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German Pages 340 Year 2022
Heinz Neuber
Kerbspannungslehre
Heinz Neuber
Kerbspannungslehre Theorie der Spannungskonzentration Genaue Berechnung der Festigkeit
Mit 214 Abbildungen
Akademie-Verlag • Berlin 1985
Autor: Dr.-Ing. Dr. rer. nat. h. c. Heinz Neuber em. o. Professor der Mechanik an der Technischen Universität München
Die Originalausgabe erscheint im Springer-Verlag, Berlin—Heidelberg—New York—Tokyo als 3., völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage.
Vertrieb ausschließlich für die D D R und die sozialistischen Länder
Alle Rechte vorbehalten © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1984 Erschienen im Akademie-Verlag, D D R -1086 Berlin, Leipziger Str. 3—4 Lizenznummer: 202 • 100/503/85 Printed in t h e German Democratic Republic Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „Maxim Gorki", 7400 Altenburg LSV 3025 Bestellnummer: 763 466 8 (6899) 19800
Vorwort
Die erste Auflage des Buches erschien im Jahre 1937. Zwei Jahre danach brach der Zweite Weltkrieg aus, währenddessen das Buch in den Vereinigten Staaten, in der Sowjetunion und in J a p a n nachgedruckt wurde, wobei sich diverse Übersetzungsfehler einschlichen. In der Folgezeit entwickelte sich, beginnend in den USA und Japan, eine verkürzte, auf den Biß bezogene Theorie, die sog. Bruchmechanik („fracture mechanics"), mit deren Hilfe man das Strukturmodell des Verfassers (später „Mikrostützwirkung" genannt), das zur Überbrückung der bei Spitzkerben auftretenden Singularität diente, umgehen zu können glaubte. In der vorliegenden Neuauflage werden die diversen Schwächen der Bruchmechanik nachgewiesen. Es handelt sich in erster Linie um die Verletzung der Spannungsverteilung in der Umgebung der Kerb- oder Rißspitze; ferner sind die Rißquerdimension und der Oberfächenkrümmungsradius vernachlässigt. Darüber hinaus sind alle Effekte, die mit den Abweichungen vom linearen Elastizitätsgesetz in Zusammenhang stehen, ignoriert. I n der vorliegenden Neuauflage werden diese Effekte durch eine nichtlineare Theorie erfaßt („Makrostützwirkung"). Mit Hilfe der Konzepte der Mikro- und Makrostützwirkung erschließt das Buch neue Wege für die Festigkeitsforschung. In der Plattentheorie bereitete bisher das Zusammenwirken der harmonischen Funktionen mit den Lösungen der Helmholtz-Gleichung bei Randwertproblemen erhebliche Schwierigkeiten, die aber in der vorliegenden Neuauflage durch eine erfolgreiche Näherungsformel überbrückt werden. Dabei wird der Faktor der Spannungskonzentration auf eine Kombination der Faktoren der Kirchhoff-Platte und der zugbeanspruchten Scheibe zurückgeführt. Für den Übergang zur beliebig tiefen Kerbe wird anstelle der früher angewandten Interpolationsformel ein genaueres Verfahren verwendet. Mit Hilfe eines Äquivalenzprinzips für Spannungskonzentrationen werden die Faktoren flacher und tiefer Kerben beliebiger Belastung auf das Prisma bei Querschub zurückgeführt und mit Hilfe einer von Landgraf 1 und Löbel 2 aufgestellten Lösung für das querschubbeanspruchte Prisma mit beliebig tiefer Kerbe zum Faktor der resultierenden Spannungskonzentration zusammengefaßt. Hinsichtlich der dezimalen Gliederung dieses Buches ist zu bemerken, daß alle Unterabschnitte, Abbildungen und Schrifttumsangaben innerhalb jedes Abschnittes numeriert wurden. Gleichungen (in runden Klammern) wurden innerhalb jedes Unterabschnittes durchnumeriert. Bei Hinweisen auf Gleichungen eines anderen Unterabschnittes wurde dessen Nummer mit Schrägstrich vor der Gleichungsnummer angegeben. München, im Oktober 1984 1
H. Neuber
Prof. Dr. rer.nat., Technische Universität Dresden. 2 Dr. Ing., Institut für Stahlbeton, Dresden.
Inhaltsverzeichnis
1
Einführung
1
1.1 1.2 1.3
Entstehung der Festigkeitslehre Erkenntnis des Formeinflusses Entwicklung und Anwendung der Spannungsverteilungstheorien . .
1 2 3
2
Grundlagen
7
2.1 2.2 2.3
Spannung und Formänderung Der Dreifunktionenansatz Der Rechnungsgang in krummlinigen Koordinaten
7 8 10
3
Prismatische Körper bei Querschub
14
3.1 3.2
Die Ausgangsgleichungen Die halbelliptische Kerbe am geraden Rand bei Schub und die Mikrostützwirkung Die halbelliptische Kerbe am geraden Rand mit Einzellasten . . . Die halbelliptische Kerbe mit Riß am geraden Rand bei Schub . . Die Parabelkerbe bei Schub Die Parabelkerbe mit Einzellasten . . . . - . • Gerader Rand mit zahnartigem Vorsprung bei Schub Zahnartiger Vorsprung mit Einzellast Kerbe am geraden Rand (weitere Kerbformen) Elliptisches Loch Elliptisches Loch mit Einzellasten Kreisförmiger Ausschnitt mit schrägen Flanken Kreisförmiger Ausschnitt mit schrägen Flanken unter Einzellasten . Ellipsenähnlicher Ausschnitt mit schrägen Flanken Ellipsenähnlicher Ausschnitt mit schrägen Flanken bei Einzellasten Zwei Bohrungen Zwei Bohrungen unter Eigenspannungen Kreisbogenkerbe am geraden Rand Kerbe mit geraden Flanken senkrecht zum Rand und ellipsenähnlichem Kerbgrund Unendlich tiefe Kerbe mit geraden parallelen Flanken und zykloidischem Kerbgrund Hyperbelkerbe Hyperbelähnliche Kerbe Beiderseitige Kerbe beliebiger Tiefe Beiderseitige Kerbe beliebiger Tiefe mit geraden parallelen Flanken
14
3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 3.10 3.11 3.12 3.13 3.14 3.15 3.16 3.17 3.18 3.19 3.20 3.21 3.22 3.23 3.24
16 20 21 25 27 28 29 30 33 35 36 39 39 40 40 42 43 45 46 48 49 52 54
VIII
3.25 3.26 3.27 3.28 3.29 3.30 3.31 3.32 3.33 3.34 3.35 3.36 3.37 3.38 3.39 3.40 3.41
Inhaltsverzeichnis
Flache Kerbe mit beliebigem Flankenwinkel Tiefe beiderseitige Kerbe mit beliebigem Flankenwinkel Beiderseitige Kerbe beliebiger Tiefe mit beliebigem Flankenwinkel . Mehrfache Bohrungen Zwei gleiche Bohrungen Eine Bohrung mit zwei Entlastungsbohrungen Unendliche Bohrungsreihe Zahnrad bei Querschub durch Einzelkraft Zahnstange bei Querschub durch Einzelkraft Halbraum mit schubbelasteter Wand, Optimalprofil mit konstanter Randschubspannung Beiderseitige Außenkerbe bei Querschub als Optimalprofil mit konstanter Randschubspannung Eine Lösung für die flache beiderseitige Außenkerbe bei Schub . . Ausgangsgleichungen für physikalisch-nichtlinearen Schub . . . . Übergang zur Theorie der komplexen Funktionen bei physikalischnichtlinearem Schub mit speziellem Schubgesetz Parabelartige Kerbe bei beliebigem physikalisch-nichtlinearem Schubgesetz Weitere Verfahren für nichtlineare Spannungs-Dehnungs-Funktionen Unendlich tiefe Kerbe mit geraden Flanken und zykloidischem Kerbgrund bei beliebigem physikalisch nichtlinearem Schubgesetz .
55 58 60 63 65 67 68 70 71 72 73 75 76 79 86 88 89
4
Scheiben
93
4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.6
Die Ausgangsgleichungen 93 Die Parabelscheibe 99 Die Parabelscheibe bei symmetrischem Zug 100 Die Mikrostützwirkung 103 Die Parabelscheibe bei mittigem Zug und Biegung 105 Die Parabelscheibe bei ebenem Schub 109 Die Parabelscheibe mit Randsingularitäten 111 Die Parabelscheibe mit symmetrisch angreifendem Druckpaar . . . 1 1 3 Die beiderseitige Außenkerbe (Hyperbelkerbe) 115 Zug 116 Biegung 119 Ebener Schub 121 Die einseitige tiefe Außenkerbe 125 Zug 125 Biegung 128 Ebener Schub 128 Bohrung und Langloch in der sehr breiten Scheibe 129 Zug 130 Biegung 133 Ebener Schub 136 Die flache Außenkerbe 140
Inhaltsverzeichnis
IX
4.6.1 4.6.2 4.6.3
Zug Biegung Ebener Schub
140 144 145
4.7
Der Riß am geraden R a n d der zugbeanspruchten Halbscheibe . . . 147
4.8
Zugbeanspruchte Halbscheibe mit halbelliptischer R a n d k e r b e . . . 151
4.9
Zugbeanspruchte Halbscheibe mit Riß in halbelliptischer R a n d k e r b e .
4.10
Der Vorsprung am geraden R a n d der zugbeanspruchten Halbscheibe 155
4.11
Der Zahn mit Einzellast
158
4.12
Die Zahnfußbeanspruchung
164
152
4.13
Das Zahnrad mit Einzellast
168
4.14
Die Zahnstange mit Einzellast
169
4.15
Mehrfach gelochte Scheiben
170
4.16
Angenäherte Optimierung der Spannungskonzentration mit Hilfe der Forderung der konstanten Randspannung Die Ausgangsgleichungen Der zugbeanspruchte Flachstab mit angenähert optimalem Querschnittsübergang (Exponentialprofil) Die symmetrisch auf Zug beanspruchte tiefe beiderseitige Außenkerbe mit angenähert optimaler Randform (Kettenlinie) Die Zuglasche als Optimalprofil mit konstanter R a n d s p a n n u n g . . Die zugbeanspruchte beiderseitige symmetrische Außenkerbe als Optimalprofil mit konstanter R a n d s p a n n u n g
4.16.1 4.16.2 4.16.3 4.16.4 4.16.5
174 175 176 177 180 182
4.17
Die zugbeanspruchte Scheibe mit Kreisloch und einem zum äußeren R a n d führenden geraden Schlitz 182
5
Platten
185
5.1 5.2
185
5.8 5.9
Die Ausgangsgleichungen f ü r die Kirchhoff-Platte Die beiderseitige tiefe symmetrische Außenkerbe (Hyperbelkerbe) in der biegebeanspruchten Kirchhoff-Platte Das elliptische Loch in der biegebeanspruchten Kirchhoff-Platte . Die biegebeanspruchte Kirchhoff-Platte mit kreisförmigem Loch und einem zum äußeren R a n d führenden geraden Schlitz Die Ausgangsgleichungen f ü r die Reissner-Platte Die biegebeanspruchte Reissner-Platte mit kreisförmigem Loch . . Die biegebeanspruchte Reissner-Platte mit kreisförmigem Loch und einem zum äußeren R a n d führenden geraden Schlitz Plattentheorie mit Hilfe des Dreifunktionenansatzes Eine Näherungsformel f ü r beliebig dicke P l a t t e n
6
Torsion prismatischer Körper
6.1 6.2
Die Ausgangsgleichungen 210 Aus zwei Kreisen bestehender Querschnitt eines tordierten Stabes, wobei der Mittelpunkt des einen Kreises auf der Peripherie des anderen liegt 211
5.3 5.4 5.5 5.6 5.7
191 194 197 199 201 203 206 208 210
X
Inhaltsverzeichnis
6.3 6.4 6.5 6.6
Tordierter prismatischer S t a b m i t flacher K e r b e 213 Tordierter prismatischer S t a b mit beliebig vielen, symmetrisch verteilten N u t e n (Sonderfall: Querschnitt in F o r m einer Acht) . . . 214 D ü n n w a n d i g e H o h l k ö r p e r bei Schub und Torsion 215 Wellen mit Querbohrung 216
7
Räumliche Kerb Wirkung
218
7.1
Die Ausgangsgleichungen
218
7.2
Lösung der Potentialgleichung in Ellipsoidkoordinaten
223
7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3
Die tiefe A u ß e n d r e h k e r b e (Hyperboloid) Zug Biegung Schub
228 228 233 236
7.4 7.4.1 7.4.2 7.4.3
Die flache I n n e n d r e h k e r b e ohne axiale B o h r u n g (Hohlellipsoid) Zug Biegung Schub
. . 243 244 252 260
8
Torsion der Drehkörper
270
8.1 8.2 8.3 8.4
270 271 273
8.5
Die Ausgangsgleichungen Die tiefe Außendrehkerbe (Hyperboloid) bei Torsion Die flache Außendrehkerbe bei Torsion Die flache I n n e n d r e h k e r b e ohne axiale B o h r u n g (Hohlellipsoid) bei Torsion Die flache I n n e n d r e h k e r b e mit axialer B o h r u n g bei Torsion . . . .
9
Die Drehkerben mit zweidimensionalem Spannungs verlauf.
280
9.1 9.2 9.3 9.4 9.5
Die Ausgangsgleichungen Zug Biegung Schub Torsion
280 282 283 283 289
10
Entlastungskerben
291
10.1 10.2 10.3
Begriffserklärung E n t l a s t u n g s k e r b e n bei Torsion E i n e Näherungsformel f ü r E n t l a s t u n g s k e r b e n
291 292 297
11
Der Einfluß des Kerbflankenwinkels
298
11.1 11.2
Die scharf g e k r ü m m t e K e r b e bei beliebigem Flankenwinkel bei Schub 298 Die scharf g e k r ü m m t e K e r b e bei beliebigem Flankenwinkel bei Zug 300
12
Die Formzahldiagramme und ihre Anwendung
306
12.1
Allgemeine Überlegungen
306
. . .
275 278
Inhaltsverzeichnis
12.2 12.3 12.4 12.5 12.6 12.7
Das alte Verfahren Das neue Verfahren Bohrung und Langloch Platten Drehkörper mit Bohrung Beispiele
XI
310 312 312 314 314 316
Literaturverzeichnis
318
Sachverzeichnis
325
1
Einführung
1.1 Entstehung der Festigkeitslehre Schon in grauer Vorzeit war der Mensch bestrebt, die Natur in seinen Dienst zu stellen. Beginnend mit einfachen Ästen oder Balken, die als Stütze oder Hebel dienten, erfand der Mensch nach und nach Tragwerke bzw. Mechanismen, die ihn befähigten, die Naturkräfte für sich nutzbar zu machen. Dabei stellte sich bald heraus, daß es notwendig war, die in den einzelnen Bauteilen auftretenden K r ä f t e wenigstens angenähert zu berücksichtigen, wenn ein Bruch vermieden werden sollte. I n der ersten Zeit des Maschinenbaus begnügte man sich damit, f ü r die wesentlichen Maschinenteile einfache Verhältniswerte als Anhaltspunkte zu verwenden. So wurde z. B. die Dicke eines als Hebel dienenden Bauteils der Hebellänge proportional gesetzt oder der Wellendurchmesser einer Dampfmaschine zu einem bestimmten Bruchteil des Zylinderdurchmessers gewählt. Bei großer Ähnlichkeit der Betriebsverhältnisse kam man mit derartigen Richtlinien noch aus. Im Laufe der ununterbrochen fortschreitenden technischen Entwicklung ergaben sich jedoch hinsichtlich der auftretenden Kräfte, der Bauarten und der Art der Kraftübertragung wesentliche Unterschiede, und man erkannte bald die Unvollkommenheit des Bemessungsverfahrens. Die Ingenieure sahen sich nun veranlaßt, neue Wege zur Berechnung der Bauteildimensionen zu suchen. Man erkannte, daß es hierzu notwendig war, die von den einzelnen Baugliedern aufzunehmenden Kräfte auf Grund der inzwischen entwickelten Verfahren der Statik und Kinetik so genau wie möglich zu ermitteln. Die auf den Querschnitt des jeweils beanspruchten Bauteils bezogenen Kräfte führten zum Begriff der „Beanspruchung" oder „Spannung". Durch Vergleich mit den experimentell ermittelten Festigkeitsdaten der verschiedenen Werkstoffe entstand in der Folgezeit der Begriff der betriebsmäßig „zulässigen Beanspruchung", der auch heute noch, wenn auch in verfeinerter Form, in der Festigkeitslehre die Grundlage der Beurteilung der Werkstoi'fanstrengung bildet. Die erstmalig von Bach [1.1] für die zulässige Beanspruchung aufgestellten Zahlenwerte, die für den Maschinenbau zur Anwendung empfohlen wurden, beruhten auf der Voraussetzung, daß sich die Spannungen über den Querschnitt der Bauteile wie beim prismatischen Stab mit linearem Formänderungsgesetz verteilen. So wurde z. B. bei Zug und Biegung auch für nicht-prismatische Konstruktionsteile der einfache geradlinige Spannungsverlauf der Berechnung zugrunde gelegt. Die wirkliche Spannungsverteilung und die ihr entsprechende höchste Beanspruchung, die den Bruch verursacht, wurde noch ignoriert; denn man hatte kaum Möglichkeiten, sie auf dem Wege der Theorie oder des Versuches zu ermitteln. Diese erste Festigkeitslehre beschränkte sich mithin im wesentlichen auf die Anwendung elementarer Formeln und war insbesondere noch f ü r den ortsfesten Maschinenbau innerhalb gewisser Grenzen ausreichend.
2
1 Einführung
1.2 Erkenntnis des Formeinflusses Im Laufe der weiteren Entwicklung der Technik, vor allem aber des Verkehrsniaschinenbaus und des Leichtbaus, entstand die dringende Forderung nach Verringerung des Gewichtes. Der Konstrukteur sah sich gezwungen, die Querschnitte der Bauteile zu verkleinern und höhere Beanspruchungen der Werkstoffe zuzulassen. Hierbei traten die Schwächen der bisherigen Festigkeitslehre und ihrer Voraussetzungen deutlich hervor. Eine Steigerung der zulässigen Beanspruchung der Werkstoffe war nur innerhalb einer sehr engen Grenze möglich, die bei weitem nicht jenem Spielraum entsprach, der auf Grund der inzwischen von der Materialprüfung nachgewiesenen Verbesserung der Festigkeitseigenschaften der Werkstoffe zu erwarten gewesen wäre. Die wissenschaftliche Forschung erkannte jetzt in vollem Umfange die Bedeutung der Form des Konstruktionsteils für seine Haltbarkeit. Man sah ein, daß es nicht genügt, für ausreichende Querschnittsflächen zu sorgen, um die Kräfte aufnehmen zu können, sondern daß auch Querschnittsübergänge eine entscheidende Rolle spielen. Nur bei stark abgerundeter Form unter möglichster Vermeidung schroffer Querschnittsübergänge kann ein angenähert gleichmäßiger Spannungsverlauf erwartet werden. Die inzwischen weiter entwickelten experimentellen Verfahren (Dehnungsmessung, Reißlackmethode) sowie die Modellverfahren (insbesondere die Spannungsoptik) verschafften dem Ingenieur neue Einblicke in die wirklich im Bauteil eintretende Dehnungsverteilung. Es ergab sich, daß Abweichungen vom geradlinigen Dehnungs- und damit auch vom Spannungsverlauf in hohem Maße durch Ungleichmäßigkeiten der Oberflächenform bedingt sind, Einflüsse, die man unter dem Begriff „KerbWirkung" zusammenfaßte. Jedoch ließen sich die auftretenden Spannungsspitzen vielfach bei noch so geschickter Formgebung nur teilweise abmindern, zumal die Ungleichmäßigkeiten der Form bei Maschinenteilen meist konstruktiv bedingt sind. Der ungleichmäßige Spannungszustand mußte daher in der Fesligkeitsrechnung Berücksichtigung finden. Da die bisherige Festigkeitslehre nicht ausreichte, suchte man zunächst den wirklichen Verhältnissen durch Einführung von Faktoren näherzukommen, den sog. „Kerbfaktoren" oder nach Thum [1.2] „Formzahlen", die das Verhältnis der wirklichen Höchstspannung zum elementaren Spannungswert („Nennspannung") angeben. Für diese Faktoren standen jedoch noch keine zuverlässigen Werte zur Verfügung. Die so bestehende Unsicherheit war häufig die Ursache unaufgeklärter Maschinenbrüche. Zur Vermeidung weiterer Schäden verlangte die Industrie daher die Aufstellung von Berechnungsgrundlagen für die Ermittlung der wirklich eintretenden Spannungsverteilung. Die gleiche Forderung wurde bald auch von den Organen der technischen Überwachung erhoben. Dieser, an die theoretische Mechanik gestellten Forderung folgte alsbald eine zweite an das Versuchswesen, insbesondere an die staatlichen Materialprüfungsämter. Wie sich die alte Festigkeitslehre nur mit dem einfachen gleichmäßigen Spannungszustand befaßte, so war es in ähnlicher Weise bei der Werkstoffprüfung der Fall, wo anfangs nur einfach geformte Proben untersucht wurden. Um den wirklichen Verhältnissen auch von der experimentellen Seite her näherzu-
1.3 Entwicklung und Anwendung der Spannungsverteilungstheorien
3
kommen, ging man nun dazu über, verschiedenartig geformte Proben, insbesondere gekerbte und gelochte Stäbe hinsichtlich ihrer statischen und dynamischen Festigkeitseigenschaften zu untersuchen, mit dem Ziele, die Beanspruchbarkeit der Materialien bei ungleichmäßiger Spannungsverteilung zu erforschen. Es zeigte sich jedoch bald, daß die Durchführung des hierzu erforderlichen Yersuchsprogramms einen so erheblichen Kosten- und Zeitaufwand bedingte, daß befriedigende Ergebnisse kaum in absehbarer Zeit erwartet werden konnten; die experimentelle Forschung, die sich auf Einzelfälle bezieht und deshalb allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten nur indirekt aufdecken kann, reichte für eine technisch brauchbare Lösung der Problematik nicht aus. Umfassende Gedankengänge, wie sie zu einer erfolgreichen Spannungslehre erforderlich sind, konnten nur durch gründliche theoretische Untersuchungen gewonnen werden. Dabei boten sich der theoretischen Mechanik wichtige und erfolgversprechende Aufgaben.
1.3 Entwicklung und Anwendung der Spannungsverteilungstheorien Hierbei beschränkte man sich zunächst auf die lineare (klassische) Elastizitätstheorie, wobei sowohl geometrische Linearität (kleine Verformungen und deshalb lineare Beziehungen zwischen den Verschiebungsableitungen und den Verzerrungskomponenten) als auch physikalische Linearität (lineare Beziehungen zwischen den Verzerrungs- und Spannungskomponenten gemäß dem Hookeschen Elastizitätsgesetz) vorausgesetzt werden [1.3]. Man versuchte, in das Neuland der Spannungsverteilungen in der Umgebung von Störungsstellen, wie Löchern, Hohlräumen und Kerben vorzudringen. Die ersten Lösungen derartiger Probleme bezogen sich auf das kreisförmige Loch (Kirsch [1.4]), den kugelförmigen Hohlraum (Leon [1.5]) und das elliptische Loch (Inglis [1.6]) u. a. Schon beim elliptischen Loch zeigte sich ein Zusammenhang des Kerbfaktors mit der Oberflächenkrümmung, der später durch den Verfasser als allgemeine Gesetzmäßigkeit f ü r Kerbprobleme nachgewiesen wurde. Formalistische Verbesserungen der Lösungsverfahren gaben vor allem auf drei Gebieten den Anstoß zu weiteren Arbeiten. Bei schubbeanspruchten prismatischen Körpern besteht ein direkter Zusammenhang mit der konformen Abbildung und der Theorie der komplexen Funktionen. Die auf diesem Wege erzielbaren Vereinfachungen sind so wesentlich, daß sich der Verfasser entschloß, diesen Problemkreis an den Anfang des Buches zu stellen. In der Theorie der Scheiben (ebener Spannungszustand) wurden durch Kolossow [1.7] und Muschkelisvili [1.8] komplexe Spannungsfunktionen eingeführt, die ebenfalls eine weitgehende Nutzbarmachung der konformen Abbildung ermöglichten. Für die Berechnung räumlicher Spannungszustände wurden durch Papkowich [1.9] und den Verfasser [1.10] unabhängig voneinander Ansätze gefunden, die in Erweiterung der Ansätze von Boussinesq [1.11] eine allgemeine Lösung der räumlichen Elastizitätsgleichungen ermöglichen. Wie sich zeigen läßt, lassen sich die Spannungs- und Verschiebungsfunktionen auf vier, bzw. ggf. drei harmonische Funktionen zurückführen („Dreifunktionenansatz"). Später bewies der Verfasser auf anderem Wege die Vollständigkeit dieses Ansatzes [1.12].
4
1 Einführung
Diese Verfahren gaben für die weitere Forschung den entscheidenden Anstoß, und es konnten manche neuartigen Randwertprobleme gelöst werden, wobei eine große Zahl auf systematische Arbeiten des Verfassers zurückgeht [1.13—1.18]. Typische Probleme der Spannungskonzentration konnten hinsichtlich des Einflusses der Oberflächenform und der Beanspruchungsart eingehend untersucht werden. Dabei machte sich hinsichtlich der Oberflächenkrümmung eine Anwendbarkeitsgrenze bemerkbar. Für freie Oberflächen mit dem Krümmungsradius o ergaben sich Höchstspannungen, die beim Grenzübergang p 0, d. h. zur Spitzkerbe bzw. zum Riß, wie l/]/o anwachsen. Vom physikalischen Standpunkt aus werden zwar zwischen den Atomen außerordentlich hohe Kräfte übertragen. Ihre Berücksichtigung bleibt aber im Rahmen der vom Ingenieur durchzuführenden technischen Festigkeitsberechnung irrelevant, denn er ist auf den Vergleich mit dem Zugversuch angewiesen, wobei die im Stab übertragene Zugkraft gemessen und aus ihr mittels Division durch die Querschnittsfläche die mittlere, durch den Querschnitt übertragene Spannung berechnet wird. Die Spannungen an den einzelnen Querschnittspunkten bzw. Atomen bleiben (statisch) unbestimmt, ebenso wie die im Inneren des Stoffgefüges des wirklichen Bauteils herrschenden atomaren Spannungen. Da bei Stäben mit Spitzkerben nicht eine beliebig kleine K r a f t den Bruch herbeiführt, wie man gemäß der klassischen Elastizitätstheorie folgern müßte, sondern eine endliche K r a f t bestimmter Größe, bestand zunächst zwischen Theorie und Versuch eine erhebliche Diskrepanz. Zur Uberbrückung dieser Diskrepanz führte der Verfasser bereits im Jahre 1936 ein endliches Gefügeteilchen ein [1.19—1.21]. Die Breite des Teilchens wurde vom Verfasser mit o* bezeichnet (ursprünglich s), weil sieh eine formale Analogie zum Krümmungsradius o herausstellte. Der für die Anwendung dieses Gedankenmodells maßgebliche Vorgang beruht konsequent auf dem Kraf(begriff. Für die örtliche Beanspruchung des Stoffes ist die am Gefügeteilchen angreifende Kraft maßgebend. Es muß aber durch die Breite des Gefügeteilchens dividiert werden, um aus dieser Kraft einen Spannungswert zu gewinnen, der seinerseits Eingang in die Berechnungsverfahren der Festigkeitslehre finden kann. Bereits in der ersten und zweiten Auflage dieses Buches wurde die Teilchenbreite g* als eine für den jeweiligen Werkstoff charakteristische Größe angesehen. Die durch Einführung des Teilchens von der Breite o* erzielte Abminderung der Beanspruchung entspricht einer Stützwirkung im Mikrobereich („Mikrostützwirkung") [1.21], Die erste Auflage des Buches (1937) fand, z. T. noch während des Zweiten Weltkrieges in USA, Japan, in der UdSSR und anderen Ländern große Beachtung und wurde in viele Sprachen übersetzt. Später entwickelte sich, beginnend in USA und Japan, eine verkürzte, auf den Riß bezogene Theorie, die sog. Bruchmechanik. Dabei bezog man sich auf die nach der Rißspitze hin proportional l/]/ranwachsenden Spannungen (mit r als Abstand von der Rißspitze) und führte als charakteristische Größe den Faktor dieser mathematischen Singularität als sog. „Spannungsintensitätsfaktor" (K) ein. Sein Grenzwert Kc (bei Bruchbeginn) wurde als Werkstoffkenngröße angesehen [1.22; 1.23; 1.24]. Der Oberflächenkrümmungsradius an der Rißspitze wird dabei ignoriert und der Riß als mathematische Linie (also ohne Querdimension) aufgefaßt. Demgegenüber behandelt der Verfasser in seiner Kerbspannungslehre Kerben mit beliebigem Krümmungsradius und definiert Risse als extrem schmale Kerben, die dennoch einen von Null verschiedenen Krümmungsradius an der
1.3 Entwicklung und Anwendung der Spannungsverteilungstheorien
5
Spitze und eine von Null verschiedene Breite besitzen. Die so als Sonderfall der Kerbspannungslehre definierte Rißtheorie führt nach Einführung des Stoffteilchens von der Breite o* auf eine Bruchtheorie mit den drei Parametern o, o* und der Spannung, die an der Rißspitze auftritt. Die so entstehende Bruchtheorie ist daher mehrparametrig. Die „Bruchmechanik" („fracture mechanics") stützt sich dagegen in ihrer Bruchprognose im wesentlichen auf den Grenzwert Kc des Spannungsintensitätsfaktors [1.24]. Bei der experimentellen Bestimmung von Kc, die inzwischen in den USA und in Japan mit erheblichem Aufwand durchgeführt worden ist, stellten sich, wie zu erwarten war, nicht unerhebliche Streuungen heraus. Dennoch gewann die Bruchmechanik an Beachtung, nachdem viele Mathematiker in dieser Disziplin ein neues Feld für die Anwendung der Methoden der Integraltransformation entdeckt zu haben glaubten. Es läßt sich leicht zeigen, daß sich die Beziehungen der Bruchtheorie mittels des Grenzüberganges zu kleinen p-Werten aus der Kerbspannungslehre herleiten lassen [1.27]. Dabei ergibt sich ein Zusammenhang zwischen den vier Größen p, p*, Omax (bzw. aB) und K(K C ) wobei die in Klammern stehenden Werte sich auf den Bruchbeginn beziehen. Im Rahmen der Zuverlässigkeit der experimentell ermittelten ürc-Werte für technisch-aktuelle Stoffe bestehen mithin auch Anhaltspunkte für die Berechnung von p*. Dabei ist zu beachten, daß für die in diesem Zusammenhang auftretende Bruchspannung ctg an der Rißspitze ein Wert einzusetzen ist, der nicht mit der technischen Bruchspannung identifiziert werden kann, die sich ja auf den ungekerbten Probestab bezieht, sondern mit der Bruchspannung des Kerbstabes, z. B. mit der kohäsiven Bruchspannung des Stabes mit sehr tiefer Umlaufkerbe. Um für einen aktuellen Werkstoff eine möglichst genaue Bruchprognose sicherzustellen, ist daher die Durchführung von Versuchen mit verschiedenartig geformten Proben (Variation von p) unumgänglich; aus den gewonnenen Daten sind dann sowohl p* als auch aB zu berechnen. Bei Kenntnis beider Werte besteht dann auf Grund der umfassenden Gesetzmäßigkeiten der Kerbspannungslehre die Möglichkeit, beliebige Arten von Spannungskonzentrationen rechnerisch zu erfassen, seien es nun Spannungserhöhungen an Löchern beliebiger Form, an Kerben beliebiger Tiefe und Krümmung oder auch an Rissen. Demgegenüber gestattet die „Bruchmechanik" in erster Linie, Vorgänge der Rißausbreitung anhand eines stark vereinfachten Konzepts zu beurteilen. Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, daß die „Bruchmechanik" auf einer Überbewertung der linearen Elastizitätstheorie beruht. Die in der Bruchmechanik zugelassenen Spannungen wachsen bis zur Rißspitze unbegrenzt an und liegen schon bei geringfügiger Duktilität des Stoffes im physikalisch-nichtlinearen Bereich des Stoffgesetzes und damit außerhalb des linearen Dehnungsbereichs. Im Interesse einer möglichst wirklichkeitsgetreuen Festigkeitsrechnung erschien es ohnehin notwendig, auch die Abweichungen vom linearen Elastizitätsgesetz möglichst weitgehend zu berücksichtigen, um so mehr als häufig duktilere Stoffe mit ausgeprägter Streckgrenze, wie z. B. Stähle mittlerer Festigkeit, den hochfesten Stoffen mit geringerer Duktilität vorgezogen werden. Denn es weicht der duktilere Stoff den hohen Beanspruchungen durch örtliches Fließen aus und paßt sich dadurch den konstruktiv bedingten Störungen der Spannungsverteilung besser an. Die bei duktileren Stoffen stets nachzuweisende Sicher-
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1 Einführung
heitsreserve gegenüber der Streck- bzw. Fließgrenze bedingt aber die Berechenbarkeit der Spannungsverteilung bis in das Gebiet der stärker wachsenden Verformung, d. h. bis in die Nähe der Streck- bzw. Fließgrenze. Die Behandlung von Kerbproblemen im elastisch-plastischen Bereich ist i. allg. nur iterativ möglich, da die Grenzlinie zwischen dem linear-elastischen und dem plastischen Gebiet bei Lösung eines Randwertproblems zunächst unbekannt ist und sich erst durch Iteration approximieren läßt. Nur mit Einsatz numerischer Verfahren (so z. B. mit Hilfe der Methode der finiten Elemente), wie Argyris und Scharpf [1.25] gezeigt haben. Derartige Computer-Methoden sollen aber in diesem Buche nicht erörtert werden, denn hier soll es sich ausschließlich um die Interpretation jener analytischen Lösungen handeln, die sich entweder in geschlossener Form oder mit Hilfe gut konvergierender Reihenentwicklungen darstellen lassen. Hierzu mußte die Problematik einer geknickten Spannungs-Dehnungs-Linie vermieden und eine kontinuierliche Behandlung des physikalischen Definitionsgebietes angestrebt werden. Es mußte eine Funktion gewählt werden, die sich der wirklichen Spannungs-Dehnungs-Linie der technisch wichtigen Stoffe, insbesondere des Stahls, bei Annäherung an die Streckgrenze anpassen läßt. Außerdem müßte die daraus resultierende nichtlineare Theorie zu einem Lösungsweg führen, der die gewünschten Einblicke in das Neuland jener Spannungsumlagerungen erlaubt, die bei Annäherung an die Streckgrenze durch überproportionale Verformung entstehen. Bei Anwendung auf die Theorie des Querschubs prismatischer Stäbe zeigte sich, daß eine von der Theorie der Minimalflächen her bekannte Funktion die geforderten Bedingungen erfüllt und auf dieselbe nichtlineare Differentialgleichung führt, die auch für das Geschwindigkeitspotential der ebenen kompressiblen Gasströmung mit Unterschallgeschwindigkeit bei linearisierter Adiabate gilt [1.26—1.28]. In anderem Zusammenhang (Gasdynamik, Fluidmechanik und nichtlineare Mechanik) war diese Funktion durch Tschapligin [1.29] und Sokoloowsky [1.30] verwendet worden. Der besondere Vorteil liegt dabei in der Möglichkeit der Linearisierung durch Koordinatentransformation und in der Anwendbarkeit der konformen Abbildung. Der Verfasser konnte bei Kerbformen zeigen, wie sich der charakteristische Spannungsverlauf bei zunehmender Annäherung an die Streckgrenze verändert, eine Erscheinung, die zwar qualitativ bekannt war, aber in der Spannungslehre auf diesem Wege erstmals analytisch erfaßt wurde. Die Streckgrenze geht dabei als zusätzlicher Parameter in die Spannungsverteilungstheorie ein. Darüber hinaus lassen sich für den Fall einer beliebigen, formal vorgegebenen Spannungs-Dehnungs-Funktion zwei Lösungen in geschlossener Form angeben, und zwar für den Querschub in der parabelähnlichen Kerbe und in der halbunendlichen Kerbe konstanter Breite mit zykloidischem Grund. Für den Übergang vom Hookeschen Gesetz zu einem beliebigen Spannungs-DehnungsGesetz ergab sich hieraus eine Umrechnungsformel, die bereits bei diversen Festigkeitsproblemen mit Erfolg angewandt wurde. Mit Hilfe dieser Formel wurde z. B, für den Faktor der „Makrostützwirkung" (auch „DehngrenzenVerhältnis" genannt) eine neue Beziehung abgeleitet [1.21; 1.3]. Mit Hilfe der Festigkeitshypothesen läßt sich zeigen, daß diese Formel in guter Näherung für beliebige Spannungszustände anwendbar ist. Die gleichzeitige Berücksichtigung beider Stützwirkungsarten eröffnet neue Wege für die Vorausberechnung der Zeitbzw. Dauerfestigkeit.
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Grundlagen
2.1 Spannung und Formänderung Für die zunächst durchzuführenden allgemeinen Überlegungen wird zweckmäßig auf [1.3] Bezug genommen und die Indexsehreibweise angewandt. Die auf kartesische Koordinaten bezogenen Indizes x, y, z seien durch lateinische Indizes k, m, q usw. repräsentiert. Der zum jeweils betrachteten Körperpunkte führende Radiusvektor hat die Komponenten rx = x; ry = y, rz = z, allgemein rk. Der Verschiebungsvektor hat die Komponenten Vx, Vy, Vz allgemein Vk. Es gelte die Regel, daß bei der Summation über Indizes, die innerhalb eines Terms paarweise auftreten, das Summenzeichen entbehrt werden kann (Regel von Einstein). Wenn ausnahmsweise für einen Index diese Regel nicht gelten soll, wird der betreffende Index hier geklammert. Es seien die kartesischen Komponenten des Spannungstensors mit rhm gekennzeichnet, wobei es sich im Talle k = m um eine Normalspannung, im Falle k =)= m um eine Schubspannung handelt. Von Volumenkräften sei abgesehen. Dann haben die Gleichgewichtsbedingungen die Form (Indizes hinter dem Komma sind Differentiationsindizes): Tjfcm,i=0-
(1)
Für lineares Elastizitätsgesetz gilt rkm = G | F t . « + Vm.t +
dkm
.
(2)
Hierbei ist G der Schubelastizitätsmodul, r = 1 ¡m die Querdehnzahl und hm = \ i m V k = m ' I 0 für k =(= m.
(3)
die Kronecker-Zahl. Nach Einsetzen von (2) in (1) erhält man die Grundgleichungen. Wird mit (1 — 2v) multipliziert und die Konstante « = 2 — 2v
(4)
eingeführt, so nehmen die Grundgleichungen die Form
(*-i)jvt
+ rmjm = o.
(5)
an; hierbei ist A = (••••)»» der Laplacesche Operator.
(6)
8
2 Grundlagen
2.2 Der Dreifunktionenansatz Die Verschiebungskomponenten werden durch die Grundgleichungen einem tensoriellen Differentiationsoperator zweiter Ordnung unterworfen, der mit Bkm bezeichnet sei. Seine Komponenten bilden eine Quadratmatrix von der Form
( « _ i ) j +
(..),„
*)txx (•*)txy
(..),„
J.
i'')txz
/
(i)
Mithin gilt [2.6] Bkm = (x-l)dkmA
+ (...)lkm,
(2)
und die Grundgleichungen sind in der Form Bhm(Vm)
= 0
(3)
darstellbar. Es handelt sich um drei homogene lineare Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten, und es besteht Analogie zu einem System von drei homogenen linearen Gleichungen mit drei Unbekannten. Dabei sind bekanntlich nur dann nichttriviale Lösungen möglich, wenn die Determinante der Koeffizienten gleich Null ist und die Unbekannten als Linearkombinationen der zugehörigen Unterdeterminanten darstellbar sind. Analog ist hier die Determinante der Operatorenmatrix (1), angewandt auf die vektoriellen Lösungsfunktionen, die mit Lm gekennzeichnet seien, gleich Null zu setzen. Zugleich sind die Verschiebungskomponenten gleich den auf die Lm angewandten Unterdeterminanten der Bkm, bezeichnet mit Ckm. Diese Überlegung entspricht allgemeinen Regeln für lineare partielle Differentialgleichungen (Herglotz [2.1] und andere) und wurde vom Verfasser nicht nur für die Elastostatik [2.4], sondern auch für die Lösung der Grundgleichungen der elastischen Stabilität [2.2] mit Erfolg angewandt. Das Verfahren kann ferner auch für andere Kontinuumsmodelle angewandt werden. So hat der Verfasser z. B. in seinem Vortrag auf dem 11. Internationalen Mechanikkongreß in München 1964 gezeigt, wie sich die allgemeine Lösung der Grundgleichungen für das Cosserat-Kontinuum darstellen läßt [2.9; 2.10]. Zunächst seien die Unterdeterminanten gebildet: Gxx = (« — 1) AM
- (••),«]; Cxy = —(« - 1) A(..),xy usw.,
allgemein [2.6] Ckm = (« - 1) A[ocdkmA - (. .),*„].
(4)
Mithin ist zu setzen: Vk = Ckm(Lm) = (« — 1) A[