtete Meyer in einem Brief an seinen Schweizer Kollegen Auguste Piccard, dass für die »verschiedenen Bausteine der Materie« eine Vielzahl unterschiedlicher Namen kursiere.44 Das von Meyer wiederholt beklagte Chaos zeigt recht deutlich, wie sehr die in der Entstehung begriffene Teilchenphysik und mit ihr auch die Höhenstrahlungsforschung die Gemüter der Physiker zu dieser Zeit beschäftigte. Dies verdeutlicht auch, dass die Erforschung der kosmischen Strahlung an der Schwelle von einem jungen – nicht institutionell organisierten – Forschungsfeld zu einer eigenständigen physikalischen (Teil-) Disziplin stand.45 41 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 18, Fiche 285, Meyer an Pettersson 19.2.1938. 42 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 18, Fiche 285, Pettersson an Meyer 26.2.1938. 43 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 18, Fiche 285, Meyer an Pettersson 8.9.1938 ; zunächst scheinen mit »Neutretto« hypothetische Teilchen mit neutraler Ladung und »mittlerer« Masse bezeichnet worden zu sein, vgl. N.N. 1938, 357 ; später scheint die Bezeichnung für das Myon-Neutrino gebraucht worden zu sein. 44 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 18, Fiche 286, Meyer an Piccard 16.2.1939. 45 An der Stelle mag sich die Frage nach dem Verhältnis der Höhenstrahlungsforschung zu anderen bedeu-
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Die Höhenstrahlungsforschung in der öffentlichen Wahrnehmung Schon die bereits erwähnten Kontroversen in der Erforschung der kosmischen Strahlung Mitte der 1920er-Jahre hatten die Aufmerksamkeit eines breiteren Publikums geweckt.46 In den frühen 1930er-Jahren nahm das öffentliche Interesse an der Höhenstrahlungsforschung weiter zu, so dass sich das Deutsche Museum in München veranlasst sah, das Thema in die Dauerausstellung im Bereich »Elektrische Strahlen« zu integrieren und zwar in »gemeinverständlicher Weise«,47 was darauf schließen lässt, dass nicht mehr nur ein Fachpublikum, sondern zunehmend auch Laien an dieser Forschung interessiert waren. Anfang März 1933 ersuchte das Deutsche Museum Meyer um Hess’ »Elektrometer, mit welchem er seinerzeit die Ultrastrahlen entdeckt hat«,48 um es in der Ausstellung präsentieren zu können. Auch Hess bat Meyer, das Museum zu unterstützen und schickte Hinweise, wo seine alten Apparate sein könnten.49 Nachdem der desolate Zustand eines wieder gefundenen Geräts festgestellt worden und die Fragen der Reparatur beziehungsweise Restaurierung umgehend geklärt worden waren, konnte das Deutsche Museum bereits am 4. April 1933 den Erhalt der Sendung bestätigen.50 Die zügige Bearbeitung der Anfrage lässt vermuten, dass auch den Physikern an einer repräsentativen Darstellung ihrer Tätigkeit in einem so bedeutenden Museum lag.51
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tenden zeitgenössischen Fragen der (subatomaren) Physik, wie z.B. der Quantenmechanik stellen. Diese aus Sicht vieler Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftshistorikerinnen so bedeutende Forschungsrichtung wird jedoch im hier untersuchten Archivmaterial von den Zeitgenossen kaum je erwähnt, obwohl die einschlägigen Arbeiten zur Quantenmechanik durchaus bekannt waren. Bothe arbeitete z.B. wiederholt über die statistische Deutung des Comptoneffekts, vgl. z.B. Bothe 1926. Vgl. den Artikel über »Millikan Rays« : N.N. 1925, 461–462. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 265, Deutsches Museum an Meyer vom 3.3.1933. Ebd. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 265, Hess an Meyer vom 12.3.1933. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 265, Meyer an das Deutsche Museum vom 14.3.1933 ; AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 265, Hess an Meyer vom 16.3.1933 ; AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 265, Deutsches Museum an Meyer vom 18.3.1933 ; AÖAW, FEAkten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 265, Meyer an das Deutsche Museum vom 27.3.1933 ; AÖAW, FEAkten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 265, Deutsches Museum an Meyer vom 4.4.1933. Ob und, wenn ja, wie sich die Physiker die Öffentlichkeit im Allgemeinen nutzbar gemacht haben, ist noch nicht umfassend erforscht. Die Sekundärliteratur weist den ambivalenten Umgang der Physiker mit den Medien nach : Die Propagierung eigener Forschungsergebnisse war erwünscht, die oft stark vereinfachte Art der Darstellung und die Polarisierung wurden jedoch abgelehnt, vgl. z.B. De Maria/Russo 1989, 242–243 ; Xu/Brown 1987, 32.
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Astrophysikalische Fragen Wie bereits angemerkt, propagierte vor allem Nernst ab den frühen 1920er-Jahren die Idee, dass kosmische Strahlung bei der Sternentwicklung entstehe. Für Nernst diente diese Überlegung dazu, seine These vom »stationären Zustand des Weltalls« zu untermauern.52 Andere Forscher nutzten den Denkansatz, um Hypothesen zur Herkunft der Höhenstrahlung zu entwickeln, etwa dahin gehend, dass die Strahlung zum Beispiel aus der Milchstraße stamme und nicht von der Sonne.53 Auch den Kern- und Atomphysikern scheinen Nernsts Überlegungen neue Denkanstöße gegeben zu haben, denn wenngleich seine Arbeit unter Physikern offensichtlich nicht die beste Reputation genoss, fand sie dennoch einige Beachtung. So schrieb Meyer an den Diplomingenieur Arthur Boltzmann : »Es wird Ihnen bekannt sein, dass Geheimrat Nernst eine neue Theorie des Massenschwundes der Sterne aufgestellt hat. Er hat die Überzeugung, dass sich ein solcher Massenverlust auch im Laboratorium an Radiumpräparaten feststellen lassen sollte […]. Wir besitzen keine Waage, mit der man solche Messungen machen könnte […]. Geheimrat Nernst meinte, dass Sie vielleicht in ihrem Institut eine dazu brauchbare Waage besitzen und eventuell die Wägung ausführen könnten. […] Ich darf nicht verhehlen, dass einerseits die Astronomen, soweit ich sie darüber befragen konnte, die astronomische Grundlage von Nernst’s Betrachtungen nicht gelten lassen wollen und dass alle Physiker, mit denen ich darüber sprach, die Realität eines derartigen Effektes nicht verstehen können. Gleichwohl ist Geheimrat Nernst ein so prominenter und geistvoller Forscher, dass es schwer ist glatt abzulehnen.«54
Neben dem ‚Prominentenbonus‘ als Nobelpreisträger kam Nernst wohl auch zugute, dass Meyer sich offenbar selbst sehr für astrophysikalische Fragen, etwa nach dem Alter, der Masse oder der Energiebilanz der Sonne und der Sterne, interessierte. Zwischen Meyer und Nernst entspann sich daher zwischen Oktober 1936 und März 1937 eine längere Korrespondenz über diese Probleme. Darin berichtete Meyer auch, dass man bemüht sei, das von Nernst vorgeschlagene Experiment durchzuführen, bislang allerdings ohne Ergebnis.55 Auch unabhängig vom Austausch mit Nernst befasste sich Meyer mit astrophysikalischen Themen : Auf einem undatierten Notizzettel von Meyer, auf dem sich, kaum entzifferbar, Berechnungen zu Alter und/oder Masse von Sternen 52 Vgl. Nernst 1936, 8. Zu Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Nernsts Konzept eines stationären Weltalls und dem von MacMillan und Millikan vgl. Kragh 1996, 151–157. 53 Vgl. z.B. Kolhörster/Salis 1923. 54 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Fiche 177, Meyer an Boltzmann vom 30.12.1936. 55 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 266, Meyer an Nernst vom 10.3.1937.
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finden, steht auch ein Hinweis, dass Meyer sich hierzu einen »Vergleich der alten und neuen Standards 1934–194[ ?]« wünsche. Möglicherweise handelt es sich dabei um einen Briefentwurf an Pettersson, denn dieser hatte bereits 1938 mit Meyer darüber korrespondiert, dass ihm dessen Ausführungen zur Altersbestimmung der Sonne mithilfe von Bleiisotopen nicht aus dem Kopf gehen wollten. Betrachtet man die scherzhafte Formulierung Petterssons, hat es allerdings den Anschein, als ob beide diese Überlegungen nicht immer unbedingt allzu ernst genommen hätten : »Ist das Universum tatsächlich uralt und nur unser Sonnensystem ein Spät-/ vielleicht auch ein Miss-/ Geburt wie es [James] Jeans will ? […] Ich liebe sonst nicht kosmische Spekulationen […] , aber diese Antitese scheint mir unheimlich.«56
Die These des britischen Physikers James Hopwood Jeans vom künftigen Wärmetod des Universums stieß bei vielen Erforschern der kosmischen Strahlung auf Ablehnung. Vor allem Millikan sprach sich vehement gegen diese Idee aus.57
Kooperation und Konkurrenz – ein Wechselverhältnis Neben der inhaltlichen Zusammenarbeit einerseits und der Abgrenzung von benachbarten Themengebieten andererseits, finden sich Kooperation und Konkurrenz auch auf persönlicher Ebene zwischen den Physikern. Wie die in den Archivmaterialien gefundenen Beispiele zeigen, waren diese beiden Aspekte meist eng miteinander verknüpft. Das Spektrum reichte dabei von schneller und oft unbürokratischer Zusammenarbeit über eine ambivalente Mischung aus kollegialer Hilfsbereitschaft und freundschaftlicher Konkurrenz bis hin zur regelrechten Abschottung der eigenen Arbeit. Vor allem Meyer wurde – wie eingangs bereits erwähnt – immer wieder mit Bitten um Hilfestellung konfrontiert, die er, soweit sich das aus dem Archivmaterial feststellen lässt, meist prompt zusagte. Dabei wurden auch größere Gerätschaften des Instituts wie Rechenapparate verliehen. So bat zum Beispiel Schweidler, sich den harmonischen Analysator – ein Gerät, um Messergebnisse einfach in eine Grafik übertragen zu können – des Instituts leihen zu dürfen, um bei der Zusammenfassung »aller meiner luftelektr. Sommermessungen seit 1908 den täglichen Gang« der Strahlung besser darstellen zu 56 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 18, Fiche 285, Pettersson an Meyer vom 2.10.1938, die Rechtschreib- und Grammatikfehler entsprechen der Quelle und werden – wie bei allen verwendeten Zitaten – im Original wiedergegeben. 57 Vgl. De Maria/Russo 1989, 226.
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können.58 Der Apparat wurde Schweidler geliehen, obwohl er mit dem Umgang offensichtlich nicht sonderlich vertraut war ; so bat er in seinem Brief, mit dem er sich für die Zusage des Analysators bedankte, um Übersendung »samt Gebrauchsanweisung«.59 Ein gutes Beispiel dafür, dass sich kooperatives, fast freundschaftliches Verhalten und deutliche Konkurrenz zwischen Forschern nicht grundsätzlich ausschlossen, zeigen die unterschiedlichen Anmerkungen, die Hess in seinen Briefen über seinen deutschen Kollegen Kolhörster machte. Offenbar beeindruckt von Kolhörsters Arbeit, berichtete Hess Meyer von den »Schwierigkeiten, die es bereitet, Dr. Kolhörster aus dem Mittelschuldienst los zubekommen und ihm eine Stelle zu beschaffen, die ihm wissenschaftliche Betätigung ermöglicht. […] Allerdings ist es ein grosses Hindernis, dass W. Kolhörster noch nirgends habilitiert ist. Immerhin glaube ich aber, dass er für diese Lehrkanzel sehr gut passen würde.«60
Hess’ Versuch, Kolhörster an die Lehrkanzel der Bergakademie in Freiberg zu vermitteln, scheiterte zwar, aber dennoch konnte sich Kolhörster bald ganz der Wissenschaft widmen, da er Ende 1928 fester Mitarbeiter am »geophys. Observatorium« in Potsdam wurde.61 Die Anerkennung von Kolhörsters Verdiensten um die Erforschung der kosmischen Strahlung hielt Hess jedoch nicht davon ab, mit ihm aufs Schärfste um die Würdigung ihres jeweiligen Schaffens in der Forschergemeinschaft zu konkurrieren. So formulierte er es zumindest in einem Dankschreiben an Meyer : »Lieber Herr Professor, für Ihre herzl. Glückwünsche anlässlich der Verleihung des AbbéGedächtnispreises an mich herzlichen Dank. Ich freue mich darüber besonders, da es eine Anerkennung meiner Priorität gegenüber Kolhörster in Deutschland darstellt.«62
Der Prioritätsstreit mit Millikan um die Entdeckung der kosmischen Strahlung provozierte teilweise empörte Reaktionen der deutschen und vor allem österreichischen Forscher.63 Doch anders, als es der harsche Ton der Veröffentlichungen und die Ein-
58 59 60 61
AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche 304, Schweidler an Meyer vom 13.1.1916. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche 305, Schweidler an Meyer vom 17.2.1916. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 205, Hess an Meyer vom 9.12.1927. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 205, Hess an Meyer vom 9.1.1929 ; der Brief datiert zwar auf den 9.1.1928, aber aus dem Inhalt geht hervor, dass 1929 gemeint sein muss. 62 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 206, Hess an Meyer vom 22.12.1932. Der Ernst-AbbeGedächtnispreis wurde 1921 von der Carl-Zeiss-Stiftung Jena »zur Förderung der mathematischen und physikalischen Wissenschaften und deren Anwendungsgebiete« gestiftet, vgl. N.N. 1922, 328. 63 Vgl. v.a. Bergwitz/Hess/Kolhörster 1928.
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schätzung in der Sekundärliteratur – hier wird eine persönliche Aversion zwischen den Beteiligten als tragendes Motiv für die Auseinandersetzungen angedeutet – vermuten lassen,64 zeigt sich in den Briefen des betreffenden Zeitraums ein etwas komplexeres Bild. Zunächst ist auffällig, dass sich zum Beispiel Hess in seinen Schreiben an Meyer weder zu Millikan noch zu besagter Forschungskontroverse äußerte, was nicht eben den Eindruck vermittelt, es sei ihm hierbei um ein persönliches Anliegen gegangen. Auch die Art der Anmerkungen ist insgesamt eher sachlicher Natur. Das erste Mal, als Hess Millikan erwähnte, ging er nur kurz auf dessen »Versuche über die Registrierung der ddr. [durchdringenden] Strahlung in Registrierballons« ein und auf die Tatsache, dass Millikan bald als Austauschprofessor nach Belgien gehen wolle.65 Auch Millikan, der eine einflussreiche Position als Gutachter bei der Rockefeller Foundation (RF) einnahm, ging in einem Brief vom Beginn des Jahres 1927 nicht weiter auf die fachlichen Querelen mit seinen europäischen Kollegen ein, die gerade zu dieser Zeit besonders virulent waren. In einem Schreiben an Meyer, in dem es eigentlich nicht um die aktuellen Probleme der Höhenstrahlungsforschung ging, sondern um die mögliche Weiterbeschäftigung des jungen österreichischen Assistenten Josef Mattauch am California Institute of Technology, betonte Millikan die Chancen internationaler Zusammenarbeit : »At the same time he [Mattauch] is eminently fair, and has been entirely unembittered by the events of the last few years. [I]t will serve in an especially significant way the ends which the International Education Board has in mind in facilitating the interchange of young scientific men of outstanding ability for short periods of time between different countries. In addition, it will make a bond between our two laboratories which I hope will be of value to us both in the future.«66
Um welche Ereignisse es sich handelte, die bei dem Mitarbeiter »Bitterkeit« hätten auslösen können, bleibt unklar. Es könnte sich um buchstäblich alles handeln – von den politischen und ökonomischen Folgen des Weltkriegs, über die Wirtschaftskrise bis hin zum erst 1927 beigelegten Prioritätsstreit der »Atomzertrümmerer«. Meyers Antwort war nicht weniger freundlich. Ganz im Gegenteil war auch Meyer vor allem um die Sicherung zukünftiger Zusammenarbeit bemüht :
64 Vgl. z.B. De Maria/Ianniello/Russo 1990, 188–189. 65 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 204, Hess an Meyer vom 1.5.1922. 66 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 16, Fiche 263, Millikan an Meyer vom 15.1.1927.
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»In any way we are very much pleased to get into nearer contact with you in this way and we hope the interchange between the countries and the scientific workers may improve in a way gratifying to all.«67
Millikan besuchte in der Folge mehrfach Wien und stand auch sonst im freundlichen Austausch mit seinen dortigen Kollegen.68 Während also der öffentlich geführte Prioritätsstreit zwischen Hess und Millikan respektive ihren Anhängern weiter eskalierte, blieben Anfeindungen auf persönlicher Ebene eher aus.69 Die Quellenlage legt im Gegenteil nahe, dass allen Beteiligten trotz ihrer Uneinigkeiten sehr an einer guten Zusammenarbeit gelegen war. Ein mögliches Motiv für die in der Öffentlichkeit so heftig geführten Debatten zeigte sich einige Jahre später. Die Kontroverse war bereits beigelegt, als Hess sich bei der RF um Forschungsgelder bemühte. Hess war wohl besorgt, dass Millikan ihm bei seinem Vorhaben zuvorkommen könnte, denn Meyer schrieb Hess auf einen nicht mehr erhaltenen Brief antwortend : »Vor einer Contreminierung durch Millikan hätte ich keine Angst. Ihr Programm wird ja zuerst bei der Akademie hinterlegt und das kann im Gesuch betont werden, so dass die Prioritäten der Pläne gesichert erscheinen, auch traue ich Millikan zwar grosse Eitelkeit aber keine Lumperei in diesem Style zu.«70
Hess’ Befürchtungen wurden sicherlich auch dadurch genährt, dass die RF ab den frühen 1930er-Jahren begann, Mittel aus der physikalischen Grundlagenforschung abzuziehen, um sich mehr den »life sciences«, vor allem der Biologie, zuzuwenden.71 Entsprechende Sorgfalt legte Hess auf die Formulierung des Antrags, wie der wiederholte Austausch mit Meyer zeigt, der ihm auch ein Empfehlungsschreiben ausstellte.72 Hess wandte sich außerdem an Lauder W. Jones, den europäischen Vertreter der RF, und
67 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 16, Fiche 263, Meyer an Millikan von 8.2.1927. 68 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 16, Fiche 263, Millikan an Meyer vom 10.6.1927. In diesem Schreiben dankt Millikan für die Zusendung des Buchs über Radioaktivität und teilt mit, im Juli nach Wien kommen zu wollen ; vgl. auch Hinweis auf einen weiteren Besuch Millikans in Wien in : AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 16, Fiche 257, Loria an Meyer vom 3.10.1931. 69 Laut Xu/Brown 1987, 32, bat Millikan in persönlichen Briefen Hess um die Klärung der Missstimmung, die durch die harschen Formulierungen der Presse zwischen ihnen herrschen könnte. 70 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 205, Meyer an Hess vom 25.5.1932. 71 Vgl. Kevles 1978, 28–30. 72 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 206, Meyer an Hess vom 8.6.1932 und Meyer an Rockefeller Foundation vom 8.6.1932.
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lud ihn unter anderem zu einem Besuch nach Innsbruck ein.73 Im Januar 1933 konnte Hess trotz der geänderten Vergaberichtlinien schließlich Erfolg vermelden : Er bekam 5.000 US-Dollar »zur Erweiterung meiner Forschungsstation und den Ankauf der notwendigen Apparate« überwiesen.74 Es ist angesichts des insgesamt eher höflichen persönlichen Umgangs anzunehmen, dass sich hinter dem mit Vehemenz ausgetragenen öffentlichen Konkurrenzkampf zwischen Hess und Millikan vor allem ein Wettkampf um öffentliches Ansehen und letztlich die Vergabe von Forschungsgeldern verbarg, bei dem die Reputation, Entdecker der kosmischen Strahlung zu sein, sicherlich ein strategischer Vorteil war. Die zeitgenössischen Darstellungen in Artikeln, die wahlweise Millikan oder Hess die Entdeckung der Strahlung zusprachen, beeinflussen auch heute noch die wissenschaftshistorische Perspektive auf die Höhenstrahlungsforschung.75 Mit zunehmendem Erfolg der Höhenstrahlungsforschung scheint sich auch der Konkurrenzkampf zwischen den Forscherinnen und Forschern, möglicherweise noch begünstigt durch das sich verschlechternde politische Klima nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten in Deutschland, verschärft zu haben, wie ein Beispiel aus dem Jahr 1933 zeigt. Nachdem Hess bereits Anfang 1929 Meyer berichtet hatte, dass er gemeinsam mit einem Kollegen die nächsten Messungen auf dem Sonnblick fotografisch registrieren wollte, gab es auch in Wien Bestrebungen, über die fotografische Methode zu forschen.76 Dies geht aus einem Briefwechsel zwischen Blau und Meyer aus dem Frühjahr 1933 hervor. Blau berichtete zunächst, dass »Kuntze«77 bei seinen Experimenten positive Teilchenbahnen entdeckt habe, diese aber für Protonen statt Positronen halte und dass er sich heftig gegen »irgendwelche optische[n] Verzeichnungen« gewehrt habe. Sie selbst habe den Forschungsdirektor der IG Farben/Agfa, John Eggert, der an der »Pinakryptolgelb-Sensibilisierung« arbeite, gefragt, ob »er falls es in Wien nicht gemacht wird mit mir die Zertrümmerung des Blei durch Höhenstrahlung machen wollte, da sie Steinke mir als sehr geeignet für die photographische Methode empfohlen hat«.78 73 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 206, Hess an Jones vom 22.06.1932 und Hess an Meyer vom 28.9.1932. 74 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 206, Hess an Meyer vom 10.1.1933 ; nach dem Inflationsrechner des Consumer Prize Index des U.S. Department of Labor entspräche dies gegenwärtig etwa 80.000 US-Dollar. 75 Vor allem wird Hess’ »Entdeckung« einer unbekannten Strahlungsart betont und frühere Experimente zu den Ursachen des Resteffekt marginalisiert, vgl. dazu auch Ziegler 1989, 941. 76 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 205, Hess an Meyer vom 19.3.1929. 77 Es ist nicht ganz klar, wer hier gemeint ist. Es dürfte sich wahrscheinlich um Paul Kunze (1897–1986) handeln, der zu diesem Zeitpunkt an der Universität Rostock über Höhenstrahlung forschte. 78 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Fiche 175, Blau an Meyer vom 8.2.1933.
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Blau fragte offensichtlich nicht umsonst so vorsichtig an, ob ihre Arbeit an fotografischen Registriermethoden – die für die eben entstehende Teilchenphysik ebenso interessant waren wie für die Höhenstrahlungsforschung – an einem anderen Institut den Wiener Kollegen behagte, denn Meyer reagierte für seine Verhältnisse fast energisch ablehnend : »Über die photographischen Arbeiten haben die hiesigen Institutsmitglieder konferiert und sind, wie mir scheint der Ansicht, dass kein Anlass dazu vorliege, die Fragen ausserhalb Wien’s untersuchen zu lassen […]. Frl. Wambacher hat schon ziemlich viel Arbeit hineingesteckt und es schiene mir nicht billig, wenn man sie um die Früchte ihrer Tätigkeit bringen wollte, eigentlich bloss deshalb, weil man sich jetzt auch anderweitig für die Sache interessiert. Ich meine daher, dass es am besten wäre Prof. Eggert dahin zu informieren, dass hier allerlei auf diesem Gebiete in Arbeit sei und dass es sich naturgemäss empfiehlt, erst die weiteren hiesigen Ergebnisse abzuwarten. Wir sind zwar prinzipiell sehr gern gefällig gegen jedermann, aber es ist natürlich auch für uns ganz unmöglich, Präparate nach aussen zu liefern, solange der hiesige Bedarf nicht einmal gedeckt werden kann.«79
Meyers Weigerung, behilflich zu sein, solange die Ergebnisse des Wiener Instituts noch nicht veröffentlich waren, war einer der wenigen Fälle, in denen Meyer sich derart unkooperativ zeigte, was verdeutlicht, wie stark der Konkurrenzdruck unter den Physikern gestiegen war. Es zeigt wohl auch, dass die Mittel des Radiuminstituts mittlerweile eingeschränkt waren, ruft man sich in Erinnerung, wie groß die verliehenen Präparatmengen einmal gewesen waren.80 Andere Forscher verteidigten ihren Wissensvorsprung mit noch schärferen Mitteln, wie ein weiteres Beispiel aus der Arbeit von Blau zeigt. Blau und Wambacher wandten sich 1937 mit der Bitte an den Stuttgarter Höhenstrahlungsforscher Erich Regener, Päckchen mit Fotoplatten bei Ballonaufstiegen mitschicken zu dürfen. Die Antwort war wenig ermutigend, wie Blau in einem Brief berichtete, in dem sie Meyer auch informierte, einen »Zertrümmerungseffekt mit Emission mehrerer schwerer Korpuskeln gefunden« zu haben, insgesamt sogar »12 solcher Zertrümmerungssterne« :81 »Wegen eines Stratosphärenaufstieges haben wir uns an Prof. Regener gewendet, so wie Sie sehr geehrter Herr Professor es uns geraten haben. Wir bekamen erst sehr lange gar keine
79 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Fiche 175, Meyer an Blau vom 14.2.1933. 80 Es ist anzunehmen, dass Eggerts Tätigkeit für die Industrie als Forschungsleiter der IG Farben/Agfa die ablehnende Haltung Meyers begünstigte. 81 Zu Blaus Forschungen siehe auch den Aufsatz von Ruth Lewin Sime in diesem Band.
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Antwort u. dann eine ablehnende mit der Begründung, daß ein Assistent Prof. Regeners gerade dasselbe gemacht hat u. eine vorläufige Mitteilung veröffentlicht hat, die demnächst erscheinen wird. Wir wissen aber weder was er gefunden, noch wo er veröffentlichen wird.«82
Was genau Regener in diesem konkreten Fall zu seinem unkooperativen Verhalten bewogen haben mag, ist nicht mehr mit Sicherheit zu sagen, zumal er sich in anderen Kontexten, etwa bei der Zusammenarbeit mit den theoretischen Physikern, recht kooperativ zeigte.83 Regener hatte langfristig den ehrgeizigen Plan, seine Erforschung der kosmischen Strahlung bis in den Weltraum auszudehnen, wie die Bemühungen um die Konstruktion eines raumfahrttauglichen Containers für Messinstrumente vermuten lassen.84 Seine Weigerung, seinen möglichen Konkurrentinnen in diesem konkreten Fall zu helfen, könnte der Versuch gewesen sein, speziell auf dem Gebiet der Messung der Strahlung in der freien Atmosphäre einen Vorsprung zu erarbeiten. Dies würde auch erklären, warum er bei anderen Gelegenheiten durchaus kooperativ war. Darüber hinaus war Blau und Wambacher mit dem Festhalten des »Zertrümmerungseffekts« auf Fotoplatten eine wichtige Verbesserung fotografischer Detektionsmethoden gelungen, um die – wie ja auch Meyers Brief zeigt – ein heftiger Wettstreit entbrannt war. Zunächst mussten Blau und Wambacher also eine neue Gelegenheit finden, um ihre Plattenpakete bei Ballonaufstiegen mitschicken zu können, und baten Meyer, sie bei ihrer Suche zu unterstützen.85 Langfristig konnte Regener den Erfolg der beiden Forscherinnen nicht aufhalten, denn das Interesse an ihren Ergebnissen wuchs stetig.86
Nationale Rivalitäten ? Auch wenn das politische Klima vor allem in Mitteleuropa zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder äußerst angespannt war, lassen sich keine eindeutigen Einflüsse allgemeiner nationalistischer Ressentiments auf das Verhältnis der Höhenstrahlungsforscher untereinander feststellen. Dies war, wie der Physikhistoriker Roger H. Stuewer
82 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Fiche 175, Blau an Meyer vom 22.7.1937. 83 Vgl. Freytag 2007, 234–235. 84 Zur Entwicklung der »Regenertonne« vgl. z.B. Paetzold/Pfotzer/Schopper 1974. Freytag berichtet von einem Projektantrag Regeners zur Erforschung der Stratosphäre, den er im März 1938 einreichte : Freytag 2007, 236, Anm. 109. Die Annahme, er habe sich also schon in der Vorbereitungsphase dieses Projekts 1937 unmittelbare Konkurrenz fernhalten wollen, erscheint daher plausibel. 85 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Fiche 175, Blau an Meyer vom 8.9.1937. 86 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 18, Fiche 284, Meyer an Pettersson vom 1.2.1938.
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gezeigt hat, bei den Radioaktivitätsforschern durchaus anders.87 Er vermutet einen Zusammenhang zwischen der Heftigkeit, mit der die Debatte um »künstliche Elementzertrümmerung« zwischen Pettersson und Kirsch einerseits und Ernest Rutherford und James Chadwick andererseits geführt wurde, und den negativen Erlebnissen, die Chadwick während des Ersten Weltkriegs in deutscher Gefangenschaft machen musste. Der Historiker Michael Desser hat darauf hingewiesen, dass der Boykott der deutschen und österreichischen Physiker durch die Westmächte zur Stagnation der wissenschaftlichen Tätigkeit führte, die erst durch eine zunehmende Internationalisierung ab 1925 überwunden werden konnte.88 Auch für die Höhenstrahlungsforschung sind wiederholt nationale oder nationalistische Ressentiments als Auslöser der Prioritätsstreitigkeiten bemüht worden.89 Doch ruft man sich die oben skizzierten Beispiele für das Wechselverhältnis zwischen Kooperation und Konkurrenz ins Gedächtnis, scheinen sich eher die Verteilungskämpfe um die durch Weltkrieg, Inflation und Weltwirtschaftskrise schwindenden finanziellen Ressourcen als Auslöser so manchen Streits herauszukristallisieren. Viele Forscher, vor allem in Deutschland und Österreich, sahen sich durch die finanzielle Not regelrecht der Grundlagen ihrer Arbeit beraubt. So beschrieb Schweidler im Jahr 1920 die desolate Lage vor allem der Experimentalphysik an seinem Innsbrucker Institut : »Das allgemeine Elend wissenschaftlichen Betriebes spüren wir hier natürlich noch in höherem Grade als ihr in Wien. Man wird sich langsam ganz auf theoretische Arbeiten beschränken müssen und selbst da durch den Literaturmangel arg behindert sein.«90
Um die experimentelle Arbeit nicht einstellen zu müssen, bat er um Subventionen der Akademie für die Reparatur von zwei Wulf-Elektrometern, um die Sommermessungen in Seeham überhaupt weiterführen zu können. Der durch Schweidler beschriebene Mangel an Literatur hinderte die Forscher international am Vorankommen ihrer wissenschaftlichen Arbeit. So fragte zum Beispiel Hess 1922 während seines USA-Aufenthaltes bei der Carnegie-Institution nach Publikationen zur atmosphärischen Elektrizität und nach Journalen, die seinen Kollegen in Österreich fehlten. Die Carnegie-Institu87 Vgl. Stuewer 1985, 241–246. 88 Vgl. Desser 1991, 11–34. Als Stagnation versteht Desser das Abbrechen fast aller internationalen Verbindungen der österreichischen Wissenschaften – bis auf die zu Deutschland – in der Zeit von 1919–1924. Deutsche und österreichische Forscher waren von den meisten internationalen wissenschaftlichen Kongressen ausgeschlossen und auch der Zugang zu international anerkannten Publikationsorganen blieb ihnen oft verwehrt, vgl. ebd. 11–12. 89 Vgl. z.B. De Maria/Ianiello/Russo 1990, 188. 90 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche 306, Schweidler an Meyer vom 28.2.1920.
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tion antwortete umgehend, dass sie Meyer und Schweidler auf ihre »Mailinglist« gesetzt hätte, und listete ihrerseits auf, welche Ausgaben der Wiener Institutsmitteilungen fehlten.91 Auch die Sowjetunion war offensichtlich nicht immer auf dem neuesten Stand der Forschungsliteratur, wie Aufrufe in der Zeitschrift für Physik und Briefwechsel mit Meyer zeigen.92 Anders verhielt es sich nach 1933. Die Änderung der politischen Situation in Deutschland löste eine Welle von Empörung und Kritik aus, da Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in ihrer Arbeit massiv behindert wurden, zum Beispiel durch das Verbot von wissenschaftlichen Zeitschriften wie Nature. So kommentierte Pettersson diese Entwicklung als Skandal, den er von einem ihm bekannten Redakteur der ebenfalls in Deutschland verbotenen Göteborgs Handelstidning in Skandinavien öffentlich machen lassen wollte.93 Auch die bereits erwähnte Verlegung der DPG-Tagung 1933 von Salzburg nach Würzburg bewog jene österreichischen Physiker, die noch daran hätten teilnehmen dürfen, zu einem Boykott, wie Hess in einem Brief schrieb : »Von der Würzburger Tagung habe ich noch gar nichts gehört. Sie dürfte ziemlich zahm verlaufen sein, da ja nur mehr Gleichgeschaltete anwesend waren. Dass ein Herr Roebeling aus Wien teilgenommen hat wunderte und aergerte mich sehr. Aber vielleicht ist das auch kein wirklicher Oesterreicher.«94
Insgesamt hielten sich Meyer und seine Korrespondenzpartner mit Kommentaren zur politischen Situation jedoch zurück. Dies fällt besonders angesichts der spärlichen Hinweise auf den »Anschluss« Österreichs und die daraus resultierenden Folgen für die österreichische Forschergemeinschaft auf. Zwar erkundigte sich Meyer bei Pettersson nach dem Verbleib seiner nach Skandinavien und nach Amerika emigrierten beziehungsweise geflohenen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen wie Marietta Blau, Lise Meitner und Victor Hess, doch kam er schnell wieder auf wissenschaftliche Themen zu sprechen : »Dass Marietta [Blau] ihren neuen Posten anzutreten im Begriffe ist, freut uns sehr und ihre neuen, von Ihnen angedeuteten Entdeckungen von Sekundärneutronen sind sehr interessant. Auch die Nachrichten von Lise [Meitner] und Victor [Hess] waren mir neu und haben mich sehr gefreut.«95 91 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 204, Carnegie-Institution an Hess vom 27.4.1922. 92 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 16, Fiche 264, Meyer an Gesellschaft für kulturelle Verbindung der Sowjetunion mit dem Auslande vom 14.6.1935. 93 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 18, Fiche 285, Pettersson an Meyer vom 26.2.1938. 94 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 206, Hess an Meyer vom 13.10.1933. 95 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 18, Fiche 285, Meyer an Pettersson vom 8.9.1938.
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Auch Pettersson antwortete bezüglich des Schicksals von Blau lediglich, wie froh er sei, dass »Skandinavien ihr als Sprungbrett gedient hat und dass sie sich hier wohl fühlte«, um sich dann wieder physikalischen Fragen zuzuwenden.96 Eine mögliche Erklärung für diese Zurückhaltung könnte sicherlich sein, dass Meyer nach seiner Zwangspensionierung aufgrund seiner jüdischen Herkunft nicht riskieren wollte, sich ausführlicher über die politischen Umstände zu äußern.
Fazit Bis in die 1930er-Jahre entwickelte sich die Erforschung der kosmischen Strahlung von einem interdisziplinären Forschungsbereich zu einem eigenständigen Forschungsfeld. Ein Teilerfolg bei der Etablierung der Höhenstrahlenforschung lässt sich – neben dem hier nicht näher thematisierten Anstieg der Anzahl der Arbeiten über die kosmische Strahlung – an mehreren Aspekten ablesen. Die Schaffung eigener Kommunikationsplattformen, zum Beispiel in Form von eigenen Kongressen, die Bemühungen um eine (sprachliche) Vereinheitlichung oder auch das gewachsene öffentliche Interesse sind Anzeichen für die zunehmende Eigenständigkeit der Höhenstrahlungsforschung und deren Anerkennung. Kooperatives Verhalten, etwa durch die Leihgabe von Arbeitsmaterial oder die Zusammenarbeit bei größeren Experimenten, trug zu dieser Entwicklung ebenso bei, wie der Versuch der Abgrenzung von benachbarten Arbeitsgebieten. Die großen politischen und ökonomischen Umwälzungen der Zeit hatten auf die Herausbildung einer eigenständigen Höhenstrahlungsforschung zumindest einen indirekten Einfluss, indem vor allem der Erste Weltkrieg, die ihm folgende große Inflation und die daraus entstandene finanzielle Not die Experimentalphysik vor allem in Europa fast an den Rand der Handlungsunfähigkeit brachten. Dadurch gerieten viele Forscherinnen und Forscher unter wachsenden Konkurrenzdruck, der sich vor allem in einer Abschottung der eigenen Arbeit und dem Haushalten mit den vorhandenen Ressourcen äußerte. Interessant ist, dass sich bei aller Rivalität weit weniger nationalistische Untertöne in den persönlichen Motiven der Beteiligten finden lassen, als man vielleicht vermuten möchte. Vielmehr sollten wohl durch ein solches Konkurrenzgebaren die (forschungs-)politischen Entscheidungsträger bei der Vergabe der knappen Geldmittel beeinflusst werden. Inwiefern die Erforschung der kosmischen Strahlung damit paradigmatisch für die Entwicklung der Physik zwischen den beiden Weltkriegen ist oder aber eine Ausnahme bildet, muss hier dahingestellt bleiben.
96 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 18, Fiche 285, Pettersson an Meyer vom 2.10.1938.
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Im Zusammenhang mit dem Thema Kooperation und Konkurrenz gibt es hinsichtlich der Erforschung der kosmischen Strahlen weitere offene Fragen. Ab wann kann man der Höhenstrahlenforschung tatsächlich einen eigenständigen disziplinären Status zusprechen ? Auch die inhaltlichen, institutionellen und personellen Verflechtungen zu benachbarten Disziplinen, wie zum Beispiel der Radioaktivitätsforschung, der Meteorologie oder die Anbindung an moderne Disziplinen, wie der Astroteilchenphysik, sind gegenwärtig noch nicht erschöpfend untersucht.97
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Österreich im Atomzeitalter : Anschluss an die Ökonomie der Radioisotope Alexander von Schwerin, Braunschweig
In den 1950er-Jahren war das »Atomzeitalter« in aller Munde. Kaum ein anderer zeitgenössischer Begriff bringt besser auf den Punkt, dass sich mit der Atomenergie in dieser Zeit umfassende Fortschrittserwartungen verbanden und der angestrebte Aufbau einer Atomwirtschaft den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zugute kommen sollte. In der Öffentlichkeit war die Atomenergie als schleichende Gefahr präsent, als radioaktiver Fallout der oberirdischen Atomwaffentests, der jederzeit vom Himmel regnen konnte. Dessen ungeachtet begeisterten sich Politiker für eine ganz andere Vision. Ende 1953 verkündete der US-amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower den Beginn einer neuen Ära, einer Ära der »friedlichen« Nutzung der Atomenergie.1 Als Europa und andere Teile der Welt noch unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs litten und der Kalte Krieg die Welt in zwei Lager aufteilte, vereinte die Vision einer durch Atomenergie transformierten und optimierten Ökonomie, die mit Gründung der International Atomic Energy Agency (IAEA) zum internationalen politischen Programm wurde, nahezu alle industrialisierten Länder. Das von Eisenhower mit großem Pomp ausgerufene und dann auf allen diplomatischen Ebenen entsprechend umgesetzte »Atoms for Peace«-Programm fand seinen Widerhall in einer weit verbreiteten Atomeuphorie. Es wäre aber verkürzt, das Atomzeitalter auf politische Rhetorik oder eine erzwungene Gegenreaktion der Atomphysiker auf ihre Vereinnahmung durch militärische Machtansprüche zu reduzieren.2 Das Atomzeitalter hatte seine eigene wissenschaftliche, ökonomische und politische Dynamik mit globaler Intergrationswirkung. In ihm vereinten sich nationale und ökonomische Einzelinteressen, ein globales Fortschrittsversprechen und der Glaube an eine unerschöpfliche Energiequelle, die Kohle und Öl ablösen würde. Gerade die Energieoption war aber Ende der 1950er-Jahre noch Zukunftsmusik. Genau besehen war sie auch nur ein Teil der umfassenden ökonomisch-technischen Modernisierungserwartung, die sich an die »friedlichen Atome« knüpfte. Die Annahme war, dass die Produktionsmittel insgesamt auf der Basis radioaktiver Techniken revolutioniert werden könnten.
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Vgl. Hewlett 1989, 209–211. Vgl. diese Tendenz etwa in Radkau 1983, 92.
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Gerade mit Blick auf Österreich muss diese umfassende politisch-ökonomische Vision in Erinnerung gerufen werden. Die energiepolitische Option konkurrierte in Österreich mit der bereits in den 1950er-Jahren gewachsenen Bedeutung der Wasserkraft. Helmut Lackner hat gezeigt, dass der einsetzende Massenkonsum und die damit einhergehende steigende Nachfrage nach Energie durchaus ein gewichtiges Argument für atomare Energie darstellten.3 Die Atomenergie war ein gesellschaftliches Leitbild, dem lange Zeit jedoch die Perspektive einer Realisierung fehlte.4 Ins Gewicht fällt auch die politisch-diplomatische Funktion der Atomenergie für Österreich. Der junge Staat, der erst 1954 wieder zu voller Souveränität fand, stand Mitte der 1950er-Jahre nicht nur geographisch mitten im diplomatischen Ringen um die politische Weltordnung. Die österreichische Bundesregierung verstand die Atompolitik als entscheidendes Politikfeld auf dem Weg zu ihrem Ziel, Österreich innerhalb der internationalen Politik und den angespannten Ost-West-Beziehungen vorteilhaft zu positionieren. Der Erfolg dieses Bemühens manifestierte sich in der Wahl Wiens als Verwaltungssitz der IAEA. So unbestreitbar diese vielschichtige Funktion der Atomenergie für Österreich war und so folgenreich die Auseinandersetzungen um die Energiepolitik mit ihren verschiedenen ideologischen und interessenbehafteten Positionen in Österreich gewesen sein mögen,5 bleibt dabei doch ein weiterer Faktor unberücksichtigt, der im Mittelpunkt dieses Beitrags steht : die Rolle von radioaktiven Isotopen als den eigentlichen Hoffnungsträgern einer atommodernisierten Technik, industriellen Produktion und Wirtschaft. Von der Vision einer mithilfe von radioaktiven Stoffen revolutionierten Industrie und Ökonomie zeugen ab den 1950er-Jahren zahlreiche Konferenzen, Ausstellungen und Lehrfilme, die sich oftmals auch an die breite Öffentlichkeit wandten. Die Disney-Produktion »Our Friend the Atom«, die 1958 im deutschen und österreichischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, gehörte zu den zugkräftigen Propagandaschauen.6 In Wien öffnete 1956 die Ausstellung »Atomkraft im Dienste der Menschheit« ihre Pforten, ein Gemeinschaftsprojekt der Österreichischen Liga für die Vereinten Nationen und des United States Information Service.7 Die UNO beziehungsweise die UNESCO veranstaltete in den Jahren 1955, 1957, 1958 und 1964 in Genf und Paris große Konferenzen über »Peaceful Uses of Atomic Energy«, die die Anwendung der Atomenergie im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit diskutierten und als ein globales Projekt insze-
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Vgl. Lackner 2000, 202–203. Vgl. ebd., 203. Vgl. ebd., 204. Vgl. Heumann/Köhne 2008. Vgl. Lackner 2000, 207–208.
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nierten.8 Neben der Konstruktion, dem Betrieb und der Sicherheit von Atomreaktoren sowie der Beschaffung von atomarem Brennmaterial standen auf diesen Konferenzen die spezifizierten radioaktiven Stoffe im Mittelpunkt, die man mithilfe der Atomreaktoren in großen Mengen würde produzieren können und die als das zukunftsweisende Mittel gesellschaftlichen Fortschritts zu verstehen seien. Das Bundeskanzleramt instruierte 1955 die österreichischen Botschafter : »Die UNKonferenz wird allgemein als Auftakt des Atomzeitalters in der Wirtschaft betrachtet.«9 Ungefähr seit dieser Zeit berichtete der österreichische Botschafter aus Washington regelmäßig über die neuesten Entwicklungen auf dem Atomsektor. Das Bundeskanzleramt bemühte sich, die eingehenden Informationen zielgerecht an die entsprechenden Experten in der Wissenschaft weiterzureichen. So leitete man die Aussagen des Forschungsdirektors des britischen Atomic Energy Research Establishment in Harwell über die unglaublichen Möglichkeiten, die die Verwendung von radioaktiven Stoffen in Industrie und Forschung eröffneten, umgehend an die Direktorin des Wiener Instituts für Radiumforschung, Berta Karlik, weiter.10 Die österreichische Atomenergie-Kommission präsentierte auf einer ihrer ersten Sitzungen eine vollständige Liste bestehender und möglicher Anwendungen von radioaktiven Stoffen. Als Indikatoren ermöglichten Radioisotope nicht nur revolutionäre Forschungsansätze in Chemie, Medizin und Biologie. Denkbar waren auch vielfältige Verwendungsweisen in der Landwirtschaft wie die Sterilisierung und Verbesserung der Lagerfähigkeit von Lebensmitteln. Die medizinische Diagnostik erhoffte sich wesentliche Fortschritte durch den Einsatz radioaktiver Isotope, und in der medizinischen Therapie waren sie bereits als hochenergetische Strahler gefragt. Nicht zuletzt schien sich für Technik und Industrie ein neues Zeitalter der Produktionskontrolle, der Füllstand-, Verschleiß-, Abriss- und Dickenmessung sowie der Materialprüfung anzukündigen. Kurz : Bei der Isotopentechnik handelte es sich offenbar um eine Schlüsseltechnik, die in der Textil- und Papierindustrie, im Bergbau, in der Lebensmittelindustrie, der Landwirtschaft, ja selbst in der Archäologie, der Geologie, der Kriminalistik und der Theologie (bei der Datierung von Bibeltexten) angewendet werden sollte.11 8 Vgl. United Nations 1956 ; United Nations 1958 ; United Nations 1965 ; United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization 1958 ; vgl. auch die österreichische Reaktion : Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, ab sofort : ÖStA, AdR, 1 ZstB-Atom, Allgem., K 66, Umschlag : Geschäftszahl 65.159–1/57, darin : Drimmel, Vermerk vom 6.7.1957. 9 Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien, FE-Akten, Institut für Radiumforschung, ab sofort : AÖAW, FE-Akten, IR, Nachlass Berta Karlik, K 50, Fiche 729, Bundeskanzleramt, Auswärtige Angelegenheiten, ab sofort : BKA AA, an alle Botschaften vom 29.8.1955. 10 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 50, Fiche 724, BKA AA an Radiuminstitut vom 7.5.1955. 11 Vgl. AÖAW, FE-Akten IR, NL Karlik, K 50, Fiche 727, Hass : Exposé über die friedliche Verwendung der Atomenergie vom 26.3.1955.
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Im Folgenden wird beschrieben, wie sich die Verwendung von radioaktiven Stoffen in Österreich entwickelt hat, welche Besonderheiten hier anzutreffen sind und welche Bedeutung diese Stoffe für Österreichs Weg ins »Atomzeitalter« hatten. Die Spur radioaktiver Isotope ist Teil einer Geschichte, die nicht nur Energiepolitik beinhaltet, sondern ökonomische Zusammenhänge, Strukturen der österreichischen Wissenschaftslandschaft und das politische Geschehen auf internationaler Ebene miteinander verbindet. Ich möchte deshalb einen Blick auf die Isotopenwirtschaft in Österreich werfen und auf die Voraussetzungen, die die Atomenergie als Schlüsseltechnik ermöglichten : die Produktion, die Verarbeitung, die Distribution, die Verwendung und die Politik der radioaktiven Stoffe. Das Institut für Radiumforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien (ÖAW) und seine zentrale Rolle in diesem Geschehen stehen dabei im Mittelpunkt.
Die Vorgeschichte : radioaktive Stoffe in Österreich Maria Rentetzi hat beschrieben, wie radioaktive Stoffe jenseits institutioneller Grenzen zirkulierten und auf diese Weise Industrie, Wissenschaft und Konsum miteinander verknüpften.12 Tatsächlich war Österreich durch die Radiumvorkommen in den Uranminen im böhmischen Teil des Erzgebirges begünstigt. Verarbeitung, Handel und Verwertung radioaktiver Stoffe florierten schon bald, nachdem die Radioaktivität Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt worden war.13 Im Jahr 1934 gelang es Frédéric Joliot und Irène Curie erstmals, Radioaktivität auch künstlich herzustellen. Ihre Forschungen waren eine Sensation und wurden von anderen Strahlenchemikern sofort aufgegriffen. Als besonders effektiv beim Wettlauf um die künstliche Radioaktivität erwies sich der Einsatz von Elektronen- oder Neutronenbeschleunigern, Apparaten also, mit denen man allerhöchste Energien erzeugen konnte. Auf die Herstellung solcher Apparate spezialisierten sich in den 1930er-Jahren elektrotechnische Firmen wie Siemens in Berlin und Erlangen, Philips in Eindhoven und die C.H.F. Müller AG in Hamburg. Den Wiener Strahlenforschern gelang es Anfang der 1940er-Jahre, die Finanzierung für die Anschaffung eines prestigeträchtigen Neutronenbeschleunigers sicherzustellen.14 Allerdings dauerte es wegen der Kriegsereignisse einige Jahre, bis der Apparat in Betrieb genommen werden konnte. Indes verfügte das Wiener Institut für Radiumforschung über eine starke Neutronenquelle aus einem Radium-Beryllium-Gemisch, das 12 Vgl. Rentetzi 2008. 13 Vgl. Ceranski 2009, 424–433 ; vgl. auch Rentetzi 2008. 14 Vgl. den Beitrag von Silke Fengler in diesem Band.
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die Treibacher Chemischen Werke in Kärnten hergestellt hatten.15 Mit dieser Strahlenquelle konnten die Wiener Physiker und Physikerinnen sehr geringe Mengen künstlich radioaktiver Stoffe erzeugen, die sie für atomphysikalische Versuche verwendeten. Vereinzelt wurden auch medizinisch-biologische Versuche durchgeführt.16 Festzuhalten ist, dass es in Österreich bis Ende der 1940er-Jahre keine nennenswerten Bemühungen gab, künstliche Radioaktivität in Forschung, Medizin, Technik und Industrie einzuführen. In Deutschland war es zum Beispiel die – ursprünglich aus Österreich stammende – Auergesellschaft, die in den 1930er-Jahren erhebliche Anstrengungen unternahm, künstliche Radioisotope als Ersatz für Radium und seine Folgeprodukte in Anwendung zu bringen.17 Schon zu dieser Zeit zeichnete es sich ab, dass Radioisotope in den verschiedensten Bereichen würden angewendet werden können und sich als therapeutische und technische Substanzen und als effektive Miniinstrumente in Industrie und Forschung eigneten. Anfang der 1940er-Jahre existierte in Deutschland bereits ein Netz aus Instituten, Firmen und staatlichen Stellen, das die Erzeugung, Verarbeitung und Anwendung radioaktiver Isotope organisierte. Dieser Vernetzungsprozess ist typisch für die Etablierungsphase der Radioisotopentechnik.18
Zwischen Medizin und Stahl : Berta Karlik und das Isotopenlaboratorium Die Situation änderte sich für Österreich grundlegend, als 1946 und 1949 die ersten Atomreaktoren in den USA und in Großbritannien in Betrieb gingen. Von diesem Zeitpunkt an fand die Erzeugung radioaktiver Isotope in industriellem Maßstab statt. Dem Massenkonsum radioaktiver Stoffe stand technisch nichts mehr im Weg ; offen blieb jedoch die Frage, wie dieser organisiert werden sollte. In den USA übernahm die Atomic Energy Commission (AEC) die Aufgabe, die Verteilung von radioaktiven Isotopen zentral zu verwalten und zu überwachen. Der Isotopen-Handel wuchs rasant. Bald schon belieferte die AEC im Rahmen ihres Isotope Distribution Program Insti-
15 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, K 32, Fiche 445, Ortner an Reichswirtschaftsamt, ab sofort : RWA, vom 5.10.1943. Die Neutronenquelle gehörte formal dem Institut für Radiumforschung, stand aber auch für die Arbeiten am Neutroneninstitut zur Verfügung. Vgl. ebd., K 32, Fiche 446, Ortner an RWA vom 31.5.1944. 16 Vgl. Archiv des Deutschen Museums München, Berichte des deutschen Atom-Programms 1938–1945, G-345, Bericht über das II. Physikalische Institut der Wiener Universität derzeit in Thumersbach bei Zell am See Salzburg (Austria) vom 1.7.1945. 17 Vgl. Gausemeier 2004, 177 ; Schmaltz 2005, 258–267. 18 Vgl. Schwerin 2009.
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tute, Forschungseinrichtungen und Firmen in den USA und der ganzen Welt.19 Bereits 1947 versuchte ein österreichischer Betrieb, direkt bei der AEC radioaktive Isotope zu bestellen.20 Bei dieser Gelegenheit zeigte sich, dass der Handel mit radioaktiven Isotopen nicht nur ein technisches, logistisches und ökonomisches Problem darstellte, sondern in die politisch-diplomatische Aushandlung der Weltordnung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eingebettet war. Die Amerikaner, die schon aus wirtschaftlichen Gründen ihre Monopolstellung beim Vertrieb von Radioisotopen halten wollten, ließen es sich nicht entgehen, den Zugang zu radioaktiven Techniken und Materialien auch im Ringen um die Vormachtstellung der Systeme strategisch zu nutzen.21 Die Engländer indes hängten im Wettbewerb mit den USA die Hürden nicht so hoch und belieferten auch die ehemaligen Kriegsgegner Österreich und Deutschland, sobald ihr eigener Versuchsreaktor seinen Betrieb aufgenommen hatte.22 Im Herbst 1949 versendete das Atomic Energy Research Establishment in Harwell die ersten Lieferungen radioaktiver Stoffe nach Österreich, die anfänglich zumindest teilweise durch einen Fonds der Rockefeller-Stiftung bezahlt wurden.23 Allerdings forderten die Briten, dass eine verantwortliche Stelle vor Ort die Verteilung der Lieferungen übernehmen und die Kontrolle über die radioaktiven Stoffe behalten sollte.24 Die Wahl fiel schnell auf das Institut für Radiumforschung der ÖAW ; denn dies war bekanntlich die Institution, die über die größte Erfahrung im Umgang mit radioaktiven Stoffen verfügte.25 Das Institut für Radiumforschung gehörte nicht nur zu den wichtigen Forschungseinrichtungen der Radiumforschung, die sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Europa etablierten, sondern war schon immer eine Schaltstelle beim Verkehr und der
19 Vgl. Creager 2006 ; speziell zu Lieferungen nach Europa Creager 2002a. 20 Vgl. National Archives and Records Administration, Washington, DC, ab sofort : NARA, RG 326, E 67A, Box 46, F. 411.43, Walter J. Williams : Availability of Radioisotopes for Export vom 19.6.1947, Appendix : List of Foreign Countries. 21 Creager 2009. 22 Herran 2009, 292–294. 23 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 55, Fiche 816, Karlik an Robins vom 25.3.1952 ; ebd., K 51, Fiche 751, Karlik, Reply to the questionaire vom 22.10.1954. 24 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 49, Fiche 720, Karlik an Mayer vom 21.12.1955 ; ebd., K 55, Fiche 816, Karlik an Schönbauer vom 7.1.1956. 25 Entsprechende Absprachen erfolgten mit dem British Scientific Control Branch in Göttingen und der Education Division of the British Element of the Allied Commission in Austria. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 55, Fiche 816, Karlik an Akademie der Wissenschaften, ab sofort : ÖAW, vom 14.11.1950, Bericht über die Verteilung von radioaktiven Isotopen an österreichischen Forschungseinrichtungen und Spitälern ; ebd. : Karlik an Robins vom 25.3.1952 ; ebd., K 56, Fiche 829, Karlik an Ebert vom 11.1.1954, Anlage : Karlik : Bericht über die »Isotopenstelle«.
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Vermittlung von radioaktiven Stoffen gewesen.26 Nach Ende des Zweiten Weltkriegs leitete die Physikerin Berta Karlik das Institut zunächst provisorisch. 1950 wurde sie zur außerordentlichen Professorin für Physik an der philosophischen Fakultät in Wien ernannt – die erste Frau, der das gelang – und zum Vorstand des Instituts für Radiumforschung bestellt.27 Karlik nahm die Verteilung und Kontrolle radioaktiver Isotope tatkräftig in Angriff und machte sich die Aufgabe schnell zur eigenen Sache. Sie konnte sich auf die Mitarbeit ihrer Assistenten stützen, die Radiochemiker Fritz Hernegger und Fritz Havliczek. Letzterer besaß als ehemaliger Industriemitarbeiter wertvolles technisches Know-how.28 Mit der Leitung der Zentralstelle für die Verteilung von Isotopen, wie die Isotopenstelle bald genannt wurde, betraute Karlik ihre ehemalige Doktorandin Traude Bernert. Es gelang ihr allerdings nicht, Bernert eine feste Stelle zu verschaffen.29 Erst 1956 übernahm das Bundesministerium für Unterricht die Bezahlung von Bernerts Stelle.30 Die österreichischen Behörden unterstützten die »Isotopenaktion« (Bernert) durch Zollerleichterungen oder Ähnliches. Dadurch konnte die Isotopenstelle die Bestellung und Auslieferung der Isotopensendungen in Absprache mit dem Bundesministerium für Soziale Verwaltung und dem Arbeitsinspectorat, das für die Kontrolle von Arbeitsschutzvorkehrungen und damit auch den betrieblichen Strahlenschutz zuständig war, zunächst gebührenfrei durchführen.31 Der Großteil der eingeführten radioaktiven Stoffe war für medizinische Zwecke bestimmt. Anfang 1952 standen 19 Kliniken, medizinische Institute und Spitäler und vier chemische Laboratorien auf Karliks
26 Siehe auch den Beitrag von Christian Forstner in diesem Band. 27 Karlik wurde 1946 der Titel eines außerordentlichen Professors verliehen, 1956 erhielt sie den Titel eines ordentlichen Professors. Damit einhergehend wurde die Vorstandstelle des von der ÖAW betriebenen Instituts für Radiumforschung, das Karlik nach dem Ausscheiden von Gustav Ortner im Mai 1945 zunächst provisorisch und ab 1947 dauerhaft leitete, zu einer Ordinariatsstelle erhoben. Vgl. AÖAW, FEAkten, IR, NL Karlik, K 39, Fiche 575, Univ.-Prof. Dr. phil Berta Karlik, Curriculum vitae ; ebd., K 40, Fiche 588, Ebert an Karlik, handschriftlich, vom 2.2.1956. 28 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 39, Fiche 574, Karlik an Verwaltungsstelle der wissenschaftlichen Hochschulen vom 24.6.1946. 29 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 39, Fiche 574, Karlik an Jackson vom 15.2.1960. 1946 wollte Karlik Bernert als Nachfolgerin des ausgeschiedenen Assistenten Fritz Krankl anstellen. Obwohl die oberösterreichische Sonderkommission Bernert als nicht belastet einstufte, scheiterte das Vorhaben vermutlich an Bernerts früherer NSDAP-Mitgliedschaft, die Karlik als »jugendlichen Idealismus« zu entschuldigen versuchte. Bernert lebte dann von einem Stipendium der ÖAW und einer Hinterbliebenenrente. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 39, Fiche 574, O.-Ö. Landeshauptmannschaft an Bernert vom 3.5.1946 ; ebd. : Karlik an Verwaltungsstelle der wissenschaftlichen Hochschulen vom 24.6.1946 ; AÖAW, FE-Akten, IR, K 5, Fiche 99–100, Karlik an Kuratorium vom 19.2.1955. 30 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, K 5, Fiche 99–100, Karlik an Kuratorium vom 13.9.1955. 31 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 44, Fiche 639, Karlik an Hammer vom 31.8.55 ; Bernert 1954, 246.
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Kundenliste.32 Zu den ersten Interessenten aus der Industrie gehörten Stahlwerke und Stahlbaufirmen wie Schoeller-Bleckmann, die Böhler-Werke, VOEST und WaagnerBiro, die an der Möglichkeit interessiert waren, starke Strahlenquellen für die zerstörungsfreie Werkstoffprüfung zu nutzen ; andere Abnehmer waren Gewerbe wie die Wiener Farben- und Mineralwerke Otto Hardung.33 Im Vergleich zur Medizin zeigten Industrie und Gewerbe aber nur verhaltenes Interesse am Einsatz der neuen Isotopentechniken. Zu den medizinischen Anwendungsgebieten zählten der diagnostische Einsatz, die Tumortherapie, aber auch die Behandlung von Blutkrankheiten, von Hyperthyreosen und Morbus Bechterew.34 Ein Zentrum der Radioisotopenanwendung war die II. Medizinische Klinik in Wien. Zwischen 1950 und 1955 initiierte ihr Vorstand Karl Fellinger zahlreiche diagnostische und therapeutische Arbeiten mit radioaktivem Iod, Phosphor, Gold und Natrium, in die um die 1.400 Patienten mit Schilddrüsen-, Kreislauf- oder Krebserkrankungen einbezogen wurden.35 Vordringliches Ziel war die Krankheitsdiagnostik : Die Mediziner führten 3.000 Speichertests, 800 Plasmatests und 80 Lagebestimmungen von Tumoren durch.36 Fellinger engagierte sich zudem als Organisator eines jährlich in Badgastein stattfindenden international besuchten Symposiums zur Anwendung von radioaktiven Isotopen in Klinik und Forschung. Ärzte und Ärztinnen hatten mit der therapeutischen oder diagnostischen Verwendung von radioaktiven Isotopen bis zu dieser Zeit wenig Erfahrung.37 Prinzipiell musste davon ausgegangen werden, dass die Anwendung von künstlichen Radioisotopen, insbesondere wenn sie in den Körper eingeführt werden sollten, nicht ohne Gefahr war. Neben Heilversuchen wurde aber auch ohne therapeutischen Nutzen – und damit in einem ethisch problematischen Bereich – mit Isotopen geforscht, so etwa an der I. Universitätsfrauenklinik am Allgemeinen Krankenhaus in Wien. Ärzte führten hier Ende der 1940er-Jahre erste Untersuchungen mit radioaktiven Isotopen durch.38 Sie injizierten schwangeren Frauen, die zum Zweck einer Abtreibung an die Klinik gekommen waren, kurz vor dem Eingriff Radiophosphor, um später am abgetriebenen Fötus 32 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 55, Fiche 816, Karlik an Robins vom 25.3.1952 : List of institutions who have received radioisotopes up to March 1952. 33 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 55, Fiche 816, Hardung an Karlik vom 11.9.1952 ; Bernert 1954, 254. 34 Vgl. ebd., 247. 35 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 41, Fiche 591, Fellinger an Karlik vom 26.4.1955 : Anlage. 36 Vgl. ÖStA, AdR, Bundesministerium für Unterricht, ab sofort : BMU, 1 ZstB-Atom, Allg., K 63, Mappe mit Geschäftszeichen 66.712–1/55, darin : Karlik : Memorandum Österreichs über die friedliche Verwertung der Atomenergie vom 24.6.1955, S. 3. 37 Vgl. Schwerin 2009, 19–24. 38 Vgl. Bernert 1954, 247.
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zu untersuchen, inwieweit der Stoff in der Lage war, die Plazenta zu durchqueren und wie er sich im fötalen Organismus verteilte.39 Im Grunde war jede Behandlung mit radioaktiven Stoffen ein Experiment, da es an Erfahrung fehlte und keine Protokolle für ein standardisiertes Vorgehen existierten. Die entscheidende Frage war immer wieder, welche Strahlendosis ausreichte, um einen therapeutischen Effekt zu erzielen. Es war aber auch unklar, welche Mengen man an radioaktiver Substanz injizieren konnte, ohne den Patienten oder die Patientin zu gefährden. Über die richtige Dosierung gab es ganz unterschiedliche Auffassungen, wie Franz Hammer, Facharzt für Röntgenologie und Strahlenheilkunde am Zentralen Röntgen- und Radiuminstitut des Allgemeinen öffentlichen Krankenhaus in Linz, Karlik gegenüber erklärte.40 Hammer experimentierte mit Radiophosphor, Iod 131, Gold 198 und Cobalt 60 in der Behandlung verschiedener Krankheitsbilder wie Drüsentumoren (malignen Strumen), Blutkrankheiten (Polycythämie, Leukämie) oder Metastasen. Durchschlagenden Erfolg konnte er nicht vermelden, aber eine seiner Methoden, war Hammer überzeugt, »könnte Zukunft haben«.41 Die radioaktive Behandlung war eine Gratwanderung, die auch für die Mediziner negative Konsequenzen haben konnte. So gab es immer wieder Patienten und Patientinnen, die Ärzte und Ärztinnen auf Kunstfehler verklagten. Solche Vorkommnisse erhöhten ebenso wie die seit Mitte der 1950er-Jahre diskutierten gesetzlichen Regelungen zum Strahlenschutz die Notwendigkeit, die Behandlungsabläufe zu standardisieren. Die Dynamik der Isotopenwirtschaft Anfang der 1950er-Jahre erweiterten sich die Bezugsmöglichkeiten für radioaktive Stoffe noch einmal beträchtlich. Entscheidend dafür war, dass die USA nun auch Österreich in den Kreis bevorzugter Staaten aufnahm, mit denen sie in der Entwicklung der Atomenergie kooperierten. Österreich war für die USA ein besonders interessanter Partner, den es zu umwerben galt, da Österreichs künftige Rolle in der neuen Ordnung der Staatengemeinschaft und im Systemkonflikt noch nicht entschieden war.42 Das Institut für Radiumforschung erhielt 1953 von den amerikanischen Behörden die Genehmigung, über die AEC Radioisotope aus den USA zu beziehen.43 Es folgten 39 40 41 42 43
Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 39, Fiche 569, Antoine an Karlik vom 1.12.1949. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 44, Fiche 639, Hammer an Karlik vom 24.9.1955. Ebd. Vgl. Rathkolb 1997 ; Thoß 2010, 27. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 55, Fiche 816, BKA AA an Institut für Radiumforschung vom 1.4.1953 ; ebd. : Karlik an Robins vom 25.3.1952 ; ebd., K 56, Fiche 829, Karlik an Ebert vom 11.1.1954, Anlage : Karlik : Bericht über die »Isotopenstelle«.
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Bezugsmöglichkeiten aus Kanada, Frankreich und den Niederlanden.44 Österreichische Forschungsstellen und Betriebe nutzten diese Möglichkeiten zunehmend. Im März 1952 standen 20 österreichische Institute auf der Lieferliste des Instituts für Radiumforschung.45 Mitte der 1950er-Jahre belieferte die Isotopenstelle 30 Kliniken und Spitäler, zwölf Forschungseinrichtungen und sieben technische Anwender der Isotopentechnik.46 Mitte der 1960er-Jahre waren knapp 80 Nutzer aus allen Branchen gemeldet.47 Die Struktur der österreichischen Isotopenökonomie lässt sich anhand der Zahl der radioaktiven Präparate, die nach Österreich importiert wurden, weiter konkretisieren. Die Zahl importierter Präparate stieg von vier im Jahr 1949 auf 189 im Jahr 1952, schnellte ein Jahr später auf 558 hoch und lag 1954 schließlich bei 821.48 Der zur Anzahl der Nutzer überproportionale Zuwachs erklärt sich dadurch, dass sich bestimmte Kunden der Isotopenstelle auf die Anwendung der radioaktiven Techniken spezialisierten. Dazu zählten in erster Linie medizinische Abteilungen, die die Radioisotopentechnik routinemäßig in Diagnostik und Therapie anzuwenden begannen. Von den 821 Präparaten im Jahr 1954 gingen nur 21 an die Forschung und 13 an die Industrie. Dementsprechend unzufrieden äußerte sich der Vorstand des I. Chemischen Laboratoriums der Wiener Universität, Ludwig Ebert, der Karlik in allen ihren Bestrebungen unterstützte.49 Insbesondere die industrielle Anwendung der Isotopentechnik sei bei Weitem nicht ausgeschöpft. Ebert drängte aus diesem Grund darauf, die Förderung des Nachwuchses systematisch anzugehen. Nachwuchsmangel beziehungsweise das Fehlen der notwendigen Fachkompetenz im Umgang mit Isotopen waren nicht nur in Österreich der Flaschenhals beim quantitativen Ausbau der radioaktiven Techniken. Wie später gezeigt wird, setzte Karlik diese Anregung bald in ein spezielles Fortbildungsprogramm um. Grundsätzlich fügt sich die Entwicklung in Österreich in das Gesamtbild, das wir von der Radioisotopentechnik haben, gut ein, wenn sie auch, relativ gesehen, hinter der schnellen Verbreitung der Radioisotopentechnik in den USA, England, aber auch der 44 Vgl. Bernert 1954, 246. 45 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 55, Fiche 816, Karlik an Robins vom 25.3.1952 : List of institutions who have received radioisotopes up to March 1952. 46 Vgl. ÖStA, AdR, BMU, 1 ZstB-Atom, Allg., K 63, Mappe mit Geschäftszeichen 66.712–1/55, darin : Karlik : Memorandum Österreichs über die friedliche Verwertung der Atomenergie vom 24.6.1955, S. 3 ; Bernert 1954. 47 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 50, Fiche 734, Karlik an Bundesministerium für Justiz vom 23.2.1966. 48 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 40, Fiche 588, Verbrauch von radioaktiven Isotopen in Österreich. 49 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 40, Fiche 588, Ebert an Karlik vom 22.4.1955.
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Bundesrepublik Deutschland zurückstand. Zwischen 1946 und 1955 organisierte die US-amerikanische AEC 64.000 Versendungen von radioaktiven Stoffen in die ganze Welt.50 Das britische Programm verlief zu dieser Zeit sogar noch deutlich erfolgreicher.51 Die AEC zählte Mitte der 1950er-Jahre 1.200 Anwender der Isotopentechnik in den USA, Ende des Jahrzehnts waren es 5.417 ; die westdeutschen Behörden registrierten 442 Anwender und waren optimistisch, dass die steigende Tendenz auch in Zukunft anhalten würde, weil die Industrie erst einen Bruchteil jener Möglichkeiten nutze, die ihr die Strahlentechnik böte.52 Österreich partizipierte an einer beeindruckenden ökonomischen Entwicklung, die Mitte der 1950er-Jahre die Visionäre des Atomzeitalters in ihrem Glauben bestärkte, dass die Ökonomie der Industriestaaten, deren Energiebasis in Europa noch größtenteils auf Kohle basierte, durch Atomenergie und radioaktive Techniken überformt werde. Die Dynamik, die die Massenproduktion von Radioisotopen auslöste, übertrug sich auch auf die Wissenschaft. Die Konsequenz war, dass bald ganze Forschungsbereiche von der Versorgung mit radioaktiven Isotopen abhängig waren. Von der physiologischmedizinischen Forschung über die biochemische Aufschlüsselung des Stoffwechsels bis hin zur molekularbiologischen Revolution : Die Anwendung radioaktiver Methoden zählte in manchen biologischen und medizinischen Forschungsbereichen schon Ende der 1950er-Jahre zum Standardrepertoire.53 Die Zahl der physikalischen und biowissenschaftlichen Publikationen, die auf der Anwendung von radioaktiven Isotopen basierten, stieg von einigen Hundert Artikeln jährlich bereits im Jahr 1955 auf weit über 1.000, 1960 auf über 5.000 und 1965 auf knapp 10.000 an.54 Die österreichischen Forscher und Forscherinnen hatten an diesem Boom mit 54 veröffentlichten Artikeln in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre einen eher kleinen Anteil.55 Mindestens genauso beeindruckend verlief die industrielle Anwendung von radioaktiven Isotopen. Überhaupt scheint die Bedeutung dieses Bereichs für die Gesamtdynamik im Rückblick übersehen worden zu sein. In Ländern wie den USA und England überflügelte der Isotopenhunger der Industrie sehr schnell den Verbrauch in der Medizin und in der Forschung.56 In Westdeutschland gab es schon 1956 mehr Anwender 50 Vgl. Creager 2006, 651–652. 51 Vgl. Herran 2009, 292. 52 Vgl. N.N. 1960 ; Universitätsarchiv Freiburg, C47, 54, Bl. 8 u. 14, Bericht über die Verwendung radioaktiver Isotope (Stand 31.12.1956). 53 Zur Radioisotopenindustrie vgl. Rheinberger 2006, 245–291 ; Creager 2002b ; zur Radioisotopentechnik als grundlegende Technik der Molekularbiologie und in der Biomedizin vgl. Rheinberger 1998 ; Creager 2006 ; Kraft 2006. 54 Vgl. Herran 2009, 300. 55 Auswertung der aufgeführten Publikationen in Bernert 1954. 56 Vgl. N.N. 1956.
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aus Industrie und gewerblicher Wirtschaft als in der Forschung und zwei Jahre später auch mehr als Kliniken und Krankenhäuser, die mit Radioisotopen arbeiteten ; 1960 betrug die Zahl industrieller Anwender 752, die in Medizin und Forschung zusammengenommen 664.57 Zu den Hauptbranchen, die die unterschiedlichsten radioisotopentechnischen Verfahren zur Anwendung brachten, gehörten an erster Stelle die Holz-, Zellstoff- und Papierindustrie sowie der Maschinen-, Stahl-, Fahrzeug- und Schiffbau, gefolgt von der chemischen und Erdölindustrie, der Elektrotechnik, Feinmechanik, Optik, Eisen- und Stahlindustrie sowie die Elektrizitäts-, Gas- und Wasserwirtschaft, Textilindustrie, Kautschukverarbeitung und weitere kleinere Anwendungsbereiche wie der Bergbau.58 Für Österreich liegen keine Zahlenangaben vor, weil die industriellen Verwender nicht aufgeschlüsselt wurden. Nach der Korrespondenz der Isotopenstelle zu urteilen, blieb jedoch das industrielle Interesse über die ganzen 1950er-Jahre hinweg klar hinter der Nachfrage aus Wissenschaft und Medizin zurück. Die schwache Resonanz in der Industrie bewog die Verantwortlichen Anfang der 1960er-Jahre, im neu errichteten Forschungs- und Reaktorzentrum Seibersdorf eine Abteilung »Industrieberatung und Isotopenanwendung« einzurichten, die die Isotopenanwendung in der Industrie fördern sollte.
Biowissenschaftliche Forschung und die Sonderrolle von Engelbert Broda Ein weiterer Unterschied zu der Entwicklung in den USA oder im Nachbarland Deutschland betraf die biologische Forschung. Biologen in Österreich zeigten kaum Interesse an der neuen Technik. Ende der 1950er-Jahre gaben die Universitäten und Hochschulen dem Bundesministerium für Unterricht 29 biologische und medizinische Institute bekannt, die mit radioaktiven Isotopen arbeiteten (siehe Tab. 1).59
57 Vgl. ebd. ; Universitätsarchiv Freiburg, C47, 54, Bl. 14, Bericht über die Verwendung radioaktiver Isotope. 58 Ebd., 18. 59 Vgl. ÖStA, AdR, BMU, 1 ZstB-Atom, Int. Org., K 84, Diverse Akten mit dem Betreff : Zusammenstellung aller Institute in Österreich, die auf dem Gebiete der Medizin und Biologie mit Isotopen arbeiten.
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Fakultät der Naturwissenschaften, TH in Graz Institut für Biochemie, Technologie und Lebensmittelchemie und Institut für Mikrochemie (Vorstand Georg Gorbach)
L
Institute für Anorganische und Physikalische Chemie (Kurator Heribert Grubitsch)
C
Karl-Franzens-Universität, Graz Zentralröntgeninstitut und radiologische Universitäts-Klinik Graz (Vorstand Anton Leb)
M
Medizinische Universitäts-Klinik, Landeskrankenhaus (Vorstand Karl Gotsch)
M
Psychiatrisch-neurologische Universitäts-Klinik, Landeskrankenhaus (stellvertretender Leiter Hans Bertha)
M
Medizinisch-chemisches Universitäts-Institut und Pregl-Laboratorium (Vorstand Hans Lieb)
M
Universität Innsbruck Physiologisches und Balneologisches Institut (Vorstand Ferdinand Scheminzky)
M
Medizinisch-chemisches Institut (Vorstand Richard Stöhr)
M
Zentral-Röntgen-Institut, Allgemeines Krankenhaus (Vorstand Ernst Ruckensteiner)
M
Institut für Hygiene und Mikrobiologie (Vorstand Alfred Schinzel)
M
Universität Wien Institut für medizinische Physik (Vorstand Fritz Hauer)
M
Histologisch-embryologisches Institut (Vorstand Alfred Pischinger)
M
Physiologisches Institut (Vorstand Gustav Schubert)
B ( ?)
Neurologisches Institut (Vorstand Hans Hoff)
M
Institut für gerichtliche Medizin (stellvertretender Leiter Wilhelm Holczabek)
M
Zentral-Röntgeninstitut (Vorstand Ernst Georg Mayer)
M
Universitäts-Zahnklinik (Vorstand Fritz Driak)
M
I. medizinische Klinik (Vorstand Ernst Kauda)
M
I. Frauenklinik (Vorstand Tassilo Antoine)
M
II. Frauenklinik (Vorstand Hans Zacherl)
M
I. Augenklinik (Vorstand Arnold Pillat)
M
II. chirurgische Klinik (Vorstand Hubert Kunz)
M
Psychiatrische Klinik (Vorstand Hans Hoff)
M
Klinik für Geschlechts- und Hautkrankheiten (Vorstand Albert Wiedemann)
M
Hochschule für Bodenkultur Wien Botanisches Institut (Vorstand Josef Kisser)
B
Institut für Holzforschung (Vorstand Hermann Flatscher)
L
Institut für Forstentomologie und Forstschutz
L
Institut für angewandte Mikrobiologie und biologische Untersuchungsmethoden (Vorstand Armin Szilvinyi)
B
Tierärztliche Hochschule in Wien Institut für Physiologie der tierärztlichen Hochschule (Vorstand Alfred Kment)
L
Tabelle 1 : Zusammenstellung aller Institute in Österreich, die Ende der 1950er-Jahre in den Universitäten auf dem Gebiet der Medizin und Biologie mit Radioisotopen arbeiteten.60 Aufgeführt sind die Institute laut Angabe sowie die historiografische Zuordnung zur medizinischen (M), biologischen (B), chemischen (C) beziehungsweise landwirtschaftlichen Forschung (L) in der rechten Spalte.
60 Vgl. ebd.
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Unter den aufgeführten Einrichtungen befanden sich in erster Linie Kliniken und medizinische Forschungseinrichtungen.61 Die biologischen Forschungsstätten spielten dagegen nahezu keine Rolle. Eine Reihe von Forschungsaktivitäten fand indes in der Landwirtschaft statt. Zwar arbeiteten nur wenige Forschungsstätten mit radioaktiven Stoffen – so das Institut für Tierzucht, Fütterungskunde und Alpwirtschaft der Hochschule für Bodenkunde in Wien, die Lehrkanzel für Physiologie der tierärztlichen Hochschule und die Bundesanstalt für Pflanzenschutz –, diese wenigen nutzten die neue Technik aber intensiv.62 So führte das Institut für Tierzucht, Fütterungskunde und Alpwirtschaft unter Johann W. Amschler seit 1953 Versuche durch, die unter anderem auf die Futterverwertung von Rindern abzielten. Diese Versuche wurden durch verschiedene Institutionen unterstützt : durch das Bundesministerium für Unterricht, das 1952 einen Geiger-Zähler bezahlte, durch Mittel aus dem durch die USA finanzierten Europäischen Aufbauprogramm für weitere Gerätschaften und laufende Kosten und durch das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, das weitere Versuche finanzierte.63 Auch die Industrie führte landwirtschaftliche Forschung durch. Die Österreichische Stickstoffwerke AG in Linz gehörte zu den ersten Kooperationspartnern des Wiener Isotopenlaboratoriums und verfolgte seit 1951 zielstrebig die Einführung der Radioisotopentechnik in der firmeneigenen biologischen Forschungsabteilung, um insbesondere die Aufnahme, Verstoffwechselung und Sättigung von Phosphatdünger zu untersuchen.64 Leiter der Radioisotopenforschung in den Stickstoffwerken war der Physiker Karl Kaindl, der Karlik seit dem Zweiten Weltkrieg kannte, als er Mitarbeiter des am II. Physikalischen Institut der Universität Wien untergebrachten Vierjahresplaninstituts für Neutronenforschung gewesen war.65 Mithilfe von Karlik und ihrer Mitarbeiterin Bernert richtete Kaindl einen bescheidenen Arbeitsplatz für radioaktive Messungen ein, der mit der Zeit zu einem eigenen Isotopenlaboratorium ausgebaut wurde.66 61 Darüber hinaus hatten bis 1956 22 Spitäler, Landeskrankenhäuser und Krankenanstalten Radioisotope in Verwendung genommen. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 41, Fiche 591, Karlik an Fellinger vom 2.2.1957, Liste der Kliniken, Spitäler und Biologischen Institute, die bisher in Österreich Radioisotope verwendet und über das Institut für Radiumforschung und Kernphysik bezogen haben. 62 Drei landwirtschaftliche Forschungsstellen bearbeiteten 17 verschiedene Forschungsprojekte, in denen ganz verschiedene Radioisotopen zum Einsatz kamen. Vgl. AÖAW, IR, NL Karlik, K 50, Fiche 734, Bundesministerium für Land- und Fortwirtschaft : Forschungsprogramme der Versuche mit ATE. 63 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 50, Fiche 734, Amschler : Kurzberichte über bisher durchgeführte Versuche mit ATE. 64 Vgl. Bernert 1954, 250. 65 Vgl. AÖAW, FE-Akten, Vierjahresplaninstitut für Neutronenforschung, Akten, Personal, K2, Fiche 9, Kraus an Kaindl vom 7.9.1945. 66 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 43, Fiche 628, Kaindl an Karlik vom 16.5.1961.
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Kaindls Industrielaboratorium mit Zugang zur industriellen Produktion war wiederum für die universitäre Forschung attraktiv. Ein anderer wichtiger Partner für Kaindl war Karliks Instituts-Nachbar Engelbert Broda am I. Chemischen Institut der Universität Wien. Der erste Kontakt entstand, als der Wiener Chemiker anregte, zusammen in die Produktion der gefragten radioaktiven Kohlenstoffverbindungen einzusteigen. Die Stickstoffwerke lehnten jedoch ab, da der Markt für solche Produkte in Österreich zu klein und die Konkurrenz im Ausland zu groß sei.67 Davon abgesehen war Kaindl aber sehr an einer Forschungskooperation mit Broda interessiert ; denn diese Verbindung ermöglichte dem Industrielaboratorium, an Brodas exzellentem Wissen und Know-how auf dem Gebiet der Radioaktivität und der Radioisotopentechniken zu partizipieren.68 Die Zusammenarbeit, die sich zwischen Broda und Kaindl ergab, führte allerdings auf ein sehr ungewöhnliches Gebiet, jedenfalls aus Sicht der Stickstoff AG : von der Chemie in die Biochemie und Virusforschung. Die Virusforschung war zu dieser Zeit vor allem das Betätigungsfeld von Biochemikern, und die Biochemie erwies sich in den USA und verschiedenen europäischen Ländern als der Forschungsbereich, von dem entscheidende Impulse für die Entwicklung der Molekularbiologie ausgingen. In diesem Grenzgebiet zwischen Chemie, Biochemie und Molekularbiologie bewegte sich Broda. Nachdem Broda im Jahr 1947 aus britischer Emigration an das von Ludwig Ebert geleitete I. Chemische Laboratorium zurückgekehrt war, richtete er dort ein radiochemisches Laboratorium ein, an dem in den kommenden Jahren maßgebliche Arbeiten zur radiochemischen Methodik durchgeführt wurden.69 Die radiochemische Abteilung war insbesondere in den 1950er-Jahren die einzige Forschungsstätte in Österreich, die sich systematisch mit molekularbiologischen Fragestellungen befasste. Broda und seine Mitarbeiter arbeiteten mit dem Tabakmosaikvirus (TMV) und stellten in Kooperation mit den Stickstoffwerken aus den gelieferten radioaktiven Ausgangsstoffen chemisch markierte Verbindungen her, um den Austausch von Bestandteilen zwischen Virus und Wirtszelle zu erforschen.70 Brodas Gruppe gehörte damit zu einem kleinen Kreis weltweiter Forschungsgruppen, die sich mit dem TMV befassten. Die 67 Vgl. Zentralbibliothek Physik, Wien, ab sofort : ZBP, Nachlass Engelbert Broda, Box 57, File 119, Österreichische Stickstoffwerke, Max Naumann an Broda vom 20.5.1953. 68 Broda stand auch in engem Kontakt mit dem späteren Leiter der Biologischen Forschungsabteilung Hans Linser, der zugleich Dozent an der TH in Wien und an der Hochschule für Bodenkultur in Wien war. Vgl. ZBP, NL Broda, Box 57, File 119, Korrespondenz mit Linser. 69 Vgl. Broda 1965 ; Oberkofler/Goller 1993, 19–24. 70 Vgl. Bernert 1954, 249 ; Broda 1957, 91–92 ; vgl. ZBP, NL Broda, Box 57, File 119, Manuskript : Aus der Werkstatt des Forschers, Anlage zu : Broda an Hochschulzeitung vom 21.9.1956.
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Entscheidung, auf das TMV als geeignetes Modellobjekt zu setzen, sollte sich auszahlen. Ende der 1950er-Jahre eröffneten radiochemische Experimente, die eine Gruppe in Deutschland mit dem TMV durchführte, erste wesentliche Einblicke in den »genetischen Code«.71 Es erstaunt insofern nicht, dass Broda auch sonst zu »den bekanntesten und in der Öffentlichkeit profilierten Protagonisten und Propagandisten der Atomtechnik« zählte.72 Der auch politisch engagierte Broda setzte sich mit aller Energie für die Etablierung der Isotopentechnik ein. In den ersten Jahren, in denen es noch kein koordiniertes staatliches Programm zur Nutzung der Atomenergie gab, war er neben Karlik der entscheidende Akteur bei der Einführung der Isotopentechnik in Österreich. Als Assistent des ingeniösen und später in die USA emigrierten Chemikers Hermann Mark hatte er sich in den 1930er-Jahren mit der Anwendung chemischer Analysemethoden in der Materialprüfung befasst.73 Zurückgekehrt aus seiner Emigration in England arbeitete sich Broda in die Methodik radioaktiver Markierung ein und begann, sie nach Kräften zu propagieren – und zwar nicht nur für biochemische Zwecke.74 Mit seinem Mitarbeiter Thomas Schönfeld verfasste er Einführungen in die technische Anwendung der Radioisotopenmethode sowie ihre Verwendung in der Mikrochemie, machte auf die Anwendungsmöglichkeiten in der Metallurgie aufmerksam und veröffentlichte schließlich das erste deutschsprachige Handbuch, das umfassend über die radiochemischen Methoden in der biochemischen Forschung informierte.75 Broda war zwar nicht wie Karlik Mitglied in Entscheidungs- und Lenkungsgremien – eventuell wurde er als bekennender Kommunist ausgegrenzt –, förderte dennoch mit umtriebigen Einsatz die Einführung der neuen Technik in Forschung und Industrie.76 Neben den Verbindungen zur Österreichischen Stickstoffwerke AG bemühte sich Broda um andere Unternehmen wie die Zellwolle Lenzing AG, die Alpen-Glimmerwerke GmbH oder die Hütte Liezen GmbH und Industrieverbände wie den Technisch-wissenschaftlichen Verein Eisenhütte Österreich. Karlik und Broda sind Beispiele für jene Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen an der Schnittstelle von Forschung, Politik und Öffentlichkeit, die schon sehr früh auf den universellen Nutzen der Isotopentechnik als Schlüsseltechnik abhoben und zu den wichtigen nationalen und internationalen Stichwortgebern des Atomzeitalters gehörten. 71 72 73 74 75 76
Vgl. ausführlich zu den Forschungen der deutschen Arbeitsgruppe Brandt 2004, 232. Lackner 2000, 205. Vgl. Broda 1937 ; zur Biografie vgl. Oberkofler/Goller 1993. Vgl. Broda 1951. Vgl. Broda/Schönfeld 1955 ; Broda 1956 ; Broda/Schönfeld 1956 ; Broda 1958. Broda pflegte zeitlebens gute und intensive Verbindungen zu Wissenschaftlern aus der DDR. Vgl. Oberkofler/Goller 1993.
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Der Einstieg in das Atomzeitalter Der offizielle Einstieg Österreichs in das Atomzeitalter fällt mit der Erlangung der staatlichen Souveränität im Jahr 1955 zusammen. Zwar musste sich Österreich auf Druck der Sowjetunion zur Neutralität verpflichten ; sehr schnell ging das Bundeskanzleramt aber die Frage der Atomenergie an und gründete eine Atomenergiekommission, die die Perspektiven der Atomenergie für Österreich bewerten und alle damit zusammenhängenden Fragen klären sollte. Vorbereitende Aktivitäten begannen schon im Jahr 1954. Bundeskanzler Julius Raab rief schließlich im Dezember eine interministerielle Sitzung zusammen, auf der er die Beratende Regierungskommission für die friedliche Verwendung der Atomenergie einsetzte. Die Regierungskommission nahm Anfang 1955 unter sporadischer Einbeziehung von Experten und Expertinnen aus Wissenschaft und Industrie ihre Arbeit auf.77 Die österreichische Situation ähnelte damit derjenigen in Westdeutschland. Im Nachbarland Deutschland erfolgte ebenfalls erst Mitte der 1950er-Jahre, als die Bundesrepublik von den Restriktionen des Besatzungsrechts befreit war, der Einstieg in die Atomwirtschaft. In der Organisation verfuhr die Adenauer-Regierung aber etwas anders. Adenauer richtete Ende 1955 ein neues Ressort, das Bundesministerium für Atomfragen, ein und rief außerdem wenige Monate später mit der Deutschen Atomkommission ein über 100-köpfiges Beratungs- und Planungsgremium ins Leben, das den Aufbau der Atomwirtschaft konzertiert mit Industrie und Wissenschaft realisieren sollte.78 Während die mehr als zwei Dutzend Unterkommissionen der deutschen Atomkommission alle planerischen Aspekte der Atomwirtschaft abdeckten, verteilten sich die Aufgaben in Österreich auf die entsprechenden Ministerialressorts, die jeweils eigene Experten und Expertinnen nominierten und Ausschüsse einsetzten. Die Unterrichtsverwaltung unterhielt sechs Arbeitsgruppen unter Beteiligung von 25 Personen. Das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, das sich ebenfalls der Forschungsförderung widmete, berief eine kleine Runde von sieben Fachleuten und das Bundesministerium für Soziale Verwaltung, das sich mit der Regulierung des Strahlenschutzes befasste, unterhielt einen Stab von 31 Experten.79 Anders als in Deutschland gab es in Österreich zunächst noch grundsätzlichen Verständigungsbedarf darüber, ob und inwieweit das Land Atomenergie brauchte. Entscheidende Bedeutung hatte die schon erwähnte, im Bundeskanzleramt anberaumte 77 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 50, Fiche 725, BKA an Karlik vom 22.12.1954 ; ebd., BKA an IR vom 15.1.1955. 78 Vgl. Schwerin 2010. 79 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 50, Fiche 730, Matsch : Erster Tätigkeitsbericht der Atomenergie-Kommission vom 5.7.1955, Beilage 5.
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interministerielle Sitzung im Dezember 1954. Sie endete mit dem Resümee, dass mehrere Ressorts Interesse an der »praktischen Anwendung von Atomenergie im Dienst der Heilkunde, Landwirtschaft und Industrie bekundet« hätten und deshalb Gutachten eingeholt werden sollten, »ob so ein Reaktor angeschafft werden soll und wann«.80 Ein Memorandum sollte zudem »der Welt zeigen«, dass »Österreich seit Jahren Atomenergie für friedliche Zwecke verwendet« – gemeint war die Verwendung von Radioisotopen und die Arbeit der Isotopenstelle.81 Die Expertengutachten erstellten Karlik, der Mediziner Fellinger und Jaroslav Zakovsky, Leiter der Röntgentechnischen Versuchsanstalt im Allgemeinen Krankenhaus (AKH) in Wien, sowie Industrievertreter. Karlik war in der Vorbereitungszeit für das österreichische Atomprogramm eine zentrale Ansprechpartnerin für das Bundeskanzleramt.82 In ihrem Memorandum unterstrich sie, dass die Bedeutung von radioaktiven Stoffen in Zukunft noch wachsen werde, und befürwortete den Bau eines österreichischen Reaktors, dessen Zweck vor allem die Erzeugung von radioaktiven Stoffen sein sollte.83 Ein solcher Reaktor sei insbesondere für Medizin und Forschung von großer Wichtigkeit. Vertreter der Atomphysik schlossen sich diesem Urteil an und betonten die Bedeutung der Isotopenanwendung ; umstritten blieb hingegen, ob der gewünschte Ausbau der Radioisotopenökonomie für sich genommen die Errichtung eines Forschungsreaktors ökonomisch rechtfertige und ob der Import von Radioisotopen über die Isotopenstelle den steigenden Bedarf an radioaktiven Stoffen werde decken können.84 Die Realisierung des Atomprogramms war eng mit der außenpolitischen Entwicklung Österreichs verbunden. Wie Oliver Rathkolb gezeigt hat, war der Umstand entscheidend, dass sich Österreich im Verlauf des Jahres 1955 den USA zuwendete und früher als andere Staaten den Führungsanspruch der USA auf dem Gebiet der Atomenergie anerkannte.85 Dieser Schritt war nicht nur ein politisches Signal ; die Bundesregierung verschaffte sich so auch den Zugang zur amerikanischen Atomtechnik und 80 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 50, Fiche 725, BKA an Karlik vom 22.12.1954, Aktenvermerk, 3 u. 6. 81 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 50, Fiche 727, Resumée der 2. Sitzung der österreichischen Atomenergie-Kommission am 24.1.1955, 1 ; vgl. auch ÖStA, AdR, BMU, 1 ZstB-Atom, Allgem., K 63, Umschlag mit Geschäftszeichen 66.712–1/55 : (Endgültiges) Memorandum Österreichs über die friedliche Verwertung der Atomenergie. 82 Vgl. u.a. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 50, Fiche 727, Resumée der 2. Sitzung der österreichischen Atomenergie-Kommission am 24.1.1955, 1. 83 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 50, Fiche 724, Bundeskanzler an Karlik vom 7.5.1955. 84 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 50, Fiche 727, Hass : Exposé über die friedliche Verwendung der Atomenergie vom 26.3.1955 ; ebd., K 50, Fiche 730, Matsch : Erster Tätigkeitsbericht der Atomenergie-Kommission vom 5.7.1955, Beilage 6, 10. 85 Vgl. Rathkolb 1997, 137–138.
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spaltbarem Material. Der erste entscheidende Schritt zur Errichtung eines Forschungsund Schulreaktors erfolgte Ende 1955 kurz nach der Unterzeichnung eines bilateralen Vertrags mit den USA.86 In enger Kooperation mit der österreichischen Wirtschaft wurde im Mai 1956 die Österreichische Studiengesellschaft für Atomenergie GmbH (SGAE) gegründet, die den Bau eines Forschungsreaktors und bald auch des Reaktorzentrums in Seibersdorf vorbereiten sollte.87
Institutionalisierungen : Strahlenschutz und Ausbildung Während die atomare Energiegewinnung letztlich eine umstrittene Option blieb, stand das Atomzeitalter in Österreich, als es in Genf durch die Internationale Konferenz zur friedlichen Nutzung der Atomenergie ‚offiziell‘ ausgerufen wurde, im Zeichen der Isotopenökonomie. Das Bundesministerium für Soziale Verwaltung nahm es in die Hand, den Verkehr mit Radioisotopen und damit auch den Strahlenschutz gesetzlich zu regulieren. Ähnlich wie etwa in der Bundesrepublik verwarf man die naheliegende Idee, den Umgang mit radioaktiven Stoffen innerhalb bestehender Gesetze zu regeln. Statt also den Strahlenschutz im Rahmen einer Neufassung des Giftgesetzes zu regeln, brachte das Ministerium ein eigenes Strahlenschutzgesetz auf den Weg, ergänzt durch umfangreiche Strahlenschutzvorschriften, die flexibel an die Dynamik der sich erst entwickelnden Radioisotopenökonomie angepasst werden konnten.88 Die Frage des Strahlenschutzes stärkte die staatliche Kontrolle der Isotopenökonomie sowie die Position des Instituts für Radiumforschung. Für Beunruhigung sorgte, dass Firmen wie Philips seit 1955 eigenmächtig radioaktive Isotope importierten und die II. Medizinische Universitätsklinik am Wiener Allgemeinen Krankenhaus (AKH) unter Fellinger in Absprache mit Philips unabhängig von der Isotopenstelle am Institut für Radiumforschung die Verteilung von Radioisotopen an die Wiener Kliniken in die Hand nahm.89 Auch in Medizinerkreisen wurde die Befürchtung laut, dass viele Ärzte in Zukunft »wahllos radioaktive Isotope verwenden« würden, wenn die zentrale
86 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 50, Fiche 730, Resumé der 10. Sitzung der AtomenergieKommission am 23.11.1955 ; vgl. auch Lackner 2000, 209. 87 Vgl. ebd., 207–209. 88 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 50, Fiche 730, Matsch : Erster Tätigkeitsbericht der Atomenergie-Kommission vom 5.7.1955 ; ebd., K 50, Fiche 735, Bundesministerium für Soziale Verwaltung, ab sofort : BMSV, an BKA AA vom 7.2.1956 ; ebd., K 50, Fiche 738, BMSV : Strahlenschutzgesetz [Entwurf von 1958], 2 ; vgl. auch Schwerin 2010. 89 Vgl. ÖStA, AdR, BMU, 1 ZstB-Atom, Allgem., K 64, Hoyer : Aktennotiz (im Umschlagblatt) vom 11.7.1956 ; AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 44, Fiche 639, Karlik an Hammer vom 31.8.1955.
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Kontrolle der Stoffe wegfiele.90 Die Mitarbeiter des Bundesministeriums für Soziale Verwaltung fürchteten gar, dass es nicht lange dauern werde, bis Radioisotope auch in der »Reklame« auftauchen würden, und sprachen sich dafür aus, der Isotopenstelle am Institut für Radiumforschung die Funktion einer staatlichen Überwachungsstelle zu übertragen.91 Karlik, für die eine solche Umwandlung der Isotopenstelle aus Gründen der »Institutsräson« nicht infrage kam, kam mit der Leitung des AKH schließlich überein, dass das AKH künftig selbstständig die Verteilung von radioaktiven Präparaten übernehmen, das Institut für Radiumforschung aber weiterhin als zentrale Schaltstelle für die Bestellung und den Import der Präparate aus dem Ausland fungieren sollte.92 Treibende Kraft hinter dieser Veränderung war das Zentral-Röntgeninstitut des AKH unter Ernst Georg Mayer, das sich in Sachen Radioisotopen in Konkurrenz zu Karliks Institut für Radiumforschung sah. Verschiedentlich äußerte Mayer Unzufriedenheit über die Arbeit der Isotopenstelle. Mayer strebte zusammen mit Zakovsky, Dozent für medizinische Physik und Leiter der zur Gemeinde Wien gehörigen Röntgentechnischen Versuchsanstalt, eine solche Sonderlösung an, wie sie dann das AKH mit dem Ministerium und Karlik aushandelte. Das Zentral-Röntgeninstitut übernahm fortan mit Unterstützung von Zakovsky für sämtliche Einrichtungen des AKH die Bestellung, Kontrolle und Verteilung der Radioisotope. Stillschweigend hatten Mayer und Zakovsky schon zuvor, wie der Obmann der beim Unterrichtsministerium gebildeten Fachgruppe für die Verwendung der friedlichen Atomenergie in der Medizin ungehalten bemerkte, ihre Arbeitsstellen zusammengeschlossen und das röntgentechnische Versuchslabor des Zentral-Röntgeninstituts an die Versuchsanstalt angegliedert.93 Für Karlik und die Isotopenstelle bedeutete diese Lösung letztlich eine Entlastung von »wissenschaftlicher und administrativer Routinearbeit«.94 Die frei gewordenen Kapazitäten waren besser für die neuen Aufgaben nutzbar, die auf Karliks Institut zukamen. Denn mit Beginn der staatlichen Organisation der Atomwirtschaft und der programmatisch geförderten Anwendung von Radioaktivität in Medizin, Forschung und Technik zeigte sich wiederum, woran es mangelte. Es fehlte an Fachpersonal. Das englische Atomzentrum in Harwell, das Fortbildungskurse für die verschiedensten Aspekte in der Anwendung der Radiotechniken veranstaltete, entwickelte sich zum Um-
90 91 92 93
Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 44, Fiche 639, Hammer an Karlik vom 22.8.1955. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 50, Fiche 735, Stellungnahme des BMSV vom 7.2.1956. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 55, Fiche 816, Karlik an Schönbauer vom 7.1.1956. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 49, Fiche 720, Zentral-Röntgeninstitut an Karlik vom 14.2.1955 ; ÖStA, AdR, BMU, 1 ZstB-Atom, Allgem., K 64, Hoyer : Aktennotiz (im Umschlagblatt) vom 11.7.1956. 94 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 55, Fiche 816, Karlik an Schönbauer vom 7.1.1956.
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schlagpunkt einer ganzen Generation von neuen Strahlenfacharbeitern.95 Die IAEA gewährte für die Fortbildungskurse in Harwell Tausende Stipendien an Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus der ganzen Welt. Das Programm lief allerdings erst in den späten 1950er-Jahren an. Es war deshalb von großem Vorteil, dass das Institut für Radiumforschung schon zuvor ein eigenes Fortbildungsprogramm ausarbeitete. Karlik erkannte früh, dass es mit der Verteilung von Radioisotopen nicht getan war, da insbesondere Mediziner und Biologen in der Regel weder methodisch noch in Fragen der Sicherheit Kenntnisse und Erfahrung im Umgang mit radioaktiven Stoffen hatten.96 Sie legte deshalb von Anfang an großen Wert auf eine begleitende wissenschaftliche Beratung. Ab 1954 veranstaltete sie mit ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen Kurse für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die mit Radioisotopen arbeiten wollten und hier in die neue Technik und ihre Sicherheitsfragen eingeführt wurden.97 Der Teilnehmerkreis weitete sich schnell auf Mediziner, Chemiker und Biologen, Mitarbeiter der Montanhochschule Leoben und verschiedener landwirtschaftlicher Einrichtungen, Verfahrenstechniker, Firmenangehörige, Versicherungsangestellte, Ministeriumsmitarbeiter und nicht zuletzt Amtsärzte aus, die sich im Auftrag des Bundesministeriums für soziale Verwaltung fortbildeten. Auf diese Weise erhielten innerhalb von fünf Jahren 247 Personen eine klare Einweisung in die Grundlagen der Isotopenmethodik und radioaktiven Messtechnik.98 Der Prestigegewinn, den das Institut für Radiumforschung in diesem relevanten Aufgabengebiet zwischen Forschungsförderung und Risikopolitik erzielte, schlug sich allerdings nicht im knapp bemessenen, von der ÖAW getragenen Institutsbudget nieder. Noch 1960 war das Institut für Radiumforschung in der Darstellung Karliks die »einzige zentrale Lehr- und Forschungsstelle für Kernphysik in Österreich«.99 Experten des Instituts, so argumentierte Karlik gegenüber dem Institutskuratorium, würden »ständig zur fachlichen Beratung von verschiedenen Ministerien herangezogen, darunter : Bundesministerium soziale Verwaltung (Strahlenschutzgesetz) ; Bundesministerium Finanzen (Zollposition von radioaktiven Substanzen) ; Bundesministerium Handel (Importkontrollen) ; Bundesministerium für Transport (Transportfragen) ; 95 Vgl. Herran 2006 ; Herran 2010. 96 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 55, Fiche 816, Karlik an Schönbauer vom 7.1.1956. 97 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 50, Fiche 735, BMSV : Programm des 14. Fortbildungskurses für Amtsärzte – Strahlenschutzkurs vom 24.10.1958. 98 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 55, Fiche 817, Institut für Radiumforschung, Liste: Stattgefundene Kurse vom 20.5.1958. 99 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 50, Fiche 732, Karlik an die beratende Regierungskommission vom 28.6.1960. Isotopenlehrkurse fanden allerdings zu dieser Zeit auch am Physikalisch-chemischen Institut in Innsbruck statt. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 53, Fiche 790, SGAE : Ausbildungsund Forschungsprogramm in Österreich (1957), 8.
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Bundesministerium Justiz (Einführung von Richtern) ; Bundeskanzleramt (Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kernphysik und Atomenergie)«.100 Dennoch musste sie immer wieder um Etaterhöhungen kämpfen. Mit der SGAE erwuchs dem Institut für Radiumforschung neue Konkurrenz und zugleich eine Institution, die die Isotopentechnik weiterentwickeln konnte. Die SGAE war eine Mischinstitution aus Verwaltung, Wissenschaft und Wirtschaft mit der Aufgabe, die beschlossenen Atomprojekte zu realisieren. Als Erstes errichtete sie einen kleinen Versuchsreaktor in Wien, der vor allem der Ausbildung von Physikern und Chemikern sowie der atomphysikalischen Forschung dienen sollte.101 Die größere Aufgabe der SGAE war, das Forschungs- und Reaktorzentrum Seibersdorf aufzubauen, mit dem sich Österreich einen späteren Einstieg in die energiepolitische Nutzung der Atomkraft offenhielt und mit dem sich schon jetzt die Infrastruktur für die Isotopenökonomie perfektionieren ließ. Die SGAE trat zugleich zunehmend als Förderinstitution auf dem Gebiet der Atomforschung auf. Ihre Forschungsförderung konzentrierte sich allerdings auf die Rohstoffbeschaffung, Chemie, Metallkunde und Reaktortechnik, biologische und medizinische Forschung waren nicht vorgesehen.102 Die SGAE richtete 15 Arbeitskreise ein, von denen sich sieben mit der Isotopenanwendung befassten und zwar die Arbeitskreise »Ausbildung«, »Biologie und Medizin«, »Land- und Forstwirtschaft«, »Industrie und Bergbau«, »Metallurgie«, »Organisation der Forschung und wissenschaftlichen Ausrüstung« sowie »Sicherheits- und Schutzmaßnahmen«.103 Vorsitzender des Arbeitskreises »Biologie und Medizin« war Fellinger. Zur ersten Sitzung im Januar 1957, die sich vor allem mit den medizinischen Verwendungsmöglichkeiten befasste, die der Reaktor eröffnen würde, war Karlik als Gast eingeladen. Die Physikerin setzte den versammelten Biowissenschaftlern auseinander, was sie vom Reaktorbau erwarten konnten : vor allem die Erzeugung von Isotopen mit geringen Halbwertszeiten – die deshalb nicht importiert werden konnten – und die therapeutische Neutronenbestrahlung von Patienten.104 Der Arbeitskreis sah zudem die Notwendigkeit, die Öffentlichkeit über diese Ziele aufzuklären und 100 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 5, Fiche 100, Memorandum Karliks an das Kuratorium wg. einer Erhöhung der Institutsdotation für 1961 vom März 1960. 101 Siehe auch den Beitrag von Christian Forstner in diesem Band. 102 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 53, Fiche 787/788, SGAE an Bundesministerium der Finanzen vom 6.8.1956, 3 : Forschungsprogramm. Die Berichte der SGAE dokumentieren zudem das Ausbildungsangebot im Bereich der Kernenergie in Österreich. Vgl. ebd., K 53, Fiche 790 : SGAE : Ausbildungs- und Forschungsprogramm in Österreich (1957). 103 Vgl. ÖStA, AdR, 1 ZstB-Atom, Allgem., K 66, Umschlag : Geschäftszahl 60049–1/57 : SGAE 57/2 IB : Überblick über die Tätigkeit der Arbeitskreise der SGAE in der Zeit von November 1956 bis Mai 1957. 104 Vgl. ÖStA, AdR, 1 ZstB-Atom, Allgem., K 65, Umschlag : Geschäftszahl 33928–1/57, darin : SAGE : Protokoll der 1. Sitzung des Arbeitskreises »Biologie und Medizin« vom 4.2.1957.
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zu diesem Zweck die Arbeiten mit Radioisotopen zentral zu registrieren.105 Darüber hinaus befasste sich der Arbeitskreis in Absprache mit dem Arbeitskreis »Sicherheitsund Schutzmaßnahmen« unter der Leitung von Zakovsky mit den Anforderungen des Strahlenschutzes im Reaktorzentrum. Außerdem setzte er sich für die Einrichtung eines medizinisch-biologischen Laboratoriums in Seibersdorf ein, sah aber seine Interessen beim Aufsichtsrat der SGAE nur unzureichend vertreten. Neben der Funktion, radioaktive Ressourcen für die österreichische Forschung und Industrie zur Verfügung zu stellen, sollte am Reaktorzentrum Seibersdorf mit seinen 500 Beschäftigten auch geforscht werden. Nach der Einweihung im Jahre 1960 nahmen nach und nach die Forschungsinstitute für Physik, Elektronik, Metallurgie, Chemie, Strahlenschutz, Reaktorentwicklung sowie Biologie und Landwirtschaft ihre Arbeit auf. Lackner resümiert, dass die anwendungsorientierte Atomforschung im Zentrum der Aktivitäten am Reaktorzentrum stand, speziell die Reaktortechnik, experimentelle kernphysikalische Grundlagenforschung, Strahlenschutz sowie die angewandte Radioisotopenforschung.106 Die Forschung mit Radioisotopen und die Entwicklung von praktischen Anwendungen nahmen in den folgenden Jahren nicht nur das chemische und das metallurgische Institut des Reaktorzentrums in Beschlag. Der Schwerpunkt lag auf der biologischlandwirtschaftlichen Radioaktivitätsforschung.107 Dafür stand der Leiter des Instituts für Biologie und Landwirtschaft Kaindl, der aus seiner Zeit bei den Stickstoffwerken in Linz über die besten Erfahrungen auf dem Gebiet verfügte. Auch Bernert, die Mitarbeiterin Karliks in der Wiener Isotopenstelle, übernahm am Reaktorzentrum einen neuen Posten und leitete ab 1963 als Konsulentin der SGAE die Abteilung »Industrieberatung und Isotopenanwendung«. Ziel dieser Abteilung war es, die »Isotopenanwendung innerhalb Österreichs auf den Gebieten der Industrie, der Landwirtschaft und Medizin beträchtlich zu intensivieren«.108 Die Verteilung und Kontrolle der Radioisotope verlagerte sich damit vom Institut für Radiumforschung zum Reaktorzentrum. Bei alldem profitierte die Arbeit in Seibersdorf von der Kooperation mit der seit 1957 in Wien angesiedelten IAEA, die die österreichische Radioaktivitätsforschung in großzügiger Weise förderte, etwa durch die Finanzierung von neuen Isotopenlaboratorien an Kliniken.109
105 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Karlik, K 41, Fiche 591, Fellinger an Karlik vom 26.1.1957. 106 Vgl. Lackner 2000, 211–212. 107 Vgl. auch Brenner 1969. 108 Österreichische Studiengesellschaft 1966, 7. 109 Vgl. ÖStA, AdR, BMU, 1 ZstB-Atom, Int. Org., K 84, Umschlag mit Geschäftszahl : 76.734–1/59.
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Schluss : Isotopenökonomie als ein Kernprojekt der Atomenergienutzung Die Herstellung und Verwendung von künstlichen radioaktiven Stoffen spielte bis Anfang der 1950er-Jahre in Österreich kaum eine Rolle. Das änderte sich durch die Initiative der Wissenschaft, namentlich der Physikerin Berta Karlik und des Chemikers Engelbert Broda.110 Die sogenannte Isotopenstelle des Instituts für Radiumforschung organisierte ab Ende der 1940er-Jahre den Import von Radioisotopen und ermöglichte damit, dass die österreichische Forschung von Beginn an einer internationalen Entwicklung in Wissenschaft und Wirtschaft partizipieren konnte. Die Entwicklung der Isotopenökonomie gehörte zum Kernprojekt nationaler Atomprogramme der führenden Staaten auf dem Gebiet der Atomenergienutzung. Tatsächlich spielte die Anwendung der Isotopentechnik auch in Österreich bei der Entscheidung für ein eigenes Atomprogramm eine wichtige Rolle. Die österreichische Geschichte spiegelt insofern den Umstand wider, dass radioaktive Isotope und die technischen Möglichkeiten, die sie für Medizin, Forschung und Industrie eröffneten, sowohl in politischer und wissenschaftlicher wie auch in ökonomischer Hinsicht den Rang einer Schlüsseltechnologie im Gesamtgeschehen des Atomzeitalters einnahmen. Im Vergleich zu anderen Staaten wurden in Österreich jedoch deutlich andere Schwerpunkte in der Verwendung von Radioisotopen gesetzt. Die Industrie war in der Anwendung radioaktiver Techniken vergleichsweise zögerlich. Das Engagement einzelner Personen konnte hier nur bedingt gegensteuern. Die Medizin spielte bei der Anwendung der Radioisotopentechniken eine übermächtige Rolle. Die Einführung der Radioindikatormethode in die Forschung stützte sich in erster Linie auf die Wiener Medizin und ein bestehendes Netzwerk aus Medizinern, Radiochemikern und -physikern. Bedenklich war, dass die Einführung der Radioisotopen in die medizinische Diagnostik und Therapie einen ethischen Graubereich mit hohem gesundheitlichem Gefährdungspotenzial konstituierte, der sich einer zentralen Kontrolle weitgehend entzog. Dies entsprach üblichen Verhältnissen in der klinischen Praxis und dem Anspruch der Medizin auf standesethische Selbstkontrolle. Dieser Anspruch musste allerdings in dem Moment zurückstehen, als die Isotopenökonomie Teil des staatlichen Atomprogramms wurde, das politisch nur zu realisieren war, wenn es eine Antwort auf die erheblichen 110 Es bleibt zu klären, inwieweit Brodas Ausschluss aus dem offiziellen Atomenergie-Netzwerk auf seine linkspolitische Profilierung zurückzuführen ist und sein Beispiel damit im Gegensatz zu dem von Karliks Mitarbeiterin Bernert stände, der als ehemaliges NSDAP-Mitglied zwar ebenfalls volle Anerkennung verweigert wurde, die aber innerhalb jenes Netzwerk agieren konnte. Zu Brodas Schwierigkeiten, in Österreich beruflich zu reüssieren, vgl. auch Oberkofler/Goller 1993, 19.
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Risiken der Atomenergie gab und deshalb durch eine Strahlenschutzgesetzgebung flankiert wurde. Die biologische und biochemische Forschung mit Isotopen stand hinter der Anwendung in der Medizin weit zurück, ausgenommen die landwirtschaftlichen Forschungsstellen. Ein Grund hierfür mag sein, dass die Biochemie in Österreich ähnlich wie in Deutschland durch die Emigration jüdischer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen weitgehend ausgeblutet war. Engelbert Broda, der aus der englischen Emigration zurückkehrte und an die Forschungstradition anknüpfte, die infolge der Emigration ihrer wichtigsten Vertreter abgebrochen war, war eine Ausnahme. Daneben ist auch die starke Position der österreichischen Medizin zu nennen. Sinnbildlich dafür steht, dass das Institut für Radiumforschung seit seinem Bestehen eher zu medizinischen als zu biologischen Forschungsinstitutionen eine enge Verbindung pflegte.111 Die Einführung der Radioisotopentechnik im »Atomzeitalter« baute auf diesem Netzwerk auf. Die Institutionalisierung des österreichischen Atomprogramms schuf eine verzweigte Struktur von Gremien, die eine große Zahl an Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen in das nationale Projekt involvierte. Die Planung für das Reaktorzentrum in Seibersdorf konzentrierte sich auf den Anwendungsbezug. Neben der medizinischen, technischen und industriellen Anwendung kam damit auch die Land- und Forstwirtschaft als wichtiges Anwendungsgebiet der Radioisotopentechnik stärker zur Geltung. Diese Schwerpunktsetzung war zukunftsweisend, denn mit der Ergänzung des Reaktorzentrums durch eine Forschungseinrichtung der in Wien ansässigen IAEA wurden landwirtschaftlich-biologische Fragen zu einem Forschungsthema von globaler Wichtigkeit.
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Abstracts
Beate Ceranski Vom Rohstofflieferanten zum Forschungsstandort : Die frühe österreichische Radioaktivitätsforschung This paper deals with Austrian radioactivity research before the Great War. I give a prosopographically-informed survey of people, places, and subjects involved in this new field. I analyze radioactivity research and teaching at Austrian universities to provide a clear picture of Vienna’s significance as national scientific center. I also show how Austria’s unique position as the only source of the radium-bearing mineral pitchblende influenced radioactivity research in the country. This uniqueness reappears in the manifold responsibilities of the Viennese physicist Stefan Meyer. I argue that all kinds of work have to be included in historical research, specifically taking into account scientists’ invisible (service) activities. To probe this approach, I follow Meyer through some of his scholarly, administrative, and science-policy activities. Rather than in groundbreaking new ideas, Meyer’s and Austria’s importance for early radioacitivity research are grounded in an impressive variety of different kinds of radioactivity-related activities.
Silke Fengler »Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung«. Zur politischen Ökonomie der österreichischen Kernforschung in der Zwischenkriegszeit This paper highlights the foreign and domestic influences on nuclear research in interwar Austria. Resources from abroad as well as a considerable prewar stock of radium played decisive roles in establishing radioactivity and nuclear research in Vienna in the early 1920s. By comparing the Austrian case to other nuclear-research centers in Europe and the United States, I focus on changes in the material culture of nuclear research in the 1930s and the reaction of Austrian scientists to big science. I suggest that long before the rise of National Socialism the lack of domestic and foreign funding, as well as the departure of key personnel created a grave crisis for Austrian nuclear research beginning in the mid-1930s. The high hopes of catching up with international developments within the German nuclearresearch program after 1938 were dashed. Despite considerable pecuniary aid from Berlin, Austrian nuclear science became increasingly marginalized in the course of the war.
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Abstracts
Wolfgang Knierzinger Das Forschungsinstitut Gastein in der Forschungslandschaft des »Ständestaats« und des »Dritten Reichs« This paper deals with the early history of the Forschungsinstitut Gastein, which was founded in 1936 with the primary goal of analyzing radon-containing water from hot springs in the Gastein region. Founded by the chemist Emerich Granichstädten, the Gesellschaft der Freunde Gasteins acted as the lawful owner of the research establishment. I outline the institutional structure, budgetary planning, and financial strategies of the institute, as well as its scientific affiliations to reveals its place in the network of several research institutes of the Austrian Academy of Sciences. Following the Anschluss of Austria to the German Reich, ownership of the institute passed to the municipalities of Bad Gastein and Bad Hofgastein, and the physicist Gerhard Kirsch became its new director. On account of the war, the institute was closed temporarily in 1942 ; it reopened in 1946 with the installation of its former head, the physiologist Ferdinand Scheminzky.
Rainer Karlsch Sowjetische Missionen auf der Suche nach den Hinterlassenschaften der österreichischen Kernphysik This paper focuses on the Soviet technical mission, headed by the well-known physicist Igor Golowin, which surveyed the Physical Institutes in Vienna in April and May of 1945. Making ample use of hitherto unknown Russian minutes of interrogations with the remaining employees, I highlight Austrian contributions to the German Uranverein. Golowin tried to find out as much as possible about the extent and quality of German nuclear research and the role of Austrian scientists therein. Like the Alsos mission, the Soviet technical mission also was interested in seizing all kinds of nuclear material and scientific equipment. Last but not least, it recruited the Austrian physicists Josef Schintlmeister and Gernot Zippe for work in the Soviet Union. The results of Golowin’s mission in Vienna were limited, given the marginal role of Austrian physicists within the German project. Nevertheless, Soviet physicists gained a more precise picture of German nuclear research during the war.
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Christian Forstner Zur Geschichte der österreichischen Kernenergieprogramme Austria became famous for »green« energy production after 1945, but not for the successful establishment of nuclear energy. Many Austrian physicists had been engaged in the German Uranverein after 1941, but German-Austrian cooperation ceased with the defeat of the German Reich in 1945. Nonetheless, the vague idea of energy production from nuclear fission was still apparent in Austrian postwar politics. Lack of money prevented the development of a national nuclear-energy program, but this changed with the launch of the American Atoms for Peace Program in December 1953. After regaining national sovereignty in 1955, the Austrian Council of Ministers decided to build a research reactor with American support. Three research reactors were finally brought into service with the aim of developing a nuclear-energy program in Austria. In 1971, the Austrian government decided to build a nuclear-power plant in Lower Austria, which never went into operation. In 1978, the Austrian people voted against the startup of the plant in a plebiscite with a slight majority of 50.47%. Today, the idea of freedom from nuclear energy is a central part of Austrian identity.
Ingrid Groß/Gerd Löffler
Carl Freiherr Auer von Welsbach (1858–1929). Erfinder, Entdecker und Entrepreneur Carl Auer von Welsbach was a global player who knew how to incorporate his inventiveness into prosperous business. His research paved the path to entrepreneurship. As a businessman, he contributed significantly to the economic boom and industrial modernization of the Habsburg Empire at the turn of the 20th century. As a researcher, Auer von Welsbach maintained a network based mainly on the exchange of rare earths, which he supplied to researchers all over Europe. In doing so, he made contact with several Nobel Laureates in chemistry and physics. As a radioactivist, he cooperated closely with the Institute for Radium Research in Vienna. The focus of his research was on the concentration of actinium and on the conditions for the pure preparation of the isotopic mixture of thorium-232 and thorium-230, which helped shed light on the radioactive series, facilitated research on isotopes, and helped determine atomic weights.
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Ruth Lewin Sime Zertrümmerung : Marietta Blau in Wien During the interwar period Marietta Blau (1894–1970) pioneered the use of photographic methods for imaging nuclear processes, and in 1937 she and Hertha Wambacher discovered »disintegration stars« — high-energy nuclear disintegrations — in emulsions exposed to cosmic radiation. Although this was seminal work that launched the field of particle physics, Blau’s contributions were, over time, insufficiently recognized and she herself was nearly forgotten. I trace Blau’s scientific career at the Institut für Radiumforschung and the circumstances of such forgetting, including her forced emigration in 1938, the behavior of her colleagues in Vienna during and after the National Socialist period, her return to Vienna in 1960, and her exclusion from a Nobel Prize.
Günther Luxbacher Experimentaltechniken, Strahlenwerkzeuge und Reaktorwerkstoffe. Erich Schmid und die Anfänge der »Kernumwandlungsmetallurgie« in Österreich This paper adresses two aspects of the history of metals and nuclear radiation. The first has a biographical bias, the second deals with a certain research paradigm. Austrianborn Erich Schmid was an outstanding metal researcher working in three different political systems. His career exemplifies how personal scientific interest corresponds to the requirements of the changing political contexts of the Weimar Republic, Nazi Germany, and the Second Republic of Austria. To succeed, Schmid oscillated between various research fields and basic, applied, and technological research in materials science. As director of the Second Physical Institute in Vienna, he collaborated closely with the Institute for Radium Research on the dichotomy between nuclear radiation and metals as scientific tools and objects and on their containment. In cooperation with the physicist Karl Lintner and the metalworking industry, he helped to form the field of the metallurgy of nuclear transformation in Austria, which culminated in the first German textbook on reactor materials in 1962.
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Deborah R. Coen Die Fehler der Wissenschaftler, die Schwankungen der Natur und das Gesetz des radioaktiven Zerfalls, 1899–1926 The first suggestion that radioactive decay might be a »chance« phenomenon was made in 1905. I argue that the appeal of this view to most European and North American physicists circa 1900 lay in the mundane orderliness afforded by a statistical law of decay. This law offered physicists a deceptively simple guideline for judging whether the scatter in their data was a sign of imprecision — or a reflection of a variability inherent in nature itself. It thus allowed them to »tame« the microscopic fluctuations revealed by new high-precision instruments, before theory could account for them. However, one group of scientists remained unsatisfied with this pragmatic and often cursory approach to the empirical question of the probabilistic character of radioactive decay. In Vienna, physicists at Franz Exner’s laboratory pursued this question persistently, critically, and in a spirit critical of the »dogma« of determinism.
Michael Stöltzner Zur Genese der Schweidler’schen Schwankungen und der Brown’schen Molekularbewegung I investigate the (almost) simultaneous emergence of Egon von Schweidler’s concept of radioactive fluctuations (1905) and Marian von Smoluchowski’s explanation of Brownian motion (1906). In both cases fluctuations (Schwankungen) became a physical quantity in its own right rather than an expression of measurement error. These breakthroughs required a specific combination of bottom-up empiricism embodied in exploratory research programs in atmospheric electricity and radioactivity with the firm belief in the truth of the kinetic theory, which were characteristic of the large circle centering around Franz Serafin Exner in Vienna. Equally significant are the emergence of the relative frequency interpretation of probability and a philosophical outlook that allowed the Viennese to accept statistical regularities as laws of nature. Exner’s 1908 inaugural address as rector of the University of Vienna became the founding manifesto of a tradition of empiricist indeterminism prevailing in the Habsburg lands long before the advent of quantum mechanics.
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Vanessa Cirkel-Bartelt Kooperation und Konkurrenz. Die Erforschung der kosmischen Strahlung vor dem Zweiten Weltkrieg This paper addresses the questions of how and why different physicists did — or did not — cooperate in early cosmic-ray research, while it also casts light on cosmic-ray physics in general. At the beginning of the 20th century, research on meteorological phenomena and atmospheric electricity, on the one hand, and on radioactivity, on the other hand, led to the discovery of cosmic rays. With such a diverse background, cosmic-ray studies offer an ideal example of the effects of cooperation and competition in science. Most scholars agree that the study of cosmic radiation up to the 1930s was rather marginal, which has led to the assumption that concurrent scientific arguments were manifestations of personal conflicts or national rivalries. I reevaluate these conflicts in the context of growing competition in this field of research, which was gradually becoming a scientific discipline in its own right.
Alexander von Schwerin Österreich im Atomzeitalter : Anschluss an die Ökonomie der Radioisotope The main focus of this paper is on the early use of radioisotopes in Austria. I describe its features and compare it to developments abroad. The historiography of atomic energy is dominated by its political and military aspects. I show that the state-driven endeavor to exploit atomic energy was motivated not only by military needs and the prospect of new energy sources, but also by the vision of an economy based on the use of radioisotopes in various technological, industrial, scientific, and medical arenas. However, the establishment of a radioisotope economy (Isotopenökonomie) made states without nuclear reactors dependent on those with them. We must keep this context in mind when considering the debates about nuclear-energy production in the 1950s in Austria. The introduction of radioisotope technology into industry, science, and medicine was one of the main objectives of early Austrian atomic politics.
Abkürzungsverzeichnis AAWF ADM AdR AEC AIP AKW AMPG AÖAW ATU AUW BAB BAK BDC BKA AA BMSV BMUK CalTech CCAC CERN Degussa DFG DGM DPG EVN EVÖ GARF GEMA GKO GKT GRU GUB HAAc HEP
Archiv des Auer von Welsbach Forschungsinstituts Archiv des Deutschen Museums München Archiv der Republik, Österreichisches Staatsarchiv Atomic Energy Commission American Institute of Physics Atomkraftwerk Archiv der Max-Planck-Gesellschaft Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien Archiv der Technischen Universität Wien Archiv der Universität Wien Bundesarchiv Berlin Bundesarchiv Koblenz Berlin Document Center, Bundesarchiv Berlin Bundeskanzleramt Österreich, Auswärtige Angelegenheiten Bundesministerium für Soziale Verwaltung Bundesministerium für Unterricht und Kunst California Institute of Technology Churchill Archives Center, Churchill College, Cambridge Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt, Frankfurt am Main Deutsche Forschungsgemeinschaft Deutsche Gesellschaft für Metallkunde Deutsche Physikalische Gesellschaft Energieversorgung Niederösterreich Elektrotechnischer Verein Österreichs Staatliches Archiv der Russischen Föderation, Moskau Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate Staatliches Verteidigungskomitee der UdSSR Gemeinschaftskraftwerk Tullnerfeld Ges.m.b.H. Hauptverwaltung für Aufklärung beim Generalstab der Streitkräfte der Russischen Föderation Göteborgs Universitetsbibliotek Hochschularchiv der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen Hochenergiephysik
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Abkürzungsverzeichnis
IAEA IEB MIC KKWP KWI KWU MAUD MeV MPI NARA NKWD NL NSDAP ÖAW ÖDW ÖMAG ÖStA ÖStA-AVA OECD OOFR OPEC PA RAC RF RGWA RIG Roges RWA SGAE TCW TMV TÜV Ur.E. VDEh VDI ZAMG ZBP
International Atomic Energy Agency International Education Board Musée et Archives de l’Institut du Radium Kernkraftwerksplanungsgesellschaft m.b.H. Kaiser-Wilhelm-Institut Kraftwerk Union AG Military Application of Uranium Detonation Mega-Elektronenvolt Max-Planck-Institut National Archives and Record Administration Sowjetisches Volkskommissariat des Inneren Nachlass Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien Österreichisch-Deutsche Wissenschaftshilfe Österreichisch-Alpine Montangesellschaft Österreichisches Staatsarchiv Allgemeines Verwaltungsarchiv, Österreichisches Staatsarchiv Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Abteilung der Archivfonds der Staatlichen Kooperation der Atomenergie Organisation erdölexportierender Länder Personalakte Rockefeller Archive Center, Sleepy Hollow Rockefeller Foundation Russisches Staatliches Militärarchiv Moskau Reaktor-Interessengemeinschaft, Wien Rohstoff-Handelsgesellschaft mbH Berlin Reichsamt für Wirtschaftsausbau Österreichische Studiengesellschaft für Atomenergie GmbH Treibacher Chemische Werke AG Tabakmosaikvirus Technischer Überwachungsverein Uraneinheit Verein Deutscher Eisenhüttenleute Verein Deutscher Ingenieure Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik, Wien Sondersammlung der Österreichischen Zentralbibliothek für Physik, Universität Wien
Personenregister
Johann Johann W. Amschler, 1893–1957, S. 380 Carl D. Anderson, 1905–1991, S. 32, 227, 346 Tassilo Antoine, 1895–1980, S. 375, 379 Manfred von Ardenne, 1907–1997, S. 139–140, 153–154 Francis William Aston, 1877–1945, S. 204–205 Robert Atkinson, 1893–1981, S. 150, 154 Max Bamberger, 1861–1927, S. 56–58, 71 Harry Bateman, 1882–1946, S. 278 Richard Becker, 1887–1955, S. 90, 241 Antoine Henri Becquerel, 1852–1908, S. 53, 113 Hans Benndorf, 1870–1953, S. 66, 310, 313, 322, 325, 328–329, 336 Karl Bergwitz, 1875–1958, S. 32, 38, 346, 354, 363 Lawrenti P. Berija, 1899–1953, S. 131, 134–135, 146, 153 Friedrich Berkei, 1911–1966, S. 149 Traude Bernert, 1915–1998, S. 257, 263; 373– 374, 376–377, 380–381, 389–391 Hans Bertha, 1901–1964, S. 379 Hans Bethe, 1906–2005, S. 81–82, 106, 150, 154 Walter Binner, S. 174 Marietta Blau, 1894–1970, S. 8, 15, 26–27, 32, 36–37, 40, 44–45, 90, 100, 211–238, 346, 357–359, 361–362, 398 Léon Blum, 1872–1950, S. 86 Walter Boas, 1904–1982, S. 244, 246, 266 Alfred Böhnisch, S. 22, 135–137, 145 Niels Bohr, 1885–1962, S. 9, 86, 91, 98, 104–105, 177, 204–205, 220, 292 Bertram B. Boltwood, 1870–1927, S. 196 Arthur Boltzmann, 1881–1952, S. 352 Ludwig Boltzmann, 1844–1906, S. 31, 43, 45, 51, 297, 302, 305, 310, 312, 316, 318–326, 332–333, 337–338, 340 Carl Bosch, 1874–1940, S. 25, 87 Walther Bothe, 1891–1957, S. 143, 151, 153, 345, 351, 363 William H. Bragg, 1862–1942, S. 162, 243 Arno Brasch, 1910–1963, S. 150–152, 156 Engelbert Broda, 1910–1983, S. 34, 92, 213, 235, 257, 263, 378, 381–382, 390–393
Howard L. Bronson, 1887–1968, S. 274–276, 279–281, 290, 293, 299, 303, 305 Alfred Bruckl, *1894, S. 138, 145 Franz Bukatsch, *1909, S. 116–117, 127 Robert Wilhelm Bunsen, 1811–1899, S. 183, 189, 207 Norman R. Campbell, 1880–1949, S. 278, 290, 296–297, 305 Ferdinand Cap, *1924, S. 144, 156, 163 James Chadwick, 1891–1974, S. 79, 85–86, 214–215, 360 Dirk Coster, 1889–1950, S. 204 Klaus Clusius, 1903–1963, S. 103 Marie Curie, 1867–1934, S. 13, 39, 44–45, 51– 53, 64, 69–70, 76, 92, 187–188, 192, 203, 208, 213, 273, 287, 289–290, 292–293, 304–305 Pierre Curie, 1859–1906, S. 13, 51–53, 187–188, 273 Paul Czermak, 1857–1912, S. 66 Werner Czulius, 1913–2008, S. 149 André Louis Debierne, 1874–1949, S. 196, 287, 290, 305 Ulrich Dehlinger, 1901–1981, S. 242, 261 Friedrich Dessauer, 1881–1963, S. 247 Kurt Diebner, 1905–1964, S. 103, 148–149, 263 Cornelio Doelter, 1850–1930, S. 58, 68 Engelbert Dollfuß, 1892–1934, S. 93–94, 98 Karl Drexel, 1872–1954, S. 112, 114, 122 Fritz Driak, 1900–1959, S. 379 Arnold Durig, 1872–1961, S. 112, 115, 122 Ludwig Ebert, 1894–1956, S. 92, 249, 372, 373, 375–376, 381 Arthur Eddington, 1882–1944, S. 322 John Eggert, 1891–1973, S. 357–358 Paul Ehrenfest, 1880–1933, S. 297, 305 Tatjana Ehrenfest-Afanassjewa, 1876–1964, S. 297, 305 Felix Ehrenhaft, 1879–1952, S. 79, 83, 95, 98– 100, 299–300, 305–306, 335 Dwight D. Eisenhower, 1890–1969, S. 23, 39, 159, 165, 367, 393
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Personenregister
Julius Elster, 1854–1920, S. 329 Felix M. Exner, 1876–1930, S. 330–334, 337 Franz Exner, 1802–1853, S. 310, 315 Franz Serafin Exner, 1849–1926, S. 13, 15, 29–32, 41, 45, 51–52, 54, 57, 59, 62, 64–66, 70–71, 187, 189–190, 196, 198–199, 201–202, 212, 236, 242, 264, 295–297, 299, 301–302, 305– 307, 310–312, 315–318, 320–324, 326–332, 335–340, 399 Franz Fattinger, 1881–1954, S. 191–192, 195, 207 Gustav Theodor Fechner, 1801–1887, S. 320, 324, 338 Karl Fellinger, 1904–2000, S. 374, 380, 384–385, 388–389 Enrico Fermi, 1901–1954, S. 42, 85–86, 89, 96, 105–107, 304, 336 Wilhelm Figdor, 1866–1938, S. 111 Ludwig Flamm, 1885–1964, S. 241, 335 Hermann Flatscher, *1890, S. 379 Georgi N. Flerow, 1913–1990, S. 133, 135 Siegfried Flügge, 1912–1997, S. 147, 155 Philipp Frank, 1884–1966, S. 318, 321–322 Klaus Fuchs, 1911–1988, S. 22, 40, 131 Reinhold Fürth, 1893–1979, S. 271, 305, 318– 320, 324, 332, 337–338, 340 George Gamow, 1904–1968, S. 85 Hans Geiger, 1882–1945, S. 30, 100, 273, 276, 280–289, 291–292, 305, 307 Hans Geitel, 1855–1923, S. 329 Otto Gerke, 1899–1946, S. 120, 123, 128 Walther Gerlach, 1889–1979, S. 83, 100, 103, 147, 150, 153 Friedrich Giesel, 1852–1927, S. 52–53, 71, 196, 207 Ellen Gleditsch, 1879–1968, S. 213, 219–222 Albert Gockel, 1860–1927, S. 343–345, 364 Igor N. Golowin, 1913–1997, S. 135–140, 142–143, 396 Georg Gorbach, *1901, S. 379 Karl Gotsch, *1905, S. 279 Emerich Granichstädten, 1877–1944/45, S. 20, 88, 111–117, 119–120, 122, 124, 128, 396 Leslie R. Groves, 1896–1970, S. 9 Heribert Grubitsch, *1905, S. 379 Hans Grümm, *1919, S. 140, 156, 174 Franz Gundlach, *1905, S. 138, 146
Arthur Haas, 1884–1941, S. 348 Otto Hahn, 1879–1968, S. 9, 27, 59, 76, 87, 89, 147, 153, 155, 193, 202–204, 207, 232, 236, 238, 409 Ludwig Camillo Haitinger, 1860–1945, S. 185– 186, 188–191, 193, 207 Franz Hammer, S. 375 Joseph von Hammer-Purgstall, 1774–1856, S. 110 Paul Harteck, 1902–1985, S. 148 Georg Hartwig, 1912–1988, S. 148–149 Eduard Haschek, 1875–1947, S. 199 Friedrich Hasenöhrl, 1874–1915, S. 59 Fritz Hauer, 1889–1961, S. 379 Werner Heisenberg, 1901–1976, S. 39, 148, 153, 156, 217, 304, 306, 337 Friedrich Hernegger, 1908–1998, S. 21, 41, 147, 151, 155, 204, 208, 373 Richard Herzog, *1911, S. 84, 136, 145 Victor F. Hess, 1883–1964, S. 32–33, 36–38, 54, 79, 98, 200, 203, 208, 216, 218, 227, 292, 306, 344–347, 351, 354–357, 360–361, 363–364 Georg von Hevesy, 1885–1966, S. 34, 36, 88, 91, 196, 204–205, 208 Alois Höfler, 1853–1922, S. 325–327, 338 Otto Hönigschmid, 1878–1945, S. 75, 98, 200, 203, 208 Hans Hoff, 1897–1969, S. 379 Albert Hoffmann, 1907–1972, S. 121 Gerhard Hoffmann, 1880–1945, S. 87, 90 Wilhelm Holczabek, 1918–2001, S. 379 Stefanie Horovitz, 1887–1942, S. 200, 208 Friedrich Houtermans, 1903–1966, S. 147, 150, 154–155 Eric Hulthén, 1894–1981, S. 229 Abram F. Ioffe, 1880–1960, S. 132 Nadeschda S. Iwanowa, 1908–1998, S. 143–144 Willibald Jentschke, 1911–2002, S. 21, 41, 83, 96, 101, 106, 134, 138, 143, 146–148, 153, 155, 161, 167, 204, 208 Irène Joliot-Curie, 1897–1956, S. 4, 85–86, 88, 98, 104, 106 Frédéric Joliot, 1900–1958, S. 4, 42, 85–86, 91, 98, 104, 106–107, 164, 370 Lauder W. Jones, 1869–1960, S. 356–357 Sergej W. Kaftanow, 1905–1978, S. 132, 155 Karl Kaindl, *1913, S. 138, 148, 161, 380–381
Personenregister
Elisabeth Kara-Michailova, 1897–1968, S. 88–89, 105, 217 Berta Karlik, 1904–1990, S. 13, 23, 28, 34, 38, 41, 51, 65, 71, 80, 82, 84, 89, 91, 98, 103, 106, 116, 162–171, 177–178, 204, 208, 212, 214, 217–220, 223, 226, 231–234, 236, 242, 248–250, 254–258, 262, 264, 272, 306, 311, 338, 369, 371–376, 380–391 Ernst Kauda, S. 379 Robert Gustav Kirchhoff, 1824–1887, S. 183, 207, 327, 338 Gerhard Kirsch, 1890–1956, S. 14, 21, 23, 27, 81–83, 96–98, 100, 104, 122–125, 127, 129, 214, 218, 221, 231, 360, 396 Josef Kisser, *1899, S. 379 Alfred Kment, 1911–1989, S. 379 Carl Kober, *1913, S. 149–150, 152 Alexander Koci, 1901–1992, S. 166, 255 Martin Kofler, *1881, S. 66 Fritz K. W. Kohlrausch, 1884–1953, S. 64, 71, 91–92, 273, 279, 284, 296–298, 300–302, 306, 311, 314, 338 Werner Kolhörster, 1887–1946, S. 32, 38, 344– 346, 352, 354, 363–364 Leopold Koppel, 1854–1933, S. 194 Moisei I. Korsunski, 1903–1976, S. 143–144 Bruno Kreisky, 1911–1990, S. 43, 160, 173–175, 179 Johannes von Kries, 1853–1928, S. 320 Hubert Kunz, 1895–1979, S. 379 Paul Kunze, 1897–1986, S. 357 Carl Kupelwieser, 1841–1925, S. 13, 20, 42, 111, 129 Igor W. Kurtschatow, 1903–1960, S. 132–134, 136, 152–154 Felix Kuschenitz, 1868–1936, S. 186–187 Walter Kutzner, S. 296 Anton Lampa, 1868–1938, S. 318, 326 Viktor von Lang, 1838–1921, S. 51, 187–188, Fritz Lange, 1899–1987, S. 150–151 Max von Laue, 1879–1960, S. 348 Ernest Lawrence, 1901–1958, S. 85–87, 91–92, 107 Robert W. Lawson, S. 76, 292, 306, Anton Leb, 1891–1965, S. 379 Fritz Lejeune, 1892–1966, S. 123 Friedrich von Lerch, 1879–1947, S. 60 Wilhelm Lexis, 1837–1914, S. 296
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Hans Lieb, 1887–1982, S. 379 Adolf Lieben, 1836–1914, S. 185, 188 Justus von Liebig, 1803–1873, S. 25 Samuel C. Lind, 1879–1965, S. 75 Axel E. Lindh, 1888–1960, S. 226–229 Karl Lintner, *1917, S. 22, 28, 83, 138, 143–147, 163, 166, 179, 239–241, 243–245, 248–255, 258–260, 262–265, 267, 398 Victor Cordier von Löwenhaupt, 1874–1928, S. 66, 71 Kurt Lücke, 1921–2001, S. 251 Ernst Mach, 1838–1916, S. 31, 45, 302, 312, 321–322, 324–327, 337, 340 Heinrich Mache, 1876–1954, S. 52, 55–57, 59, 62, 65–66, 71, 113, 277 Wassili A. Machnew, 1904–1966, S. 135, 146 Georgi M. Malenkow, 1902–1988, S. 134–135 Ernst Georg Mayer, 1893–1969, S. 372, 379, 386 Ernest Marsden, 1889–1970, S. 273, 284–286, 289, 291, 306 Hermann Franz (Herman Francis) Mark, 1895– 1992, S. 122, 382 Josef Mattauch, 1895–1976, S. 84, 89, 97, 106, 355 Lise Meitner, 1878–1968, S. 9, 27, 45, 77, 79, 81, 87, 89, 202–204, 207, 212, 228–229, 232–233, 236, 238, 361 Otto Merhaut, S. 101, 138 Edgar Meyer, 1879–1960, S. 30, 273, 281–282, 287, 290 Stefan Meyer, 1872–1949, S. 4, 13–14, 18, 21, 23, 32, 42–43, 46, 50–52, 55–62, 67–72, 75–80, 88, 90–96, 98–102, 107, 109, 113–118, 120– 122, 124–126, 162, 164, 179, 190, 196, 198, 200–203, 207–209, 212–213, 216–218, 220, 224–226, 231, 237–238, 277, 287, 309–310, 326, 328, 339–340, 342–343, 346–348, 350– 363, 365, 391, 393, 395 Adalbert Meznik, 1896–1980, S. 255 Wilhelm Miklas, 1872–1956, S. 114 Robert Andrews Millikan, 1868–1953, S. 32, 37, 78, 84, 299–300, 306, 345–346, 351–357, 363–364 Roland Mitsche, 1903–1978, S. 28, 241, 243–244, 249, 257–258, 265 Hans Molisch, 1856–1937, S. 112, 117, 124, 129, Ludwig Moser, 1879–1930, S. 58 Benito Mussolini, 1883–1945, S. 86
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Personenregister
Karl von Nägeli, 1817–1891, S. 320, 332–334, 338 Walther Nernst, 1864–1941, S. 65, 345, 352, 364 Yoshio Nishina, 1890–1951, S. 91 Josef Oberegger, 1896–1969, S. 256–257, 265 Wilhelm Ohnesorge, 1872–1962, S. 139 Mark Oliphant, 1901–2000, S. 95, 107 Walter Opawsky, S. 136–137, 143–145 J. Robert Oppenheimer, 1904–1967, S. 9, 38 Gustav Ortner, 1900–1984, S. 14, 22–23, 27, 82, 89–90, 96–97, 100–102, 124, 135–139, 142–143, 149, 154, 162–164, 167, 169, 171, 174, 178, 218, 220, 222, 230–232, 236, 254, 371, 373 Wilhelm Ostwald, 1853–1932, S. 310, 318, 326 Friedrich Adolf Paneth, 1887–1958, S. 34, 36, 58, 60–61, 90, 100, 120, 196, 200, 203, 208–209, 217, 220–222 Heinrich Paweck, 1870–1941, S. 59 Jean Baptiste Perrin, 1870–1942, S. 299, 306, 334, 336 Karl Peters, 1866–1931, S. 194 Alfred Petersen, 1885–1960, S. 247 Hans Pettersson, 1888–1966, S. 15, 19, 76–84, 88–98, 103–104, 214, 217–220, 222, 228–229, 348, 350, 353, 359–362 Otto Pettersson, 1848–1941, S. 228 Auguste Piccard, 1884–1962, S. 350 Arnold Pillat, 1891–1975, S. 379 Alfred Pischinger, 1899–1983, S. 379 Max Planck, 1858–1947, S. 311–312, 318, 324, 339 Richard Polaczek, S. 253–254 Michael Polanyi, 1891–1976, S. 242–243, 265 Leopold von Portheim, 1869–1947, S. 111 Cecil F. Powell, 1903–1969, S. 27, 222, 225–227, 229–230 Friedrich Prankl, 1914–2006, S. 21, 41, 101, 106, 143, 147, 155, 204, 208 Hans Leo Przibram, 1874–1944, S. 111 Karl Przibram, 1878–1973, S. 28, 58–60, 76, 90, 103, 107, 113, 220, 241, 248–250, 261, 264–265, 300, 306–307 Julius Raab, 1891–1964, S. 383 Gundolf E. Rajakovics, *1937, S. 258–259, 265 Boris Rajewsky, 1893–1974, S. 103
Carl Ramsauer, 1879–1955, S. 151, 236 William Ramsay, 1852–1916, S. 76 Erich Regener, 1881–1955, S. 30, 273, 276, 279, 281–282, 290, 306–307, 358–359, 365 Fritz Regler, 1901–1976, S. 23, 165, 170–171, 179 Franz Rehrl, 1890–1947, S. 112–114 Elisabeth Rona, 1890–1981, S. 80–81, 88–90, 100, 105, 107, 116, 223–224 Ernst Ruckensteiner, 1899–1970, S. 379 Erhard Ruschitzka, S. 116, 124 Ernest Rutherford, 1871–1937, S. 15, 19, 30, 69, 71, 76, 79, 85–86, 88, 95, 98, 104, 107, 204, 205, 208, 214, 273–275, 277–278, 280, 282–290, 307, 313, 348, 360 Georg (George) Sachs, 1896–1960, S. 242 Ryôkichi Sagane, *1905, S. 91 Awraami P. Sawenjagin, 1901–1956, S. 146, 149 Hubert Schardin, 1902–1965, S. 152 Ferdinand Scheminzky, 1899–1973, S. 20–21, 116, 121, 123–126, 129, 379, 396 Rudolf Schenck, 1870–1965, S. 252, 266 Josef Schintlmeister, 1908–1971, S. 83, 138, 145, 153–154, 161, 167, 396 Alfred Schinzel, 1904–1981, S. 379 Erich Schmid, 1896–1983, S. 8, 13, 27–28, 36, 41, 51, 65, 71, 166, 212, 236, 239–255, 257– 267, 272, 306, 311, 338, 398 Guido Schmidt, 1901–1957, S. 114 Wilhelm Schmidt, 1883–1936, S. 112 Thomas Schönfeld, 1923–2008, S. 215, 221–222, 237, 382, 392 Erwin Schrödinger, 1887–1961, S. 30, 44, 224– 226, 240, 293, 295, 297, 300–303, 305–307, 311, 317, 322, 325, 335–336, 338–339 Gustav Schubert, 1897–1976, S. 379 Kurt Schuschnigg, 1897–1977, S. 94, 98, 119 Egon von Schweidler, 1873–1948, S. 8, 30–31, 44, 52, 57, 59–60, 62, 64–66, 68, 71, 80, 98–100, 111, 196, 200, 209, 277–284, 286– 290, 293, 295–297, 302–304, 307, 309–319, 321, 323–331, 333–337, 339, 347, 353–354, 360–361, 399 Franziska Seidl, 1892–1983, S. 214 Heinrich Sequenz, 1895–1987, S. 165, 168 Manne Siegbahn, 1886–1978, S. 87, 228–229 Werner von Siemens, 1816–1892, S. 25 Frederick Soddy, 1877–1956, S. 30, 76, 88, 277–278, 313
Personenregister
Arnold Sommerfeld, 1868–1951, S. 81, 310–311, 319, 333, 340 Helene Souczek, 1881–1941, S. 64, 72 Josef W. Stalin, 1879–1953, S. 39, 105, 131–133, 155 Johannes Stark, 1874–1957, S. 50, 68, 82, 96, 348 Max Steenbeck, 1904–1981, S. 154, 156 Eduard Steinke, 1899–1960, S. 221, 226–228, 357 Georg Stetter, 1895–1988, S. 14, 19, 21, 23, 27, 81–84, 89, 91, 95–98, 100–102, 104, 122, 124, 129, 134, 136, 138, 146–154, 162–163, 166, 218–222, 230–232, 238, 254–255 Richard Stöhr, 1902–1991, S. 379 Fritz Strassmann, 1902–1980, S. 147, 155 Fritz Straubinger, *1893, S. 121 Eduard Suess, 1831–1914, S. 52, 188 Sándor Szalay, 1909–1987, S. 91 Armin Szilvinyi, 1895–1966, S. 379 Rudolf Thaller, *1888, S. 66 Hans Thirring, 1888–1976, S. 140, 156–157, 166, 226, 230–231, 235, 238, 254–255 Joseph John Thomson, 1856–1940, S. 204 Wilbur E. Tisdale, *1885, S. 79, 84, 91–94 Rudolf Tomaschek, 1895–1966, S. 150 Walther Trinks, 1910–1995, S. 152 Karl Ulrich, 1867–1925, S. 189, 190–191, 207 Heinrich Vogt, 1875–1957, S. 124 Georg Wagner, 1910–1977, S. 230, 238
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Anton Waldmann, 1878–1941, S. 123 Helmut Wallner, S. 116–118 Hertha Wambacher, 1903–1950, S. 15, 22, 26–27, 32, 37, 135, 137–139, 143–145, 211, 214–222, 225–231, 235–236, 238, 346, 358–359, 398 Frederic Wardenburg, 1905–1997, S. 149 Ernst Rudolph von Wartburg, 1887–1915, S. 66 Günter Wassermann, 1902–1986, S. 240–242, 244, 246, 247, 249, 264, 267 Warren Weaver, 1894–1978, S. 84, 91–93 Richard Weber, *1907, S. 244–246, 263, 266–267 Georg Weissenberger, *1887, S. 57 Carl Friedrich von Weizsäcker, 1912–2007, S. 150, 157 Carl Freiherr Auer von Welsbach, 1858–1929, S. 7, 25–26, 37, 66–67, 71, 183–191, 193–207, 209, 397, 408 John Archibald Wheeler, 1911–2008, S. 204 Albert Wiedemann, S. 379 Leopold Wieninger, *1915, S. 138 Eugene Wigner, 1902–1995, S. 239, 242, 250 Leo von Wikullil, 1900–1942, S. 114, 119–120 Charles T.R. Wilson, 1869–1959, S. 299–300 Karl Wirtz, 1910–1994, S. 151 Theodor Wulf, 1868–1946, S. 343, 364–365 Hideki Yukawa, 1907–1981, S. 226–227 Hans Zacherl, 1889–1968, S. 379 Jaroslav Zakovsky, 1905–1972, S. 384, 386, 389 Robert Zimmermann, 1824–1898, S. 325–326 Gernot Zippe, 1917–2008, S. 154, 396
Autorinnen und Autoren
Beate Ceranski Studium der Physik und Mathematik an der Universität Bonn. Promotion zur Geschichte der Naturwissenschaften an der Universität Hamburg. Habilitation für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik an der Universität Stuttgart. Derzeit Akademische Oberrätin ebendort. Forschungsschwerpunkte : Gender Studies, Entstehung neuer Disziplinen, Arbeitsgeschichte der Wissenschaften, Universitätsgeschichte. Vanessa Cirkel-Bartelt Studium der Geschichte und Anglistik an der Universität Düsseldorf. Promotion zur Wissenschaftsgeschichte an der Universität Wuppertal. Derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Wissenschafts- und Technikgeschichte der Bergischen Universität in Wuppertal. Forschungsschwerpunkt : Geschichte der Physik im frühen 20. Jahrhundert. Deborah R. Coen Studium der Physik und Promotion zur Wissenschaftsgeschichte an der Harvard University. Derzeit Hochschulassistentin für Geschichte am Barnard College der Columbia University in New York. Forschungsschwerpunkte : Geschichte der modernen Physik und der Geowissenschaften sowie Kulturgeschichte Mitteleuropas. Silke Fengler Studium der Geschichte, Wirtschafts- und Politikwissenschaft an den Universitäten München und Köln. Promotion zur Technik- und Unternehmensgeschichte an der RWTH Aachen. Derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte : Geschichte der österreichischen Kernforschung, Geschichte der deutschen Fotoindustrie. Christian Forstner Studium der Physik und Promotion zur Wissenschaftsgeschichte an der Universität Regensburg. Predoctoral Fellow am MPI für Wissenschaftsgeschichte Berlin. Postdoc am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Derzeit Assistent am Ernst-HaeckelHaus der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte : Physik im Kalten Krieg, Geschichte der Quantenmechanik.
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Autorinnen und Autoren
Ingrid Groß Studium der Geschichte an der Universität Klagenfurt. Derzeit freie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Neuere und Österreichische Geschichte der Universität Klagenfurt. Forschungsschwerpunkt : Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Habsburgermonarchie, österreichische Unternehmensgeschichte des 19. Jahrhunderts. Rainer Karlsch Studium der Wirtschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, Promotion ebendort. Derzeit freiberufliche Leitung eines deutsch-russischen Forschungsprojekts zur Geschichte des Uranbergbaus der Wismut AG an der TU Chemnitz. Forschungsschwerpunkte : Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Wolfgang Knierzinger Studium der Geschichte an der Universität Wien. Derzeit Aufbaustudium Erdwissenschaften an der Universität Wien. Tätigkeit im Bereich Wissenschaftsjournalismus. Forschungsschwerpunkt : Geschichte des Forschungsinstituts Gastein, 1936–1945. Gerd Löffler Studium der Physik und Promotion zur Kern- und Elementarteilchenphysik an der Universität Hamburg. Berufstätigkeit in der Computerbranche. Studium der Geschichte an der Universität Klagenfurt. Derzeit Vorbereitung einer Promotion an der Universität Klagenfurt. Forschungsschwerpunkt : Carl Auer von Welsbach. Günther Luxbacher Ausbildung zum Textiltechniker, Studium der Geschichte und Publizistik an der Universität Wien. Kustos am Technischen Museum Wien. Promotion an der RWTH Aachen. Postdoc im Forschungsprogramm »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus«. Derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Technikgeschichte der TU Berlin. Forschungsschwerpunkte : Metallersatzstoffe im 20. Jahrhundert, Unternehmens- und Technikgeschichte von Osram und Telefunken bis 1945. Carola Sachse Studium der Geschichte an den Universitäten Fribourg, Frankfurt am Main und Berlin. Promotion und Habilitation an der TU Berlin. Universitätsprofessorin am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte : Wissenschafts-, Unternehmens- und Geschlechtergeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Geschichte der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft.
Autorinnen und Autoren
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Alexander von Schwerin Studium der Biologie und Wissenschaftsgeschichte in Bonn und Berlin. Promotion an der FU Berlin. Derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften/Pharmazie der TU Braunschweig. Forschungsschwerpunkte : Geschichte von Gefahrstoffen und Umweltpolitik, Geschichte der Genetik, Molekularbiologie und Strahlenbiologie. Ruth Lewin Sime Studium der Mathematik am Barnard College der Columbia University in New York. Promotion in Chemie an der Harvard University. Emeritierte Professorin für Chemie am Sacramento City College in Sacramento, CA. Forschungsschwerpunkte : Biographie Otto Hahns, Frauen in der Wissenschaft, Wissenschaft im Nationalsozialismus. Michael Stöltzner Studium der Philosophie und Physik in Tübingen, Wien und Bielefeld. Magister in Physik an der Universität Wien sowie Promotion in Philosophie an der Universität Bielefeld. Derzeit außerordentlicher Professor für Philosophie an der University of South Carolina, Columbia, USA. Forschungsschwerpunkte : Philosophie und Geschichte der Physik und angewandten Mathematik ; die Geschichte der Wissenschaftstheorie, insbesondere des Wiener Kreises; die Epistemologie der angewandten Wissenschaften ; formale Teleologie und Wirkungsprinzipien ; Wissensordnungen und Enzyklopädien.
ReinhaRd Böhm, ingeBoRg aueR, Wolfgang SchöneR
l aBoR üBeR den Wolken die geSchichte deS SonnBlick-oBSeRvatoRiumS
Auf dem Sonnblick, einem Dreitausender in den Hohen Tauern, wurden seit 1886 Millionen von Wetter- und Umweltdaten erhoben, gesammelt und wissenschaftlich analysiert. Forschungsthemen wie Klimawandel, Gletscher, die Energie der Sonnenstrahlung, UV, Ozon, Wolkenphysik und die Chemie der an sich reinen Hochgebirgsatmosphäre und des Schnees sind wesentliche, aber nicht alle Themen, für die auf dem exponierten Berggipfel in idealer „Backgroundlage“ ein modernes Labor bereitsteht. Die Autoren erzählen ein Stück österreichischer Wissenschaftsgeschichte, die seit Jahren auch ihre eigene ist. Sie machen Wissenschaft begreifbar und durch die durchgehend mitverflochtenen, oft abenteuerlichen Geschichten der auf diesem Außenposten arbeitenden Menschen im besten Sinn des Wortes erfahrbar. 2011. 349 S. und 32 S. Farbabb. 154 S/w- und 62 Farb. abb. Gb. 170 x 240 mm. € 39,00 ISbn 978-3-205-78723-5
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Hilmar ScHmundt miloš Vec Hildegard WeStpHal (Hg.)
mekk aS der moderne pilgerStätten der WiSSenSgeSellScHaft
Der Katholizismus hat den Vatikan, das Judentum hat die Klagemauer, der Islam hat Mekka. Doch es gibt auch Orte, an denen sich Aufklärung und Moderne ihrer Ursprünge versichern. Sie sind die säkularen Pilgerstätten der Wissensgesellschaft. Sie sind nicht nur Orte der kühlen Erkenntnis, sondern auch der sinnlichen Anschauung oder gar des emotionalen Berührtseins. Diese Mekkas der Moderne haben eine ganz eigene Aura. Oft betreten die Besucher sie mit Ehrfurcht: so etwa das Teilchenforschungszentrum CERN in Genf oder das British Museum in London, das jährlich fast fünf Millionen Besucher aus aller Welt anzieht – weit mehr als der Vatikan oder selbst Mekka. Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalisten laden zu einer einzigartigen Weltreise ein, einer Grand Tour des 21. Jahrhunderts: von Freuds Behandlungszimmer in Wien bis zu den Galápagos-Inseln, von Nietzsches Grab bis zum Weltraumbahnhof in Cape Canaveral, von der Heimat des Blues in Afrika bis zum Pantheon der Gehirne in Moskau. Mit Beiträgen von Peter Becker, Friedrich von Borries, Holger Dambeck, Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Philipp Elsner, Peter Glaser, Jürgen Kaube, Rainer Maria Kiesow, Dirk van Laak, Harald Lesch, Michael Rutschky, Ilija Trojanow, Uwe Wesel, Steve Wozniak und vielen anderen. 2010. 424 S. Mit 119 Duotone-Abb. Gb. 135 x 210 MM. iSbn 978-3-412-20529-4
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RobeRt W. RosneR, bRigit te stRohmaieR (hg.)
Marietta Bl au – Sterne der ZertrüMMerung biogRaphie eineR WegbeReiteRin deR modeRnen teilchenphysik Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung, Band 3
Marietta Blau (1894–1970) war unter den ersten Frauen, die an der Universität Wien Physik studierten. Sie entwickelte am Wiener Radiuminstitut eine Methode zur Registrierung von Kernteilchen mit Hilfe von photographischen Platten. Höhepunkt ihrer Forschung war die Entdeckung von „Zertrümmerungssternen“, den Spuren der Kernreaktionen, die die Höhenstrahlung in den Photoplatten bewirkt. 1938 emigrierte sie auf Vermittlung Albert Einsteins nach Mexiko, wo sie aber wissenschaftlich völlig im Out war. Nach ihrer Übersiedlung in die USA war sie zunächst in der Industrie tätig, bevor sie 1948 wieder Zugang zur Teilchenphysik und somit zu wissenschaftlicher Forschung fand. Als sie 1960 nach Wien zurückkehrte, war sie bereits dreimal vergeblich für den Nobelpreis vorgeschlagen worden, und sie fand in ihrer Heimatstadt die unaufgearbeiteten Probleme der Nazizeit vor. Zehn Jahre verlebte sie in diesem schwierigen Ambiente, vier davon forschte sie noch am Radiuminstitut. Das Buch versucht den intellektuellen Fähigkeiten dieser Frau ebenso gerecht zu werden wie ihrem zurückhaltenden Wesen und ihrer menschlichen Wärme. 2003. 224 s. 27 s/W-abb., zahRl. faks. 135 x 210 mm. gb. m. su. isbn 978-3-205-77088-6
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AndreAs dornheim
Forschergeist und unternehmermut der Kölner chemiKer und industrielle hermAnn Julius grüneberg (1827–1894)
Hermann Julius Grüneberg (1827-1894) gehört nicht nur zu den großen rheinischen Unternehmerpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts, sondern war auch einer der Chemiepioniere seiner Zeit. Grüneberg gründete 1858 zusammen mit dem Kölner Kaufmann Julius Vorster die Firma Vorster & Grüneberg, die sich später als Chemische Fabrik Kalk GmbH (CFK) zu einem der führenden deutschen Unternehmen der chemischen Großindustrie entwickelte. Er stand mit bedeutenden Chemikern seiner Zeit wie Justus von Liebig und Robert Bunsen in Kontakt. In den 1860er Jahren erstellte er eine Düngetafel, die zur Durchsetzung mineralischer Düngemittel in der Landwirtschaft führte. Diese Entwicklung fand weltweite Beachtung und galt lange als unverzichtbares Hilfsmittel. Er erfand den Grünebergschen Apparat zur Destillation von Ammoniakwasser, das im 19. Jahrhundert bei der Beleuchtung der Großstädte mit Leuchtgas als Abfallprodukt anfiel. Grüneberg meldete zahlreiche Patente an. Auch politisch und karitativ war der Chemiker und Unternehmer tätig. Die Biographie stellt das Leben und Schaffen Grünebergs auf der Grundlage bisher noch nicht ausgewerteter Quellen umfassend und anschaulich dar. 2006. 331 S. Mit 94 farb. abb. und 1 farb. auSklapp-tafel Gb. 155 x 230 MM. iSbn 978-3-412-03006-3
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