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German Pages 320 Year 1994
Kausalität und Zurechnung
Philosophie und Wissenschaft Transdisziplinäre Studien Herausgegeben von Carl Friedrich Gethmann Jürgen Mittelstraß in Verbindung mit Dietrich Dörner, Wolfgang Frühwald, Hermann Haken, Jürgen Kocka, Wolf Lepenies, Hubert Markl, Dieter Simon
Band 5
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Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994
Kausalität und Zurechnung •· Uber Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen Herausgegeben von Weyma Lübbe
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G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Kausalität und Zurechnung: über Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen / hrsg. von Weyma Lübbe. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1994 (Philosophie und Wissenschaft ; Bd. 5) ISBN 3-11-014398-4 NE: Lübbe, Weyma [Hrsg.]; GT
© Copyright 1994 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Datenkonvertierung durch Knipp Satz und Bild digital, Dortmund Druck: Ratzlow Druck, Berlin Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin Einbandgestaltung: Rudolph Hübler, Berlin
Inhalt Einleitung
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1. Zurechnungspraxis
in der
Kausalitätskrise
Wolfgang Köck
Kausalität und Zurechnung im Haftungsrecht. Klassische und moderne Problemkonstellationen
9
Lorenz Schulz
Kausalität und strafrechtliche Produkthaftung. Materiell- und prozeßrechtliche Aspekte 41 Gunther Teubner
Die unsichtbare „Cupola" : Kausalitätskrise und kollektive Zurechnung 91 2. Kausalität in komplexen Prozessen: begriffliche
Probleme
Lorenz Krüger
Über die Relativität und die objektive Realität des Kausalbegriffs 147 Paul Hoyningen-Huene
Zu Emergenz, Mikro- und Makrodetermination
165
Inhalt
VI
3. Handlungstheoretische
Aspekte der
Zurechenbarkeit
Dietrich Dörner
Selbstreflexion und Handlungsregulation: Die psychologischen Mechanismen und ihre Bedingungen 199 Weyma Lübbe
Handeln und Verursachen: Grenzen der Zurechnungsexpansion
223
4. Kausalität und Zurechnung in sozialhistorischen
Prozessen
Wulf Hopf
Kausalität und nicht-experimentelle Daten: Ein Beispiel aus der empirischen Bildungsforschung Alexander Demandt
Zur Trichterstruktur historischer Prozesse
265
Hermann Lübbe
Moralismus oder fingierte Handlungssubjektivität in komplexen historischen Prozessen 289 Über die Autoren 303 Personenverzeichnis 307 Stichwortverzeichnis 312
245
Einleitung Der vorliegende Band dokumentiert eine interdisziplinäre Tagung, die im März 1993 im Zentrum Philosophie und Wissenschaftstheorie der Universität Konstanz stattgefunden hat. „Kausalität und Zurechnung" - dabei ging es nicht um die Zurechnung von Handlungen, gar um das Thema Willensfreiheit, sondern um die Zurechnung von Handlungs/o/ge«, speziell in komplexen kulturellen Prozessen. Die öffentliche Diskussion, verstärkt durch Texte wie Jonas' „Prinzip Verantwortung", läßt vielfach den Eindruck entstehen, als sei im Bereich der Handlungsfolgen im Unterschied zum Bereich des „natürlichen" Geschehens alles zurechenbar - eben weil wir es selbst verursacht haben. Die Ethik der technologischen Zivilisation, so Jonas, habe es „mit Handlungen zu tun (wiewohl nicht mehr des Einzelsubjekts), die eine beispiellose kausale Reichweite in die Zukunft haben" (1979: 9). Verantwortung aber habe „Zeit- und RaumhorizonteQ, die denen der Taten entsprechen" (ebd.), und daher sei es heute „nicht weniger als die gesamte Biosphäre des Planeten, ... wofür wir verantwortlich sein müssen, weil wir Macht darüber haben" (1979: 27). Demnach sind wir nicht anders als angesichts eines Lochs im Gartenzaun auch angesichts des Ozonlochs, zum Beispiel, zum Ruf nach den Verantwortlichen berechtigt. Damit kontrastiert auffällig, daß im Rechtssystem das Ozonloch und andere durch langfristige kulturelle Prozesse bedingte Großschäden durchaus nicht wie Schäden in Gartenzäunen behandelt werden. Die Unverbindlichkeit verantwortungsethischer Mahnungen oder Beteuerungen 1 irritiert 1 Beck (1988), 98: „Sonntags-, Feierabendbeschwörungen nach getanerTat".
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Einleitung
die besorgte Öffentlichkeit umso mehr, je weniger sie sich erklären kann, wieso in der möglicherweise gattungsgeschichtlich entscheidenden Frage der verantwortlichen Steuerung risikoträchtiger kultureller Prozesse das ethisch Geforderte und das wirklich Geschehende, wie es scheint, so weit auseinanderfallen. Die Unverbindlichkeit des öffentlichen Verantwortungsdiskurses war der Anlaß für den hier dokumentierten Versuch, sich der theoretischen und pragmatischen Probleme, die die Zuschreibung von Verantwortung für unerwünschte Resultate komplexer kultureller Prozesse bietet, interdisziplinär anzunehmen. Interdisziplinär deshalb, weil Verantwortungsethik als Teil der Ethik (im üblichen, disziplinär betriebenen Sinne) wegen der weitgehenden Abkoppelung dieses philosophischen Fachgebiets von den konzeptuellen Leistungen der Rechts- und Sozialwissenschaften diese Aufgabe selbst nicht leisten kann. Die begrifflichen und dann auch praktischen Probleme, die sich zum Beispiel hinter Jonas' beiläufigem Hinweis verbergen, die Ethik der technologischen Zivilisation habe es mit beispiellos weitreichenden Handlungen „(wiewohl nicht mehr des Einzelsubjekts)" zu tun - diese Probleme kommen gar nicht in den Blick, wenn beständig von „uns" oder von „den Menschen" gesprochen wird, als handle es sich um Handlungssubjekte wie du und ich. Gewiß, die meisten der zivilisatorischen Probleme, um die es auch Jonas geht, sind kollektiv verursacht. Aber inwieweit sie auch Resultate kollektiven Handelns sind in einem Sinne, der es rechtfertigen würde, die beteiligten Individuen zusammenzufassen und analytisch sowie praktisch nach Analogie eines Handlungssubjekts zu behandeln, das Intentionen ausbilden, sich entscheiden, fahrlässig sein und auf moralische Appelle reagieren kann - das ist eine Frage, zu deren Beantwortung einer Philosophie, die nicht auch Gesellschafts- und Institutionentheorie ist, die analytischen Voraussetzungen fehlen. Ein ebenso großer Eisberg von analytischen Problemen verbirgt sich unter der Oberfläche der Rede von der „kausalen Reichweite" des Handelns. Handlungen greifen in Prozesse
Einleitung
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ein, deren weiterer Verlauf dann unter anderem von diesem Eingriff, außerdem aber von vielen weiteren Eingriffen weiterer Handelnder abhängt, und schließlich auch von Ereignissen, die selbst keine Handlungen sind und auch von keinem Handelnden antizipiert wurden. Inwieweit innerhalb eines solchen Gesamtprozesses bestimmte Stadien noch als „Wirkungen" von bestimmten früheren Eingriffen oder gar von deren Unterlassung gelten können, ist eine Frage, deren Beantwortung von Ethikern nicht zu erwarten ist, da sie selbst spezialisierten Kausalitätstheoretikern unter den Philosophen Schwierigkeiten bereitet. Dies auch deshalb, weil die philosophische Kausalitätstheorie, die heute vor allem von Wissenschaftstheoretikern betrieben wird, ihrer traditionellen Konzentration auf Probleme der exakten Wissenschaften bis heute nicht gründlich entgegengesteuert hat. In den insoweit vernachlässigten Wissenschaften haben sich daher bereits im 19. Jahrhundert eigene Traditionen kausalitätstheoretischer Reflexion ausgebildet, die für ethische Fragen einer „Zukunfts-" oder „Langzeitverantwortung" von offensichtlicher Relevanz sind - so etwa innerhalb der Jurisprudenz die Dogmatik der Gefahrbegriffe oder innerhalb der historischen Wissenschaften Reflexionen über das Problem der Bildung nichtwillkürlicher kontrafaktischer Urteile in der Historie. 2 Diese Hinweise mögen genügen, um verständlich zu machen, warum sich der vorliegende Band dem so sehr aktuellen Thema der Verantwortung erstens aus dem Blickwinkel theoretischer (anstatt sogleich politischer) Defizite und zweitens aus einem nicht durch traditionelle Disziplinengrenzen eingeschränkten Blickwinkel nähert: - durch den engen Anschluß an die hochentwickelte, derzeit unter dem Druck der Zurechnungsprobleme in mancher Hinsicht im Umbruch befindliche juristische Diskussionslage (Kapitel 1), 2 Vgl. Lübbe (1993), zur historischen Entwicklung in den Sozialwissenschaften Turner (1986).
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Einleitung
- durch Konzentration auf kausalitätstheoretische (Kapitel 2) und handlungstheoretische (Kapitel 3) Grundlagen der Zuschreibung von Verantwortung für Eingriffe in komplexe Prozesse, - durch Hineinziehen geschichts- und gesellschaftstheoretischer Debatten über (individuelle oder kollektive) Handlungssubjekte in sozialhistorischen Prozessen bzw. über Grade und Gründe von deren Subjektlosigkeit (Kapitel 4). Zwei Einschränkungen sind hier zu machen, einerseits bezüglich dessen, was von dem vorliegenden Sammelband erwartet werden darf, andererseits bezüglich dessen, was von einem Band - Sammelband oder Monographie - zu diesem Thema überhaupt erwartet werden darf. Der vorliegende Band ist interdisziplinär, und das heißt, daß diejenigen, die daran mitgearbeitet haben, sonst nicht als solche gelten und sich auch nicht als solche verstehen, die mit einem gemeinsamen Erkenntnisinteresse an einem gemeinsamen Thema arbeiten (tatsächlich haben sich die meisten Referenten vor der Tagung nie gesehen oder gesprochen). Für das mit dem Thema des Bandes anvisierte Gesamtproblem ist nicht nur keine Disziplin zuständig, sondern es gilt darüberhinaus, daß die eingespielte Arbeitsteilung für unterscheidbare Teilaspekte des Themas keine reflektierte und geplante, sondern weitgehend eine „naturwüchsige" Arbeitsteilung ist - d.h. sie ist selbst Resultat eines komplexen kulturellen Prozesses und als solches in seiner Gänze nicht intendiert und auch durchaus nicht in jeder Hinsicht zweckmäßig. Das hat zur Folge, daß die Schnittstellen zwischen den Beiträgen nicht so nahtlos sind, wie das wünschenswert und nach längerer Kooperation vielleicht auch möglich wäre. Aber auch insoweit als jeder bei seinen Leisten blieb, wurde ein Schuh daraus: In der Diskussion der Beiträge ist immer wieder deutlich geworden, an welcher Stelle wer von wem lernen kann und wo Defizite sitzen, die zuvor als solche weniger deutlich waren und für die Zuständigkeiten erst entwickelt werden müssen — hinsichtlich einer Theorie des Unterlassens und seiner kulturellen Folgen beispielsweise, oder hinsichtlich einer genauen Analyse der
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besonderen Probleme einer Anwendung wissenschaftstheoretischer Kausalitätskonzepte auf die soziale Realität, um nur zwei Beispiele zu nennen. Wenn sich der Blick des Lesers am Ende geschärft auf solche Lücken der disziplinaren Arbeitsteilung richtet, soll uns das recht sein. Gerade dies war auch für uns ein Hauptnutzen der Veranstaltung. Die zweite Einschränkung betrifft mögliche Erwartungen hinsichtlich des praktischen Nutzens von zurechnungstheoretischen Analysen der vorgelegten und der für künftige Arbeiten ins Auge gefaßten Art. Kurz gesagt: Ist zu erwarten, daß im Zuge der Verbesserung der konzeptuellen Voraussetzungen die eingangs erwähnte irritierende Unverbindlichkeit des Verantwortungsdiskurses ein Ende findet, und daß die verantwortliche Steuerung der riskanten kulturellen Prozesse als schließlich durchschauter Prozesse dann auch in Angriff genommen werden kann? Hier ist Skepsis angebracht. Ein durchschauter Prozess kann auch als ein solcher durchschaut sein, der nicht (oder nur sehr partiell) steuerbar ist. Nicht die Verbesserung der Steuerung der kulturellen Prozesse, in die wir involviert sind, ist zunächst die Absicht, sondern die Verbesserung der Erkenntnis dieser Prozesse - einschließlich der Erkenntnis der hinsichtlich ihrer bestehenden Steuerungsmöglichkeiten. Selbst die Erkenntnis, daß man weniger tun kann, als man dachte, hätte vielleicht, solange man überhaupt noch etwas tun kann, ihren praktischen Nutzen: Mindestens dieses Wenige würde dann möglicherweise nicht nur gefordert, sondern tatsächlich getan. Konstanz
Weyma Lübbe
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Literatur Beck (1988), Ulrich: Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Jonas (1979), Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.M.: Insel. Lübbe (1993), Weyma: Die Theorie der adäquaten Verursachung. Zum Verhältnis von philosophischem und juristischem Kausalitätsbegriff, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 24, 87-102. Turner (1986), Stephen P.: The Search for a Methodology of Social Science. Durkheim, Weber, and the Nineteenth-Century Problem of Cause, Probability, and Action, Dordrecht u.a.: D. Reidel.
1. Zurechnungspraxis in der Kausalitätskrise
Wolfgang Köck
Kausalität und Zurechnung im Haftungsrecht Klassische und moderne Problemkonstellationen
I. Einführung Das Haftungsrecht regelt, unter welchen Voraussetzungen eine handelnde natürliche oder juristische Person für entstandene Schäden einzustehen hat. Verlangt wird zum einen ein Kausalzusammenhang zwischen Handlung, Rechts(gut)verletzung sowie Schaden und zum anderen die Zurechenbarkeit des Verletzungserfolgs auf die handelnde Person. Während die Kausalität in „tatsächlicher" Hinsicht auf Grund und Grenze der Haftung hinweist (natürliche Verbindung zwischen Handeln und Erfolg), schafft die Zurechenbarkeit die rechtliche Verbindung 1 . Lediglich zurechenbares kausales Verletzungsverhalten führt zur Haftung 2 . Was zurechenbar ist, wird durch rechtliche Wertung bestimmt. Zugerechnet wird nicht nur Rechtswidrigkeit/ Verschulden (im Sinne objektiv pflichtwidrigen Handelns 3 ) und Gefährdung (Haftung für gefährliches Tun: Gefährdungshaftung); die Zurechenbarkeit eines Verletzungserfolgs auf eine Person hängt auch und gerade davon ab, ob ein Erfolg bzw. Schaden der handelnden Person noch als „ihre" Tat angerechnet werden kann 4 . Antwort auf diese Frage sollen insbesondere die Adäquanztheorie und die Lehre vom Schutzzweck der Haftungsnorm geben.
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Vgl. statt vieler Deutsch (1976), 37, 135. Vgl. Deutsch (1976), 135. D a z u statt vieler Kramer (1971), 422,428. Vgl. etwa Larenz (1955), 1009, 1011.
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Wolfgang Köck
Juristen begreifen Kausalitätsfragen heute als „vorrechtliche" Probleme 5 . Zugrundegelegt wird ein sog. „natürlicher" Kausalitätsbegriff, oft wird auch von einem „naturwissenschaftlichen" oder „naturgesetzlichen" Kausalitätsbegriff gesprochen 6 , abgelehnt wird demgegenüber ein „juristisches Kausalitätsverständnis" 7 . Verbreitet wird zur Erhellung dessen, was denn eigentlich unter „natürlicher" Kausalität zu verstehen ist, an die in der Wissenschaftstheorie (Hempel/Oppenheim bzw. Stegmüller) geläufige deduktiv-nomologische Erklärung, die sog. D N Erklärung 8 , angeknüpft 9 . Danach sind Ursachen Bedingungen, die zu notwendigen (gesetzmäßigen) Veränderungen führen (deterministische Sichtweise; im Gegensatz dazu: die statistische Erklärung 1 0 ). Ereignisse werden also als gesetzmäßige Folge einer Kette vorgängiger Ereignisse begriffen 1 1 . Die in der Rechtswissenschaft nahezu unangefochten geltende Bedingungstheorie 1 2 (auch Äquivalenztheorie genannt) entspricht den Erfordernissen dieser Erklärung 1 3 . O b mit der Anknüpfung an Bedingungen für gesetzmäßige Veränderungen wirklich etwas für die natürliche Ursachenbetrachtung gewonnen ist, erscheint fraglich; denn für die rechtliche Beurteilung geht es nur höchst selten einmal um abstrakte Gesetzmäßigkeiten, sondern um vorgegebene geschichtliche, insofern einmalige Abläufe 1 4 , für die nicht jede Bedingung äquivalent ist.
5 Vgl. Esser/Schmidt (1993), § 33 I 1; Köndgen (1983), 345. - Ausführlich dazu Schulin (1976), 26. Dort auch Überblick über die ältere Literatur, die noch von einem normativen Kausalitätsbegriff ausging (1976: 12). 6 Vgl. statt vieler Deutsch (1976), 37, 135. 7 Siehe Schulin (1976), 13-26. Anderer Ansicht ist heute - wenn ich es recht sehe - lediglich Schünemann (1979), 19, 21 f. 8 Dazu Gottwald (1986), 3, 4 f; ausführlich Koriath (1988), 67 ff. 9 Siehe etwa Deutsch (1992a), 433. 10 Siehe dazu die Darstellung bei Schulin (1976), 52 f, 60 f unter Hinweis auf Stegmüller (1969). 11 Siehe Schulin (1976), 83; Deutsch (1976), 135. 12 Dazu Schulin (1976), 101 ff; Koriath (1988), 107 ff. 13 Kritisch dazu Schünemann (1979), 19, 22. 14 Vgl. Schünemann (1979), 19, 21; siehe auch Koriath (1988), 128 f.
Kausalität und Zurechnung im Haftungsrecht
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Die theoretischen Anfragen an die Bedingungstheorie 15 müssen hier allerdings nicht behandelt werden, weil - wie wir noch sehen werden - die Bedingungstheorie durch juristische Zurechnungslehren konturiert wird. Für die Rechtsanwendung wird die Bedingungstheorie zunächst in einen einfachen operativen Vorgang gebracht, der in der condicio-sine-qua-non-Formel ausgedrückt ist: Ursache ist jede Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß nicht auch das schädigende Ereignis wegfällt. Gedanklich werden dabei zwei Reihen gebildet. Die erste bildet das tatsächliche Geschehen, die zweite wird um den als haftungsbegründend ermittelten Vorgang verringert (sog. hypothetische Elimination). Gelangt diese hypothetisch verringerte Kette nicht zum schädigenden Erfolg, erscheint Juristen der Vorgang als Ursache 16 . Von Anfang an waren mit dieser im Kern nicht-rechtlichen Betrachtung der Kausalitätsfrage 17 aber Schwierigkeiten verbunden, die nur durch meist originär rechtliche Zugriffe - Zurechnungsüberlegungen - überwunden werden konnten. Leitender Gesichtspunkt war hierbei die Einsicht, daß der Kausalzusammenhang zwar ein unerläßliches, aber nicht in allen Fällen ausreichendes Kriterium der Folgenzurechnung sein kann 1 8 . Die Ausführungen im ersten Teil dieses Referates dienen dazu, klassische (heute im wesentlichen bewältigte) Problemkonstellationen des Verhältnisses von Kausalität und Zurechnung im Haftungsrecht zu erörtern. Im Zentrum steht dabei das Bemühen des Rechts, die Konsequenzen, die sich aus einer nackten Kausalbetrachtung im Sinne äquiva15 Ausführlich Koriath (1988), 128 ff. 16 Siehe etwa Deutsch (1976), 137. 17 Vgl. etwa Lange (1990), § 3 III, der die Bestimmung der Kausalität auf der Grundlage der condicio-sine-qua-non-Formel als „logisch-natürliche" Kausalität insofern bezeichnet, als sie sich normativer Bewertungen enthält. Der Rechtslehre ist aber klar, daß schon die condicio-Formel grob vereinfachend ist und deshalb natürliche Kausalität und Kausalität gemäß der condicio-Formel nicht zwingend zusammenfallen müssen (dazu Lange (1990), § 3 III). 18 Vgl. Larenz (1987), § 2 7 III a; Lange (1990), § 3 IV 1.
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Wolfgang Köck
lenter Bedingungen ergeben würden, zu vermeiden (siehe unten II)· . Die gegenwärtigen Probleme des Rechts mit der Kausalität liegen auf einer anderen Ebene. Sie haben - vereinfacht ausgedrückt - mit den Gefährdungslagen der fortgeschrittenen Industriegesellschaft zu tun 1 9 , z.B. mit der Bewältigung eines umweltmedienvermittelten Schadstofftransports, der mehr und mehr dadurch charakterisiert ist, daß ein Kausalzusammenhang im Sinne einer DN-Erklärung zwischen einer bestimmten Schadstoffemission und einem bestimmten Schaden an einem Recht oder Rechtsgut kaum mehr herstellbar ist. Lösungswege in diesem Bereich zeichnen sich noch nicht eindeutig ab. Konstatiert werden kann aber eine Tendenz, die es zumindest als fraglich erscheinen läßt, ob Kausalität im Sinne deterministischer Erklärungen auch weiterhin noch eine notwendige Bedingung für Haftung sein soll. Deutlicher noch als in den klassischen Konstellationen bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß die Schadenstragung ein soziales Verteilungsproblem ist und bleibt, das sich allein mit Kausalbetrachtungen nicht lösen läßt 20 : soweit an der Bedingungstheorie noch im Ausgangspunkt festgehalten wird, sind über das Beweisrecht gravierende Einschnitte vorgenommen worden (siehe unten III.2). Entsprechende Funktionen erfüllen gesetzliche Kausalitätsvermutungen; dieser Weg ist vom Gesetzgeber im Umwelthaftungsgesetz und - in wesentlich reduzierter Form - auch im Gentechnikgesetz beschritten worden. Teilweise wird aber auch darüber nachgedacht, auf andere wissenschaftstheoretisch diskutierte Erklärungen zurückzugreifen, insbesondere auf die sog. statistische Erklärung, eine probabilistische Herangehensweise. Im deutschen Haftungsrecht spielt dieser Ansatz allerdings bislang keine Rolle.
19 Dazu ausführlich Köck (1993), 125 ff. 20 So Esser/Schmid: (1993), § 33 I la.
Kausalität und Zurechnung im Haftungsrecht
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II. Kausalität und Zurechnung: klassische Probleme 1. Die Adäquanztheorie
als Zurechnungsprinzip
Nach der condicio-sine-qua-non-Formel ist jeder Umstand, der nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß zugleich der schädigende Erfolg wegfällt, gleichwertig. Man spricht deshalb auch vom Äquivalenzprinzip. Die Kausalbetrachtung nach dem Äquivalenzprinzip erschien von Anfang -an nicht als ausreichend, um Haftung begründen zu können, ganz einfach aus dem Grunde, weil die Aussage, daß jede Bedingung gleichwertig sei, keine Begrenzung enthielt: Notwendige Bedingung für den Straßenverkehrsunfalltod eines Menschen ist beispielsweise auch der Straßenbau oder die Inverkehrgabe von Kraftfahrzeugen. Trotzdem kann kein Zweifel daran bestehen, daß diese Bedingungen unter normalen Umständen keine Haftung auslösen können. Notwendig war ein Maßstab, der es erlaubte zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen ein Kausalzusammenhang zwischen einem Verhalten und einer Rechts(gut)verletzung sowie dem daraus entstehenden Schaden zur Schadensabnahme durch den Handelnden führen kann. Als ein solcher Maßstab avancierte die Theorie der adäquaten Verursachung. Sie sollte die Relevanz des Kausalzusammenhangs insofern begrenzen, als sie dem Handelnden nur solche von ihm gesetzten Bedingungen zurechnete, die „im allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet waren, einen Erfolg der eingetretenen Art herbeizuführen" 2 1 . Welche Umstände „eigenartig" sind und daher außer Betracht zu bleiben haben, darüber wird im Wege einer objektiven nachträglichen Prognose entschieden, die alle Umstände berücksichtigt, die einem „opti-
21 So die Umschreibung der Rechtsprechung, siehe R G Z 158, 34, 38; B G H Z 7, 204; 57, 141; B G H N J W 1976, 1144; B G H N J W 1986, 1331. Siehe auch Fikentscher (1992), Rn. 480;
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malen Beobachter" zur Zeit der Handlung erkennbar waren 2 2 . Daraus erhellt, daß das Adäquanzprinzip eine Funktion der objektiven Zurechnung erfüllt 23 . Der Maßstab der adäquaten Verursachung wird deshalb heute zu Recht nicht mehr als juristische Kausalitätstheorie angesehen 24 . Es handelt sich hierbei einzig um ein Zurechnungsprinzip, das dazu dient zu klären, wann eine gegebene Kausalität zugleich Verantwortung im haftungsrechtlichen Sinne auslösen soll 2 5 . Kritiker haben eingewandt, daß eine auf diese Weise ermittelte Adäquanz (Vorhersehbarkeit eines optimalen Beobachters) kaum geeignet erscheint, die Zurechnung gegenüber einem Kausalzusammenhang auf der Basis der Äquivalenztheorie einzuschränken 26 . Betrachtet man die Spruchpraxis der Gerichte, so ist in der Tat auffällig, daß nur in sehr wenigen Fällen die fehlende Adäquanz der maßgebende Gesichtspunkt für die mangelnde Zurechenbarkeit eines Schadens war 2 7 . Wichtiger noch ist der Hinweis, daß die objektive Zurechnung im Bereich der haftungsbegründenden Kausalität schon über den Pflichtenmaßstab erfolgt und eine Begrenzung durch
22 Vgl. B G H Z 3 , 2 6 1 , 2 6 6 f, der im wesentlichen die sogenannte „Traegersche Formel" übernommen hat; siehe Traeger (1904), 159. 23 So insbesondere Deutsch (1976), 148; siehe auch MüKo/Grunsky (1986), vor § 249, Rn. 40. 24 Vgl. zu den früheren Auffassungen die Darstellung bei Lange (1990), § 3 IV 2. 25 Vgl. Larenz (1987), § 27 III b; Schulin (1976), 118 f. Anderer Ansicht Schünemann (1979), 19, 22. 26 Siehe etwa Lange (1976), 198, 199; Esser/Schmidt (1993), § 33 II lb; A K BGB/Rüßmann (1980), vor §§ 249-253, Rn. 50; MüKo-Grunsky (1986), vor § 2 4 9 , Rn. 42. 27 Als ein Beispiel von fehlender Adäquanz wird in der Literatur der „Artilleriebeschuß" -Fall angesehen ( B G H N J W 1952, 1010). Der Geschädigte hatte durch eine Verletzungshandlung beide Beine verloren und konnte sich nur noch auf Krücken fortbewegen. Gegen Kriegsende geriet er mit seiner Familie unter Artilleriebeschuß. Die Familienmitglieder konnten sich durch Davonlaufen retten. Der Geschädigte erreichte die sichere Deckung nicht mehr und wurde getötet.
Kausalität und Zurechnung im Haftungsrecht
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das Adäquanzprinzip insofern überflüssig erscheint 28 . (So ist der Bau einer den technischen Standards entsprechenden Straße oder die Inverkehrgabe eines den Sicherheitsstandards entsprechenden Kraftfahrzeugs nicht rechtswidrig und kann schon deshalb nicht zur Haftung führen.) Wird dem zugestimmt, dann dürfte die Adäquanztheorie lediglich noch im Bereich der haftungsausfüllenden Kausalität praktische Relevanz haben. Aber auch in diesem Bereich sind mittlerweile eine Reihe von Zurechnungskriterien entwickelt worden, die größeren Ertrag versprechen (siehe unten 2) 2 9 . Die Rechtspraxis und die Rechtslehre haben die Adäquanztheorie zwar noch nicht offiziell verabschiedet, aber ein „stilles Wegsterben" wird man jedenfalls in dem Sinne konstatieren können, daß entscheidungserhebliche Zurechnungen mittlerweile kaum noch auf die Adäquanzbetrachtung gestützt werden. Ein für das Haftungsrecht zuständiger Richter am Bundesgerichtshof jedenfalls konstatiert lapidar: „Die Adäquanz ist praktisch hier vom Tisch" 3 0 . Für eine im Ansatz neue Sicht auf die Adäquanztheorie plädiert Hans-Joachim Mertens31. Für ihn bildet nicht die Wahrscheinlichkeitsprognose auf der Basis des ex-post-Erkennbaren die ratio der Adäquanztheorie, sondern die Frage nach dem teleologischen Gefahrenzusammenhang. Als adäquat sollen nur solche Verletzungshandlungen angesehen werden, die eine spezifische Gefahrerhöhung für den späteren Verletzungserfolg beinhalten 32 , unabhängig von der Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines solchen Verletzungserfolgs. Mertens' Ansatz scheint geeignet, der Adäquanztheorie neues Leben zu geben. Zwar war das Kriterium der spezifischen Gefahrerhöhung schon länger in die haftungsrechtliche Zurechnung eingeführt (insbesondere im Zusammenhang mit der Abgrenzung von spezifischen Scha28 Siehe dazu nur die Erwägungen und die Nachweise zum Meinungsstand bei MüKo/Grunsky (1986), vor § 249, Rn. 38; siehe auch B G H Z 57, 25, 27 f. 29 30 31 32
Siehe auch Lange (1976), 198 ff. Steffen (1993), 13, 19. In: Soergel/Mertcns (1990), vor § 249, Rn. 121 ff. Beispiele bei Soergel/Mertens (1990), vor § 249, Rn. 125.
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Wolfgang Köck
densrisiken und allgemeinem Lebensrisiko 33 ). Mertens' Verdienst bestellt aber darin, es plausibel in die leitende Zurechnungslehre überführt zu haben.
2. Weitere Zurechnungen: Schutzzweck der Norm, Zurechnung nach Risikobereichen - Elemente des Zurechnungszusammenhangs Durch die Schwierigkeiten mit der Theorie der adäquaten Verursachung ist das Zurechnungsproblem nicht obsolet geworden. Rechtslehre und Praxis haben eine Vielzahl von Zurechnungsgesichtspunkten eingeführt, die häufig anstelle der Adäquanzbetrachtung 34 , z.T. aber auch neben dieser 35 sachgerechte Verantwortungszuweisungen ermöglichen sollen. Am bedeutsamsten ist wohl die Lehre vom Schutzzweck der N o r m geworden 36 . Diese Lehre plädiert dafür, nur solche (im übrigen adäquat verursachte) Schäden dem Schädiger zuzurechnen, die durch die verletzte Norm gerade verhindert werden sollen. Geprüft werden muß also, „ob die Tatfolge, für die Ersatz begehrt wird, in den Schutzbereich des Gesetzes fällt, m.a.W.: ob der geltend gemachte Schaden aus der Verletzung eines Rechtsguts stammt, zu dessen Schutz das Gesetz erlassen worden ist" 37 . Ein weiterer (eng mit der Schutzzwecklehre verwandter) Zurechnungsgesichtspunkt, der in der praktischen 33 Siehe unten Fn. 37 und 38. 34 Das gilt insbesondere f ü r Gefährdungshaftungen; hier wird die Ersatzpflicht allein durch den Schutzzweck der Haftungsnorm begrenzt; vgl. B G H N J W 1982, 2669; Larenz (1987), § 27 III b 1; Lange (1990), § 3 VII 2. 35 Siehe etwa Β G H Z 27, 138, 139 ff; B G H Z 57, 25, 28; B G H N J W 1971, 1982; B G H Z 63,189,191; B G H N J W 1976, 568. 36 Siehe grundlegend v. Caemmerer (1956). Siehe auch AK-BGB/Rüßmann (1980), vor §§ 249-253, Rn. 55; M ü K o / G r u n s k y (1986), vor § 249, Rn. 43 ff. Eine Übersicht über die Entscheidungen, in denen der B G H Zurechnungen ausdrücklich aufgrund der Schutzzwecklehre vorgenommen hat, findet sich bei Lange (1990), § 3 IX 4, Fn. 149. 37 Siehe B G H Z 27,137,140. Siehe auch Kötz (1991), C I 3d.
Kausalität und Zurechnung im Haftungsrecht
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Rechtsanwendung Bedeutung erlangt hat, ist der Rekurs auf den Risikobereich. Für die haftungsrechtliche Zurechnung soll es darauf ankommen, daß ein eingetretener Schaden in einem Zusammenhang mit den spezifischen Risiken der Verletzungshandlung steht (spezifische Gefahrerhöhung 3 8 ); ein Schaden, der zwar bei Gelegenheit der Verletzungshandlung entstanden und auch nicht inadäquat ist, hat außer Betracht zu bleiben, wenn sich in diesem Schaden lediglich ein allgemeines Lebensrisiko verwirklicht hat 3 9 . (So ist der Schädiger nicht mehr für den Schaden verantwortlich, den der Geschädigte beim späteren normalen Krankentransport erleidet; anders ist es, wenn die Erstverletzung so gravierend ist, daß der Geschädigte auf schnellstmögliche Weise ins Krankenhaus gebracht werden muß und bei dieser riskanten Fahrt verunglückt. Begründung: Im ersten Fall ist der Zweitschaden als ein allgemeines Lebensrisiko eines jeden Verkehrsteilnehmers anzusehen; im zweiten Fall war mit der Gesundheitsverletzung durch den Schädiger auch eine spezifische Risikoerhöhung für die anschließende Teilnahme am Straßenverkehr verbunden, weil sie zu riskantem Fahren nötigte. 40 ) Gleiches gilt für Schäden, die maßgeblich darauf zurückzuführen sind, daß der Geschädigte oder ein Dritter einen neuen, eigenständigen Risikobereich geschaffen hat 4 1 . Ich breche hier ab, obwohl die Rechtspraxis noch
38 Vgl. AK-BGB/Rüßmann (1980), vor §§ 249-253, Rn. 58 ff. 39 Vgl. dazu Esser/Schmidt (1993), § 33 II 2c. 40 Beispiel bei AK-BGB/Rüßmann (1980), vor §§ 249-253, Rn. 60. Ähnlich gelagerte Fälle aus der Rechtsprechung etwa B G H Z 25, 86, 91; B G H Z 27, 138,141; B G H N J W 1963, 1671 f. 41 Vgl. B G H , J Z 1992,95 ff-Schweinemäster: Infolge des Aufprallgeräuschs bei einem Autounfall in der N ä h e eines modernes Schweinemast-Betriebes geraten die Schweine in Panik und verletzen sich gegenseitig so schwer, daß eine Reihe von Tieren verendet. Der B G H rechnete diese Eigentumsverletzung nicht dem Autofahrer zu, weil er in der Art der Schweinezucht (Massentierhaltung) eine Bedingung dafür sah, daß die Tiere panikartig reagierten. Mit der Aufnahme einer Intensivaufzucht sei ein eigener Gefahrenkreis begründet worden, auf den der Verkehr nicht mit besonderer Rücksichtnahme zu reagieren habe. Teilweise werden diese Konstellationen in der Literatur nicht unter dem Stichwort „eigenständige Risi-
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weitere Zurechnungskriterien kennt, die mittlerweile ihren sicheren Platz in einer ausgefeilten Kasuistik haben 4 2 . Zusammenfassen kann man all diese Ansätze mit dem Begriff des Zurechnungszusammenhangs 43 . Es ist darüber gestritten worden, ob mit dem Rekurs auf den Schutzzweck der Norm oder die Bestimmung von Risikobereichen (allgemeines Lebensrisiko vs. spezifisches Schadensrisiko) tatsächlich ein Mehr an Differenzierungsvermögen gegenüber der Adäquanz-Formel gewonnen ist, oder ob eine richtige Begrenzung der Adäquanztheorie gleiches zu leisten imstande wäre 4 4 . Auf diesen Streit kommt es für die Zwecke dieses Referates nicht an. Hier genügt es, darauf hinzuweisen, daß sich die praktische Rechtsanwendung immer weniger mit einer bloßen Kausalbetrachtung begnügt, sondern die Zuweisung von Haftungsverantwortlichkeiten auf eine Vielzahl sich teilweise auch ergänzender wertender Betrachtungen stützt. Die prominente Rolle, die der Zurechnungszusammenhang einnimmt, darf allerdings nicht einfach mit einem Bedeutungsverlust von Kausalität gleichgesetzt werden. Deutlich dürfte geworden sein, daß Zurechnungen, basieren sie nun auf Adäquanzüberlegungen, auf dem Schutzzweck der Norm oder auf anderen, eher situativ eingeführten Gesichtspunkten, wie etwa dem Kriterium koquelle", sondern unter dem Stichwort „Folgeschäden, die auf Handlungen des Verletzten oder Dritten beruhen" (vgl. z.B. Larenz (1987), § 27 III 4) bzw. dem Stichwort „Unterbrechung des Kausalzusammenhangs" (vgl. Deutsch (1976), 157 ff) erörtert. Hierhin gehören etwa die „Grünstreifen"-Fälle: Infolge eines Autounfalls (querstehender Lkw) ist die Autobahn für den nachfolgenden Verkehr gesperrt. Einige Wartende umfahren das Hindernis auf dem Grünstreifen am Rande der Autobahn. Die Grünstreifen-Schäden sind dem Lkw-Fahrer nicht mehr zuzurechnen, weil die Handlungen der nachfolgenden Pkw-Fahrer zwar durch seinen Unfall bedingt waren, dennoch aber auf j e eigenen Willensentschlüssen beruhten. Der B G H hatte diesen Fall noch mit Hilfe der Schutzzwecklehre gelöst; B G H Z 58,162. 42 Siehe die Aufbereitungen bei Larenz (1987), § 27 III 4 und 5; Lange (1990), §3X. 43 Vgl. Deutsch (1992 b), 97 - Anmerkung zum Schweinemäster-Fall. 44 In diese Richtung argumentiert Larenz (1987), § 27 III 2 und 3.
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des „Sich-Herausgefordert-Fühlens" in den berühmten „Verfolgungsfällen" 45 , grundsätzlich erst auf der Basis eines zuvor bejahten Kausalzusammenhangs Relevanz erlangen 46 . Auf zwei Problemkonstellationen ist an dieser Stelle noch einzugehen, weil sie in der rechtswissenschaftlichen Diskussion verbreitet unter dem Gesichtspunkt vermeintlicher besonderer Kausalitätslehren behandelt werden. Es geht zum einen um die „Kausalität des Unterlassens" und zum anderen um die Fälle sog. „psychischer Kausalität".
3. Die Kausalität des Unterlassens und die Verkehrspflichten Die Frage, ob es eine echte Kausalität des Unterlassens gibt 4 7 , d.h. ob ein Nicht-Tun eine Bedingung im Sinne eines gesetzmäßigen Ereignisses sein kann, dürfte lediglich noch eine akademische Relevanz haben; denn im Ergebnis besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß eine Unterlassung rechtlich jedenfalls wie eine Bedingung zu behandeln ist, wenn bei einem Tun die Verhinderung des Erfolges möglich gewesen wäre. Einigkeit besteht darüber hinaus auch insofern, als eine solche Bedingung (oder je nach Anschauung: Quasi-Bedingung) nicht der für die Haftung entscheidende Gesichtspunkt ist. Entscheidend ist wiederum ein Moment der objektiven Zurechnung: Ein Unterlassen kann nämlich nur dann haftungsbegründend sein, wenn der Untätige rechtlich zu einem bestimmten Tun verpflichtet war 4 8 . Zugerechnet wird also nur das pflichtwidrige 45 B G H N J W 1 9 7 1 , 1 9 8 2 ; B G H Z 5 7 , 2 6 , 3 0 ; B G H Z 6 3 , 1 8 9 , 1 9 1 . Dazu auch unten 4. 4 6 Siehe dazu auch Köndgen (1983), 345, 348. 47
So in jüngerer Zeit mit plausiblen Argumenten Schulin (1976), 150 ff und Koriath (1988), 118 f. Anders die herrschende Meinung, die daran festhält, daß eine Unterlassung ein „nullum" sei, das daher auch kein „Etwas" realiter verursachen könne; siehe den Überblick über den Meinungsstand bei Schulin (1976), 135.
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Siehe Larenz (1987), § 2 7 III c; Esser/Schmidt (1993), § 33 1 2 ; Lange (1990), § 3 X I ; Deutsch (1976), 125 ff.
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Unterlassen. In der zivilrechtlichen Haftung ist diese Pflichtenstellung insbesondere durch judizielle Anerkennung von Verkehrs(sicherungs)pflichten erheblich ausgeweitet worden 4 9 .
4. psychische Kausalität" Von sog. „psychischer Kausalität" wird in der Jurisprudenz gesprochen, wenn der Verletzungserfolg nicht unmittelbar durch das Verhalten des Schädigers eintritt, sondern erst durch auf das Verhalten folgende psychische Reaktionen des Geschädigten bzw. Dritter realisiert wird. Bekannte Beispiele der Rechtspraxis sind die „Schockschaden"-Fälle und die „Verfolgungs"-Fälle. Bei den Schockschaden-Fällen geht es um die haftungsrechtliche Zurechnung sog. „Schockschäden" beim Ansehen eines schweren Unfalls oder bei der Übermittlung von Unfall- und Todesnachrichten naher Angehöriger 50 . Muß die Person, die den Unfall herbeigeführt und dadurch die Schockreaktion bei Dritten ausgelöst hat, auch für deren Schäden haften? Die Rechtspraxis hat keine Probleme damit, zwischen dem Unfall und der psychisch bedingten Reaktion, die zum „Schockschaden" führt, eine adäquate Kausalität anzunehmen, obwohl es sicherlich keine „gesetzlich-deterministische" Verbindung gibt (was wiederum nur zeigt, daß es für die natürliche Kausalbetrachtung eines singulären, geschichtlichen Ereignisses auf wirkliche Gesetzmäßigkeit nicht ankommen kann 5 1 ). Gemeinhin wird hier von „psychischer Kausalität" gesprochen 52 . Ob es sich hierbei um eine eigenständige Kausalitätslehre für menschliche Reaktionen handelt 53 , ist jedenfalls für die juristische Lösung 49 Siehe dazu nur v. Bar (1979), 332 ff. 50 Vgl. B G H Z 56,163 ff; B G H J Z 1985,538 f. Der Sache nach gehört in diese Gruppe auch der Fall B G H J Z 1989, 1069. 51 Siehe oben bei Fn. 14. Aufschlußreich deshalb Deutsch (1976), 140; ders. (1992), 433, 436. 52 Vgl. Gottwald (1986), 3, 5; Kötz (1991), Rn. 163; Esser/Schmidt (1993), § 3 4 1 1; Lange (1990), § 3 X 5 . 53 So wohl Deutsch (1976), 140. Ausführlich dazu Koriath (1988), 141-245.
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nicht von Belang; für sie wird maßgeblich darauf abgestellt, ob der Schockschaden noch im (personellen) Schutzbereich der Haftungsnorm 54 liegt, d.h. ob der Verursacher eines Unfalls auch den Zusehenden bzw. Angehörigen gegenüber Pflichtenstellungen hat, die über die Haftungsnorm sanktioniert werden können. Für nahe Angehörige ist das bejaht worden. Für normale Passanten, die zufällig einen schweren Unfall mitansehen müssen, wird der Schockschaden dem Schädiger nicht zugerechnet: Augenzeuge eines Unfalls zu sein gehört in unserer hochtechnisierten Welt zum allgemeinen Lebensrisiko 55 . Bei den „Verfolgungs" -Fällen geht es um die haftungsrechtliche Zurechnung von Schäden, die Personen erleiden, weil sie Flüchtende verfolgen 56 : ein Bahnkontrolleur verfolgt einen Schwarzfahrer, stürzt infolge seines eigenen Verfolgungstempos eine Treppe hinunter und zieht sich einen komplizierten Beinbruch zu . Die Schwierigkeit liegt hier darin, daß der Verletzer lediglich fortgerannt ist, und der Verletzte sich den Schaden gleichsam selbst beigebracht hat. Haftungsrechtlich entscheidend ist für die Rechtspraxis deshalb auch der Umstand, ob die Verfolgung auf einem eigenen Willensentschluß des Verfolgers basiert mit der Konsequenz, daß für die auf sich genommene Gefahr selbst einzustehen ist, oder ob sich der Verfolger durch die Flucht zur Verfolgung herausgefordert fühlen durfte 58 .
III. Kausalität und Zurechnung: moderne Problemkonstellationen Die gegenwärtige Diskussion um Kausalität und Zurechnung konzentriert sich auf andere Fragenkreise. Ging es in der klas54 Vgl. dazu AK-BGB/Rüßmann (1980), vor §§ 249-253, Rn. 54. Siehe auch Β GHZ 56, 163,171 ff. 55 Siehe BGH JZ 1985,538, 539. 56 Siehe die Nachweise in Fn. 44. 57 So der Sachverhalt in BGHZ 57, 25. 58 Vgl. aus der Literatur etwa Müko/Grunsky (1986), vor § 249, Rn. 62; Soergel/Mertens (1990), vor §249, Rn. 138.
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sischen Diskussion im wesentlichen darum, durch Haftungstheorien Haftung einzuschränken, sprich: den Kausalzusammenhang durch den Filter des Zurechnungszusammenhangs zu gießen, so steht heute in zentralen Haftungsrechtsmaterien, wie etwa der Produkt- und Produzentenhaftung, der Arzt- und Arzneimittelhaftung, der Umwelthaftung und der Gentechnikhaftung, ganz eindeutig das Bemühen im Vordergrund, dem Geschädigten dabei zu helfen, mit den Schwierigkeiten des Kausalitätsnachweises fertig zu werden, d.h. erst einmal den Einstieg in die condicio sine qua non zu schaffen. „Komplexität" ist in diesem Zusammenhang ein gern benutztes Schlagwort. Ich möchte das kurz am Beispiel der immissionsbedingten Schäden, also sog. umweltmedienvermittelter Schäden, illustrieren: Die erste Schwierigkeit besteht darin, einen bestimmten Schaden auf einen Immissionszustand zurückzuführen, was bei Gesundheitsbeeinträchtigungen, die vielfach auch vom eigenen Verhalten beeinflußt werden (z.B. Raucher/Nichtraucher), besonders kompliziert ist. Ein weiteres Problem ist es, die schadensstiftende Immission mit einer bestimmten Emissionsquelle zu verknüpfen 5 9 . Zeitverzögerungen zwischen Emission, Immissionszustand und Schadenseintritt, die jedenfalls immer dann auftreten, wenn eine Anlage im Normalbetrieb läuft, also keine Unfälle oder Störfälle zu beklagen sind, verschärfen diese Situation noch. Aber selbst wenn diese Probleme gelöst sind, ist damit noch nicht viel gewonnen, weil die umwelthaftungsrechtliche Konstellation häufig dadurch charakterisiert ist, daß eine Mehrzahl von Emittenten als Schädiger in Betracht kommen, deren einzelne Verursachungsbeiträge sich nur schwerlich aufklären lassen. Völlig prekär wird es, wenn eine Vielzahl von Emittenten als Schädiger in Betracht kommen (dies ist übrigens ganz wesentlich eine Folge der „Hohe-Schornstein-Politik" ) 6 0 und der Schaden mit zunehmender Entfernung vom Schadensort meist aus unentwirrbaren kumulativen und synergetischen Effekten resultiert (sog. emittentenferne Schäden aus summier59 Instruktiv insoweit der Fluorimmissionen-Fall: B G H Z 70, 102 ff. 60 Vgl. dazu auch Diederichsen (1987), L 82.
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ten Immissionen) 6 1 . Letzteres ist die typische Konstellation bei den neuartigen Waldschäden. Bei der Gentechnikhaftung liegen die Probleme der Kausalitätsermittlung in der Summe ähnlich 6 2 .
1. Auswege: Beweisrecht und
Kausalerklärung
Verschiedene Auswege sind denkbar. Der eine führt über das Beweisrecht. Hier geht es um judizielle Beweiserleichterungen bis hin zu einer Beweislastumkehr zugunsten des Geschädigten, aber auch u m die Schaffung gesetzlicher Beweismaßreduktionen bzw. entsprechender Kausalitätsvermutungen 6 3 . Für das Kausalitätsthema bedeutet das, daß im Ausgangspunkt an der naturgesetzlich-deterministischen Erklärung festgehalten wird, die Anforderungen an den Nachweis dieser Erklärung aber abgesenkt werden. Faktisch begnügt man sich auf diese Weise mit Wahrscheinlichkeitskalkülen. Der andere Ausweg betrifft das Erklärungsmodell und will Abhilfe über eine neue Kausalitätstheorie schaffen: Die haftungsbegründende Kausalität soll nicht mehr auf der Basis einer deterministischen Erklärung, sondern durch eine statistische (probabilistische) Erklärung ermittelt werden 6 4 . Während der erste Ausweg mittlerweile in vielfältiger Weise beschritten wird, ist die Abkehr von der deterministischen Erklärung nahezu einhellig auf Ablehnung gestoßen 6 5 und im deutschen Recht, soweit ich die Literatur überschaue, auch nicht ernsthaft vertreten worden - jedenfalls nicht für den
61 Vgl. dazu etwa Gmehling (1989), 186 ff; Assmann (1988), 158. 62 Vgl. Nicklisch (1989), 1, 2 f; Assmann (1990), 49; Damm (1992), 1, 2. 63 Zur faktischen und rechtsdogmatischen N ä h e gesetzlicher Beweismaßreduktionen und gesetzlicher Kausalitätsvermutungen siehe Damm (1989), 561,566; ders. (1992), 1, 3 f. 64 Siehe dazu etwa Fikentscher (1990), § 51 IV; siehe auch die Darstellung bei Köndgen (1983), 345, 346 f. 65 Vgl. Köndgen (1983), 345, 347; Diederichsen (1987), L 87 ff; Medicus (1986), 778, 781; v. Bar (1987), 4, 16; Gottwald (1986), 3, 16.
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Bereich des normalen Haftpflichtprozesses 66 . Ich werde diesen Ausweg deshalb hier vernachlässigen.
2. Beweiserleichterungen und Beweismaßreduktionen, Kausalitätsvermutung 2.1. Die judizielle
Praxis
Nach den allgemeinen Regeln zur Beweislastverteilung hat der Geschädigte die anspruchsbegründenden Tatsachen zu beweisen. Zu den anspruchsbegründenden Tatsachen gehört auch die haftungsbegründende Kausalität. Gefordert wird gem. § 286 Z P O die „freie Überzeugung" des Gerichts, „ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten" ist. Nach herrschender Meinung bedeutet das für das Beweismaß, daß eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit gegeben sein muß; lediglich entfernt liegende Zweifel (also „theoretische" Zweifel) dürfen außer Acht gelassen werden 67 (sog. Vollbeweis). Der B G H spricht diesbezüglich von einem Grad von Gewißheit, der „den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen" 68 . Andere verwenden die Formulierung „mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit" 69 .
66 Siehe aber den von Gunther Teubner auf dieser Tagung vorgetragenen Vorschlag, Emittenten zu „Risk-Pools" zusammenzufassen und gemeinsam für Schäden, die aus dem Immissionszustand eines bestimmten Gebiets resultieren, haften zu lassen. 67 Vgl. Sieg (1988), 1609,1612; Prutting (1989), 3,7; siehe auch die Darstellung bei Gottwald (1986), 13. O b § 286 Z P O wirklich den Vollbeweis verlangt, ist in der Literatur mittlerweile stark umstritten. Nicht wenige Autoren sehen in dieser N o r m ein Maß, daß auf die „überwiegende Wahrscheinlichkeit" abhebt (vgl. etwa Kegel (1967), 321, 343 f; Maassen (1975)). Andere erkennen hierin eine Befugnis, Beweisfragen nach common sense zu entscheiden (so Gottwald (1986), 13). 68 Vgl. B G H Z 53,245, 256. 69 Siehe etwa Brüggemeier (1989), 209, 218; Damm (1992), 1, 3.
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(Für die sog. haftungsausfüllende Kausalität, also den Ursachenzusammenhang zwischen Rechts(guts)verletzung und (Folge-)Schaden, gilt demgegenüber das geringere Beweismaß des § 287 ZPO.) Die gerichtlichen Anforderungen an den Vollbeweis müssen nicht notwendig auf eine lückenlose Erklärung hinauslaufen. Auch Indizienbeweise, also Kausalbeweisführungen aufgrund von Indiztatsachen, sind möglich und werden gerade bei unübersichtlichen Kausalverläufen praktiziert 70 ; entscheidend ist die Uberzeugung des Gerichts, und die läßt sich ohnehin nicht in einem objektiv-mathematischen Wahrscheinlichkeitskalkül fassen 71 , sondern erhält ihre Rationalität durch die in § 286 I S. 2 Z P O vorgeschriebene Begründungspflicht. In der Literatur ist deshalb nicht zu Unrecht darauf hingewiesen worden, daß der sog. epidemiologische Beweis, der in den berühmten japanischen Umwelthaftungsprozessen der siebziger Jahre eine bedeutende Rolle spielte, wohl auch hierzulande ausgereicht hätte, den vollen Beweis gem. § 286 Z P O zu erbringen 72 . Jedenfalls bei bestimmten Krankheitsbildern dürfte eine epidemiologische Beweisführung für den Vollbeweis ausreichen 73 . Mit all dem will ich sagen, daß auch der Vollbeweis es zuläßt, auf bloße Wahrscheinlichkeitskalküle abzustellen, und daß die Formel von der „an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit" häufig mehr vorgibt als tatsächlich verlangt wird. Typischen Beweisschwierigkeiten des Geschädigten versucht die Rechtspraxis durch eine ausdrückliche Gewährung von Beweiserleichterungen abzuhelfen 74 . Die Gerichte arbeiten hier 70 Siehe etwa B G H N J W 1982,2447 ff - Hepatitiserkrankung nach Muschelverzehr. Siehe auch die Darstellung bei Schmidt-Salzer (1992), zu § 6, Rn. 79 ff. 71 Vgl. dazu Gottwald (1986), 13. Rehbinder (1989), 149, 158, spricht zu Recht vom „noch nicht ausgeschöpften Potential freier Beweiswürdigung" . Siehe auch Esser/Schmidt (1993), § 33 VI 1. 72 Siehe etwa Diederichsen (1987), L 84, L 87. 73 Siehe auch Diederichsen (1987), ebenda. 74 Siehe etwa die Bemerkung des B G H im Kupolofen-Urteil: B G H Z 92,143, 146 f und insbes. B G H N J W 1985, 1774, 1775.
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mit der Figur des Anscheinsbeweises, mit Beweismaßreduktionen (meist durch Vermutungspostulate, aber auch auf der Basis von § 287 ZPO) und mit der Figur der Beweislastumkehr. Die Rechtspraxis begnügt sich mit einem Anscheinsbeweis (primafacie-Beweis) immer dann, wenn nach der Lebenserfahrung typische Geschehensabläufe vorliegen, die es erlauben, vom Verletzungserfolg auf die Handlung des Schädigers zu schließen, es also entbehrlich erscheinen lassen, die tatsächlichen Einzelumstände aufzuhellen 75 . Einen Anscheinsbeweis - genau genommen: einen doppelten Anscheinsbeweis - hat der B G H kürzlich in einem spektakulären Haftungsprozeß akzeptiert, in dem es um HIV-kontaminierte Blutkonserven ging: Der Ehefrau des Klägers war anläßlich einer Operation im Jahre 1984 Blut transfundiert worden, das mit dem HI-Virus kontaminiert war. Eine spätere Untersuchung des Klägers wie seiner Ehefrau ergab, daß beide Träger des HI-Virus sind. Der Kläger macht das Krankenhaus hierfür verantwortlich. Dieses verteidigt sich u.a. damit, daß er sich auch anderweitig angesteckt haben könnte. Der B G H sah hingegen die HIV-Ansteckung durch die kontaminierte Blutkonserve als erwiesen an. Es spreche eine Lebenserfahrung dafür, daß Eheleute, die nicht zu den sog. AIDS-Risikogruppen gehören und auch sonst durch ihre Lebensführung nicht einer gesteigerten Infektionsgefahr ausgesetzt seien, vor der Bluttransfusion nicht HIV-infiziert gewesen seien, der Virus vielmehr erst mit der Blutkonserve auf die Ehefrau übertragen worden ist und dann in der Folgezeit durch ehelichen Verkehr auch in den Körper des Klägers gelangt sei 76 . Die Anerkennung der Typizität von Geschehensabläufen aus der Lebenserfahrung ist primär eine empirisch-statistische Kategorie 77 . Wahrscheinlichkeiten werden zu erwiesenen Tatsachen, die nur dadurch erschüttert werden können, daß der Gegner einen atypischen Kausalverlauf glaubhaft machen kann. 75 Vgl. zur dogmatischen Einordnung des Anscheinsbeweises (1989), 3 , 1 2 ; siehe ferner Deutsch (1992 a), 433,438. 76 Vgl. B G H Z 114, 284, 290 - HIV-kontáminierte Blutkonserve. 77 Siehe auch A K - Z P O / R ü ß m a n n (1987), zu § 286, Rz. 23.
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Auf Beweiserleichterungen ist insbesondere erkannt worden, wenn der verdächtigte Schädiger gegen Pflichten verstoßen hat, die darauf gerichtet sind, „gerade die Situation zu vermeiden, die für ihre potentielle Schadensursächlichkeit bekannt ist" 7 8 . Das ist etwa bei Verstößen gegen Unfallverhütungsvorschriften praktisch geworden 7 9 , aber in dem uns hier besonders interessierenden Bereich der umweltmedienvermittelten Schäden auch bei Verstößen gegen verwaltungsrechtlich statuierte Immissions- und Emissionsgrenzwerte der TA Luft 8 0 sowie bei Verstößen gegen gesetzliche Untersuchungspflichten 8 1 . Dasselbe gilt, wenn richterrechtlich geschaffene Verkehrspflichten nicht eingehalten worden sind, soweit diese Verkehrspflichten gerade bezwecken, den eingetretenen Schaden zu vermeiden 82 . Der Pflichtverletzung kommt in diesen Fällen eine Indizwirkung zu, die entweder zu einem Vermutungspostulat oder einem Anscheinsbeweis führt, ggf. auch zu einer vollständigen Beweislastumkehr 83 . Letzteres kommt insbesondere dann in Betracht, wenn die Pflichtverletzung es geradezu unmöglich macht, daß der Geschädigte den Ursachenverlauf noch aufklären kann (Gesichtspunkt der Beweisvereitelung). In der Praxis wird die Beweislastumkehr bei der Verletzung von Dokumentationspflichten im Arzthaftungsprozeß 8 4 , bei Verstößen gegen die Befundsiche-
78 Vgl. v. Bar (1987), 16; siehe auch Assmann (1988), 175; Köndgen (1983), 345, 352 f.; Deutsch (1992 a), 433, 439; ferner: Baumgärtel (1984), 1109 f; Diederichsen (1987), L 86. 79 So schon R G Z 95,238. 80 Vgl. B G H Z 70, 102, 107 - Fluorimmissionen - und insbesondere auch die Andeutungen in B G H Z 92, 143, 146f - Kupolofen. Dazu Walter (1978), 1158 f; Baumgärtel (1984), 1109 f. 81 Vgl. B G H N J W 1983, 2935 f - Brunnenwasser, Verstoß gegen Untersuchungsvorschriften der TrinkwasserVO. 82 Vgl. nur Brüggemeier (1989), 209,221 f. 83 So findet im Arzthaftungsrecht bei sog. „groben Behandlungsfehlern" eine Beweislastumkehr statt; siehe dazu etwa R G Z 171, 168, 171; B G H N J W 1968, 1185; B G H N J W 1983, 2080, 2081; Deutsch (1992a), 433, 440 f; kritisch dazu Brüggemeier (1986), Rz. 683. 84 Grundlegend B G H N J W 1983, 333.
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rungspflicht im Produzentenhaftungsrecht 85 und bei Verstößen gegen Untersuchungspflichten im Umwelthaftungsrecht 86 eingesetzt. Zugespitzt auf das Problem einer Schädigung durch Schadstoffimmissionen deuten die Ansätze (und insbesondere das obiter dictum in der Kupolofen-Entscheidung 87 ) in der Rechtsprechung des B G H für den deliktischen Haftungsprozeß auf die folgende Darlegungs- und Beweislastverteilung hin: - Der Geschädigte muß nachweisen, daß er einem Schadstoff ausgesetzt war, der generell geeignet ist, den geltend gemachten Schaden herbeizuführen, und er muß nachweisen, daß der verdächtigte Schädiger überhaupt Stoffe dieser Art emittiert hat und die entsprechenden Schadstoffe an den Einwirkungsort des Schadens gelangt sind. - Gelingt dieser Nachweis, hat der Emittent zu beweisen, daß er die vorgeschriebenen Emissions- und Immissionswerte der TA Luft eingehalten hat 8 8 . Gelingt ihm dieser Nachweis nicht, scheinen der B G H und große Teile des Schrifttums die Kausalität zwischen Schadstoffemission und eingetretenem Schaden als bewiesen ansehen zu wollen 8 9 . Gelingt dem Emittenten hingegen der Nachweis, bedeutet das nicht automatisch, daß der Kausalitätsnachweis nicht geführt ist, vielmehr kommt es nun
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B G H Z 104, 323, 333 ff - Limonadenflasche. B G H N J W 1983, 2935, 2936 - Brunnenwasser. Vgl. B G H Z 9 2 , 1 4 3 , 148 f - Kupolofen. Vgl. B G H Z 92, 143, 150 f - Kupolofen. Der B G H spricht von der U m kehr der Beweislast allerdings nur in bezug auf die Pflichtwidrigkeit bzw. Rechtswidrigkeit und Schuld. Gleiches muß allerdings auch für den Kausalitätsnachweis gelten. Darüber ist man sich in der Literatur weitgehend einig. Vgl. statt vieler Marburgcr/Hermann (1986), 354, 358.
Die T A (= Technische Anleitung) Luft ist eine Verwaltungsvorschrift, die die gesetzlichen Anforderungen des Bundesimmissionschutzgesetzes konkretisieren und damit vollziehbar machen soll. 89 Vgl. B G H Z 70, 102, 107 - Fluorimmissionen; B G H Z 92, 143, 146 f Kupolofen. Vgl. dazu auch Marburger/Herrmann (1986), 354, 358. Siehe auch Walter ( 1978), 115 8 f; Baumgärtel ( 1984), 1109 f; Diederichsen (1987), L 86.
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darauf an, wie das Gericht die zuvor vom Geschädigten beigebrachten Nachweise würdigt 9 0 . - Im einzelnen ist noch vieles klärungsbedürftig. Lediglich auf zwei Aspekte möchte ich an dieser Stelle hinweisen: Zu Recht wird in der Literatur darauf hingewiesen, daß die Überschreitung von Emissionswerten der TA Luft nicht pauschal f ü r eine Kausalitätsvermutung oder eine Beweislastumkehr ausreichen kann, weil bestimmte Emissionswerte reine Vorsorgewerte sind und insofern der Indizwert gering ist 9 1 . Bedacht werden muß aber auch, daß die Emissions- und Immissionswerte der TA Luft, wie alle Grenzwerte, keine rein sachverständige Aussage über Unbedenklichkeit enthalten, sondern in hohem Maße auch Bewertungen sind, in die (insbes. wenn es u m Vorsorge geht) politische und wirtschaftliche Überlegungen einfließen. Insofern ist f ü r die kausale Zurechnung eine ausschließliche Orientierung an den TA-Luft-Werten sicherlich nicht ausreichend. 2.2. Forderungen in der wissenschaftlichen Literatur: Beweismaßreduktion auf Jiberwiegende Wahrscheinlichkeit" Nicht zuletzt aus dieser Erwägung heraus ist f ü r den Bereich der Umwelthaftung und der Gentechnikhaftung in der Literatur verbreitet gefordert worden, das Beweismaß f ü r den Geschädigten generell auf die „überwiegende Wahrscheinlichkeit" zu reduzieren 9 2 und darüber hinaus im Einzelfall Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr zuzulassen. Dieser Vorschlag hat sich allerdings weder in dem Gesetzgebungsvorhaben z u m Umwelthaftungsgesetz noch im Gentechnikgesetz durchgesetzt. In das Umwelthaftungsgesetz ist aber eine Kausalitätsvermutungsvorschrift aufgenommen worden. 90 Vgl. B G H Z 70, 102, 107 - Flourimmissionen. 91 Siehe insbes. Rehbinder (1989), 149,158; siehe auch Köndgen (1983), 345, 353. 92 Vgl. Hager (1986), 1961, 1968; Brüggemeier (1989), 209, 221; Rehbinder (1989), 149, 159. Siehe auch Walter (1978), 1158, 1159; Damm (1989), 561, 566 f. Siehe darüber hinaus auch die Hinweise auf die allgemeine Diskussion zur Beweiswürdigung in Fn. 66.
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2.3. Kausalitätsvermutung
nach
UmweltHG
Gem. § 6 I U m w e l t H G wird vermutet, daß ein Schaden durch eine bestimmte Anlage verursacht worden ist, wenn diese Anlage nach den Gegebenheiten des Einzelfalles geeignet ist, den entstandenen Schaden zu verursachen. Die Eignung im Einzelfall beurteilt sich nach dem Betriebsablauf, den verwendeten Einrichtungen, der Art und Konzentration der eingesetzten Stoffe, den meteorologischen Gegebenheiten, nach Zeit und O r t des Schadenseintritts (§ 6 I S. 2 UmweltHG). Die Kausalitätsvermutung soll dann nicht gelten, wenn die Anlage bestimmungsgemäß betrieben worden ist, also unter Einhaltung der besonderen Betriebspflichten, die die Verhinderung von solchen Umwelteinwirkungen bezwecken, die für die Verursachung des Schadens in Betracht kommen (§ 6 II UmweltHG). O b mit einer so beschaffenen Kausalitätsvermutungsregel wirklich ein signifikanter Fortschritt gegenüber den Regeln der allgemeinen Beweiswürdigung (§ 286 Z P O ) gewonnen ist, scheint mir insgesamt sehr fraglich zu sein. Der Geschädigte hat nun immer noch - genau wie im deliktischen Haftungsprozeß - zu beweisen: 1) daß von der fraglichen Anlage die Freisetzung bestimmter Schadstoffe ausgegangen ist , 2) daß der Geschädigte diesen Schadstoffen ausgesetzt war und 3) daß diese Schadstoffe konkret geeignet waren, den Schaden herbeizuführen 9 4 , um in den Genuß der Kausalitätsvermutung zu kommen. All das nützt dem Geschädigten aber nichts, wenn es dem Anlagebetreiber gelingt, den Beweis zu führen, seine öffentlichrechtlichen Betriebspflichten eingehalten zu haben 9 5 . In diesem 93 Diesbezüglich helfen allerdings die Auskunftsansprüche gem. § 8 UmweltHG. 94 Siehe dazu Landmann/Rohmer/Hager (1992), zu § 6 U m w e l t H G , Rz. 16 ff. 95 Kritisch dazu auch Brüggemeier (1991), 297, 307 f; Köck (1992), 412, 419; Landmann/Rohmer/Hager (1992), Rz. 41 m.w.N.
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Fall ist der Geschädigte auf den Vollbeweis der Kausalität angewiesen. Diese Konsequenz ist aber möglicherweise weniger einschneidend, als es scheint; denn in der neueren Literatur wird verbreitet die Ansicht vertreten, bereits die Geeignetheitsanforderungen des § 6 I U m w e l t H G seien so streng formuliert, daß sie dem Vollbeweis entsprechen 96 . Wenn die Praxis der Anwendung des UmweltHG, die es gegenwärtig mangels einschlägiger Rechtsfälle noch nicht gibt, dieses Auslegungsergebnis bestätigen sollte, dann wäre die Kausalitätsvermutungsregel ohne jede Funktion. M.E. wird man aber den gesetzlichen Geeignetheitsbegriff im § 6 I U m w e l t H G so zu interpretieren haben, daß es genügt, einen plausiblen Zusammenhang zwischen Emission und Schaden darzutun 9 7 .
2.4. Schadensverursachung durch mehrere: Urheber- und Anteilszweifel
Kommen nach Lage der Dinge mehrere Emittenten als Schädiger in Betracht - und es muß hier noch einmal betont werden, daß das die eigentlich typische Situation im Umwelthaftungsrecht ist - werden die Kausalitätsbeweisnöte des Geschädigten prekär; denn selbst wenn es dem Geschädigten in dieser Konstellation gelingt nachzuweisen, durch einen Schadstoff verletzt worden zu sein, der u.a. von dem möglichen Schädiger emittiert worden ist, kann dieser immer noch darauf verweisen, daß auch andere Emittenten im Einwirkungsbereich des Geschädigten den gleichen Schadstoff ausstoßen und seine Emission daher nicht ursächlich für den Schaden gewesen sei. Es überrascht schon sehr, daß der Gesetzgeber bei der Verabschiedung des Umwelthaftungsgesetzes für diese Konstellation
96 Vgl. Diederichsen (1990), 78, 88; ders. (1992), 162, 168; Gottwald (1992), 447, 454 f; Frhr. v. Dörnberg (1992), 9, 26. 97 So wohl auch Landmann/Rohmer/Hager (1992), zu § 6 U m w e l t H G , Rn. 19 ff. Vgl. auch Paschke (1993), zu § 6, Rn. 14, 16 ff; Salje (1993), zu § 6, Rn. 32.
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keine ausdrückliche Regelung getroffen hat 9 8 . Insofern bleibt es bei den allgemeinen Haftungsregeln, die insbesondere in der Beschäftigung mit der Haftungsnorm des § 830 I S. 2 BGB gewonnen worden sind. - § 830 I S. 2 BGB regelt Urheberzweifel: Kommen mehrere als Täter in Betracht (d.h. haben mehrere eine pflichtwidrige Gefahrenursache im Sinne einer objektiv gemeinsamen Gefährdung gesetzt), und hat einer mit Sicherheit den Schaden verursacht, läßt es sich aber nicht herausfinden, wer es konkret ist, haften alle als Gesamtschuldner. Voraussetzung ist aber, daß die Emission eines jeden Emittenten zumindest geeignet ist, den gesamten Schaden zu verursachen" (sog. „alternative Kausalität"). Darüberhinaus wird § 830 I S. 2 BGB entsprechend auch bei sog. Anteilszweifeln angewendet. Bei dieser Fallvariarjte steht fest, daß jeder von mehreren Beteiligten am Verletzungserfolg mitbeteiligt war. Zweifel bestehen aber über die Anteilsverantwortlichkeiten. Auch in dieser Konstellation setzt die entsprechende Anwendung der N o r m voraus, daß jede der in Betracht kommenden Handlungen allein geeignet war, den gesamten Verletzungserfolg ohne die anderen Beiträge zu verursachen 1 0 0 . Demgegenüber kommt es anders als beim § 830 I S. 1 BGB nicht darauf an, daß die einzelnen Emittenten voneinander wissen 101 oder gar gemeinschaftlich
98 Eine solche Regelung war ursprünglich vorgesehen. Bundestag und Bundesrat konnten sich allerdings nicht darüber einigen, ob Anteilshaftung oder gesamtschuldnerische Haftung bestehen soll, so daß letztendlich das Problem völlig ausgeklammert wurde; vgl. die Darstellung bei SchmidtSalzer (1992), zu § 1, Rn. 218 ff. 99 Vgl. Köndgen (1983), 345, 353; Gottwald (1986), 3, 19; Assmann (1988), 155, 168 f; Brüggemeier (1990), 261, 270 ff; Landmann/ Rohmer/Hager, zu § 6 U m w e l t H G , Rn. 12. 100 Vgl. nur B G H BB 1994, 598 - Kindertee II; aus der Literatur statt vieler Paschke (1993), zu § 1, Rn. 64. 101 So die herrschende Meinung; Nachweise bei MüKo/Mertens (1986), zu § 830, Rn. 31. Anderer Ansicht etwa Deutsch (1976), 351.
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gehandelt haben 1 0 2 . O b in den spektakulären amerikanischen DES-Fällen 1 0 3 die Anwendung des § 830 I S. 2 B G B möglich gewesen w ä r e 1 0 4 , ist zumindest zweifelhaft; denn der geschlossene Täterkreis, den die N o r m voraussetzt, wird nur schwerlich herzustellen sein, wenn eine ganze Branche, möglicherweise noch europaweit, nahezu identische fehlerhafte Produkte in den Verkehr bringt. Genau dieser Umstand hat den Hogen Raad, das höchste Gericht der Niederlande, dazu veranlaßt, für die Bewältigung der holländischen DES-Fälle davon abzusehen, von den Geschädigten zu verlangen, alle potentiellen Schädiger zu identifizieren 105 . Der Hooge Raad hat dennoch auf eine gesamtschuldnerische Haftung erkannt 1 0 6 . In der deutschen Haftungsrechtsdiskussion zeichnet sich demgegenüber eine Tendenz ab, den Rechtsgedanken des § 830 I S. 2 B G B auch für Anteilshaftungslösungen fruchtbar zu machen. Der B G H hat 102 Siehe statt vieler nur Staudinger/Schäfer (1986), zu § 830, Rn. 22 f, und die Darstellung bei K o c h (1987), 152 ff. 103 Das Medikament D E S , ein synthetisch hergestelltes Östrogen, wurde im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge zur Vermeidung von Fehlgeburten eingesetzt. Erst 12 bis 20 Jahre später wurde bei Töchtern der mit D E S behandelten Mütter eine seltene Art von Unterleibskrebs festgestellt, der auf D E S zurückgeführt werden konnte. Das haftungsrechtliche Problem bestand nun darin, daß D E S als sog. „Genericum" von zahlreichen (200!) Herstellern meist unter der allgemeinen Bezeichnung „ D E S " vermarktet worden ist, so daß nach all den Jahren nicht mehr zu ermitteln war, welcher Schaden auf welchen Hersteller zurückzuführen war (siehe zum Sachverhalt nur Bodewig (1985), 505, 508 ff). D e r kalifornische Supreme Court erkannte hier in einem umstrittenen Urteil auf eine Beweislastumkehr für die Kausalität, wenn der Kläger so viele Hersteller verklagt, daß deren Marktanteile zusammen eine „substantial share of the market" (wesentlicher Marktanteil; im Klageverfahren hatten die Beklagten zusammen etwa 9 0 % des D E S - M a r k t e s ) ergeben. Die einzelnen Hersteller haften dann nach ihren Marktanteilen („market share liability"); vgl. Sindell v. Abbott Laboratories, Supreme C o u r t of California (1980), 607 p.2d 924. D a z u ausführlich K o c h (1987), 103 ff. 104 So Westermann/May (1993), 257, 261; siehe auch Kulimann (1993), 133, 146 ff. 105 H o o g e Raad, Urteil vom 9. 10. 1992 (abgedruckt in: VersicherungsrechtAuslandsinformation 1993, 39, 40f). 106 H o o g e Raad, a.a.O., S. 41.
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jedenfalls in seiner Kindertee-II-Entscheidung vom 11.1. 1994 eine solche Richtung angedeutet 1 0 7 . - Nicht anwendbar ist § 830 I S. 2 BGB, wenn der Schaden nur durch die Emissionsbeiträge mehrerer entstanden ist (unaufklärbare Teilschadensverursachung). Für diese praktisch eminent bedeutsame Konstellation ist noch keine gefestigte Rechtspraxis auszumachen. Hier muß es darauf ankommen, dem Geschädigten die oben skizzierten Beweiserleichterungen schon dann zugute kommen zu lassen, wenn er nachweisen kann, daß die Emission eines beteiligten Emittenten geeignet ist, den Schaden zumindest mit zu verursachen. Der B G H hat bislang einmal in diese Richtung entschieden. Dieser Fall betraf aber einen Fall wasserrechtlicher Gefährdungshaftung 1 0 8 . Es bleibt abzuwarten, ob § 6 I U m w e l t H G dazu benutzt werden kann, die wasserrechtliche Haftungssituation zu generalisieren 109 . Beweiserleichterungen würden sich dann, wie es Günter Hager formuliert, an der relevanten Risikoerhöhung zu orientieren haben, d.h. nicht schon jede kleinste einschlägige Emission reicht aus, um die Eignung zur Mitverursachung nachzuweisen (und damit in den Genuß der Kausalitätsvermutung zu kommen), sondern nur nachgewiesene Emissionsanteile von einigem Gewicht 1 1 0 . Kann der Emittent die Vermutung nicht entkräften (siehe oben), ist die haftungsbegründende Kausalität nachgewiesen. Die Schadensanteile der einzelnen Emittenten könnten dann im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität gem. § 287 Z P O geschätzt werden. Bei dieser Schätzung werden die Erwägungen zur „pollution share liability" relevant werden können 1 1 1 . Ist eine Schätzung nicht möglich, kommt wohl nur eine gesamtschuldnerische Haftung in Betracht (Nebentäterschaft) . 107 108 109 110 111 112
B G H , BB 1994, 597, 599 - Kindertee II. Siehe B G H Z 57, 257, 262 - Hühnergülle. So Landmann/Rohmer/Hager (1992), zu § 6 U m w e l t H G , Rn. 35 f. Landmann/Rohmer/Hager (1992), zu § 6 U m w e l t H G , Rn. 36. Vgl. auch Brüggemeier ( 1989), 209, 221. Siehe Landmann/Rohmer/Hager (1992), zu § 7 U m w e l t H G , Rn. 21 m.w.N.; siehe auch B G H Z 66, 70, 76 - Bohrlochsprengung.
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- Einig ist man sich darüber, daß auf diese Weise lediglich die Fälle überschaubarer möglicher Verursacher eingefangen werden können, keinesfalls aber die Schadensfälle, die auf ubiquitärer Verschmutzung beruhen, also die typischen emittentenfernen Schäden durch summierte Immissionen (z.B. Waldschäden, Gebäudeschäden). Bei diesen Schäden ist eine haftungsrechtliche Zurechnung unmöglich. Hier muß eine Art „Sozialversicherungslösung" gefunden werden, z.B. durch Einrichtung von Entschädigungsfonds u.ä. 1 1 3 . 2.5.
Zusammenfassung
Beweisrechtliche Ansätze spielen bei der Bewältigung des Kausalitätsproblems in der Rechtspraxis eine große Rolle. Schon der sog. Vollbeweis bedeutet in der gerichtlichen Praxis in aller Regel weniger als der volle Nachweis der Kausalität zwischen einer Handlung und einer Rechtsverletzung. Entscheidend ist die Überzeugung des Gerichts, die allerdings begründet werden muß (§ 286 I S. 2 ZPO). Der sog. Anscheinsbeweis legitimiert - analytisch betrachtet - statistische Zurechnungen. Vermutungsregeln und Beweislastumkehrungen reagieren auf Grundwahrscheinlichkeiten und darüber hinausgehende indizielle Gefahrerhöhungsbeiträge 1 1 4 (Nichteinhaltung vorgeschriebener Immissionswerte), gepaart mit der Zuweisung von Risikosphären (ein Gefahrerhöhungsbeitrag wird vermutet, wenn derjenige, der zu kontrollieren und Befunde zu sichern hat, dieses versäumt - der Sache nach geht es hier um Erwägungen, die mit Beweisvereitelung zu tun haben). § 830 I S. 2 BGB schließlich regelt einen Spezialfall zulässiger Verdachtshaftung; denn die N o r m läßt es zu, daß jemand zu Schadensersatz herangezogen wird, der es in Wahrheit nicht gewesen sein muß. Alle diese Ansätze können dazu führen, eine Haftung zu begründen, ohne daß eine Kausalität im Einzelfall tatsächlich gegeben sein 113 Siehe dazu etwa Knebel (1988), 261, 278 ff; Wagner (1990); Köck (1991), 311 ff; Salje (1991), 324 ff; Hohloch (1992), 73 ff. 114 Vgl. dazu auch Köndgen (1983), 345, 352.
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muß. Meist werden sie aber nicht ausreichen, um insbesondere Umweltschäden möglichen Schädigern zurechnen zu können. Die generelle Umstellung auf das Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit, zu der sich der Gesetzgeber nicht entschließen konnte, bleibt eine sinnvolle Forderung, weil sie die Arbeit der Gerichte - insbesondere die Begründungslast erleichtert. Emittentenferne Schäden aus summierten Immissionen sind aber auch dann nicht zurechenbar. Eine gerechte Bewältigung dieser Schäden läuft auf kollektive Ausgleichssysteme hinaus, die sich aus Transferleistungen aller in Betracht kommenden Verursachergruppen zu speisen hätten.
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Lorenz Schulz
Kausalität und strafrechtliche Produkthaftung. Materiell- und prozeßrechtliche Aspekte
I. Einleitung Kausalität und Zurechnung markieren einen klassischen Problemkreis des Strafrechts 1 . Stand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Kausalität im Vordergrund, so tut es heute die Zurechnung 2 . Wenn die Kausalität als solche nur noch selten Probleme aufwirft, bedeutet dies nicht, daß der Kausalbegriff geklärt wäre. Das zeigen neuerdings die Fälle der strafrechtlichen Produkthaftung, u m die es im folgenden gehen wird. Die Produkt- oder Produzentenhaftung ist eine Erscheinung der letzten Jahrzehnte, ihr Beginn datiert allerdings erheblich früher 3 . Die H a f t u n g von Produzenten f ü r ihre Produkte wurde aus der Fahrlässigkeitshaftung entwickelt, und diese behält ihre Funktion auch nach Einführung der Gefährdungshaftung 4 . Die Fahrlässigkeitshaftung aufgrund von Sorgfalts- oder Verkehrspflichten bildet so den thematischen Rahmen der Produkthaf1 Zu den Bedeutungsebenen des strafrechtlichen Zurechnungsbegriffs s.u. Kap. III. Hier geht es um Zurechnung im objektiven Tatbestand. 2 Zur Geschichte des Begriffs der objektiven Zurechnung Toepel (1992), 136 ff. Die „Risikogesellschaft" (s.u. Kap. V) produziert systematisch Zurechnungsprobleme, vgl. Seelmann (1992), 456 ff. 3 Als ihr Beginn wird die 1916 unter Cardozo ergangene Entscheidung zu MacPherson v. Buick Motor Company (111 N.E. 1 0 5 0 ) betrachtet, in der dem beklagten Automobilhersteller über seine bestehenden Pflichten gegen die Händler hinaus auch Sorgfaltspflichten gegen die Verbraucher auferlegt wurden. Mit der Entscheidung Escola v. Coca Cola Bottling Co. of Fresno, 24 Cal. 2nd 453, 150 P.2nd 436 (1944) trat die „strict liability" bei fehlerhaften Produkten auf den Plan. 4 Letztere erfolgte in Deutschland erst 1990 mit dem Gesetz über die Haftung für fehlerhafte Produkte vom 1.1.1990 (ProdHaftungsG).
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tung. Sie ist, das läßt sich auch rechtsvergleichend feststellen, ebenso wie die Gefährdungshaftung ein Kind der Industrialisierung. Das läßt sich nicht nur in Europa, sondern auch in den Vereinigten Staaten verfolgen 5 . Im Vergleich zur Zufalls- oder Gefährdungshaftung begründete die Haftung aus Fahrlässigkeit eine erweiterte Zulassung gefahrbehafteter Unternehmungen, zunächst insbesondere der Eisenbahnen 6 . Strafrechtliche Produkthaftung wurde in diesem Sinn bereits im 19. Jahrhundert erörtert - unter dem Topos „erlaubtes Risiko", der die „Geburtsstunde der Risikodogmatik" markiert 7 : Die Industrialisierung, in deren Verlauf Risiken systematisch geschaffen wurden, gab den entscheidenden Anstoß für die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgende Herausbildung des erlaubten 5 In den USA war die entscheidende industrielle Beschleunigung nicht erst durch den Bürgerkrieg, sondern lange vor 1860 erfolgt. Auch wenn die Industrialisierung bereits mit der Textilfabrikation einsetzte, wird juristisch doch der in den 40er Jahren beginnende Eisenbahnbau durch die U n fallhäufigkeit der Eisenbahnen zum Motor des Haftungsrechts. „Tort law" war bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts keine genuine Rechtsmaterie, die erste Abhandlung über das Schadensrecht erschien 1859. Für die sich entwickelnde Risikodogmatik stehen der früh verstorbene Nicholas Green sowie Oliver Wendell Holmes Jr., die diese Materie erstmals im Kontext des zur gleichen Zeit aufblühenden philosophischen Pragmatismus wissenschaftlich reflektieren. 1870 wurde an der Harvard Law School von Green der erste Kurs über Schadensrecht angeboten. Green operationalisierte die causa próxima als zunächst vertragsrechtliches Zurechnungskriterium unter Rückgriff auf den Maßstab des „ordinary and prudent man". Holmes erhebt diese Maßfigur systematisierend zur G r u n d lage der Fahrlässigkeitshaftung und löst damit nicht allein das tort law aus dem Vertragsrecht heraus. Es wird bei ihm zum Paradigma für sämtliche Rechtsgebiete, das Strafrecht eingeschlossen. In diesem für den amerikanischen Rechtskreis epochalen Schritt liegt das Bemühen, angesichts der veränderten Herausforderung das überkommene Recht zu modifizieren; vgl. Schulz (1988), 106 ff. Die Rechtsprechung war wie in Europa bemüht, der Unternehmertätigkeit einen gewissen Freiraum zuzusprechen. 6 Preuß (1974), 32. 7 Prittwitz (1993), 267. Die Figur des erlaubten Risikos steht für ein in der modernen Gesellschaft dringliches Problem, das auf außerhalb der Rechtswissenschaft entwickelte Lösungsversuche, speziell der Entscheidungstheorie, hinweist; Philipps (1974), 9.
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Risikos als eines allgemeines Prinzips 8 . Ludwig von Bar reflektierte 1871 als erster dogmatisch über erlaubte Risiken 9 und gab die herrschende Ansicht seiner Zeit wieder: „Leben verlangt ein gewisses Risiko, und übertriebene Vorsichtsmaßregeln, die allerdings in einzelnen Fällen einen Schaden verhüten könnten, würden ... die Möglichkeit jedes Gewerbebetriebes ausschließen ... Es gibt ... gewisse gefährliche, aber für das Leben notwendige Gewerbebetriebe, bei denen man statistisch wahrnehmen könnte, daß im Laufe einer Reihe von Jahren mit aller Wahrscheinlichkeit eine Anzahl Menschen, und zwar nicht nur solche, die freiwillig sich beim Betrieb beteiligen, das Leben verlieren." 10
An dieser Einsicht hat sich nur wenig geändert, wenn sich auch die darin angelegte Risikoverteilung zuungunsten der Hersteller zu verschieben beginnt und wenn begrifflich der Sinn für die soziale Normierung der „Notwendigkeit für das Leben" gewachsen ist. Von Bars Lozierung des erlaubten Risikos im Gefüge von Kausalität und Zurechnung am Beginn einer langen Geschichte wechselnder dogmatischer Einordnung auf allen Ebenen der Straftat 11 galt unter der Vorherrschaft der Bedingungstheorie der Kausalität als überholt, blieb aber in der Sache ergiebig und wurde mit der stärker werdenden Lehre der objektiven Zurechnung, die die traditionellen Fragen der causa efficiens unter dem Stichwort Zurechnung erörtert, wieder zeitgemäß: Der erlaubt riskante Akteur setze zwar eine Bedingung, aber keine „Ursache" für den eingetretenen Schaden 12 . Dabei war sich von Bar des unvermeidbaren Zurechnungsmoments bewußt 1 3 . Seine Konstruktion ging über die Adäquanztheorie hinaus, in deren Rahmen von Kries das Problem des erlaub8 Preuß (1974), 15. Zu Vorformen, etwa der Maxime der Hanse „navigare necesse est, vivere non necesse" s. Prittwitz (1993), 268 ff, 300 ff. Bindings Charakterisierung des erlaubten Risikos als „zeitloses Problem" verkenne, daß es im Zuge der Industrialisierung von einer Ausnahme- zur Regelfigur wird. 9 Preuß (1974), 15, 32 f. 10 Bar (1871), 13. 11 Zur Übersicht Prittwitz (1993), 275 ff. 12 Bar (1871), 14 13 Vgl. Preuß (1974), 32. Für von Bar entfiel die Kausalität, wenn die erforderliche Sorgfalt beachtet wurde. Der gegebene „natürliche" Kausal-
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ten Risikos im Anschluß an von Bar darstellte 14 , weil mit ihr auch Fälle voraussehbarer Risiken erfaßt werden, die wegen des überwiegenden sozialen Nutzens erlaubt sein sollten 15 . Die strafrechtliche Produkthaftung gehört nach herrschender Einteilung zum Wirtschaftsstrafrecht 16 . Die Nähe zum Umweltstrafrecht kann allerdings kaum übersehen werden, wenn man im „Entsorgungsoutput (Abfall, Abluft und Abwasser)" ebenfalls - wenn auch „nutzlose" - Produkte erblickt 17 . Daß im „Holzschutzmittel" -Verfahren in der ersten Instanz auch wegen § 330 a StGB (Schwere Gefährdung durch Freisetzen von Giften) angeklagt und verurteilt wurde, bestätigt dies. Unter den Ähnlichkeiten fällt auch das weite zeitliche Auseinanderliegen von Schadensursache und Schadenseintritt auf; das Problem der „kumulativen Kausalität" tritt in der Produkthaftung in einer überraschenden Variante auf: Kumulation der Kausalität durch mehrere Geschäftsführer 1 9 . Bei dieser Zuordnung darf freilich
Zusammenhang, so stellte von Bar später klar, sei rechtlich unbeachtlich; siehe Bar (1907), 212. 14 Kries (1988), 222 ff. 15 Im Grundsatz sei erlaubt, was der am Maßstab der diligentia eines bonus pater familias gemessenen „Regel des Lebens" entspricht. Fehlt eine solche Regel im konkreten Fall, sei abzuwägen, „welche Folgen für das Gemeinwohl [sich] ergeben würden, wenn Handlungen ... der fraglichen A r t . . . unzulässig sein sollten, und andererseits, wie [sich] die Zulässigkeit solcher Handlungen auf das Gemeinwohl auswirken würde"; Bar (1907), 212. 16 Kuhlen (1989), 24; Vogel (1990), 244 f; Hilgendorf (1993), 56 ff; anderer Ansicht H a m m (1985), 15. Zum Überblick Tiedemann (1989). - Einer der Vorläufer des modernen Produkthaftungsrechts ist das Lebensmittelrecht, dazu Hilgendorf (1993), 108-110. 17 So H a m m (1985), 18 f. 18 Im Wirtschafts- wie im Umweltstrafrecht wird das strafrechtliche Unrecht tendenziell abhängig von der Unrechtsnormierung in anderen Rechtsgebieten: Das Umweltstrafrecht macht sich von N o r m e n oder gar einzelnen normausfüllenden behördlichen Akten des Verwaltungsrechts abhängig; siehe, auch rechtsvergleichend, Heine (1991). Das Wirtschaftsstrafrecht lehnt sich demgegenüber an das Zivilrecht an, wie das Beispiel „unbefugt" in § 263 a StGB zeigt; s. Schulz/Tscherwinka (1991), 122 f. 19 Samson (1987), 617.
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nicht verkannt werden, daß die strafrechtliche Produkthaftung zunächst das Kernstrafrecht berührt. Geprüft wird in den im folgenden erörterten Fällen zuallererst, ob eine Körperverletzung vorliegt. Die strafrechtliche Produkthaftung wird in Deutschland, wo Zivil- und Strafrecht streng geschieden sind, wo es anders als in den USA im Grundsatz keinen als Strafe verstandenen Schadensersatz, keine „punitive damages" gibt 20 , nach der vorübergehenden Diskussion zur „Contergan"-Entscheidung von 1970 2 1 erst seit einigen Jahren verstärkt erörtert. Anlaß ist die „Lederspray" -Entscheidung des Bundesgerichtshofs von 1989 2 2 . Das „Holzschutzmittel"-Verfahren verstärkte diese Diskussion erheblich und kann in seiner Bedeutung kaum überschätzt werden 23 . Ihn werde ich am Beginn meines Referats darstellen (II). Von den Problemkreisen, die er aufwirft, wird die Frage der Kausalität des Inverkehrbringens eines Produktes für den Eintritt 20 Ausnahme hiervon ist das Schmerzensgeld nach § 847 BGB, bei dem nach herrschender Lehre auch Genugtuung geleistet werden soll. 21 Landgericht Aachen, in: Juristenzeitung 1971, 510-514, dazu ausführlich Beyer (1989). Den Prozeßverlauf dokumentieren im Detail Wenzel/Wenzel (1968). - Die große Bedeutung des Verfahrens für die Kausalitätsdiskussion läßt sich an der von ihm angeregten Monographie von Maiwald (1980) ablesen. 22 Die Entscheidung, die nach dem Hersteller auch „Erdal" genannt wird, wurde in die amtliche Entscheidungsssammlung aufgenommen und in fast allen einschlägigen Fachzeitschriften veröffentlicht: BGHSt 37, 106-135 (S. 111-113 für die Frage der Kausalität) = Neue Juristische Wochenschrift 1990, 2560. - Dazu kommen zahlreiche Urteilsanmerkungen: SchmidtSalzer (1990); Kuhlen (1990); Samson (1991); Brammsen (1991) und (1993); Hassemer (1991); Puppe (1992), 30; Hirte (1992) und Meier (1992). Bei Hilgendorf (1993) nimmt sie einen zentralen Platz ein. 23 Landgericht Frankfurt a.M., in: Zeitschrift für Umweltrecht 1994, 33-38 mit Anmerkung Schulz (1994) und Braum (1994). Die Bedeutung erweist sich an der eminenten Resonanz in der Öffentlichkeit, die vom Landgericht strafmildernd berücksichtigt wurde, aber auch an einer Marginalie: Seit Beginn des Verfahrens können die Berufsversicherungen Rekordabschlüsse verzeichnen, vgl. die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" v. 25.7.91, Nr. 170, 13.
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schädigender Erfolge im Mittelpunkt stehen, weil darin eine für die Produkthaftung im Strafrecht genuine Frage liegt. Auch wenn andere Fragen nicht weniger zentral sind, werde ich sie nur am Rande ansprechen: die an den Hersteller gestellten Sorgfaltspflichten und die Verantwortlichkeit beim Unterlassen von Warn- oder Rückrufaktionen, dabei vor allem die Frage der Garantenstellung und der Kausalität des Unterlassens, sowie die Strafbarkeit von einzelnen Entscheidungsträgern in Unternehmen, die nun nach Rechtsprechung durch das Prinzip der Arbeitsteilung nicht ausgeschlossen sein soll 24 . Für kriminologische Aspekte sei auf die Literatur verwiesen 25 . Die Entformalisierung und Flexibilisierung der traditionellen strafrechtlichen Zurechnungsstrukturen, die auf dem Hintergrund der Herausforderungen der Risikogesellschaft in vielfacher Hinsicht zu verfolgen ist, läßt sich, so meine These, materiell wie prozessual auch an der Frage der Kausalität beobachten (III und IV). Die auf den ersten Blick klare Scheidung in Kausalität und Zurechnung erweist sich als komplex, ist indes beizubehalten. Die Analyse dieser „Aufweichung" vor dem Hintergrund der Risikogesellschaft (V) führt weiter, doch können deren Eigenheiten diese Flexibilisierung nicht legitimieren. Das Strafrecht kann als ultima ratio rechtlichen Zur-VerantwortungZiehens die Grundsätze individualisierender Zurechnung, seine „altväterlichen Kategorien" von Kausalität und Schuld weder materiell noch prozessual preisgeben (VI).
24 Vgl. dazu die Anmerkungen von Brammsen (1993); Meier (1992); Puppe (1992) zur „Lederspray"-Entscheidung. - Die Beschränkung ist nicht nur aus Raumgründen erforderlich, sie ist auch insofern gerechtfertigt, als diese Fragen keine spezifischen Probleme der Produkthaftung im Strafrecht aufwerfen, sondern sich auch im Umweltstrafrecht ergeben; vgl. Kuhlen (1989), 27. 25 Vogel (1990) m.w.V.
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II. Ein Beispiel: der „Holzschutzmittel"-Prozeß 2 6 1. Die Firma D. Chemie GmbH produzierte seit den fünfziger Jahren biozide Holzschutzmittel wie Farben und Beizen, mit denen Holzschädlinge abgetötet werden, zunächst nur für den Außenanstrich, dann auch für die Verwendung in Innenräumen. In einem Fall wurde 1956 ein Strafverfahren eingeleitet, das später die Zivilgerichte beschäftigte: 1963 verurteilte erstmals das Landgericht Bad Kreuznach die Firma wegen eines naphtalinhaltigen Holzschutzmittels zu Schadensersatz und Schmerzensgeld gegenüber einer Mutter, deren beide Kinder nach Verwendung der Mittel schwere Haut- und Schleimhauterkrankungen erlitten hatten. Das Oberlandesgericht Koblenz bestätigt 1969 diese Entscheidung. Schon vorher, 1967, war die D. G m b H gegründet worden, die die Produktion mit im wesentlichen gleichbleibender Geschäftsführung weiterführte. Seit Beginn der siebziger Jahre wurde neben anderen Produkten das Mittel „X." vertrieben, das die bioziden Stoffe GammaHexachlorcyclohexan („Lindan") sowie PCP (Pentachlorphenol) enthielt und vermutlich in mehreren Millionen Haushalten verstrichen wurde, wobei die Innenraumanwendung bei 1020 % lag. Es trug bis 1979 die Aufschrift „für Innenräume geeignet" . Das von der D I N - N o r m 68 800 geforderte Prüfprädikat, das sich ausschließlich auf den Nachweis der bio- bzw. fungiziden Wirkung der Stoffe bezog, wurde erteilt; eine Untersuchung der Gesundheitsrisiken wurde nicht verlangt. Hält man sich an besagte, sich nur auf tragende Teile erstreckende
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Das Urteil umfaßt insgesamt 3 6 6 S. Der in der Zeitschrift für Umweltrecht 1994, 33 ff erfolgte Abdruck umfaßt nur die rechtlichen Gründe, d.h. nur ein Zehntel des Umfangs. F ü r die im folgenden wiedergegebene Vor- und Prozeßgeschichte vgl. das Urteil S. 11 ff, zusammengefaßt in der Anmerkung von Schulz (1994), 2 6 - 2 8 . F ü r das folgende lagen auch der 66seitige Nicht-Eröffnungsbeschluß v o m 2 7 . 7 . 1 9 9 0 ( 5 / 2 6 Kls 65 Js 8 7 9 3 / 8 4 ; auszugsweise veröffentlicht in: N e u e Zeitschrift für Strafrecht 1990, 592), der gut 50seitige Beschluß des Oberlandesgericht Frankfurt v o m 19.12.91 (1 W s 2 0 6 / 9 0 ) und die 68seitige Anklageschrift v o m 20.5.92 (65 Js 8 7 9 3 / 8 4 ) vor.
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D I N - N o r m (Teil 3 vom April 1990), ist eine Behandlung mit Holzschutzmitteln in trockenen und gut beheizten Nachkriegsbauten überflüssig; noch dazu ergibt sie überwiegend nur bei Ausführung durch Fachleute Sinn. Dies war den Verbrauchern nicht zuletzt aufgrund der werbewirksamen Vermarktungspolitik der Hersteller von Holzschutzmitteln nicht bekannt. Seit den frühen siebziger Jahren wurden von Anwendern in Beschwerdebriefen Schädigungen vorgetragen. Die Firma S., die vergleichbare Mittel vertrieb, wurde von einer Familie Anfang 1975 vor dem Landgericht München auf Schadensersatz verklagt wegen Gesundheitsschäden, die durch die in den Wohninnenräumen verstrichenen Holzschutzmittel auftraten. Das erstinstanzliche Gericht bejahte Ende 1977 einen Kausalzusammenhang zwischen den Gesundheitsschäden und der Einwirkung bestimmter Inhaltsstoffe der Holzschutzmittel. Dies und zahlreiche weitere Beschwerdebriefe 27 veranlaßten die Firma D., deren Forschungs- und Entwicklungsabteilung ca. 70 Mitarbeiter angehörten, zu einem Modellversuch, nachdem bis dahin nicht einmal geeignete Meßverfahren für die Raumluftkonzentration vorlagen. Die Medien berichteten ausführlich über das Verfahren gegen S. Auch die Wissenschaft beschäftigte sich zunehmend mit dem Verdacht eines Kausalzusammenhangs. Im März 1977 referierte der Leiter des Forschungs- und Entwicklungszentrums der Firma D. nach dem erwähnten Modellversuch über Messungen, „die eine Erklärung für das Pflanzensterben geben und bei empfindlichen Menschen sogar Gesundheitsschäden hervorrufen könnten." 2 8 Ungefähr zur gleichen Zeit wurde auf einem Internistenkongreß die langjährige Intoxikation mit PCP im Haushalt als Ursache einer chronischen Lebererkrankung diskutiert 29 . Nachdem die bereits im Mai 1977 ins Auge gefaßte Umstellung auf PCP-freie Produkte
27 Bis Ende 1978 waren es bereits mehrere hundert Briefe von Holzschutzmittelverwendern, darunter auch Ärzten, Krankenhäusern und anderen Institutionen. 28 Oberlandesgericht Frankfurt, a.a.O. (Anm. 26), S. 31 29 A.a.O. S. 35.
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aus marktstrategischen Gründen verschoben worden war, starb Anfang August 1977 in Darmstadt ein 7-jähriges Mädchen, das in einem holzschutzmittelbehandelten Zimmer gelebt hatte. Der Verdacht eines Kausalzusammenhangs erhärtete sich bis Ende des Jahres, so daß noch im gleichen Jahr das Bundesgesundheitsamt eine sogenannte Ad-hoc-Kommission einsetzte. Im Abschlußbericht von Anfang Januar 1979 wurde zwar der ursächliche Zusammenhang offen gelassen, doch hielt man es für dringend erforderlich, künftig wesentlich stärker als bisher auf derartige mögliche Nebeneffekte hinzuweisen und in Zukunft Holzschutzmittel nur noch nach Prüfung der gesundheitlichen Auswirkungen in Innenräumen zuzulassen. Eine Untersuchung der Sache anhand der vorgetragenen Schädigungen wurde unterlassen. Dabei hätte man seit den achtziger Jahren auf ein spurenanalytisches Verfahren zurückgreifen können, mit dem man erstmals auch im Mikrobereich von PikogrammMengen Dioxin- und Furanmengen in der Luft noch Jahre und Jahrzehnte nach dem Verstreichen hätte feststellen können 3 0 . Bei der D. erfolgte die Umstellung auf ein PCP-freies Holzschutzmittel nun im Frühjahr 1978 mit den - für besagtes Prüfzeichen nie angemeldeten - Produkten, insbesondere „X. 200", das nach Werbeaussagen „analog zu den Anforderungen des Bundesgesundheitsamts" geprüft war und bei dem nur versteckt die darin enthaltenen bioziden Stoffe angezeigt wurden. „X." wurde bis ins Jahr 1978 weiterproduziert, die Restbestände noch vertrieben. Nach dem Abschlußbericht der Ad hoc-Kommission hatte man in einer vertraulich behandelten Aktion die auf dem Markt befindlichen Restbestände mit dem Aufkleber „nur für Außenräume geeignet" überklebt. Statt einer Warn- oder Rückrufaktion wurde eine werbewirksame Anzei30 „Dioxine und Furane als technische Begleitstoffe des P C P überdauern aufgrund ihrer wesentlich längeren Halbwertszeit selbst dann noch, wenn das P C P weitgehend abgeklungen ist", Landgericht Frankfurt, Zeitschrift für Umweltrecht 1994, S. 189. Bis dahin hatte man im Bundesgesundheitsamt von dem Verfahren Gebrauch gemacht, das die Firma D. 1976/77 entwickelt hatte und mit dem man Giftstoffe im Bereich von unter einem ,: 'g/m 3 nicht erfassen konnte.
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genreihe veröffentlicht, in der es hieß, daß Gesundheitsschäden durch Holzschutzmittel nicht nachgewiesen wären. Einigen Kunden wurde gegen die vertragliche Zusicherung von Stillschweigen Ersatz für die geltend gemachten Schäden geleistet. Das Bundesgesundheitsamt richtete eine bis 1990 bestehende „Holzschutzmittelkommission" ein, in der, nicht zuletzt um die Beunruhigung nicht zu schüren, von einer epidemiologischen Untersuchung abgesehen wurde 31 . Das Urteil des Landgerichts München gegen die Firma S. wurde 1988, über ein Jahrzehnt später, in der zweiten Instanz aufgehoben. PCP-haltige Produkte wurden erst 1989 verboten. Nachdem 1990 PCP als eindeutig krebserregend eingestuft worden war, senkte das Bundegesundheitsamt 1991 drastisch die erlaubten Werte für eine maximale Raumluftkonzentration 32 . 2. Aufschlußreich ist der Prozeßverlauf·. Im Februar 1984 erging ausgehend von der „Interessensgemeinschaft der Holzschutzmittelgeschädigten" (IHG) die Strafanzeige von 2100 Einzelpersonen (d.h. ca. 800 Familien). Im Hintergrund standen eine Reihe von Zivilprozessen, die Holzschutzmittelgeschädigte gegen Hersteller führten. Die ersten Ermittlungen wurden federführend von der Umweltabteilung des Bundeskriminalamts getätigt 33 . Da einige der Betroffenen im Frankfurter Bereich wohnhaft waren, nahm die Staatsanwaltschaft Frankfurt die Ermittlung zunächst „gegen Unbekannt", dann gegen sämtliche aus den Darstellungen der Betroffenen erkennbaren 42 Herstellerfirmen auf und wählte schließlich prozeßökonomisch in vorübergehender Beschränkung zwei marktführende 31 Landgericht Frankfurt, a.a.O. S. 69, 317; in der mündlichen Urteilsbegündung wurde dies dem Amt als „unverständliches Handeln" angelastet. 32 „Süddeutsche Zeitung" v. 4.7.92, S. 45. Späten Trost spendete der Staat, dessen Gesundheitsamt inzwischen im Zuge des Skandals um aidsverseuchte Blutkonserven aufgelöst werden soll, den Betroffenen, indem seit 1990 die Kosten für holzschutzmittelbedingte Sanierungen steuerlich absetzbar wurden. 33 Schöndorf (1993), 276.
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Hersteller aus: Die Firmen D., die seit 1987 unter dem Namen D.M. G m b H firmiert, und S. 3 4 . Von den 800 Kollektiven wurden aufgrund statistischer Stichproben 193 Kollektive erfaßt. Davon wurden wiederum 50 Kollektive, d.h. 172 Personen mit besonders klarem Schadenssyndrom selegiert und schließlich der Anklage zugrundegelegt. Dafür wurde von der Staatsanwaltschaft nicht nur eine EDV-Ausrüstung angeschafft, sie gab auch ein wissenschaftliches Gutachten in Auftrag, das später als Monographie erschien und in dieser Form bereits vom Bundesgerichtshof in seiner „Lederspray" -Entscheidung herangezogen wurde 3 5 . Am 28.6.1989 wird gegen die Geschäftsführer der zwei Firmen wegen vorsätzlicher und fahrlässiger Körperverletzung (§§ 223, 223 a, 224, 230 StGB) sowie Freisetzung von Giften (§ 330 a StGB) Anklage erhoben. Wegen des letzteren Tatbestands befaßte sich die auf Umweltstraftaten spezialisierte 26. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt mit der Anklage. Ihre drei Berufsrichter lehnten die Eröffnung des Hauptverfahrens mit Beschluß vom 27.7.90 ab, in Kenntnis der erstinstanzlichen „Lederspray" -Entscheidung des Landgerichts Mainz, aber noch vor der Veröffentlichung der Revisionsentscheidung des Bundesgerichtshofs 36 . Staatsanwaltschaft und Nebenkläger legten Beschwerde ein. Das Oberlandesgericht Frankfurt gab die34 Das Verfahren gegen Mitarbeiter des Bundesgesundheitsamts wird weitergeführt, ebenso das gegen einige verantwortliche Mitarbeiter der Firma B. A G als Mitgesellschafter der Firma D. 35 Kuhlen (1989). 36 Aber in Kenntnis der maßgeblichen Überlegungen des Bundesgerichtshofs. Die Ablehnung erfolgte aus drei Gründen (Landgericht Frankfurt in: Neue Zeitschrift für Strafrecht 1990, 592 ff): - Für § 330 a StGB (unkontrollierte Giftfreisetzung) fehle es an der U n kontrolliertheit. - Da Körperverletzung ein Erfolgs- und kein Dauerdelikt sei, bei dem der Erfolg mit erstmaligem Eintreten vorliege, seien die meisten der angeklagten Taten verjährt. - In den verbleibenden 44 Fällen fehle es am hinreichenden Verdacht des Kausalzusammenhangs oder an der Voraussehbarkeit des Zusammenhangs und damit zumindest am Vorsatz der Angeschuldigten.
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ser statt und beschloß am 19.12.90 die Zulassung zur Hauptverhandlung vor der gleichen, nunmehr aber personell anders zusammengesetzten Kammer des Landgerichts gegen zwei Geschäftsführer der Firma D.; für die Firma S. erwies sich das Landgericht Frankfurt als örtlich unzuständig. Die Eröffnung der Hauptverhandlung erfolgte am 1.6.1992. Die Anträge der Verteidigung unmittelbar nach Prozeßbeginn auf Einstellung des Verfahrens wegen Auswechselung von Opfern und örtlicher Unzuständigkeit wurden abschlägig beschieden 37 . Gegen Verfahrensende aufgenommene Vergleichsverhandlungen für einen Einstellungsbeschluß nach § 153 a StPO zerschlugen sich an der Höhe der von der Staatsanwaltschaft geforderten Auflagen (120 Mio. D M ) 3 8 . Ein knappes Jahr nach Eröffnung, nach etwa sechzig Verhandlungstagen, verurteilte das Landgericht die beiden Geschäftsführer wegen §§ 230 und 330 a StGB zu jeweils einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung sowie zu Auflagen an die Geschädigten in Höhe von insgesamt 240 000 DM. Die Verteidigung legte Revision ein; wegen der Ablehnung des Vorsatzes der Körperverletzung ging auch die Staatsanwaltschaft in Revision.
III. Kausalität und Zurechnung im Strafrecht 1. Kausalität heißt Zusammenhang von „Ursache" und „Wirkung". Zwischen dieser Terminologie und der von „Grund" und „Folge" wird in der Strafrechtsdogmatik zumeist nicht 37 Die neue Anklage stützte sich auf 59 Fälle mit 177 Personen gegenüber den vom Oberlandesgericht zugelassenen 14 Fällen mit 37 Personen. Die Abweisung vom 1.6.92 wurde damit begründet, daß es sich um einen Fall „strafrechtlicher Produkthaftung" handele, bei dem die Schädigung einzelner Personen „nur von ganz eingeschränkter Bedeutung" sei. 38 Vgl. „Die Zeit" v. 26.3.93, S.29. Daß es zu keinem Vergleich kam, ist für die Rechtsfortbildung begrüßenswert. Gegen Einstellungen nach § 153 a StPO gibt es keinen formellen Rechtsbehelf, weshalb sie meist nur spärlich begründet und nur selten veröffentlicht werden. Der Einstellungsbeschluß bei „Contergan" gehört in beiden Hinsichten zu den Ausnahmen.
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unterschieden 3 9 . Wie sich am einfachen Fall des vorsätzlichen Verletzungsdelikts demonstrieren läßt, durchzieht die Zurechnung den gesamten Aufbau der Straftat, im objektiven Tatbestand beginnend mit a. dem Täterverhalten („Handlung"), b. der Verletzung (Schaden, „Erfolg" 4 0 ) 4 1 und schließlich c. der Kausalität von (a) für (b). Zurechnung läßt sich für diese Merkmale des objektiven Tatbestands umschreiben mit: „als Handlung, Schaden, Kausalität soll gelten ... " . Im vorliegenden Zusammenhang geht es um die Verknüpfung von Handlung und Erfolg, nicht um die folgenden Stufen der Zurechnung: die personale Zurechnung im Tatbestand (Vorsatz), die Stufe der Rechtfertigung und schließlich die subjektive Zurechnung in der Stufe der Schuld. Eine schuldunabhängige Zurechnung von Verletzungen aufgrund gefährdenden Verhaltens (Gefährdungshaftung) ist im Strafrecht unzulässig. 2. Die Verknüpfung von Handlung und Verletzung gliedert sich demnach in Kausalität und (objektive) Zurechnung 4 2 . Dem
39 So erstreckte Engisch (1931) die Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung und damit das deduktiv-nomologische Modell auch auf psychische Zusammenhänge. 40 Für die Eliminierung dieses mißverständlichen Begriffs Naucke (1993), 283 f. 41 U m nicht nach der objektiven Zurechnung im Anschluß an die Kausalität fragen zu müssen, läßt sich bereits bei der Definition des Schadens (Erfolg) ansetzen. Ein Beispiel dafür gibt Puppe (1980), 679 f, die zwei Kriterien einführt: (1) Ausgangssituation; (2) nachteilige Veränderung. Der Schaden (Erfolg) wird definiert als eine Veränderung eines Zustandes, die für das Rechtsgut negativ ausfällt. Damit löst sie typische Probleme der Zurechnung: die Strafbarkeit der Mutter des Mörders, die sich im objektiven Tatbestand aus der Bedingungstheorie ergibt, und die Verringerung eines Risikos. Ein extremes Beispiel gibt Kuhlens Umdeutung des „Erfolgs" durch den Typus des „Kumulationsdelikts", s.u. VI.4. 42 So nach der Lehre der objektiven Zurechnung, die im strafrechtlichen Schrifttum zunehmend Anhänger gewinnt; zum Überblick Roxin (1992),
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Vorschlag, auf eine gesonderte Kausalitätsprüfung zu verzichten, wurde nicht gefolgt 43 . Das Prinzip der materiellen Wahrheit, das im Strafprozeß gilt, fordert für die Zurechnung ein fundamentum in re. Dieses wird neben anderen tatsächlich feststellbaren Elementen der Straftat insbesondere durch das Kausalitätserfordernis garantiert. 3. Die Kausalität wurde anhand der Formel der notwendigen Bedingung (conditio sine qua non) operationalisiert44, die wiederum durch die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung - deduktiv-nomologisch im Sinne des Hempel-OppenheimSchemas - fundiert wurde 45 . Demnach gelten drei Thesen: (a) Ursache ist gleichbedeutend mit Bedingung; (b) Alle Bedingungen sind gleichrangig46;
Kap. 11; kritisch Lampe (1989), 189,194 ff m.w.N.; daß das „enge Kausaldogma" Einschränkungen verlangt, wird aber auch von den Kritikern dieser Lehre anerkannt. Nur um solche Einschränkungen geht es vorliegend. Selbst wenn man mit dem finalen Begriff von Handlung die Kausalität als Teilmoment der Handlung begreift, das die Handlung in ihren Dienst stellt, läßt sich die Kausalität in der besagten Verknüpfung behandeln. 43 Stratenwerth (1973: 237 ff) hält auf dem Hintergrund eines indeterministischen Weltbildes (der Laplacesche Weltgeist habe grundsätzlich abgedankt") die Ersetzung für vertretbar. Otto (1980) schlug die Eliminierung tatsächlich vor, nahm sie inzwischen allerdings wieder zurück; vgl. ders. (1992), 90, Fn. 2. 44 Vgl. auch Köck, in diesem Band, S. 10 f. Dieser Schritt geht nicht erst auf Julius Glaser und Maximilian v. Buri zurück, sondern bereits auf Carl Christoph Stübel zu Beginn des 19. Jahrhunderts, der damit - in sicherheitsrechtlicher Gesinnung - die vom Inquisitionsprozeß geprägte Lethalitätstheorie überwindet; Brammsen (1986), 347. 45 Diese Lehre formulierte Engisch (1931). Engisch selbst scheint sie allerdings nicht als Ergänzung, sondern als Ersetzung der conditio-Formel verstanden zu haben, wenn er die Frage danach, was geschehen wäre, falls ein gegebenes Verhalten V nicht erfolgt wäre, nicht zuläßt und damit suggeriert, daß diese Formel nicht konstitutiv für Kausalität ist; vgl. (1931), 17. 46 Einschränkend indes Stratenwerth (1981), § 8 Rn. 219: Alle Bedingungen sind „relevant", damit aber noch nicht von gleicher Relevanz.
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(c) Ein Verhalten ist dann Ursache (Bedingung) eines Erfolgs, wenn es für den Eintritt des Erfolgs nicht hinweggedacht werden kann und, in der Modifikation, wenn dieser Erfolg mit dem Verhalten durch eine Reihe von Veränderungen gesetzmäßig verbunden ist. Der Verweis auf eine naturwissenschaftlich anerkannte Regularität kann dabei das juristisch geforderte singuläre Kausalurteil nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Weil (b) gilt, spricht man vom „Äquivalenzprinzip" der Kausalität. Vor allem die Fälle der Produkthaftung, von „Contergan" über „Lederspray" bis zu den „Holzschutzmitteln", erweisen neuerlich die Beschränktheit dieses Begriffs. Er ist durch die Gleichsetzung von Ursache mit Bedingung zu weit 4 7 , weil damit die Differenz zwischen post hoc und propter hoc unzugänglich wird. Im Recht muß für die Zurechnung einer Verletzung zu einem Handeln nicht nur das „nachher", sondern auch das „weil" angegeben werden können. Bei allem heuristischen Wert der conditio-Formel wird dieses „weil", d.h. das Wissen um den Kausalbezug z.B. zwischen dem Schlafmittel „Contergan" und den Mißbildungen, bereits vorausgesetzt. D a bei einer Betrachtung, die für den Erfolg von unmaßgeblichen Besonderheiten des konkreten Falls abstrahieren will, hypothetische Kausalverläufe immer denkbar bleiben und so die Notwendigkeit einer Bedingung (Ursache) zur Fiktion wird, stellte man bereits früh auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt ab 4 8 und versuchte, hypothetische Betrachtungen auszuschalten 4 9 . Damit lassen sich zwar „Ersatzursachen" eliminieren, doch sinkt proportional der Erklärungswert. Zudem impliziert es ein Re-
47 Koriath (1988), 134. 48 Würde man z.B. die Betrachtung bei Totschlag so abstrakt halten, daß ein O p f e r stirbt, dann wäre die natürliche Sterblichkeit immer eine Ersatzursache für den Tod des O p f e r s . 49 So soll man statt nach einem hypothetischen Verlauf alleine nach dem realen fragen, nämlich, ob die konkrete Handlung im konkreten Erfolg tatsächlich wirksam geworden ist; vgl. O t t o (1992), 92. Wie man ohne hypothetische Erwägung das Wirksamwerden bestimmen will, bleibt ungeklärt.
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levanzurteil, den Grad der Konkretion zu bestimmen 50 . Die Dynamik der causa efficiens wird so von der Kausalität in die Zurechnung verlegt. An einem Beispiel läßt sich das zeigen: Der Täter spritzt dem Todkranken auf dessen Flehen hin ein tödliches Gift ein. Das todkranke Opfer wäre auch ohne Gift wenige Zeit später verstorben. Stellt man auf den konkreten Zeitpunkt des Todeseintritts ab, dann kann die Gabe des Gifts nicht hinweggedacht werden für den Eintritt des Erfolgs. Schrumpft die zeitliche Differenz auf ein Minimum, verringert sich ebenso der Erklärungswert. Das dabei auftretende Problem, ob man den Erfolg dem Vergiftenden auch dann noch zurechnen soll, wenn es sich um Stunden oder Minuten handelt, ist zumindest kein Kausalproblem mehr 51 . 4. Einen Ausweg aus diesem Dilemma verheißt John Leslie Mackies Begriff der Kausalität, der in der deutschen Strafrechtsdogmatik verschiedentlich aufgegriffen wurde 5 2 : Ursache ist das nicht hinreichende (insufficient), aber aussagekräftige, nicht überflüssige (nonredundant) Element eines Bedingungskomplexes, der selbst als ganzer nicht notwendig (unnecessary), aber hinreichend (sufficient) für den eingetretenen Er50 Akzidentelle Begleitumstände von der konkreten Erfolgsgestalt zu unterscheiden, ist unvermeidbar; vgl. Jakobs (1992), 7/15. 51 Vgl. eingehend und kritisch Philipps (1974), 1 1 9 ff, 1 2 7 ff. Klassisch ist die Diskussion um Engischs Scharfrichter-Fall (1931: 15 f), vielleicht das berühmteste Beispiel der „Lehrbuch-Kriminalität" : Der Vater des ermordeten Opfers ist in einem Land mit Todesstrafe zur Hinrichtung des Mörders zugelassen. Der Scharfrichter will gerade auf den Knopf drücken. Der Vater ist vorher in die Nähe des Schafotts geschlichen und drückt genau in dem Moment den K n o p f , in dem bei zu erwartendem Fortgang der Dinge der zugleich zurückgestoßene Scharfrichter ihn gedrückt hätte. Der Fall ist so gebildet, daß selbst der Rettungsanker von Engisch, daß die Beschreibung von Handlung und Schaden zeitlich nicht ineinander übergehen dürfen (1931: 21), nicht mehr greift. Die ganz herrschende Lehre kommt dennoch zur Kausalität des Verhaltens des Vaters, vgl. ausführlich Toepel (1992), 75-77. 52 Vor allem von Puppe ( 1 9 8 0 , 1 9 8 7 , 1 9 9 0 ) und Kindhäuser ( 1 9 8 2 , 1 9 9 2 ) s o w i e in den Dissertationen von Koriath (1988) und Toepel (1992).
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folg ist. Die in Klammern angefügten englischen Wörter ergeben in ihren Anfangsbuchstaben jenes Akronym, mit dem dieser Begriff von Kausalität bezeichnet wird: die Inus-Bedingung 53 . Sie erinnert an Mills klassische Definition der Ursache als Gesamtheit der Bedingungen, indem sie als Ursache zunächst den nicht-notwendigen, aber hinreichenden Bedingungskomplex erachtet54. Daran knüpft sich die Frage, ob ein Umstand innerhalb dieses „kausalen Feldes" notwendig, wenn auch nicht zureichend war 55 . Man kann auch vom „notwendigen Glied eines ausreichenden Bedingungskomplexes" (Honoré), „notwendigen Bestandteil einer hinreichenden Mindestbedingung" (Puppe) 56 oder einer „kontingent notwendigen Bedingung" (Kindhäuser)57 sprechen. Der notwendige Bestandteil vervollständigt eine Menge gegebener Umstände zur hinreichenden Mindestbedingung 58 . Operational wird die conditioFormel von rückwärts gelesen: Wenn nicht die Wirkung W erfolgt wäre, dann hätte es auch nicht die Bedingung Β gegeben 59 .
53 Mackie (1974), 62 ff. Inus-Bedingungen explizieren allerdings nach einer bei Mackie später entwickelten Unterscheidung nicht nur singuläre Ereignisse, sondern auch Ereignistypen; Koriath (1988), 33; Toepel (1992), 59, Fn. 25 (sich gegen Kindhäusers Begriff einer „kontingent notwendigen Bedingung" wendend). 54 Siehe bereits H o n o r é (1957), 102 ff; H o n o r é vertritt einen Mackie in der Sache entsprechenden Begriff von Kausalität. Zu Mills Kausalitätsbegriff siehe auch Lübbe (1993). 55 Ein kausales Feld gibt es für ein singuläres Ereignis, aber auch für Ereignistypen. 56 Puppe (1990), 151. Ursache ist bei Puppe die hinreichende Bedingung innerhalb eines kausalen Felds. 57 Kindhäuser (1982), 486 und (1989), 86 ff. In diese Richtung weist auch die „hinreichend notwendige Bedingung" bei O t t o (1992), 95. Siehe auch Wolff (1965), 13: Eine Handlung sei dann kausal, „wenn sie eine Bedingung des Gesamtkomplexes ist, der den Kausalgesetzen entsprechend den Erfolg mit Notwendigkeit herbeiführt". 58 Man spricht auch vom NESS-Bestandteil (= necessary element of a sufficient set); Wright (1988). 59 Wright (1988); Mackie (1974), 39.
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Der Bedingungszusammenhang besteht und erschließt sich nur im Rahmen des Konditionals 60 . Man schließt vom Subsequens des Konditionals 61 auf das Antezedens 62 . Beispiel: Obwohl A den Β töten will, verletzt er ihn nur. Β stirbt aufgrund einer Fehloperation. Verletzung wie Fehloperation gehören zum kausalen Feld der hinreichenden Bedingung. Im Ergebnis kann die Verletzung nicht als Minimalvoraussetzung gelten; anders wäre es indes, wenn die Verletzung z.B. zu einem letalen Sturz des flüchtenden Opfers geführt hätte 6 3 . Dieses Ergebnis ergibt sich bei der für die objektive Zurechnung üblichen Prüfung erst einen Schritt später in der Zurechnung. Die letzterer zugrunde liegende Trennung von Kausalität und Zurechnung in zwei Stufen wird durch den Begriff der Inus-Bedingung relativiert. Allerdings ergibt sich die Frage, ob mit einer solchen Auffassung von „relevanten Bedingungen", die in der Tradition individualisierender Kausaltheorien zu stehen scheint 64 , etwas gewonnen ist. Rufen wir uns das Ausgangsbeispiel „Vergiften eines Todgeweihten" in Erinnerung: Die Vergiftungshandlung ist ein unabdingbarer Bestandteil der Mindestbedingung und die „Ersatzbedingung" des alsbaldigen natürlichen Todes abdingbar. Die Feststellung läßt sich aber theoretisch auch umkehren: Das Opfer mußte sterben, die tödliche Krankheit ist unabdingbarer Bestandteil. Die Vergiftungshandlung ist für diese Erklärung abdingbar. Daß wir die Umkehrung praktisch nicht vollziehen, liegt an unserem Vorverständnis der gegebenen Kausalität. Der Hinweis, daß eben die Vergiftung und nicht die tödliche Krankheit kausal war, erklärt ja nichts, weil er das Wissen um das Explanandum voraussetzt. Das Abstellen auf eine Konkre-
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So auch Toepel (1992), 65.
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Die konditionale Relation bei der Kausalität deckt sich dabei nicht mit der aussagenlogischen Implikation und der mit ihr verbundenen Zuschreibung von Wahrheitswerten; dazu Puppe (1980), 866, 900.
62 Darin liegt nach der Terminologie von Charles Peirce ein abduktiver Schluß; Schulz (1988), Kap. V., 244 ff. 63 Vgl. das Beispiel des Unfallopfers bei Puppe (1987), 6 0 8 ff. 64 Vgl. H o n o r é (1957), 97 f; Roxin (1992), § 11 Rn. 18.
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tisierung des Erfolgs läßt sich auch hier nicht vermeiden 65 : Ziel der Kausalerklärung ist der Tod des Opfers, wie er tatsächlich eingetreten ist, soweit er durch die tödliche Krankheit nicht erklärbar ist. Ist also mit der Inus-Bedingung gegenüber der traditionellen conditio-Formel doch nichts gewonnen? Eine bloße Änderung der Terminologie bliebe ohne Nutzen. Mit der Modifikation der Terminologie geht indes einher, daß auch in der Sache die anfechtbare Formel von der nicht hinweg zu denkenden Bedingung modifiziert oder ergänzt wird 6 6 . Dazu kommt, daß der tendenziell erklärungsfeindlichen Formel vom Erfolg in seiner konkreten Gestalt 67 das Bestreben entgegengesetzt wird,
65 Kritisch Schlüchter (1987), ausführlich Erb (1991), 42 ff. - Puppe (1980), 878 f definiert die Konkretisierung als Verbindung (1) des abstrakten tatbestandlichen Erfolgs - der Veränderung von „... hat gelebt" zu „... ist gestorben" - und (2) einer Individuenvariablen - die Veränderung betraf das Opfer X. Entgegen Puppes These reicht es aber nicht, den alleine so rudimentär konkretisierten Erfolg in die hinreichende Minimalbedingung aufzunehmen. Ihr Ausweg, über „Nahwirkungsgesetze" die zeitliche und örtliche Verbindung anzugeben, setzt gerade weitere Bezugspunkte voraus; Toepel (1992), 70. Diese Bezugspunkte müssen nicht mit den Punkten einer naturwissenschaftlichen Erklärung übereinstimmen, dürfen allerdings auch nicht willkürlich gewählt werden. Der Grad an Konkretisierung orientiert sich am Prozeßziel der materiellen Wahrheit. 66 Die kausale Erklärung erfordert nach Puppe ein wesentlich komplizierteres und unsichereres Verfahren als die Frage nach einer conditio sine qua non; sie könne nämlich im Gegensatz zur Bedingungsformel nicht von der isolierten Handlung ausgehen, sondern nur von der schlüssigen Erklärung des Erfolgs, die naturgemäß niemals vollständig sein könne; vgl. Perron (1987), 655 f. 67 Ihrem polemischen Verdikt der „Ritter von der konkreten Gestalt" kann Puppe selbst nicht ganz entgehen. Reinigt man es von der Polemik, bleibt die erwähnte Tendenz. Diese tritt auch bei Toepel (1992) auf, der die InusBedingung mit der conditio-Formel zu versöhnen sucht: Diese Formel soll immer dann greifen, wenn sich ein Erfolg durch einen unterschiedlichen Zeitkoeffizienten - und handele es sich nur um Sekunden - von einem hypothetischen Erfolg differenzieren läßt. Fällt der Zeitpunkt ineins wie im Falle „alternativer Kausalität" (Zwei Wilderer geben unabhängig voneinander Schüsse auf den Förster ab, und jede Kugel hätte für sich den Erfolg bewirkt), verneint Toepel (1992: 77) die Kausalität.
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die Konkretion möglichst zu beschränken und durch regelorientierte Erklärung zu ersetzen 6 8 . 5. Die Theorie der notwendigen Bedingung ist unspezifisch. Diese Vagheit bedeutet einerseits, daß die conditio-Formel, wie oben erwähnt, zu weit ist. Andererseits ist die Formel auch zu eng. Das erweist sich gerade an Versuchen, die Formel gegen ihre zahlreichen Kritiker in Schutz zu nehmen: So wurde sie durch den Zusatz „unter gleichbleibenden Umständen notwendig" erweitert 6 9 . Das schließt an Mackies Begriff der produzierenden Ursache (producing cause) an. Minimal vollständig ist eine Erklärung, wenn eine erklärende Ursache (explanatory cause) angegeben werden kann, d.h. alle relevanten Bestandteile eines kausalen Feldes sich in generellen Termini ausdrücken lassen 7 0 . Wenn man indes nur einen konkreten Erfolg einer konkreten Ursache zuordnen will, genügt die Elimination von Ersatzursachen: Man beschreibt den konkreten Erfolg so genau, daß Alternativursachen ausgeschlossen werden können, und darf darauf verzichten, die kausale Relevanz der Bestandteile der Ursache anzugeben. Darin liegt die „produzierende U r s a c h e " 7 1 . Auch sie kommt allerdings bei vermittelten Geschehensverläufen um eine Klärung der kausalen Relevanz nicht herum: Bei „Zwischenursachen" muß geklärt werden, ob sie nicht Ersatzursachen sind - womit eine Annäherung an die genannte „erklärende 68 Daß sich dies strafbarkeitserweiternd auswirken kann, sei am Rande notiert: Je weiter ich die Konkretion des Erfolgs gehen lasse, umso eher läßt sich auf der Vorsatzseite ein Irrtum über Tatumstände annehmen ( § 1 6 StGB). Was für die herrschende Lehre eine entlastende aberratio ictus ist, wird bei Puppe tendenziell zum unerheblichen error in persona; vgl. Roxin (1992), § 12 Rn. 152. 69 Toepel (1992), 59. Statt der üblichen Heranziehung naturgesetzlicher Zusammenhänge werden durchaus auch Wahrscheinlichkeitsaussagen zugelassen (1992), 93. Das ermöglicht ihm die Anwendung der Formel im Bereich nicht voll determinierter Abläufe, z.B. bei der psychisch vermittelten Kausalität bei der Anstiftung (§ 26 StGB) oder bei der Täuschungshandlung im Rahmen des Betrugs (§ 263 StGB). 70 Mackie (1974), 261 ff. 71 Mackie (1974), 266 ff.
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Ursache" erfolgt 72 . Damit gerät auch bei der Formel der notwendigen Bedingung ein Moment der Zurechnung in die Kausalitätsfeststellung, das bei der Inus-Bedingung offener zutage tritt: Welche Tatsachen zum kausalen Feld gehören und welche speziell zur Inus-Bedingung, bestimmt das Erklärungsinteresse (im Strafrecht die Frage nach dem Bruch der Norm und der daraus resultierenden Verantwortlichkeit) 73 . Dies verleitet allerdings zu einer relativistischen Position, für die eine sachgebundene Feststellung als entscheidungsorientierte, sozial verhandelte Zuschreibung erscheint 74 . Diese Tendenz ist selbst bei Hart und Honoré greifbar, deren Kausalbegriff Mackies Ansatz zugrunde liegt 75 . Bliebe nur dieser Relativismus, wäre das Festhalten der herrschenden Ansicht an der Bedingungstheorie verständlich und legitim. Kann der Relativismus vermieden werden, dann läge indes ein Fortschritt gegenüber der herrschenden Kausaltheorie vor. Ob eine Interventionstheorie der Kausalität, die dies verspricht, dazu tatsächlich imstande ist, bedarf noch der Klärung 76 . 6. Der japanischen Diskussion entstammt der Vorschlag eines epidemiologischen Begriffs von Kausalität. Er stellt auf eine kausale Relation zwischen einem Ereignis und einer Massenerscheinung ab, z.B. einem verseuchten Brunnen und einer CholeraEpidemie. Yamanaka nennt vier Voraussetzungen: „1. Der vorangegangene Faktor muß eine Weile vor der Erkrankung eingetreten sein. 2. Der Faktor gewinnt an Bedeutsamkeit, wenn die Erkrankungsrate steigt. 3. Das Vorkommen, Steigen und Abfallen des Faktors muß ohne Widerspruch zu den epidemiologischen Kenntnissen erklärt werden. 4. Die Wirkungen, 72 Toepel (1992), 87, Fn. 114 räumt dies selbst ein. 73 Puppe (1991), 151, Fn.12. Die Inus-Bedingung haben für das Strafrecht auch Kindhäuser (1982) und Koriath ( 1 9 8 9 ) vorgeschlagen. Toepel (1992: 58 ff) hält sie für vereinbar mit der conditio-Formel, die er als lediglich unter gleichbleibenden Umständen notwendig definiert. 74 Puppe (1991), 151, Fn.12, spricht von „Willkür". 75 Dazu auch Krüger in diesem Band, S. 160. 76 Dafür sei auf den Beitrag von Krüger in diesem Band verwiesen.
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die der Faktor verursacht hat, müssen ohne biologischen Widerspruch erklärt werden können." 7 7 Werden diese Voraussetzungen erfüllt, handele es sich beim epidemiologischen Kausalbegriff um nichts anderes als den normalen Kausalbegriff und um keine Milderung des Kausalbeweises, die seine Anwendung im Strafrecht verbieten würde. Das erste Kriterium nennt das zeitliche Nacheinander von Ursache und Wirkung, mit dem schon Hume und Kant Kausalität definierten. Das post hoc besagt indes noch nichts über das propter hoc. Wenn ich die übrigen Kriterien richtig verstehe, dann geht es um eine bedeutsame statistische Korrelation bei Ausschluß von Alternativerklärungen. In der Forderung nach Bedeutsamkeit der Korrelation kommt zum Ausdruck, daß diese das propter hoc indiziert. Der konkrete biochemische Wirkmechanismus von Stoffen muß bei diesem Kausalbegriff allerdings nicht mehr erklärt werden. Gegenüber dem Begriff Mackies, der auf Urteile über singuläre Ereignisse und Ereignistypen abzielt, steht hier wie bei der Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung die generelle Kausalaussage im Vordergrund 78 . Statistische Erklärungen als Basis des Kausalurteils sind in der deutschen Dogmatik bislang nicht akzeptiert worden 7 9 . In die prozessualen Anforderungen an den Beweis von Kausalbeziehungen haben Wahrscheinlichkeitsurteile allerdings Eingang gefunden. Für den Vollbeweis genügt als Beweismaß eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, die nur theoretische Zweifel übrig läßt 8 0 . Das ermöglicht den Indizienbeweis. Epidemiologische
77 Yamanaka (1991), 116 f. Der Begriff wurde vor allem im Bereich von U m weltschäden herangezogen, doch wird er auch in den durch Medikamente hervorgerufenen Schadensfällen angewendet. Auch wenn er anscheinend bislang nur für Zivilprozesse herangezogen wurde, hält ihn Yamanaka im Strafrecht für anwendbar. 78 Wobei die deduktiv-nomologische durch eine induktiv-statistische Kausalaussage ersetzt wird. 79 Maurach/Zipf (1992), 18/36 ff m.w.N. - Dies gilt auch für das Zivilrecht; siehe Köck in diesem Band, S. 12,23. 80 Herdegen (1987), 198 f („hohe Wahrscheinlichkeit"); zur Übersicht Meurer (1989).
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Zusammenhänge mögen dieses Beweismaß erreichen und damit für die freie Beweiswürdigung genügen.
IV. Die prozessuale Perspektive 1. Bei der Operationalisierung der Theorie der gesetzmäßigen Bedingung kommt die prozessuale Seite in den Blick. Armin Kaufmann unterschied bei „Contergan" zwischen konkreter und genereller Kausalität (war Thalidomid überhaupt geeignet, Mißbildungen hervorzurufen?), um bei Zweifeln über letztere eine freie Beweiswürdigung (§ 261 StPO) auszuschließen 81 . In anderen Worten: Das Tatbestandsmerkmal der Kausalität ist ein Blankett, das der Ausfüllung durch die jeweiligen Naturgesetze bedarf, es integriert die bekannten empirischen Kausalgesetze 82 . N u r ein anerkannter Erfahrungssatz vermag eine Verurteilung zu tragen. Die Überzeugungsbildung eines Richters müsse sich auf die Frage beschränken, ob in den zuständigen Einzelwissenschaften ein anerkannter Erfahrungssatz besteht 8 3 . Die generelle Kausalität damit dem materiellen Recht zuzuordnen 8 4 , geht indes fehl. Sie würde damit zur Rechtsfrage und das Gericht müßte nach dem Grundsatz iura novit curia die generelle Kausalität selbst feststellen 85 . Kausalgesetze sind Aussagen über die Wirklichkeit und damit dem strafrechtlichen Tatbestand vorgegeben. Fraglich bleibt aber, was bei Meinungsverschiedenheiten 81 Kaufmann (1971), eine Kurzfassung des von ihm für die Verteidigung verfaßten Gutachtens. Vgl. auch Bruns (1972 a). 82 Kaufmann (1971), 574. So im Anschluß an Kaufmann auch Bruns (1972 a). - Ablehnend Maiwald (1980), 108 ff. 83 Kaufmann (1971), 574. 84 Kaufmann (1971), 574; ähnlich Bruns (1972 b), 478 ff; schwankend Jakobs (1992), 7/12, Fn. 14. 85 Das hat Maiwald gegen Kaufmann eingewendet. Maiwald (1980: 109) stimmt ihm allerdings im Ergebnis zu: Im Zweifelsfall dürfe das Gericht nicht gegen intersubjektive Evidenz verstoßen, um die Rechtsfriedensfunktion des Prozesses zu wahren; siehe auch Hassemer (1994), 45. - In den Produkthaftungsverfahren steht fehlende Akzeptanz im Volk allerdings gerade nicht zu befürchten; Beulke/Bachmann (1992), 739.
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von Sachverständigen über die generelle Kausalität im Prozeß zu geschehen hat. Gilt dann der Grundsatz in dubio pro reo und hat damit das Gericht die für den Beschuldigten günstigste Hypothese zugrundezulegen 8 6 ? Kein Zweifel besteht daran, daß ein Richter den Wissenschaftler nicht ersetzen kann. Steht ein Erfahrungssatz wissenschaftlich fest, so hat der Richter ihn zu übernehmen 8 7 . Diese Regel findet allerdings keine Anwendung, wenn ein solches festgefügtes Wissen noch nicht besteht 8 8 , weil sich eine Wissenschaft mit einem neuen Phänomen konfrontiert sieht oder weil eine Wissenschaft als solche noch nicht hinreichend fortgeschritten ist 89 . Während im Zivilprozeß, der von der Dispositionsmaxime beherrscht wird, die formelle Wahrheit genügt und deshalb Beweiserleichterungen oder die Umkehrung der Beweislast zulässig sind, gilt im Strafprozeß die demgegenüber starre Regel in dubio pro reo. Liegt kein anerkannter Erfahrungssatz vor, dann mag sich ein solcher in foro ergeben, vor dem Gericht also, dem die Suche der materiellen Wahrheit auferlegt ist. Wo diese Möglichkeit sich ausschließen läßt, muß wegen „in dubio" freigesprochen werden; in diesem Fall besteht prozessual kein hinreichender Verdacht, der die Eröffnung einer Hauptverhandlung rechtfertigen könnte (§§ 170 I, 203 StPO). 2. Die Beweiserleichterungen, die der Zivilprozeß zuläßt, reichen vom Anscheinsbeweis (Prima-facie-Beweis) über Vermutungspostulate bis zur Beweislastumkehr 90 . Den Anscheinsbeweis begründet die Anerkennung typischer Geschehens-
86 Bejahend z.B. Maiwald (1980), 109. 87 Beulke/Bachmann (1992), 739 m.w.V.; für die Rechtsprechung vgl. B G H S t 5, 34, 36; BGHSt 21,159. 88 Vgl. Kuhlen (1989), 70 f u n d (1990), 567; Beulke/Bachmann (1992), 739. Anders aber wohl Kaufmann (1971), 573; Roxin (1991), § 15 II 2 a. 89 Im „Holzschutzmittelverfahren" wurde in der erstinstanzlichen Entscheidung argumentiert, daß die Toxikologie zum überwiegenden Teil über Meinungen noch nicht hinauskomme. 90 Schmidt-Salzer (1988), 327 hält im Einklang mit der herrschenden Lehre zwei Formen der Beweiserleichterung fest: den Anscheinsbeweis und die
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Verläufe, für deren Typizität die Lebenserfahrung bürgt. Die induktiv erfolgende, empirisch-statistische Generalisierung wird zu Lasten des in der Regel pflichtwidrig handelnden Beklagten zugelassen, dem es offen steht, im konkreten Fall einen atypischen Kausalverlauf darzulegen und damit den Anscheinsbeweis zu erschüttern 91 . Im Zuge der strafrechtlichen Produkthaftung wurde der allgemeinen Ansicht widerprochen, der Anscheinsbeweis sei eine im Strafprozeß unzulässige „Beweiserleichterung" 9 2 . Kuhlen tat dies mit folgendem Argument 9 3 : Der Anscheinsbeweis sei ein „Irgendwie"-Beweis 94 , bei dem beispielsweise der genaue biochemische Mechanismus ungeklärt bleibe. Die Kausalität müsse nicht in allen Einzelheiten, sondern nur überhaupt vorliegen - und entsprechend bewiesen werden 9 5 . Vom Anscheinsbeweis könne dann gesprochen werden, wenn der Richter konkret davon ausgeht, daß ein typischer Verlauf vorliegt und eine „ernsthafte Möglichkeit" eines alternativen Verlaufes nicht besteht. Dann wäre dieser Beweis aber nur eine Form der freien Beweiswürdigung, die durch den Ausschluß konkreter Zweifel definiert wird 9 6 . Ist es dann aber noch sinnvoll, vom Anscheinsbeweis zu sprechen, der im Zivilprozeß bereits dann vorliegt, wenn mangels entkräftender Darlegungen des Beklagten zur Überzeugung des Gerichts feststeht, daß ein Anwendungsfall eines beweiskräftigen Erfahrungssatzes vorliegt? Kuhlen bejaht dies, um die erfahrungsgestützte Konstituierung eines argumentativen Regel-
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Beweislastumkehr. Letztere gilt bei einem non liquet, das ersterer gerade verhindern will. Ausführlich Köck im vorliegenden Band, S. 26 ff. Die herrschende Lehre im Strafrecht hält den Anscheinsbeweis entweder für eine Umkehrung der Beweislast oder für einen erleichterten Beweis aus der Wahrscheinlichkeit eines typischen Geschehensablaufs; so Roxin (1991), § 15 C II 1 a, w.N. bei Kuhlen (1989), 44. Vgl. Kuhlen (1989), 37-57. Kuhlen (1989), 44 m.w.N. Kuhlen (1989), 45. „Nur Zweifel, die konkret, faßbar, greifbar oder vernünftig sind, schließen demnach die richterliche Überzeugung aus, rein abstrakte oder theoretische lassen sie bestehen", Kuhlen (1989), 47.
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Ausnahme-Verhältnisses als wesentliche Gemeinsamkeit des Anscheinsbeweises im Zivil- und Strafprozeß hervorzuheben97. Damit treten aber die im Zivilprozeß entscheidende Frage, wer bei einer konkreten Besonderheit des Einzelfalls die Anwendbarkeit eines Erfahrungssatzes darzulegen hat, und der im Strafverfahren maßgebliche Ausgangspunkt, daß die Rechnung mit Unbekannten nicht zu Lasten des Beschuldigten aufgelöst werden darf, zu stark zurück. Die vorgeschlagene Sprachregelung mag zwar den Blick für „die in der Praxis vorfindlichen und rechtlich grundsätzlich zulässigen generalisierenden Züge auch der strafrichterlichen Informationsverarbeitung" schärfen 98 , sie suggeriert indes eine Zurücknahme der strengen Beweisanforderungen im Strafprozeß. 3. Wenn es sich auch nicht empfiehlt, im Strafverfahren vom Anscheinsbeweis zu sprechen, bleibt das in den prominenten Produkthaftungsfällen entscheidende Verfahren des Alternativenausschlusses zu erörtern. Bei „Contergan", „Lederspray" und bei den „Holzschutzmitteln" wurde die Kausalität bejaht, weil alternative Kausalverläufe ausgeschlossen wurden 99 . Dieses Verfahren eines indirekten Indizienbeweises100 zieht in gewisser Weise die prozessuale Konsequenz aus dem statistischen Kausalbegriff, der mangels Einzelfallbezogenheit im materiellen Recht unzulässig ist, und zieht damit die entsprechenden Einwände auf sich 101 . Das Verfahren bedarf der Klärung unabhängig davon, ob man sich der herrschenden Lehre von 97 Kuhlen (1989), 46, Fn. 77. 98 Kuhlen (1989), 49. 99 Vgl. nun auch die entsprechende Entscheidung des Span. Obersten Gerichtshofs v. 23.4.1992 ( „Speiseöl" ), in: Neue Zeitschrift für Strafrecht 1994, 17. 100 Vgl. Puppe (1992), 31 („indirekter Indizienbeweis, mit dem theoretischen Ausgangspunkt, daß es strikte allgemeine Gesetze gibt"). 101 Hirte (1992:257) erblickt darin eine Annäherung ans Zivilrecht. Brammsen (1991: 536) entdeckt der Sache nach in dieser prozessualen Lösung der generellen Kausalität „die Anwendung des ... matcriellrechtlichen Prinzips der Risikoerhöhung im Prozeßrecht". — Brammsen selbst behilft sich frei-
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der gesetzmäßigen Bedingung oder dem Begriff der InusBedingung anschließt. (a) Bei „Contergan" war der biochemische Wirkmechanismus, eine bestimmte Drehrichtung der Moleküle, zur Zeit der Entscheidung noch nicht bekannt. Es wurde umfangreiches Material zusammengetragen, dem solche Evidenz zukam, daß es der klischeeträchtigen Unterscheidung des Landgerichts Aachen in einen absolut sicheren Nachweis in der Naturwissenschaft und grundsätzlich unsicherer Erkenntnis in der Geisteswissenschaft vermutlich nicht bedurfte. Die Evidenz ergab sich aus folgenden Beobachtungen: - Das sogenannte Dismeliesyndrom (angeborene Mißbildungen an Gliedmaßen) war regelmäßig identisch, klar abgrenzbar und davor noch nicht aufgetreten. - Die Korrelation zwischen der Häufung des Syndroms in bestimmten, eng begrenzten Zeitabschnitten und geographischen Regionen sowie dem Verbrauch von Thalidomid war „bemerkenswert eng" 1 0 2 . - Fast immer hatte die Mutter das Mittel genau dann eingenommen, als die Mißbildung während der Schwangerschaft wahrscheinlich eintrat. - Bei bestimmten Tierarten konnte die Mißbildung experimentell erzeugt werden. - Bei Geschwistern oder Eltern der betroffenen Kinder ließ sich das Syndrom nicht beobachten; eine Ausnahme davon waren Zwillinge. - Es wurde kein anderes Mittel vertrieben, dessen Verkauf mit dem Zeitraum der Mißbildung korrelierte.
lieh damit, daß er das Kausalitätserfordernis durch die Risikoerhöhungslehre ersetzt. 102 Landgericht Aachen, in: Juristenzeitung 1971, 512.
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Dem Gericht und einigen Gutachtern genügte dies zur Annahme der Kausalität 103 , für andere wogen indes die Einwände schwerer 1 0 4 . (b) Auch bei „Lederspray" ging es um die Frage des empirischen, hypothetisch-deduktiven Nachweises. Trotz eingehender Untersuchungen konnte auch hier die schädliche Substanz nicht genau identifiziert werden 1 0 5 . Der B G H sah allerdings jede denkbare Alternativkausalität („alle anderen in Betracht kommenden Schadensursachen") als ausgeschlossen an: Das Krankheitsbild trat jeweils unmittelbar nach Anwendung des Sprays - bis zu einer knappen Stunde danach - auf, war in allen Fällen identisch und klar abgrenzbar und wurde jeweils mit der gleichen Methode erfolgreich behandelt. Der Krankheits- und Heilungsverlauf wies so „signifikante Übereinstimmungen" auf. In Tierversuchen konnten vergleichbare Lungenschädigungen nachgewiesen werden. Ein mißbräuchlicher, nicht bestimmungsgemäßer Gebrauch der Dosen wurde ausgeschlossen. Die Tatsache, daß auch Raucher und Allergiker die Sprays verwendeten, blieb unerheblich, weil diese Anwendergruppen nicht spezifisch gewarnt wurden. Daß die Sprays bereits seit langem ohne Auftreten entsprechender Verbraucherbeschwerden vertrieben wurden, erach-
103 Landgericht Aachen, in: Juristenzeitung 1971, 512-514. 104 Sie hat Beyer (1989: 18 f) zusammengestellt: (1) Der biochemische Wirkmechanismus lasse sich nicht aufweisen. (2) Andere Ursachen seien möglich oder ließen sich nicht gänzlich ausschließen: Die Strahlung von Fernsehröhren. Viele der betroffenen Mütter hätten häufig während der Schwangerschaft ferngesehen. - Radioaktiver Niederschlag von Atombombenversuchen. - Mißlungene Abtreibungsversuche. - Besondere Konstitutionsfaktoren der Mütter oder eine besonders schwierige Situation während der Schwangerschaft. - Erbfaktoren. (3) Gegen eine Kausalität wurde weiterhin eingewendet: Gleiche Mißbildungen hätte es schon vor Einführung des Präparats gegeben. - Solche wären 1958 bis 1962 auch in anderen Ländern aufgetreten, wo das Präparat nicht oder noch keine neun Monate vertrieben worden war. - Es gebe mißgebildete Kinder, deren Mütter im besagten Zeitraum kein Thalidomid eingenommen hätten. Vereinzelt hätte es auch noch gleiche Mißbildungen gegeben, als das Präparat aus dem Handel gezogen war. - Bei manchen Frauen erfolgte die Einnahme vor oder nach der kritischen Phase. - Manche der betroffenen Mütter hätten auch gesunde Kinder zur Welt gebracht. - Contergan wirke lediglich lebenserhaltend, verhindere nur den vorzeitigen Abgang von Embryonen, die bereits durch andere Faktoren mißgebildet wurden. 105 Ich beschränke mich auf diesen Aspekt der Entscheidung.
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tete man ebenso als unerheblich wie die im Verhältnis zur Gesamtproduktion äußerst geringe Anzahl von Schadensfällen.
Lassen sich Kausalzusammenhänge wie in diesen Fällen nicht positiv erklären, dann bleibt selbst in den empirischen Wissenschaften nur das Verfahren, durch den Ausschluß alternativer Kausalverläufe zu „bestätigtem" Wissen zu gelangen. Weil es nicht zu begründen wäre, dieses Verfahren grundsätzlich für den strafrechtlichen Beweis auszuschließen, besteht die Hauptschwierigkeit darin, die Anforderungen an seine Anwendung festzulegen. Dem entspricht die an der „Lederspray" -Entscheidung geübte harsche Kritik Samsons, die nicht grundsätzlich gegen das Ausschlußverfahren gerichtet ist, sondern gegen dessen Anwendung durch den B G H . Zulässig sei ein Ausschluß nur, wenn in concreto zweierlei vorliege 106 : ( 1 ) Alle Umstände, die die Schädigung (Lungenödeme) hervorrufen, müssen abschließend bekannt sein. (2) Keine der anderen Umstände liegen im konkreten Fall vor. In der Auswahl der Alternativhypothesen liegt die Crux des Verfahrens. Die erste Forderung Samsons geht offensichtlich zu weit: Angesichts der Grenzen des hypothetisch-deduktiven Verfahrens kann sie kein empirisch arbeitender Wissenschaftler erfüllen. Mehr als „bestätigte", „bewährte" Hypothesen kann es, beschränkt man sich nicht von vorneherein mit Popper auf die Falsifikation von Hypothesen, nicht geben 1 0 7 . Das prädeterminiert auch die zweite Forderung: Der Ausschluß von Alternativursachen im konkreten Fall kann ebenfalls nur begrenzt erfolgen. Entscheidend ist der Verlauf dieser Grenze. Einig-
106 Samson (1991), 183. Samsons Einwand (185) gegen die Kausalität unterlassener Kollektiventscheidungen kann hier nur kursorisch aufgegriffen werden. Daß eine identifizierbare Mehrheit unter den Geschäftsführern den Eindruck der Uneinsichtigkeit erweckt und deshalb die nicht haften sollen, die resignierten, überzeugt nicht. Ein Fall der Unzumutbarkeit ist hier noch nicht anzunehmen. Es bliebe dann zudem die Täterschaft durch „Erzeugen von Resignation". 107 So schon Kaufmann (1971), 573.
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keit besteht darin, daß die Evidenz der empirisch bestätigten Hypothese intersubjektiv vermittelbar sein muß 1 0 8 . Wann dies freilich der Fall ist, bleibt offen und muß am Einzelfall geklärt werden. Die „Lederspray" -Entscheidung hat neben besagter Ablehnung 1 0 9 auch verhaltene bis volle Zustimmung erfahren 1 1 0 , insgesamt spiegelt ihre wissenschaftliche Rezeption Skepsis. (c) Während sich bei „Contergan" und „Lederspray" die Kausalität des Wirkstoffes nicht ermitteln ließ, dafür aber ein relativ klar abgrenzbares Krankheitssyndrom vorlag, herrscht bei den „Holzschutzmitteln" prima facie die umgekehrte Konstellation: Die Hauptwirkstoffe der Holzschutzmittel, P C P und Lindan, sind nachgewiesenermaßen „giftig" bis „sehr giftig", bei PCP zumindest dann, wenn es inhaliert wird. Die Giftigkeit wird im Tierversuch ermittelt. Giftig ist ein Stoff, wenn 5 0 % der Versuchstiere sterben. Wird die Substanz oral oder dermal verabreicht, spricht man von „letaler Dosis", bei inhalativer Verabreichung von „letaler Konzentration". „Sehr giftig" ist eine Substanz, wenn nach Standardmengen bereits eine geringe Menge tödlich wirkt, „giftig" bei einer größeren Menge und „minder giftig" bei noch größeren Mengen.
Wenn auch nicht endgültig geklärt ist, ob die Gefährlichkeit des eingesetzten PCP durch die Substanz selbst oder durch die in der Herstellung bewußt hingenommene Verunreinigung hervorgerufen wird, kann der biochemische Wirkmechanismus als im wesentlichen geklärt gelten. Es liegen ausführliche Studien vor über Schadensfälle in der chemischen Industrie oder in der Landwirtschaft, an denen die Stoffe PCP oder Lindan beteiligt waren.
108 Bei statistischen, generalisierenden Aussagen ohne Universalität versagt Poppers Falsifikationskriterium. 109 Im Anschluß an Samson Puppe (1992), 31, und Hassemer (1994), 42. 110 Beulke/Bachmann (1992), 739 sehen darin einen rechtspolitisch „begrüßenswerten Schritt", ohne ihre Bedenken ganz ausräumen zu wollen. Zustimmend Kuhlen ( 1990), 567 und ( 1989), 66 ff, 71 ff; auch Roxin ( 1992), §11/15.
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Von diesem klaren Ausgangspunkt fortschreitend, stößt man bereits bei der generellen Kausalität auf eine Reihe von Komplikationen: 1) „Alle Dinge sind Gift und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis macht, daß ein Ding kein Gift ist". Dieser im Verfahren mehrfach zitierte Satz von Paracelsus, ein Prinzip der Toxikologie, gebietet ein Differenzierung: Auch wenn der biochemische Wirkmechanismus bekannt ist, so gilt dies nur für eine DosisWirkungs-Relation. Der Schluß von Wirkungen auf eine Ursache w i r d vermittelt durch die Feststellung toxisch relevanter Dosen. Kein Streit herrscht über die Kausalität im Bereich hoher Dosen. Von manchen Sachverständigen wurde die durch das Verstreichen von Holzschutzmitteln im Innenraum freiwerdende Dosis als unerheblich niedrig eingestuft; dazu kommt, daß die fraglichen Stoffe in schwachen Dosen ubiquitär auftreten und zur generellen Hintergrundbelastung zählen. Entscheidend für eine solche Hypothese ist der Bezug auf allgemeinen Grenzwerte. Sie sind indes nicht nur als solche umstritten, in Frage steht auch ihre Anwendbarkeit im vorliegenden Fall einer langanhaltenden Exposition von Menschen mit geringen Mengen der fraglichen Stoffe. 2) Der Konstellation bei „Contergan" ähnlich, aber anders als bei „Lederspray" stehen die gesundheitlichen Schäden nicht in zeitlicher Nähe z u m Verstreichen oder Versprühen des Holzschutzmittels durch den Anwender. Anders als bei „Contergan" geht es aber nicht um die zeitlich sehr begrenzte Einnahme eines Medikaments, sondern um eine teilweise langjährige Exposition, die durch Ausdampfung, aber auch indirekt erfolgt durch affizierte Stoffe wie Textilien, Polstermöbel, Papier und im Hausstaub. Der Speichereffekt des Holzes und damit die Ausdünstung kann Jahrzehnte anhalten. Die Stoffe sind so flüchtig, daß auch ein Überstreichen des Holzes mit Lack, das das Bundesgesundheitsamt zunächst empfahl, allenfalls kurzfristig hemmt. 3) Das Krankheitsbild ist im Vergleich zu „Contergan" und „Lederspray" relativ inhomogen. Vorgebracht wurden Beeinträchtigungen der Atmungsorgane (ständige Erkältungskrankheiten, Bronchitiden u.a.), allergietypische Hautreizungen wie Ausschläge, Störungen des Magen-Darm-Trakts und des Nervensystems und allgemeine Abwehrschwäche. Die geltend gemachten Symptome ergeben, wie die Verteidigung vortrug, ein nahezu vollständiges Verzeichnis aller beim Menschen überhaupt vorkommenden pathologischen oder auch nur unerwünschten Zustände von A (Abgeschlagenheit) bis Ζ (Zittern). Dabei wurden psychische Auffälligkeiten (z.B. Depressionen und Alpträume) ebenso genannt w i e intellektuelle (z.B. Vergeßlichkeit) sowie alle Arten von organischen Beschwerden von Kopf bis Fuß, von leichten wie „Haarausfall und Zahnfleischbluten bis Fußpilz und Schweißfüße" bis zu schwerwiegenden Beschwerden wie Herzbeschwerden, Verlust von Geruchsinn, Schilddrüsenfunktionsstörungen und Leukämie. Ob es ein einheitliches, für die fraglichen Stoffe typisches Bild von Symptomen, d.h ein „Holzschutzmittel-Syndrom" gibt, blieb umstritten. Das galt auch für die Zahl der Symptome, die auf bis zu 80 geschätzt
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wurden. Eine gewisse Ähnlichkeit weist die Symptomatik nach Exposition durch Formaldehyt auf, deren Ausschließbarkeit im konkreten Fall wiederum bestritten wurde. Wären die Symptome wirklich unspezifisch, müßte der Ausschluß von Alternativen leerlaufen. Dazu kommen weitere Komplikationen: Die Schädigung ging von mehreren Stoffen aus, deren Verbindung noch ungeklärte Auswirkungen hat (Problem der Mischintoxikation). Der Ursachenzusammenhang tritt weiterhin - nach Darlegung des Landgerichts Frankfurt nicht bei jedermann auf, sondern nur bei einer Gruppe von Menschen, die dafür konstitutionell disponiert scheinen. 4) Damit zusammen hängen Probleme, das f ü r die Kausalrelation (propter hoc) indizielle „post hoc" festzustellen. Das Grundschema lautete zunächst: jemand ist gesund, zieht in ein holzschutzmittelbehandeltes Haus ein oder behandelt es entsprechend, wird krank, zieht aus und wird wieder gesund. Dem wurde entgegengehalten, daß zumindest viele der Betroffenen vor der Exposition nicht gesund waren oder nachher nicht wieder gesundeten. 5) Zur langen Dauer der Exposition und Vermitteltheit der Schädigung kommt ein weiteres Element hinzu, das wie schon bei „Lederspray" den Charakter einer „fließenden Anklage" bewirkte und dessen Bedeutung für den Alternativenausschluß klärungsbedürftig ist 111 : Der millionenfachen Anwendung von Holzschutzmitteln steht ein Kreis von Geschädigten gegenüber, der vergleichsweise klein ist - und aus dem repräsentativ eine noch kleinere Anzahl für das Verfahren ausgewählt wurde. Bis zu welchem Grad dies noch zuläßt, eine statistische Relation von Relevanz zu eruieren, bleibt zu klären.
Bedenkt man diese Schwierigkeiten, gilt zwar als Faustformel: Je bekannter die Wirkmechanismen sind, desto geringer sind die Anforderungen an den Ausschluß von Alternativen. Doch führt diese Formel nicht weit, da die Kenntnis der Kausalität eine Kenntnis der Dosis-Wirkungs-Relation verlangt. Nachzuweisen ist, wie in der Entscheidung ausgeführt, die Anwesenheit des fraglichen Stoffes in Wohninnenräumen in einer relevanten Menge während einer relevanten Zeitspanne. Das Landgericht Frankfurt führte einen solchen Nachweis anhand einer „Gesamtbetrachtung" von Zeugenaussagen und ärztlichen Gutachten gegen substantielle Einwände der Toxikologie, wobei ihm bewußt ist, daß „wegen der großen In-
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D o r t wurde die Zahl der folgenlosen Anwendung von Ledersprays in der Größenordnung von Milliarden geschätzt, die Krankheitsfälle beliefen sich auf weniger als Hundert.
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terpretationsspielräume bei den Einzelbefunden und der kaum vermeidbaren Unzulänglichkeiten in der Erhebung" die Feststellung von Kausalität aufgrund von einzelnen Untersuchungen immer auf einer „Zuschreibung durch die wissenschaftliche Gemeinschaft" beruht 1 1 2 . Dies wird ermöglicht durch eine „Theorie der Symptomdeutung", die das Gericht aus eigener Sachkenntnis entwickelt und die auf einem „semiotischen M o dell der Medizin" beruht. Dabei wendet das Gericht in komprimierter F o r m die kommunikationstheoretische Dreigliederung von syntaktischer, semantischer und pragmatischer Ebene einer Aussage an, um die lediglich Symptome sammelnde und vergleichende Medizinstatistik als bloß syntaktisch zurückzuweisen. D a dieser schwer nachvollziehbare, wenn auch zutreffend referierte Ausgangspunkt in der Wissenschaftstheorie strittig ist, erstaunt es, daß auf die Probleme der generellen Kausalität nicht näher eingegangen wird. Selbst wenn sich die Toxikologie noch im Stadium der „Meinungslehre" befinden würde, wären die Einwände gegen die Begründung des Gerichts nicht ausgeräumt, weil die Forderung nach einem wissenschaftlichen Standard des Nachweises bestehen bleibt 1 1 3 . Diese Hürde ließe sich nur dann überwinden, wenn man dem Gericht in seiner semiotischen Wissenschaftskonzeption folgte. Solange die Semiotik selbst in der wissenschaftlichen Gemeinschaft um substantielle Anerkennung zu ringen hat, fehlt dieser Konzeption aber die Verbindlichkeit, die für die prozessuale Feststellung materieller Wahrheit gefordert werden muß. 5. Der Blick auf drei prominente Beispiele für den Ausschluß von Alternativen als Verfahren des Nachweises läßt folgendes Zwischenergebnis zu: Das Verfahren des Alternativenausschlusses bedeutet für den Fall mangelnder positiver Kenntnis eine nicht unzulässige Abschwächung von Beweisanforderungen, weil es weiterhin um Feststellung und nicht nur um Zu112 Landgericht Frankfurt, in: Zeitschrift für Umweltrecht, 1994, 30. 113 Immerhin vermeidet das Gericht die schiefe Hypostasierung von Naturund Geisteswissenschaften, die sich im „Contergan"-Beschluß findet.
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Schreibung von Kausalität geht. Auch wenn damit am materiellen Erfordernis der Kausalität nicht gerüttelt wird, birgt das Verfahren die Tendenz zur Flexibilisierung der Kausalkategorie in sich. Ein prozessual verkapptes Prinzip der Risikoerhöhung, das aus einem klassischen Erfolgsdelikt ein Gefährdungsdelikt werden läßt, ist die naheliegende, aber vermeidbare Folge. Sie läßt sich vermeiden, indem das Verfahren angemessen angewendet wird. Die Angemessenheit ergibt sich zunächst aus der Prozeßsituation: Aufgegeben ist es, in begrenzter Zeit, mit begrenzten Ressourcen und ohne unzulässige Eingriffe die materielle Wahrheit so weit zu ermitteln, daß eine am materiellen Tatbestand (Körperverletzung) ausgerichtete gerechte Entscheidung ermöglicht wird. Bloße Plausibilität einer Kausalhypothese mag für die Einleitung eines Verfahrens reichen, genügt aber für eine Verurteilung nicht. Solange andere plausible Hypothesen nicht ausgeschlossen werden können, muß in dubio pro reo entschieden werden. Der Rekurs auf den juristischen Rahmen entzieht den Anforderungen des erfahrungswissenschaftlichen Beweises nicht die Grundlage; eine Hypostasierung zweier Methodologien, wie sie im „Contergan" -Beschluß angedeutet wird, ist ungerechtfertigt. Bei den „Holzschutzmitteln" wurde ein angemessener Nachweis nicht erbracht. Das Gericht erörterte nicht nur die Frage der Dosis-Wirkungs-Relation auf einer eingeschobenen Ebene des konkreten Giftnachweises und eliminierte diese Relation mit Hinweis auf die Fraglichkeit allgemeiner Grenzwerte. Dazu kommt, daß es schließlich den Ausschluß alternativer Ursachen in die Ebene des Einzelnachweises verlagert, der nur durch eine Gesamtbetrachtung konkreter ärztlicher Diagnosen und Zeugenaussagen geführt werden könne 1 1 4 . Das Ergebnis, der Nachweis im konkreten Fall der „Holzschutzmittel", mag zwar dem common sense einleuchten, seine im letzten wissenschaftstheoretisch fundierte Begründung, die diese Verlagerung ermöglicht, bleibt unzureichend. Solange der Semiotik in der hier zugrundegelegten Ge114 Dies geht bereits aus der bei Schulz (1994: 26) wiedergebenen Urteilsgliederung hervor.
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stalt in der wissenschaftlichen Gemeinschaft noch substantielle Anerkennung fehlt, ermangelt es einer über Zuschreibungen hinausgehenden Verbindlichkeit, die für die strafprozessuale Feststellung von Tatsachen verlangt werden muß. Eine abschließende Antwort darauf, wieweit die Flexibilisierung der Kausalkategorie gehen darf, führt zu einer Reflexion auf die Funktion von Strafrecht in der Gesellschaft.
V. Die „Risikogesellschaft" und das Recht 1. Von der „Risikogesellschaft" wird seit Ulrich Becks gleichnamigem Buch vor allem in den Sozialwissenschaften gesprochen. Damit wird ein zunächst nur vage umrissener Begriff, ein Topos eingeführt: Diese Form der Gesellschaft markiert, so Beck, eine Epoche, in der die Schattenseiten des Fortschritts zunehmend die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bestimmen. Christoph Lau faßte den Begriff anhand einer Dreigliederung von Risikotypen schärfer 115 : (a) Traditionelle Risiken werden freiwillig eingegangen (ein Patient nimmt das Risiko einer Fehloperation in Kauf). (b) Industriell-wohlfahrtsstaatliche Risiken sind immer noch kalkulierbar und versicherbar (sie leiten die Entwicklung der Versicherungsgesellschaft ein) 1 l é .
115 Lau (1989), 418 ff. 116 Lau (1989), 422. Die Nicht-Versicherbarkeit ist ein Kriterium, um Gefahren von Risiken zu unterscheiden, eine Unterscheidung, die bei Beck vernachlässigt wird. Die Versicherung verwandelt, so Evers/Nowotny (1987: 37), „Gefahren in rekompensierbare Risiken" und machen sie damit kalkulierbar. Ewald (1989) nennt die Versicherung die „Technologie des Risikos" zur „Umwandlung eines Schadens in ein Risiko". - NichtVersicherbarkeit kann sich nicht nur unter dem Gesichtspunkt des quantitativen Schadensumfangs bei Großkatastrophen ergeben, sondern auch qualitativ bei Rechtsgütern wie Persönlichkeit und Menschenwürde. Dazu ergeben sich Grenzen der Versicherbarkeit aufgrund der im folgenden erörterten Zurechnungsprobleme.
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(c) Der gegenwärtigen Gesellschaft sind „neue", unsichtbare Risiken eigen, die weder freiwillig eingegangen werden noch versicherbar sind (Beispiele: Ozonloch, Waldsterben, Epidemien). Sie sind prima facie Schicksal oder Unglück, erweisen sich durch die Wissenschaft indes als Faktum im engen Sinne des Wortes, als „Option". Beck übernimmt diese Gliederung und nennt für die neuen Risiken drei Kriterien 117 : (a) Nicht-Eingrenzbarkeit nach Ort, Zeit und Kreis der Betroffenen (die Risiken sind „demokratisch" ); (b) Nicht-Versicherbarkeit; (c) Nicht-Zurechenbarkeit nach den geltenden Regeln der Zurechnung und Verantwortung - Kausalität und Schuld 118 . Das herkömmliche, auf individualisierende Zurechnung ausgerichtete Recht versage nicht nur in seinem Kontrollauftrag, es bewirke das Gegenteil: „Genau dies meint organisierte Unverantwortlichkeit. Das individuell ausgelegte Verursacherprinzip, die Rechtsgrundlage der Gefahrenabwehr, schützt die Verursacher, die es zur Verantwortung ziehen soll" 119 . „Das Recht verdrängt, wo es Recht stiften solle" 120 . In dieser Analyse ist der Rückgriff auf Rainer Wolfs These von der „Antiquiertheit des Rechts" erkennbar, die dieser in Rezeption von Becks Erstlingswerk innerhalb des öffentlichen Rechts entwickelte. Wolf nannte das herkömmliche, an der Gesetzlichkeit orientierte Recht „antiquiert", ohne aber dem Recht das Potential einer zeitgemäßen Antwort auf die „neuen" Risiken abzusprechen: „Der juristische Begriff der Verantwortung ist jedoch eine altväterliche Kategorie personaler Zurechnung geworden, 117 Beck (1991); in Beck (1988) sind es noch vier, wobei das dritte und vierte sich verbinden lassen. Zur jüngsten Stellungnahme von Beck siehe Schimank (1990). 118 J)ie etablierten Regeln der Zurechnung und Verantwortung - Kausalität und Schuld - versagen", Beck (1988), 9 (Hervorhebung von Beck). 119 Beck (1988), 11, hierzu auch 191. 120 Beck (1988), 111 (Hervorhebungen jeweils von Beck).
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die gerade für die Probleme der Risikogesellschaft unhandlich wird" 1 2 1 . Mit personaler Verantwortung wird auch die traditionelle Kausalität über Bord geworfen: „Wo von Sicherheit mit gutem Gewissen nicht mehr die Rede sein kann, werden auch die überkommenen Muster der Zuschreibung von persönlicher Verantwortung obsolet. Die Risikogesellschaft entwertet nicht nur die Kategorie der Schuld, sondern auch die der Kausalität" 122 . „Risikorecht ist damit weitgehend entpersonalisiertes Recht. Seine Objekte sind gesellschaftliche Organisationen von Risikoproduzenten, Risikogruppen von Betroffenen, Klassen gefährdeter Arten und Ökosysteme. Und seine Schutzlogik ist die anonyme Vorsorge" 123 . Diese Schutzlogik wird leider so wenig ausgeführt wie das Schlagwort „Risikobalancierung statt binärer Code,}24. Beck scheidet anders als Wolf in seiner Antwort das Verwaltungs- und Zivilrecht nicht vom Strafrecht: „Individualstrafrecht widerspricht Kollektivgefährdung; Ursachen' im altväterlich industriellen Sinne sind mit der Globalität der Gefährdung abgeschafft worden." 125 Für eine Nicht-Unterscheidung der Rechtsgebiete sprechen neben dem Postulat der Einheit der Rechtsordnung die zahlreichen Berührungspunkte, genauer: Akzessorietäten zwischen den Rechtsgebieten 2 6 . 2. Wenn die Rechtswissenschaftler im allgemeinen auch zögern, modische Topoi zu rezipieren, im Fall der Risikogesellschaft zeigten und zeigen sie sich aufgeschlossen. Ein Beispiel aus dem öffentlichen Recht wurde genannt 127 . Im Zivilrecht 121 122 123 124
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(1987). (1987), 388. (1987), 390. (1987), 386 (Hervorhebungen jeweils von Wolf).
125 Beck (1988), 214. 126 Die für das Umweltstrafrecht typische Akzessorietät tritt auch im Wirtschaftsstrafrecht auf. Gerade im Nebenstrafrecht ergeben sich viele Akzessorietäten. 127 Wolf (1987). Vgl. auch Denninger (1979), dessen Begriff des „Präventionsstaats" wie der der „Risikogesellschaft" als Chiffre für die Gefahren der
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hat Gert Brüggemeier den Topos für die Analyse des U m welthaftungsrechts herangezogen und zur traditionellen Verschuldenshaftung, der Gefährdungshaftung in klassischer und in teilweise entindividualisierter Gestalt, die Einrichtung von Entschädigungsfonds gefordert 1 2 8 . Ich beschränke mich auf die Rezeption im Strafrecht, nenne wichtige Bereiche der Rezeption und lege schließlich den Schwerpunkt auf die Frage von Kausalität und Zurechnung in der Produkthaftung 1 2 9 . 3. Der Topos der Risikogesellschaft wird im Strafrecht unter einer Reihe von Aspekten rezipiert: (a) Unter das Stichwort Risikostrafrecht fällt die anhaltende Dominanz der Prävention im Strafrecht. Sie trat zunächst in der Straftheorie auf und schlägt sich in einer Tendenz der materiellen Vorverlagerung des strafrechtlichen Eingriffs durch (konkrete und abstrakte) Gefährdungsdelikte nieder. Für Hassemer ist das ohnehin präventive, folgenorientierte Strafrecht durch die Herausforderungen der Risikogesellschaft überfordert, was sich zusätzlich zu den genannten Gefährdungsdelikten 1 3 0 in symbolischem Strafrecht niederschlage 1 3 1 .
modernen Gesellschaft gelesen werden kann, weiterhin Bechmann (1991) und ihn kommentierend Ladeur (1991) sowie D a m m (1993), der dem Status subjektiver Rechte in der Risikogellschaft nachgeht. 128 Brüggemeier (1989). Das zeitgemäße Haftungsrecht zeichne sich durch fünf Eigenschaften aus (229 f): (1) Einführung einer Gefährdungshaftung mit Beweismaßreduktion und Kausalitätsvermutung; (2) Entwicklung einer Gemeinschaftshaftung durch kumulative Gefährdungsbeiträge; (3) Haftung für ökologische Schäden („ökologisches Schmerzensgeld"); (4) Einrichtung von Entschädigungsfonds und (5) Einführung einer obligaten Umwelthaftpflichtversicherung, ö k o n o m i s c h e Instrumente stehen dem zur Seite: Lenkungsabgaben auf gefährliche Produkte und finanzielle Anreize (230). 129 Zum Überblick vgl. Schulz (1993). 130 Für das Umweltstrafrecht siehe Hassemer/Meinberg ( 1 9 8 9 ) . - D e n Gefährdungsdelikten wurden in den letzten Jahren eine lange Reihe von M o nographien gewidmet, darunter mehrere Habilitationsarbeiten: Der Arbeit von Kindhäuser (1989) folgte als „Streitschrift" gegen die abstrakten Gefährdungsdelikte jene von Hassemers Schüler Herzog (1991). Herzogs Impuls wurde aufgenommen bei Prittwitz (1993). 131 Recht ist grundsätzlich immer funktional und symbolisch. „Symbolisches Gesetz" ist ein polemischer Begriff und kennzeichnet eine Strafrechtsnorm also in dem Maße, „in dem die latenten Funktionen überwiegen: indem
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Nach Peter-Alexis Albrecht reichen die „Entwicklungstendenzen des materiellen Strafrechts" vom liberalen Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts z u m Sozialund Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts, in dem sich die repressive Steuerung zu einem „präventiv-gestaltenden Steuerungsmodell", zum sozialen Interventionsstaat wandele 1 3 2 . Ähnlich lauten die Analysen von Verfassungsrechtlern wie Denninger 1 3 3 . (b) Im Prozeßrecht entspricht diesem Sachverhalt die rasante Entwicklung von der Repression zur Prävention und Verbrechensprophylaxe 1 3 4 . Dabei ist auch der im Polizeirecht an die konkrete Gefahr geknüpfte Präventionsbegriff in Auflösung begriffen 1 3 5 . Es geht, so wird das in der polizeirechtlichen Literatur offen ausgesprochen, um die Prävention der Prävention, um die Eliminierung von kriminogenen Strukturen, bei der ein Einzeltäter nur noch Randerscheinung ist 1 3 6 . (c) In der Dogmatik des materiellen Rechts hat Wolter 1981 in seiner M o n o graphie über „Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem" den Begriff des Risikostrafrechts in den Vordergrund gerückt. Funktional ist ein Straftatsystem, das an der Funktion von Strafrecht in der modernen Gesellschaft orientiert ist 1 3 7 . Worin diese Funktion liegt, darüber läßt sich streiten. Prittwitz analysierte das „Risikostrafrecht" des funktionalen Strafrechtssystems - dabei vor allem die Kategorie des erlaubten Risikos und des „Risikovorsatzes" - unter dem Blickwinkel der Erweiterung von Strafrecht und stellt an dem kritisch gesinnten funktionalen Ansatz in der Tradition von Roxin Tendenzen der Ausweitung des Strafrechts fest 1 3 8 . (d) Zugeschnitten auf die zentrale Frage der Produkthaftung im Strafrecht untersuchte Hilgendorf 1993 die Rolle der Risikogesellschaft, stellt allerdings in Hinsicht auf die Kausalität keine Flexibilisierung fest.
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zu erwarten ist, daß durch die N o r m und ihre Anwendung eher andere als die von der N o r m selber bezeichneten Zustände realisiert werden"; Hassemer (1989), 556 m.w.V.; siehe auch Haffke (1991), 165 ff und 439 f, sowie Schmehl (1991). Albrecht (1988), 182-209 im Anschluß an Beck und Luhmann; siehe auch Albrecht (1993). Denninger (1988). Hassemer (1990). Umfassend Denninger/Lisken (1992), 105 ff. Beispielhaft die Veröffentlichungen des Protagonisten Stümper (1975 und 1981). Wolter (1981), 21. Zum funktionalen Strafrecht übersichtlich Roxin (1992), § 7 Rn. 23-29, 50-67, 75-83 und eingehender Schünemann (1984), Einleitung. Prittwitz (1993), Kap. 7 und 8.
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VI. Ausblick: Strafrecht als ultima ratio 1. D a s Recht reagiert auf gesellschaftliche Herausforderungen. Die spezifischen Herausforderungen der Risikogesellschaft führen zu einer Flexibilisierung des Rechts. Dies läßt sich auch im Strafrecht verfolgen. Können „neue" Herausforderungen nicht auch dort eine Modifikation dieser Anforderungen legitimieren und eine Antwort auf die Frage geben, welchen Status die Kausalität im materiellen Recht einnimmt und welche Korrelationen in der prozessualen Kausalitätsprüfung als signifikant gelten können? Die Einwände gegen den Begriff der Risikogesellschaft können dabei in einer zentralen Hinsicht ungeklärt bleiben: O b es „neue Risiken" oder nur ein bislang ungekanntes Ausmaß möglicher Schäden gibt, in beiden Fällen kann das Strafrecht nicht auf die Prinzipien der Individualzurechnung verzichten 1 3 9 . Strafrecht ist, verfassungsrechtlich garantiert, Schuldstrafrecht. Das bedeutet Individualzurechnung, mit der materiellrechtlich das Erfordernis der Schuld, aber auch das der Kausalität einhergeht. Prozessual entspricht dem das Prinzip der materiellen Wahrheit, die Voraussetzung des Tatverdachts als Nadelöhr jeglicher Ermittlung sowie die Unschuldsvermutung und der Satz in dubio pro reo. Die Scheidung des Strafrechts von anderen Rechtsgebieten bleibt deshalb essentiell: Das Strafrecht führt zum gravierendsten Eingriff in die menschliche Freiheitssphäre und kommt als Schuldstrafrecht allenfalls subsidiär zum Zuge (Subsidiarität des Strafechts, ultima ratio- Prinzip 1 4 0 ). Wer - wie Beck - im Strafrecht die In-
139 Ein vertieftes Verständnis der „neuen Risiken" läßt die von mir andernorts vorgeschlagene Unterscheidung grundlegender Modalprinzipien zu; vgl. Schulz (1991). 140 Jescheck (1988), 46 f spricht v o m „fragmentarischen und akzessorischen Charakter des Strafrechts". Darin k o m m t das die Verfassung beherrschende rechtsstaatliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit zum Tragen. D i e herrschende Lehre erblickt darin eine kriminalpolitische Leitlinie für den Gesetzgeber; J a k o b s (1992), 3/27, Maurach/Zipf (1992), § 2 Rn. 10 und 13,
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dividualzurechnung aufgibt, der will das Kind mit dem Bade ausschütten. 2. Kausalrelationen, die auf bloßen Korrelationen beruhen, können nicht ausreichen für die Feststellung von Kausalität bei Erfolgsdelikten wie der Körperverletzung. 3. Die Feststellung statistischer Korrelationen mag allerdings bei Gefährdungsdelikten genügen, seien es konkrete, abstrakte oder Eignungsdelikte. Die Normierung von Gefährdungsdelikten bildet einen gern beschrittenen Ausweg aus den Problemen der Kausalitätsfeststellung. Daß ein Bedürfnis besteht, das fahrlässige oder vorsätzliche Inverkehrbringen gefährlicher Produkte strafrechtlich zu erfassen, läßt sich kaum leugnen. Verglichen mit klassischen Körperverletzungen scheint mir das Verletzungspotential bei gefährlichen Produkten oftmals um ein vielfaches höher zu sein. Für ein solches Erfassen bedürfte es indes eines Gefährdungstatbestandes, der, wenn er nicht bereits vorhanden ist, vom Gesetzgeber geschaffen werden müßte. a. Ansatzpunkt für einen entsprechenden Gefährdungstatbestand de lege lata sind die §§319,320 StGB (Gemeingefährliche Vergiftung) 141 , die weder im „Le-
Roxin (1992), § 2 Rn. 29; näher dazu Lüderssen/Nestler-Tremel/Weigend (1990). 141 § 319 StGB - Gemeingefährliche Vergiftung - lautet: „Wer Brunnen- oder Wasserbehälter, welche zum Gebrauch anderer dienen, oder Gegenstände, welche zum öffentlichen Verkauf oder Verbrauch bestimmt sind, vergiftet oder denselben Stoffe beimischt, von denen ihm bekannt ist, daß sie die menschliche Gesundheit zu zerstören geeignet sind, desgleichen wer solche vergifteten oder mit gefährlichen Stoffen vermischten Sachen mit Verschweigung dieser Eigenschaft verkauft, feilhält oder sonst in Verkehr bringt, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren und, wenn durch die Handlung der Tod eines Menschen verursacht worden ist, mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren bestraft". § 320 - Fahrlässige Gemeingefährdung - stellt die fahrlässige Begehung unter Strafe:
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derspray" - noch im „Holzschutzmittel" -Verfahren angeklagt wurden. In § 319, einem abstrakten Gefährdungs-, oder genauer, Eignungsdelikt, wird das Vergiften von Gegenständen u n d deren Inverkehrbringen genannt, so daß die N o r m prima facie einschlägig ist. So kommt es, daß zunächst ein juristischer Laie, Hans Magnus Enzensberger, auf den Tatbestand hinwies 1 4 2 . In der Fachwelt stieß dies kaum auf Resonanz 1 4 3 . Kuhlen griff den Tatbestand auf, hielt ihn aber nicht für anwendbar 1 4 4 . Neuerdings hat Hilgendorf den Tatbestand zur A n w e n dung empfohlen 1 4 5 . Die Subsumtion stößt allerdings schnell auf Probleme 1 4 6 . Zum Zuge kommt nicht die erste Variante der Brunnenvergiftung, sondern die zweite Variante des Tatbestands („Gegenstände, welche z u m öffentlichen Verkehr bestimmt sind") 1 4 7 . Das Vergiften oder Beimischen von Stoffen, die die Gesundheit zu zerstören geeignet sind, läßt sich durch den Verweis darauf, daß die bioziden Inhaltsstoffe der Holzschutzmittel gesundheitsbeeinträchtigende Folgen hervorrufen, noch nicht bejahen, da eine Gesundheitsbeeinträchtigung
Ist eine der in den § § 3 1 8 und 319 bezeichneten Handlungen aus Fahrlässigkeit begangen worden, so ist, wenn durch die Handlung ein Schaden verursacht worden ist, auf Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder auf Geldstrafe und, wenn der Tod eines Menschen verursacht worden ist, auf Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder auf Geldstrafe zu erkennen. 142 Enzensberger (1984) - mit der Forderung, leitende Industrieangestellte im großen Maßstab zu inhaftieren. 143 H o r n (1986) hat darin eine „zentrale Verbraucherschutz-Vorschrift" gesehen. Bereits Maurach-Schroeder (1981), 57 wies auf die N o r m hin. 144 Kuhlen (1989), 152 ff, 166 f u n d ebenso (1990), 556. Ähnlich Geerds (1989), 241-263, der von einer „rechtshistorischen Konserve ohne Praxisbezug" spricht. § 319 ist in der Tat der klassische Tatbestand gegen Brunnenvergiftung. Eine Vorform findet sich im Allgemeinen Preußischen Landrecht, und § 305 PreußStGB von 1851 nimmt § 319 fast wörtlich vorweg. 145 Hilgendorf (1993), Kap. 11. Eine Pointe liegt darin, daß Hilgendorf gerade in der fehlenden Berücksichtigung dieses Tatbestands die „Flexibilisierung" erkennt, die ihm als typisch für das Risikostrafrecht erscheint. Er bejaht auch § 330 a und hofft, daß die Rechtsprechung „sich bald auf die § § 3 1 9 , 3 3 0 a besinnen wird, u m den Gefahren, die dem Verbraucher durch gefährliche Produkte drohen, entgegenzuwirken". 146 Kuhlen (1989), 165 verweist ausdrücklich auf den „Holzschutzmittel" Prozeß. 147 Die herrschende Meinung orientiert sich dafür an § 229. Sich auf Kuhlens teleologische Reduktion einzulassen, wonach die Gegenstände zum öffentlichen Verkauf unter Verschweigen oder zum Verbrauch in U n kenntnis ihrer Gefährlichkeit bestimmt sind, bereitet keine Schwierigkeit.
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in der gesteigerten Form der Zerstörung gefordert ist 1 4 8 . Zentral ist deshalb die Frage, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Gesundheitszerstörung eintritt. Die Rechtsprechung und Kommentarliteratur verlangen eine erhöhte, überwiegende Wahrscheinlichkeit, bei der der Eintritt des Schadens wahrscheinlicher sein muß als dessen Ausbleiben 1 4 9 . Selbst wenn man eine solche Wahrscheinlichkeit und damit den objektiven Tatbestand von § 319 StGB annehmen würde, wäre der subjektive Tatbestand mangels Vorsatzes wohl zu verneinen. Allerdings bliebe dann die Strafbarkeit der Fahrlässigkeit gem. § 320 StGB. Die Vorsicht der Rechtsprechung gegenüber der Anwendung von §§ 319, 320 verdient Zustimmung. Der Vertrauensschutz, der von einer festgefügten Dogmatik und Rechtsprechung ausgeht, würde untergraben werden, wenn man wie in manchen vergleichbaren Fällen aus einem praktischen Bedürfnis heraus dem Gesetzgeber vorauseilend die Entscheidung abnähme. b. Für eine zulässige gesetzgeberische Entscheidung zugunsten eines neuen Gefährdungstatbestandes wäre freilich das ultima ratio-Prinzip zu beachten.
4. An die Grenzen des Schuldprinzips stößt der am Beispiel der Gewässerverunreinigung (§ 324 StGB) entwickelte, über das Gefährdungsdelikt noch hinausgehende Vorschlag eines Kumulationsdeliktes, mit dem Kuhlen einen materiellrechtlichen Versuch unternahm, Kausalitätsprobleme zu „bewältigen". Nach diesem Tatbestand wird bestraft, wer unbefugt ein Gewässer (z.B. einen Badesee oder auch das Grundwasser) verunreinigt oder sonst dessen Eigenschaften nachteilig verändert. Nach allgemeiner Ansicht sollen davon Bagatellhandlungen ausgenommen sein, z.B. das Baden im See, nachdem man sich vorher eingeölt h a t 1 5 0 . Dem wäre nicht so, wenn der Tatbestand der Gewässerverunreinigung weder eine Verletzung noch eine Gefährdung pönalisieren würde, sondern gerade den Fall, daß ein Verhalten zu einer Kategorie von Handlungen gehört, die „in
148 Dabei ist noch nicht geklärt, ob für Gesundheitszerstörungen der enge Maßstab des § 224 StGB anzulegen ist, der in der Entscheidung zu den „Holzschutzmitteln" in keinem Fall angenommen wurde. 149 Hinweise bei Kuhlen (1989), 161, der von dieser - dem hinreichenden Verdacht entsprechenden - Zusatzforderung Abstand nimmt. E r verlangt, daß der Kontakt mit den kontaminierten Stoffen erheblich gefährlicher für die Gesundheit ist als der Nicht-Kontakt. 150 Dieses Ergebnis wird man im Aufbau der Straftat bereits in der objektiven Zurechnung mangels eines unerlaubten Risikos erzielen.
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großer Zahl" vorgenommenen, ebensolche Verletzungen oder Gefährdungen bewirken würden: „Ein Kumulationsdelikt fordert nicht, daß eine einzelne Handlung zu einer Verletzung oder Gefährdung führt, sondern nur, daß die Einzelhandlung zu einer Art von Handlungen gehört, die, wenn sie in großer Zahl vorgenommen würden, eine Verletzung oder Gefährdung herbeiführen würden". Die kontrafaktische Annahme darf dabei nicht rein hypothetisch gemacht werden, sondern ist auf eine reale Gefahr zu beschränken 1 5 1 . In Hinblick auf die Kausalität ist der Gedankengang plausibel: Die jeweilige Einzelhandlung führt zwar noch nicht zum Gesamterfolg, setzt aber eine Kausalkette zu anderen Mitverursachern in Gang, die bei der zehnten, hundertsten oder tausendsten Bagatelle den Erfolg bewirkt. Das „praktisch zentrale" Anliegen dieser neuen Deliktskategorie ist es, „daß die im Umweltstrafrecht notorisch schwierigen Kausalitätsfragen ... weitgehend obsolet" werden 1 5 2 . Letztere werden in der Tat im Keim erstickt: Weder eine conditio sine qua non noch eine kontingent notwendige Bedingung könnte hier angenommen werden. Es erscheint nicht nur verfehlt, dem Gesetzgeber im genannten Fall zu unterstellen, er hätte diesen Deliktstypus im Auge gehabt. Wichtiger ist noch, daß damit dem Tatbestand praktisch keine Grenzen gesetzt wären: Strafbar wären in diesem Fall beispielsweise Eltern, die ihre Kinder nicht davon abhielten, beim Baden ins Wasser zu urinieren. Diese Konstruktion gerät nicht nur in Konflikt mit dem Schuldprinzip, sondern verkennt auch die ultima ratio-Funktion des Strafrecht 1 5 3 .
151 Kuhlen (1993), 71b, Fn. 91. 152 Kuhlen (1986), 396 ff. 153 Kritisch Rengier (1991), 50 ff. - Die Parallele zu den Bestechungsdelikten, die Kuhlen (1993: 722 f) zieht, überzeugt nicht, weil es dort nicht um den an sich geringfügigen Deliktsbeitrag geht, dessen Kumulation zu einer Verletzung des Rechtsguts führt, sondern um die exemplarische Wirkung (die causa exemplaris) eines einzigen Falles von Bestechung oder Bestechlichkeit.
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Die unsichtbare „Cupola" : Kausalitätskrise und kollektive Zurechnung* I. Die Krise der juristischen Kausalität Nicht Brunelleschis architektonisches Meisterwerk, die Kuppel des Florenzer Doms, erscheint vor meinen Augen, wenn ich von der „Cupola" spreche. Vielmehr sehe ich eine häßliche, dunkle Architektur, die brutale Cupola des organisierten Verbrechens, die geheime hierarchische Spitze der Mafia, welche das soziale Leben Italiens überschattet. Gibt es die Cupola oder gibt es sie nicht? Diese Frage hat die italienische Justiz in einem bitteren Streit entzweit. Während die erstinstanzlichen Gerichte zahlreiche Mafiosi allein deswegen zu langen Gefängnisstrafen verurteilt haben, weil sie der Cupola, die über „tutti i grandi delitti" entscheidet, als Mitglieder angehörten, hat das Gericht der höheren Instanz über Jahre hinweg die schiere Existenz dieser Cupola verneint und die „Paten" des organisierten Verbrechens wieder auf freien Fuß gesetzt. Ist die Cupola ein Phantom, ein Phantasieprodukt paranoider Richter? Oder ist sie eine harte soziale Realität, die Juristen zur Kenntnis zu nehmen haben, wenn sie organisiertes Verbrechen und Makrokriminalität überhaupt verstehen wollen? Natürlich ist sie für das Recht weder das eine noch das andere, weder blasse Fiktion noch harte Realität. Die Cupola ist eine Konstruktion der Rechtsarchitektur, die ihre Existenz dem einen Zwecke verdankt, Individuen schon dann strafrechtlich zur Verantwortung ziehen zu können, wenn nur ihre Mitgliedschaft in dieser Quasi-Organisation juristisch bewiesen werden kann. Wer Mitglied der Cupola ist, wird zum Mittäter des mafiosen Delikts, ohne daß eine konkrete Tatbeteiligung * Für wertvolle Mitarbeit und Kritik danke ich Martin Hohlweck, E U I Florenz.
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nachgewiesen werden muß. In der Tat, die Cupola ist eine gewagte Konstruktion. Wie aber könnte man sonst der „MakroKriminalität" beikommen? Die Rechtskonstruktion der Cupola hilft in der Krise der Kausalzurechnung. Sie befreit von den fast unüberwindlichen Schwierigkeiten des individuellen Kausalnachweises und ersetzt kausale durch kollektive Zurechnung. Unter dem Dach der Cupola verwandelt sich Individualhaftung in Kollektivhaftung 1 . Heute zeichnen sich die Konturen einer ähnlichen Cupola auch im Umwelthaftungsrecht ab. Das Bemühen der dortigen Rechtskonstrukteure, die Architektur der Umwelthaftung auf einer stabilen Struktur kausaler Verstrebungen zwischen individuellen Handlungen und ökologischen Schäden zu errichten, wurde durch die Komplexität und Intransparenz der kausalen Wirkungszusammenhänge in den drei ökologischen Medien Luft, Wasser, Boden - zutiefst frustriert. Zusehends schwindet das Vertrauen der Umweltjuristen in die Belastbarkeit der Kausalarchitektur. Sie probieren stattdessen allerhand Hilfskonstruktionen, die zwar in der Theorie noch auf der Kausalstruktur beruhen, in der Praxis sich aber nicht mehr auf individuelle Kausalzurechnung verlassen. Anzeichen dafür sind etwa die immer stärkere Betonung eines spezifisch juristischen Kausalitätsbegriffs, der prima-facie-Beweis, „enhanced res ipsa loquitur", die Beweislastumkehr für Kausalität, der probabilistische Kausalitätsnachweis, die Ausdehnung gesamtschuldnerischer Haftung bei Multikausalität, „market share liability" und Superfund-Haftung. All dies sind neue Formen von „Risikohaftung" 2 , welche die Kausalverbindungen zwischen Handlung und Schaden schwächen oder ganz kappen. Die neue Ri1 Im italienischen Recht gibt es neben der Cupola-Konstruktion noch eine andere Form der Kollektivhaftung: „associazione per delinquere e associazione di tipo mafioso" (art. 416 codice penale). Hier ist die Mitgliedschaft in einer solchen Vereinigung strafbar, während bei der Cupola-Haftung ein Delikt vorausgesetzt ist, bei dem dann der konkrete Tatbeitrag des Mittäters durch die Mitgliedschaft in der Cupola ersetzt wird. 2 Robinson (1985). Die Einzelheiten der verschiedenen Rechtskonstruktionen werden unten im Text noch näher besprochen.
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sikohaftung reißt die zugrundeliegende Struktur der Kausalverbindungen ab und errichtet stattdessen eine übergreifende „Cupola" der Kollektivhaftung 3 . Doch anscheinend scheuen diese grundlegenden Umbauarbeiten das grelle Licht der Öffentlichkeit. Während die Rechts architekten emsig dabei sind, die neue Cupola der Risikohaftung zu konstruieren, tun sie zugleich alles, dieselbe Cupola unsichtbar zu machen. Sie verstecken sie hinter der begrifflichen Fassade der „probabilistischen Kausalität", der „Risikohaftung" , des „lost value", die alle den individuellen Charakter des Risikobeitrages betonen und die kollektive Zurechnung des Schadens verschweigen 4 . George Priest, einer der führenden Konstrukteure der neuen Risikohaftung, leugnet hartnäckig, daß diese Neubauten der Haftung ein „Schwinden individueller Verantwortlichkeit bedeuten oder gar einen Erwartungswandel in Richtung unpersönlicher oder kollektiver Verantwortung". Ganz im Gegenteil, „far from incorporating a diminished view of individual responsibility, the shift of the law's purpose toward risk control represents a vastly expanded commitment to standards of individual responsibility" 5 .
Gegenüber solch bemühten Versuchen, die ökologische Cupola hinter Begriffsfassaden von Individualverantwortlichkeit zu verbergen, möchte ich einige Argumente dafür vortragen, daß es Sinn macht, die Cupola dem vollen Licht der Sonne auszusetzen. Für die Weiterentwicklung grundlegender Prinzipien des Umwelthaftungsrechts dürfte es wichtig sein, genauer zu verstehen, unter welchen Umständen, in welcher Begrifflichkeit und mit welchen Folgen Gerichte und Parlamente die klassische Individualhaftung durch eine neue Kollektivhaftung ersetzen 6 . Insbesondere: Welche Folgen hat diese neue Rechtskonstruktion für die Rechtsdogmatik einerseits und für das reale Handeln der Akteure andererseits? Es ist durchaus nicht von 3 4 5 6
Bush (1986), 1480 ff; Abraham (1987), 859 ff. King ( 1981 ); Robinson ( 1985); Rosenberg ( 1984), 866 ff; Celli (1990), 652 ff. Priest (1990), 214. Bush (1986), 1473.
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vornherein ausgemacht, daß das Umwelthaftungsrecht in der Lage ist, solche Prozesse der Risikokollektivierung ausreichend zu kontrollieren, so daß die sicheren Verluste an individueller Verantwortung tatsächlich von möglichen Gewinnen kollektiver Verantwortung aufgewogen werden. Im wesentlichen hängt dies davon ab, wie selbstorganisierende Prozesse in der sozialen Realität auf die neue Kollektivhaftung reagieren, und davon, wie das Recht seinerseits solche Selbstorganisationsprozesse wahrnimmt und sie rechtlich verfaßt 7 . Ich möchte folgende vier Thesen verteidigen: 1) Wenn die Gerichte zunehmend die Kausalverbindungen zwischen Handlungen und Umweltschäden kappen, dann ziehen sie nur die praktischen Konsequenzen daraus, daß es einer Ökologie von komplex interagierenden Ursachen nicht gerecht wird, Umweltschäden einzelnen Entscheidungen individueller Akteure zuzurechnen. Undurchschaubare ökologische Interdependenzen drängen das Recht dazu, von einer Akteursorientierung auf eine systemische Orientierung überzusetzen. Anstatt den schuldigen Einzelakteur zu suchen, konstruiert das Haftungsrecht neuartige Risiko-Pools, ja geradezu neue formale Organisationen des Risikomanagements, die jedenfalls gegenüber manchen ökologischen Risiken angemessener erscheinen als die traditionelle Kausalzurechnung auf Einzelakteure. 2) Nimmt man den Kollektivcharakter der neuen Haftungsformen ernst, dann stellen sich andersartige Fragen für die Dogmatik des Haftungsrechts, die in der Individualperspektive der Akkusationskausalität nicht sichtbar werden. Die von ihr selbst geschaffenen Risiko-Pools stellen die Rechtsdogmatik vor die Herausforderung, nun auch Kriterien für deren innere Ordnung und deren Außenbeziehungen zu entwickeln. Wo sind die Grenzen eines haftungsrechtlichen Öko-Pools zu ziehen? Wer ist Mitglied? Welche mitgliedschaftlichen Pflichten und welche
7 Zum Thema Ökologie und Selbstorganisation und den Chancen, mit Mitteln des Rechts ökologische Selbstregulierung zu steigern, vgl. die Beiträge in dem Sammelband Teubner (1994).
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Rechte werden auferlegt? Unter welchen Bedingungen wird eine externe Verantwortlichkeit des Pools konstituiert? Wie wird sie nachträglich unter den Mitgliedern aufgeteilt? Kurz, wie kann man ökologische Solidarverantwortung rechtsdogmatisch formulieren? 3) Treten solche kollektiven Rechtskonstruktionen in die soziale Wirklichkeit wieder ein, so setzen sich selbstorganisierende Prozesse kollektiven Handelns in Bewegung. Die Auswirkungen der haftungsrechtlichen Öko-Pools in der Sozialwirklichkeit sind durchaus zwiespältig. Auf der einen Seite sind negative Nebeneffekte kollektiven Handelns zu erwarten - moral hazard, free riding, Verlust von Individualanreizen. Auf der anderen Seite ist es nicht ausgeschlossen, daß sich neue kollektive Formen des Umgangs mit ökologischen Risiken herausbilden, die solche Nebeneffekte aufwiegen und sogar Anreize für ökologische Innovationen schaffen. 4) Stärke und Richtung selbstorganisierender Prozesse werden darüber entscheiden, ob das Umwelthaftungsrecht in der Lage ist, solche von ihm selbst angestoßenen Entwicklungen jedenfalls ansatzweise mit institutionellen Mitteln zu steuern. Negative Wirkungen kollektiven Handelns lassen sich zum Teil dadurch kompensieren, daß man innerhalb des Pools die Kollektiveffekte re-individualisiert. Wichtiger jedoch dürfte sein, positive Tendenzen zum kollektiven Umgang mit ökologischen Risiken rechtlich zu verstärken. Das Recht kann die Bildung von ökologischen Kollektivakteuren so formalisieren, daß sie Umweltrisiken neu verteilen, Umweltverhalten ihrer Mitglieder steuern oder gar neue Umwelttechnologien entwickeln. Dafür dürfte es notwendig werden, die Grenze zwischen „privater" Haftung und „öffentlicher Regulierung" in Formen hybrider Regulierung aufzuheben.
II. Das kollektive Element in der neuen Umwelthaftung Juristen pflegen systematisch zu unterschätzen, welche dramatischen Änderungen eintreten, wenn unter dem Druck öko-
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logischer Schäden die juristischen Kausalketten brechen. Sie nehmen dies lieber als ein bloß rechtstechnisches Problem des Beweisrechts wahr. Man müsse nur die rigiden rechtlichen Anforderungen an den Kausalbeweis ein wenig abschwächen 8 . Entweder ersetzt man den juristischen Vollbeweis durch einen statistischen Wahrscheinlichkeitsbeweis oder man behilft sich mit juristischen Kunstgriffen, mit dem Beweis des ersten Anscheins, mit der U m k e h r der Beweislast, mit widerleglichen oder gar unwiderleglichen Vermutungen. Allenfalls räumen sie ein, daß damit der juristische Kausalitätsbegriff, der sich ja schon längst aus seiner Abhängigkeit von einer rein naturwissenschaftlichen Sichtweise gelöst hat, eine erneute Wandlung durchmacht, eine Wandlung in Richtung statistischer Verursachung und einer bloßen Risiko kausalität 9 . Auf jeden Fall aber blieben die Wandlungen auf den Kausalitätsbegriff beschränkt und ließen das Prinzip der Individualhaftung unangetastet 1 0 . Es scheint als könnten die Juristen den Anblick der Cupola nicht ertragen. Sie wollen nicht sehen, daß sobald das Recht das Kausalerfordernis zwischen Handlung und Schaden auch nur lockert, es mit Notwendigkeit kollektive Formen der Haftung schafft. Schon eine geringe Senkung der Anforderungen an den Kausalbeweis führt dazu, daß individuelle Akteure für Handlungen verantwortlich gemacht werden, die sie nicht begangen haben. Ihre persönliche Verantwortung ist nicht mehr ausschließlich an ihre eigenen Handlungen gebunden, die den Schaden tatsächlich veruracht haben, sondern ist dann teilweise nur noch von einer Cupola gedeckt, die sie und andere A k teure unter ihrem Dach vereint. Sie sind dann Teil einer Risikogemeinschaft, einer, sit venia verbo, Öko-Mafia, für deren Handlungen sie einer Mithaftung nicht entrinnen können. Dies trifft schon dann zu, wenn der volle Kausalbeweis zum bloßen Wahrscheinlichkeitsbeweis abgeschwächt wird. Genau in dem Ausmaß, in dem sich der Vollbeweis vom Wahrschein8 Etwa Nicklisch (1991), 346 ff. 9 Robinson (1985); Celli (1990). 10 Priest (1990).
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lichkeitsbeweis unterscheidet, werden sie mit einem zusätzlichen Haftungsrisiko belastet. Im Ausmaß dieser Differenz müssen sie für Handlungen anderer einstehen, über die sie keine Kontrolle haben. Dieses Zusatzrisiko kollektiver Haftung nimmt zu, je mehr wir uns dem Bereich der Beweislastumkehr oder der Vermutungen nähern. Wenn der Beklagte faktisch oder rechtlich nicht den Beweis erbringen kann, daß seine Handlungen nicht kausal für den Schaden waren, dann bedeutet dies nichts anderes, als daß er für die Handlungen anderer einstehen muß. Wir haben in diesen Fällen eine asymmetrische Kollektiwerantwortung vor uns, eine Art horizontaler vikarische Haftung für fremdes Handeln. Asymmetrisch ist die Haftung insofern, als nur ein Mitglied des Haftungskollektivs, der Beklagte, feststeht, während andere Mitglieder im Nebel der ungeklärten Kausalverhältnisse unsichtbar bleiben. Horizontal ist diese Haftung im Unterschied zur vertikalen Haftung in hierarchischen Organisationen, in denen die Organisationsspitze für das Handeln einfacher Organisationsmitglieder verantwortlich gemacht wird. Symmetrisch wird die vikarische Haftung in den Fällen der Multikausalität, in denen eine ganze Gruppe von potentiellen Schädigern haftet, ohne daß der exakte Kausalbeweis geführt werden konnte, ebenso wie in den neuen haftungsrechtlichen Erfindungen, der market share liability, der SuperfundHaftung, und ganz allgemein in Fällen der bloßen Risikohaftung. In der Sache macht die schiere Mitgliedschaft in einer Gruppe von Risikoträgern für fremdes Individualhandeln verantwortlich. Natürlich kann man dies dennoch „Risikohaftung" , also Verantwortung für den einzelnen Risikobeitrag nennen und damit das individuelle Element betonen. Im Strafrecht macht es auch vom Standpunkt einer Individualhaftung Sinn, in manchen Fällen schon die Setzung einer Gefahr und nicht erst den Eintritt eines Erfolges mit Sanktionen zu belegen. Aber zivilrechtlich geht es primär darum, einen tatsächlich eingetretenen Schaden zu kompensieren. Hier ist die Frage, nicht wer für ein - im übrigen häufig erlaubtes - Risiko mit Sanktionen zu
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belegen ist, sondern wer für die eingetretene Schadensfolge aufzukommen hat. Mag auch das Risiko individuell zurechenbar sein, das eigentlich relevante Element, der eingetretene Schaden, ist nur kollektiv zurechenbar. Wer Mitglied ist, zahlt. Nicht die Handlung, sondern die Mitgliedschaft macht für den Schaden haftbar. Was Priest & Co. mit dem Euphemismus eines „vastly expanded commitment to standards of individual responsibility" belegen, ist also in Wahrheit nur der verzweifelte Versuch von eingeschworenen Individualisten, post factum mit den perversen Effekten ihrer eigenen Manipulation am Kausalitätsbegriff fertigzuwerden. Ihre Sünde wider den Geist des methodologischen Individualismus besteht darin, den statistischen Kausalbeweis als Haftungsgrundlage zugelassen zu haben 1 1 . Der Fluch dieser bösen Tat ist es, daß sie ein Haftungskollektiv gebiert, das im Prinzip keine Grenzen kennt. Deshalb sollte man nicht länger vergeblich versuchen, diesen Effekt herunterzuspielen, sondern sich der radikalen Konsequenz stellen, daß unter der Herrschaft der Risikobeitragshaftung jede Handlung in der Gesellschaft - und jede Unterlassung! - zum Risiko beiträgt 12 . Dann erst wird mit aller Deutlichkeit sichtbar, daß man innerhalb des Groß-Risiko-Pools der Gesamtgesellschaft künstlich neue Grenzen ziehen muß, die mit einer gewissen Willkür kleinere Risiko-Pools schaffen, und daß man mit ähnlicher Willkür innerhalb dieser Pools Verantwortlichkeit re-individualisieren muß. Genau dies tun die Rechtsarchitekten der Cupola: Zuerst kollektivieren sie die Haftung und dann versuchen sie, die Konsequenzen ihres eigenen Handelns dadurch wieder rückgängig zu machen, daß sie die Kollektivhaftung auf die Mitglieder verteilen. Zunächst definieren sie Haftungsregeln für das Kollektiv und dann definieren sie interne Organisationsregeln für die interne Reallokation der Haftung, indem sie die Individualanteile an der Kollektivhaftung bestimmen. 11 Bush (1986), 1493. 12 So selbst Priest (1990: 215), der dann aber hinter seine eigene Position zurückfällt.
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Wie also soll man solch dramatische Veränderungen im Umwelthaftungsrecht verstehen? Offensichtlich lassen sie sich nicht auf Wandlungen nur des Kausalitätsbegriffes reduzieren. Sie führen vielmehr auf die grundsätzlichere Frage, „ob die Zurechnung auf individuelles Entscheiden (sei es rational, sei es intuitiv, gewohnheitsmäßig usw.) überhaupt noch haltbar ist. Oder ob man nicht unabhängig davon einen strikt soziologischen Ansatz ausprobieren sollte, der das Phänomen Risiko nur am Sinn von Kommunikationen erfaßt" 1 3 .
Ein solcher Ansatz würde statt individueller Akteure als risikoerzeugende Einheiten Handlungssysteme identifizieren, Kommunikationsnetzwerke und nicht Einzelmenschen. Er würde sich auf selbstorganisierende Prozesse der Risikokommunikation konzentrieren und nicht auf individuelle Motive und Präferenzen, individuelle Risikowahrnehmungen, individuelle Entscheidungen und individuelle Verantwortlichkeit. Ein solcher soziologischer Ansatz würde damit rechnen, daß in der heutigen Gesellschaft Risiko- und Verantwortungszurechnung auf Kommunikationen auch dann stattfindet, wenn sich gar keine individuelle Entscheidung, geschweige denn ein Kausalnexus zwischen ihr und dem Ökoschaden identifizieren läßt. Die Undurchschaubarkeit von ökologischen Kausalverknüpfungen ist der Grund dafür, daß die grundlegenden Annahmen des Haftungsrechts in eine tiefe Krise geraten sind. Während die Ursachen und Symptome dieser Krise schon ausreichend analysiert sind, ist es heute noch ziemlich unklar, in welche Richtung sich die Umwelthaftung entwickeln wird. Als Ursachen der Krise werden im wesentlichen drei Komplexe genannt, welche die individuelle Kausalzurechnung in Schwierigkeiten bringen 1 4 . Erstens der sogenannte Schmetterlingseffekt, wonach kleine technologische Änderungen nur allmählich akkumulieren, dann aber plötzlich katastrophale Änderungen auslösen können. Zweitens Probleme der Interferenz technologischer Neuerungen. Drittens hochunwahr-
13 Luhmann (1991), 13. 14 Bechmann (1990), 128 ff; Bechmann (1991), 222 ff; Wagner (1990), 27 ff.
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scheinliche Koinzidenzen, wenn zwei oder mehrere Kausalketten in nicht vorhersehbare Weise zusammenlaufen. Symptome der Krise des Haftungsrechts sind auf Spannungen zwischen der neuartigen Risikostruktur in der Ökologie und den Grundbegriffen des Haftungsrechts zurückzuführen 1 5 : 1) Wie soll man noch einen individuellen „Schädiger", die einzelne „Handlung", den abgrenzbaren „Schaden" feststellen, wenn Langzeitschäden zu beurteilen sind, in denen mehrere Kausalketten zusammenlaufen? 2) Wie soll man eine kausale Verbindung zwischen Handlung und Schaden isolieren, wenn multiple oder zirkuläre Kausalität vorliegt? 3) Wie lassen sich potentiell gefährliche Handlungen sinnvoll eingrenzen, wenn alles soziale Handeln risikobehaftet ist? 4) Wie kann man Schadensopfer identifizieren, wenn sie nur eine amorphe Masse darstellen (Umweltschäden, zukünftige Generationen)? Wenn dies heute weitgehend konsentierte Ursachen und Symptome der Krise sind, in welche Richtung wird das Umwelthaftungsrecht von ihnen gedrängt? Hat es schon die absoluten Grenzen seiner Wandlungsfähigkeit erreicht, die von den Komponenten Akteur-Kausalität-Schaden definiert sind? Oder ist das Umweltrecht in der Lage, systemische und kollektive Elemente in die Individualhaftung zu inkorporieren? Hierzu erscheint es erforderlich, das kollektive Element, das in das Umwelthaftungsrecht eindringt, näher zu bestimmen. Offensichtlich haben wir es hier nicht nur mit Kollektivierung des Haftungsrecht in dem uns vertrauten Sinne zu tun, daß die Haftung von einer Zurechnung auf höchstpersönliche Eigenschaften einer „Person" umgestellt wird auf eine Zurechnung auf eine standardisierte „Rolle". Vielmehr ist die Zurechnung auf individuelle Positionen als solche zunehmenden Zweifeln ausgesetzt. Doch ist es auch zu einfach, hier wie Bush (1986) 15 Rabin (1987), 27 ff; Brüggemeier (1991), 297 ff; Brüggemeier (1994); Luhmann (1991), 99 f; Schmidt (1991), 378 ff.
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und Abraham (1987) nur von einer allgemeinen Tendenz zu kollektiver Haftung zu sprechen 16 . Ebensowenig einschlägig sind die Standardfälle kollektiver Haftung - Haftung für fremdes Handeln (§§ 31,278, 831 BGB) - in denen Manager in den höheren Rängen einer Organisation oder die Organisation selbst für die Handlungen von Organisationsmitgliedern verantwortlich gemacht werden. In diesen Fällen zielt die „policy" des Haftungsrechts nicht nur darauf, den Opfern bessere Ausgleichsmöglichkeiten zu verschaffen, sondern besonders darauf, die Risikowahrnehmung ganzer Organisationen statt der individueller Akteure zu verändern 1 7 . Aber in unseren Fällen kollektiver Umwelthaftung gibt es keine schon existierende Organisation, keine bestehende Hierarchie, kein schon definierter Kollektivakteur, der als Zurechnungsendpunkt dienen könnte. Auch nicht vergleichbar sind Situationen des „piercing the corporate veil", des Haftungsdurchgriffs im Konzernrecht oder im Vertragsrecht, in denen die traditionellen Grenzen der Haftungsbeschränkung von Korporationen oder des Relativitätsprinzips des Vertrages überschritten werden 1 8 . Denn auch in diesen Fällen bezieht sich das Recht auf schon existierende Kollektivakteure oder auf relativ stabile vertragliche Arrangements und macht die Gesamtorganisation verantwortlich für das Handeln ihrer Mitglieder. Zwar redefiniert das Recht die kollektiven Einheiten nach seinen Haftungspolicies, oft genug gegen die Absichten seiner Gründer. Aber solche Ausdehnungen individueller Haftung können doch die Grenzen eines schon vorweg existierenden kollektiven Arrangements nicht überschreiten. Anders ist die Lage, wenn das neue Recht der Risikohaftung einfach ganze Produktmärkte finanziell haften läßt oder wenn es die sogenannten „bubbles" der Luftverschmutzer oder ganze umweltverseuchte Regionen verantwortlich macht. Hier verläßt es endgültig die Akteursperspektive, weil es nicht einmal 16 Köndgen (1991), 105. 17 Brüggemeier ( 1994); Hofstetter ( 1994). 18 vgl. Hofstetter (1994); Adams/Brownsword (1990).
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mehr nach Kollektivakteuren sucht, und konzentriert sich auf Risikokommunikation als solche. Riskante Kommunikationen entstehen innerhalb sozialer Konfigurationen, die sich nicht als formale Organisationen identifizieren lassen. Und das Recht rechnet die Verantwortung der Risikokommunikation direkt zu - einem Produktmarkt, einer kontaminierten Region, einer „Luftblase". Es macht also Handlungssysteme selbst verantwortlich, ohne sich um deren Eigenschaft als organisierte Willensbildungseinheiten zu kümmern. Der entscheidende Unterschied der neuen Risikohaftung zu bekannten Formen der Organisationshaftung besteht demnach darin, daß das Haftungsrecht sich nicht mehr auf bestehende korporative Arrangements bezieht, sondern selbst neuartige Risikonetzwerke definiert. Es versucht nicht bloß, die Risikowahrnehmung existierender Kollektivakteure zu beeinflussen, die als Resultat von Organisationsentscheidungen schon in der sozialen Welt sind. Vielmehr sucht es, unkoordinierte Risikokommunikation in einem diffusen sozialen Feld dadurch zu beeinflussen, daß es diesem Feld ein kritisches Risikomaß zuschreibt. Und sobald individuelle oder kollektive Akteure in einen solchen kommunikativen Raum geraten, werden sie Zwangsmitglieder eines solchen Risikopools - also nicht kraft privatautonomer Entscheidung, sondern kraft autoritativer Anordnung des staatlichen Rechts. Sie sind dann in der Kollektivhaftung ohne Rücksicht auf ihren Willen und ohne Rücksicht auf den Kausalzusammenhang zwischen den von ihnen individuell verantwortbaren Handlungen und dem eingetretenen Umweltschaden. In manchen Fällen geht das Umwelthaftungsrecht noch einen Schritt weiter. Modernes Umweltrecht scheint von Bismarcks Zwangsgenossenschaften der Sozialversicherung inspiriert, wenn es - wie es in der deutschen Diskussion zu den Umweltgenossenschaften vorgeschlagen wird 19 und wie es in der amerikanischen Superfund-Haftung tatsächlich geschieht 20 neue Risikoorganisationen gründet. Hier werden nicht nur ein19 Kinkel (1989), 297; Rehbinder (1989), 161; Wagner (1990), 52 ff. 20 Stewart (1991).
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fache Haftungspools eingerichtet, sondern es werden Zwangsorganisationen mit kollektiver Handlungsfähigkeit ausgestattet. Die Verantwortung der Pools besteht nicht nur für den finanziellen Ausgleich ökologischer Schäden, sondern für den kollektiven Umgang mit den Umweltrisiken selbst. Es werden neue kollektive Einheiten des Risikomanagements geschaffen, in denen kollektive Haftung mit aktiver Regulierung kollektiver Innovation zusammenfällt . Angesichts solch weitreichender Veränderungen versteht man nun besser, wieso manche Haftungsrechtler emphatisch vor jeglicher Manipulation des Kausalzusammenhangs warnen 2 2 . Was so harmlos begann als eine Forderung der Billigkeit - im Falle komplexer Kausalzusammenhänge die Opfer nicht ohne Schadensausgleich zu lassen - stellt sich nun als eine grundsätzliche Umwandlung von Individualhaftung in kollektive Risikopoolung heraus. Die Manipulationen am Kausalzusammenhang erscheinen ihnen als ein „overshooting" : „Das Dilemma jeglicher Fortentwicklung im Bereich der Kausalität besteht allerdings darin, daß ein Überdrehen der Kausalitätsschraube zu einer Übermaßhaftung führt, die mit falschen Präventionsanreizen verbunden ist und die Ressourcenallokation verfälscht, da derjenige mit Kosten belastet wird, der den Schaden nicht verursacht hat und ihn deshalb auch nicht vermeiden kann" 2 3 .
Mit diesem zunächst plausiblen Argument übersehen sie jedoch zwei wesentliche Gesichtspunkte. Erstens wäre es nicht nur unbillig, sondern zugleich ineffizient, wenn in den Fällen undurchschaubarer Kausalzusammenhänge die Opfer ohne Ausgleich blieben. Denn dann bestünden nicht nur schwache, sondern gar keine Präventionsanreize und die Ressourcenallokation wäre noch mehr verfälscht 24 . Denn in diesen Fällen steht man gar nicht vor der Wahl kollektive versus individuelle Haftung, sondern, da der fehlende Kausalnexus individuelle Haftung über-
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Rose-Ackerman (1990), 746. Epstein (1985), 1377; Medicus (1986), 781, 785; Abraham (1987), 898. Rehbinder (1989), 157; vgl. auch Assmann (1988), 111. So auch Rehbinder (1989), 157.
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haupt konterkariert, kollektive Haftung oder gar keine Haftung. Zweitens treffen sie zwar genau den kritischen Punkt, wenn sie argumentieren, daß individuelle Akteure für Schäden verantwortlich gemacht werden, die sie nicht verursacht haben. Doch übersehen sie die Cupola als verantwortlichen Kollektivakteur. Sie unterschätzen systematisch das Potential kollektiver Handlungs- und Verantwortungszurechnung. Dies hängt eng damit zusammen, daß sie unter den Prämissen des methodologischen Individualismus selbst klargeschnittene Kollektivakteure nicht mehr wahrnehmen, sondern in einen bloßen N e x u s von Individualverträgen auflösen. Deshalb halten sie an individueller Zurechnung auch in Situationen fest, von denen sie wissen, daß es nicht nur inadäquat, sondern von vornherein ausgeschlossen ist, kausale Verbindungen herzustellen. Sobald man aber einräumt, daß in solchen Situationen Risiko, Handlung, Kausalität und Verantwortung Risiko-Pools zugerechnet werden können, die das Recht selbst durch „Fiat" geschaffen hat, dann sieht man auch, daß das Recht dann in der Tat die Handlungseinheiten mit Kosten belastet, die den Schaden tatsächlich verursacht haben und die auch dazu beitragen können, den Schaden zu vermeiden. Freilich muß man dann Anreize und Ressourcenallokation umdenken, weil man jetzt weder mit Individuen noch mit schon existierenden Kollektiven zu tun hat, sondern mit neugeschaffenen Risikokollektiven.
III. Die Umrisse der Cupola Wenn die Architekten des neuen Haftungsrechts die Kausalverstrebungen der individuellen Verantwortung durch die Cupola kollektiver Haftung ersetzen, dann stellen sich ihnen eine ganze Reihe neuartiger Konstruktionsprobleme. Wie weit kann man die Kuppel ausdehnen, ohne daß das ganze Bauwerk zusammenbricht? Welche Personenkreise sollen unter dem Dach der Cupola als Mitglieder erfaßt werden? Welche Pflichten legt die Mitgliedschaft in der Cupola den Mitgliedern auf? Wie soll
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die Gesamthaftung der Cupola unter den Mitgliedern aufgeteilt werden? Vorrangige Frage für die Rechtsdogmatik ist, wie der Risikopool zu identifizieren ist. Wenn die Kausalverbindungen abgebrochen sind, dann wird es außerordentlich schwierig, vernünftige Grenzen der Haftung für risikoerzeugende Aktivitäten zu finden. Wie schon gesagt, potentiell trägt jede soziale Kommunikation zum ökologischen Risiko bei. „Almost every human action will increase the probability of loss in all contexts. It follows, thus, that under modern conception of risk, no action is ever truly innocent" 2 5 . Und die eigentliche Frage heißt jetzt, wie weit man die Durchsetzung von Haftungsstandards treiben will, die nur auf Schadenswahrscheinlichkeiten gestützt sind 26 . Gesucht: Kollektivakteur - so könnte man die Aktivitäten der Gerichte umschreiben, die, nachdem der Verlust der Individualakteure einmal feststand, eine neue Lösung für multiple Kausalität suchten. Im Unterschied zu den Versuchen, das Problem zu einer rein technischen Beweisfrage zu machen, waren die eher anspruchsvollen dogmatischen Anstrengungen darauf gerichtet, praktikable Kriterien für ein handlungsfähiges Kollektiv, eine zweckgerichtete Organisation oder wenigstens eine lose Form planvoller Zusammenarbeit zu entwickeln, mit deren Hilfe man kollektive Haftung begründen könnte. In den USA war „concerted action" der einschlägige deliktsrechtliche Begriff, wonach gemeinschaftliche Haftung auferlegt wurde, „all those who in pursuance of a common plan or design to commit a tortious act, actively take part in it, or further it by cooperation and request, or who lend aid or encouragment to the wrongdoer, or ratify and adopt the wrongdoer's acts done for their benefit" 2 7 .
Diese Doktrin identifiziert ein Kollektiv über bestimmte Eigenschaften der beteiligten individuellen Akteure (Kooperationsabsicht) und über bestimmte Eigenschaften ihrer Handlun25 Priest (1990), 215. 26 Robinson (1985), 796. 27 Prosser/Keeton (1984), 323.
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gen (Verwobenheit). Sie lehnt sich s o eng wie möglich an das ursprüngliche H a n d l u n g s m o d e l l an: „the act of one is the act of all, and liability f o r all that is d o n e is visited on e a c h " 2 8 , ö k o l o g i s c h e Risiken jedoch beugen sich nicht der L o g i k der K o o p e r a t i o n und gehorchen nicht der D o k t r i n der „concerted action". A u s d r ü c k l i c h e Vereinbarungen, die U m w e l t zu schädigen, sind nicht gerade häufig, klammheimlicher K o n s e n s ist schwer z u beweisen. D i e ganze K o n s t r u k t i o n scheint auf die typische Konstellation multipler Kausalität nicht z u passen. D a n n versuchten die Gerichte es mit der sogenannten „enterprise liability", indem sie die A n f o r d e r u n g e n an bewußtes, geplantes und zweckgerichtetes Zusammenarbeiten noch weiter z u r ü c k s c h r a u b t e n 2 9 . Im Fall Hall vs. DuPont gab sich das Gericht schon damit zufrieden, ein bloßes „joint enterprise" zwischen ansonsten unabhängigen A k t e u r e n zu identifizieren, sofern nur eine gemeinsame Risikokontrolle in F o r m gemeinsamer Sicherheitsstandards u n d der Funktionsdelegation an einen Industrieverband b e s t a n d 3 0 . Eine förmliche „joint venture" braucht nicht nachgewiesen zu werden, es genügen schon Beweise über gemeinsame F o r s c h u n g , gemeinsame P r o d u k t p r ü f u n g e n und gemeinsame L o b b y a k t i v i t ä t e n 3 1 . A l s M i nimalerfordernis für diese F o r m der Kollektivhaftung gilt ein unzureichender industrieweiter Sicherheitsstandard f ü r die Güterherstellung 3 2 . D o c h auch diese H a f t u n g s f o r m ist der typischen Risikostruktur wenig angemessen und sollte sich selbst als kontra-produktiv herausstellen. Sie kann nicht F o r m e n des bloßen Parallelverhaltens der Hersteller erfassen 3 3 . J a , sie privilegiert das umweltschädigende Parallelverhalten gegenüber Versuchen, das Schadensrisiko durch kollektive Anstrengungen zu begrenzen. Diese werden mit „enterprise liability" belegt, 28 29 30 31
Prasser & Keeton (1984), 346. Sheiner (1978), 995-1006; Podgers (1980), 827. Hall v. DuPont, 345 F. Supp. 353 (E.D.N.Y. 1972), at 375-6. C o n n o r ν. Grand Western Savings & L o a n Association (1968) 69 Cal. 2d 850. 32 Sheiner (1978), 995. 33 Bush (1986), 1483; Spitz (1990), 626.
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während das rein individuelle Parallelverhalten ohne jeden Versuch der kollektiven Risikokontrolle haftungsfrei bleibt. „Enterprise liability" hat also die nichtbeabsichtigte Nebenfolge, negative Anreize für industrieweite Zusammenarbeit in der Risikokontrolle zu setzen. Dann erscheint es nur folgerichtig, die vergebliche Suche nach dem Kollektivakteur aufzugeben und den Markt selbst als die Haftungseinheit zu wählen, und dies obwohl der Markt gerade keine kooperativen, sondern nur kompetitive Strukturen aufweist. Genau dies geschah mit Hilfe der berühmten „market share liability" 34 . Damit werden endgültig alle Versuche, jedenfalls Spuren einer übergreifenden Organisation, sei es eines Unternehmens, einer Unternehmensgruppe, sei es eines Kooperationsnetzes, letztlich aufgegeben und durch die Suche nach den „relevanten Markt" ersetzt. Sobald ein Akteur in einen Markt eintritt, wird er für die U m weltrisiken, die im Markt entstehen, verantwortlich gemacht. Diese kühne Idee steht im klaren Widerspruch zu traditionellen Grundsätzen der Kollektivhaftung 35 . Kollektivhaftung setzt Zusammenarbeit, gemeinsame Aktivitäten, gemeinsame Kontrolle voraus 3 6 . Der Konkurrenzmarkt aber ist das genaue Gegenteil eines gemeinsamen Unternehmens als plausible Basis einer Kollektivhaftung. Wie kann ich für die Handlung meiner Konkurrenten haftbar gemacht werden, wenn ich mit ihnen nicht zusammenarbeite, im Gegenteil alles tue, um sie zu bekämpfen, und wenn ich zudem keinerlei Kontrollmöglichkeiten über ihre Handlungen besitze. Das widerspricht diametral auch dem Laienverständnis, wonach „companies are liable only for the harm their own product does, not for their rivals' damage" 3 7 . Und auch die anteilmässige Begrenzung der „market share liability" auf meinen Marktanteil verändert die Sachlage nicht. Denn auch mit der Anteilshaftung werde ich
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Dazu Abraham (1987), 861 ff. Bush (1986), 1477. French (1982), (1984). The Economist, Feb. 29,1992, 16.
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für schädigende Handlungen anderer verantwortlich gemacht. Die Anteilsbegrenzung nimmt nur die ohnehin später fällige individuelle Schadensaufteilung vorweg, ohne die prinzipielle „Ungerechtigkeit" einer Markthaftung zu beseitigen. Die deutsche Rechtsentwicklung kennt durchaus ähnliche Tendenzen mit ähnlich dilemmatischen Ergebnissen 38 . Das B G B kennt die gesamtschuldnerische Haftung von Mittätern, wenn jeder einzelne Beteiligte den ganzen Schaden hätte verursachen können und die schadensverursachende Handlung gemeinschaftlich begangen wurde (§ 830 I 2 BGB). Ursprünglich verlangte die Rechtsprechung eine echte Kooperation zwischen den Beteiligten, zumindest aber ein gemeinsames Bewußtsein in dem Sinne, daß jedem Beteiligten die gefährlichen Handlungen der anderen Beteiligten bewußt gewesen sein mußten. Aber die Anforderungen an diese Verbindungen wurden immer mehr gelockert, so daß heute eine gewisse „räumliche oder zeitliche Einheit" genügt. Der B G H geht sogar so weit, die Beweislast umzukehren, wenn die Verbindung zweier Kausalketten die Feststellung individueller Verursachung unmöglich macht 39 ein Ergebnis, daß von akademischen Kommentatoren als prinzipienlose Billigkeitsrechtsprechung kritisiert wird 4 0 . Während der Vorarbeiten für das neue Umwelthaftungsgesetz 41 wurde ernsthaft erörtert, in bestimmten ökologischen Schlüsselbereichen das Erfordernis der „alternativen Kausalität" aufzugeben und den Verschmutzer bereits dann gesamtschuldnerisch haften zu lassen, wenn er zu dem ökologischen Risiko beigetragen hatte. Die endgültige Fassung des Umwelthafungsgesetzes ist allerdings wesentlich enger: § 6 UmweltHG begründet eine Vermutung für die Kausalität eines Anlagenbetreibers unter bestimmten Umständen, und § 7 UmweltHG erweitert diese Vermutung für den Fall mehrerer Betreiber.
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Medicus (1986); Assmann (1988); Brüggemeier (1991); Köndgen (1991). B G H Z 66, 70 - „Steinbruch" - 1976. Köndgen (1991), 101 f. Gesetz über die Umwelthaftung vom 10. 12. 1990, BGBl. I, S. 2634.
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Die deutschen dogmatischen Entwicklungen führen zu etwas anderen Resultaten als ihre amerikanischen Gegenstücke. Etwas haben sie allerdings gemeinsam: Ich behaupte, daß auch das deutsche Haftungsrecht ein Handlungs- und Haftungskollektiv in Fällen nicht-kooperativen Verhaltens neu konstituiert. Die Gerichte fahnden nicht mehr nach einem vorhergehenden bewußten Zusammenwirken als Voraussetzung kollektiver Haftung. Sie haben die Verbindung zwischen rechtlicher Kollektivhaftung und dem Tatbestand gemeinschaftlichen Verhaltens, der Existenz einer festgefügten Gruppe oder gar eines ausgewachsenen korporativen Akteurs in der sozialen Realität gekappt. Sie suchen nicht mehr nach Kollektiven in der sozialen Welt, sondern erschaffen das Kollektiv schlicht durch Richterspruch. Diese Innovation löst ein Problem und schafft gleichzeitig ein neues. Wenn das Kollektiv nicht in der sozialen Realität vorgegeben ist, worauf sich das Recht bei der Zurechnung kollektiver Verantwortlichkeit beziehen könnte, welchem Grundsatz folgt dann die künstlich-autoritative Schaffung eines Risikopools durch das Recht? Die amerikanische Erfahrung würde für den Markt als die risikoerzeugende Einheit sprechen. Aber welcher ist der „relevante Markt" : der lokale, der regionale, der nationale, der globale Markt? Ist die Haftung nach Marktanteilen angemessen, wenn der Schaden geographisch weit entfernt von einem industriellen Verschmutzer in diesem Markt auftritt? Und warum Markt- und nicht Branchenhaftung? In dem berühmt-berüchtigten DES-Fall war die Wahl des nationalen Marktes der USA eine überzeugende Lösung, um die gefährlichen medizinischen Produkte abzugrenzen, aber ist der Markt überhaupt ein verallgemeinerungsfähiges Kriterium für Fälle ökologischer Haftung? Die deutsche Lösung arbeitet mit den Kriterien einer abstrakten „räumlichen oder zeitlichen Einheit riskanter Betätigungen" oder eines ähnlich abstrakten „unaufklärbaren Zusammenwirkens von Ursachenzusammenhängen". Beide Kriterien leiden unter der üblichen Schwäche deutscher Abstraktionen: theore-
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tisch vielleicht einleuchtend, aber zu unbestimmt und zu allgemein, um praktisch brauchbar zu sein. Ich schlage vor, den Risikopool nicht mehr durch soziale Kriterien (kooperative oder korporative Strukturen) zu bestimmen zu versuchen. Er sollte vielmehr als ökologischer Problembereich definiert werden, dessen Grenzen durch die Eignung für kollektives Risikomanagement zu bestimmen sind. Letztlich entscheidend sind weder ökologische Kausalzusammenhänge noch vorgegebene kooperative Strukturen - so wichtig beides auch sein mag - , sondern zentrales Kriterium sollte die Fähigkeit des Pools zum Risikomanagement sein. Zugegeben, das ist „opportunistische" Zurechnung 4 2 , in diesem Fall nicht kausaler, sondern kollektiver Art. Für den Zweck der kollektiven Haftung identifiziert das Recht konkrete ökologische „Risikogebiete" (einen See, einen Fluß, eine Landschaft, einen Luftraum, eine Produktionskette, einen ökologischen Kreislauf) mit dem Hintergedanken, ein soziales Gebilde zu schaffen, das diese Risiken beherrschen kann oder das wenigstens zur Schadensabwicklung herangezogen werden kann. Unter Risikomanagement verstehe ich hier erstens die Abwicklung bereits entstandener Schäden. Das Recht gestaltet das Kollektiv so, daß in Fällen mehrfacher Kausalität die Schäden ausgeglichen werden können, indem es einen ausreichenden finanziellen Pool schafft, der die Verluste abdeckt und das Risiko verteilt („deep pocket", „risk spreading"). Zweitens - und das ist womöglich wichtiger - bedeutet Risikomanagement die kollektive Steuerung zukünftigen Verhaltens 43 . Das Recht zieht die Konturen des Risikopools derart, daß eine realistische Basis für eine aktive und gemeinsame Prävention von Risiken in Gebieten geschaffen wird, wo ökologische Probleme konzentriert sind. Unter beiden Gesichtspunkten isoliert das Recht den sozialen Bereich kollektiver Verantwortlichkeit unter Heranziehung ökologischer, geographischer und gesellschaftlicher Kriterien, so daß sich eine funktionsfähige gemeinsame Techno42 Luhmann (1991), 47, und nicht Williamson (1985), 129. 43 Bush (1986), 1553 ff.
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logie zur Bewältigung ökologischer Risiken entwickeln kann. In Konfliktfällen könnten sogar ökologische Zusammenhänge übergangen werden, wenn sich dennoch vernünftige Grenzen für ein solches soziales Gebilde finden lassen. Zugegebenermaßen bietet diese Formel keine vergleichbar scharfe begriffliche Abgrenzung des Kollektivs wie sie die herkömmliche Suche nach vorgegebenen hierarchischen oder kooperativen Gebilden in der Sozialwirklichkeit anbieten konnte. Es handelt sich eher um einen „policy-mix", der über eine vernünftige Zusammenfassung der Risiken entscheidet. Die Situation gleicht dem „strategic policy-mix", den Versicherungen benutzen, wenn sie die Versicherten in verschiedene Risikokategorien einteilen 44 . Die Formel ist deutlich umfassender als die von der amerikanischen Doktrin bevorzugte Konzentration auf einen Markt und die jeweiligen Risikobeiträge, andererseits aber enger als die deutsche Abstraktion einer räumlich-zeitlichen Einheit, die auf Kriterien zur Bestimmung dieser Einheit verzichtet. Die Formel erlaubt es, die ganze Bandbreite möglicher ökologischer Risikopoole zu identifizieren, die kollektive Haftung auslösen. Mit ihr lassen sich nicht nur bestimmte Produktmärkte, sondern auch ökologische Ketten, kontaminierte Areale, vergiftete Seen und Flüsse, „pollution bubbles" und andere ökologische Problemgebiete erfassen. Ausschlaggebendes Kriterium sollte aber meiner Ansicht nach die Möglichkeit eines ökologischen Risikomanagements sein. Im Lichte dieser Formel wäre „market share liablity" nur eine unter mehreren Möglichkeiten, ein ökologisches Problemgebiet nach seiner Eignung für Risikomanagement auszusuchen. Im Fall gefährlicher Produkte, die auf einem bestimmten Markt vertrieben werden, liegt es in der Tat nahe, das ökologische Risikogebiet anhand dieses Marktes zu bestimmen: " . . . the industry rather than the individual manufacturer should be the focal point for liability because it can best allocate risks, distribute costs, and take preventive measures«45
44 „Risk classification", Abraham (1988), 949; Eubank (1991), 194. 45 Sheiner (1978), 1002-4.
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Das Folgeproblem, wie der „appropriate market" 46 zu bestimmen ist - im Hinblick auf seine geographische Ausdehnung und auf die Identität des Produkts -, sollte nicht nur anhand seiner ökonomischen Eigenschaften (Substituierbarkeit des Produkts, Marketingstrategien, Intensität der Transaktionen) gelöst werden, sondern ganz offen mit Hilfe der Kriterien eines ökologischen Risikomanagements. Häufig ist es durchaus unklar, ob der „appropriate market" der lokale, der nationale oder der globale Markt ist. Die Entscheidung sollte dann nicht ohne Rücksicht auf folgende Überlegungen getroffen werden: Ist die Bestimmung des Marktes weit genug, um die Schäden finanziell ausgleichen zu können? Wird die Bestimmung des Marktes zu einer akzeptablen Risikoverteilung führen? Ist sie andererseits eng genug, um den beteiligten Akteuren die Möglichkeit zur Kooperation und zur Entwicklung einer dezentralisierten Risikokontrolle zu eröffnen? Gibt es realistische Möglichkeit kollektiven Risikomanagements? Im Fall Hall v. Dupont spielten diese Überlegungen eine erkennbare Rolle. Das Gericht betonte, seine Regel sei nur anwendbar auf " . . . industries composed of a small number of units. What would be fair and feasible with regard to an industry of five to ten producers might be manifestly unreasonable if applied to a decentralized industry composed of thousands of small producers" .
Die Haftung nach Marktanteilen löst eine partielle horizontale Integration der betroffenen Unternehmen aus. Das Haftungsrecht schafft sozusagen „joint ventures" für kollektives Risikomanagement in einem bestimmten Markt. Das ist sinnvoll, wenn - wie im DES-Fall - ein einheitlicher Markt für die gefährlichen Produkte existiert. Unter anderen Umständen bestehen allerdings andersartige ökologische Risiken. In einer ökologischen Kette können die typischen Gefahren nur erkannt werden, wenn man die verschiedenen Produktions- und Absatz46 Spitz (1990), 619 ff. 47 345 f. Supp. 353 ( E . D . N . Y . 1972) at p. 378.
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stufen betrachtet: Bezug von Rohstoffen, Produktion, Vertrieb, Verbrauch und Abfallentsorgung. In diesen Fällen ist anstatt einer horizontalen eher eine partielle vertikale Integration angezeigt. Das Haftungsrecht sollte eine vertikale Haftungskette schaffen, die die Herausbildung neuer Formen vertikalen Risikomanagements entlang der verschiedenen Phasen des Produktionsprozesses stimulieren könnte. In Japan und Deutschland wurden bereits Erfahrungen mit ökologischen Vereinbarungen zwischen den Firmen einer Produktionskette gesammelt 48 . Das Haftungsrecht sollte nicht zögern, durch die Drohung mit seinen drastischen finanziellen Sanktionen solche Vereinbarungen zu erleichtern. Dem amerikanischen „Superfund" liegt wiederum ein anderes Prinzip zugrunde 49 . Hier werden nicht sozio-ökonomische Konfigurationen haftbar gemacht - weder formale Organisationen wie bei der „enterprise liability", noch Märkte wie bei der Haftung nach Marktanteilen, noch vertikale Produktionsketten. Statt dessen definiert das Recht soziale Einheiten nach geographischen Kriterien. Kontaminierte Landschaften sind die neuen ökologischen Problembereiche, zu denen bestimmte Akteure in einer engen Beziehung stehen. Das Recht schafft ein Zwangskollektiv dieser reichlich heterogenen Akteure - Landeigentümer, Produzenten gefährlicher Stoffe, Transportunternehmer und Manager des kontaminierten Grundstücks - , die es gesamtschuldnerisch für die Schäden und für die Kosten der Wiederherstellung haftbar macht. Die „Einheit" des Risikomanagements ist ein bestimmtes soziales Arrangement, das um einen geographischen Risikobereich herum zentriert ist. Das Recht des „Superfund" räumt der zuständigen Umweltbehörde einen weiten Ermessensspielraum ein, um den ausgedehnten Risikopool der kontaminierten Stätte selber zu definieren, aber auch, um innerhalb dieses Pools eine Kerngruppe von Akteuren auszuwählen, die über die notwendigen Ressourcen und über
48 Weidner, Rehbinder & Sprenger (1990). 49 Stewart (1991).
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die notwendige Expertise für ein effektives Risikomanagement verfügen 5 0 . „Bubbles" sind vergleichbare kollektive Risikoeinheiten, die durch geographische Grenzen definiert werden. Gruppen von industriellen Luftverschmutzern werden in einer (un)sichtbaren „Cupola" zusammengefaßt, für die globale Grenzwerte der Belastung festgelegt werden. Innerhalb dieser „bubbles" können dann individuelle Verschmutzungsrechte gehandelt werden 5 1 . Werden aber die Grenzwerte überschritten, treten Probleme kollektiver Haftung auf 5 2 . Haftung nach Verschmutzungsanteilen - „pollution share liability" - könnte eine Antwort sein. Interessanter noch sind die Fälle, in denen der Handel mit Verschmutzungsrechten zu perversen Effekten führt, wenn sich zum Beispiel „hot spots" bilden, unerwünschte lokale Verschmutzungskonzentrationen innerhalb der globalen Grenzen der „bubble". Die dann entstehenden neuen kollektiven Haftungsprobleme können auf den Staat als den Initiator der „bubble" verlagert werden 5 3 ; mit dem gleichen Recht kann man sie aber auch auf das Verschmutzerkollektiv, auf die „Bubble" selber verlagern 54 . In Deutschland läuft eine lebhafte Debatte, ob und wie man regional dezentralisierte Umweltgenossenschaften schaffen könnte, die kollektive Haftung mit kollektivem Risikomanagement verbinden würden 5 5 . Sie könnten auf dem altbekannten Institut der Wasserverbände aufbauen, die Schäden durch Wassernutzung und Bergbau kollektiv regeln. Sie müßten nur ihren Satzungszweck entsprechend den neuen ökologischen Bedürfnissen neu bestimmen. „Der Zusammenschluß aller Schadstoffeinleiter eines Flußlaufes bzw. aller Luftverschmutzer eines Raumes in je einer Genossenschaft bietet einzigartige
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Stewart (1991), 112. Dales (1968); Raufer & Feldman (1987). Keeler (1991). Roberts (1982), 1026 ff; Peeters (1991), 162. Boucquey (1994). Bohne (1987); Kinkel (1989), 295 f; Rehbinder (1989), 161; Wagner (1990).
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Möglichkeiten sachnaher, regionalen Besonderheiten Rechnung tragender U m weltvorsorge. D a der Eintritt von Umweltschäden in aller Regel eine Frage der Dosis, also der Schadstoffkonzentration und des Expositionszeitraums ist und der Großteil der Emissionen in Emittentennähe niedergeht, wären regionale Zuständigkeiten im Bereich der Umweltvorsorge empfehlenswert" 5 6 .
Aus dem Zitat wird deutlich, daß regionale und dezentralisierte Risikopools gerade wegen ihrer Eignung für kollektives Risikomanagement bevorzugt werden. Wenn die Konturen der ökologischen „Cupola" entsprechend dem betroffenen ökologischen Problembereich ausgeformt sind, bleibt die weitere Frage zu klären, welche Aktivitäten von ihr überdeckt werden sollen. Wer ist Mitglied des Risikopools? Wieder scheint mir die Eignung für kollektives Risikomanagement entscheidend zu sein. Es ist kein Zufall, daß die deutsche Rechtsprechung, als sie über die Verantwortlichkeit des Staates für das „Waldsterben" entschied, im Laufe ihrer Begründung eine kollektive Haftung der Autofahrer nicht in Erwägung zog, obwohl Autofahren der wichtigste Ursachenkomplex in diesem ökologischen Problembereich ist 57 . Der Grund für den Ausschluß der wichtigsten „Ursache" ist eine schlichte Zweckmäßigkeitserwägung. Geringfügige Beiträge von Millionen von Autofahrern, die gemeinsam zu einem schwerwiegenden Risiko beitragen, schafft eine besondere Risikosituation, die es höchst unzweckmäßig macht, eine kollektive Haftung anzunehmen. Diese Situation ist nicht typisch für die neue kollektive Haftung, die eine nicht zu große Gruppe von Risikoverursachern zu einem aktiven gemeinsamen Risikomanagement veranlassen könnte, sei es auf der Basis der „deep pocket", sei es auf der Grundlage einer gemeinsamen institutionellen Risikokontrolle. Aktives gemeinsames Risikomanagement bezieht sich auf relative kleine „homogen zusammengesetzte, überschaubare, interaktive Kollektive" 58 . Das führt zu einer Definition der haftungsrechtlichen Risikopools,
56 Wagner (1990), 112. 57 B G H Z 102, 350, 362 f. 58 Wagner (1990), 109; Kinkel (1989), 296.
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die den Durchschnittsbürger mit kumulierenden Kleinrisiken auschließt und sich statt dessen auf „corporate, professional, and governmental defendants" konzentriert und so Risiken effektiver vorbeugt und sie besser verteilt 59 . Ein ähnliches Prinzip findet sich in der market share liablity. Häufig ist die Tendenz zu verspüren, die Haftung nur auf „substantielle" Risikoverursacher zu erstrecken 60 . Das gleiche gilt für die Haftung mehrerer Verschmutzer gemäß § 22 Wasserhaushaltsgesetz. Der amerikanische „Superfund" kennt eine „de minimis" -Klausel, die es der zuständigen Behörde erlaubt, sich mit Verursachern, die nur geringfügige Beiträge geleistet haben, finanziell zu vergleichen, und sich auf die großen und mächtigen Mitspieler zu konzentrieren 6 1 . In all diesen Fällen ist die juristische Haftung an eine bestimmte soziale Handlungsfähigkeit geknüpft. Schließlich stellt sich das Problem, welche Pflichten den individuellen Mitgliedern der „Cupola" auferlegt werden. Für einzelne Unternehmen im Pool zeichnen sich heute schon die Umrisse einer „ökologischen Loyalitätspflicht" ab, ganz parallel zu der wohlbekannten gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht. Zum Beispiel regelt § 5 BImSchG eine „ökologische Organisationspflicht" 6 2 . Ähnliche Entwicklungen finden auch oberhalb des Niveaus der Einzelunternehmen statt. Wieder können die „hot spots" in „bubbles" als Beispiel dienen 63 . In einem Markt für Verschmutzungsrechte steht es den Teilnehmern frei, so viele Rechte zu kaufen und zu verkaufen wie sie wünschen. Aber der institutionelle Kontext legt ihnen Treuepflichten, „fiduciary duties" auf, die sich aus dem ökologischen Zweck der „bubble" ableiten lassen. Die „bubble" ist letzten Endes keine bloße ökonomische Institution, sondern eine ökologische Institution mit dem Ziel, die Umwelt durch einen Markt für Verschmutzungs-
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Priest (1990), 219. Sindeil v. Abbott Laboratories, 607 P.2d 924 (Cal. 1980). Stewart (1991), 112. Feldhaus (1991), 931. Roberts (1982); Boucquey (1994).
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rechte zu schützen. Dieser Gesetzeszweck rechtfertigt es, daß die Rechtsprechung Verhaltenspflichten für die Mitglieder der „bubble" entwickelt, die über die gewöhnlichen deliktischen Verhaltenspflichten im Markt („lauterer Wettbewerb" ) oder die gewöhnlichen Treuepflichten innerhalb ökonomischer Organisationen („gesellschaftsrechtliche Treupflichten") hinausgehen. Diese Verhaltenspflichten verbieten es im Falle eines „hot spot" dem einzelnen Mitglied, so viele Verschmutzungsrechte zu kaufen und zu nutzen, daß eine unerträgliche lokale Belastung entsteht, selbst wenn die globalen Grenzwerte der „bubble" dabei nicht überschritten werden sollten. Ich vermute, daß die weitere Entwicklung der Risikopools noch zu zahlreichen weiteren Anwendungsfällen ökologischer Treuepflichten für Mitglieder des Pools führen wird. Das beunruhigendste, gleichzeitig aber auch das vielversprechendste Thema in diesem Zusammenhang heißt: „Solidarität" im Risikopool. 64 . Wir haben gesehen, daß kollektive Haftung bedeutet, einzelne Akteure für Taten verantwortlich zu machen, die andere begangen haben. Wenn wir das in die Sprache der Rechtsflichten übersetzen, dann wird jedem Poolmitglied die Pflicht auferlegt, das Verhalten der anderen Poolmitglieder zu überwachen. Heißt das nicht, Unmögliches zu verlangen? Selbst solche Akteure, die alles Erdenkliche unternehmen, um das von ihnen selbst gesetzte Risiko zu verringern, können dieser Pflicht nicht entrinnen. Sie haben die unvermeidbare Konsequenz der Lockerung des Kausalitätserfordernisses zu tragen: Ihre individuelle Risikosphäre ist nicht mehr das einzelne Unternehmen, sondern der ganze Pool. Dies führt natürlich zu Kritik unter Berufung auf Fairneß und Effizienz und verleitet manchen dazu, den ganzen kollektiven Ansatz zur ökologischen Haftung zu verdammen (siehe oben). Insbesondere im Rahmen der „Superfund" -Haftung erscheint es
64 Bush (1986), 1473 ff.
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„questionable from an efficiency point of view whether current owners of pieces of land who had no influence on pollution should be jointly and severally liable with the former owners and polluters of the land" 6 5 .
Gleichzeitig scheint dieser beunruhigende Aspekt das Hauptmotiv der Befürworter der Risikohaftung zu sein, die „Cupola" unsichtbar zu machen. Es gibt nur eine wirkliche Lösung, nur eine Möglichkeit, dieser Pflicht nachzukommen - durch effektive Zusammenarbeit! Der wesentliche Grund dafür ist im Charakter des „Gutes" zu finden: In unseren Konstellationen sind Verbesserungen der ökologischen Sicherheit " . . . a .local public good' to the industry. A concerted industry effort to improve safety is required since, by definition, the problem is inherent in the nature of the product and is not the result of carelessness by individual producers" 6 6 .
Deshalb schafft das kollektive Haftungsrecht letzten Endes de facto - eine Pflicht, zur gemeinsamen Risikokontrolle zusammenzuarbeiten, eine Pflicht, sich zu kollektivem Handeln zu organisieren, eine Pflicht, Institutionen zu schaffen, die das kollektive Management kollektiver Risiken übernehmen, was im Prinzip Präventionsforschung bedeutet. Im Kontext der Gefährdungshaftung ist es natürlich nicht besonders sinnvoll, von einer „Rechtspflicht" zur Kooperation zu sprechen, da Voraussetzung für die Haftung allein der Schaden ist, ob die Pflicht nun erfüllt wurde oder nicht. Aber selbst in diesem Kontext taucht die „Pflicht" als eine faktische Obliegenheit zur Prävention wieder auf. Wer auf einem Markt tätig wird, wo eine Haftung nach Marktanteilen gilt, und sein Haftungsrisiko reduzieren möchte, kann sich nicht darauf beschränken, die Risiken im eigenen Unternehmen zu reduzieren; vielmehr tut er gut daran, sich nach Instanzen kollektiver Überwachung aller Marktteilnehmer umzuschauen. Im Zusammenhang der Verschuldenshaftung macht es um so mehr Sinn, den Gedanken einer Kooperationspflicht 65 Hofstetter (1994), 13. 66 Rose-Ackerman (1990), 745.
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weiterzuverfolgen 67 . Wenn das konkrete Ausmaß der erforderlichen Sorgfalt in einer Situation gemeinsamer Haftung zu bestimmen ist, genügt es nicht, allein auf die Vorsorge im individuellen Unternehmen abzustellen. Es muß näher bestimmt werden, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um die Risiken in dem gesamten Risikopool zu reduzieren. Das Recht schafft eine „Organisationspflicht", nach der das Management jedes einzelnen Unternehmens sicherzustellen hat, daß sich alle Firmen kollektiv um Risikoreduzierung bemühen, indem sie Personal, Material und technische Abläufe entsprechend organisieren. In dem Zusammenhang sollten freilich Überlegungen angestellt werden, ob ein adäquater individueller Beitrag zur kollektiven Risikokontrolle genügen kann, um der kollektiven Haftung zu entkommen (s. unter V.).
IV. Auswirkungen auf die reale Welt An dieser Stelle sollten wir allerdings vorsichtiger sein. Denn wenn wir über Vorbeugung und Risikokontrolle sprechen, dann verlassen wir die symbolische Welt des Rechts und beschäftigen uns mit den Auswirkungen des Rechts auf die reale Welt. Diese Beziehung ist durchaus nicht so eng und unmittelbar wie es die Annahme Norm-Sanktion-Gehorsam der traditionellen Rechtswissenschaft voraussetzt. Wir sollten uns auch nicht von der „law-and-economics" -Rhetorik verführen lassen, die uns glauben machen will, daß schon kleine Veränderungen im Recht, zum Beispiel eine Änderung des Fahrlässigkeitsmaßstabes, unmittelbar als wirtschaftliche Anreize zur Prävention wirken 6 8 . Statt dessen sollten wir uns aufmerksam anhören, was empirische Untersuchungen zu den realen Effekten des Rechts und was theoretische Studien zu den komplizierten Beziehungen zwischen Rechtsnormen und wirtschaftlichem Verhalten
67 Siehe auch Brüggemeier (1994), 4.3. 68 Deutlich bei Tietenberg (1989), 308 ff.
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zu sagen haben 69 . Sie legen es uns nahe, das über-optimistische Modell „Anreize durch Rechtsnormen" durch das bescheidenere Modell „social order from legal noise" zu ersetzen 70 . Empirische Untersuchungen über die realen Auswirkungen des Haftungsrechts machen deutlich, daß Wirtschaftsunternehmen Änderungen des Haftungsrechts, selbst so dramatische wie den Übergang von Verschuldenshaftung zur Gefährdungshaftung, nur als „outside noise", als extrem unbestimmte Botschaften wahrnimmt, und nicht als klare Signale, die zur Feinabstimmung korporativen Verhaltens zwingen, wie es die juristische und ökonomische Literatur gerne annimmt. „All the firms viewed product liability as essentially a random influence, generating no clear signal as to how to adjust design behavior. ... we were struck in the companies that we visited by how few changes in law were transmitted to those involved in design decisions" 7 1 .
Soziologische Theorien über die Wechselbeziehung von Rechtsnormen, Politikentscheidungen und wirtschaftlichem Handeln von Max Weber (1921: 319ff) bis Niklas Luhmann (1988: 324ff) klären uns darüber auf, daß diese Übermittlungsschwierigkeiten nicht einfach auf Informationsverluste zurückzuführen sind, die durch Verbesserung der Kommunikation beseitigt werden könnten. Tatsächlich werden wir hier mit kommunikativen Verzerrungen konfrontiert, die aus der inneren Logik der verschiedenen beteiligten Sinnwelten resultieren: ökologische Politikprozesse, die Praxis des Deliktsrechts, die Dynamik des relevanten Marktes, die interne Politik formaler Organisationen. Kein Zweifel, Recht und Politik senden Signale an die Wirtschaft, die ihre Handlungen an diesen Differenzen auch auszurichten hat.
69 Z.B. Weber (1987); M c G u i r e (1988). 70 Zu dieser Formel allgemein Förster (1984), Kap. 1; bezogen auf das Recht Teubner (1989), Kap. 5. 71 Eads/Reuter (1983), 107 und IX.
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„Aber dieser Effekt ist schon nicht mehr Steuerung und auch nicht steuerbar, weil er davon abhängt, was im Kontext anderer Systeme als Differenz konstruiert wird und unter die dort praktizierten Steuerungsprogramme fällt" 7 2 .
Wirtschaftsunternehmen „verstehen" Rechtsnormen nicht als gültige normative Gebote, die unbedingten Gehorsam verlangen. Vielmehr nimmt die Welt der Wirtschaft Rechtsnormen extrem selektiv wahr und rekonstruiert sie in einem vollständig anderen Bedeutungszusammenhang. Entsprechend der internen Logik des konkreten Marktes und des konkreten Unternehmens werden rechtliche Signale neu konstituiert. Im Prinzip rekonstruiert jede dieser Sinnwelten die rechtlichen Signale, aber ein und dasselbe rechtliche Signal kann durchaus in einer Vielfalt von ökonomischen Rekonstruktionen wiedererscheinen 73 . Die Auswahl zwischen verschiedenen Rekonstruktionen hängt jeweils von der konkreten Situation ab. In der Welt ökonomischer Transaktionen werden Haftungsregeln auf verschiedene Weisen rekonstruiert: meist als reine Kostenfaktoren, manchmal als wirtschaftliche Eigentumsrechte, gelegentlich als Verhandlungsmasse - und nur selten als Änderung der Akteurspräferenzen. In der internen Entscheidungswelt von Organisationen wiederum werden sie in anderer Vielfalt verschiedener Bedeutungen rekonstruiert: als organisatorische Beschränkungen, als interne Machtpositionen, als neue Elemente im „goal set", als rein rechtliche Probleme, die nur die Juristen angehen, als Kostenfaktoren, die die Finanzabteilung betreffen - und nur selten als Anreize für Manager, die Überwachung der Produktion zu ändern oder für Ingenieure, das Produktdesign zu ändern. Dies erlaubt, die folgenden Ergebnisse empirischer Untersuchungen, die optimistische Annahmen über die Erzeugung von Anreizen auf dem Markt widerlegen in einem anderen Lichte zu sehen: „In reality, however, the connection between the law and product design is sufficiently weak that even quite major changes in the law would have little
72 Luhmann (1988), 337. 73 Dazu genauer Teubner (1991), 531 ff.
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effect on the behavior of firms ... except to the extent that such change led to significant changes in the overall cost of product claims" 7 4 .
Innerhalb wirtschaftlicher Organisationen geht die rechtliche Botschaft infolge der typischen Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Abteilungen regelmäßig verloren, bevor sie einen Anreiz bilden kann, andere Entscheidungen zu treffen 7 5 . In manchen Organisationen fanden empirische Untersuchungen sogar bewußte Strategien, die „substantial efforts to keep their ... liability problems separate from their ongoing operating decisions" unternahmen 7 6 . N a c h einer solchen zweifachen kommunikativen „Verzerrung" rechtlicher Botschaften durch den Markt und durch die Organisation besagen die Signale rechtlicher Haftung bestenfalls: „Be careful or you will be s u e d " 7 7 . Dieses unbestimmte Signal wird sicher nicht regelmäßig in präventive Maßnahmen umgesetzt, sondern in Umgehungsmanöver aller Art entsprechend der jeweils vorherrschenden Strategie der Organisation. Das Norm-Anreiz-Modell kann diese komplizierten Rekonstruktionsprozesse in verschiedenen Sinnwelten, in ökologischer Politik, im Haftungsrecht, in Markttransaktionen und in der internen Dynamik von Organisationen nicht systematisch erfassen. Es subsumiert sie alle unter die eindimensionale Sprache wirtschaftlicher Kostenüberlegungen, und berücksichtigt Abweichungen in der realen Welt allenfalls durch ceterisparibus-Klauseln oder durch Ad-hoc-Anpassungen des M o dells an die „Realität" 7 8 . Daher hat das Norm-Anreiz-Modell nur beschränkten Nutzen für unser Problem, wie sich das Haftungsrecht in der realen Welt auswirkt, wenn es eine neue kollektive ökologische Haftung einführt. Wir ersetzen es besser durch das bescheidenere Modell wiederkehrenden „rechtlichen Drucks" und „korporativer Reaktionen", die ihrerseits wie74 75 76 77 78
Eads/Reuter (1983), IX. Stone (1975), 201 ff; Scharpf (1987), 117 f. Eads/Reuter (1983), 94. Eads/Reuter (1983), VIII. Etwa Tietenberg ( 1989), 315 ff.
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der neuen rechtlichen Druck und neue korporative Reaktionen hervorrufen und so weiter in einem unendlichen selbstorganisierenden Prozess. Wir sollten daher skeptisch im Hinblick auf unsere technischen Fähigkeiten sein, raffinierte Kostenanreize zu ersinnen, die das Verhalten individueller oder korporativer Akteure in einer Welt ökonomischer Rationalität verändern sollen. Wir rechnen besser mit einer Vielfalt autonomer selbst-organisierender Prozesse - etwa der Prozesse ökologischer Politik, des Haftungsrechts, des Produktmarkts und formaler Organisationen - die operativ getrennt ablaufen und doch zur gleichen Zeit strukturell miteinander gekoppelt sind. Sie reagieren aufeinander, aber nur in einer extrem selektiven und eher unvorhersehbaren Weise 79 . „.Sustainable development', not efficiency emerges thereby as the ultimate paradigm" 80 . Ebenso skeptisch sollten wir die prognostischen Fähigkeiten der eleganten soziologischen oder ökonomischen Modelle beurteilen. Konsequenzialismus ist im Haftungsrecht möglich und sinnvoll, aber nicht im Sinn von ex ante- Vorhersagen, als ob das Haftungsrecht mit Hilfe ökonomischer oder soziologischer Modelle effektiv die Effekte seiner Veränderungen vorhersagen könnte und auf diese Effekte durch antizipierte Anpassungen reagieren könnte. Konsequenzialismus ex post erscheint weitaus realistischer in dem Sinne, daß die Institutionen des Haftungsrechts sensibler gegenüber ihren realen Effekten in der Welt der Wirtschaftsorganisationen werden sollten als sie es zur Zeit sind. Sie sollten ihre Konzepte an ihre tatsächlichen Erfahrungen mit korporativen Reaktionen anpassen und neuen rechtlichen Druck und neue korporative Reaktionen in einem langfristigen „Entdeckungsverfahren" schaffen, das auf dem Prinzip „order from noise" aufbaut. Was läßt sich dann aber über die Reaktionen der Wirtschaftsunternehmen auf die neue ökologische Risikohaftung noch sagen? Rückzug der Versicherungsindustrie vor den ökologischen 79 Blecher (1994). 80 Hofstetter (1994), 14.
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Risiken? Erfindung neuer Versicherungstechniken, die an die gesamtschuldnerische Haftung angepaßt sind? Entstehung von Institutionen des kooperativen Risikomanagements? Opportunistisches Verhalten von Unternehmen in Situationen kollektiven Handelns, das zu einem ineffizienten Niveau ökologischer Prävention führt? Nichts als defensives Verhalten in Prozeßführungsstrategien? - Empirisches Material existiert durchaus, insbesondere im Bereich der Produkthaftung 81 . Aber insgesamt genügt dieses Material nicht, um schon von stabilen Mustern korporativer Reaktionen sprechen zu können, auf die das Haftungsrecht seinerseits mit neuen Maßnahmen rechtlichen Drucks reagieren könnte, um dann wiederum neue Reaktionen abzuwarten. In einer solchen unübersichtlichen Situation können wir uns nur auf die Diskussion einzelner Szenarios zurückziehen, in denen wir auf der Basis der vorhandenen begrenzten Erfahrung über Handlungsmöglichkeiten in parallel ablaufenden juristischen und ökonomischen Prozessen spekulieren können.
V. Szenario I: Opportunismus - Eigennutz und Tücke Während die kollektive Haftung unter dem Gesichtspunkt ausgleichender Gerechtigkeit sehr viel Sinn macht, erzeugt sie doch gleichzeitig Probleme kollektiven Handelns, auf die korporative Akteure möglicherweise opportunistisch reagieren. Wenn Opportunismus die korporative Reaktion gegenüber einem System kollektiver Haftung darstellt, gibt es darauf eine adäquate rechtliche Antwort? Gegenüber dem strikt individuellen Haftungssystem weist eine Kollektivhaftung folgende Vorteile auf. Erstens dient sie der Ausgleichsfunktion des Haftungsrechts, da die Geschädigten auch in einer Situation entschädigt werden können, in der die Individualhaftung schlicht versagen würde. Zweitens kann man, da über den Risikopool die Kosten vollständig internali81 Eads/Reuter (1983); Weber (1987); M c G u i r e (1988).
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siert werden, im Sinne der Steuerungsfunktion des Haftungsrechts eine Reallokation von Ressourcen erwarten. Jedenfalls theoretisch fallen dann alle Kosten auf den Risikopool zurück, was insgesamt die Preise beeinflussen und ökologisch riskante Aktivitäten im gesamten Pool verteuern wird. Drittens kann ein gewisser, wenn auch eher geringer, Abschreckungseffekt erwartet werden. Jedem einzelnen Teilnehmer des Risikopools droht ein bestimmter Anteil an der kollektiven Haftung. J e nachdem besteht dieser Anteil entweder in dem Risiko, auf der ersten Prozeßstufe als Gesamtschuldner in Anspruch genommen zu werden, oder in dem Risiko, in einem Folgeprozeß auf seinen Anteil verklagt zu werden, oder schließlich in dem Risiko, über die Haftung nach Marktanteilen oder in einer anderen F o r m direkter Haftungszuweisung „pro rata" in Anspruch genommen zu werden. Diese Situation kann die Risikokalkulation der Akteure beeinflussen und kann zu einem höheren Vorsorgeniveau führen. Im Idealfall würde die drohende Haftung in eine gemeinsame Anstrengung der Verschmutzer umgesetzt, die ökologischen Risiken zu minimieren. Aber genau hier stellen sich die berühmten Probleme kollektiven Handelns. Wenn die kooperativen Bindungen innerhalb des Pools schwach sind, treten Probleme des „moral hazard" auf, ähnlich denen einer kollektiven Versicherung, die individuelle Risiken auf eine Risikogemeinschaft verlagert 8 2 . Wenn sie sich sicher genug fühlen, nicht beobachtet zu werden, werden individuelle Unternehmen ihre spezifischen Risikobeiträge nicht reduzieren, da eine solche Reduktion ihre Haftung nicht im gleichen Maß vermindert. Weil ihre Haftung vom Verhalten Dritter abhängt, die sie nicht kontrollieren können, würden sie eher weniger für die Vermeidung ökologischer Risiken aufwenden. Im Ergebnis wäre das Niveau individueller Vorsorge niedriger als in einer - allerdings rein hypothetischen - Situation strikt individueller Zurechnung.
82 A d a m s (1985), 225 ff; Abraham (1987), 863; Rehbinder (1989), 151; Wagner (1990), 45 f.
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Es ist empirisch erhärtet, daß hier eine reale Gefahr liegt. Keeler ( 1991 ) zeigte, daß innerhalb einer „bubble", einem Markt für Verschmutzungsrechte, wo ein globaler Grenzwert individuelle Begrenzungen der Verschmutzung ersetzt, das Risiko der Überschreitung des Standards höher ist als unter einem System individueller Grenzwerte. Ähnliche Probleme stellen sich für kollektive Vorsorgemaßnahmen. Obwohl es im Interesse eines jeden Poolmitgliedes wäre, sich an der kollektiven Risikovorsorge zu beteiligen, um das Haftungsrisiko und die begleitenden Kosten der Ersatzleistung für alle zu reduzieren, erscheint es unter bestimmten Umständen unwahrscheinlich, daß sie sich so verhalten. Mit Mancur Olson (1965) würde man argumentieren: Wenn die Anzahl der Poolmitglieder groß ist, keine kooperativen Bindungen vorhanden sind, Wettbewerbsbedingungen vorherrschen und „selektive Anreize" oder massive negative Sanktionen fehlen, werden die Poolmitglieder keine gemeinsamen Anstrengungen unternehmen, selbst wenn das die Kosten für jedes Poolmitglied senken würde. Dieses „Olson-Problem" kollektiver Risikokontrolle, zusammen mit dem „moral hazard" individueller Vorsorge hat eine ökonomisch motivierte Kritik verschiedener neuer kollektiver Haftungssysteme geführt - market share, „Superfund C E R C L A " und allgemeiner, der gesamtschuldnerischen Haftung bei mehrfacher Kausalität - ausgelöst 8 3 . Rechtsökonomen hegen ein tiefes Mißtrauen gegenüber kollektiven Lösungen, selbst dann, wenn sie effektiv der Ausgleichsfunktion dienen und die Ressourcenallokation effizienter machen. Ihre Kritik zielt auf die in der Tat schwache präventive Wirkung. Dabei dürfte auch den Kritikern bewußt sein, daß ihre Kritik nur dann trägt, wenn sie kollektive Haftung mit einer streng individualistischen Haftung vergleichen, die gegenüber den hier angesprochenen komplexen ökologischen Fällen aber gerade versagt. 83 Epstein (1985), 1377; H u b e r (1985), 277; Abraham (1987), 883 ff; Marino (1991), 672 ff.
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Der Präventionsschwäche der kollektiven Haftung kann man zu einem gewissen Grade abhelfen. An dieser Stelle ist es sinnvoll, über die Re-Individualisierung kollektiver Haftung nachzudenken. Wenn die Wirtschaftsunternehmen auf kollektive ökologische Haftung mit „moral hazard", „free-riding" und anderen Formen von Opportunismus, „self-interest seeking with guile" reagieren, dann kann das Haftungsrechts seinerseits darauf reagieren, daß es dem individuellen Unternehmen seinen jeweiligen Anteil an der Verschmutzung schmerzhaft vor Augen führt, indem es den internen Verteilungsmaßstab neu bestimmt 8 5 . Diese reindividualisierenden Bemühungen können natürlich wegen des Zusammenbruchs der individuellen Verursachung nicht das kollektive Element und den begleitenden Risikopool eliminieren, aber sie können auf der Kollektivierung aufbauend neue Tendenzen zur Individualisierung einführen. Sie können den kollektiven Verlust entsprechend den individuellen Merkmalen der Poolmitglieder neu verteilen. Die Situation ist der Schaffung eines korporativen Akteurs vergleichbar: Im ersten Schritt (Bildung des Pools) werden Handlungen, Rechte und Verbindlichkeiten dem kollektiven Akteur als solchem zugerechnet. Im zweiten Schritt (Rückgriff) werden Verluste und Gewinne individuell auf die Mitglieder entsprechend den jeweiligen Beiträgen verteilt. Der Vorteil eines solchen zweistufigen Verfahrens liegt darin, daß es die Vorteile kollektiver Haftung mit den Anreizen eines individualisierenden Rückgriffs verbindet. Die kollektive Haftung stellt sicher, daß die Opfer Ersatz erhalten, auch wenn keine individuelle Verursachung festgestellt werden kann; die individuelle Verteilung des Rückgriffs erzeugt für die Akteure Anreize, das ökologische Risiko zu verringern. Es stehen verschiedene Haftungstechniken zur Verfügung, deren Kombination über die Balance zwischen Schadensausgleich, Abschreckung und Allokation entscheidet. Folgende Fragen stellen sich: Ist es sinnvoll, im Schadensersatzprozeß ge84 Williamson (1985), 47. 85 Marino (1991), 672.
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samtschuldnerische Haftung anzuwenden und den Ausgleich der Schädiger untereinander auf Rückgriffsprozesse zu verlagern? Oder ist es sinnvoller, die individuellen Risikoanteile unmittelbar durch die Gerichte zuzuweisen, wie es bei market share liability geschieht? Sollte man Gefährdungshaftung und Verschuldenshaftung für die Auferlegung kollektiver Haftung und den individuellen Rückgriff kombinieren? Was sind die Kriterien für den individuellen Rückgriff: gleiche Anteile pro Kopf, Marktanteile, Risikobeiträge, Verschulden? In der Literatur werden verschiedene Kombinationen dieser Methoden diskutiert 8 6 . Besonders interessant sind die Vorschläge einer „Haftung nach gewichteten Marktanteilen", die das Kriterium des Marktanteils mit der individuellen Unfallwahrscheinlichkeit kombinieren 8 7 . Ebenso interessant ist die Kombination von Verschuldenshaftung und Gefährdungshaftung bei der Haftung nach Marktanteilen: Primär gilt Haftung fahrlässiger Marktteilnehmer, sekundär gilt Gefährdungshaftung entsprechend den Marktanteilen 88 . Ich würde rechtspolitisch folgende Kombination vorschlagen: Im Verhältnis zwischen dem Geschädigten und dem Risikopool sollte Gefährdungshaftung gelten, da sie die Ausgleichsfunktion fördert. Im Verhältnis zwischen dem Pool und seinen Mitgliedern sollte der Rückgriff soweit wie möglich individualisiert werden, so daß individuelle Anreize zur Risikoverhinderung gestärkt werden. Verschulden sollte hier der entscheidende Maßstab sein; wenn das nicht möglich ist, dann Zuweisung nach individuellen Risikobeiträgen; wenn das nicht möglich ist, Zuweisung nach Verschmutzungsanteilen oder Marktanteilen; wenn auch das nicht möglich ist, gleiche Anteile für alle Mitglieder. Die Entscheidung zwischen gesamtschuldnerischer Haftung der Poolmitglieder mit anschließendem Rückgriff einerseits und direkter Haftungszuweisung durch die Gerichte im Haftungs86 Kornhauser / Revesz (1989), 837 ff; Marino (1991); Bodewig (1985), 531 ff. 87 Marino (1991), 674. 88 Kornhauser / Revesz (1989), 837 ff.
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prozeß andererseits ist schwierig zu treffen, da beide Methoden schwerwiegende Nachteile aufweisen 8 9 . Gesamtschuldnerische Haftung ist sehr vorteilhaft für die Geschädigten, da sie ihnen die beliebige Auswahl eines Schädigers erlaubt, dem Geschädigten schon vollen Schadensersatz durch nur ein Poolmitglied gewährt, den Haftungsprozeß von der Berechnung der individuellen Anteile im Pool entlastet, und es dem ersten Beklagten überläßt, seinen Rückgriffsanspruch gegenüber den anderen Poolmitgliedern entsprechend ihren Anteilen am Risiko und am Verschulden in einer Serie von Folgeprozessen durchzusetzen. Die Nachteile der gesamtschuldnerischen Haftung liegen in Fairneßproblemen gegenüber dem ersten Beklagten, der mit den vollen Risiken des Haftungsprozesses und der Rückgriffsprozesse belastet wird, und erschreckend hohen Prozeßkosten 9 0 . Die zweite Methode - Zuweisung der Haftungsanteile durch die Gerichte unmittelbar im Haftungsprozeß - löst zwar das Fairneßproblem und vermeidet die hohen Transaktionskosten der Rückgriffsverfahren. Es belastet aber die Geschädigten mit dem Problem, jedes einzelne Poolmitglied zu identifizieren und zu verklagen, und mit dem zusätzlichen Problem, den jeweils richtigen Anteil von den einzelnen Poolmitgliedern einzuklagen, was sich als eine teure Prozedur herausgestellt hat 9 1 . Im Interesse der ökologisch Geschädigten würde ich die erste Lösung bevorzugen. Wir sollten allerdings im Auge behalten, daß beide Lösungen ein schwerwiegendes Fairneßproblem aufweisen und unverhältnismäßig hohe Transaktionskosten verursachen. All diesen Anstrengungen, den individuellen Anteil so präzise wie möglich zu bestimmen, liegt freilich ein tieferes Problem zugrunde. „Fine-tuning damage awards to better reflect marginal harms, however, may be just so much academic hairsplitting because of a deep paradox that lurks beneath those cases where damages are exactly proportional to market share. ...
89 Rosenberg (1987), 220 f. 90 Weber (1989), 1488 f. 91 Rose-Ackerman (1990), 743 ff.
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the efficiency of a market-share test is very limited ... it will not generate efficient caretaking unless firms can collude" 9 2 .
Das ist schwer zu schlucken! Einerseits führt die fortschrittlichste Methode der individuellen Schadenszuweisung zu ineffektiver Prävention; andererseits würden kollusive/kooperative Lösungen, die vielleicht effektiver wären, gegen geheiligte Prinzipien des Wettbewerbsrechts verstoßen. Diese paradoxe Situation ist der Grund, warum Rose-Ackerman (1990: 746) letzten Endes auf das Deliktsrecht verzichtet und sich auf staatliche Regulierung verläßt, was auch immer deren Nachteile sein mögen . Aber warum nicht „Kollusion" als dritten Weg zwischen Deliktsrecht und staatlicher Regulation ernstnehmen? Existiert nicht vielleicht eine Chance, daß Selbstorganisation innerhalb des Risikopools das Fairneßproblem lösen könnte und die Transaktionskosten, die notwendigerweise anfallen, wenn die Haftungsanteile von einer außenstehenden Autorität - sei es einem Gericht oder einer Behörde - festgelegt werden, drastisch verringern könnte? Und vor allem, könnte eine solche „Kollusion" nicht „efficient caretaking behavior" auslösen 94 ? „In effect, the threat of joint and several liability motivates a collaborative solution among tortfeasors. Just as the defendants will collaborate to minimize their joint expenses as if they were a single person or entity in a concert of action case, so a group of independent firms may apportion liability through contract to avoid inefficient and unfair effects of joint and several liability" 9 5 .
92 Rose-Ackerman (1990), 745. 93 Siehe auch Menell (1991). 94 Rose-Ackerman (1990), 745. Freilich stellen sich hier eine Reihe wettbewerbsrechtlicher Probleme, die einer eigenen Untersuchung bedürfen. Läßt sich die durch das Haftungsrecht erzwungene „Kollusion" effektiv auf „ökologische" Zusammenarbeit beschränken? Wie kann man die Unternehmen daran hindern, in diesem Zusammenhang auch gleichzeitig Preisabsprachen etc. zu treffen? Sind es die Vorteile der kollektiven Haftung für Umweltschäden wert, für ganze Industriezweige das Wettbewerbsrecht einzuschränken? 95 Rosenberg (1987), 229 ff.
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Selbstorganisation der Aufteilung des Rückgriffs ist in der Tat eine attraktive Lösung. Wenn der ökologische Risikopool als korporativer Akteur organisiert ist, lassen sich die Nachteile beider besprochenen Lösungen vermeiden. Der Geschädigte braucht nur einen Schuldner zu verklagen (den Pool oder eines seiner Mitglieder, je nach der juristischen Konstruktion des Pools), kann vollen Ersatz seiner Schäden verlangen und muß sich nicht um die Aufteilung des Schadens unter den Poolmitgliedern kümmern. Die Aufteilung wird durch interne Selbstverwaltung geregelt. Die Regeln für die Aufteilung mit Hilfe praktikabler Kriterien lassen sich im voraus vereinbaren. So können beträchtliche Informationskosten und Kosten der Rechtsverfolgung vermieden werden. Die Kosten einer solchen privaten Risikoallokation „are likely to be less than those entailed by post-accident judicial allocations using either apportioned liability or the increasingly common contribution rule" 9 6 . Im Idealfall werden die privaten Regeln der Schadensteilung die Haftung des Pools in einem solchen Ausmaß reindividualisieren, daß individuelle Anreize für die Prävention geschaffen werden. Aber wie sind die Aussichten für eine kollektive Prävention ökologischer Risiken?
VI. Szenario II - Gemeinsame ökologische Risikoprävention Ist das nur ein Phantasieprodukt sozio-juristischer Träumer, welche die harten Lehren der Rechtsökonomik nicht begreifen wollen? Es gibt zumindest einige empirische Hinweise, die darauf hindeuten, das manche Reaktionen der realen Wirtschaftsakteure auf den Druck des Haftungsrechts dem vorherrschenden ökonomischen Zynismus über kooperatives Handeln widersprechen. In einigen Fällen sind Institutionen des gemeinsamen Risikomanagements entstanden - vereinbar oder nicht mit Mancur Olson und seinen autoritären Konsequenzen. Sie haben Aufgaben interner Schadensaufteilung übernommen, und 96 Rosenberg (1987), 231.
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in manchen Fällen mehr als das. In manchen Fällen, so wurde berichtet, haben sie die Aktivitäten der Poolmitglieder durch „private Risikoregulierung" überwacht. Der vielleicht vielversprechendste Aspekt solcher kollektiven Risikoregulierung ist die Aussicht, daß Joint Ventures für ökologische Innovationen entstehen, die integrierte ökologische Technologien an Stelle der herkömmlichen „end-of-the-pipe" -Technologien zu entwickeln in der Lage sind 9 7 . Die Chancen für ein durch Haftungsrecht ausgelöstes kollektives Risikomanagement sind jedoch je nach Kontext höchst unterschiedlich. Die Zahl der Akteure, die Struktur des Markts, die Machtbeziehungen im Markt, die Größe des Risikopools, die Intensität der kooperativen Bindungen, die Existenz korporativer Akteure, die industrielle Kooperation initiieren (Versicherungen, Wirtschaftsverbände), die industrielle kooperative Kultur, die Rolle öffentlicher Institutionen, die private Akteure zur Kooperation überreden oder auch zwingen - das scheinen die entscheidenden Faktoren zu sein, welche die spontane Entwicklung gemeinsamer ökologischer Risikoprävention beeinflussen. Es ist eine offene Frage, ob das Recht in der Lage ist, einige dieser Unterschiede zu berücksichtigen, um kooperative Vereinbarungen zu erleichtern und zu unterstützen. 1986 war ein Jahr der ökologischen Desaster - Tschernobyl und Sandoz. 1987 formulierte der Ciba-Geigy-Konzern die korporative Antwort auf eine Welle öffentlicher Kritik an der Pharmaindustrie, auf den Verfall ihres öffentlichen Ansehens, auf die Drohung staatlicher Eingriffe und den Druck des Haftungsrechts. Ciba-Geigy startete das sogenannte R A D - A R („Risk Assessment of Drugs - Analysis and Response" ) gemeinsam mit den wichtigsten Pharmaunternehmen. Joint Ventures zum Risikomanagement wurden in jedem der wichtigsten betroffenen Länder gegründet: in den USA, Kanada, Japan, Großbritannien und Deutschland. Eine Arbeitsgruppe war die „Pharmacoepidemiology Group", deren Aufgabe darin bestand, Informationen über Schäden zu sammeln 97 Siehe auch Brüggemeier (1994).
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und den Zusammenhang zwischen verschriebenen Medikamenten und Schäden. Die andere Arbeitsgruppe war die „Perception/Communication Group". Ihre Aufgabe war die Identifizierung von Risiken und Aufgaben der public relations 98 . Wir haben hier die typische Situation eines Oligopois mit nur wenigen mächtigen Akteuren, in der man tatsächlich erwarten kann, daß kollektives Risikomanagement entsteht. Berücksichtigt man die enormen Ressourcen der chemischen Industrie, könnte man sich gemeinsame Anstrengungen vorstellen, die über eine reine Versicherungsfunktion hinausgehen, Aufgaben der Erforschung ökologischer Risiken übernehmen und Techniken der Risikoprävention entwickeln, die die Finanzkraft individueller Unternehmen übersteigen. In dezentralisierten Märkten mit zahlreichen Akteuren dagegen sind die Chancen eines kollektiven Risikomanagements wesentlich geringer als in einem Oligopol. Kooperation wird nur dann entstehen, wenn bereits vorher kooperative Bindungen existierten". Insbesondere Holdings und lose organisierte Gruppen unabhängiger Unternehmen mit dezentralisierten Entscheidungsprozessen haben eine Chance, auf den Druck des Haftungsrechts durch die Schaffung eines Risikomanagements jenseits der Unternehmensebene, das sich um ökologische Fragen kümmert, zu reagieren. Die Rechtsökonomik sieht Vorteile in einem solchen Konzern-Risikomanagement gegenüber einer Kontrolle von außen durch Gerichte oder Behörden: „... monitoring cost for preventing the pollution would basically be lower on the part of the parent than on the part of the political community" . Empirische Untersuchungen legen nahe, daß hier ein fruchtbares Feld für intensive Zusammenarbeit zwischen Unternehmen liegt. Unter dem Druck des Haftungsrechts werden individuelle Unternehmen, die Umweltabteilungen geschaffen haben, dazu neigen, diese Umweltabteilungen von dem einzelnen Unternehmen auf eine höhere 98
Burley (1991), 152 f.
99 Rosenberg (1987), 232. 100 Hofstetter (1994), 13.
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Ebene zu verlagern. Im Fall eines Konzerns mit einem hohen Grad interner Arbeitsteilung ist diese Verlagerung besonders wichtig: „.. .there is a temptation to believe that the product as a whole is safe if each subsystem is safe". Kooperative Bemühungen zwischen den einzelnen Unternehmen können daher „help surface especially subtle hazards caused by the interaction of subsystems in a technologically complex p r o d u c t " 1 0 1 . Wieder anders ist die Situation, wenn der Risikopool entlang vertikaler Linien in einer Produktionskette oder in einer ökologischen Kette definiert ist. Hier ist die Gelegenheit für kooperative Risikokontrolle günstiger, da bereits vertragliche Verbindungen bestehen, die für Vereinbarungen genutzt werden können, die Haftungsrisiken definieren und das Verhalten überwachen. Die Akteure „will in effect comprise an economically interdependent enterprise spanning the entire chain of production and marketing" 1 0 2 . Marketing-Experten sagen eine gesteigerte vertikale Integration als das Ergebnis der neuen Risikohaftung voraus: „The growth of market share liability could lead to greater cooperation within the channel as well as attempts by the most vulnerable channel members to control channel operations. Thus, the tendency toward vertical marketing systems is likely to be stimulated. Fewer, larger manufacturer-distributor combinations will be better able to withstand the financial impact of intra-industry joint liability lawsuits. T h e economies of such large-scale operations may even allow the participating firms to self-insure should intra-industry risks become unratable. Smaller firms unable to withstand the financial impact of such a suit will be either forced out of business or compelled to become members of substantially larger distribution channels. Current problems experienced by a channel member in seeking indemnification from other members will also lead to increased channel integration. ... A s a result, manufacturers may begin to monitor the actions of their suppliers more closely, perhaps demanding assurances about the quality of the supplied component or assuming some of the testing and inspecting f u n c t i o n s " 1 0 3 .
101 Eads/Reuter (1983), 95. 102 Rosenberg (1987), 230. 103 Boedecker/Morgan (1986), 74 f.
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Es gibt einige Erfahrungen mit Zulieferernetzwerken und Vertriebsorganisationen, die diese Erkenntnisse bestätigen. Sie beziehen sich auf Situationen, in denen eine vertikale Kette infolge der Existenz eines zentralen Unternehmens, das die gesamte Struktur beherrscht, in eine sternförmige Beziehung umgewandelt wurde 1 0 4 . Erfahrungen mit dem „Superfund" zeigen, daß in einer solchen Situation das zentrale Unternehmen dazu neigt, die Rolle des entscheidenden korporativen Akteurs zu übernehmen, der die gemeinsame Verteilung der Verluste, die Überwachung des Verhaltens der anderen Unternehmen und die Planung der Risikoprävention übernimmt. Wieder spielt das Haftungsrecht eine entscheidende Rolle. Im „Superfund" sind die finanziellen Risiken so hoch, ist der Risikopool so definiert, daß große Unternehmen fast automatisch diese Rolle übernehmen 105 . Unter anderen Umständen neigen Wirtschaftsverbände dazu, die Rolle des zentralen Akteurs zu übernehmen. Die in den USA gesammelten Erfahrungen sind nicht gerade überwältigend 106 . Es gibt lediglich einige Reformvorschläge, die Selbstverwaltung ökologischer Risiken in ganzen Industriebranchen unter staatlicher Aufsicht befürworten, insbesondere die Schaffung branchenweiter Risikofonds 1 0 7 . Die europäische Tradition körperschaftlicher Selbstverwaltung kennt allerdings erfolgreiche Beispiele privater Vereinigungen und semi-privater „Quangos" („quasi non-governmental organisations" ), die Aufgabe des Risikomanagements und der Risikoprävention übernehmen. Es gibt durchaus ermutigende Beispiele staatlich unterstützter körperschaftlicher Selbstverwaltung auf dem Gebiet der Arbeitssicherheit mit einem sorgfältig ausgearbeiteten Finanzsystem und einer eindrucksvollen Liste „privater Regulierung" . Die deutschen Berufsgenossenschaften sind ein erfolgreiches Beispiel semi-privater Verwaltungskörperschaften, die 104 105 106 107
Rosenberg (1987), 230. Stewart (1991), 112 f. Rosenberg (1987), 231. Eubank (1991), 2 1 6 ff.
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der heutigen Diskussion über „Umweltgenossenschaften" als positives Beispiel dienen 108 . Das Problem scheint in der adäquaten Definition des Risikopools zu liegen. Während die Berufsgenossenschaften ihre Risikopools branchenorientiert definieren und zentralisierte Organisationen auf Bundesebene sind, sollen zukünftige Umweltgenossenschaften entsprechend den ökologischen Problemgebieten auf einer dezentralisierten, regionalen Ebene organisiert werden 1 0 9 . Private Versicherungsunternehmen scheinen besonders gut für Aufgaben kollektiven Risikomanagements in einem ökologischen Problemgebiet gerüstet zu sein 110 . Sie haben professionelle Erfahrung mit Risikoverteilung und können risikorelevante Informationen sammeln, um die Kosten angemessen auf individueller Basis umzulegen. Es gibt außerdem empirische Beispiele, besonders aus dem Gesundheitssektor, wo Versicherungen tatsächlich eine aktive Rolle bei der Risiküberwachung und der Entwicklung von Techniken der Risikoprävention übernommen haben. Die neue ökologische Haftung, insbesondere in ihren kollektiven Formen der Unternehmenshaftung, der Haftung nach Marktanteilen und der gesamtschuldnerischen „Superfund"Haftung haben jedoch eine schwere Krise der Versicherungsindustrie ausgelöst 111 . In den USA zog sich die Versicherungsindustrie schlicht von der Versicherung ökologischer Risiken zurück, obwohl die ökologische Versicherung das gewinnträchtigste Geschäft der achtziger Jahre zu werden versprach 112 . Es ist heute eine offene Frage, ob diese Krise durch eine grundlegende Unvereinbarkeit zwischen kollektiver Haftung, insbesondere gesamtschuldnerischer Haftung, und Grundprinzipien des Versicherungswesens ausgelöst wurde, wie einige 108 109 110 111 112
Wagner (1990), 106 ff. Wagner (1990), 111 ff. Abraham (1988), 954 f; Eubank (1991), 174. Eubank (1991), 197 ff. Brockett/Golden/Aird (1990).
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Autoren annehmen 1 1 3 . Es ist ebenso wahrscheinlich, daß die Versicherungsindustrie eine Phase des Experimentierens durchläuft, nach der neue Methoden der Risikoberechnung und vielleicht sogar ein neuer Typ der Versicherungsorganisation entstehen werden. Jedenfalls scheinen im Moment alternative Versicherungsmethoden notwendig zu sein, um die spezifischen Strukturen kollektiver Risiken zu bewältigen. Die „risk retention group" des „Superfund" ist eine mögliche Antwort, eine weitere wäre eine Pflichtversicherung für die gesamte Branche, eine dritte die Institutionalisierung eines branchenweiten Fonds für ökologische Risiken 1 1 4 , eine Lösung, die als besonders geeignet erscheint für atomistische Märkte mit intensivem Wettbewerb, wo branchenweite Kooperation strukturell unmöglich ist und wo sowohl die Haftung nach Marktanteilen als auch die gesamtschuldnerische Haftung eher inadäquat erscheinen. Schließlich scheinen die oben erwähnten Probleme kollektiven Handelns und des „moral hazard" eine „hybride" Form der Regulierung notwendig zu machen. In einer Mixtur privatrechtlicher Haftung und öffentlich-rechtlicher Regulierung können staatliche Behörden ihre regulatorische Macht mit den Waffen des Haftungsrechts kombinieren, um kollektive Risikokontrolle zu organisieren. Während derartige hybride Regime von staatlicher Kontrolle privater Selbstregulierung auf der Unternehmensebene deutliche Fortschritte machen 1 1 5 , sind ihre Aussichten auf der Ebene der Unternehmenskooperation noch unklar. Der amerikanische „Superfund" zur Reinigung kontaminierter Grundstücke ist natürlich das zur Zeit aufregendste Experiment. In unserem Zusammenhang ist dabei ein Punkt entscheidend: Die anfallenden Rechtsverfolgungskosten sind enorm, verglichen mit den Beträgen, die effektiv zur Dekontaminierung verwendet werden 1 1 6 . Das unterstreicht die zentrale Bedeutung kollektiver Vereinbarungen - „vertraglicher Alloka-
113 114 115 116
Eubank (1991), 197 ff, 209 ff. Eubank (1991), 216 f. Feldhaus (1991), 928 ff. Comment (1988), 289.
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tion" - die außergerichtlich von den beteiligten Firmen getroffen werden. Wie ein sympathisierender Beobachter bemerkt: „In effect, contract allocation tailors legal regulation of toxic substance risktaking to the individual needs of the parties and context. Its flexibility, in contrast to the more formal and rigid rules of judicial allocation, promises benefits in lower costs, swifter enforcement against cheating, and more protection for confidential information ... legal regulation of toxic substance risks may often be achieved effectively by creating incentives for, and by all means allowing, private contract and enforcement as an alternative or supplement to centralized command and control decision making by courts and other government agencies J 1 7 .
VII. Palermo oder Florenz? Solche verstreuten Erfahrungen mit „hybriden Regulierungen", die staatlich-politische Steuerung mit privaten kollektiven Vereinbarungen kombinieren, eröffnen eine Perspektive ökologischer neo-korporatistischer Vereinbarungen, die auf staatlicher Institutionalisierung und öffentlicher Kontrolle kollektiver Selbstorganisation von Unternehmen beruhen. Die neuen Formen kollektiven Risikomanagements sollen keineswegs individuelle Haftung einerseits oder staatliche Regulierung andererseits vollständig ersetzen. Es geht vielmehr darum, einen begrenzten und spezifischen Bereich ökologischer Risiken zu definieren, in dem das gemeinsame Risikomanagement privater Akteure individuelle Haftung und staatliche Regulierung ergänzen wird. Der Schwerpunkt sind solche Situationen ökologischen Risikos, in denen eine individuelle Zurechnung der Verursachung nicht mehr möglich ist und zugleich eine relativ kleine Gruppe von Verschmutzern identifiziert werden kann. In diesen Fällen sollte eine kollektive Haftung der Gruppe mit Anreizen für eine Institutionalisierung kollektiver Risikokontrolle kombiniert werden. Das kollektive Risikomanagement würde Schäden ersetzen, individuelle Risikobeiträge feststellen, riskante Aktivitäten der Gruppenmitglieder überwachen, 117 Rosenberg (1987), 237.
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gemeinsame präventive Maßnahmen ergreifen und technologische Innovationen zur Risikokontrolle in Angriff nehmen. Diese kollektive Haftung kann freilich nicht diffuse ökologische Risiken großen Maßstabes abdecken, die von einer großen Zahl von Akteuren innerhalb großer Zeiträume und/oder ausgedehnter geographischer Räume verursacht werden. In diesen Fällen sind gesellschaftsumfassende ökologische Fonds und ökologische Steuern deutlich vorzugswürdig 1 1 8 . Ebensowenig sollte die klassische individuelle Haftung in Fällen ersetzt werden, wo die kausalen Verbindungen eindeutig identifizierbar sind. Es sieht so aus, als könnte die „Cupola" ihre Umrisse verändern. Sie könnte sich von einer bedrohlichen Hierarchie der Öko-Mafia in eine die Umwelt schützende Institution entwickeln. Sollte sich die „Cupola Palermitana" zur „Cupola Fiorentina" wandeln?
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2. Kausalität in komplexen Prozessen: begriffliche Probleme
Lorenz Krüger
Über die Relativität und die objektive Realität des Kausalbegriffs
1. Vorbemerkung Die Rechtstheoretiker Hart und Honoré haben in ihrem berühmten Buch Causation in the Law (1959) die folgende Überzeugung zum Leitfaden genommen und in der 2. Auflage von 1985 sinngemäß erneut bekräftigt: „...it is the plain man's notions of causation (and not the philosopher's or the scientist's) with which the law is concerned..." (1959:1). Ohne Zweifel darf im Recht und im Alltagsleben der (hoffentlich zu Recht so genannte) gesunde Menschenverstand die Führung der Geschäfte beanspruchen. Nichtsdestoweniger gerät die Strategie des gemeinen Menschenverstandes in der verwissenschaftlichten und mit vertrackter Technik durchsetzten Lebenswelt zunehmend ins Gestrüpp; so leichthin wie Hart und Honoré die verschiedenen Fachwissenschaften beiseite zu lassen, ist unmöglich geworden. Wenden wir uns indes diesen zu, so stoßen wir auf den mißlichen Umstand, daß gerade diejenigen unter ihnen, die am meisten zur Erweiterung der Kausalmacht des Menschen beigetragen haben und in besonderem Maße unser Vertrauen in ihre intellektuelle Festigkeit verdienen, Kausalität, wenn sie überhaupt von ihr reden, nicht eigens zum Thema machen. Das geht bekanntermaßen so weit, daß eine Grundwissenschaft wie die Physik in ihrer Konzentration auf allgemeine Naturgesetze ein Bild bietet, das Bertrand Russell in seinem klassischen Aufsatz On the Notion of Cause (1912/13) zu der These verleitet hat, der Begriff der Ursache sei ein Relikt des metaphysischen Denkens, das in den Wissenschaften durch den Begriff des Naturgesetzes verdrängt worden sei.
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Viele Autoren haben natürlich trotzdem nicht davon abgelassen, die Natur der Kausalität weiter zu diskutieren. Dabei haben sie sich allerdings im allgemeinen von Russell nicht so weit entfernt, daß sie den Zusammenhang zwischen Kausalität und Gesetzlichkeit oder Regularität aufgegeben hätten. Mit Recht hat daher Martin Carrier kürzlich geschrieben, daß ein „Kausalbegriff, der sich an einer modernisierten Humeschen Regularitätstheorie orientiert... als Explikation der Vorstellungen einer großen Zahl von Wissenschaftlern und Wissenschaftsphilosophen gelten kann" (1992: 82). Wir sehen also nicht nur den Wissenschaftler, sondern mit ihm auch den Philosophen auf den Plan treten und müssen uns auf beider Einreden gegen Harts und Honorés plain man gefaßt machen. U n d nicht nur das: Mit dem Wissenschaftler haben wir eine wachsende und schier unübersehbare Vielfalt von Begriffen und Theorien, und mit dem Philosophen die ganze Aporetik der Positionsvielfalt seines Faches, wenn nicht gar die Dunkelheiten der Metaphysik am Hals. U m diese Mißlichkeiten bewußt zu machen, will ich sie sogleich in möglichst grelles Licht rücken. Damit setze ich mich zwar leichtfertig einem erhöhten Widerlegungsrisiko aus, hoffe aber dafür, die Diskussion zu fördern, welcher Beitrag von Seiten der Philosophie nützlicher und erwünschter sein mag als die Vermittlung sorgfältig gepanzerter Doktrinen, wenn solche denn in Sachen Kausalität überhaupt zu haben sein sollten. Ich komme also zu einigen mehr oder weniger polemischen Thesen.
2. Einige Thesen 1) Die Regularitätstheorie der Kausalität ist ungeeignet, die Natur des Wirkungszusammenhanges in der außermenschlichen Realität aufzuklären, weil sie epistemische und ontologische Betrachtungen in untunlicher Weise vermengt. 2) Die Regularitätstheorie verstellt das Verständnis, oft auch die Begründung, singulärer Kausalurteile, um die es jedoch in allen historischen Kontexten im weitesten Sinne, von der Kos-
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mologie über die Biologie bis zur Menschengeschichte und unseren alltäglichen Lebenswegen, vornehmlich zu tun ist. 3) Die Regularitätstheorie ist mit der Zurechenbarkeit der Folgen freier menschlicher Handlungen im Widerspruch und deshalb allgemein im Bereich lebenspraktischer und speziell juristischer Belange unannehmbar. Schließlich, um nicht bloß destruktiv zu erscheinen, füge ich eine - wenn schon nicht konstruktive, so doch positivprogrammatische - These hinzu: 4) Wir brauchen eine Auffassung von Kausalität, die Ursachen als Quellen der Verzweigung von Geschehensabläufen zu verstehen erlaubt. Wenn der Begriff der Ursache im Widerspruch zu Russells Überzeugung einen nützlichen Dienst in der Wissenschaft und im Leben tun kann, dann dadurch, daß er einen zentralen Platz in unserem Verständnis davon erlangt, daß die Natur und die Menschenwelt einen Prozeß durchlaufen, zu dem es Alternativen gibt. Indem ich dies sage, setze ich für die Zwecke der folgenden Darlegung einfach voraus, daß wir als denkende und handelnde Menschen ein solches Verständnis sowohl brauchen als auch haben. Zu den Fatalisten unter uns sage ich in diesem Essay nichts. Obschon ich mich also auf ein verfügbares Verstehen einer alternativenreichen Welt verlassen möchte, sehe ich einstweilen große Schwierigkeiten bei der objektiven Verankerung des Ursachenbegriffs in einem solchen Verständnis. Wie noch zu zeigen sein wird, droht seine Anwendung in eine Relativität abzugleiten, die Kausalbehauptungen zum Instrument unserer jeweiligen Zwecke macht und damit unbrauchbar zur faktenbezogenen Begründung normativer Bewertungen; auf eine solche Begründung werden wir jedoch nicht verzichten wollen und nicht verzichten können. Vergleichsweise einfach ist es dagegen, sich die Mängel der weiterhin herrschenden Regularitätstheorie klarzumachen. Ich will mich daher zunächst den polemischen Thesen zuwenden, um wenigstens die Motivation anzusam-
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mein, die es lohnend erscheinen lassen könnte, jenseits der auf den ersten Blick soliden Grundlage der Regularitäten und N a turgesetze nach einem realen Fundament kausaler Beziehungen zu suchen. U m das Folgende in eine einheitliche Orientierung zu bringen, beginne ich mit einer Überlegung über Adäquatheitsbedingungen, denen, wie ich meine, eine jede Auffassung von Kausalität genügen sollte.
3. Adäquatheitsbedingungen für Kausalitätsbegriffe Folgende Bedingungen an jeden praktikablen Kausalbegriff erscheinen mir plausibel; anders gewendet: eine Auffassung von Kausalität, die sie verletzt, sehe ich als unbefriedigend oder zumindest als unvollständig an: 1) Ein Begriff von Ursache bzw. kausaler Abhängigkeit sollte einheitlich formuliert werden. Insbesondere wäre eine Zweiteilung zwischen Natur- und Handlungskausalität, in Kants Ausdrucksweise zwischen „Kausalität nach der Natur" und „Kausalität aus Freiheit", mißlich. Sie zwänge uns ζ. B. zur Ausarbeitung einer Zwei-WeltenLehre, in der der Mensch, etwa dank des Besitzes von Vernunft, nicht mehr zur Gänze samt seiner sogenannten höheren Fähigkeiten als Naturwesen gesehen werden könnte, oder auch, wie von Wright bemerkt, zu einer Lehre zweier Folgenauslösungsmechanismen, eines effizienten und eines finalen oder teleologischen (1971: II.8, IV.5), so als ob die Antizipation eines künftigen Zustands nicht in demselben Sinne Ursache sein könnte wie ein nicht-antizipierender, ζ. B. emotionaler Antrieb. Oder es müßte die Unterscheidung von Gründen und Ursachen zu einem Gegensatz hochstilisiert werden, als ob nicht auch Gründe Ursachen sein könnten. Gegen alle derartigen Vorstellungen halte ich es mit J . L. Mackies These: „.. .we do not have one concept for physical causation and another for human actions and interactions..." (1980: X I ) ; tatsächlich bilden, sofern überhaupt
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menschliches Handeln im Spiel ist, beiderlei Wirkungszusammenhänge oft oder sogar immer ein unzerlegbares Gefüge. 2) Eine jede Auffassung von Kausalität sollte singuläre Wirkungszusammenhänge unabhängig von der Frage zu erfassen erlauben, ob sie Instanzen eines generellen Kausalgesetzes sind. In alltäglichen und historischen Kontexten fällen wir zahllose singuläre Kausalurteile, ohne zu wissen, ob und wie sie als Fälle einer kausalen Regularität zu erweisen wären. Es ist daher mißlich, es zur Bedeutung einer jeden Kausalaussage zu rechnen, daß sie Fall einer Regularität sei. Hart und Honoré, denen ich in anderer Hinsicht folgen möchte, scheinen mir in diesem Punkt halbherzig vorzugehen und dabei obendrein die eben erläuterte erste Adäquatheitsregel zu verletzen: Sie wenden sich zwar in ihrer Kausalanalyse gegen John Stuart Mills vollständige Konstellationen von Antezedensbedingungen und seine strikt invarianten Sequenzen, setzen sich dann aber für „breite Generalisierungen" ein und sagen von diesen: „they are part of what is meant by causal connexion" (1959: 53), während sie andererseits doch für den Bereich zwischenmenschlicher Interaktionen analoge Regularitäten anzunehmen für verfehlt halten; ein Mensch könne der Drohung eines anderen in einem bestimmten Falle nachgeben, ohne daß es irgendwelche Kausalgesetze für Drohwirkungen gebe, nicht einmal für den Spezialfall zweier bestimmter Personen oder eines bestimmten Typs von Situation. Ja, es sei sogar entbehrlich, Generalisierungen auch nur zur Beglaubigung der singulären Kausalaussage heranzuziehen, da eine individuelle Einsicht in die Überlegungen oder die Geistesverfassung der bedrohten Person möglich sei (1959: 53). Die letzte Behauptung erscheint mir prekär: Als Begründungshilfe für Kausalbehauptungen könnten Erfahrungsregeln oder gesetzesartige Aussagen überall wichtig werden, auch auf psychologischem Felde. Aber diese epistemische Funktion genereller Aussagen kann und sollte vom Bedeutungsgehalt der zu begründenden Kausalaussage unterschieden bleiben. N u r weil Hart und Honoré diese Unterscheidung verwischen, sehen sie sich zur Annahme direkter Einsichten in mentale Abläufe ver-
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anlaßt. Daß sie umgekehrt in gut Humescher Tradition eine direkte Einsicht in physische Wirkungsmechanismen dagegen nicht für zugänglich halten, ist offenbar der Grund dafür, derartige Mechanismen allemal als Instanzen genereller Kausalregeln anzusehen. Diese Diagnose des Irrtums von Hart und Honoré leitet über zur dritten Adäquatheitsbedingung, die ich an Kausalauffassungen stellen möchte: 3) Unsere Auffassungen von Kausalität sollten nicht ohne N o t die ontologische Analyse des Realzusammenhanges von Ursachen und Wirkungen mit epistemologischen Betrachtungen darüber, wie wir zur Kenntnis solcher Zusammenhänge gelangen, vermengen. Zwar meine ich keineswegs, daß es generell möglich sei, a priori und ohne Rücksicht auf unsere Welterfahrung Ontologie zu betreiben; aber es dürfen auch nicht, wie es eine in der Philosophie verbreitete Übung ist, vorgefaßte Begriffe von Wissen, Begründung und Erkenntnismethode zum Maßstab für die N a tur der Dinge gemacht werden. Die zweite Kopernikanische Wende, die der Selbstkritik der erkennenden Vernunft, ist genau hierin über das Ziel hinausgeschossen, indem sie eine neue Selbsterkenntnis der Vernunft in Anspruch nahm, die sich dann doch den unerwarteten Tücken der Materie, von der auch denkende Menschen nicht loskommen können, nicht gewachsen zeigte. Mit der Kausalität steht es hier etwa so, wie Schiller ungefähr zur Entstehungszeit der Kantischen Vernunftkritik niederschrieb: „Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Räume stoßen sich die Sachen" (Wallensteins Tod II.2). Wir kennen viele Regularitäten, die uns begründete Erkenntnis verschaffen, Prognosen ermöglichen usw.; aber diese brauchen natürlich nicht mit kausalen Verknüpfungen Hand in Hand zu gehen. Schon von Aristoteles haben wir gelernt, daß wir zwar daraus, daß die Planeten nicht flimmern, schließen können, daß sie uns nah sind, dies aber nicht besagt, daß sie uns nahe sind, weil sie nicht flimmern (Analytica Posteriora 1.13). Radones cognoscendi und rationes essendi müssen nicht koinzidieren; und wenn die ersten begriffliche Allgemeinheit oder generelle
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Aussagen verlangen sollten, könnten die zweiten dennoch individuell und singulär sein. So ist der beste Vorschlag für eine physische Konkretisierung des Kausalzusammenhanges, nämlich daß dieser in der Übertragung von Energie bestehe, logisch unabhängig von der These, daß eine solche Übertragung allemal Instanz einer generellen Regel sei, die die Merkmale des Ausgangszustands mit denen des Endzustands verknüpft. Umgekehrt sind vielmehr neuerdings auch in der Physik berechtigte Zweifel daran aufgetaucht, daß generelle Regeln generell existieren. Wie auch immer diese Frage in der Gesetzeswissenschaft Physik letztlich entschieden werden mag, unbestreitbar ist jedenfalls, daß kausale Erklärungen auch da möglich sind, wo an Prognosen nicht zu denken ist, und umgekehrt dank der Existenz von Regularitäten wir uns vielfach von Prognosen leiten lassen können, ohne Kausalzusammenhänge zu kennen. 4) Ein Korollar der eben befürworteten begrifflichen Trennung von Kausalität und Regularität oder Gesetzesartigkeit sei, so selbstverständlich sich dieses auch heutzutage ausnimmt, gesondert hervorgehoben: O b eine Regularität, die zum epistemischen Hilfsmittel der Feststellung von Kausalzusammenhängen dient, eine deterministische oder eine bloß statistische oder probabilistische ist, spielt keine Rolle. Wenn Kausalität auch dort vorliegen kann, wo gar keine Regularität im Spiele ist, ist a fortiori der dünnste statistische Zusammenhang mit der Existenz eines realen Wirkungszusammenhangs verträglich. So selten - glücklicherweise - auf eine Penicillingabe eine gefährliche Allergie folgt, so wenig ist - unglücklicherweise - auszuschließen, daß in jenen seltenen Fällen genau das Penicillin die Allergie verursacht. U m diesen Abschnitt kurz zusammenzufassen: Unter der Überschrift „Adäquatheitsbedingungen für Auffassungen von Kausalität" plädiere ich dafür, daß wir die Natur des Kausalzusammenhanges von den Bedingungen seiner Erkennbarkeit unterscheiden, insbesondere Kausalität und Regularität begrifflich voneinander trennen und uns damit auch die Möglichkeit of-
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fenhalten, einen einheitlichen Begriff der Verursachung für die ineinander verwobenen Bereiche des menschlichen Handelns und des außermenschlichen Naturgeschehens zu gewinnen. Bisher habe ich mehr angedeutet als begründet, daß, obschon Kausalität und Regularität miteinander verknüpft sind, die zweite doch nur zu den Erkenntnisbedingungen, nicht aber zum Wesen der ersten zu rechnen sei. Um diese Auffassung näher zu beleuchten, greife ich mitten in einen Kerntext eines Regularitäts- oder Gesetzestheoretikers der Kausalität hinein, weil er mir ungewollt und gerade dadurch glaubhaft die Schwächen der Regularitätstheorie zu verraten scheint.
4. Kant über Kausalität und Zufall Zum allseits bekannten Grundbestand der Philosophie Kants gehört die These, daß die auf mögliche Objekte der Erfahrung bezogene, d. h. in Raum und Zeit anwendbare Fassung des Kausalbegriffs, das sogenannte Schema der Kausalität, die Vorstellung einer ausnahmslosen regelhaften Sukzession von Ereignissen sei. Wenig beachtet dagegen ist ein anderes Stück derselben Theorie, das Kant im Abschnitt Allgemeine Anmerkung zum System der Grundsätze, einer Hinzufügung zur 2. Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft (B 288 ff), geradezu versteckt hat. Dort verficht er die Behauptung, daß „der Satz: alles Zufällige müsse eine Ursache haben, doch jedermann aus bloßen Begriffen klar einleuchte" (B 290). Aus bloßen Begriffen? Das wäre mit der Kernthese Kants über den synthetischen Charakter des Kausalprinzips natürlich in eklatantem Widerspruch. Tatsächlich geht aus dem Text hervor, daß der behauptete Begriffszusammenhang sich nur dann ergibt, wenn man die Bedingungen der möglichen empirischen Bedeutung des Begriffs „zufällig" beachtet. Wollen wir nämlich Erfahrungsbeispiele für etwas Zufälliges vorweisen, müssen wir auf Veränderungen ausgreifen; der bloße Hinweis auf die Denkbarkeit der Nichtexistenz des Zufälligen genügt nicht. Wenn ζ. B. ein bewegter Körper zur Ruhe kommt, macht dieser Vorgang zwar anschau-
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lieh, daß beide Zustände „bewegt" und „in Ruhe" real möglich sind, nicht jedoch das, worauf es beim Nachweis der Zufälligkeit ankäme, daß der Körper zu eben jenem Zeitpunkt, zu dem er ruht, auch bewegt sein könnte. Ein Wissen darüber jedoch kann nicht anders beschafft werden als durch eine Analyse der Bedingungen für Bewegung bzw. Ruhe, also ζ. B. der Bewegungsgesetze. Kennen wir diese, so können wir darauf schließen, daß, wären nur gewisse Bedingungen zu früherer Zeit, etwa die Lage anderer Körper und damit die von ihnen ausgehenden Kräfte, andere gewesen, als sie es tatsächlich waren, dann wäre der in Rede stehende Körper zum fraglichen Zeitpunkt nicht in Ruhe, sondern bewegt gewesen. Kant kommt am Ende dieser Überlegung zu dem Schluß: „...so erkennt man die Zufälligkeit daraus, daß etwas nur als Wirkung einer Ursache existieren kann" (B 291).
Eine - von Kant nicht beabsichtigte und nicht beachtete Pointe dieses Arguments möchte ich hervorheben: es zeigt, daß in der Erfahrung eine regelhafte Abfolge nur dadurch als kausal erwiesen werden kann, daß sie Zufälliges miteinander verbindet, also solches, das, obschon es existiert, auch nicht existieren könnte. Wenn eine Abfolge von Zuständen als unabänderlich gegeben gedacht wird, verliert die Behauptung, einer von ihnen sei Ursache eines anderen, jede empirische oder reale Bedeutung. Hieraus nun ergibt sich die wichtige Folgerung, daß die bloße Regelhaftigkeit einer Abfolge nur zusammen mit einer Verletzung eben dieser Regularität Zugang zum Begriff der Kausalität verschaffen kann. Eben darin besteht die von Kant analysierte epistemische Situation, in der von Ursachen und Wirkungen die Rede sein kann. Gerade ein deterministisches Weltbild, das so gern als Erfüllung einer kausalen Ordnung der Dinge verstanden wird, läßt bei genauerem Zusehen keinen Platz mehr für die Anwendung der Begriffe Ursache und Wirkung. Was zum Verhältnis zwischen Regularität und Kausalität des näheren zu sagen ist, bleibt dabei freilich offen. Einen Schritt in die richtige Richtung haben die Rechtstheoretiker Hart und Honoré getan, denen ich mich jetzt kurz zuwenden will.
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5. Hart und Honoré zur Definition von „Ursache" Im Einklang mit der eben geschilderten Sachlage steht die folgende, auf die alltägliche und die juristische Praxis gemünzte Definition der Ursache: „[T]he cause, though not a literal intervention, is a difference to the normal course [of events] which accounts for the difference in the outcome" (1959: 27). Wir sollen uns also einen regulären Normalverlauf der Dinge vorstellen, bezüglich dessen die Frage nach seiner kausalen Verfassung zunächst nicht entsteht; in einem zweiten Gedankenschritt ist eine Intervention ins Auge zu fassen, die im wörtlichen Sinne eine solche sein kann, aber oft nur in Analogie zu einer solchen zu denken ist. Eben diese stellt die Ursache dar, nämlich dafür, daß es anders kommt, als es sonst gekommen wäre. Da ich an anderer Stelle (1992) das theoretische Umfeld dieser Definition erörtert habe, will ich darauf jetzt verzichten und mich im Schlußteil meiner Darlegung auf zwei Punkte konzentrieren: erstens auf die durch die Definition nahegelegten, aber, wie ich meine, nicht gesicherten Möglichkeiten einer kausalen Interpretation von Regularitäten, schließlich zweitens und letztens, wie im Titel meines Beitrags angedeutet, auf eine wichtige Unzulänglichkeit der Definition, darauf nämlich, daß sie nicht erkennen läßt, wie die Anwendung des Begriffs „Ursache" von einem willkürlichen Bezug auf die Interessen des jeweiligen Betrachters befreit und die Kausalrelation als etwas objektiv Reales gedacht werden kann.
6. Über die kausale Interpretation von Regularitäten Da ich mich in meinen polemischen Thesen so ganz und gar gegen die Regularitätstheorie der Kausalität gestellt habe, wäre es natürlich gut für meine Sache, wenn ich wenigstens erklären könnte, wie eine derart irrige Auffassung so viel Anerkennung hat finden können, spätestens seit Hume und, wie uns Carrier überzeugend versichert, bis heute. Dazu mache ich zwei Bemerkungen:
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(a) Wenn wir mit Hart und Honoré annehmen, daß durch die Einwirkung von Ursachen zustandekommende Ereignisse oder Zustände zunächst einmal als Abweichungen von einem erwartbaren Normalverlauf auszumachen sind, wird dieser Verlauf, wenn auch nicht notwendigerweise, so doch fast immer, als Wiederholung einer Kette gleichartiger Abläufe in Erscheinung treten. Sind solche Abläufe nun wenigstens in einem gegebenen Stadium einer menschlichen oder einer (wohl durchweg als realmöglich anzusehenden) natürlichen Abänderung zugänglich, die der Art nach dem ungestörten Verlauf gleicht, dann kann auch der ungestörte Verlauf selbst als eine solche Abänderung gedacht werden, nämlich als aus einem anderen Verlauf heraus zustande gebrachtes Stück des Geschehens, mithin als Ursache. Das einfachste Beispiel bieten Abschnitte von Bewegungen, die durch Einwirkung von außen durch quantitativ andere, aber sonst den vorigen gleichartige Abschnitte einer neuen Bewegung ersetzt werden. Die Bewegungsabschnitte eines von der Umwelt hinreichend abgeschlossenen Systems mögen untereinander naturgesetzlich verbunden sein, nichtsdestoweniger alle abänderbar und insofern kontingente Ursachen späterer Stücke des regulären Ablaufs, nämlich Bedingungen, von deren Eintreten spätere Stadien der Bewegung abhängen. Betrachtet man regelhafte Abläufe in dieser Weise, so wird zum einen verständlich, inwiefern Fälle aus gesetzlich miteinander verbundenen Klassen von Ereignissen als Ursache und Wirkung erscheinen können, zum anderen aber auch sichtbar, daß es sich dabei um eine Fehldiagnose handelt. Die wahre Ursache ist das, was ein Stadium eines Prozesses abändert und damit eine Abzweigung schafft, die von einem Verlauf in einen anderen hineinführt. (b) D a viele Geschehensverläufe relativ gut gegen den Weltverlauf im ganzen abgegrenzt oder abgrenzbar sind, da sie ferner wiederholt vorkommen oder ins Werk gesetzt werden können und überdies stets wieder in gleichartiger Weise Abänderungen zugänglich sind, erschließt sich zwanglos die ursprünglich wohl von Collingwood (1940) inspirierte, später von Gasking (1955) ausgeführte Rezept-Theorie der Kausalität. Ihr zufolge
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ist eine Ursache als Verwirklichung einer immer wieder anwendbaren Herstellungsvorschrift zu denken und die Wirkung als das jeweilige Produkt. Ich erwähne diese Auffassung von Kausalität nur deshalb, weil an ihr anschaulich wird, wie der weiterführende Gedanke der Intervention mit den Schlacken der Regularitätsauffassung behaftet bleiben kann, was wir auch schon bei Hart und Honoré sahen. Aber natürlich kann ein Rezept auch für einen unwiederholbaren Fall erdacht (oder glücklich erraten bzw. verfehlt) werden, sagen wir, für die Sanierung der öffentlichen Haushalte nach der Vereinigung Deutschlands. Im Prinzip können, so wollen wir hoffen, finanzund wirtschaftspolitische Maßnahmen die Ursache für gedeihliche Staatsfinanzen künftiger Jahre sein; an ein wiederholbares Kochrezept dürfte hier schwerlich gedacht werden können.
7. Über die Relativität von Kausalaussagen Ein durch die Interventionstheorie der Kausalität aufgeworfenes Problem drängt sich nun auf: Wenn es, wie diese Theorie es will, Abzweigungen von ursprünglich erwarteten Geschehensverläufen gibt, darf gefragt werden, was denn einen der beiden Verläufe als den von Hart und Honoré so genannten „normalen" Verlauf auszeichnet. Alles, was geschieht, geschieht; und es geschieht nur einmal. Eine Abweichung von einem Normverlauf, für die eine Ursache als zuständig erklärt werden kann, setzt ein vorgefaßtes und selbst nicht schon kausal gedeutetes Bild des Weltverlaufs voraus. Und wo anders sollte dieses herkommen als aus unseren Erwartungen, die ihrerseits von unseren Bedürfnissen, Interessen, und - warum nicht auch? - Normen gesteuert sein mögen? Beispiele für solche Relativität auf unsere vorgefaßten Anschauungen und Erwartungen sind wohlfeil zu haben und natürlich bei Hart und Honoré (1959), aber auch schon bei Collingwood (1940) in reicher Fülle zu finden. Ein Beispiel möge genügen: Ein Auto biegt aus einer Seitenstraße kommend in eine von Hindernissen freie Hauptstraße ein, beschleunigt kräftig, bis unerwartet ein Kind auf die Straße
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springt. Trotz des raschen Bremsmanövers, das der Fahrer des Wagens einleitet, kommt es zum Unfall. Sei dieser die Wirkung genannt. Was ist die Ursache? Natürlich will ich ein Beispiel dieses zumindest für geübte Juristen banalen und abgenützten Typs nicht in eigenem Recht diskutieren. Es kann vielmehr gerade dank seiner Banalität dazu dienen, in müheloser Kürze das Relativitätsproblem anschaulich zu machen. Ist das Auto ein Porsche und hat ihn der Fahrer schon 50 m von der Ecke auf 100 km/h gebracht, wäre darin eine abnorme und gewiß unfallträchtige Situation zu sehen, die sich von „normalem" Einbiegen und Beschleunigen in eine Straße hinein, auf die gerade ein Kind läuft, was ja durchaus als normal gelten kann, auffällig abhebt. Analog könnten wir andere Optionen durchspielen: die irreguläre Bewegung des Kindes, die Unaufmerksamkeit der begleitenden Eltern eines hinreichend kleinen Kindes, für das es normal ist, irgendwohin loszulaufen, während es für die Eltern gerade nicht als normal gelten dürfte, es außer acht zu lassen, usw. Auch nicht-menschliche Ursache-Kandidaten könnten ins Spiel kommen: sagen wir, eine an dieser Stelle ungewöhnliche Krötenwanderung, die die ordnungsgemäße Bremsung vereitelt. Die Pointe bleibt immer die gleiche: in einer typischen lebensnahen Situation gibt es allemal zu viele realmögliche Verzweigungen des Geschehens. Wir ertrinken gleichsam in der Flut konkurrierender Ursachen; die Frage, was auch hätte anders verlaufen können, hat allzu viele Antworten. Nur aus vergangener Erfahrung weitergetragene Urteilsgewohnheiten oder für den Juristen von besonderem Interesse - bewußt herangetragene Normen, ζ. B. Verkehrsregeln, können die faktische Komplexität so reduzieren, daß die Frage nach der Ursache, vielleicht auch nach den - wenigen ineinandergreifenden - Ursachen sinnvoll und im günstigen Fall entscheidbar wird. Eine unter derartigen Umständen vorangetriebene Ursachendiagnose kann jedoch höchstens in dem ganz schwachen Sinne objektiv genannt werden, daß sie nicht subjektiv oder gar willkürlich, sondern intersubjektiv eingespielt und akzeptiert sein kann. Objektiv im Sinne von „sachbezogen" oder „tatsächlich" - in
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klarem Gegensatz zu „normativ" - ist sie nicht, oder allenfalls ganz indirekt und undurchschaubar, insofern natürlich Gegenstandserfahrung in das sozial eingebürgerte und sanktionierte Urteilsmuster hinein absorbiert worden ist. Genau dies nun ist der beunruhigende Stand der Dinge, der die Praxis unserer Kausaldiagnosen, insbesondere natürlich die juristische Praxis, belastet und erklärt, warum die Kontroverse um die Frage, ob Kausalbehauptungen Tatsachen- oder Entscheidungsfragen sind, nicht zur Ruhe gebracht werden kann. Eine sprechende Schilderung der Lage findet sich bei Hart und Honoré (1959: 64 ff), die schließlich bis zu Folgerungen der Art gelangt, daß die Unbestimmtheit der nur sozial zu produzierenden Standards kausaler Beurteilungen, diese „inveterately disputable" mache (1959: 75). Dieses negative Ergebnis ist natürlich längst vertraut. Meine vorangehenden Überlegungen sollten zunächst lediglich den zugehörigen Hintergrund verdeutlichen: Obwohl dies von vielen anders gesehen wird, ist die Lage gerade in den grundlegenden Naturwissenschaften prinzipiell nicht besser als im Alltagsleben oder in der auf dieses bezogenen Rechtstheorie und -praxis. Selbst wenn wir die Erkenntnis von Regularitäten oder Gesetzen als objektiv ansehen dürften, würde uns dies für die objektive Ermittlung von Ursachen nichts nützen, weil Ursachen gerade in regel- oder gesetzesverletzenden Umständen zu suchen sind; und ob diese ebenso objektiv als solche erkannt werden könnten, ist unklar. Die Erkenntnisbemühung der Gesetzeswissenschaften zielt gerade nicht auf die Erkenntnis von Ursachen, sondern eher in die Gegenrichtung; insoweit hatte Russell recht. Das letzte Wort ist aber damit nicht gesprochen; die soziale Relativität kausaler Beurteilungen ist nur eine, freilich aufdringliche und folgenreiche Seite der hier vorgetragenen Analyse der Kausalität. U m die andere, die objektive oder sachgegründete, Seite wenigstens am Ende noch in den Blick zu bekommen, müssen wir uns schließlich ganz von den Rückständen der beharrlich weiterwirkenden Regularitätsauffassung der Kausalität befreien, wie sie mit der Vorstellung eines „normalen" Verlaufs, von dem sich abhebend Ursachen und Wirkungen allererst
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ihre Existenz gewinnen, offensichtlich noch allzu leicht, vielleicht unvermeidlich verbunden werden. Was uns dann bleibt, ist nichts anderes mehr als eine Verzweigung zweier Geschehensverläufe, eines tatsächlich eingetretenen Verlaufs und eines alternativen Verlaufs, der zwar nicht wirklich geworden, aber real möglich gewesen ist. Dasjenige nun, jenes einstweilen noch nicht umschriebene und in seiner Natur ungeklärte Etwas, das den wirklichen Verlauf eingeleitet hat, den (oder einen) alternativen Verlauf indes ebenfalls hätte einleiten können, zeigt sich uns als die Entität, die Anspruch auf den Status der Ursache machen kann. Es mag sein, daß man in gewissen Kontexten mit einem relativen Ursachenbegriff zufrieden sein kann. Wer indes am objektivierbaren Tatsachencharakter kausaler Verhältnisse (gerade kausaler Verhältnisse!) festhalten möchte, wem es nicht behagt, daß der Ursachenbegriff gleichsam epistemisch degeneriert, wird die realen Gegebenheiten näher betrachten wollen, die als Verzweigungsstellen des tatsächlich ablaufenden, insbesondere des abgelaufenen, Geschehens auszumachen sind, eben jene Gegebenheiten, die - im wörtlichen oder ebenso geläufig im übertragenen Sinne - für den nachfolgenden Verlauf, wie man so sagt, „verantwortlich" sind. Eben diese Redewendung von dem, was für ein Geschehen, zu dem real mögliche Alternativen existieren, verantwortlich ist, macht deutlich, daß und warum es schwer sein wird, sich mit einer epistemischen Relativierung kausaler Begrifflichkeit zufriedenzugeben. Wer oder was für einen faktischen oder in der Zukunft möglichen Verlauf der Dinge verantwortlich ist, kann doch wohl nicht - so möchte man sagen - allein eine Frage sozial ausgehandelter Zuschreibungen sein. Da muß doch auch noch die Frage erlaubt sein, an was oder wem es gelegen hat, daß es so kam, wie es kam, und nicht anders, wie es auch hätte kommen können. Überlegungen dieser Art führen mich zu dem vielleicht paradox klingenden Schluß, daß, wenn überhaupt, ein objektiver Begriff von Ursache oder Kausalität gerade nicht im Ausgang von den führenden Objektwissenschaften, sondern im Rahmen der Subjekt- oder Humanwissenschaften mit Aussicht auf Erfolg
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entwickelt werden kann. Das beste und in seiner gegenständlichen Realität selten ernstlich und nirgends überzeugend bezweifelte Beispiel für etwas, das an einem Verzweigungspunkt des Geschehens diesen und nicht jenen Geschehensverlauf eingeleitet hat, ist natürlich ein handelnder Mensch. Deshalb ist ein bekanntes Prinzip der Kausalanalyse, das auf den ersten Blick eher auf soziale Relativität verdächtig scheint, ganz im Einklang mit der Bemühung um antikonstruktivistische Realität und antirelativistische Objektivität kausaler Aussagen. In der Sprache von Hart und Honoré lautet es so: „We do not trace the cause through the deliberate act... .Conversely we do very often trace the cause through other causes to reach a deliberate act" (1959: 40). Dieses Prinzip sehe ich als natürlichen Ausgangspunkt einer objektiven Analyse kausaler Verhältnisse an. Wie es in komplexere soziale Interaktionen und in außermenschliche Bereiche hinein entfaltet und ergänzt werden kann, was nötig wäre, um zu einem befriedigenden Verständnis und Gebrauch unserer kausalen Redeweisen im ganzen zu kommen, ist natürlich ein weites Feld.
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Paul Hoyningen-Huene
Zu Emergenz, Mikro- und Makrodetermination
Diese Arbeit ist folgendermaßen gegliedert. Zur Einführung werde ich kurz und schematisch die Geschichte des Emergenzbegriffs skizzieren. D a n n werde ich in Abschnitt II notwendige Voraussetzungen für die Anwendung des Emergenzbegriffs diskutieren. Im weitaus längsten Abschnitt III werde ich anschließend den Emergenzbegriff selbst klären. Schließlich gehe ich in Abschnitt IV auf Probleme der Makrodetermination ein.
I. Einführung: Zur Geschichte des Emergenzbegriffs 1 Die Geschichte des Emergenzbegriffs läßt sich in vier Phasen einteilen. 2 Die erste Phase umfaßt die Vorbereitung und Einführung des Begriffs im 19. Jahrhundert. In der zweiten Phase in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts wird der Emergenzbegriff dann auf systematische Weise in den Kontext der Evolutionstheorie eingeführt, u m nämlich eine Alternative sowohl zu Mechanizismus als auch zu Vitalismus zu formulieren. Diese beiden Phasen werden auch als der „britische Emergentismus" bezeichnet. 3 Die dritte Phase umfaßt die ausführliche kritische Diskussion dieser Konzeption; sie endet in den frühen 60er Jahren dieses Jahrhunderts. Schließlich erlebt der Emergenzbegriff eine Wiederbelebung in der vierten Phase, w o er 1 Vgl. Stöckler (1991), Blitz (1992), McLaughlin (1992) und Stephan (1992). 2 Siehe Stephan (1992), 25-26. 3 McLaughlin (1992), 49.
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nämlich seit den 70er Jahren insbesondere im Kontext der Diskussion des Leib-Seele Problems erneut verwendet wird.
1. Die Einführung des Emergenzbegriffs
im 19.
Jahrhundert
Die erste Phase beginnt mit John Stuart Mill (1806-1873); er benutzt das Wort Emergenz zwar noch nicht, aber er führt eine fundamentale einschlägige Unterscheidung ein. Es geht Mill in Kap. 6 von Buch III seines berühmten „A System of Logic" von 1843 um zwei Weisen, wie sich die Wirkung zweier gleichzeitig wirkender Ursachen zu den entsprechenden Einzelwirkungen dieser Ursachen verhält. Im einen Fall erhält man die gemeinsame Wirkung durch Addition oder Superposition der Einzelwirkungen, im anderen dagegen nicht. Als Paradigma für den ersten Fall verwendet Mill zwei mechanische Kräfte, deren gemeinsame Wirkung sich aus der Vektoraddition der Einzelkräfte ergibt. Den zweiten Fall illustriert er mit chemischen Beispielen, etwa am Wasser, dessen Eigenschaften keine Spur der Eigenschaften seiner Komponenten Wasserstoff und Sauerstoff aufweisen4. Es ist diese Unterscheidung, die später George Henry Lewes (1817-1878) in seinem fünfbändigen Werk „Problems of Life and Mind" von 1874-79 aufnimmt und terminologisch als Unterschied zwischen „emergenten" und „resultanten" Eigenschaften faßt.5
2. Die Verwendung des Emergenzbegriffs Evolutionstheorie der 20er Jahre
in der
Erst in der zweiten Phase wurde der Begriff der Emergenz im 20. Jahrhundert ein allgemein bekannter Begriff, und zwar durch seine Verwendung im Kontext der Biologie, genauer der 4 Mill (1843), 370-372. Vgl. auch McLaughlin (1992), 58-65. 5 Lewes (1874-1879), vol. I, 98, vol. II, 412-415. Zu Leben und Werk von Lewes siehe Kaminsky (1967).
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(Darwinschen) Evolutionstheorie, noch genauer innerhalb einer Bewegung, die sich „Emergent Evolutionism" nannte. Der herausragende Repräsentant dieser Bewegung war der Biologe und Philosoph C. Lloyd Morgan (1852-1936) mit seinem Buch „Emergent Evolution" von 1923.6 Morgans Vorstellung des Evolutionsprozesses war, daß dieser im Unterschied zur Meinung Darwins nicht immer gleichförmig sei, sondern von Zeit zu Zeit kritische Wendepunkte aufweise, in denen plötzlich grundsätzlich neue Phänomene auftauchten; diese werden „emergent" genannt. Das Emergente komme 1. zum schon Bestehenden hinzu, entstehe 2. aus diesem, sei 3. grundsätzlich neu in der Geschichte des Universums, könne 4. prinzipiell nicht vorhergesagt werden und könne 5. demnach auch nicht naturwissenschaftlich erklärt werden, und müsse stattdessen „mit natürlicher Frömmigkeit (natural piety)" 7 hingenommen werden 8 , wie er mit der Formulierung von Samuel Alexander sagt. Eine letzte philosophische Erklärung finde das Emergente nur in Gott, der - das wissenschaftliche Erklären übersteigend und ergänzend - anerkannt werden müsse. 9 Morgans Emergenzvorstellung wurde von C.D. Broad (18871971) in dessen Buch „The Mind and its Place in Nature" von 1925 aufgenommen, analysiert und präzisiert. 10 Er machte darauf aufmerksam, daß im Fall der resultanten Eigenschaften sich das Resultierende nicht einfach unmittelbar aus den Eigenschaf6 Blitz (1992), 59. Zu Leben und Werk von Morgan siehe Goudge (1967a) und Blitz (1992), Teil 2; für eine scharfe Kritik an seinem Emergenzbegriff siehe MacKinnon (1924). 7 Morgan (1923), 4, 7, 8,12, 16, 20, 88, 89, 204, 205,207 u.ö. 8 Vgl. Goudge (1967a), 393. Allerdings irrt Goudge, wenn er an dieser Stelle behauptet, bei Morgan sei die Ursache für die Unvorhersehbarkeit des Emergenten, daß „es keinen allgemeinen Gesetzen gehorcht". Vielmehr hat für Morgan, wie für Mill und Lewes, die Emergenz den Rang eines Naturgesetzes. Wir können das Emergente nur nicht vorhersagen, weil wir von dem entsprechenden Gesetz vor seinem Eintreten keine Kenntnis haben können: siehe Morgan (1923), 3, 281-282. 9 Morgan (1923), 9. 10 Zu Leben und Werk von Broad siehe Brown (1967); siehe auch McLaughlin (1992), 75-89.
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ten der Komponenten ergebe, sondern daß man hierfür immer auch ein Kompositionsgesetz benötige. 11 Emergenz liegt dann vor, wenn wir das für die Reduktion notwendige Kompositionsgesetz ausschließlich durch die Untersuchung des entsprechenden Ganzen erhalten können. 12 Bei Emergenz könne das charakteristische Verhalten des Ganzen nicht, und zwar nicht einmal theoretisch, aus dem vollständigsten Wissen des Verhaltens der Komponenten, einzeln oder in anderen Teilkombinationen, und ihren Anteilen und Anordnungen in diesem Ganzen abgeleitet werden. 13
Broads Explikation des Emergenzbegriffs ist für viele Autoren bis heute leitend geblieben. 14
3. Die Diskussion des Emergenzbegriffs
1926-1961
In der dritten Phase wurde das von den britischen Emergentisten eingeführte Emergenzkonzept und seine Rolle in den Wissenschaften kritisch diskutiert. Diese Diskussion beginnt im wesentlichen 1926 mit dem 6. Internationalen Kongreß für Philosophie und einem Symposium der Aristotelian Society. Sie umfaßt Beiträge von Driesch 1927, Lovejoy 1927, Hempel/Oppenheim 1948, Pap 1952 und Meehl/ Seilars 1956, um nur einige der prominenteren Autoren zu nennen. 15 Sie endet mit Ernest Nagels 1961 erschienen Buch „The Structure of Science", mit dem der Emergenzbegriff (vorübergehend) das Interesse der Philosophen verliert.
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Broad (1925), 61-64. Broad (1925),64-65. Broad (1925), 59, ähnlich auch 61. Vgl. beispielsweise Ernst Mayr's fast wörtliche Wiederholung von Broads Formulierung (wobei er nicht auf Broad verweist): „Systeme haben fast immer die Eigenheit, daß die Charakteristika des Ganzen nicht einmal theoretisch aus der vollständigen Kenntnis der Komponenten, einzeln oder in anderen Teil-Kombinationen genommen, abgeleitet werden können" (Mayr (1982), 63; ähnlich Mayr (1988), 15).
15 Für weitere Angaben vgl. Stephan (1992).
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4. Die Renaissance des Emergenzbegriffs in den 70er Jahren D o c h kommt es in einer vierten Phase zu einer Renaissance des Emergenzbegriffs, zusammen mit einer Wiederbelebung und Verschärfung des früher eher beiläufig verwendeten Begriffs der Supervenienz. 1 6 Diese Renaissance steht im Zusammenhang mit einer Abkehr von reduktionistischen Vorstellungen im allgemeinen und in der Philosophie des Geistes im besonderen. Wie schon in der zweiten Phase scheint der Emergenzbegriff hier zur Artikulation von Positionen zwischen etablierten Alternativen geeignet. Diese Phase beginnt in den späten 70er Jahren und hält bis heute an.
II. Voraussetzungen für die Anwendung des Emergenzbegriffs In der ausgedehnten und kontroversen Diskussion um den Emergenzbegriff hat sich gezeigt, daß er vielfach auf ziemlich unklare Weise verwendet worden ist. Vor der inhaltlichen Klärung des Emergenzbegriff ist aber zunächst der Typ von Situation zu klären, in der er überhaupt verwendet werden kann. Hier müssen drei Voraussetzungen expliziert werden. 1. Eine grundlegende ontologische Voraussetzung der Emergenztheoretiker ist ein materialistischer Monismus. Dies bedeutet hinsichtlich der Anwendung des Emergenzbegriffs in der Biologie die Abwehr des Vitalismus in seinen beiden hauptsächlichen Spielarten, nämlich der Leugnung der Existenz einer eigenen Materiesorte „organische Materie" oder eigener, spezifisch vitaler Wechselwirkungen wie Lebensprinzipien oder Entelechien. 1 7 Auf der anderen Seite versteht sich die Emer16 In Morgan (1923) findet sich der Begriff der Supervenienz beispielsweise auf den Seiten 7, 9 - 1 0 , 1 2 , 1 3 , 1 6 , 1 7 , 19, 2 0 , 2 9 9 u.ö. D a in der analytischen Philosophie vielfach ältere Texte nicht gelesen werden, löste bei einem A u t o r schon die Entdeckung, daß der Supervenienzbegriff in den 60er Jahren auf selbstverständliche Weise in der Emergenzdiskussion verwendet wurde, großes Erstaunen aus: Van Cleve (1990), 225. 17 Broad (1925), 58-59; Kim (1992), 123; Mayr (1982), 64.
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genztheorie aber als Gegensatz zum „Mechanizismus", „mechanischen Materialismus" oder „reduktiven Physikalismus", bei dem eine durchgängige Erklärbarkeit aller Phänomene mittels „mechanischer", d.h. allgemeiner: physikalischer Prinzipien unterstellt wird. Mit dem Blick auf die Verwendung des Emergenzbegriffs in der Leib-Seele-Problematik bedeutet der materialistische Monismus die Leugnung aller ontologischen Dualismen, insbesondere des cartesischen Dualismus. 2. Emergenz soll etwas sein, was sich beim Übergang von einer tieferen zu einer höheren Ebene (oder Niveau, Integrationsniveau etc.) zeigt. Dabei besteht die höhere Ebene aus Systemen, die ausschließlich aus den Elementen der tieferen Ebene zusammengesetzt sind. Dementsprechend muß für die Anwendung des Emergenzbegriffs eine Menge von Systemen (obere Ebene) zusammen mit einer bestimmten Teil-Ganzes-Relation angegeben werden, die bestimmt, was genau im gegebenen Kontext als die Teile des Systems angesehen werden soll (untere Ebene). 19 3. Eine dritte Voraussetzung für die Möglichkeit einer nichttrivialen Anwendung des Emergenzbegriffs ist die Spezifikation des Vokabulars, mit dem die Objekte der unteren Ebene beschrieben werden sollen. 20 Insbesondere kommt es hier auf bestimmte Einschränkungen hinsichtlich der legitimen Prädikate für die untere Ebene an. Beispielsweise würden Prädikate der Art „die Eigenschaft, auf der höheren Ebene Systeme mit bestimmten Eigenschaften zu bilden" jegliche Emergenz auf triviale Weise unmöglich machen, weil die Eigenschaften der Systeme dann immer auf die Eigenschaften der Komponenten zurückgeführt werden können. So wäre es etwa illegitim, die Transparenz bestimmter Materialien (eine Eigenschaft auf der oberen Ebene) durch eine ad hoc postulierte Eigenschaft
18 Z.B. Sperry (1980), 195-196, 204 u.ö. 19 Hempel/Oppenheim (1948), 260. Für die hier bestehenden verschiedenen Möglichkeiten im Fall von Soziologie und Psychologie vgl. z.B. Münch/Smelser (1987), 356-357. 20 Ayala (1989), 116; Broad (1925), 65-66; Hempel/Oppenheim (1948), 260261.
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„transpa" zu erklären, die den Atomen dieser Materialien zukommen soll.21 In diesem Fall ist die Illegitimität das Prädikats „transpa" offensichtlich, weil es ad hoc eingeführt wurde. Es ist aber schwierig, auf allgemeine Weise zu charakterisieren, was das Vokabular auszeichnet, das legitimerweise für die Beschreibung der Objekte der unteren Ebene verwendet werden darf. Dennoch läßt sich zweierlei festhalten. Einmal kann das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen von Emergenz nur relativ zu einem bestimmten Vokabular festgestellt werden, mit dem die untere Ebene beschrieben werden soll.22 Zum anderen ist dieses Vokabular im gegebenen Kontext so zu wählen, daß das triviale Vorliegen bzw. Nicht-Vorliegen von Emergenz ausgeschlossen wird, wie immer dieser letzteren Forderung auch Genüge geleistet wird.
III. Klärung des Emergenzbegriffs Die genaue inhaltliche Klärung des Emergenzbegriff geschieht nun in sechs Schritten: Es gibt nämlich mindestens so viele Dimensionen, in denen er unklar ist:23 1. 2. 3. 4. 5.
Was sind die Charakteristika der Emergenz? Was genau ist emergent? Was sind die angemessenen Gegenbegriffe zur Emergenz? Was ist der Anwendungsbereich der Emergenz? Ist Emergenz ein theorierelativer Begriff oder ein absoluter Begriff? 6. Ist das Emergente als nicht-Reduzierbares verständlich? 21 Oppenheim/Putnam (1958), 10. 22 Natürlich auch nur relativ zu einem Vokabular, mit dem die obere Ebene beschrieben werden soll, aber dies ist weniger kritisch. 23 In der Literatur findet man verschiedene Differenzierungen des Emergenzbegriffs; sie sind hier z.T. aufgenommen und weitergeführt: vgl. Bischof (1989), 223; Brodbeck (1958), 193, 213 f.; Giesen (1987), 338-339; Klee (1984); Carrier/Mittelstraß (1989), 127-130; Stephan (1992), 26-39; Wimsatt (1976), 207-209.
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1. Was sind die Charakteristika
von
Emergenza
Was ist das Kriterium von Emergenz, d.h. was sind die Charakteristika, die dem Emergenten - worin immer es besteht, siehe Punkt 2 - zukommen? Es gibt hier viele verschiedene Möglichkeiten, die ich als zwei Hauptvarianten diskutiere 24 ; sie sind miteinander kombinierbar. 1.1. Das Emergente ist prinzipiell unv orh ersagbar aus der Kenntnis der unteren Ebene. 2 5 Mit der „Kenntnis der unteren Ebene" ist insbesondere gemeint, daß man die Eigenschaften der Komponenten des Systems kennt sowie die sie steuernden Gesetze, und - um eine triviale Form von NichtReduzierbarkeit auszuschließen 26 - den „Bauplan" des Systems. Die genannte Unvorhersehbarkeit kann nun wieder Verschiedenes bedeuten 2 7 . Diese Bedeutungsvarianten fallen in zwei wesentlich verschiedene Klassen, je nachdem, ob die behauptete Unvorhersagbarkeit eine Konsequenz fehlender Mikrodetermination ist oder nicht. 2 8 Mikrodetermination 2 9 (oder mereologische Determination oder mereologische Superve24 Vgl. Klee (1984); Kekes (1966), 363; Stephan (1992), 27-39.- Eine neue, andersartige Variante hat Stöckler (1990) entwickelt, auf die ich aus Platzgründen aber nicht eingehen kann. 25 Berenda (1953), 271; Broad (1925), 63; Lewes (1874-1879), vol. 2, 414; Mayr (1982), 64; Mill (1843), 371; Morgan (1923), 1-6, 64-66, 281 u.ö.; Nagel (1961), 367-374; Popper (1977), 16, 28 u.ö.; Stephan (1992), 32-37; Wilson (1975), 7. 26 Vgl. Hoyningen-Huene (1985), bes. 274-277, 283. 27 Vgl. Stephan (1992), 33-34. Stephans erste Variante von Unvorhersehbarkeit aufgrund bereits indeterministischer Prozesse auf der unteren Ebene betrachte ich nicht, weil sie unter den Voraussetzungen, die ich mache, nicht relevant ist; das gleiche gilt für seine fünfte Variante. Dafür kommt hier als dritte Variante die von Carrier und Mittelstraß hinzu. 28 Carrier/Mittelstraß (1989: 128) unterscheiden diese beiden Möglichkeiten terminologisch als faktische und prinzipielle Nicht-Ableitbarkeit: „Faktische Nicht-Ableitbarkeit beruht auf der Unkenntnis der hierzu erforderlichen Gesetzmäßigkeiten, prinzipielle Nicht-Ableitbarkeit auf deren Nicht-Existenz." 29 Vgl. zu diesem Terminus Klee (1984), insbes. 44.
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nienz30) liegt vor, wenn - bei fehlender bzw. konstanter Einwirkung von außen - der Zustand des Ganzen (des Systems) restlos durch seine Teile (seine Komponenten) bestimmt ist. In physikalischer Terminologie heißt das, daß das Ganze keine eigenen Freiheitsgrade hat: Zu einem bestimmten Zustand auf der unteren Ebene korrespondiert genau ein Zustand auf der oberen Ebene, oder: Unterschiede auf der oberen Ebene basieren auf Unterschieden auf der unteren Ebene. - Die stärkste Variante von Unvorhersehbarkeit ist eine Konsequenz fehlender (vollständiger) Mikrodetermination. Bezüglich der Bestimmung des Geschehens auf der oberen Ebene wäre dann jede noch so detaillierte Kenntnis des Geschehens der unteren Ebene nicht ausreichend informativ. Es könnte bei vollständiger Kenntnis des Zustands der Systemkomponenten und ihrer Konfiguration keine Voraussage über das Gesamtsystem gemacht werden, weil mit einem Mikrozustand des Systems verschiedene Makrozustände verträglich sind. Es scheint dies die Position zu sein, die der bekannte Neurophysiologe Roger Sperry vertritt: Die kürzlich erfolgte Verwerfung der anscheinend unerschütterbaren Position [des Mikrodeterminismus] erfolgte weniger durch seine Negation oder Ersetzung als vielmehr durch seine Ergänzung. Mikrodeterminismus wird beibehalten aber f ü r unvollständig, ungenügend gehalten. Es wird gezeigt, daß die Eigenschaften, Kräfte und Gesetze von Mikroereignissen durch die Eigenschaften, Kräfte und Gesetze der Makroebene umgriffen und ersetzt, nicht unterbrochen werden [encompassed and superseded, not disrupted]. 3 1
- Eine Abschwächung vollkommen fehlender Mikrodetermination ist eine bloß probabilistische Determiniertheit der oberen Ebene durch die untere. In diesem Fall sind aus der Kenntnis der unteren Ebene nur Wahrscheinlichkeitsaussagen über das Gesamtsystem möglich. Dieser Fall könnte in bestimmten Quantensystemen realisiert sein.
30 Vgl. zu diesen Termini K i m (1984), 154; Stephan (1992), 33. 31 Sperry (1986), 268.
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In den anderen Varianten der Unvorhersehbarkeit wird Mikrodetermination vorausgesetzt. Trotzdem kann eine Vorhersage von Eigenschaften der oberen Ebene aus praktischen Gründen unmöglich sein. - Einmal kann der determinative Zusammenhang zwischen unterer und oberer Ebene für uns grundsätzlich unwißbar sein; Carrier/Mittelstraß sprechen in diesem Fall von „Emergenz im gleichsam prinzipiell-faktischen Sinne" 32 . - Dann kann Unvorhersehbarkeit auftreten, wenn trotz vorliegender Mikrodetermination die Kenntnis des Systemzustands nicht aus der Kenntnis der unteren Ebene allein, sondern ausschließlich empirisch post factum, nach dem Auftreten der emergenten Phänomene selbst, gewonnen werden kann. In diesem Fall ist eine Vorhersehbarkeit der Phänomene der oberen Ebene in einem engen, wörtlichen Sinn nicht gegeben: vor dem erstmaligen Auftreten der emergenten Phänomene kann man keine Kenntnis von ihnen haben. 3 3 Dies ist die hinsichtlich der Unvorhersehbarkeit des Emergenten am häufigsten vertretene Position. 34 Broad beispielsweise betont, daß die Eigenschaften der Komponenten eines Systems mit Emergenz dessen Eigenschaften zwar determinieren, daß aber der Zusammenhang zwischen den Eigenschaften der Komponenten und denen des Systems durch ein „isoliertes und irreduzibles Gesetz [unique
32 Carrier/Mittelstraß (1989), 130. 33 Morgan (1923), 3-5, 64-66, 281-282; Morgan behauptet entgegen der Darstellung von Goudge (1967a: 393) nicht, daß das Emergente nicht unter Gesetze fällt; vgl. Fußnote 8. 34 Vgl. Kim (1992), 123-124, 127; Sperry (1980), 200. - Hempel und Oppenheim argumentieren gegen diese Form der Unvorhersehbarkeit, indem sie mittels Beispielen belegen, daß die „Wissenschaft oft Verallgemeinerungen etabliert, mit denen sie das Auftreten von Ereignissen vorhersagen kann, die man ähnlich vorher niemals angetroffen hat" (Hempel/Oppenheim (1948), 262). Dem würde der Emergentist natürlich entgegenhalten, daß es sich dann bei den Beispielen eben nicht um emergente Phänomene gehandelt habe.
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and ultimate bzw. irreducible law]" gegeben sei. 35 Damit ist gemeint, daß dieses Gesetz 1. kein Spezialfall eines allgemeineren Gesetzes ist, 2. nicht aus der Kombination von anderen Gesetzen abgeleitet werden kann, 3. ausschließlich durch die Untersuchung der entsprechenden Systeme selbst gewonnen werden kann und 4. keine Verallgemeinerung auf irgendwelche Systeme anderer Art zuläßt. - Schließlich kann sich trotz der Kenntnis des Determinationszusammenhangs zwischen niedrigerer und höherer Ebene die geringste Unschärfe in der Kenntnis der unteren Ebene prohibitiv auf die faktischen Prognosemöglichkeiten für die obere Ebene auswirken; dieser Fall kann bei Systemen mit deterministischem Chaos auftreten. 3 6 In diesem Fall zerstört die Unschärfe der gegebenen Information über die untere Ebene ihre prognostische Verwertung hinsichtlich der oberen Ebene. Es gibt in der Literatur weitere Kriterien für Emergenz, die sich aber zumindest in einer groben Annäherung als Varianten des Kriteriums „prinzipielle Unvorhersehbarkeit" auffassen lassen: prinzipielle Unableitbarkeit, prinzipielle Unerklärbarkeit und grundsätzliche Neuartigkeit. Ich diskutiere diese Varianten aus Platzgründen hier nicht weiter. 1.2. Die zweite Hauptvariante der Charakteristika von Emergenz besagt, daß das Emergente Makrodetermination ausübt 3 7 . Die übliche Vorstellung ist, daß das Geschehen auf der Makro35 Broad (1925), 65, 68; Broad illustriert dies insbesondere am Beispiel der chemischen Verbindung, die „das plausibelste Beispiel von emergentem Verhalten darzubieten scheint" (ebenda). 36 F ü r eine populärwissenschaftliche Darstellung des deterministischen Chaos siehe z.B. Gleick (1987). 37 Klee (1984), 56-62; Morgan (1923), 16-18,20-21,71 (an dieser Stelle nennt Morgan das, was hier Makrodetermination heißt, „effective relatedness", also ein Aufeinanderbezogensein mit kausaler Wirksamkeit auf die untere Ebene), 78, 205, 206, 207; Polanyi (1968) (für die Kritik an Polanyi siehe Causey (1969); Giere (1968); Schaffner (1974), 113 fn. 8) u n d andere. Giesen (1987:338 f) faßt u.a. Makrodetermination unter dem (nicht sonderlich glücklich gewählten) Titel „praktische Emergenz" ins Auge.
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ebene durch das Geschehen auf der Mikroebene determiniert wird, also die Mikrodetermination; schließlich ist das Ganze ja gemäß Voraussetzung aus den angegebenen Teilen zusammengesetzt und nichts sonst, und es ist nicht einzusehen, woher für das Geschehen auf der oberen Ebene eigene Freiheitsgrade herrühren könnten. Demgegenüber wird bisweilen bei bestimmten Emergenzphänomenen aber die umgekehrte Kausalrichtung behauptet: einen kausalen, determinativen Einfluß des emergenten Systems auf seine Komponenten. Morgan formuliert dies für den Fall des Emergenzphänomens Lebens beispielsweise so: [D]ie Weise, wie die physikalischen Ereignisse ablaufen, die [bei den Lebensphänomenen] involviert sind, ist durch die Präsenz des Lebens verschieden - verschieden davon, wie sie ablaufen würden, wenn das Leben nicht anwesend wäre. 38
Die Doktrin der Makrodetermination durch Emergentes hat neuerdings prominente Anhänger aus der Neurophysiologie erhalten, insbesondere Roger Sperry. Er vertritt die Ansicht, daß Bewußtsein eine emergente Eigenschaft des Gehirns ist, die kausalen, determinativen Einfluß auf das physiologische Niveau hat. 3 9 Die Kausalrichtung ist also gegenüber der reduktionistischen Betrachtung umgekehrt, weshalb in diesem Zusammenhang auch von „Kausalität nach unten" (downward causality) gesprochen wird. 40 Gemeint ist ein direkter determinativer Einfluß des Gesamtsystems auf seine Komponenten. Diese Bedeutung des Ausdrucks „Kausalität nach unten" hat sich in der Literatur eingebürgert; sie trifft nicht die Bedeutung des Ausdrucks bei Campbell, der ihn eingeführt hat, da bei ihm keine
38 Morgan (1923), 16. Ganz ähnlich spricht Polanyi davon, daß die Randbedingungen, die zu einer höheren Ebene gehören, die Prozesse der niedrigeren Ebene steuern: „[Die] Struktur [eines Organismus] dient als eine Randbedingung, welche die physikalisch-chemischen Prozesse unterjocht, durch die seine Organe ihre Funktionen ausführen" (Polanyi (1968), 1308). 39 Z.B. Sperry (1964) (zit. in Sperry (1980), 196); Sperry (1980), 195-197,199, 204; Sperry (1986). 40 Z.B. Kim (1992), 120; Popper (1977), 19-20.
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direkte kausale Einwirkung des Systems auf seine Komponenten involviert ist. 4 1 Als „konkretes Beispiel für die Prinzipien der emergenten (holistischen) Kontrolle" 4 2 verwendet Sperry immer wieder das eines hinabrollenden Rades. 4 3 Die Bewegung der das Rad aufbauenden Atome und Moleküle wird dabei „durch die globalen Systemeigenschaften des Rads als eines Ganzen bestimmt und unabhängig von den Neigungen der individuellen Atome und Moleküle" 4 4 . Innerhalb der Doktrin der Makrodetermination müssen zwei Fälle unterschieden werden. Einmal nämlich kann der kausale Einfluß der oberen auf die untere Ebene so gedacht sein, daß durch den kausalen Einfluß von oben die Gesetze der Mikroebene nicht verletzt werden. Dies ist beispielsweise die Position von Polanyi: [D]ie Kontrolle eines Systems durch irreduzible Randbedingungen kommt nicht mit den Gesetzen der Physik und Chemie in Konflikt. ... Irreduzible höhere Prinzipien kommen zu den Gesetzen der Physik und Chemie hinzu" .45
Auch Sperry intendiert an den meisten Stellen seiner Schriften diese Position: [D]ie emergenten Eigenschaften einer Entität als eines Ganzen üben abwärts gerichtete kausale Kontrolle über die Teile und die Trajektorien der Teile durch
41 Campbell (1974), 180. Für die Campbellsche Verwendung von „downward causation" ist es wesentlich, daß es in der biologischen Evolution Selektion auf dem Niveau von Organismen gibt; entsprechend ist auch der Terminus „downward causation" etwas irreführend, wie Campbell selbst bemerkt: „.Kausalität nach unten ist vielleicht ein ungeschickter Ausdruck ... Die „Verursachung" ist nur nach unten gerichtet, wenn eine beträchtliche Zeitspanne, die einige reproduktive Generationen umfaßt, zum Zweck der Analyse in einen Augenblick zusammengezogen wird" (Campbell (1974), 180). Vgl. auch Klee (1984), 57-58. 42 Sperry (1980), 201. 43 Sperry (1969), 532 (zit. nach Sperry (1980), 201 und Klee (1984), 57); Sperry (1980), 201; Sperry (1986), 266, 267. Zur Kritik an Sperrys Beispiel siehe Klee (1984), 60-61. 44 Sperry (1980), 201. 45 Polanyi (1968), 1310.
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Raum und Zeit aus, ohne mit den kausalen Wechselwirkungen der Subentitäten auf ihrem eigenen Niveau in Konflikt zu geraten [without interfering with the causal interactions for the subentities at their own lower levels]. 46
Zum anderen kann der kausale Einfluß von oben so gedacht sein, daß er die auf der unteren Ebene geltenden Gesetze und ihre kausalen Zusammenhänge verletzt oder unwirksam macht. Dieser Position scheint Sperry an anderen Stellen seiner Schriften zuzuneigen: [D]ie Moleküle der höheren Lebewesen ... werden nicht durch molekulare Kräfte oder die Quantenmechanik herumbewegt, sondern durch die spezifischen holistischen vitalen und auch mentalen Eigenschaften..., die der fragliche Organismus hat. 47
Nach Kim ergibt sich für Sperry damit die Konsequenz, daß diese flöherstufigen' mentalen Ereignisse und Prozesse eine Verletzung kalischer Gesetze des niedrigeren Niveaus verursachend
physi-
Vielfach ist nicht ganz klar, welche dieser beiden Positionen ein Autor einnimmt. So schreibt Sperry beispielsweise an einer Stelle: [Die] niedrigerstufigen physikalischen Kräfte werden, obwohl sie immer noch wirken, fortschreitend durch die emergenten Kräfte der höheren und höheren Ebenen eingehüllt, überwältigt und ersetzt [enveloped, overwhelmed, and superseded]. 49
46 Sperry (1986), 266; ähnlich Sperry (1980), 202. Allerdings sagt Sperry auch: „Die Gesetze der Kausalität sind nirgends durchbrochen oder offen [meine Hervorhebung, P. H.] (außer vielleicht bei der Unbestimmtheit auf dem Quantenniveau, das hier irrelevant ist)" (Sperry (1980), 200). Das wirft natürlich die Frage auf, welchen Ansatzpunkt die Makrodetermination überhaupt haben kann, wenn auf der unteren Ebene ein geschlossener Determinationszusammenhang besteht, der nicht verletzt wird. Ich komme auf diese Frage in Abschnitt IV zurück. - Auch Popper denkt bei Emergenz und Kausalität nach unten nicht an Verletzungen der physikalischen Gesetze: Popper (1977), 11, 25. 47 Sperry (1984), 201, zit. nach Kim (1992), 120. 48 Kim (1992), 120, Hervorhebung im Original. 49 Sperry (1986), 269; vgl. auch eine ähnliche Formulierung in Sperry (1964), zit. in Sperry (1980), 199.
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Es ist schwer zu sehen, wie das metaphorische „Überwältigen" und „Ersetzen" von physikalischen Kräften ohne eine Verletzung der entsprechenden physikalischen Gesetze vor sich gehen soll; aber dies ist es, was der Autor an anderen Stellen der gleichen Arbeit als seine Position behauptet.
2. Was genau ist emergent? Es gibt in der Literatur hinsichtlich der emergenten Entitäten, also desjenigen, das prinzipiell unvorhersehbar ist bzw. Makrodetermination ausübt, sehr verschiedene Angaben. 5 0 Ich diskutiere die Kandidaten für Emergenz in der Reihenfolge, die in etwa die abnehmende Häufigkeit dieser Varianten in der Literatur wiedergibt. 2.1. Eigenschaften·, sie sind wohl weitestverbreiteten Kandidaten für Emergenz 5 1 . Gemeint ist, daß auf dem höheren Niveau unvorhersehbare Eigenschaften auftreten, die relativ zum tieferen Niveau nicht oder zumindest nicht unmittelbar verständlich sind. Diese Variante von Emergenz kann „deskriptive Emergenz" heißen, weil diese Art der Emergenz schon bei der Beschreibung des Systems relevant wird 5 2 . Zweierlei Sorten von emergenten Eigenschaften müssen hier unterschieden werden:
50 Für verschiedene Differenzierungen, die ich im folgenden aufnehme und weiterführe, siehe Klee (1984), 44-49; Kekes (1966), 365; Stephan (1992), 27. 51 Z.B. Ayala (1968), 212; Ayala (1989), 116; Broad (1925), 61 u.ö.; Brodbeck (1958), 192 u.ö.; Bunge (1977), 502; Kim (1992), 123; Klee (1984), 48; Morgan (1923), 9-10, 18-19, 64 u.ö., wobei zu bemerken ist, daß bei Morgan primär eine neue Art des Bezogenseins emergent ist (siehe Abschnitt III.2.3), die emergente Qualitäten zur Folge hat; Nagel (1961), 366-367; Pluhar (1978); Popper (1977), 16, 22 u.ö.; Primas (1985), 117; Schievella (1973), 323, 326 u.ö.; Sperry (1969), 532 (zit. nach Klee (1986), 57); Sperry (1980), 197; Sperry (1986), 266, 268; Stephan (1992), 27; Stöckler (1990), 9, 19. 52 Brodbeck (1958), 193, 196, 213; auch Giesen (1987), 338.
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- Emergente Eigenschaften des Systems, also des neuen Ganzen; dies ist die in der Literatur am häufigsten vorkommende Variante emergenter Eigenschaften. 53 Beispiele hierfür wären der Schwingungsstromkreis, wo das Gesamtsystem die neue Eigenschaft .Schwingungsfähigkeit' besitzt, oder der Geruch von Ammoniak, der sich drastisch von der Geruchslosigkeit seiner Komponenten Stickstoff und Wasserstoff unterscheidet. - Emergente Eigenschaften der Teile (der Systemkomponenten): Die Komponenten zeigen, wenn sie in das System integriert werden, neue, unerwartete Eigenschaften. Hier ein Beispiel aus Ethologie 54 : Soziale Tiere in Gemeinschaft von Artgenossen verhalten sich ganz anders als einzeln; auch eine genaue Untersuchung des Verhaltens der Einzelindividuen läßt das Spektrum des sozialen Verhaltens nicht erschließen. Emergente Eigenschaften von Teilen eines Systems passen besonders gut zum vorher genannten Emergenzmerkmal Makrodetermination: Das Ganze ist kausal dafür verantwortlich, daß die Teile im Ganzen andere Eigenschaften zeigen als isoliert oder in andere Ganzheiten integriert. 2.2. Gesetze: Gemeint ist, daß auf dem höheren Niveau neue Gesetze gelten, die auf dem unteren Niveau nicht gelten und nicht auf dieses Niveau reduziert werden können 55 . Hier ein intuitives Beispiel, das seit J. St. Mill in der Emergenzdiskussion immer wieder genannt wird: die Gesetze des Lebens. 56 Emergenz von Gesetzen kann im Gegensatz zur obengenannten deskriptiven Emergenz „nomologische Emergenz" heißen. Es lassen sich zwei Varianten von nomologischer Emergenz unterscheiden:
53 Siehe z.B. Bunge (1977), 502. 54 Vgl. Wilson (1975), 7. 55 Z.B. Brodbeck (1958), 213 f; Campbell (1974), 180; Kekes (1966), 365-366; Meehl/Sellars (1956), 242-244; Nagel (1961), 380; Schievella (1973), 328; Smart (1963), 50; Sperry (1980), 195,201,204; Sperry (1986), 266,267,268; Stöckler (1990), 14. 56 Mill (1843), 371.
Zu Emergenz, Mikro- und Makrodetermination
181
- Nomologische Emergenz kann einmal eine direkte Folge von deskriptiver Emergenz sein: Liegt nämlich deskriptive Emergenz vor, so lassen sich Gesetze der höheren Ebene, die (mindestens) eine emergente Eigenschaft enthalten, trivialerweise grundsätzlich nicht von der tieferen Ebene her verstehen. - Nomologische Emergenz kann aber auch trotz des NichtVorliegens von deskriptiver Emergenz auftreten. 5 7 Obwohl in diesem Fall das Beschreibungsvokabular der höheren Ebene auf das der tieferen Ebene reduzierbar ist (in welchem Sinn genau auch immer), entziehen sich die Gesetze der höheren Ebene dennoch einem Verständnis von der tieferen Ebene her. Das Verhalten der Entitäten der höheren Ebene hätte dann eine gewisse Autonomie gegenüber den Prozessen der tieferen Ebene. Brodbeck nennt diesen Typ der Emergenz „explanatorische Emergenz" 5 8 . Hinsichtlich des Verhältnisses der emergenten Gesetze zu den Gesetzen des tieferen Niveaus gibt es wieder die beiden Möglichkeiten, die schon bei der Makrodetermination diskutiert wurden: Die emergenten Gesetze können den Gesetzen der unteren Ebene widersprechen oder nicht. 2.3. Makrobedingungen. Ich fasse unter dem Begriff der Makrobedingungen verschiedene in der Literatur diskutierte Varianten zusammen: constraints (Zwangsbedingungen), die vom oberen Niveau her einen gewissen Zwang zu Ordnung und Vereinheitlichung des unteren Niveaus ausüben 5 9 ; boundary conditions (Randbedingungen): Diese steuern die Prozesse auf dem unteren Niveau bzw. schränken ihren Möglichkeitsspielraum
57 Bei Carrier/Mittelstraß (1989: 57) wird dieser Typ emergenter Gesetze als einziger explizit erwähnt. Diese Möglichkeit wird dagegen bei Stephan in seiner Definition von emergenten Gesetzen ohne Argument ausgeschlossen: „Ein Gesetz heißt genau dann emergent, wenn es emergente Eigenschaften enthält" (1992: 27). 58 Brodbeck (1958) 213 f; unter dem gleichen Titel findet man bei Giesen (1987: 339) eine etwas vagere Version hiervon. 59 Klee (1984), 45.
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ein 60 ; Kräfte: Ähnlich wie bei den constraints und den Randbedingungen ist an Kräfte gedacht, die vom oberen Niveau aus das Geschehen auf der unteren Ebene beeinflussen 61 ; eine neue Art des Aufeinander-Bezogensems („a new kind of relatedness among pre-existing events" 62 ): Gemeint ist, daß die Elemente oder Prozesse oder Ereignisse der unteren Ebene untereinander in einer neuen Art von Beziehungen stehen, die auf der oberen Ebene eine neue Art von Einheitsbildung bewirken, 63 indem sie das entsprechende Emergenzphänomen hervorbringen, etwa die emergenten Qualitäten. All dies kann plausibel gemacht werden mit der Organisation (morphè) eines Lebewesens: Diese ist im Verhältnis zu molekularen Prozessen makroskopisch, organisiert aber die Mikroprozesse irgendwie auf das Ganze hin; die Organisation (z.B. die Gestalt des Lebewesens) bleibt mehr oder weniger konstant, während sich ihre stoffliche Basis ständig verändert, möglicherweise sogar völlig ersetzt. Die Makrobedingungen können sogar die Identität eines Lebewesens stiften: Nicht die Materie ist der Grund der Identität des Lebewesens, sondern seine (annähernd) gleichbleibende Organisation.
3. Was sind die angemessenen Gegenbegriffe
zur
Emergenz?
3.1. Der Emergenzbegriff kann dem Reduktionsbegriff entgegengesetzt sein; dann handelt es sich um den starken Emergenzbegriff, der in der Literatur häufiger anzutreffen ist. Andernfalls ist ein schwacher Emergenzbegriff gemeint, der die Reduzierbarkeit nicht ausschließt 64 ; es gibt in der Literatur beide Emergenzbegriffe 65 . 60 61 62 63 64
Weiss (1969), 21; Polanyi (1968). Sperry (1964) (zit. nach Sperry (1986), 266); Sperry (1986), 265, 268, 269. Morgan (1923), 6, 8-12, 15-17,19-23, 64-80,206,298, 299 u.ö. Morgan (1923), 11-12. Bunge (1977), 503; Primas (1985), 117 f; Stöckler (1990), 8; Wimsatt (1976), 208. 65 Siehe z.B. Bischof (1989), 223; Stöckler (1990), 8,16 f; Stöckler (1991), 73.
Zu Emergenz, Mikro- und Makrodetermination
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3.2. Der Sache nach seit Mill, der Terminologie nach seit Lewes gibt es die Entgegensetzung von emergent (bzw. nicht-aggregativ 66 , kollektiv, systemisch, gestalt 67 ) und resultant (bzw. kompositorisch), bezogen auf Eigenschaften des Systems 6 8 . Die gängige Unterscheidung wird etwa so getroffen: Resultante Eigenschaften resultieren unmittelbar aus den gleichen Eigenschaften der Teile und sind daher aus ihnen ableitbar. 69 Ein Beispiel wäre die Gesamtmasse eines Moleküls als Summe der Massen der einzelnen Atome. Hier kann genauer unterschieden werden: Es gibt nämlich mindestens drei Möglichkeiten, wie sich die Eigenschaften des Systems zu denen der Teile verhalten: - Die Eigenschaft des Systems ist identisch mit Eigenschaften von Teilen. Dies gilt beispielsweise für die Temperatur eines
66 Wimsatt (1976), 208. 67 Bunge (1977), 502. 68 Ablowitz (1939), 3; Goudge (1967), 476; Kim (1992), 127; Lewes (1875), vol. II, 412-413; Morgan (1927); Stöckler (1990), 10. 69 Bunge (1977), 502 gibt die folgende Definition: „[Eine Eigenschaft] Ρ ist resultant oder vererbt wenn Ρ eine Eigenschaft von einigen Komponenten [des komplexen Gesamtsystems] χ ist". Als erstes erläuterndes Beispiel bringt Bunge die Energie eines Körpers. Aber dieses Beispiel fällt unter seine Definition nur in dem Sinn, daß die Teile des Systems überhaupt einen Energieinhalt haben (der aber nicht quantitativ bestimmt ist) ebenso wie das Gesamtsystem überhaupt einen Energiegehalt hat. Aber dieser Sinn ist von Bunge nicht eigentlich intendiert, wie man den auf der gleichen Seite etwas weiter unten genannten Beispielen entnimmt, wo er nämlich von der Gesamtenergie und der Gesamtladung eines Körpers als resultant spricht. Energie im Sinne eines bestimmten Energiegehalts ist aber gemäß Bunges Definition emergent, da die quantitiv bestimmte Energie des Systems keine Eigenschaft von (echten) Komponenten des Systems ist (vgl. die ähnliche Kritik von MacKinnon (1924: 314) an Lloyd Morgan). Bunges Definition ist abzulehnen, da sie 1. mit der üblichen intendierten Unterscheidung von resultant und emergent nicht übereinstimmt und eine völlig unplausible Abweichung hiervon ist, für die Bunge auch nicht argumentiert, 2. hinsichtlich etwa des Energiebegriffs zur genannten unplausiblen Charakterisierung als qualitativ resultant und quantitativ emergent führt, und 3. ohnehin nur einer Nachlässigkeit Bunges entsprungen zu sein scheint. Vgl. auch die Kritik an Bunge in Stöckler (1990), 18.
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Systems im thermischen Gleichgewicht: seine Temperatur ist identisch mit der Temperatur seiner (nicht zu kleinen) Teile. - Die Eigenschaft des Systems ist verschieden von den Eigenschaften der Teile, aber mittels eines Kompositionsgesetzes aus ihnen ableitbar. Beispiel Masse: Es gibt verschiedene Kompositionsgesetze, wie sich die Masse des Systems aus den Massen der Teile und evtl. anderen ihrer Eigenschaften ergibt: Es ist die einfache numerische Summe der Massen im klassischen Fall, und eine kompliziertere Formel im relativistischen Fall. - Die Eigenschaft des Systems ist verschieden von den Eigenschaften der Teile, und es gibt kein Kompositionsgesetz, so daß die Systemeigenschaft in keiner bestimmbaren Beziehung zu den Eigenschaften der Teile steht. 70 Die Gründe für das NichtVorhandensein eines Kompositionsgesetzes können vielfältig sein; sie fallen in zwei Hauptgruppen, je nachdem, ob Mikrodetermination vorliegt oder nicht. Die entsprechenden Unterscheidungen wurden in Abschnitt III. 1.1 getroffen.
4. Was ist der Anwendungsbereich
von
Emergenz?
Die Frage nach dem Anwendungsbereich des Emergenzbegriffs zielt hier auf die Niveaus, zwischen denen Emergenz bestehen soll. Hier müssen insbesondere diejenigen Niveaus angegeben werden, zwischen denen Emergenzphänomene auf besonders plausible und damit exemplarische Weise auftreten; darüber hinaus kann bzw. muß der gesamte intendierte Anwendungsbereich der Emergenzrelation angegeben werden. Es besteht nun ein großer Dissens zwischen den Emergenztheoretikern selbst hinsichtlich der Stufen, zwischen denen Emergenz bestehen soll 71 . Die Angaben schwanken dabei zwischen relativ wenigen 70 Feigl (1958:414) behauptet, daß „man in der modernen Naturwissenschaft keine scharfe Unterscheidung zwischen resultanten ... und emergenten [Eigenschaften] ziehen kann". Es ist dies eine Konsequenz seiner diesbezüglich reduktionistischen Position, einer „zugegebenerweise riskanten und spekulativen Schätzung" (ebd.). 71 Vgl. Ablowitz (1939), 7-9; Goudge (1967), 475.
Zu Emergenz, Mikro- und Makrodetermination
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Stufen und relativ vielen und sind auch bei einer bestimmten Anzahl von Stufen durchaus nicht einheitlich. Beispielsweise werden die vier Stufen anorganisch - organisch - seelisch geistig 72 unterschieden; andere Varianten von vier Stufen unterscheiden physikalisch - chemisch - biologisch - mental bzw. sozial 73 . Im Mittelfeld findet man die Angabe von sechs Stufen, beispielsweise Elementarteilchen - Atome - Moleküle - Zellen (multizelluläre) Lebewesen - soziale Gruppen 7 4 , oder von sieben Stufen 75 bzw. sieben bis acht Stufen 76 . Die detailliertesten Angaben umfassen bis zu 12 oder 13 Stufen: subelementare Teilchen - Elementarteilchen - Atome - Moleküle - Flüssigkeiten und Kristalle - Organellen - Zellen und einzellige Lebewesen Populationen von Einzellern - Organe - Vielzeller - Populationen von Vielzellern - Ökosysteme 7 7 .
5. Ist Emergenz ein theorierelativer
oder ein absoluter Begriff ì
Die Unterscheidung von Emergenz als theorierelativem bzw. absolutem Begriff wurde von Hempel und Oppenheim expliziert 78 ; sie wird auch als der Unterschied von ontologischer und epistemologischer Emergenz bezeichnet. Es handelt sich um zwei verschieden starke Varianten des Emergenzbegriffs. - In der schwächeren Variante ist der Emergenzbegriff ein theorierelativer Begriff: Gegeben sei eine bestimmte Theorie 72 Lorenz (1973), 59 f; aber es gibt nach Lorenz evtl. weitere Emergenz innerhalb dieser Stufen. 73 Mill (1843), 374-375; Bunge (1977), 504; Bunge erwähnt aber explizit die Möglichkeit von weiteren Unterteilungen innerhalb der verschiedenen Stufen. 74 Oppenheim/Putnam (1958), Abs. 3.1. 75 Popper (1977), 16. 76 Campbell (1974). 77 Popper (1977), 17. 78 Hempel/Oppenheim (1948), 261-263; siehe auch Carrier/Mittelstraß (1989), 129-130; Egidi (1987), 158; Nagel (1961), 369-371; Stephan (1992), 38-39.
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über die untere Ebene. Die Frage lautet dann, ob aus ihr (inklusive der entsprechenden Rand- und Anfangsbedingungen etc.) das Emergente ableitbar ist oder nicht. Die Relevanz der gewählten Theorie ist offensichtlich und kann etwa mit dem Beispiel der Makroeigenschaft Superfluidität illustriert werden. Aus klassischen, d.h. nicht quantenmechanischen Theorien über Flüssigkeiten ist Superfluidität prinzipiell nicht ableitbar, weil sie wesentlich ein Quanteneffekt ist; eine quantenmechanische Beschreibung der Flüssigkeit erlaubt dagegen eine Ableitung des möglichen superfluiden Zustands. Relativ zur klassischen Flüssigkeitstheorie ist Superfluidität demnach emergent. Emergenzbehauptungen dieser Art sind relativ uninteressant, weil sie lediglich besagen, daß bestimmte Theorietypen zur Erklärung einer gegebenen Klasse von Phänomenen nicht ausreichend sind; dabei bleibt völlig offen, ob eine differenziertere Theorie des unteren Niveaus die gesuchte Erklärung liefern kann. - In der stärkeren Variante ist der Emergenzbegriff ein absoluter Begriff in dem Sinn, daß auf keine besondere Theorie über die untere Ebene Bezug genommen wird. Das Emergente sei auch relativ zu einer angemessenen, vollständigen Theorie über die untere Ebene prinzipiell unvorhersagbar 7 9 . Dies ist offensichtlich das von den meisten Emergentisten Angestrebte. Emergenzbehauptungen, die diesen absoluten Emergenzbegriff verwenden, sind mit der Schwierigkeit konfrontiert, daß sie strenggenommen nicht überprüfbar sind: Der AntiEmergentist, also Reduktionist kann im Prinzip die NichtVorhersagbarkeit immer auf den (noch) defizienten Zustand der Theorie über das untere Niveau schieben. 80 Natürlich muß diese reduktionistische Strategie nicht unbedingt glaubwürdig sein.
79 Kekes (1966), 364; Klee (1984), 49-51; Morgan (1923), 6. 80 Vgl. Broad (1925), 81.
Zu Emergenz, Mikro- und Makrodetermination
6. Ist das Emergente
als Nicht-Reduzierbares
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verständlich?
Die Alternative, um die es hier geht, betrifft etwas, was man den Rationalitätsstatus von Emergenz nennen kann. Nehmen wir einmal an, es gibt tatsächlich Emergentes im Sinne von NichtReduzierbarem. Dieses Emergente kann dann gemäß Voraussetzung von der tieferen Ebene her nicht erklärt, verstanden, vorausgesagt, abgeleitet etc. werden. Die Frage, die man dann stellen kann, ist, ob die unterstellte Unerklärbarkeit etc. ihrerseits erklärbar und daher verständlich ist, oder ob sie als selbst unerklärbar einfach hinzunehmen ist. Der angesprochene Kontrast kann mit zwei Beispielen erläutert werden. 1. Beispiel: Die Nicht-Reduzierbarkeit von sekundären Qualitäten. Für den Geruch einer zusammengesetzten Substanz dürfte es vielfach kein Kompositionsgesetz geben, so daß man aus dem Geruch der Komponenten allein den Geruch der zusammengesetzten Substanz nicht vorhersagen kann. Diese (hier zum Zwecke des Arguments unterstellte) Nicht-Existenz von Kompositionsgesetzen ist aber durchaus verständlich. Der Geruch einer Substanz ist eine sekundäre Qualität, d.h. abhängig von ihren primären, ihr selbst zukommenden Qualitäten und bestimmten Eigenschaften des wahrnehmenden Organismus. Selbst wenn sich die primären Eigenschaften der zusammengesetzten Substanz aus den primären Eigenschaften der Komponenten ableiten lassen, kann die Information über primäre und sekundäre Eigenschaften der Komponenten ungenügend sein, um daraus sekundäre Eigenschaften der zusammengesetzten Substanz abzuleiten. Der Grund ist, daß für die Geruchswahrnehmung der Substanz Eigenschaften des wahrnehmenden Organismus beteiligt sein können, über die auch in den sekundären Eigenschaften der Komponenten keine Information enthalten ist. 2. Beispiel: Bei manchen britischen Emergentisten ist die NichtVorhersagbarkeit des Emergenten nicht weiter erklärbar, son-
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dem als eine Naturtatsache einfach hinzunehmen. 81 So ist die Nicht-Vorhersagbarkeit des Emergenten bei Broad etwa die Konsequenz von Kompositionsgesetzen, die in keinerlei systematischem Zusammenhang mit anderen Gesetzen stehen, und von denen man daher nur auf empirische Weise Kenntnis haben kann. 82 Das Faktum solcher „isolierter und irreduzierbarer [unique and ultimate bzw. irreducible]" 8 3 Gesetze ist nun selbst keiner Erklärung fähig; die Natur ist nun einmal so, daß die Gesetze der Chemie nicht in einem deduktiven Zusammenhang stehen. Ich setze aus Platzgründen die bislang durchgeführte analytische Behandlung des Emergenzbegriffs nicht durch die entsprechende synthetische Behandlung fort, in der untersucht werden müßte, welche Kombinationen der verschiedenen Merkmale sinnvolle Emergenzbegriffe liefern und welche nicht. Vielmehr wende ich mich Problemen zu, die sich bei denjenigen Emergenzkonzeptionen stellen, die Makrodetermination ansetzen.
IV. Probleme der Makrodetermination Hinsichtlich der von manchen Emergentisten behaupteten Makrodetermination 84 stellen sich zwei hauptsächliche Probleme. Einmal ist problematisch, wie sich die Makrodetermination zu den Gesetzen der tieferen Stufe verhält. Zum anderen sind viele Beispiele von Makrodetermination fragwürdig.
81 Diese Position nennt Bunge den „irrationalen Emergentismus der Holisten" (1977: 503), wo „es nichts gibt, das erklärt werden kann: Emergenz ist ebenso geheimnisvoll wie real" (502). 82 Broad (1925), 64-65. 83 Broad (1925), 65, 68. 84 Kim (1992: 136) geht hier wesentlich weiter. Er behauptet, daß alle Emergentisten notwendigerweise Makrodetermination behaupten müssen; falls Kim damit Recht hat, betreffen die folgenden Probleme also alle Konzeptionen von Emergenz, nicht nur die explizit der Makrodetermination verpflichteten.
Zu Emergenz, Mikro- und Makrodetermination
1. Makrodetermination
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und die Gesetze der tieferen Ebene
Die Makrodetermination, also die kausale Wirkung von der oberen Ebene auf die untere, bewirkt etwas auf der unteren Ebene. Hinsichtlich der Kompatibilität dieser Wirkung von der oberen Ebene her mit den Gesetzen, die das Geschehen der unteren Ebene beherrschen, gibt es zwei Möglichkeiten: Die Makrodetermination ist mit den Gesetzen der unteren Ebene verträglich, verletzt diese also nicht, oder sie verletzt diese Gesetze. Die zweite Möglichkeit, eine Verletzung der Gesetze der unteren Ebene durch Makrodetermination, ist empirisch unplausibel: Es gibt keine empirischen Hinweise auf eine Verletzung von mikroskopischen Gesetzen durch Makrodetermination; sie würden für die Naturwissenschaft eine Sensation unerhörten Ausmaßes bedeuten. Entsprechend behaupten die meisten Emergentisten auch nicht, daß Makrodetermination die Gesetze der unteren Ebene bricht. 85 Es bleibt demnach nur die erste Möglichkeit, daß die Gesetze der tieferen Ebene durch die Makrodetermination nicht verletzt werden. Wenn die Gesetze der tieferen Ebene deterministische Gesetze sind, wie das etwa in der klassischen Physik der Fall ist, dann ist das Wirken echter zusätzlicher Kausalfaktoren, die nicht von außen an das System angreifen, mit der uneingeschränkten Geltung dieser Gesetze nicht verträglich. Denn die Gesetze der Mikroebene determinieren die Dynamik der Systemkomponenten vollständig; Makrodetermination aber würde eine endogene Abweichung von dieser Dynamik bedeuten, was nur durch einen Bruch des gesetzmäßigen Zusammenhangs möglich ist. Das gleiche Argument trifft auch - vielleicht überraschenderweise - für die Quantenphysik zu. Denn
85 Vgl. etwa die in Abschnitt III.1.2 genannten Stellen von Polanyi und Sperry. - Es wäre allerdings reizvoll, einmal genau die empirischen Argumente inklusive der entsprechenden Fehlergrenzen zusammenzustellen, die belegen, daß beispielsweise in Lebewesen die Gesetze der Quantenmechanik durchgehend erfüllt sind.
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auch in der Quantenphysik wird das Geschehen auf der unteren Ebene durch eine deterministische Gleichung beschrieben, jedenfalls so lange keine Messung vorgenommen wird, die zur Kenntnis genommen wird. Die Tatsache, daß diese deterministische Gleichung für Wahrscheinlichkeitsamplituden gilt, ändert nichts daran, daß hier ebenfalls vollständige Determination der zeitlichen Entwicklung, hier des quantenmechanischen Zustands vorliegt. Makrodetermination würde auch hier eine endogene Abweichung von der eigenen Dynamik bedeuten und damit einen Bruch der zugrundeliegenden dynamischen Gesetze. Für eine Form der Makrodetermination, die mit der Geltung der Gesetze der unteren Ebene verträglich sein soll, entsteht also das Problem, wo diese Kausalität nach unten ihren Angriffspunkt finden kann, wie sie also ihre Wirkung entfaltet, ohne die Gesetze der unteren Ebene zu verletzen. Sicherlich ist Makrodetermination möglich, wenn die Dynamik der unteren Ebene in irgendeiner Weise kausal nicht geschlossen ist, z.B. indem sie ein echtes stochastisches Element enthält. Nachdem dies von der gängigen Physik nicht nahegelegt ist, müssen die Emergentisten zunächst einmal zeigen, wie Makrodetermination überhaupt konsistent zu denken ¿sí.86
2. Beispiele von
Makrodetermination
Ein zweites, mit dem ersten durchaus verwandtes Problem betrifft die in der Literatur dargestellten Beispiele von Makrodetermination; sie sind vielfach nicht überzeugend. Betrachten wir Sperrys Standardbeispiel: das einen Abhang hinabrollende Rad. Dieser Vorgang läßt sich, wie mir scheint, vollkommen durch Mikrodetermination erklären. Auf die einzelnen Atome, die das Rad aufbauen, wirkt einmal die Gravitationskraft und zum anderen die Bindungskräfte von den Nachbaratomen. Die Gesamtwirkung dieser Kräfte führt nun gerade dazu, daß jedes 86 Vgl. zu diesem Problem Kim (1992) und (1993).
Zu Emergenz, Mikro- und Makrodetermination
191
einzelne Atom teilnimmt an der Bewegung, die man makroskopisch als das Herabrollen des Rades beschreibt. Ein Ganzheit mit zusätzlicher kausaler Wirkung auf die einzelnen Atome ist nicht erkennbar. 87 Ebenso ist das Beispiel von Tieren im Sozialverband kein überzeugendes Beispiel für Makrodetermination, weil das besondere Verhalten des Organismus im Verband durchaus durch Mikrodetermination erklärbar sein kann. 88 Beispielsweise kann das Verhalten des Tieres im Sozialverband durch einen Auslösemechanismus eingeleitet werden, der eine bestimmte individuelle Verhaltensdisposition aktualisiert. Die Existenz dieser Verhaltensdisposition ist im manifesten Verhalten des isolierten Tieres natürlich nicht feststellbar. Dennoch kann für das Verhalten im Sozialverband nicht wirklich Makrodetermination behauptet werden. Schließlich könnte man noch versucht sein, die sogenannten autonomen historischen Prozesse als Beispiele für Emergenz anzuführen. Aber die Diskussion hat gezeigt, daß sie mikrodeterminativ erklärbar sind. 89 Es ist gerade die Pointe der Theorie autonomer Prozesse, die scheinbare Eigendynamik dieser Prozesse auf Intentionen und Handlungsweisen von Individuen zurückzuführen. Es läßt sich also festhalten, daß ein überzeugendes Beispiel für Makrodetermination, gleichgültig aus welchem Gebiet, höchst wünschenswert wäre. Der bislang zu konstatierenden Vagheit in der Vorstellung von der Makrodetermination wäre auf diese Weise effizient entgegenzuwirken. Doch schließlich noch eine Wort der Warnung. Obwohl sich die Theorie der Emergenz und mit ihr die Vorstellung von der Makrodetermination in einem keineswegs überzeugenden Zustand befinden, sollte man nicht vorschnell schließen, daß diese Theorie ohne Zukunft ist. Schließlich hat sich auch beispielsweise die Bohrsche Atomtheorie in einem Zustand krasser und 87 Vgl. Klee (1984), 60-61. 88 Vgl. Hoyningen-Huene (1993), 402-403. 89 Siehe Hoyningen-Huene (1983).
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manifester Inkonsistenz befunden; dennoch war sie historisch für die Entwicklung der Quantenmechanik von überragender Bedeutung. Könnte es nicht sein, daß in einer angemessenen Theorie des Bewußtseins auf Makrodetermination, d.h. einen wirklichen kausalen Einfluß des Bewußtseins auf das materielle Substrat, nicht zu verzichten ist? Literatur Ablowitz (1939), R.: The Theory of Emergence, in: Philosophy
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3. Handlungstheoretische Aspekte der Zurechenbarkeit
Dietrich
Dörner
Selbstreflexion und Handlungsregulation: Die psychologischen Mechanismen und ihre Bedingungen 1. Einleitung Menschen machen mitunter ihr eigenes Handeln und Denken zum Objekt desselben. Sie betreiben Selbstreflexion. Die Fähigkeit des menschlichen Denkens, sich zum Objekt seiner selbst machen zu können, ist von großer Bedeutsamkeit. In ihr liegt die Voraussetzung dafür, daß Menschen ein Selbstbild entwickeln und ihre eigenen Charakteristika kennen. Weiterhin erhöht die Fähigkeit zur Selbstreflexion die Flexibilität des menschlichen kognitiven Systems. Norman (1976) schreibt zur Rolle von „bewußten" Prozessen bei der menschlichen Handlungsregulation: „ ... that conscious processes play a central role in guiding us through our activities. Conscious processes act at the highest level of decision making, initiating high level operations and choosing between courses of action whenever there are conflicts. ... One important aspect of consciousness is the state of self-awareness. By being aware of the courses of action that one is contemplating, there can be self-criticism and evaluation of the actions prior to their use. Similarly, while some activity is underway, or after it has been completed, this awareness allows for intelligent evaluation of the results and for suggested modifications for future actions. Consciousness and self-awareness may play an important critical role in the process of learning". (Wir wollen an dieser Stelle die Beziehungen zwischen dem Begriff „Bewußtsein" („consciousness" in Normans Text) und der Fähigkeit zur Selbstreflexion nicht im einzeln diskutieren. Der Begriff Bewußtsein hat in der deutschen Sprache eine Vielfalt von Bedeutungen. Unseres Erachtens aber steht im Kern der
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Bedeutung immer die Fähigkeit eines Individuums, sich selbst zum Objekt der Betrachtung machen zu können.) U n d schließlich ist die Fähigkeit zur Selbstreflexion die Voraussetzung dafür, daß man Menschen für ihr Tun verantwortlich machen kann, es ihnen - als Schuld oder Verdienst - zuschreiben kann, sie dafür zur Rechenschaft ziehen kann. Denn wenn jemand in der Lage ist, sein Denken zu betrachten und aufgrund der Betrachtung zu modifizieren, so hätte er eben auch anders handeln können, als er es getan hat. Wäre aber das menschliche Denken nicht reflektierbar, würde es nach einem festen Programm ablaufen, so wäre es nicht vorwerfbar, denn man könnte dann ja nicht anders. Der Schachautomat mag in gewisser Weise denken; er entwirft planend neue Zugkombinationen; man wird ihm sein Spiel aber nicht vorwerfen können, denn ihm sind die Programme, aufgrund derer er plant, nicht zugänglich: er kann nicht anders! Der Handelnde, der zur Selbstreflexion fähig ist, trifft nicht nur eine Entscheidung oder faßt einen Entschluß, sondern weiß auch, daß er das tut und darüberhinaus, welches die Alternativen für die getroffene Entscheidung oder den gewählten Entschluß hätten sein können. Der Handelnde weiß, welche Ziele er verfolgt und er weiß, warum er gerade diese Ziele und keine anderen auswählte. U n d er weiß, warum er zum Zwecke der Erreichung seines Ziels diese Form des Handelns wählte und nicht jene. N u r dann, wenn der Entschluß, ein bestimmtes Ziel anzustreben, und der Entschluß, dies in bestimmter Weise zu tun, auch anders hätten ausfallen können, wenn der jeweilige Entschluß „frei" war (wir werden noch darauf eingehen, was hier „frei" heißt), ist der Handelnde verantwortlich für eine Tat. Man kann ihm dann vorwerfen: „ D u hättest Dich anders entscheiden müssen!" Der Briefsortierautomat, der Postleitzahlen „liest" und aufgrund des Ergebnisses seiner Mustererkennung einen bestimmten Schlitz von vielen öffnet, durch den der Brief dann hindurchfällt, „entscheidet" sich auch. Vielleicht „wägt" er sogar vor der Entscheidung verschiedene Alternativen gegeneinander ab. Er weiß aber nicht, warum er die Entscheidung so fällt
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und nicht anders und er kennt den Mechanismus der Analyse der Eigenschaften von auf Briefumschläge geschriebenen Zahlen nicht und kann ihn schon gar nicht verändern. Daher ist ihm sein „Abwägen" und seine Entscheidung nicht vorwerfbar. Selbstreflexion impliziert die Fähigkeit, einen Metastandpunkt gegenüber dem eigenen Handeln einnehmen zu können. Es muß nicht nur abgewogen werden, was man tun könnte und was man lassen sollte - eine solche „Abwägung" betreibt auch der Sortierautomat, wenn er die Ecken, Kanten, Winkel der Zeichen auf dem Briefumschlag analysiert und schließlich aufgrund der akkumulierten Indizien „entscheidet" : „es ist eine 5 und keine 6!"; darüberhinaus muß dieser Abwägungsprozeß selber Objekt der Betrachtung sein können. Wenn dieser Metastandpunkt nicht mehr eingenommen werden kann, werfen wir das Handeln nicht mehr vor und schreiben dem Handelnden nicht mehr Schuld oder Verdienst zu. Auch der schwer Betrunkene trifft noch Entscheidungen, z.B. die, mit dem Auto nach Hause zu fahren. Aber er ist nicht mehr in der Lage, den Entschlußprozeß selbst zu bedenken und die Gründe dafür zu analysieren, warum er diesen Entschluß faßt und nicht jenen. Aus diesem Grunde ist er für sein Handeln nicht verantwortlich zu machen und wird beispielsweise von der Justiz auch entsprechend behandelt. Desgleichen nimmt man von Kindern bis zu einem bestimmten Alter oder auch von Tieren an, daß sie nicht in der Lage sind, einen Metastandpunkt ihrem eigenen Denken und Handeln gegenüber einzunehmen, und macht sie aus diesem Grunde auch nicht verantwortlich für ihr Handeln. 1 Handeln kann deshalb verantwortliches Handeln sein, weil Selbstreflexion die Einbettung des Handelns in größere Zusammenhänge ermöglicht. Verantwortliches Handeln bedeutet wohl meist „polytelisches" Handeln, also ein Handeln, welches auf mehrere Ziele zugleich gerichtet ist. Wenn jemand heißes Wasser ins Waschbecken laufen läßt, um sich zu rasieren, so handelt er nicht notwendigerweise verantwortlich. Wenn er aber nur sehr wenig Wasser ins Becken laufen läßt, um Wasser 1 Siehe H o m m e r s (1987).
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und Heizenergie zu sparen, so handelt er „verantwortungsbewußt". Das man dem einen Handeln Verantwortlichkeit zuschreibt, dem anderen nicht, liegt daran, daß im zweiten Fall neben dem Ziel der Rasur noch das Ziel des sparsamen U m gangs mit Ressourcen in die Handlungsregulation mit einfließt. Die Fähigkeit, die eigenen Ziele zum Objekt der Reflexion zu machen, also über die eigenen Ziele nachzudenken, ist wohl die Voraussetzung dafür, dem unmittelbar aus konkreten Mangelzuständen (dem kratzenden Bart) sich ergebenden Ziel noch Neben- und Fernziele hinzuzufügen, die sich im Beispielsfall ja gar nicht auf aktuelle Mangelzustände beziehen, sondern auf Mangelzustände, die als möglich antizipiert werden. Wassermangel und Energiemangel brauchen einen zudem nicht selbst betreffen, sondern Kinder oder Enkel. Wir wollen in diesem Aufsatz zweierlei leisten: 1. Wir wollen untersuchen, wie Selbstreflexion möglich ist. 2. Wir wollen untersuchen, von welchen Bedingungen die Tätigkeit der Selbstreflexion abhängig ist.
2. Selbstreflexion und das Protokollgedächtnis Wie ist Selbstreflexion möglich? Die Fähigkeit zur Selbstreflexion ist oft mit einem Schleier des Geheimnisvollen umgeben worden. 2 Wie soll es ein System bewerkstelligen können, sich selbst zu betrachten? N u n ja: meine Hand - zweifellos ein Teil von mir - kann ich ohne weiteres betrachten! Aber hier ist Betrachter und Betrachtetes klar geschieden. Bei der Selbstreflexion geht es aber gewissermaßen um die Betrachtung der Betrachtung. Genauer: es geht um die Frage, wie ein System beschaffen sein kann, welches in der Lage ist, diejenigen Prozesse, die „betrachten", also z.B. die Wahrnehmungs- und die Denkprozesse, zum Objekt der Betrachtung zu machen. Muß man dafür nicht eigentlich annehmen, daß ein weiteres Betrachtungs2 Siehe z.B. Lucas (1964).
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system außerhalb jenes ersten existiert, welches das Denken und Wahrnehmen mit Hilfe eines anderen Denkens und Wahrnehmens zum Objekt der Betrachtung macht? Und gerät man auf diese Art und Weise nicht in einen unendlichen Regress? Denn sicherlich sind Menschen in der Lage, auch darüber nachzudenken, wie sie über sich selbst nachdenken. Und sie sind in der Lage, darüber nachzudenken, wie sie darüber nachdenken, wie sie über sich nachdenken, usw. Muß man nun annehmen, daß der menschliche Geist aus einer unendlichen Folge von „Geistern" besteht, die so ineinandergeschachtelt sind wie jene russischen Matjoschka-Puppen? Eine solche Schachtelannahme ist meines Erachtens unnötig. Sie erübrigt sich, wenn man eine spezifische Gedächtnisinstanz annimmt, nämlich ein „Protokollgedächtnis". Beim Menschen laufen psychische Prozesse nicht nur einfach ab, sondern viele (nicht alle!) werden protokolliert. Unser „Geist" führt gewissermaßen ein Logbuch des psychischen Geschehens. Ich weiß, daß ich vor einigen Minuten das Radio angeknipst, dann einen anderen Sender als den voreingestellten gesucht habe, sodann darüber nachgedacht habe, welche Mozart-Symphonie da gerade erklang; ich kann mich daran erinnern, daß mir dann eingefallen ist, daß noch Gelierzucker zum Einmachen eingekauft werden muß, usw. Wir verfügen über ein „Protokollgedächtnis", welches eine Art von Logbuch für unser Verhalten, aber auch für die „inneren" Prozesse darstellt. Dies Protokollgedächtnis ist notwendig, damit wir uns in der Zeit orientieren können. Mithilfe des Protokollgedächtnisses können wir erkennen und rekonstruieren, in welcher Art von Geschehen wir uns gerade befinden. Das Protokollgedächtnis erlaubt uns die konsequente Durchführung unserer Pläne: „Bei der Reinigung war ich schon, dann muß ich also nun zum Bäcker ... !" - „An diesem Brunnen bin ich vorher, auf dem Weg in die Innenstadt, auch vorbeigekommen, also muß das Parkhaus, in dem ich mein Auto abgestellt habe, hier in der Nähe sein." Auch unsere Denkprozesse werden - zumindest zum Teil protokolliert. Denken ist eine Sequenz von Informationsver-
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arbeitungsprozessen, eine Sequenz von logischen Schlußfolgerungen, induktiven Schlüssen, Analogieschlüssen, assoziativen Erweiterungen, Komplexergänzungen, usw. Diese Sequenz wird - mehr oder minder grob - genauso protokolliert wie andere psychische Prozesse. Wenn aber der Denkablauf nicht nach dem Zufall sequenziert wird, sondern wenn ihm eine „Grammatik" zugrunde liegt, ein Programm, welches die einzelnen Schritte in einer gewissen - mehr oder minder angemessenen - Ordnung aufeinanderfolgen läßt, so gestattet es das Protokoll, diese Ordnung zu erkennen. Die Ordnung manifestiert sich z.B. in den Übergangswahrscheinlichkeiten der verschiedenen Protokollelemente. Das Protokoll enthält mit diesen Übergangshäufigkeiten Merkmale der „Grammatik des Denkens" ; man kann aus dem Protokoll ablesen, welches Element auf welches mit welcher Wahrscheinlichkeit folgt. Das Protokoll des Denkens, kann selbst wieder zum Objekt des Denkens gemacht werden. Denn das Protokoll ist ja nun nicht mehr das Denken selbst, sondern gewissermaßen seine Spur. Und mit dieser Spur kann das Denken genau so umgehen, wie mit einem beliebigen anderen Objekt. Ein solches Muster von Denkprozessen kann beispielsweise auf Schwachstellen untersucht werden. Eine Methode zur Entdeckung der Schwach-
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stellen eines Denkprozesses, der unangemessenen oder defizienten Stellen, ist das von Duncker (1935) so genannte „Ausfällen des Gemeinsamen".
Abb. 2
Das Neunpunkte-Problem und seine Lösung
Was hat man darunter zu verstehen? Wenn man verschiedene, erfolglose Ansätze gemacht hat, um ein bestimmtes Problem zu lösen, so kann es sein, daß diese verschiedenartigen Ansätze immer wieder die gleichen Elemente enthalten. Man betrachte Abbildung 2. Hier sieht man das Neunpunkte-Problem. Es besteht aus der Aufgabe, neun Punkte, die im Quadrat angeordnet sind, in einem Zuge, also ohne abzusetzen, durch vier gerade Linien zu verbinden. Die meisten Personen, die man vor dieses Problem stellt, haben Schwierigkeiten damit. Diese liegen darin, daß man dazu neigt, Linien nur zwischen den Punkten zu ziehen und nicht über die Konfiguration hinaus. Die Lösung besteht aber darin, daß man den gegebenen, quadratischen Rahmen verläßt, wie in Abb. 2 dargestellt. (Die Neigung, das Quadrat nicht zu verlassen, kann verschiedene Ursachen haben. Es kann sein, daß es sich um eine eingefahrene Gewohnheit aus dem Geometrieunterricht handelt: Linien werden zwischen Punkten gezogen! Oder es kann sein, daß Versuchspersonen eine Scheu davor haben, die „gute Gestalt" des Quadrates zu „zerbrechen".)
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Auf alle Fälle: Wenn eine Versuchspersonen ihre eigenen, vergangenen, erfolglosen Lösungsansätze untersucht und feststellt, daß sie sich darin gleichen, daß immer Linien zwischen Punkten gezogen worden sind, diagonale Linien, waagerechte Linien, senkrechte Linien, und daß mit all diesen verschiedenen Versuchen eine Lösung nicht gefunden werden konnte, dann ist es vernünftig, das „Gemeinsame" der verschiedenen Lösungsansätze „auszufällen" ; also bei weiteren Lösungsversuchen das Zeichnen von Linien zwischen Punkten nicht mehr oder nicht mehr allein zu verwenden. Dies einfache Beispiel zeigt, wie die Fähigkeit zur Betrachtung der eigenen Denkprozesse die eigene Denkfähigkeit zu steigern vermag. Ohne Selbstreflexion würden wir leicht in Denkstereotypien verfallen und ein Problem immer wieder in der gleichen Weise zu lösen versuchen. (Dies geschieht ja auch trotz der Fähigkeit zur Selbstreflexion oft genug!) Für die Selbstreflexion ist nicht ein besonderer „Spezialgeist" notwendig, der sich von der Instanz, die gewöhnlich das Denken steuert, unterscheidet. Es braucht nur der „Denkapparat", der sich zu dem einen Zeitpunkt einem bestimmten Problem widmet, zu einem anderen Zeitpunkt und bei gegebenem Anlaß die Struktur seines eigenen Protokolls zu untersuchen, um daraus Schlüsse zu ziehen, in welcher Weise er selbst effektiver ablaufen könnte. („Ausfällen des Gemeinsamen" braucht nicht die einzige Methode zu sein, mit dessen Hilfe das Denken sich selbst effektiviert. Darüberhinaus könnten Kriterien der Ordnung auf die „Spur" eines Denkablaufs angewandt werden und es könnte festgestellt werden, daß der faktische Ablauf bestimmten Symmetriegesetzen nicht gehorcht. So sollten beim Denken z.B. Detailbetrachtungen gewöhnlich mit Betrachtungen der Grobstruktur gekoppelt sein, sonst läuft man Gefahr, „den Wald vor lauter Bäumen" nicht zu sehen; zwischen den analytischen Prozessen und den globalen sollte also ein gewisses Gleichgewicht bestehen.) Wann findet Selbstreflexion statt? Abb. 3 (S. 208) zeigt eine Hypothese dazu.
Selbstreflexion und Handlungsregulation
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Im Flußdiagramm der Abb. 3 zeigen wir den Ablauf, in dem Selbstreflexion wohl gewöhnlich stattfindet. Wenn für eine Anforderung eine zielführende Verhaltensweise vorhanden ist, so wird diese aktiviert. Ist dies nicht der Fall, so wird nun versucht, eine neue Verhaltensweise zu konstruieren. Diese Konstruktion kann durch planendes Denken („Problemlösen') oder durch Versuch-und-Irrtums - Verhalten geschehen. Ist dieser Prozeß erfolgreich, so wird die neue Verhaltensweise erprobt. Stellt sich aber bei dem Versuch der Neukonstruktion einer Verhaltensweise nicht der rechte Fortschritt ein, so wird das eigene Denken selbst zum Objekt der Betrachtung. Das neue Problem ist die Umformung des eigenen Denkens so, daß ein besseres Denken resultiert. Das Konzept der Selbstreflexion als Protokollanalyse des Denkens enthebt der Notwendigkeit, einen „geschachtelten Geist" anzunehmen. Es reicht ein „Geist", auch wenn es darum geht, das Denken zu betrachten, welches sich selbst betrachtet. In gewisser Weise vollzieht der menschliche Geist mit der Selbstreflexion ein Münchhausen-Kunststück und zieht sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf. Die Fähigkeit des Menschen, die Protokolle des eigenen psychischen Geschehens zum Objekt der Betrachtung zu machen, ist vermutlich an die Entwicklung der Sprache gebunden. 3 Tiere haben sicherlich auch ein Protokoll ihres Verhaltens. Ein Hund z.B. könnte in einem ihm unbekannten Jagdgelände ohne einen solchen Ariadnefaden im Kopf wohl kaum den Rückweg zu seinem Startpunkt finden. Aber die Betrachtung und kritische Analyse des Protokolls ist Tieren wohl nicht möglich, da ihnen die Sprache als „2. Signalsystem" 4 , d.h. als weiterer Zugang zu den Gedächtnisinhalten neben der Wahrnehmung, fehlt. Wieso ist reflektiertes Handeln „frei" ? Es ist frei in dem Sinn, daß es nicht vollständig von den zu Beginn der Handlung im kognitiven System vorhandenen Handlungsprogrammen abhängig ist. Denn diese Programme sind durch Selbst3 Siehe McCrone (1990). 4 Siehe Pavlov (1972).
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Abb. 3
Dietrich Dörner
Selbstreflexion im Fluß der menschlichen Handlungsregulation.
reflexion abänderbar. Diese Abänderung aber gehorcht selbst durchaus wieder Gesetzmäßigkeiten, denn ein solcher Prozeß, wie das Ausfällen von Gemeinsamkeiten, erfolgt ja aufgrund einer bestimmten Regel, nämlich der einfachen Regel des induktiven Schlusses: „wenn allen erfolglosen Lösungsversuchen das Element A gemeinsam ist, so ist A (vielleicht) die Ursache der Erfolglosigkeit!". Die Selbstreflexion macht aus dem menschlichen Denkapparat ein rekursiv sich veränderndes System: das neue Denken wird mithilfe des alten Denkens erzeugt und ist zwar anders, aber eben doch auch noch von dem „alten" abhängig.
Selbstreflexion und Handlungsregulation
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3. Die Bedingungen für Selbstreflexion In diesem Abschnitt wollen wir untersuchen, welche Bedingungen für die Selbstreflexion günstig und welche ungünstig sind. Wir beginnen mit der Diskussion der Rolle der Rückmeldung, gehen dann auf die Groborganisation des Handelns beim Menschen ein und widmen uns schließlich der Rolle des Kompetenzempfindens, welches uns von großer Bedeutung dafür zu sein scheint, ob und in welchem Ausmaß Selbstreflexion stattfindet.
3.1 Rückmeldungsverzögerung
oder -ausfall
Wir haben oben festgestellt, daß Erfahrungen der Inkompetenz bei dem Versuch, eine Anforderung zu bewältigen, wahrscheinlich die Hauptauslöser selbstreflektorischer Aktivitäten sind. Solche Mißerfolgserlebnisse treten nun in bestimmten Realitätsauschnitten, die uns heutzutage im Hinblick auf „verantwortliches Handeln" besonders interessieren, nämlich in sehr komplexen Gebieten, wie sie Politik, Verwaltung und ganz besonders der gesamte Umweltbereich darstellen, nicht häufig auf. In diesen Bereichen sind die „Totzeiten" der Maßnahmen groß. Als „Totzeit" bezeichnen wir die Zeit, die zwischen der Auslösung einer bestimmten Maßnahme und dem Effekt der Maßnahme vergeht. Die Totzeiten bei Umweltschutzmaßnahmen, aber auch bei umweltschädigenden Maßnahmen, sind recht hoch. Das D D T z.B. wurde in den Jahren kurz nach dem zweiten Weltkrieg eingeführt; die schädlichen Wirkungen des DDTs bemerkte man erst 30 Jahre später. Daß sich der Assuan-Staudamm schädlich auf den Sardinenfischfang vor der Nilmündung auswirkt, merkte man auch erst lange nach dem Bau des Dammes. Die Wirksamkeit, d.h. die Folgen, Spätfolgen und Nebenwirkungen politischer Maßnahmen, wie z.B. der Gesundheitsreform, stellen sich u.U. erst nach Jahren ein. So kann also in Bereichen mit großen Totzeiten die Selbstreflexion, die sich auf
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Dietrich Dörner
die tatsächlichen Folgen der Maßnahmen bezieht, erst sehr spät einsetzen. Oft wird sie gar nicht mehr stattfinden, da derjenige, der eine bestimmte Maßnahme auslöste, und derjenige, der mit den Effekten konfrontiert wird, nicht mehr derselbe ist. Auch vermischen sich über längere Zeiträume gewöhnlich in komplexen Bereichen die Effekte bestimmter Maßnahmen mit den Effekten anderer Maßnahmen oder Ereignisse, z.B. die Effekte einer Gesundheitsreform mit den Auswirkungen wirtschaftlicher Veränderungen oder Änderungen der Bevölkerungsstruktur, sodaß es eines fast nicht mehr zu leistenden Analyseaufwandes bedarf, herauszufinden, welche Folgen nun wirklich auf die fragliche Maßnahme zurückzuführen sind. Und damit wird eine kritische Reflexion der entsprechenden Maßnahme noch unwahrscheinlicher, da kaum noch durchführbar. Die Nachfahren werden ihre Vorfahren verfluchen und nicht mehr verstehen, wieso es denn nicht eigentlich „sonnenklar" war, daß man sich auf so etwas wie das Konzept der „autogerechten Stadt", das Abitur für 50% der Jugend, das DDT, die Waldmonokulturen, die „Verskipistung" der Alpen usw. niemals hätte einlassen dürfen. - So werden die Gründe und Hintergründe bestimmter Ereignisse, Maßnahmen und Beschlüsse nie mehr diskutiert; man findet die Folgen zwar schlecht oder gut, lernt aber nichts im Hinblick auf die Art und Weise, wie man vorgehen sollte, da die Prozesse, die seinerzeit zu den entsprechenden Maßnahmen führten, nicht mehr zugänglich sind. Man lernt, was man nicht hätte machen sollen, aber nicht, wie man es nicht hätte machen sollen. Und so wird man zwar wohl denselben Fehler nicht wieder begehen, aber nicht die Denkformen vermeiden, die zu dem Fehler führten. Die desaströse Auswirkung verzögerter Rückmeldung konnte Brehmer (1986, 1990, 1992) in Experimenten zeigen, in dem es um den Einsatz von Feuerlöscheinheiten in einer (computersimulierten) Waldbrandsituation ging. Die verzögerte Rückmeldung über die Tätigkeit der Löscheinheiten führte zu einem massiven Leistungsabfall. Man kann wohl vermuten, daß dieser teilweise auf den Verlust der Kontingenz zwischen Maßnahmen und Effekt bei den Versuchspersonen zurückzuführen war, der
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die selbstreflektorische Effektivierung der Planung und Ents c h e i d u n g s f i n d u n g verhinderte.
3.2 Die
Rasmussen-Leiter
Menschliches Handeln ist stufenweise organisiert. Diese stufenweise Organisation stellen wir in Abb. 4 (S. 213) dar. Die unterste Stufe ist die Aktivierung von „Automatismen", d.h. fest vorprogrammierten sensumotorischen Koordinationen (man denke an das Autofahren unter „Normalumständen"). Automatismen werden durch die jeweiligen inneren oder äußeren „Reize" kontrolliert, ohne daß das Individuum allzu viel „aktiv" dazu tun könnte oder müßte. Dies ist die Ebene des Routinehandelns. Beim Routinehandeln geschieht das Tun oftmals ohne jegliches Bewußtsein. Das ist auch gut so, wie jeder Autofahrer weiß, der den Fuß schon auf der Bremse hat, ehe er noch bewußt erkannt hat, daß ein Kind dabei ist, ihm vor den Wagen zu laufen. Wenn in solchen Fällen der Entschluß zum Bremsen abhängig wäre von der bewußten Reflexion, was man denn nun eigentlich tun sollte, wäre es wohl meist zu spät. Erst wenn f ü r ein bestimmtes Ziel eine Routineoperation nicht aufgefunden werden kann, wird die Synthese einer neuen Verhaltensweise versucht. Es findet „Denken" und „Problemlösen" statt. Man versucht, aus den im Gedächtnis auffindbaren einzelnen Operationen und Verfahrensweisen gewissermaßen wie aus Puzzlestiicken eine neue Strategie des Handelns zusammenzustellen. Dieses Planen braucht nicht notwendigerweise ein bewußter Prozeß sein. (Wir kennen seit langem Planungssysteme in der Künstlichen Intelligenz, die sich - mehr oder minder gut - neue Verhaltensweisen „ausdenken"; Bewußtsein sprechen wir ihnen nicht zu, und zwar nicht nur aus einem Gefühl heraus, daß z.B. ein Schachspielautomat kein Bewußtsein hat (haben sollte!?), sondern aufgrund des Wissens, daß diese Systeme nicht über die Möglichkeit verfügen, sich selbst und ihre Planungsalgorithmen zum Objekt der Betrachtung zu machen. Beim Menschen ist Planen aber wohl meist
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bewußt; Menschen planen nicht nur, sondern sie wissen, daß und wie sie planen. Schon Wolff meinte: „... das erste ist, so wir von unserer Seele wahrnehmen, wenn wir auf sie achthaben, nemlich daß wir uns vieler Dinge als ausser uns bewust sind. Indem dieses geschiehet, sagen wir, daß wir gedencken, und nennen demnach die Gedancken Veränderungen der Seele, deren sie sich bewust ist (...). Hingegen wenn wir uns nicht bewust sind, also z.E. im Schlaffe, oder auch wohl zuweilen im Wachen es davorhalten, pflegen wir zu sagen, daß wir nicht gedencken. Solcher Gestalt setzen wir das Bewust seyn als ein Merckmahl, daraus wir erkennen daß wir gedencken. U n d also bringet es die Gewohnheit zu reden mit sich, daß von einem Gedancken das Bewust seyn nicht abgesondert werden kan." 5 Ist das Planen erfolglos, so findet die „ultima ratio" des Verhaltens statt, nämlich „Versuch-und-Irrtum". Man versucht durch Experimentieren bzw. - wenn das zu gefährlich ist durch Beobachten Informationen über neue Verhaltensweisen zu gewinnen. Was hat diese Stufenleiter des Verhaltens, die wir RasmussenLeiter nennen wollen 6 , nun mit Selbstreflexion zu tun? Unter bestimmten Umständen werden Menschen mehr auf der einen oder mehr auf der anderen Stufe verharren. Wenn es beispielsweise darauf ankommt, schnell zu handeln, wenn keine Zeit ist, jeden Entschluß genau zu überlegen, in Situationen akuter Gefahr z.B., werden Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf der Ebene der Automatismen, der nichtreflektierten Verhaltensweisen verharren. Hoher Zeitdruck verbunden mit dem Gefühl der Bedrohung wird also eher ein unreflektiertes, „verantwortungsloses", automatisches Verhalten erzeugen. (Man lese in diesem Zusammenhang die Berichte über das Massaker von M y Lai im Vietnam-Krieg (Peck 1983). Dies Massaker wurde wohl weitgehend von Personen verübt, 5 Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (1719), zitiert nach Mittelstraß (1988), 139. 6 Siehe Rasmussen (1983).
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Abb.4
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Rasmussen - Leiter; Aufeinanderfolge verschiedener Formen des Verhaltens bei dem Versuch, ein Ziel zu erreichen.
die „nicht wußten, was sie taten", und sich in einer Art psychischer Betäubung 7 befanden, in der sie nur noch auf dieser untersten Ebene der Verhaltenssteuerung „handelten".) Institutionen, deren Mitglieder oft in Situationen hoher Gefahr verbunden mit starkem Zeitdruck geraten, versuchen gewöhnlich, ihre Mitglieder durch „Drill" auf solche Situationen vorzubereiten. Drill bedeutet Automatisierung. Soldaten, Feuerwehrleute, Polizisten werden so ausgebildet, daß ggf. Reflexion und Planen unnötig ist. Dies bedeutet aber notwendigerweise, daß bei ihnen eine gewisse Tendenz bestehen wird, ohne Selbstreflexion zu handeln. Betrachtet man die Beispiele für folgenschwere Fehler menschlichen Verhaltens, die Reason (1990) zusammentrug, so findet man zahlreiche Beispiele für die desaströsen Konsequenzen hoch automatisierten und deshalb nicht mehr reflektierten Verhaltens. 7 „psychical numbing", Robert Jay Lifton, nach Staub (1989), 45.
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Dietrich Dörner
Selbst wenn ein Verhalten hochgradig automatisiert ist, folgt beim Menschen oft eine Nachkontrolle: „Moment, ich habe jetzt gerade dies oder jenes gemacht. War das auch richtig?" Auch in Perioden des automatisierten Verhaltens werden also oft Selbstreflexionsphasen eingeschoben werden. Solche Nachkontrollen können dazu führen, daß unangemessene Verhaltensweisen entdeckt und - wenn noch möglich - revidiert werden. Nachkontrolle setzt natürlich einen gewissen Zweifel an der Angemessenheit des Verhaltens voraus. Wenn nun das automatisierte Verhalten sich in einem bestimmten Bereich wieder und wieder als besonders effektiv, als besonders erfolgreich erweist, fällt ein wichtiger Grund für selbstreflexive Nachkontrollphasen aus. Warum sollte man über Verhaltensweisen nachdenken, die offensichtlichermaßen für ihre Zwecke sehr gut geeignet sind? Und so mag gerade der Erfolg den Kern zukünftigen Unheils in sich tragen. Man nimmt nicht mehr zu Kenntnis, daß die Angemessenheit des Verhaltens bedingungsabhängig ist, daß die Erfolge nur unter bestimmten Bedingungen eintraten, oder es ändern sich unmerklich die Umstände und schließlich wird das, was gestern noch richtig war, falsch. - Es gibt Gründe für die Annahme, daß z.B. das Tschernobyl-Unglück auf den wiederholten Erfolg eines gefährlichen Verhaltens zurückzuführen ist. 8 Die zahlreichen Verstöße gegen die Sicherheitsvorschriften, die bei diesem Unglück eine so verheerende Rolle spielten, waren aller Wahrscheinlichkeit nach schon vorher oft „geübt" worden. Automatisierung soll Selbstreflexion erübrigen. Das ist ihr „Sinn". Wenn man aber vom Handelnden verlangt, daß er sich beim Handeln seiner Verantwortung bewußt ist, so hat die Automatisierung des Verhaltens ihre Gefahren. Auf der anderen Seite kann man auf Automatisierungen natürlich auch nicht verzichten.
8 Siehe Reason (1988).
Selbstreflexion und Handlungsregulation
3.3 Unbestimmtheit
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und Selbstreflexion
Wir haben oben schon ausgeführt, daß gewöhnlich wohl Mißerfolgserfahrungen die Auslöser von Selbstreflexion sein können. Ein Mißerfolg zeigt, daß man - aus welchen Gründen immer einer Anforderung nicht gewachsen ist. Es mangelt die Kompetenz zur Bewältigung einer Aufgabe. Man war nicht in der Lage, die Dinge so zu regeln, wie sie hätten geregelt werden müssen. Oder man hat Schiffbruch dabei erlitten, den Gang der Ereignisse richtig vorauszusagen. Mißerfolge (bei der Manipulation der Welt oder bei der Voraussage) indizieren Unbestimmtheit. Man kann die Umwelt nicht nach den eigenen Wünschen manipulieren, man kann sie nicht mehr prognostizieren. Die Reaktionen von Menschen auf Unbestimmtheit sind nicht leicht auf einen Nenner zu bringen. Natürlich hängt die Reaktion von dem Stellenwert des Mißerfolgs ab. Ein Mißerfolg bei meinem Versuch, Boris Becker in einem Tennismatch zu schlagen, ein Mißerfolg also in einem Bereich, der für mich nicht weiter bedeutsam ist und in dem der Mißerfolg auch vorauszusehen war, wird keine besondere Rolle spielen (ein Erfolg aber sehr wohl!). Weiterhin spielt die Größe des Mißerfolgs eine Rolle und auch, ob ich ihn als einmaliges Zufallsereignis werten kann oder nicht. Wie geht man mit einem bedeutsamen und schwerwiegenden Indiz für die eigene Inkompetenz um? Sicherlich wäre es nicht falsch, sich über die Gründe des Mißerfolgs Gedanken zu machen. Die Zusammenhänge zwischen der Erfahrung mangelnder Kompetenz und der Selbstreflexion als „Kompetenzreparatur" sind aber mit der einfachen Formel: „Wenn Inkompetenz, dann Selbstreflexion zur Kompetenzsteigerung" nicht erfaßt. In homöopathischen Dosen mögen Menschen Unbestimmtheit, das Gefühl der Hilflosigkeit, das „Ausgeliefertsein". Dies „Mögen" ist aber auf solche Situationen beschränkt, in denen sich das alles schnell wieder ändern kann aufgrund eigener Bemühungen (beim Schachspiel) oder aufgrund des natürlichen Ganges der Ereignisse (auf der Achterbahn z.B.). Wenn es sich
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aber herausstellt, daß Unbestimmtheit sich nicht vermindern läßt, reagieren Menschen mit Angst. Diese Angst kann in verschiedener Weise bekämpft werden. Eine Methode wäre, sich durch Selbstreflexion („was mache ich falsch?") oder durch Exploration der Umgebung und der darin möglichen Handlungsalternativen die nötige Kompetenz zu verschaffen. Eine andere Methode, die Angst zu bekämpfen, ist die Ritualisierung des Verhaltens, das Vorgehen nach festen Verhaltensplänen, die dann tunlichst nicht mehr in Frage gestellt werden sollten. Es ergibt sich Dogmatismus und Konservatismus; diese Methode ist natürlich nur in solchen Umwelten erfolgreich, die keine direkten Rückmeldungen über die Unangemessenheit der Verhaltensrituale geben, aber fatalerweise fallen in diese Kategorie ausgerechnet sehr wichtige Ausschnitte der Realität. Darauf sind wir oben ja schon eingegangen. Ritualisierungen des Verhaltens, also Verhalten, welches nach einem festen Plan abläuft, findet sich also nicht nur aufgrund von gelernten Automatisierungen. Ein anderer Grund dafür kann das Bedürfnis nach der Vermeidung oder Beseitigung von Unsicherheit sein, welches durch die Adaptierung eines festen Verhaltensrituals befriedigt wird. Nicht nur allzu große Sicherheit und die Erfahrung fortgesetzten Erfolges verführen dazu, Selbstreflexion zu unterlassen. Auch Unsicherheit und Unbestimmtheit kann dazu führen. Ritualisierung und Dogmatisierung findet man besonders auch als Gruppenphänomene. Die Gruppe bietet die Rückmeldung über die Adäquatheit des Verhaltens, die die Realität mit ihren langen Totzeiten nicht bieten kann. Hervorragende Beispiele dafür zählt Janis (1972) auf. Eine Gruppe von Menschen, z.B. ein politisches Entscheidungsgremium hat in einem Zustand hoher Unbestimmtheit eine gewisse Tendenz dazu, nach bestimmten festgeschriebenen Regeln vorzugehen, seine Entscheidungen für sakrosankt zu erklären und nicht mehr zu kritisieren. Janis nennt dieses Phänomen „group-think". Groupthink produziert, was Friedrich Schiller so schildert:
Selbstreflexion und Handlungsregulation
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.Jeder, sieht man ihn einzeln, ist leidlich klug und verständig, Sind sie in corpore, gleich wird euch ein D u m m k o p f daraus."
Die Tendenz von Gruppen, mitunter riskanter zu entscheiden als einzelne Personen 9 , mag in der selbstverordneten Ritualisierung der Planung und Entscheidungsfindung der Gruppe auch ihre Gründe haben. Man sieht die Gefahren nicht mehr, weil die Gruppe ihren Mitgliedern - mehr oder minder explizit Denkverbote auferlegt. - Ein anderer Grund für das riskantere Verhalten von Gruppen im Vergleich zu Einzelpersonen mag sein, daß man sich in der Gruppe einfach stärker fühlt (aus den Gründen, die gerade angegeben worden sind; die Gruppe sorgt für die sonst fehlende Rückmeldung über die Adäquatheit des Verhaltens) und deshalb mehr Risiken in Kauf nimmt. Die Sicherheit (oder: die scheinbare Sicherheit), die die Gruppe bietet, in der alles Verhalten hoch ritualisiert ist, wirkt ja durchaus auf manchen attraktiv, der vom Nachdenken einfach genug hat. („Er geht unter die Soldaten: er will nicht mehr wissen, was geschieht; er will nicht mehr wissen, was er tut", Canetti 1989, S. 9.) Man sollte nicht glauben, daß Menschen im allgemeinen gerne denken. Viel mehr lieben sie die Selbstvergessenheit im „flowErleben" (Csikszentmihalyi, 1985), wenn alles „wie geschmiert" geht. Oft vermeiden Menschen die Konfrontation mit Unbestimmtheit, mit Erlebnissen der Inkompetenz auch durch aktive Verweigerung der Informationsaufnahme. Dies zeigt sich deutlich in einem Experiment von Reither (1985). Reither verwendete in seinen Untersuchungen ein Planspiel, in dem es darum ging, die Lebensumstände eines Stammes in der Sahel-Zone zu verbessern. Es handelt sich dabei um ein Computerplanspiel, um eine Variation des Planspiels „MORO" 1 0 . Die Versuchspersonen mußten das „Schicksal" der MOROs über 20 Jahre hindurch leiten. Dabei konnten sie landwirtschaftli-
9 „risky shift", siehe Brandstätter (1983). 10 Siehe Dörner/Stäudel/Strohschneider (1986).
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Dietrich Dörner
Abb. 5
Das Reither-Experiment: Kontrolle und Moral
che Maßnahmen beschließen, den Verkauf landwirtschaflicher Produkte ankurbeln, den Hirseanbau durch Düngemaßnahmen fördern, die Landwirtschaft mechanisieren usw. Die Versuchspersonen wurden immer wieder mit den Erfolgen oder Mißerfolgen ihrer Maßnahmen konfrontiert oder konnten doch nach einer bestimmten Zeit die Erfolge bzw. Mißerfolge ihrer Maßnahmen erfragen. Erstaunlich genug ist, daß die Versuchspersonen keine große Tendenz zur aktiven Kontrolle ihrer eigenen Maßnahmen zeigten. Man sieht in der Abb. 5, daß in den ersten 5 „Jahren" (d.h. den ersten fünf Eingriffsphasen, in denen die Versuchspersonen etwas unternehmen konnten) die Versuchspersonen nur in etwa 36% der Fälle die Effekte ihrer Maßnahmen tatsächlich abfragten. In der zweiten 5-Jahresperiode stieg dieser Prozentsatz auf immerhin über 50 % an. (Das heißt also immer noch, daß etwa jede zweite Maßnahme bezüglich ihrer Effekte nicht kontrolliert wurde.)
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Nach dem 10. Jahr fand in der Reither-Version des Planspiels ein krisenhaftes Ereignis statt. Ein Nachbarstamm drohte unverhüllt mit militärischen Eingriffen. Diese Krisensituation belastete die Versuchspersonen; ein Effekt der Krisensituation war, daß nunmehr die Anzahl der kontrollierten Maßnahmen auf ein Minimum abfiel, nämlich in der dritten 5-Jahresperiode auf etwa 8 % . Und in der vierten Fünfj ahresperiode wurde praktisch keine Maßnahme mehr kontrolliert. Was war der Hintergrund des niedrigen Grades der Selbstkontrolle bei den Versuchspersonen und des rapiden Absinkens der Selbstkontrolle nach der Krisensituation? Die für uns wahrscheinlichste Erklärung ist, daß die Versuchspersonen Angst davor hatten, ihre eigene Inkompetenz einzusehen, sich das Ausmaß ihrer Handlungsunfähigkeit vor Augen zu führen. Die Krise zeigte ihnen, daß immer etwas Unvorhersehbares eintreten kann. Das verunsicherte die Versuchspersonen und führte zu Absicherungstendenzen. Aus diesem Grunde verzichteten sie darauf, die Folgen ihres Handelns zur Kenntnis zu nehmen. Der Schutz des Gefühls der Handlungsfähigkeit, der Schutz des Gefühls, kompetent zu sein für die Lösung der anstehenden Aufgabe, hatte ein größeres Gewicht als das Bestreben, Defizienzen beim eigenen Denken, beim Entscheiden, bei der Informationssammlung und der Hypothesenbildung aufzudecken und zu beheben. Der Verzicht auf die Kontrolle der eigenen Handlungen steht bei den Versuchspersonen in einer deutlichen Beziehung zum „moralischen Verfall" des Verhaltens. Reither untersuchte den Zusammenhang der von den Versuchspersonen beschlossenen Handlungen mit den eigenen Wertvorstellungen. Das geschah dadurch, daß den Versuchspersonen nach dem Versuch in anonymisierter Form ihre eigenen Beschlüsse und Entscheidungen zur Beurteilung auf Konkordanz mit ihrem eigenen Wertsystem vorgelegt wurden. In Abb. 5 sieht man rechts die Ergebnisse dieser Befragung. Man sieht, daß die durchschnittlichen Abweichungen der Maßnahmen der Versuchspersonen von ihren eigenen moralischen Standards mit sinkender Zahl der Kontrollen immer größer wurden. - Nach unserer Meinung ist das
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darauf zurückzuführen, daß der Verzicht auf die Selbstreflexion die „Einbettung" der Maßnahmen in größere Kontexte verhinderte. Die Versuchspersonen sahen nur noch das unmittelbare Ziel ihres Handelns, Neben- und Fernwirkungen wurden nicht mehr reflektiert. Die Tendenz zum Kompetenzschutz auf Kosten der Aufnahme von Information mag in gewissem Umfang vernünftig sein; ein wenig Selbstbetrug ist ein Akt der Psychohygiene und verhindert, daß man den Mut verliert. Jemand, der in einer schwierigen Aufgabe steht, darf nicht das Gefühl gewinnen, daß er eigentlich nicht in der Lage ist, mit der Aufgabe zurechtzukommen. Denn das wäre die beste Voraussetzung dafür, daß er wirklich nicht mit der Aufgabe zurechtkommt. Daher sollte man es auch nicht allzu merkwürdig finden, daß die Umgebung des letzten Staatsratsvorsitzenden der D D R , Honnecker, sorgsam darauf achtete, daß der Staatsratsvorsitzende auf der Fahrt vom Staatsratsgebäude in der Mitte Berlins zu seinem Wohnsitz im N o r d e n von Berlin, in Wandlitz, möglichst der Schlangen vor den Geschäften in der Schönhauser Allee, die er passieren mußte, nicht ansichtig wurde. Sein Gefühl, daß der Sozialismus in der Lage sei, die Grundbedürfnisse der Menschen ohne weiteres zu befriedigen, hätte nachhaltig Schaden nehmen können, und damit auch seine Handlungsfähigkeit. Die Tatsache, daß Hitler seine zerbombte Reichshauptstadt in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges im Automobil nur noch mit verhängten Fensterscheiben durchquert haben soll, mag einen ähnlichen Hintergrund haben. Möglichst nicht hinsehen; sonst könnte es sich ergeben, daß man allzu deutlich auf die Mißerfolge des eigenen Handeln hingewiesen wird und auf diese Weise eine Grundvoraussetzung für weiteres Agieren, nämlich die Überzeugung, effektiv handeln zu können, verliert. Die Abkoppelung von der Realität, der Verzicht auf die Analyse der Folgen seiner Handlungen, mag den Zweck haben, das Gefühl der eigenen Kompetenz zu sichern. Auf der anderen Seite führt diese Tendenz unweigerlich zur Verkrustung der eigenen Handlungstendenzen, zum Konservatismus, da die
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Anreize zur Modifikation der eigenen Denkgewohnheiten und Weltsichten fehlen. Das Individuum stellt die Maximen, die sein Handeln leiten, nicht mehr in Frage und verharrt aus diesem Grunde in dem einmal adaptierten System von Handlungsregulationen.
4. Einige Anmerkungen zum Schluß Die Selbstreflexion ist eine herausragende Fähigkeit des Menschen. Mit Hilfe der Selbstreflexion ist der Mensch in der Lage, sein kognitives System, seine heuristischen Verfahren, seine Verfahren des Planens und Entscheidens selbständig, fast beliebig zu verändern. Die Selbstreflexion ist die Voraussetzung dafür, daß Anforderungen, die über die unmittelbaren Ziele des Handelns hinausgehen, berücksichtigt werden. Damit ist die Selbstreflexion die Voraussetzung für verantwortliches Handeln. Wir haben versucht, in diesem Aufsatz darzustellen, welche Bedingungen für die Selbstreflexion jeweils günstig und welche ungünstig sind.
Literatur Brandstätter (1983), H.: Gruppenleistung und Gruppenentscheidung, in: D. Frey/S. Greif (Hrsg.): Sozialpsychologie. Ein Handbuch in Schlüsselhegriffen, München: Urban & Schwarzenberg, 182-186. Brehmer, B./Allard, R. (1986): Learning to Control a Dynamic System, in: E. de Corte et al. (Hrsg.): Learning and Instruction, Amsterdam: North, Holland. Brehmer (1990), B.: Strategies in Real-Time, Dynamic Decision Making, in: R. Hogarth (Hrsg.): Insights in Decision Making, Chicago: University of Chicago Press. Brehmer (1992), B.: Dynamic decision making: H u m a n control of complex systems, in: Acta Psychologica 81,211 -241. Canetti (1989), Elias: Unruhe der Gezeiten - Aphorismen 1942-1985, Berlin: Volk und Welt. Csikszentmihalyi (1985), M.: Das Flow-Erlebnis -Jenseits von Angst und Langeweile im Tun aufgehen, Stuttgart: Klett.
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Dietrich Dörner
Dörner, D./Stäudel, Th./Strohschneider, St. (1986): MoroProgrammdokumentation, Bamberg: Memorandum Nr. 23, Lehrstuhl Psychologie II der Universität. Duncker (1935), K.: Zur Psychologie des produktiven Denkens, Berlin: Springer. Hommers (1987), W.: Implizite Willenstheorien des rechtlichen Denkens aus empirisch-psychologischer Perspektive, in: H. Heckhausen/P. M. Gollwitzer/F. E. Weinert (Hrsg.): Jenseits des Rubikon - Der Wille in den Humanwissenschaften, Berlin: Springer, 340-359. Janis (1972), I.: The Victims of Groupthink, Boston: Mifflin. Lucas (1964), J. R.: Minds, Machines and Godei, in: A. R. Anderson (Hrsg.): Minds and Machines, Englewood Cliffs, N.J.: Prentice Hall. McCrone (1990), J.: Als der A f f e sprechen lernte - Die Entwicklung des menschlichen Bewußtseins, Frankfurt/Main: S. Fischer. Mittelstraß (1988), J.: Vorbereitende Bemerkungen zu einer pragmatischen Philosophie des Bewußtseins, in: Zeitschrift für Wissenschaftsforschung 4 (2), 139-151. N o r m a n (1976), D.: Memory and Attention. An Introduction to Human Information Processing, N e w York: Wiley. Pavlov (1972), I. P.: Die bedingten Reflexe, München: Kindler. Peck (1983), M. S.: People of the Lie: The Hope of Healing Human Evil, N e w York: Simon & Schuster. Rasmussen (1983), J.: Skills, Rules, Knowledge: Signals, Signs and Symbols and Other Distinctions in H u m a n Performance Models, in: IEEE - Transactions, Systems, Man, Cybernetics, SMC 13, 257-267. Reason, J. T. (1987): The Chernobyl Errors, in: Bulletin of The British Psychological Society, 1-18. Reason (1990), J. T.: Human Error, Cambridge: University Press. Reither (1985), F.: Wertorientierung in komplexen Entscheidungssituationen, in: Sprache & Kognition 4 (1), 21-27. Staub (1989), E.: The Roots of Evil. The Origins of Genocide and Other Group Violence, Cambridge: Cambridge University Press.
Weyma Lübbe
Handeln und Verursachen: Grenzen der Zurechnungsexpansion
I. Zu den bekanntesten Vertretern der These, daß die wissenschaftlich-technische Zivilisation eine neue Ethik brauche, um ihren spezifischen Problemen begegnen zu können, gehört Hans Jonas. In seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung" fordert er, der Verantwortungsbereich des Menschen sei über das bislang übliche Maß hinaus auszudehnen in „Zeit- und Raumhorizonte(.), die denen der Taten entsprechen" (1979: 9). „Im Zeichen der Technologie" habe es die Ethik „mit Handlungen zu tun (wiewohl nicht mehr des Einzelsubjekts), die eine beispiellose kausale Reichweite in die Zukunft haben, begleitet von einem Vorwissen, das ebenfalls, wie immer unvollständig, über alles ehemalige weit hinausgeht" (1979: 8 f). Ein „Gegenstand von gänzlich neuer Ordnung, nicht weniger als die gesamte Biosphäre des Planeten", sei dem hinzugefügt worden, „wofür wir verantwortlich sein müssen, weil wir Macht darüber haben" (1979: 27). Das ist ein wirkungsreiches Beispiel für das kulturelle Phänomen, das ich im Anschluß an Hermann Lübbe „Zurechnungsexpansion" nenne. Bei Hermann Lübbe lautet der Ausdruck „Zurechenbarkeitsexpansion" (1992: 203 ff). Gemeint ist dort ein objektiver Vorgang, nämlich „die zivilisationsspezifische Transformation von Lebensvoraussetzungen und Lebenstatbeständen in Handlungsresultate" (1992:205). Als Beispiel dient die Situation der Mutter, die ihr Kind, was ja seit jeher vorkam, vor der Geburt verliert - aber nun infolge eines ärztlichen Eingriffs im Rahmen der heute üblichen pränatalen Diagnostik: „Was die Betroffene früher als ein Ereignis aus Vorgängen un-
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Weyma Lübbe
verfügbarer Natur ereilte, hat jetzt den Charakter einer Handlungsnebenfolge, in bezug auf die sich die Frage ihrer Verantwortung stellt" (1992: 204). Dasselbe gilt natürlich für den Fall, in dem die Mutter das Kind als Folge einer unterlassenen pränatalen Diagnose verliert - also durch eine natürliche Fehlentwicklung, zu deren Früherkennung und Verhinderung die medizinischen Mittel vorhanden gewesen wären. Der Anteil der Lebenstatbestände, die zugleich Handlungsfolgen sind, wächst also nicht nur durch ein industriegesellschaftsspezifisches Mehr an Handeln (etwa bei höherer Besiedelungsdichte) und auch nicht nur durch die sogenannte größere Eingriffstiefe des Handelns (etwa des Baus einer Hochalpenstraße im Vergleich zum vorindustriellen Austreten eines Bergpfads), sondern der Anteil wächst bereits durch das bloße Mehr an Handlungsmöglichkeiten. Die bestehende und bekannte Handlungsmöglichkeit - in unserem Beispiel die Möglichkeit der pränatalen Diagnose macht auch den, der sie nicht nutzt, insoweit zum Handelnden und zum Verursacher der Folgen. Ich nehme also den so gekennzeichneten Vorgang als gegeben und zugleich als unvermeidlich an: Mit unseren Eingriffsmöglichkeiten wächst der Anteil der Lebenstatbestände, die wir handelnd oder unterlassend selbst verursachen - von unserer eigenen Gesundheit über die Gesundheit von Wäldern und Gewässern bis hin zum Zustand der Atmosphäre und des Klimas. Mit dem Begriff der Zurechnungsexpansion ist nun im folgenden nicht dieser Vorgang selbst gemeint, sondern die kulturelle Reaktion auf ihn seitens der von den Handlungsfolgen Betroffenen. Für diese Reaktion ist Jonas' Ruf nach Ausdehnung des Verantwortungsbereichs des Menschen ein Beispiel, und der Erfolg seines Buches zeigt an, daß es sich um eine kulturell verbreitete Reaktion handelt. Das macht sie aber noch nicht zu einer vernünftigen Reaktion. O b das von Jonas und anderen in den Bereich des zu Verantwortenden Einbezogene dort wirklich hingehört, ob also das faktisch Zugerechnete in seinem ganzen Umfang ein vernünftigerweise Zurechenbares ist - das ist die Frage, die ich über die Deskription der kultu-
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relien Vorgänge hinaus hier stellen möchte: die Frage nach den vernünftigen Grenzen der Zurechnung von Handlungsfolgen. Natürlich ist das keine neue Frage; vielmehr gibt es dazu Reflexionen schon bei Aristoteles 1 , und in der Rechtswissenschaft sind die Grenzen der Zurechenbarkeit ohnehin ein unvermeidliches Thema. 2 Im Unterschied zu Jonas' " Prinzip Verantwortung" sind straf- oder auch zivilrechtliche Lehrbücher der Zurechnungsdogmatik aber allenfalls ihrer Examensrelevanz wegen gut verkauft. Das Buch von Jonas dagegen ist wohl auch deshalb so erfolgreich, weil der Autor irgendwelche Grenzen der Zurechenbarkeit von Handlungsfolgen nicht benennt. Als Handlungsfolgenopfer, dem sich die Frage nach der Verantwortung stellt, hört man eben nicht gern die Antwort: „Niemand ist verantwortlich". Dennoch ist das manchmal die richtige Antwort. An Jonas' Text und an einem weiteren zurechnungstheoretisch relevanten Text möchte ich im folgenden zeigen, wie es sich moralphilosophisch einerseits und rationalitätstheoretisch andererseits auswirkt, wenn man die Möglichkeit dieser Antwort nicht systematisch in Betracht zieht. Das Interesse an der Schärfung der Aufmerksamkeit für die Grenzen der Zurechenbarkeit ist übrigens nicht unbedingt ein Exkulpationsinteresse.
1 Eth. Nie. III, 1109 b 30 ff. 2 Welcher Verursachungsbegriff etwa vorausgesetzt ist, wenn gesagt wird, daß man für schädigende „Folgen seines Handelns" aufzukommen habe, welche kognitive Verfassung bezüglich der Handlungsfolgen dabei auf Seiten des Handelnden vorauszusetzen ist, ob es im Falle des Zusammenwirkens mehrerer „Einzelsubjekte" kausalitätstheoretische oder sonstwie objektive Kriterien für eine anteilige Zurechnung der entstandenen Schäden gibt - das sind Fragen, die in der juristischen Literatur ungleich detaillierter und problembewußter behandelt werden als in der wissenschafts- und technikethischen Literatur. Auf den Standpunkt, das sei wegen der ja auch disziplinär verwirklichten Trennbarkeit juristischer und moralischer Fragen nicht weiter zu beklagen, kann man sich dabei, wie ich meine, nicht zurückziehen. An moralischen Intuitionen über die Pflichten der Menschen bezüglich der Folgen ihres Handelns orientiert sich auch die juristische Diskussion, und wenn es möglich wäre, die Intuitionen in explizite Beurteilungsregeln zu verwandeln, ohne bei Fragen wie den erwähnten ins Detail zu gehen, hätten die Juristen darauf längst ihrerseits verzichtet.
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Es kann auch das Interesse sein, die Verbindlichkeitschancen des allgemeinen Rufs nach Verantwortung zu steigern, indem man diesen Ruf genauer und unanfechtbarer gestaltet. Die moralphilosophische Ausprägung der Zurechnungsexpansion möchte ich also anhand von Jonas sichtbar machen, und dabei werden sich einige Vorklärungen für den zweiten, rationalitätstheoretischen Teil bereits ergeben. Dort beziehe ich mich auf eine Arbeit aus dem Bereich der kognitiven Psychologie, nämlich auf Dietrich Dörners „Logik des Mißlingens" (1989) - ein Buch, das über Untersuchungen menschlichen Denkens und Verhaltens in komplexen Situationen berichtet. 3 D a wird sozusagen im Kleinen simuliert und analysiert, was der Moralphilosoph Jonas im Großen beklagt - zum Beispiel ökologische Katastrophen, die die Versuchspersonen als technologiebewehrte Entwicklungshelfer in computersimulierten afrikanischen Dörfern anrichten. Der Titel des Buches - „Logik des Mißlingens" - klingt freilich nicht so, als hätten wir es hier mit einer Position zu tun, die zur Zurechnungsexpansion verleitet. „Ultra posse nemo obligatur", lautet ein alter Satz, und was, wie der Buchtitel suggeriert, mit einer gewissen Zwangsläufigkeit mißlingt, das ist ja wohl „ultra posse". Aber das ist nicht die Quintessenz des Autors. Vielmehr lautet die Überschrift des letzten Kapitels: „Was tun?" (1989:275 ff), und diese Frage wird mit einer konkreten Empfehlung beantwortet - einer Empfehlung zur Steigerung unserer beschränkten Rationalität im U m gang mit komplexen Situationen. Meine Absicht ist hier, die Aufmerksamkeit auf die vom Autor selbst nicht thematisierten Grenzen der Steigerbarkeit des Gelingens durch solche E m p fehlungen zu lenken. Dabei handelt es sich nicht um Grenzen der Rationalität, sondern um Grenzen prinzipiellerer Art, die als Grenzen der Zurechenbarkeit des Mißlingens zu akzeptieren sind.
3 Vgl. auch D ö m e r (1983) und D ö m e r (1987). Die „ L o g i k des Mißlingens" wurde für einen breiteren Leserkreis geschrieben und ist am bekanntesten geworden.
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II. Grundlage von Jonas' Überzeugung, daß eine neue Ethik vonnöten sei, ist seine These von der völligen Neuartigkeit der Situation des Menschen in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Ein „Gegenstand gänzlich neuer Ordnung", so die anfangs zitierte Erläuterung, „nicht weniger als die gesamte Biosphäre des Planeten" sei dem hinzugefügt worden, „wofür wir verantwortlich sein müssen, weil wir Macht darüber haben" (1979: 27). Aus dieser Formulierung geht hervor, daß der Bereich der Verantwortung sich mit dem Bereich decken soll, auf den sich unsere „Macht" erstreckt.4 An anderer Stelle freilich heißt es: „Verantwortung, so sahen wir, ist eine Funktion von Macht und Wissen" (1979: 222). Das würde mit der zuvor zitierten These nur dann nicht in Konflikt geraten, wenn unsere Macht und unser Wissen gleiche Reichweite hätten. Tatsächlich fordert Jonas, es müsse „das Wissen ... dem kausalen Ausmaß unseres Handelns größengleich sein" (1979: 28). Konstatieren kann er freilich nur, „daß das vorhersagende Wissen hinter dem technischen Wissen, das unserem Handeln die Macht gibt, zurückbleibt" (1979: 28). Eine neue Demut sei nötig nicht „wegen der Kleinheit, sondern wegen der exzessiven Größe unserer Macht, die ein Exzess unserer Macht zu tun über unsere Macht vorherzusehen und über unsere Macht zu werten und zu urteilen ist" (1979: 55). Mir scheint, daß die Rede von großer „Macht zu tun" oder, wie es an anderer Stelle heißt, großem „Können" (1979: 57) nur Sinn hat, wenn man darunter die Macht, zu tun, was man tun will, versteht. Ungewollte Folgen unseres Tuns dagegen, zum Beispiel Kernreaktorunfälle, demonstrieren nicht unser exzessives Können, sondern unser Nichtkönnen. Ich vermisse also in Jonas' These von der gestiegenen „Reichweite unseres Handelns" zunächst folgende Unterscheidung: 1. „Reichweite des Handelns" im Sinne dessen, was wir unter Nutzung unseres Wissens über die Wirkungen von Handlungen unseren Zwecken 4 Vgl. auch Jonas (1979), 230, ebenso Jonas (1992), 133.
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entsprechend tun können - dies heißt traditionell „Macht" - , und 2. „Reichweite unseres Handelns" im Sinne dessen, was wir mit unseren Handlungen insgesamt bewirken. Dies letztere nennt Jonas „Macht". Ohne diese sprachgebrauchswidrige Expansion der Bedeutung des Machtbegriffs hätte das Plädoyer für Zurechnungsexpansion zurückhaltender ausfallen müssen.5 Die Frage, wie weit und nach welchen Kriterien auch unabsichtliche Handlungsfolgen zu verantworten sind, hätte den Blick ins Detail gelenkt. Die Identifikation von Wirkungsbereich und Machtbereich dagegen blockiert den Blick aufs Detail gleich zu Beginn: Was immer später im Buch an Differenzierungen folgt, wird der flüchtige Leser als superadditum zur vorweg bereits begründeten These nehmen - anstatt als Prüfstein, mit dem in jedem Einzelfall die Anwendbarkeit des Prinzips Verantwortung steht und fällt. Auf differenziertere Passagen in Jonas' Buch, die sich zwischen den rhetorisch raumgreifenden Sätzen immer wieder finden, gehe ich gleich näher ein. Zuvor aber einige im folgenden relevante Erläuterungen und Vorfragen. Die im Kontext von Zurechnungsdiskussionen alltags- und bildungssprachlich häufigste Unterscheidung innerhalb des Gesamtbereichs der Handlungsfolgen ist die Unterscheidung von intendierten und nichtintendierten Folgen des Tuns. Umgangssprachlich wird sie oft analog zur Differenz von erwünschten und unerwünschten Handlungsfolgen verwendet. Aber wie ordnen wir unerwünschte Handlungsfolgen ein, von denen der Handelnde weiß, daß sie mit den erwünschten Folgen kausal zusammenhängen, sodaß das eine ohne das andere nicht zu haben ist? Solche, wie wir sagen, „inkaufgenommene" Folgen schei5 Wendungen wie die, unsere Macht sei „gefährlicher als unsere Ohnmacht" (1983: 13), oder wir bedürften einer „Zügelung des Könnens" (1983: 26), sind nach dem üblichen Sprachgebrauch ebenfalls schief - es sei denn, es handelt sich um Fälle, wo die Handlungsabsichten selber schlecht sind, wo es also, zum Beispiel, um die Macht und das Können des Terroristen geht. Wo dagegen nicht schon die Handlungsabsichten, sondern erst die unbeabsichtigten Handlungsfolgen Gegenstand der Ablehnung sind, bedeutet mehr Können weniger Gefahr.
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nen ebenfalls intendiert zu sein. Vielleicht sollte man, generell, alle Handlungsfolgen, von deren Eintritt der Handelnde zum Zeitpunkt des Handelns weiß, intendierte Folgen nennen. Aber auch der Begriff der „gewußten" Folge bereitet Schwierigkeiten. Bekanntlich wissen wir eine ganze Menge Fakten und Zusammenhänge im Sinne reproduzierbarer Kenntnisse, ohne beim Handeln aktuell an sie zu denken. Zudem kommt es vor, daß wir über relevante Fakten und Zusammenhänge zwar kein reproduzierbares Wissen haben, aber doch wissen, daß es hier etwas zu wissen gäbe. Wie weit intendieren wir also Folgen, deren Eintritt wir dadurch Inkaufnehmen, daß wir den Informationsprozeß abbrechen? Man sieht jedenfalls, daß das Abbrechen eines Informationsprozesses eine zurechenbare Handlung ist, und daß schon aus diesem Grunde das Nichtgewußte keine scharfe Grenze der Zurechnung bilden kann. 6 Es scheint nach dem Gesagten seinen guten Sinn zu haben, wenn Jonas unter dem Titel „Die neue Rolle des Wissens in der Moral" das Wissen „zu einer vordringlichen Pflicht" erhebt (1979: 28 f). Aber nur soweit hat das einen Sinn, wie der Pflicht ein Können korrespondiert. Jonas' Pflichtenlehre dagegen scheint sich auch auf Folgen zu erstrecken, die jenseits dieser Grenze liegen. Denn er propagiert eine „Ethik des wißbaren (daher in die ... Verantwortung einbezogenen) Überschusses der Macht über das Wissen" (1979:216). Was bedeutet das? Mit dem Ausdruck „Macht" ist, wie erläutert, die kausale Reichweite des Handelns gemeint. Unser Wissen fällt dahinter zurück, und zwar in weiten Bereichen unvermeidlicherweise. Insoweit kann die Kluft zwischen vorausgesehenen und verursachten Folgen auch durch die Pflicht zum Wissenserwerb nicht geschlossen werden. Aber eben dies - nämlich daß diese Kluft besteht, daß also unser Handeln unvorhersehbare Folgen haben wird - das können wir wissen, und (so folgert Jonas) „daher" seien auch diese Folgen in unsere Verantwortung einbezogen.
6 So bereits Aristoteles am Beispiel dessen, der seine kognitiven Fähigkeiten durch Trunkenheit einschränkt: Eth. Nie. 1113 b 30.
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Was ist dazu zu sagen? Die generelle Hineinnahme unvorhersehbarer Handlungsfolgen in unseren Verantwortungsbereich scheint mir absurd. Ganz unbekannte Folgen, also Folgen, bezüglich deren Art und Eintritt nichts vermutet werden konnte, können nicht verantwortet werden. Auch von dieser Sorte von Folgen wissen wir zwar, daß es sie gibt. Wir können sie sogar exemplifizieren, nämlich im historischen Rückblick: Eine ganz unvermutbare Folge seines Handelns war etwa für den Erfinder der Spraydose das, was uns heute als Ozonloch bekannt ist. Gleichwohl gilt uns die Warnung „Man weiß j a gar nicht, was dann alles passieren kann", die Jonas insbesondere der Gentechnologie entgegenhält, nicht generell als beachtenswert, sondern nur in solchen Fällen, wo bezüglich der Möglichkeit negativer Folgen konkrete Vermutungen bestehen. So wird, um zunächst ein unumstrittenes Beispiel zu nehmen, ein Laie sich hüten, im elektronischen Steuerzentrum eines Großbetriebs aus Neugier irgendwelche Knöpfchen und Schalter zu betätigen. Und wenn er es dennoch tut, sind ihm die Folgen zuzurechnen - auch jene Folgen, von denen der Laie nur zu sagen gewußt hätte, daß er bezüglich ihrer genauen Art und ihrer Eintrittsbedingungen Laie sei. Denn immerhin konnte er wissen, daß es sich um Folgen handeln würde, deren Herbeiführung von den Betreibern der Einrichtung zu diesem Zeitpunkt nicht vorgesehen war und die daher vermutlich auch nicht zweckentsprechend sind. Gentechnologen, die in den Evolutionsprozeß eingreifen, befinden sich freilich nicht in analoger Lage: Es fehlt ihnen die Rekursmöglichkeit auf die Zwecke eines Betreibers der Einrichtung, in die sie eingreifen. Und damit fehlt eine analoge Basis für die Annahme, daß die Verhältnisse sich ohne Eingriff „Unbefugter" am zweckentsprechendsten entwickeln. Die Frage, ob hier gleichwohl mehr Gründe für das Unterlassen sprechen als dagegen, muß ich - als Laie in Sachen Gentechnologie - natürlich offen lassen, allerdings mit dem Zusatz, daß sich aus der Argumentation von Jonas, die wir im folgenden weiter prüfen, ebenfalls keine tragfähige Antwort ergibt. Als Fazit des Gesagten ist soweit lediglich festzuhalten, daß Wissenkönnen als Voraussetzung der Zurechenbarkeit von
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Handlungsfolgen bestehen bleiben muß. Daraus folgt nun nicht, daß alle Folgen, die wißbar und mithin (als inkaufgenommene Folgen) handlungstheoretisch zuzurechnen sind, auch moralisch zuzurechnen wären. Die moralische Zurechnung im Sinne des Schuldigwerdens setzt neben der Wißbarkeit der Folgen zum Zeitpunkt der Handlung das Bestehen einer moralischen Pflicht voraus, nämlich des Inhalts, daß die Handlung unter solchen Umständen zu unterlassen sei. Auf das Unterlassen will Jonas im Blick auf die modernen Technologien bekanntlich hinaus. Die übliche Basis für Pflichten dieser Art ist der Vergleich von Handlungsfolgen und Unterlassungsfolgen samt ihren respektiven Wahrscheinlichkeiten. Auf der impliziten Unterstellung, daß im Falle des Laien im Steuerzentrum schädigende Unterlassungsfolgen - von der unzureichend befriedigten Neugier abgesehen - nicht zu befürchten waren, beruhte es auch, daß wir den Übergang von der bloß handlungstheoretischen zur moralischen Zurechnung dort nicht eigens reflektiert hatten. Bei entsprechender Modifikation des Beispiels springt sofort ins Auge, daß es sich um zwei Zurechnungsschritte handelt: Sobald wir annehmen, daß der Laie die Knöpfe nicht aus Neugier manipuliert, sondern weil er einen Brand entdeckt hat und nun auf der Suche nach dem wahrscheinlichsten Mittel der Schadensbegrenzung es mit dem Schalter „Not-Aus" versucht, sieht die moralische Beurteilung unabhängig von den tatsächlichen Folgen der Schalterbetätigung anders aus. Auf beide hier neben den Handlungsfolgen zusätzlich in den Blick genommenen Beurteilungskriterien - die Unterlassungsfolgen und die Wahrscheinlichkeiten - läßt sich Jonas argumentativ nicht systematisch ein. Es lohnt sich, seine diesbezügliche Gedankenführung kurz zu verfolgen. Der Vergleich von Handlungs- und Unterlassungsfolgen taucht, soweit das Thema überhaupt behandelt wird, in einer verzerrenden Diktion auf, nämlich in der Form der Gegenüberstellung von erwünschten und unerwünschten Folgen des Tuns - „Heil" und „Unheil" in Jonas' Sprache. Da figurieren die Unterlassungsfolgen dann nicht unter dem Namen des Unheils, sondern unter dem Namen
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des Verzichts auf Heil - des Wunschverzichts. 7 Das paßt, wenn es einem zwar mit der Wunscherfüllung besser, aber ohne die Wunscherfüllung auch schon gut geht. Es paßt nicht für Situationen, die auch ohne Eingriff dynamisch sind, sodaß man gegebenenfalls Unheil handelnd verhüten muß. Daß die Situationen, in denen wir moderne Technologien nutzen, hier und da von dieser Art sein könnten, wird denn auch von Jonas argumentativ nicht berücksichtigt. 8 Als Basis für die gewünschten Unterlassungspflichten dient ihm stattdessen ein ethischer Grundsatz, der nicht auf der Basis des genannten vergleichenden Wissens, sondern ausdrücklich auf der Basis eines diesbezüglichen Unwissens ruht. Es handelt sich um den sogenannten Grundsatz des Vorrangs der schlechten vor der guten Prognose. Er wird folgendermaßen eingeführt: „Eben diese Ungewißheit (gemeint ist die Ungewißheit unserer Zukunftsprojektionen bezüglich der Folgen des Handelns, W.L.) ... muß selber in die ethische Theorie einbezogen und in ihr zum Anlaß eines neuen Grundsatzes genommen werden, der nun seinerseits als praktische Vorschrift wirksam werden kann. Es ist die Vorschrift, primitiv gesagt, daß der Unheilsprophezeiung mehr Gehör zu geben ist als der Heilsprophezeiung" (1979: 70). 9 Wie ist das möglich, daß die Ungewißheit unseres Wissens als Anlaß verantwortungsethischer Grundsätze auftritt? Meines Erachtens ist das nicht möglich. Der Versuch, es so darzustellen, 7 Vgl. Jonas (1979), 71: Verzicht auf „eschatologische Erfüllungen" als U n terlassungsfolge; und (1979), 79: Verzicht auf „Meliorisraus in den Außenbezirken" . 8 Die mangelnde argumentative Berücksichtigung der Unterlassungsfolgen ist in den technikethischen Debatten generell verbreitet. Das hängt sicher auch mit der empirischen Unbestimmtheit des Unterlassungsbegriffs und den daraus resultierenden Schwierigkeiten einer nichtwillkürlichen Konstruktion von durch Unterlassen ingang gesetzten Kausalketten zusammen. Die Frage der moraltheoretischen Konsequenzen dieser (zum Teil prinzipiellen, weil gegenstandsbedingten) methodischen Schwierigkeiten sind m.E. dringend weiter klärungsbedürftig. 9 Siehe auch Jonas (1983), 22: „in dubio pro malo - wenn du im Zweifel bist, gib der schlimmeren Prognose vor der besseren Gehör" als „Faustregel für die Behandlung der Ungewißheit".
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gleicht der Unterstellung, die ethische Pflichtenlehre könne sich am eigenen Schöpf aus dem Sumpf der Unsicherheit des relevanten Faktenwissens ziehen. Im folgenden Zitat wird das noch deutlicher: „Wir gingen davon aus, daß die Ungewißheit aller Fernprognosen, die im Gleichgewicht ihrer Alternativen die Anwendung der Prinzipien auf die Tatsachensphäre zu lähmen scheint, ihrerseits als Tatsache zu nehmen ist, für deren richtige Behandlung die Ethik ein selber nicht mehr ungewisses Prinzip haben muß" (1979: 76). Im darauf folgenden Satz schränkt Jonas die Gültigkeit seines Grundsatzes auf „Dinge einer gewissen Größenordnung" ein - gemeint ist ganz großes Unheil als antizipierbare Handlungsfolge. Dann aber ruht der Grundsatz offenbar auf der in jedem Einzelfall neu zu prüfenden und zu belegenden Voraussetzung, daß die antizipierbaren Handlungsfolgen unheilvoller (bei geringer Wahrscheinlichkeit: erheblich unheilvoller) sind als die antizipierbaren Unterlassungsfolgen. Also ruht der Grundsatz jedenfalls auf Wissen - und sei es auf einem Wissen, dessen Richtigkeit nicht ganz gewiß ist. Aber dann bleibt auch die Richtigkeit des Grundsatzes ungewiß. 10 Jonas befürchtet, da müßten doch „die schönsten Prinzipien ... müßig bleiben" (1979: 69), wenn wir uns in ihrer Anwendung von unsicheren und daher immer auch bestreitbaren Zukunftsprojektionen abhängig machen wollten: „da kann dann jedesmal Interesse, Neigung oder Meinung ihrem ohnehin begünstigten Projekt unter den möglichen Prognosen die gnädigste aussuchen" (1979: 68). Diese Befürchtung mag wohl richtig sein. Aber Jonas' Versuch, mithilfe seines Prinzips aus der Unsicherheit unseres Wissens sichere Handlungsanweisungen abzuleiten, nämlich Unterlassungspflichten - dieser Versuch ist kein Gegenmittel gegen die befürchtete Parteilichkeit, sondern ein Beispiel dafür.
10 Ein anders begründetes, aber m . E . ebenfalls nicht haltbares neueres Beispiel für den Versuch, die moralische Relevanz des Rekurses auf Wahrscheinlichkeiten einzuschränken, bietet die Argumentation von R o p o h l (1994). D a z u W. L ü b b e (1994).
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Ich fasse zusammen: Kognitive Basis verantwortungsethischer Gebote oder Verbote kann nur das Wissen sein, nicht dessen Unsicherheit. Wo uns das Wissen nicht die Richtung gibt, kann es der Moralphilosoph auch nicht. Denn aus dem Nichtwissen - soweit es in concreto unvermeidlich ist, wie gesagt - folgen moralisch nichts als Erlaubnisse. Zumindest ein Teil der Probleme, die Jonas mit ethischen Mitteln lösen möchte, sind also gar keine ethischen Probleme, sondern kognitive Probleme: Oft wollen wir das Beste und richten das Schlimmste an, nämlich unseres beschränkten Wissens wegen. Den Wechsel von der Zurechnung kraft ethischer Mängel zur Zurechnung kraft kognitiver Mängel vollziehen denn auch alle jene Studien, die nicht unsere moralischen, sondern unsere kognitiven Fähigkeiten für solche erklären, die wegen ihrer (sei es biologischen sei es kulturellen) Prägung durch die Probleme von gestern den Problemen von heute nicht mehr gewachsen seien. Eine nichtbiologistische Variante dieses Zugangs - also eine Variante, die uns mehr zu bieten hat als die Hoffnung künftiger Lebewesen auf unsere rechtzeitige Selektion - vertritt Dietrich Dörner, dessen „Logik des Mißlingens" ich mich jetzt zuwende.
III. Die experimentelle Idee der Untersuchungen, über die Dörner (1989) berichtet, ist folgende: Man läßt eine Reihe von Versuchspersonen am Computer ein Simulationsspiel der erwähnten Art absolvieren - Entwicklungshelfer in Tanaland, Bürgermeister in Lohhausen, Feuerwehrkommandant in den schwedischen Wäldern usw. Bei den Spielen geht es also um den Eingriff in komplexe, partiell intransparente und dynamische Realitätsbereiche, und dabei soll, mit Jonas gesprochen, Heil gebracht und Unheil verhütet werden. Anschließend unterscheidet man die Versuchspersonen nach Erfolg und Mißerfolg und prüft, worin sie sich sonst noch unterscheiden, genauer: man prüft, ob es im protokollierten Denk- und Entscheidungsprozeß Merkmale gibt, die mit Erfolg bzw. Mißerfolg korrelieren. Diese Merk-
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male, so darf man dann vermuten, sind ursächlich für Erfolg und Mißerfolg; es handelt sich hier um die Charakteristika „richtigen", rationalen Denkens und Entscheidens in komplexen Handlungssituationen. In diesem Sinne werden denn auch die erfolgreichen Versuchspersonen im Buch als „gute" und die erfolglosen als „schlechte" Versuchspersonen bezeichnet. Dabei stehen zwar die Epitheta „gut" und „schlecht" durchweg in Anführungszeichen. Aber das soll wohl nur daran erinnern, daß auch die „schlechten" Versuchspersonen in dem Sinne „gut" sind, daß sie die besten Absichten haben. Im Sinne kognitiver Wertmaßstäbe dagegen, so dürfen wir schließen, sind die Erfolgreichen die „Guten" - eben diejenigen, die auch in komplexen Situationen noch rational zu handeln wissen. Machen wir, bevor wir uns die empirisch ermittelte „Mängelliste der schlechten Bürgermeister" von Lohhausen (1989: 45) und anderer Computertäter ansehen, einen Abstecher in die Geschichte der Rationalitätstheorie. 1913 publizierte Max Weber in der Zeitschrift Logos den Aufsatz „Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie" (1988: 427 ff). Darin findet sich eine Unterscheidung, die auf den ersten Blick hervorragend geeignet scheint, dem gerade referierten experimentellen Vorgehen als begriffliche Grundlage zu dienen. Es handelt sich um die Unterscheidung von „subjektiver Zweckrationalität" und „objektiver Richtigkeitsrationalität" (1988: 432 ff). Ist es nicht genau dies: die objektive Richtigkeitsrationalität, die man auf dem beschriebenen Wege zu fassen kriegt? Diejenige Rationalität, die dadurch definiert ist, daß man seine Sache gut macht im Unterschied zur subjektiven Zweckrationalität, die dadurch definiert ist, daß man seine Sache gut zu machen meint? Aber Max Weber hatte etwas anderes im Sinn. Er erläutert, es gehe einerseits - nämlich im Falle der subjektiven Zweckrationalität - um die „Erwartungen, welche subjektiv über das Verhalten der Objekte gehegt wurden". Andererseits - im Falle der Richtigkeitsrationalität - gehe es um die Erwartungen, welche „nach gültigen Erfahrungen gehegt werden durften" (1988: 432). Dem „Richtigkeitstypus" entspreche das Handeln, wenn es „dem (für den Forscher selbst) .Gültigen'" entspreche (1988:
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433). Diese Formulierungen zeigen, daß Weber die „Richtigkeitsrationalität" nicht an das Kriterium des faktischen Erfolgs binden wollte 1 1 , sondern an das Kriterium der Berücksichtigung gültiger Erfahrungsregeln - anstelle ungültiger. Ein Beispiel genügt, um zu sehen, daß das tatsächlich zweierlei ist: Wenn jemand rasch von Konstanz nach Zürich gelangen muß, ist es nicht nur subjektiv zweckrational, sondern auch objektiv richtigkeitsrational, anstelle der Landstraße die Autobahn zu benutzen. N u r bei Übernahme der Weberschen Fassung des Begriffs ändert sich an dieser Beurteilung auch dann nichts, wenn der Reisende auf der Autobahn Opfer eines Geisterfahrers wird und so tatsächlich nicht nach Zürich gelangt. Das Kriterium des faktischen Erfolgs dagegen hätte die Konsequenz, daß der Richtigkeitstypus jeweils nur ex post endgültig bestimmt, das heißt aber: als Typus überhaupt nicht bestimmt werden könnte. Man sieht, worum es hier geht: Weber hat bei der begrifflichen Bestimmung der „Richtigkeitsrationalität" daran festgehalten, daß Rationalität eine Eigenschaft von Handlungsverlaufserwartungen ist - und nicht etwa eine Eigenschaft von Handlungsverlaufen. Die Richtigkeitsrationalität unserer Erwartungen steht und fällt nicht mit dem tatsächlichen Eintreten oder Ausbleiben des Erwarteten, sondern mit der tatsächlichen Erwartbarkeit des Erwarteten. Das „tatsächlich Erwartbare" ist eine epistemische, also von unserem Kenntnisstand abhängige Größe; dennoch ist es nicht einfach identisch mit dem, was aus einem jeweils gegebenen Kenntnisstand folgt. Die Sache verhält sich vielmehr so: Weber bezieht sich bei der Bestimmung des Richtigkeitstypus, wie zitiert, auf den epistemischen Zustand 11 Der vermutlich früheste locus classicus für die Auffassung, daß man das Gelingen nicht zum Kriterium der Handlungsrationalität machen dürfe, findet sich bei H e r o d o t (Historien VII 10). Dort äußert sich ein Ratgeber des Xerxes dem Herrscher gegenüber folgendermaßen: „Wenn auch nachher Widerwärtigkeiten eintreten, war doch der Entschluß nicht weniger gut, er ist nur dem Schicksal erlegen. Dagegen dem, der einen schlechten Entschluß faßt, kann wohl, wenn das Schicksal es so fügt, ein Glücksfall begegnen, aber sein Entschluß war darum nicht weniger schlecht". Für den Hinweis auf diese Stelle danke ich Vittorio Hösle.
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des „Forschers" - aber nicht auf dessen gesamten Kenntnisstand, sondern auf die ihm als gültig bekannten Erfahrungsregeln. An unserem Beispiel: Ex post weiß ja der Forscher, etwa der Historiker, daß Umstände vorlagen, die den Handlungsplan des Autobahnreisenden scheitern lassen mußten. Die Umstände gehören also zum Kenntnisstand des Forschers aber ihre Kenntnis affiziert nicht die Gültigkeit der Erfahrungsregel, an die der Reisende sich gehalten hatte. Es gibt eben Bestimmungsgründe faktischer Verläufe, die uns zwar zur Kenntnis gelangen, die aber nicht zur Bildung oder Umbildung von Erfahrungsregeln berechtigen. Bezüglich solcher Bestimmungsgründe können wir aus der Vergangenheit nichts für die Zukunft lernen, sie bieten keinen Anlaß zur Umstrukturierung von Erwartungen, und wir machen daher auch keinen kognitiven Fehler, wenn wir aus ihrem Eintritt weiter keine Schlüsse ziehen. Die Logiker des 19. Jahrhunderts, an denen Max Weber sich orientierte, nannten solche Bestimmungsgründe „ontologische" im Unterschied zu den „nomologischen" Bestimmungsgründen der Wirklichkeit. 12 Auf die oft sehr schwierige (tatsächlich bereits bei unserem Geisterfahrerbeispiel nicht ganz triviale) Frage, wie dies im Einzelnen abzugrenzen ist, kann ich hier nicht in abstrakter Form eingehen. Am einfachsten ist die Unterscheidung, die die Logiker im Sinn hatten, an den sogenannten Zufallsspielen aufzuzeigen, zum Beispiel am Lotto. Aus dessen Verlauf können wir, wenn die Versuchsanordnung bekannt ist, ja tatsächlich schlechterdings nichts für die Zukunft lernen. Was hier zur Erwartungsbildung berechtigt, also nomologische Aspekte zeigt, ist eben nur die Versuchsanordnung (d.h. die Anzahl der Kugeln in der Urne, die Form der Ziehung usw.), nicht aber der einzelne Verlauf. Wie gesagt, so deutlich ist die Abgrenzung zwischen dem, was zur Erwartungsbildung berechtigt, und dem, was diesbezüglich folgenlos bleibt, sonst nicht, aber die Bedeutung der Unterscheidung geht offensichtlich über die Theorie der Zufallsspiele hinaus. 12 Vgl. Kries (1892), 254 f; siehe auch Kries (1886), 85 f; vgl. Rentsch (1984).
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Was hat das nun mit der „Logik des Mißlingens" zu tun? Der Berührungspunkt steckt in der Frage, wie weit man aus Erfahrungen lernen kann - in diesem Falle aus Erfahrungen im Umgang mit komplexen, intransparenten und dynamischen Systemen. Daß man daraus lernen könne, ist Dörners These, wenn er am Ende seines Buchs das Simulationsspiel als Geburtshelfer unserer bis dato beschränkten Rationalität im Umgang mit solchen Systemen empfiehlt (1989:308). Meine Zusatzthese ist, daß dies nur soweit zutrifft, als sich aus unseren Erfahrungen mit Simulationsspielen verbesserte Erfahrungsregeln für den U m gang mit solchen Systemen gewinnen lassen. Sehen wir uns abschließend einiges aus der Fülle des in der „Logik des Mißlingens" ausgebreiteten Materials daraufhin an, wieweit es der These einerseits und der Zusatzthese andererseits gehorcht. Was kennzeichnet die schlechten Bürgermeister von Lohhausen? Sie stellen zum Beispiel nicht so viele Warum-Fragen wie ihre erfolgreicheren Kollegen, interessieren sich also weniger für das kausale Netzwerk der Situation (1989: 40 f). Außerdem wechseln sie öfter das Thema, lassen also ein Problem rasch fallen, wenn es Schwierigkeiten gibt (1989: 41 ff). Andererseits gibt es auch Probanden, die ihr Thema gar nicht mehr fallen lassen, und das sind besonders schlechte Versuchspersonen: Sie zeigen ein sogenanntes „Verkapselungsverhalten" (1989: 43). Des weiteren zeigen die schlechten Probanden weniger Ansätze zur Selbstkritik (1989: 44), und sie planen ihr Vorgehen nicht so detailliert voraus (1989: 44). Die Liste der Denk- und Verhaltensfehler wird im Fortgang des Buches anhand weiterer Beispiele des Mißlingens laufend ergänzt - wirkliche und simulierte Beispiele, in alltäglichen und außeralltäglichen Situationen, bei Laien und bei professionellen Tätern. Eine Analyse des Tschernobyl-Unfalls (1989: 47 ff) liefert zum Beispiel Belege für die Tendenz zur Unterschätzung exponentieller Verläufe, die auch experimentell bestätigt werden kann (1989: 215 ff). Am Beispiel D D T erfahren wir, daß unter dem Einfluß der sogenannten „Überwertigkeit des aktuellen Motivs" unsere Aufmerksamkeit für Neben- und Spätfolgen zu wünschen übrig läßt (1989: 129, vgl. 85 f). Im Anschluß an die ältere Kriegs-
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Strategieliteratur wird entwickelt, daß die Menschen häufig mit zu weit generalisierten, sogenannten „dekonditionalisierten" Handlungskonzepten arbeiten - d.h. sie stellen die Besonderheiten der Situation nicht hinreichend in Rechnung (1989: 139, 143). Überhaupt tendieren sie zur sogenannten „Strukturfortschreibung", übersehen also im Blick auf die Zukunft die Möglichkeit von „Brüchen" (1989:190)und „Friktionen" (1989: 199). Und wenn das Mißlingen unübersehbar wird, greifen sie, anstatt daraus endlich zu lernen, zur sogenannten „immunisierenden Marginalkonditionalisierung" (1989:273): Sie unterstellen, daß der Handlungsplan schon richtig war und nur wegen der besonderen Umstände hier ausnahmsweise nicht erfolgreich sein konnte. Man sieht: Fehler über Fehler. Was können wir daraus lernen? In Orientierung an der gerade referierten Liste fasse ich wie folgt zusammen: Man muß mit einiger Hartnäckigkeit am Problem bleiben - aber nicht mit zuviel Hartnäckigkeit. Man muß sich über die kausale Struktur informieren, und wenn das zum Beispiel aus Zeitmangel nicht in jeder Hinsicht möglich ist, dann sollte man die aktuelle Hinsicht nicht überbewerten, sich also klarmachen, daß das jeweils nicht Berücksichtigte wichtiger sein könnte. Exponentielle Verläufe muß man korrekt extrapolieren; man darf sich aber der Möglichkeit von Brüchen und Friktionen wegen auf Extrapolationen nicht verlassen. Man soll aus vergangenen Situationen für künftige Situationen lernen, allerdings ohne zu weit zu „dekonditionalisieren" - denn keine Situation ist wie die andere. Als Entschuldigung darf man das freilich nicht benutzen, denn das könnte auf „immunisierende Marginalkonditionalisierung" hinauslaufen, und das ist auch ein Fehler. Die Ironie, die in solchen Regeln steckt 13 , ist dem Autor natürlich nicht entgangen. Im Schlußkapitel treibt er sie zunächst vielmehr selbst auf die Spitze. Die restlos dekonditionalisierte Handlungsmaxime für den Umgang mit komplexen Systemen lautet dort, völlig korrekt, aber ebenso nutzlos: „Es 13 Vgl. die Auflistung Dörner (1989), 305 ff, auch (1989), 298.
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geht darum, die richtigen Dinge im richtigen Moment und in der richtigen Weise zu tun und zu bedenken" (1989: 299). Das taugt natürlich nicht als Schlußwort. Die schließliche Empfehlung lautet denn auch nicht so, sondern, wie erwähnt, konkreter: Wir sollen den Umgang mit komplexen Systemen anhand von Simulationsspielen üben. In der Tat könnte es ja sein, daß sich die gesuchte Handlungsrationalität zwar nicht in Form von abstrakten Regeln, aber doch durch Training erwerben läßt. Für das Schachspielen oder das Tennisspielen gilt das ja auch. Aber ist es wirklich eine allgemeine Fähigkeit zum Umgang mit komplexen, intransparenten und dynamischen Systemen, die wir so erwerben können? Als Beleg für diese These (1989: 300) führt Dörner eine Versuchsperson an, die im Laufe des Computerspiels aus ihren Fehlern lernte: Sie erlernte die Steuerung der Größe einer Schmetterlingspopulation durch Eingriffe in die Populationsgröße der natürlichen Feinde - lernte also insbesondere, die Zeitverzögerung ihrer Maßnahmen und die exponentiellen Konsequenzen der Übersteuerung in Rechnung zu stellen (1989: 231 f). Kein Zweifel: dieses und Ähnliches kann man lernen - und zwar deshalb, weil es erkennbare Regelmäßigkeiten des Zusammenhangs von Eingriff und Zielgröße hier wirklich gibt. Schon deutlich gewagter ist es, die Lernbarkeit des Inrechnungstellens von Brüchen und Friktionen zu unterstellen. Wir alle wissen zwar, daß Extrapolationen heikel sind. Erlernen läßt sich hier aber doch nur etwas, wenn die Unregelmäßigkeiten sich nach einer Regel erwarten lassen - zum Beispiel als saisonale Schwankungen oder als marktsättigungsbedingte Stagnation einer anfangs steilen Absatzkurve. Ähnliches gilt für die Lernbarkeit der erfolgreichen Übertragung des bisher Gelernten auf neue Fälle also für erfolgreiches Dekonditionalisieren und Rekonditionalisieren: Die Kenntnis jeweils neuer Situationsbedingungen kann man nicht lernen, sondern man hat sie oder hat sie nicht. Was man diesbezüglich lernen kann, sind, wiederum, nur Regeln - nämlich Regeln des situativen Erwerbs situativen Wis-
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sens, zum Beispiel medizinische Diagnosetechniken. 14 Nochmals dasselbe gilt schließlich für die Lernbarkeit des richtigen Zeitpunkts für den Abbruch der Informationsbeschaffung und Informationsauswertung: Die Zeit, die wir dem einen Problem widmen, stehlen wir dem anderen, und wo uns keine Erfahrungsregel sagt, was wichtiger ist, da bleibt es eben ungewiß. Eindeutig irrational ist also selbst die unvollständige Beschaffung und Verarbeitung des uns zugänglichen Wissens nur dort, wo es entweder keine Zeitknappheit gibt oder wo erfahrungsgestützte Regeln für den Umgang mit ihr mißachtet wurden. 1 5 Kurz: Wo die Gültigkeit von Erfahrungsregeln ihre Grenzen hat, hat, wie mir scheint, auch die Lernbarkeit des Gelingens ihre Grenzen - aber nicht als Folge begrenzter Rationalität, sondern als Folge der Grenzen des ex ante Wißbaren. Zurechnungstheoretisch gewendet heißt das: Die Grenze der Möglichkeit, aus Erfahrung zu lernen, ist auch eine Grenze der Vorwerfbarkeit des Mißlingens erfahrungsgestützter Handlungspläne. Wer im Rückblick auf die Handlungspläne der Agenten der wissenschaftlich-technischen Zivilisation diese Grenze beachten möchte, braucht ungeheuer breite historische Detailkenntnisse. Aber er wird dann genauer wissen, woran er, sofern er an der Gegenwart verzweifeln möchte, zu verzweifeln hat: wieweit an der Moralität der Menschen, wieweit an ihrer Rationalität, und wieweit überhaupt nicht am Menschen, sondern an der
14 Vgl. Dörners Beispiel des Arztes, der „mit großer Sicherheit eine bestimmte Krankheit diagnostizieren konnte, ohne eigentlich zu wissen (besser: angeben zu können, denn irgendwie wußte er es ja), wie er das machte" (1989: 65). An diesem Beispiel wird deutlich, daß es auf die explizite Formulierbarkeit der lernbaren Regel in der Tat nicht ankommt: implizites Regelwissen ist auch Regelwissen. In dem erwähnten Fall konnte es dann auch in explizites Wissen transformiert werden (ebda.). 15 So mag uns etwa die Erfahrung lehren, daß wir bestimmte Handlungspläne - nämlich solche, die verschiebbar sind und bei denen das Mißlingen besonders gravierend ist - gar nicht erst in Angriff nehmen oder doch abbrechen sollten, wenn wir unter Zeitdruck stehen. Diese Regel (unter anderen) hat, soweit aus Dörners Wiedergabe des Falles ersichtlich, das Team des Tschernobyl-Reaktors mißachtet, vgl. Dörner (1989), 51.
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Wirklichkeit, die eben nicht nur moralisches Handeln, sondern auch rationales Handeln nicht immer belohnt.
Literatur Dörner (1983), Dietrich: Lohhausen. Vom Umgang mit Unbestimmtheit und Komplexität, Bern/Stuttgart/Wien: Hans Huber. Dörner (1987), Dietrich: Problemlosen als Informationsverarbeitung, 3. Aufl., Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz: W. Kohlhammer. Dörner (1989), Dietrich: Die Logik des Millingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Jonas (1979), Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt: Insel Verlag. Jonas (1983), Hans: Auf der Schwelle der Zukunft: Werte von gestern und die Welt von morgen, in: Hans Jonas/Dietmar Mieth: Was für morgen lebenswichtig ist, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 5-32. Jonas (1992), Hans: Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik, in: Hans Jonas: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a.M./Leipzig: Insel Verlag, 128-146. Kries (1886), Johannes von: Die Principien der Wahrscheinlichkeits-Rechnung. Eine logische Untersuchung, Freiburg i.B.: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck). Kries (1892), Johannes von: Ueber Real- und Beziehungs-Urtheile, in: Vierteljahresschriftfür wissenschaftliche Philosophie 16, 253-288. Lübbe (1992), Hermann: Erfahrungsverluste. Lebenvorzüge und Lebensweltferne der Chemie, in: Jürgen Mittelstraß/ Günther Stock (Hrsg.): Chemie und Geisteswissenschaften. Versuch einer Annäherung, Berlin: Akademie Verlag, 201-214. Lübbe (1994), Weyma: Zur moralischen Relevanz der Eintrittswahrscheinlichkeit von Handlungsfolgen, in: Ethik und Sozialwissenschaften, 5 (1994), 164 f. Rentsch (1984), Thomas: Art. Nomologie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 6, Sp. 891 f. Ropohl (1994), Günther: Das Risiko im Prinzip Verantwortung, in: Ethik und Sozialwissenschaften 5 (1994), 109-120. Weber (1988), Max: Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Aufl., Tübingen: Mohr, 427-474 .
4. Kausalität und Zurechnung in sozialhistorischen Prozessen
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Kausalität und nicht-experimentelle Daten: Ein Beispiel aus der empirischen Bildungsforschung
Kausalität als wirklichkeitsbezogener Begriff und Zurechnung als juristische oder ethische Kategorie werden zu einem Problem, wenn sie nicht deckungsgleich sind. D a s kann auf zwei Weisen geschehen: 1. Ein Handlungsergebnis ist kausal verursacht, aber die Zurechnung macht Schwierigkeiten. 2. Ein Handlungsergebnis kann nicht eindeutig als kausal verursacht beschrieben werden, aber es wird trotzdem zugerechnet. Solche Fälle werfen beispielsweise die Fragen auf: Wie ist Verantwortung zuzurechnen, wenn das handelnde Subjekt nur eines unter vielen ist, die zusammen ein bestimmtes Ergebnis hervorgebracht haben? Wie kann zwischen individueller Zurechnung des Handelns und den Folgen vorgegebener, d.h. nicht durch eigenes Handeln verantworteter „Bedingungen" oder „Strukturen" unterschieden werden? Wie gehen wir mit nicht-antizipierten Folgen des Handelns u m ? Was geschieht, wenn zwischen jetziger H a n d l u n g und Folge ein so langer Zeitraum liegt, daß das auslösende Subjekt nicht mehr dasjenige ist, was zur Verantwortung gezogen werden kann? Als Soziologe habe ich diese Fragen zunächst in Handlungskategorien formuliert. D a s könnte dem auf Max Weber zurückgehenden Verständnis von Soziologie als einer Wissenschaft des sozialen Handelns entsprechen. So wird allgemeine soziologische Theorie auch heute noch diskutiert, o b man nun bei Weber oder anderen, zeitgenössischen Theoretikern anknüpft. Geht man jedoch zu speziellen Soziologien und zur empirischen Sozialforschung über, dann ist die Entfernung zu Webers handlungstheoretischer Grundlegung oft ganz erheblich. Entspre-
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chend verändert sich das Zurechnungsproblem. Das hat zwei Gründe:
1. Im Programm der empirischen Sozialforschung - sei sie nun „quantitativ" oder „qualitativ" angelegt - fungieren die befragten oder beobachteten Menschen nicht als „konkrete", einzigartige Individuen, sondern als anonyme Repräsentanten für allgemeinere Sozialkategorien. Dies entspricht dem Selbstverständnis von Soziologie, das - in den Worten Webers - „typische" Handeln in seinen Regelmäßigkeiten und Zusammenhängen zu verstehen (1964: 9; 1973: 427 ff). Auch wenn die heutige empirische Sozialforschung nicht immer typenbildend vorgeht, betrachtet sie die konkreten Menschen als Repräsentanten allgemeinerer Kategorien. Sie versucht Regelmäßigkeiten und Zusammenhänge sozialen Handelns dadurch zu erfassen, daß sie eine Mehrzahl von Fällen untersucht und Vergleiche anstellt. Die Technik und Ethik der Datengewinnung und -Verwendung sind darauf angelegt, die Anonymität der Befragten sicherzustellen. Die Zurechnung von Handlungsergebnissen zu namentlich bekannten Akteuren ist damit praktisch ausgeschlossen und theoretisch auch nicht gewollt. Aus dem Imperativ, konkrete Individuen nur als Verkörperung allgemeiner Kategorien zu betrachten, folgt nicht notwendig, daß es keine Zurechnung mehr gibt - sie könnte sich nur auf andere Ebenen verlagern, z.B. auf „Rollen", „Institutionen" und „Strukturen" sowie auf sie ändernde Eingriffe, d.h. auf „Politik".
2. N u r ein verhältnismäßig kleiner Teil der empirischen Sozialforschung befaßt sich von den verwendeten Methoden her unmittelbar mit sozialem Handeln - das gilt vor allem für die teilnehmende Beobachtung, für Laborexperimente und für Methoden, mit denen eine bestimmte Form von Handeln direkt reproduziert werden kann - also z.B. das Sprachhandeln einer diskutierenden Gruppe, das auf Tonband aufgenommen und analysiert wird. Ein großer Teil der empirischen Sozialforschung -
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nämlich der auf Umfragen (Surveys1) beruhende Teil - bildet dagegen nicht direkt soziales Handeln ab, sondern Beziehungen zwischen Merkmalen von vielen Handelnden. Diese Merkmale mögen sich auf einzelne Elemente des Handelns als Prozeß beziehen, also z.B. auf Motive, auf Personen- und Situationswahrnehmungen, auf Werte, auf die Aktivitäten selbst. Aber einerseits ist es bei diesem Typ empirischer Forschung sehr schwer, den Prozeßcharakter und die angedeutete Komplexität sozialen Handelns so zu erfassen, wie es teilnehmende Beobachtung könnte. Andererseits werden häufig auch Merkmale erhoben, in denen ganze Handlungsvollzüge gewissermaßen summiert erscheinen. Das gilt z.B. für Zugehörigkeiten von Individuen (zu einer sozialen Gruppe) oder für Ergebnisse, die am Ende langer Handlungsketten stehen (z.B. in der empirischen Bildungsforschung: Bildungsabschlüsse). Diese Forschung arbeitet mit größeren, wenn möglich: Zufalls- Stichproben aus der Bevölkerung; sie verwendet häufig Fragebögen mit meist geschlossenen Fragen, benutzt Skalen und unterzieht die massenhaft gesammelten Daten einer statistischen Analyse, die mehr oder weniger enge Beziehungen zwischen Merkmalen aufdeckt. In ihrer anspruchsvollsten Variante dient sie dem Ziel, aus nicht-experimentell gewonnenen Daten gleichwohl Aussagen über das Geflecht und die Einflußstärke von Faktoren eines bestimmten sozialen Geschehens zu gewinnen.2
1 Catherine Marsh definiert einen Survey recht flexibel als Untersuchung, die drei Elemente aufweist: 1. Systematische Messungen über eine Vielzahl von Fällen, die eine Datenmatrix ergeben. 2. Analyse der Variablen in der Matrix im Hinblick auf „Muster". 3. „Der Gegenstand der Untersuchung ist sozial" (1982: 6). Entscheidend ist nicht die Erhebungseinheit (Individuum, Medium wie z.B. eine Zeitung, Gruppe, Organisation) und nicht die Erhebungsmethode (Beobachtung, schriftliche Befragung, Tiefeninterview), sondern die Systematik der Datensammlung in mehreren Fällen. 2 Die hier betonten beiden Merkmale der empirischen Sozialforschung Abstrahierung von „konkreten" Individuen und Handlungen sowie Wahrscheinlichkeitscharakter der Aussagen - haben formal Ähnlichkeiten mit
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Für diesen Typ empirischer Sozialforschung gilt pointiert gesagt das Paradox: je mehr man sich methodisch bemüht, kausale Beziehungen zwischen Merkmalen von Handelnden zu ermitteln, desto mehr kann man gezwungen sein, auf Kategorien des sozialen Handels zu verzichten. Dies aber heißt, daß eine U m setzung der Kausalanalyse in Handlungsempfehlungen problematisch wird und damit eine Voraussetzung für die Zurechnung unter Kriterien juristischer oder politischer Verantwortung entfällt. Dies an einem Beispiel zu zeigen, soll Ziel der folgenden Ausführungen sein. Das Beispiel stammt aus der empirischen Bildungsforschung. Zu seinem besseren Verständnis soll zunächst der historische Hintergrund dieser Art empirischer Forschung skizziert werden.
I. Entwicklungsstufen der empirisch-statistischen Bildungsforschung In der schulpolitischen Diskussion vor 25 bis 30 Jahren spielte maßgeblich durch Peiserts und Dahrendorfs Konstanzer bzw. Tübinger Forschungen angeregt - das Ziel einer größeren Bildungschancengleichheit eine zentrale Rolle. Der noch jungen Bildungsforschung wurde die Aufgabe zugewiesen, die familialen und schulischen Determinanten des Bildungserfolgs genauer den Veränderungen im juristischen Zurechnungsbegriff, die L. Schulz, W. Köck und G. Teubner in ihren Beiträgen zu diesem Band nachgezeichnet haben. Angesichts des Übergangs zur hoch interaktiven „Risikogesellschaft" konstatieren sie im juristischen Zurechnungsbegriff eine stärkere Betonung kollektiver oder systemischer Akteure bzw. Verantwortlichkeiten und eine „Aufweichung" des herkömmlichen Kausalitätsbegriffs („conditio sine qua non") zugunsten probabilistischer, multipler Ereignis- oder Systembeziehungen. Aber diese Betrachtungsweise bezieht sich immer noch auf einzelne historische Kollektive oder Systeme, seien sie nun Firmen oder komplexe Verknüpfungen von privaten und staatlichen Unternehmen. Im Programm der empirischen Sozialforschung bzw. einer „allgemeine Regeln" suchenden Soziologie dagegen wären diese, die Juristen interessierenden historischen Kollektive Einzelfälle für die Typenbildung oder Verallgemeinerung.
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zu bestimmen und Empfehlungen zu erarbeiten, wie durch ökonomische, institutionelle, organisatorische und inhaltliche Änderungen des westdeutschen Schulwesens vorhandene Bildungsbenachteiligungen abgebaut werden könnten. Die angestrebte Angleichung der Bildungschancen war ein Ziel an sich; zugleich wurde es auch als Mittel für weitere Ziele in Anspruch genommen. Da man wußte, wie sehr der Berufseinstieg von Ausbildungsvorleistungen abhängt, war es naheliegend, von einer Egalisierung von Bildungschancen auch die Egalisierung der Berufs- und Einkommenschancen zu erwarten. All dies waren Forderungen und Vorstellungen, die kausale Beziehungen unterstellten. Die „abhängigen Variablen" waren Ausbildungsergebnisse oder erreichte Berufe bzw. Einkommen. Sie unterlagen einer Vielzahl von Einflüssen, die es zu entwirren und in ihrer Wirkung abzuschätzen galt. Dazu gibt es im Prinzip zwei Methoden: die des kontrollierten sozialen Experiments und die einer statistischen ex-post-facto-Analyse. Beide Wege sind in der Bildungsforschung beschritten worden. Die folgende Erörterung beschränkt sich auf den zweiten Weg - die empirisch-statistische ex-post-facto-Analyse. Sie hat in der Bundesrepublik drei Entwicklungsstufen durchlaufen, denen ein zunehmend komplexes Verständnis entsprach: a) Die erste Stufe wird durch deskriptive Untersuchungen eines demographischen Typs gebildet.3 Es wurde zunächst einmal festgestellt, daß es ein Problem der ungleichen Verteilung der Bildungschancen verschiedener sozialer Gruppen gibt. Man könnte sagen: auf dieser Stufe wird eine empirische Regelmäßigkeit entdeckt oder wiederentdeckt: z.B. daß in allen Ländern eines bestimmten Entwicklungstyps Mädchen im Vergleich zu Jungen oder Kinder aus Unterschichtfamilien im Vergleich zu Kindern aus Familien höherer Schichtzugehörigkeit in höheren Bildungsinstitutionen unterrepräsentiert sind.
3 Vgl. auch entsprechend H. Fend, der von „massenstatistischen Nutzungsanalysen" spricht (1990: 696).
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b) Auf der zweiten Stufe wird nach Erklärungen der empirischen Regelmäßigkeit gesucht. Aus der Fülle möglicher Erklärungsfaktoren für ein Phänomen - z.B. die unterschiedliche Bildungsbeteiligung von Kindern unterschiedlicher Schichtzugehörigkeit - werden intuitiv bestimmte Erklärungstatbestände vorab als „zentral wichtig" eingekreist und dann empirisch in eine Kovariation mit dem zu erklärenden Sachverhalt gebracht. Man könnte dieses Muster - nicht ganz exakt - „bivariate" Erklärung nennen. Damit soll nur zum Ausdruck gebracht werden, daß eine Faktorengruppe als besonders wirksam oder einschlägig für die zu erklärende Erscheinung angesehen wird. In dieser Phase der Entwicklung der Bildungsforschung werden unverbundene „bivariate" Forschungsprogramme verfolgt: die eine Forschungsgruppe untersucht die besondere Rolle des Lehrerurteils für die Schulzuweisung der Kinder; eine andere untersucht, inwieweit bildungsrelevante Werte von der sozialen Herkunft der Eltern abhängen. Eine dritte prüft die Wirkung einer schulorganisatorischen Veränderung usw. Eine Integration dieser in sich plausiblen, zahlreichen „bivariaten Forschungsprogramme" findet nicht statt. So ist eine Frage auf dieser Stufe nicht zu klären: wie sieht der Zusammenhang zwischen zwei Bedingungskomplexen unter Berücksichtigung eines dritten aus? c) Das gelingt erst auf der dritten Stufe, die man die multivariate Untersuchungsstrategie nennen kann. Auch dies ist eher metaphorisch gemeint, denn auch auf der 2. Stufe werden bereits multivariate Ansätze in dem engeren statistischen Sinn verfolgt, daß mehr als zwei Variablen zugleich untersucht werden. Für die „multivariate Untersuchungsstrategie" ist kennzeichnend, daß sie in unterschiedlichen Ebenen denken kann (z.B. einer Mikroebene, einer „Mesoebene" oder einer Makroebene von Einflußfaktoren). Sie kann auch systematisch unterschiedliche gesellschaftliche Funktionsbereiche zusammensehen, z.B. soziale Schichtung, Familie, Bildungs- und Beschäftigungssystem. Welche Ebenen oder Funktionsbereiche auch verknüpft werden - in jedem Fall wird versucht, eine „abhängige Variable" aus dem Zusammenwirken verschiedener unabhängiger und ver-
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mittelnder Variablen zu erklären. Die Ausprägung der Variablen wird bei den befragten Personen gemessen; die Variablen werden auf der Grundlage von iWo¿e//Vorstellungen in eine bestimmte Anordnung gebracht; es werden Annahmen über die Art der Verknüpfung getroffen - zum Beispiel, daß es sich um einen linearen Zusammenhang handelt. Dann wird geprüft, ob das Modell die gefundenen empirischen Verknüpfungen zwischen den Variablen - das ist die Matrix der Korrelationen möglichst gut reproduzieren kann. Ein einfaches Grundmodell für die Wahl einer weiterführenden Schule könnte so aussehen: .967 / P-S-B (IQ)
.818 Pfadmodell für den Zusammenhang zwischen Klassenlage, Durchschnittsnote, gemessener Intelligenz und Ubergangsentscheidung (nach Meulemann 1985: 94)
Dabei bedeutet „Klasse" die Zugehörigkeit der Eltern zu verschiedenen, vertikal gestuften Klassenlagen, die auf der Grundlage von Berufsangaben gebildet wurden. „P-S-B (IQ)" ist ein Maß für kognitive Fähigkeiten der Schüler, das mittels eines Intelligenztests erhoben wurde. „D-Note" bezeichnet ein Durchschnittsmaß für Schulnoten in ausgewählten Fächern der
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Grundschule. „Über" ist ein Maß für die Schullaufbahnentscheidung der Eltern nach Abschluß der Grundschule. Die „von außen" kommenden Pfeile (mit den hohen Koeffizienten) drücken aus, welche Wirkung nicht im Modell berücksichtigte Variablen ausüben. Die übrigen Koeffizienten stellen den Einfluß einer Variablen, unabhängig vom Effekt der andern Variablen, dar. Z.B. hängt die Übergangsentscheidung der Eltern am stärksten (0.528) von der Durchschnitts-Note ihres Kindes ab. Es gibt aber auch einen „direkten", durch keine Variable vermittelten Effekt des Sozialstatus („Klasse") in Höhe von 0.130. Darüber hinaus kann die soziale Herkunft „indirekt" über die Durchschnittsnote und das Intelligenz-Maß wirken. In einem solchen Modell ist es wichtig, daß die Variablen in eine zeitliche Reihenfolge gebracht werden können. Nur dann lassen sich direkte und indirekte Effekte unterscheiden. Das ist bei zeitlich weit auseinanderliegenden Daten zur Bildungs- und Berufsbiographie leichter möglich als bei Wechselwirkungen zwischen zeitlich „nahen" Variablen. Eine weitere Voraussetzung für den Vergleich der ja gänzlich verschiedene Metriken aufweisenden Variablen untereinander ist ihre Standardisierung. Mit diesem Schritt, der unter dem Gesichtspunkt der Zusammenhangs- bzw. Kausalanalyse notwendig ist, entfernt sich die Modellbildung von den Kategorien, in denen die Handelnden (also z.B. hier: die Eltern) ihren eigenen Sozialstatus, die Intelligenz bzw. die Schulleistung ihres Kindes und die Wahl der weiterführenden Schule wahrnehmen. Die Vertreter dieses Typs von multivariater empirischer Sozialforschung sind sich darüber im klaren, daß ein bloßes Rechenwerk von Gleichungen und empirisch-statistisch bestimmten Koeffizienten, die für die unterschiedliche Einflußstärke von Variablen stehen, keine vollständige sozialwissenschaftliche Erklärung sein kann. Sie übernehmen explizit oder implizit die von M. Weber erhobene Forderung, eine sozialwissenschaftliche Erklärung konkreten wie auch „typischen" Handelns müsse „kausaladäquat" und „sinnhaft adäquat" sein. Die Kausaladäquanz wird in diesem Fall gewissermaßen dadurch abgegolten, daß die Auswahl und Anordnung der Variablen
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sowie die H ö h e der Koeffizienten die abhängige Variable statistisch möglichst weitgehend „erklären" können. Aber warum dies so ist, erschließt sich erst durch zusätzliche Überlegungen, die die Sinnhaftigkeit bzw. Nachvollziehbarkeit der quantitativen Beziehungen plausibel machen sollen. 4 Dies soll nun an einer Untersuchung Meulemanns gezeigt werden, die als ein typisches Beispiel für eine multivariate Analyse innerhalb der Bildungsforschung gelten kann.
II. Ein Erklärungsmodell für Bildungswahlen Meulemanns Untersuchung „Bildung und Lebensplanung" hat - wie viele andere empirische Untersuchungen - eine „Programmatik" . Eine Programmatik ist eine begründete Absichtserklärung; sie ist keine kausale Erklärung, aber sie bereitet gewissermaßen das Terrain vor, auf dem Erklärungen zu suchen sind. Insofern stellt eine Programmatik eine Vorauswahl möglicher Erklärungen dar. Meulemanns Programmatik kann so umrissen werden: Untersuchungen zur Benachteiligung im Bildungssystem, die den weiter oben skizzierten Stufen 1 und 2 folgen, tun so oder werden so interpretiert, als ob es einen sozialen Determinismus" gäbe. Wenn sich schichtspezifische Beteiligungsquoten im Bildungssystem zeigen, wird so getan, als ob die Sozialisation in der Familie im Verein mit den schulischen Barrieren das schulische Schicksal weitgehend festlegten. Die schulischen Bedingungen werden darüber hinaus voreilig als Benachteiligungen gewertet, die politischen Handlungsbedarf erzeugen. Dagegen steht der alltäglich bekannte Sachverhalt, daß Eltern für ihre Kinder Zukunftspläne - also auch Bildungspläne hegen und daß sie diese zu realisieren trachten: „Die Lebensplanung ergibt sich aus der individuellen Perspektive auf einen typischen Lebenslauf. Sie beruht auf freien Wahlen, aber sie begründet verbindliche 4 Vgl. C. Marsh (1982), die der Angemessenheit eines Modells auf der Ebene der Ursache und des Sinns (meaning) jeweils eigene Kapitel widmet.
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Zugehörigkeiten. Sie ist im Prinzip reflexiv. Sie liegt daher auf einer anderen Ebene als Sachverhalte, die für das Individuum vorgegeben sind, ohne daß es je eine Wahl hatte - seien es nun sozial-kategoriale Zugehörigkeiten wie .Schicht' oder Merkmale der physischen und psychischen Individualität wie Geschlecht, Intelligenz oder Leistungskraft. Der reflexive Charakter der Lebensplanung bringt grundsätzlich ein Stück individueller Wahlfreiheit ins Spiel und schließt eine deterministische Betrachtung aus" (1985: 276).
Es kommt bei einer Analyse der Gründe für den unterschiedlichen Bildungserfolg und einer anschließenden Wertung als gerechte oder ungerechte Verhältnisse also darauf an, den jeweiligen Einfluß von vorgegebenen sozial-kategorialen Zugehörigkeiten, erworbener Leistungsfähigkeit und von Bildungsplänen zu erfassen. Integriert werden diese unterschiedlichen Elemente einer Handlungssituation durch das, was Meulemann „Theorie des Entscheidungsfeldes" nennt. Diese stützt er durch ein weiteres programmatisches Element - den Widerwillen gegenüber solchen Erklärungen, die Bildungsentscheidungen und -Verläufe aus „psychologischen Dispositionen" wie „Bildungsfreudigkeit", „Planungshorizont" u.a.m. verständlich machen wollen (1985: 55). Die Verbindung zwischen makrosozialer Struktur und individuellen Entscheidungen der Lebensplanung soll nicht durch die Einführung einer „Kette von Schritt für Schritt stärker,psychischen' Vermittlungsvariablen" hergestellt werden, „sondern durch die theoretische Explikation der für die Handelnden gegebenen sozialen Strukturtatbestände selber" (1985: 218). So ist die Theorie des Entscheidungsfeldes programmatisch nach zwei Seiten abgegrenzt: gegen einen „sozialen Determinismus" und einen „psychologischen Voluntarismus". Was besagt diese Theorie? Wie der Begriff andeutet, handelt es sich um die Spielart einer rationalen, an Kosten und Nutzen von Entscheidungen orientierten Handlungstheorie, die für einen besonderen Lebensbereich - Bildungsentscheidungen - konkretisiert wird. Zwar sind Bildungsentscheidungen nicht den ökonomischen Kalkülen am Markt oder bei strategischen Spielen gleichzusetzen - sie sind unbewußter, mehr im Alltagshandeln verankert und längerfristig orientiert. Trotzdem teilen Bildungsentscheidungen mit
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strikt zweckrationalen Entscheidungen Gemeinsamkeiten. Es ist auch keineswegs so, daß Eltern die Bildungslaufbahn ihrer Kinder allein nach zweckrationalen Maximen von Kosten und Nutzen kalkulieren. Vielmehr spielt die affektive Zuwendung zu den Kindern und die Verankerung in der Familientradition ebenfalls eine Rolle in Meulemanns Erklärung. Die folgende Darstellung beschränkt sich indes auf diesen zweckrationalen Teil, um die Logik der Argumentation sichtbar zu machen. Die soziale Position, die Eltern innehaben - so postuliert Meulemann - , ist mit Lebenschancen und Verpflichtungen verbunden. Die Lebenschancen bestimmen die materiellen und immateriellen Opfer bzw. Kosten für die Ausbildung der Kinder. Die Verpflichtungen bestimmen den Nutzen (1985: 61). Hier lautet Meulemanns sehr enge Prämsisse: Die Verpflichtung besteht darin, daß die Kinder in Zukunft mindestens eine ähnliche soziale Position einnehmen wie die Eltern, und der Nutzen liegt im Erhalt des Familienstatus über die Generationen hinweg. Die Kosten-Nutzen-Kalkulation ist nun nicht unabhängig von der Höhe der eingenommen sozialen Position: Je höher die soziale Position der Eltern, um so geringer der Aufwand und um so größer der Nutzen einer weiterführenden Schulbildung des Kindes. Bei gleichem Leistungsstand des Kindes in einer gegebenen Schulstufe ist es für Eltern höherer sozialer Positionen leichter, weitere schulische Ziele zu erreichen, als für Eltern niedriger Positionen (1985: 54). Die „Theorie des Entscheidungfeldes" wird auf zweifache Weise auf die empirischen Befunde angewandt: in Meulemanns eigenen Worten fungiert sie einmal als „Erklärungsmuster" und dann als „statistische Erklärung' (1985:128 f). Ein „Erklärungsmuster" bewährt sich, wenn man aus ihm möglichst unterschiedliche und empirisch bestätigte bivariate Zusammenhänge ableiten kann. Bei Meulemann ist dies z.B. der Tatbestand, daß die Wahl einer weiterführenden Bildungsinstitution sowohl am Ende der Grundschule als auch am Ende der Sekundarstufe I des Gymnasiums mit der Schichtzugehörigkeit der Eltern positiv korreliert. Das ist für die sozial nicht-selektive Grundschule naheliegend, dagegen für die sozial selektivere Sekundarstufe
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I zunächst nicht verständlich. Erst die „Theorie des Entscheidungsfeldes" macht ein solches Ergebnis plausibel. In diesem Sinn hält Meulemann sie als „Erklärungsmuster" für relativ erfolgreich. Daß sie es ist, scheint auch damit zusammenzuhängen, daß sie so allgemein formuliert ist, daß sie kaum widerlegt werden kann. 5 Eine „statistische Erklärung bewährt sich demgegenüber, wenn ein bivariater Zusammenhang durch Einführung einer oder mehrerer Drittvariablen anulliert wird. Dann erklärt die Drittvariable den Ausgangszusammenhang. In dieser Verwendung hält Meulemann die „Theorie des Entscheidungsfeldes" für weniger erfolgreich. Die Korrelation, um die es Meulemann bei dieser selbstkritischen Einschätzung geht, ist die zwischen sozialer Position der Eltern und Wahl einer weiterführenden Schule. Wenn es ihm gelingt, diesen in jeder Schulstufe zu findenden empirischen Zusammenhang dadurch zum Verschwinden zu bringen, daß er Variablen für den elterlichen Entscheidungskalkül von Kosten und Nutzen einfügt, dann hat er dargelegt, worum es ihm 5 Dazu gehört auch, daß die Theorie des Entscheidungsfeldes widersprüchliche Aussagen enthält. Einerseits meint Meulemann: je höher die soziale Position der Eltern, desto geringer die (relativen) Kosten für die weiterführende Bildung der Kinder (1985: 54). Auf der andern Seite postuliert er (1985: 62): ,Je höher also die soziale Position der Eltern, desto größer der geleistete Aufwand und desto größer der erwartete Nutzen einer weiterführenden Schulbildung. Je größer nun aber der Aufwand und je höher der Nutzen einer weiterführenden Schullaufbahn, desto höher die schulischen Aspirationen und desto anspruchsvoller die schulischen Entscheidungen der Eltern." Der Widerspruch ließe sich beheben, wenn zwischen relativen und absoluten Kosten unterschieden würde. Im zweiten Zitat wäre dann gemeint: je höher die Position, desto höhere absolute Ausbildungskosten können Eltern sich leisten, auch wenn der relative Kostenanteil in einer Art „Engel'schem Bildungsgesetz" sinkt. - Problematisch bleibt aber auch die These der Abhängigkeit der Nutzenüberlegungen von den Kosten. Wie dies mit dem Interesse an Statuserhaltung vereinbar sein soll, ist fraglich. - Darüber hinaus schließt Meulemann Überlegungen zu historischen Veränderungen von Bildungsniveaus aus: es kann erforderlich sein, zum bloßen Erhalt eines Sozialstatus über die Generationen hinweg höhere Bildungsabschlüsse für die Kinder anzustreben.
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programmatisch ging: daß die Lebensplanung, die Eltern für ihre Kinder vorsehen, die Wahl der Schullaufbahn maßgeblich bestimmt - unabhängig vom „objektiven" Einfluß der sozialen Position der Eltern und auch unabhängig von schulischen Leistungen der Kinder. Aber eben dieser Nachweis gelingt Meulemann nur unvollkommen - auch nach Einfügen von Indikatoren für die Kosten-Nutzen-Kalkulation der Eltern bleibt ein nennenswerter Einfluß der sozialen Position auf die Schulwahl erhalten. Deshalb spricht er davon, daß sich die Theorie des Entscheidungsfeldes als „statistische Erklärung" weniger gut bewährt habe. Der Begriff der statistischen Erklärung ist an dieser Stelle unglücklich gewählt. Er spielt auf die Frage an, ob es induktivstatistische Erklärungen (oder Gesetze) im Unterschied zu deduktiv-nomologischen gibt (vgl. Schnell u.a. 1989: 51 ff; Mackie 1980: 231 ff). In dem Beispiel geht es aber um etwas anderes: um ein in der explorativen statistischen Analyse gängiges Verfahren, bei dem ein Korrelationszusammenhang dadurch aufgeschlüsselt oder gar als sog. Scheinkorrelation zum Verschwinden gebracht wird, daß vorgeschaltete Variablen eingefügt werden. Auf ein Problem dieses Verfahrens soll näher eingegangen werden, weil es die Schwierigkeit einer sinnverstehenden quantitativen Variablenanalyse illustriert.
III. Das Indikatorenproblem Wenn man näher betrachtet, wie in dem geschilderten Beispiel „Kosten" und „Nutzen" von Bildungsentscheidungen als „Drittvariable" gemessen werden, dann stößt man auf ein allgemeineres Problem dieses Untersuchungstyps, das die eindeutige Interpretation von Variablenbeziehungen belastet.- Im Idealfall würde man von einer Erklärung verlangen, daß es für Schlüsselbegriffe der Theorie vorab eindeutige Operationalisierungen gibt, die explizit in das Erhebungsinstrument aufgenommen werden. Die Interpretation der empirischen Ergebnisse müßte dann „in umgekehrter Richtung" relativ eindeutig auf die Theo-
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rie bezogen werden können. In beiden Richtungen - Operationalisierung von Begriffen und Interpretation von empirischen Ergebnissen im Lichte der Theorie - finden sich indes Beispiele dafür, daß der Idealfall nicht erreicht wird. Es ist möglich, daß die Operationalisierung eines Schlüsselbegriffs unbefriedigend bleibt, weil er zu vage ist. So hat Meulemann im genannten Beispiel Schwierigkeiten, den Nutzen von Bildungswahlen für die Eltern zu operationalisieren. Er hält diesen Nutzen für diffus in der Familientradition und im soziokulturellen Milieu verankert (1985: 116) und damit kaum bewußtseinsfähig. Infolgedessen fragt er die Eltern nicht direkt danach, sondern verwendet einen indirekten Indikator die Selbstverständlichkeit, mit der Eltern für ihre Kinder einen höheren Abschluß anstreben (1985: 112). Um einen Indikator als sinnhaft zu rechtfertigen, entwickelt er also ad hoc eine kleine Zusatztheorie, die er selbst nicht prüft. In umgekehrter Richtung - der sinnhaften Interpretation von empirischen Ergebnissen im Lichte von Theorie - können die gemessenen Variablen „Indikatoren" für verschiedene soziale Sachverhalte sein. Man merkt das häufig daran, daß an empirisch-statistische Befunde allgemeine Erklärungen angelagert werden. Die Eindeutigkeit der Interpretation wird dann durch Ausschluß von anderen Lesarten eher forciert als begründet. Auch hierfür ein Beispiel: Meulemann hielt seine „statistische" Erklärung der Schulwahl für nicht ganz erfolgreich, weil die von ihm eingeführte Drittvariable der Kosten-NutzenKalkulation der Eltern den Einfluß der sozialen Herkunft auf die Schulwahl nicht zum Verschwinden bringt. Er gibt diesem Befund eine neue, positive Interpretation, indem er die Kosten-Nutzen-Erwägung der Eltern als Ausdruck der „Handlungsperspektive" , den Einfluß der sozialen Herkunft dagegen als Einfluß von „Sozialsystemen", genauer von „Sozialbarrieren" sieht, die im Bildungssystem zuungunsten von Kindern aus niedrigeren Schichten wirken (1985: 129 f). Damit lagert er seiner „Theorie des Entscheidungsfeldes" ziemlich unvermittelt eine Grundsatzdebatte der Sozialwissenschaften über
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„Handlungs- versus Systemperspektive" an. Er hat aber - wie er selbst einräumt - den Einfluß derartiger Sozialbarrieren nicht unabhängig gemessen. Er erschließt ihn indirekt aus der begrenzten Erklärungskraft des elterlichen Entscheidungsfeldes für die Schulwahl der Kinder. Genauso plausibel könnte er argumentieren, daß der stabile Einfluß der sozialen Herkunft auf die Schulwahl - auch nach Einfügen von Variablen für KostenNutzen-Kalküle - Ausdruck einer nicht-rationalen Präferenz höherer Schichten für höhere Bildung ist. Beide Interpretationen schränken den Rationalitätsanspruch der „Theorie des Entscheidungsfeldes" ein. Man könnte die hier geschilderten Mängel ein Stück weit abstellen: Begriffe und Theorie so weit spezifizieren, daß Operationalisierungen eindeutiger werden - Struktureigenschaften und persönliche Merkmale unabhängig voneinander definieren und messen, so daß nicht aus demselben Untersuchungsmaterial wahlweise Deutungen über soziale Systeme oder über individuelle Handlungsperspektiven möglich sind. Trotzdem dürfte auch eine so „gehärtete" multivariate Analyse noch genügend Spielraum dafür aufweisen, gefundene empirische Zusammenhänge unterschiedlich sinnhaft adäquat zu deuten. In der Debatte über quantitative und qualitative Methoden in den Sozialwissenschaften ist das Zerrbild einer exakten, nomothetisch orientierten quantitativen Sozialforschung aufgebaut worden, die der Vagheit und Interpretierbarkeit vieler ihrer Befunde nicht entspricht.
IV. Die Art der Kausalerklärung Die Untersuchung Meulemanns soll für einen bestimmten historischen Zeitraum in einem bestimmten Land klären, von welchen vorangehenden Bedingungen die Wahl und der Besuch einer weiterführenden Schule abhängen. Würden die Mitglieder dieser Population bzw. einer repräsentativen Stichprobe um Erklärungen für die Schulbiographie gebeten, so würden sie historische Erzählungen kombiniert mit Alltagstheorien geben,
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die die jeweils besondere Biographie plausibel machen. In diesen Erzählungen würde ein Fülle von Handelnden, Ereignissen und Zusammenhängen genannt werden. Die empirische Sozialforschung im Beispiel reduziert diese Vielzahl von Handlungen auf einige wenige gemessene Variablen, die in einer repräsentativen Stichprobe erhoben werden. Dadurch wird ein neuer, nämlich gesellschaftlich-durchschnittlicher Sachverhalt geschaffen. Zu erklären ist jetzt, wovon „im Durchschnitt" Bildungswahlen bzw. -laufbahnen abhängen. Das diskutierte Beispiel liefert dafür keine deduktiv-nomologische Erklärung im Sinne Hempels, die die Schulwahl von Eltern und Schülern aus „Gesetzen" und Randbedingungen ableitete. Auch eine „induktiv-statistische" Erklärung im Sinne R. Schnells u.a. (1989: 51 ff) findet sich nicht. Bei ihr wird das (deterministische) Gesetz im Explanans der deduktivnomologischen Erklärung durch eine probabilistische Aussage ersetzt, die Form der Ableitung aber beibehalten. Zwar ist im Beispiel klar - wie bei jeder multivariaten Analyse - , daß die Varianz der abhängigen Variablen durch die vorangestellten Modellvariablen nur unvollständig erklärt wird und somit immer nur Chancen von Zusammenhängen gefunden werden können. 6 Aber diese werden nicht in der Form einer Ableitung des zu erklärenden Sachverhalts aus einem Explanans und Randbedingungen geordnet. Eine solche Erklärung könnte z.B. die Form besitzen: (1) In der überwiegenden Zahl entwickelter Industrie6 Meulemann meint, daß der probabilistische Charakter der Vorhersage des Ausbildungserfolgs aus der Einfügung der Lebensplanung von Eltern/Schülern in sein Erklärungsmodell folgt: „... die Beziehungen zwischen Herkunft und Schullaufbahn sind stochastisch, weil sie die Lebensplanung von Eltern und Schülern widerspiegeln, weil sie Wahlen aggregieren, die aus der individuellen Kalkulation sozialer Lebenschancen und Verpflichtungen ... resultieren" (1985: 278). Mit andern Worten: Meulemann knüpft den Chancen-Charakter der Erklärung an die Inhaltlichkeit von Wahlentscheidungen, die ein Moment von Willensfreiheit und Nicht-Determination einschließen. Diese besondere Verkoppelung ist nicht zwingend. Denn Modelle, auch ohne Berücksichtigung von „Lebensplänen", ergeben immer nur Chancen, nie vollständige Determination.
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gesellschaften mit einem Massenbildungssystem, freier Wahl des Bildungsganges und einer noch ausgeprägten Schichtungsstruktur wird die Bildungsbiographie stärker von individuellen Plänen als von Schulleistungen und von Herkunftsbedingungen bestimmt. (2) Die Stichprobe entstammt einer solchen Gesellschaft. (3) Also ist im Durchschnitt aller Gesellschaftsmitglieder eine bestimmte Abfolge von Koeffizienten mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Meulemann schlägt demgegenüber einen andern Weg ein. Seine Erklärung setzt nicht bei Gesellschaften mit bestimmten Strukturmerkmalen an, für die die untersuchte Stichprobe einen Anwendungsfall darstellt, sondern bei der Rationalität individuellen Handelns. Danach gilt eine Handlung (z.B. eine Ausbildungswahl) als kausal erklärt, wenn sie als Ergebnis rationaler Überlegungen verstanden werden kann (vgl. zu dieser Art Kausalerklärung Ch. Hopf 1985: 310 ff). In Meulemanns Theorie des Entscheidungsfeldes sind dies ausschließlich zweck rationale Kalküle der Kostenminimierung und der Nutzenmaximierung. Bildungswahlen unterscheiden sich von völlig transparenten Kalkülen in strategischen Spielen oder am Markt nur graduell. Qualitative Unterschiede des zweckrationalen zum wertrationalen oder traditionalen Handeln in Webers Sinn scheint er nicht anzunehmen. Die aus der Sicht des einzelnen Akteurs rationale Erklärung wird für eine Vielzahl von Akteuren spezifiziert, indem als wichtiges differenzierendes Merkmal für die Rationalität der Bildungsentscheidung der Eltern ihre unterschiedliche soziale Position eingeführt wird. Dadurch können allgemeine Hypothesen formuliert und geprüft werden, wie zum Beispiel: je höher die soziale Position der Eltern, desto niedriger die Kosten weiterführender Bildung. Das Pfadmodell der Bildungswahl gibt solchen allgemeinen Hypothesen über Richtungen von Zusammenhängen dann einen quantitativen Ausdruck. Dabei zeigt sich, daß es sinnvoll war, Bildungspläne als eigenständige Variablen in das Modell einzuführen, wobei die Höhe der einzelnen Koeffizienten durch zusätzliche ad-hoc-Hypothesen plausibilisiert wird.
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Die „Theorie des Entscheidungsfeldes" ist jedoch - das zeigt die multivariate Analyse ebenso wie es der Alltagsverstand postulieren würde - nicht ausreichend, um eine vollständige kausale Erklärung der Schulwahl von Kindern und Eltern zu geben. Die endgültige Zuordnung zu einer weiterführenden Schule hängt nicht nur vom Lebensplan der Eltern/Schüler, sondern auch von den schulischen Praktiken der Leistungsmessung und Schulzuweisung ab. Meulemann stellt hierzu keine gesonderten inhaltlichen Überlegungen an, die den „Wirkungsmechanismus" dieser Bewertungs- und Auslesepraktiken transparenter machen könnten. Insbesondere bleibt offen, inwieweit diese Bewertungs- und Auslesepraktiken selbst einer rationalen Handlungserklärung zugänglich sind und ob es einen Rest von nicht in terms von Handlungen beschreibbaren „objektiven Bedingungen" der Schulwahl gibt. Vielmehr interpretiert Meulemann den von der Kosten-Nutzen-Erwägung der Eltern statistisch nicht erklärten Rest der Korrelation zwischen sozialer Herkunft und Schulwahl einseitig als Ergebnis von „Sozialbarrieren" .
V. Multivariate Analyse und Zurechnung Abschließend soll die These vertreten werden, daß multivariate Analysen - indem sie das Geflecht unterschiedlicher Bedingungen sozialen Handelns genauer entschlüsseln - im Bereich des Bildungswesens zu einer Zurechnungsentlastung geführt haben. Ein Beispiel dafür bietet der Begriff der Chancengleichheit selbst. Parallel zu den im Abschnitt I skizzierten drei Stufen der Analyse von Bildungsungleichheit hat sich die Wertung von empirischen Zusammenhängen und damit auch eine Vorbedingung für Zurechnungsfragen verändert. Auf der ersten Stufe der deskriptiven, demographischen Untersuchungen wurde Chancenungleichheit als Verletzung einer Norm „proportionaler Gerechtigkeit" verstanden. Es wurde z.B. argumentiert, daß Arbeiterkinder deshalb auf höheren Stufen des Bildungs- und Hochschulwesens benachteiligt seien, weil ihr Anteil unter höheren
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Schülern oder Studierenden nicht dem Anteil von Arbeitern in der Gesamtgesellschaft entsprach. Auf diese Weise wurde der Eindruck einer gewissen Dramatik des Problems von Bildungsungleichheit vermittelt, die politische Eingriffe erforderte. In dem Maße jedoch, in dem sich das Bild der zugeschriebenen und erworbenen Bedingungen ungleicher Bildungsergebnisse auf der 2. und 3. Stufe der Entwicklung differenzierte, nahm die Bildungsforschung Abstand von diesem groben Maß von „proportionaler Gerechtigkeit" und ersetzte es durch eine Norm bedingter Gerechtigkeit. Auch in ihr werden die mit der Geburt in eine bestimmte Familie verbundenen, zugeschriebenen Lebensbedingungen als ungerecht bewertet, wenn sie in schulischen oder beruflichen Leistungskontexten fortwirken. Aber indem individuelle Pläne, Anstrengungen und Leistungen berücksichtigt werden, reduziert sich der Anteil für illegitim gehaltener Einflüsse der sozialen Herkunft. Die differenziertere empirische Analyse entschärft damit die Problemwahrnehmung und mindert oder verlagert den Handlungsbedarf. Berühmt geworden ist die Untersuchung von Christopher Jencks in den Vereinigten Staaten, der den Bildungs- und Einkommensstatus multivariat analysierte. Da Herkunftsbedingungen und schulische Variablen die Varianz der erreichten Ausbildung und erst recht die des Einkommens im Erwachsenenalter in nur geringem Maße erklärten, schlug Jencks vor, die Angleichung der Einkommen nicht länger über eine Angleichung von Bildungschancen anzustreben. Diese Schlußfolgerung blieb selbst strittig (vgl. W. Hopf 1992:129 ff), so daß auch die Frage aufgeworfen werden kann: geht die Zurechnungsentlastung auf der Basis von multivariaten Analysen nicht unter Umständen zu weit? Entlastet sie Politik fälschlich, indem sie geringe Wirkungen von etwas postuliert, was sie noch gar nicht richtig verstanden hat?
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Zur Trichterstruktur historischer Prozesse
1. Beschleunigte Prozesse 1 a. Seinen Sommerurlaub im Juli und August 1868 verlebte Jacob Burckhardt in Konstanz. In den vier Wochen am Bodensee entstand das Konzept der 1905 von Jakob Oeri so genannten „Weltgeschichtlichen Betrachtungen". Das lesenswerteste Kapitel in diesem für jeden Geschichtsdenker lesenswertesten aller Bücher behandelt die historischen Krisen. Mit dem damals bereits geläufigen Begriff „Krise" meint Burckhardt die „beschleunigten Prozesse". D a ist von „plötzlicher Gärung" die Rede, hervorgerufen durch das Aufreten eines großen Individuums, eines Mohammed oder Dschingis Khan. Daneben spricht Burckhardt über „Erhebungen von Klassen und Kasten", über politische Revolutionen und religiöse Wutausbrüche. Voran geht jeweils die Fesselung einer Kraft, die eben dadurch nicht erlahmt, sondern wächst und nur eines Anlasses bedarf, um loszubrechen. „Der Weltprozeß gerät plötzlich in furchtbare Schnelligkeit. Entwicklungen, die sonst Jahrhunderte brauchen, scheinen in Monaten und Wochen ... erledigt zu sein." In solchen Fällen, so schreibt der Basler, greift die „Ansteckung mit elektrischer Schnelle" um sich, und plötzlich verstehen sich alle in der Einsicht: „Es muß anders werden". Geistige Entwicklungen, heißt es, geschehen überhaupt stoßweise, oder, im Berliner Jargon, immer mit der Ruhe und dann mit 'nem Ruck! I b . Ein hundert Jahre später ebenfalls in Konstanz entstandenes Buch hat gezeigt, welche Denkhilfe Metaphern für G e schichte darstellen. J e radikaler eine Metaphernkritik ausfällt, desto evidenter wird die Unentbehrlichkeit dieses Verständi-
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gungsmittels. Schon das Phänomen der Krise ist unter Verzicht auf Metaphern nicht zu bestimmen. Der Begriff selbst ist eine Metapher aus dem Rechtswesen, er bedeutet „Entscheidung", und wurde bereits von Thukydides auf Geschichte angewandt. Im Neuen Testament bezeichnet krisis das Endgericht. Unser heutiger Krisenbegriff stammt allerdings aus der Medizin. Im Corpus Hippocraticum heißt krisis jene Phase einer Krankheit, in der sich entscheidet, ob der Tod oder die Genesung folgt. Seit dem 18. Jh. steht „Krise" für „politische Turbulenz", dies wiederum ist eine Metapher aus der Physik, so wie Burckhardts Rede von „beschleunigter Bewegung". Sinnverwandte Metaphern sind „Gärung, Kristallisation, Übergang, Wende, Sturm, Revolution" und ähnliches. lc. Das deutsche Wort „Trichter" stammt, wie viele Begriffe der Winzersprache, aus dem Lateinischen. Es kommt von traiectorium. Ein Trichter dient dazu, eine Flüssigkeit in eine gewünschte Richtung zu lenken. Die mit der Verengung des Durchlaufs nach dem Bernoullischen Gesetz verbundene Beschleunigung des Stroms nennen wir „Trichtereffekt". Er tritt immer ein, wenn sich diffuse Kräfte bündeln und gegenseitig steigern; sei es, daß wie in einem Katarakt äußere Umstände, nämlich die Ufer, diese Wirkung erzeugen; sei es, daß sie auf die Ballung um einen anziehenden Kern zurückgeht, wie bei der Lawine. Id. Trichterförmige Prozesse kennen wir aus dem Alltag in vielfältiger Form. Denken wir an die Wahl eines Reisezieles. Zunächst schwebt uns nur eine Himmelsrichtung vor, dann sammeln sich die Argumente für ein Land, und sie konzentrieren sich zuletzt auf einen Ort. Oder denken wir an eine Personalentscheidung. Anfangs kommt ein großer Bewerberkreis in Frage, dann verengt sich der, und zuletzt spricht alles für einen bestimmten Menschen. Oder denken wir an das Entstehen eines wissenschaftlichen Textes. Solange der Termin noch ferne liegt, notieren wir die Gedanken, wenn und wie sie gerade kommen. Je näher er rückt, desto öfter fällt uns etwas ein, und
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kurz zuvor setzen wir uns hin und schreiben. Ist ein solcher Vorgang auf den Punkt gebracht, ist es bisweilen schwer, den Verlauf gedanklich nachzuvollziehen. Die eliminierten Alternativen werden später unsichtbar und erschweren das Verstehen des Resultats. le. Trichterprozesse in der Geschichte haben folgende Gestalt: Diffuse Kräfte tendieren zunehmend in dieselbe Richtung, eine Experimentierphase gewinnt an Intensität und führt scheinbar plötzlich zur Entscheidung. Die wachsende Geschwindigkeit verringert die Spielräume und mündet in eine Art Zwangsläufigkeit. Einem langen, sich steigernden Anlauf folgt sozusagen am Ende des Trichters ein Sprung, ein Grenzübergang von quantitativer zu qualitativer Veränderung. lf. Während die Beschleunigung in der Endphase die Erwartbarkeit des Resultats erhöht, suggeriert der Qualitätssprung am Schluß umgekehrt die Neuartigkeit und damit die Unerwartbarkeit des Ergebnisses. Dieser Widerspruch löst sich durch die Unterscheidung der Betrachterperspektive: Der Übergang von quantitativer zu qualitativer Unterscheidung beruht auf dem individuellen Prägnanzbedürfnis und dem Differenzierungsvermögen. Beides dokumentiert sich in der Terminologie. Eine neue Erscheinung hat Anspruch auf einen eigenen Namen. Die Namengebung erleichtert denen, die das Phänomen kennen, den Umgang mit ihm, verpflichtet sie jedoch, es denen, die es nicht kennen, aus dem alten Sprachschatz zu erklären. Dies erfolgt nach dem Definitionsprinzip: genus proximum plus differentia specifica. Was in der Geschichte neu genug, d.h. hinreichend anders und eigenartig ist, um einen besonderen Begriff zu verdienen, das zeigt sich erst aus dem Abstand, aus den Vergleichsmöglichkeiten des Historikers, der über den Erfahrungshorizont der jeweils Betroffenen hinausblickt. Was ihm neuartig und unvorhersehbar erscheint, kann aus größerem Abstand als Variante zu längst Dagewesenem erwiesen werden. Und was die Beteiligten als bloße Modifikation des Bestehenden empfanden, kann sich als revolutionäre Neuerung erweisen.
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2. Beispiel Rom 2a. Klassische Beispiele für Trichterprozesse bietet die Geschichte des antiken Rom. Ein erster Musterfall ist der Übergang von der römischen Republik zum Principat. Die monarchistische Tendenz beginnt mit dem älteren Scipio. Schon er machte Karriere ohne Rücksicht auf die gesetzlichen Altersbestimmungen, schon er hatte eine Leibwache und ließ nach hellenistischem Muster in Cartagena Silbermünzen mit seinem Bilde prägen. Es gelang dem Senat unter Catos Führung, Scipio ins Exil nach Campanien zu verbannen. 2b. In der Bewegung der Gracchen sodann mußte Gewalt angewendet werden, um die Lieblinge des Volkes zu beseitigen, die selbst noch nicht bewaffnet auftraten. Dies taten erst die Prokonsuln seit Marius und Sulla, Pompeius und Caesar. Caesar war der erste Römer, der die Tendenz begriff, den Trichter sah. Die strukturelle Unfähigkeit des Senats dokumentiert die Ausweglosigkeit darin, daß die Mittel, die er zu seiner Rettung eingesetzt hat, seinen Untergang beschleunigt haben. Gegen illegitime Machthaber hat er Ausnahmegewalten legitimiert, die dann ihrerseits zum Problem wurden. Die Heilmittel verschlimmerten die Krankheit. Wie wenig am Gesamtverlauf der gute Wille Einzelner zu ändern vermochte, lehrt Sulla, dessen Abdankung nur Platz für den Nachfolger schuf und dessen Proskriptionen zugunsten der Republik später das Vorbild für die Proskriptionen des Augustus zugunsten der Monarchie wurden. So beobachten wir hier einen Verfassungswandel, dessen Zielrichtung zunächst durch Serpentinen verunklart wird, der zuletzt aber in die Zielgerade der Monarchie ausläuft. Der Prozeß erscheint durch die Trichterstruktur seiner Vorgeschichte hochgradig determiniert. 2c. Der generelle Trend erschwert die Bestimmung individueller Verantwortlichkeit. Je genauer das Umfeld der Protagonisten erforscht wird, desto stärker treten diese aus ihrer optischen Isolierung heraus, desto fester scheinen sie eingebunden
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in eine Strömung ähnlich denkender Zeitgenossen, denen sie nur die Bewußtheit und die Willensstärke voraushatten. Denn auch Caesars Gegner wollten die Rahmenbedingungen erhalten, die den Übergang zur zentralen Lenkung erforderten, und wir erkennen die doppelte Ironie der Geschichte, wenn einerseits gerade der Mord an Caesar die Tendenz zur Monarchie gestärkt hat, indem er Augustus ein massenwirksames Rachemotiv lieferte, und wenn andererseits Brutus sich im Osten wie ein hellenistischer Potentat benahm, um die Gelder und Krieger aufzubringen, mit denen er die Monarchie beseitigen und die Senatsherrschaft erneuern wollte. Facit: hätte Brutus bei Philippi gesiegt, so hätte er selbst Diktator werden müssen, um den nächsten Caesar zu verhindern. Insofern dürfen die Gesinnungsrepublikaner Caesar nur dann als Totengräber der Senatsherrschaft bezeichnen, wenn sie einräumen, daß sie bereits tot war. Das Ende der Republik kann Caesar kaum als Schuld zugerechnet werden, wohl aber war die Begründung der Monarchie seine Leistung. Alle wußten: es muß etwas geschehen; Caesar wußte, was geschehen mußte. Er zog Bilanz und handelte. 2d. Der Trichtereffekt des Verfassungswandels erwächst hier aus den Rahmenbedingungen. Die Größe des Reiches, die Vorzüge einer politischen Einheit des Mittelmeer-Raumes und die schwierigen Kommunikationsverhältnisse begrenzten den Handlungsspielraum der Zeitgenossen und erklären uns den Erfolg Caesars. Im Prinzip hat das bereits Montesquieu erkannt, und alle neueren Erklärungsversuche konkretisieren und differenzieren seine Einsicht - oder aber gehen in die Irre. 2e. Die Rede von einer „Krise ohne Alternative" täuscht nicht allein, weil jede Krise eine Entscheidung zwischen mindestens zwei Wegen darstellt, sondern auch darum, weil in der späten Republik eine Alternative zum Untergang des Staates bestand: eine Aufteilung des Imperiums in monarchisch regierte Provinzen und ein republikanisch bleibendes Rom nebst Italien. Möglich war das: Caesar in Gallien, Sertorius in Spanien, Sittius in Africa, Marc Anton im Osten zeigen die Ansätze.
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2f. Wenn diese Alternative nicht zum Zuge kam, beruht das auf dem vorbereiteten Bedürfnis nach einem allgemeinen Verkehrsraum, nach einer Pax O ecumenica, der zuliebe die große Mehrheit bereit war, eine Monarchie hinzunehmen. Die antike Verfassungsgeschichte zeigt einen durchgehenden Zug zur verbesserten Verwaltung, wobei intensive und extensive Phasen abwechseln. Wäre das Imperium Romanum in der Revolutionszeit auseinandergebrochen, so wäre ein labiles System von unterschiedlich starken Staaten zu erwarten gewesen, von denen der mächtigste die andern dann doch wohl irgendwann unterworfen hätte. Der Übergang zur Monarchie hätte sich verzögert. 2g. Nach demselben Muster läßt sich die Auflösung des Imperium Romanum beschreiben. Ein Staat von sprichwörtlicher Stabilität, in Jahrhunderten gewachsen, zerfällt innerhalb dreier Generationen. Schon Edward Gibbon erkannte die beiden wichtigsten Faktoren, die sich gegenseitig aufschaukelten: Christentum und Germanentum. Je größer die Barbarendrohung, desto mehr Römer flüchteten sich in Kirchen und Klöster. Das entzog dem Kaiser Steuern und Rekruten und verstärkte den Druck von außen. Paradoxerweise haben die Kaiser in der Krise sowohl das Christentum als auch die Germanen gefördert. Sie suchten bei ihnen Hilfe und wurden von ihnen schließlich entmachtet. Man brauchte immer mehr romfreundliche Germanen, um die romfeindlichen abzuwehren, bis beide sich verbanden und das Reich mit einem Federstrich kassierten. Odovakar schrieb nach Byzanz: Wir brauchen keinen Kaiser mehr. Wieder war die Ironie der Geschichte am Werk: die Rahmenbedingungen der übermächtigen Nachbarn verwandelten die Heilmittel in Gift. 2h. Gibbons Zweifaktoren-Modell vereinfacht den Zerfallsprozeß, dennoch ist nicht jede Vereinfachung eine Verfälschung. Jede Bezeichnung, jede Beschreibung muß und darf, ja soll ihren Gegenstand vereinfachen, um ihn faßlich zu machen. So wie eine Landkarte unbrauchbar wäre, die jeden Strauch und
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jeden Stein wiedergäbe, hat sich die Historie auf das Wesentliche zu beschränken. Dies ist ihr dann gelungen, wenn die nachkommenden Zusatzinformationen das Bild nicht berichtigen, sondern bloß ergänzen. 2i. Dies gilt für Gibbons Theorie insofern, als die Form der Interaktion, d.h. die gegenseitige Stärkung, von Germanentum und Christentum sich wiederholt, sobald wir weitere Faktoren heranziehen. So im Bereich der Wirtschaft, genauer: der MißWirtschaft. Die nachlassende Produktion machte die für die Verteidigung erforderlichen Abgaben an Gütern und Menschen drückender; je mehr der Kaiser forderte, desto unwilliger reagierten die Grundherren, und je weniger diese lieferten, desto schwieriger wurde die Lage für den Kaiser. Der Kaiser baute die Bürokratie aus, und diese belastete die Wirtschaft zusätzlich. Wir sprechen in solchen Fällen von einem Teufelskreis, der sich scheinbar selbstläufig beschleunigt. 2j. „Scheinbar" geschieht dies insofern, als eine unabhängige, von außen wirkende Kraft unterstellt werden muß, die erklärt, warum sich der Kreis in der gegebenen Richtung dreht und nicht umgekehrt. Denn denkbar wäre ja auch, daß ein Sieg über die Germanen - und nie haben die Römer, abermals eine Ironie der Geschichte, so oft über die Germanen gesiegt wie vor ihrem endgültigen Zusammenbruch - daß ein solcher Triumph den römischen Patriotismus gestärkt, die Verteidigungsbereitschaft erhöht hätte, daß die eingebrachten Gefangenen die Landwirtschaft gefördert und die Kriegssteuern erhöht hätten, daß der Kaiser als Feldherr Gottes wie einst David gerade die Frömmsten zu den Fahnen gerufen hätte - wenn ihm bloß das Kriegsglück hold gewesen wäre. Daß es daran haperte aber lag am Menschenreichtum und am Kriegsgeist der Germanen, einer äußeren Ursache, die uns die scheinbare Eigendynamik des Zerfalls verständlich macht. 2k. Wie die Entstehung läßt sich ebenso die Auflösung des Imperiums aus einer welthistorischen Tendenz erklären. Schon
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Jacob Burckhardt erkannte in der Völkerwanderung einen Ausgleichsprozeß zwischen dem Reichtum an Menschen im Norden und dem Reichtum an Gütern im Süden. Die Spannung löste sich, als die Germanen stark genug geworden waren, um den Limes zu durchbrechen, während die im Wohlstand lebenden Römer die Kraft verloren hatten, ihn zu verteidigen. So zerbrach das in Jahrhunderten gewachsene, durch Jahrhunderte beständige Reich. Die Alternative war hier eine verstärkte Germanisierung, d.h. jene Politik, die nach Stilicho aufgegeben wurde. Es hätte nicht bis zum Jahre 800 dauern müssen, bis ein Germane Kaiser wurde.
3. Historische Krisen 3a. Das Phänomen der sich auf ein Ziel einschießenden Momente, wie es einerseits in der Entstehung, andererseits beim Zerfall des römischen Weltreichs erkennbar ist, wiederholt sich vielfach: in der Vorgeschichte der Deutschen Reformation wie der Französischen Revolution, in der Entstehungsgeschichte des Ersten Weltkrieges wie bei der Wende im Osten von Chruschtschow und Andropow zu Gorbatschow und Jelzin. Die Geschichte zeigt Kaskadenstruktur, das Entwicklungstempo wechselt von Stufe zu Stufe. Stets hat man den Eindruck, als ob von einem bestimmten Punkt an ein Prozeß seine eigenen Voraussetzungen schüfe, indem auch die Maßnahmen, die ihn umkehren oder bremsen sollen, beschleunigend wirken. In solchen Fällen sind die Rahmenbedingungen zu prüfen. 3b. Wir kennen das aus der Diskussion über die Frage, welche Fehler die Sozialistische Einheitspartei hätte vermeiden müssen, um die Macht behalten zu können. Eine Verschärfung der Kontrollen wird man ihr nachträglich nicht zumuten wollen, das hätte den Mißmut nur gesteigert; aber eine Erweiterung der Freiheiten hätte den Zusammenbruch gleichfalls begünstigt. Es ist schwerer, zu entscheiden, welche versäumte Politik die bestmögliche gewesen wäre, als zu erkennen, daß die befolgte
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Politik die schlechtestmögliche war. Das Parteiregime als solches war eben der Fehler. 3c. In der Frage, warum der Sozialismus gescheitert ist, gibt es noch keine Einigung. Es kann sein, daß ihm ein verfehltes Menschenbild zugrunde lag. D a s ist allerdings schwer zu entscheiden, denn das wahre Wesen des Menschen kennt niemand. Es ist ebenso möglich, daß die korrupte Nomenklatura am Ende schuld war. Eigensüchtige Führungsschichten gibt es indessen überall. Unübersehbar aber sind die besonderen Rahmenbedingungen, die äußere Lage: Den Menschen im Osten ging es einfach schlechter als denen im Westen. Sie glaubten, das läge an der Demokratie, und das glauben sie heute noch. Zu den langfristig wirksamen Bedürfnissen der Menschen zählt die Steigerung des Wohlstands, und in der Regel werden Verfassungen geändert, wenn das die Versorgung zu bessern verheißt. Auch die parlamentarische Massendemokratie ist kein Selbstzweck. Sie steht zur Disposition, sobald die Wirtschaftslage heikel wird. 3d. Das Trichtermodell liegt auch dann vor, wenn sich der umgekehrte Eindruck aufdrängt, sozusagen das Bild einer Trompete; denken wir etwa an die Ausbreitung des Christentums nach Constantin, das bis dahin still und stetig missioniert hatte und sich dann sehr rasch nach allen Himmelsrichtungen ausweitete. N o c h explosiver verliefen die frühen Eroberungen des Islam, die Entdeckungen in Übersee seit Heinrich dem Seefahrer und Kolumbus oder der Siegeszug der Ideen der Französischen Revolution. Ein schlafendes Potential erwacht und gewinnt ungeahnte Dynamik. Trichter- und Trompetenfigur verbildlichen komplementäre Aspekte der Beschleunigung, mithin den Burckhardtschen Krisentypus. 3e. Fragen wir, welche Lawinenprozesse unsere Gegenwart kennzeichnen, so ist es einfacher, sie zu identifizieren als auszumachen, wieweit sie neuartig sind und auf welche Weise sie zu steuern wären. Trompeteneffekte zeigen die Bevölkerungsvermehrung in der Dritten Welt und die Umweltzerstörung durch
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die Industrietechnik. In jeder Sekunde (!) vernichten unsere Maschinen tausend Tonnen Mutterboden und dreitausend Q u a dratmeter Wald. Wir konsumieren nicht nur die Produkte der Natur, sondern auch die produzierende Natur selbst. Zwar gewinnen wir der jeweils verbleibenden Restnatur immer höhere Erträge ab, doch ist das Ende der Schere abzusehen. Nachdem dies lange als Sturz in die Katastrophe durch den Dritten Weltkrieg befürchtet wurde, droht es nun auf friedlichem Wege durch den Triumph des Fortschritts. Abermals ist die Ironie der Geschichte am Werke, die gegenteilige Tendenzen demselben Ziele zuführt. Wiederum resultiert dies aus den gleichbleibenden Randbedingungen. Der Krieg wie der Frieden sind gefährlich geworden mit der Entfesselung der Naturkräfte durch die technischen Wissenschaften. Der technische Fortschritt ist so alt wie die Geschichte der Menschheit. Das Fortschrittsbewußtsein läßt sich zurückführen bis auf Xenophanes von Kolophon; es ist keine Neuerung der Aufklärer. Neu ist erst die Erkenntnis, daß die technische Entwicklung die Daseinserwartung der Menschheit verkürzt. Ihr Ende ist absehbar.
3f. Endzeitvisionen und Bücher über solche häufen sich seit kurzem. Die Freude über das Ende der atomaren Drohung geht unter in der Angst vor den Folgen des Fortschritts. Was ist von diesen Untergangspropheten zu halten? Apokalyptische Stimmungen sind nicht neu. Das Ende aller Dinge ist spätestens seit der spät-jüdischen Eschatologie von einer großen Zahl von Menschen erwartet worden. Endzeitbewußtsein läßt sich seitdem, meist religiös, bisweilen auch politisch oder sozial motiviert, in jedem Jahrhundert nachweisen. Daß alle diese Apokalypsen durch die nächstfolgende widerlegt wurden, ist kein grundsätzlicher Einwand gegen die Berechtigung der unsrigen. Denn sie gründet sich auf ein Sündenbewußtsein, das keinen himmlischen Richter fürchten muß, sondern das Gericht selbst herbeiführt. Wurde in der Aufklärung die Hoffnung auf das Paradies säkularisiert, so säkularisiert nun die Industrie die Vorstellung vom irdischen Ende.
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3g. Im Unterschied zu früheren „Endzeiten" meinen wir, unsere Zukunft gestalten, unser Ende hinausschieben zu können. Zum ersten Male in der Geschichte der Ethik wird die Forderung erhoben, so zu leben, daß die wirtschaftlichen Voraussetzungen menschlichen Lebens möglichst lange halten mögen. Weswegen die grünen Hoffnungen aber mit Sicherheit enttäuscht werden, hat 1991 Rigo Baladur klargemacht. Er interpretiert das Umwelt-Lamento als kollektive Heuchelei. Der Mensch verzehre auf jedem Zivilisationsniveau erschöpfbare Ressourcen und sei zu einer Absage an die Pleonexie noch nie bereit gewesen. Der einzig würdige Abgang des Menschen von der Bühne der Weltgeschichte sei der kollektive Freitod, bevor er den Muttermord an der Natur vollendet habe. Unsere Wahl beschränkt sich in der Tat auf die Gestaltung des Endes. Die wechselseitige Legitimierung durch Demokratie und Konsum verteilt die Hoffnung auf Profit und die moralische Verantwortung so gleichmäßig, daß keine echte Opposition aufkommt. Niemand widerspricht den Umweltschützern grundsätzlich. Außer der Schweiz sind alle Industrieländer Einparteiensysteme, regiert von der Partei der Autofahrer. Und was ruiniert die Umwelt gründlicher als das Auto?
4. Verantwortung oder Sachzwang? 4a. Die Trichtergestalt historischer Krisen wirft zwei Probleme auf. Es ist zum ersten das Verhältnis in der Zurechnung zwischen persönlicher Verantwortung der Handelnden und struktureller Logik der Systeme und zum anderen das Verhältnis zwischen kleinen Ursachen und großer Wirkung, die scheinbare Asymmetrie zwischen den Phasen des Vorgangs. Beides sind Aspekte des Erklärungsproblems, das mit der Schuldzuweisung und der Vorhersehbarkeit gekoppelt ist. 4b. Für das Verhältnis von Einzelverantwortung und Systemlogik gilt: Alles historische Geschehen beruht auf dem Handeln identifizierbarer Menschen und ist diesen nach Maßgabe ih-
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rer Beteiligung, ihres Wissens und Könnens zuzurechnen. Der Unterschied zwischen Führenden und Geführten oder auch Verführten, zwischen Caesar und seinem Legionär ist wohl zu bedenken. Er wird verstärkt durch Prägnanzbedürfnisse: einerseits durch den Wunsch nach klaren Konturen im Geschichtsbild und andererseits durch emotionale Ansprüche, durch moralisch eindeutige Bestimmung von Tätern und Opfern, von Helden und Sündenböcken. Es gibt einen Hunger nach Symbolen positiver oder negativer Färbung, der in Abzug zu bringen ist, wenn wir Bedeutung zumessen. 4c. Unbeschadet dieser Abstufung ist die Gesamtheit des Geschehens der Gesamtheit der Handelnden zuzuweisen. Was in der Geschichte geschieht, ist von Menschen gemacht. Unerheblich bleibt, ob das Wollen diffus ist und den Eindruck individueller Freiheit erweckt - so in der Öffnung des Trichters - , oder aber konform geht und unter dem Eindruck kollektiven Systemzwangs, etwa eines Anpassungsdruckes oder eines Massenrausches steht - so im Halse des Trichters. Lediglich unter moralisch-juristischem Aspekt ist hier eine Differenzierung vertretbar, wenn wir den Sog berücksichtigen, den der gleichgerichtete Wille einer Mehrzahl auf den Einzelnen ausübt. 4d. Die Rekonstruktion der Rahmenbedingungen ist für das Verständnis historischer Vorgänge unerläßlich. Sie erklären viel, aber entschuldigen nichts. Strukturen sind schuldunfähig. Sie tragen keine Verantwortung, denn sie können sich nicht verteidigen. Aber gerade deshalb werden sie mit Vorliebe zur Entlastung verwendet: Menschen erscheinen durch unerbittliche Systeme determiniert, durch unwiderstehliche Prozesse programmiert und in ihrem Entscheidungsspielraum eingeschränkt. Da der Mensch gerne gut wäre, es aber nicht ist, müssen wohl die Verhältnisse schuld sein. Nie sind wir intelligenter als dann, wenn wir uns selbst belügen. 4e. Ein mythisches Denken, das in archaischem Umfeld Wasser und Wolken, Bäume und Berge als Lebewesen betrachtet,
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hält sich in modernem Kontext: es glaubt an die Tücke des Objekts, indem es Strukturen zu Subjekten hypostasiert, die Empfindungen haben, Wünsche hegen und Aktivitäten entfalten. Demgemäß werden Konstrukte wie Sozialismus und Großindustrie, wie Bürokratie und Konsumgesellschaft unter Anklage gestellt. Verräterisch sind Begriffe wie „Eigendynamik" und „Sachzwang", „Autopoietik" und „Selbstreferenz". Der Historiker fragt aber, wer denn diese Superstrukturen geschaffen hat. Die klassische Formulierung stammt von Friedrich Engels. Am 25. Januar 1894 schrieb er: „Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber in einem gegebenen, sie bedingenden Milieu." Engels betonte, daß die Menschen unter vorgegebenen Rahmenbedingungen handeln, die ihre Freiheit einschränken, er forderte darum mit Marx, durch einen weltweiten Aufstand des Proletariats den „naturwüchsigen" Charakter der sozialökonomischen Gesamtsituation zu überwinden, die den Menschen zum Opfer seiner selbstgeschaffenen Instrumentarien macht. Diese Weltrevolution hat nicht stattgefunden und ist auch nicht mehr zu erwarten. Die Letztinstanzlichkeit der ökonomischen Entwicklung dagegen scheint sich zu behaupten, zumindest der Glaube an sie bei allen, die von dieser Entwicklung profitieren. 4f. Das Bedürfnis nach personifizierten Abstrakta resultiert nicht nur aus dem Wunsch nach moralischer Selbstentlastung, sondern auch aus dem kausalen Defizit zwischen Input und Output. Das Verhältnis zwischen Absicht und Erfolg ist selten Eins zu Eins. Das Ergebnis entspricht den Vorstellungen der Handelnden meist nur teilweise. Gewöhnlich kommen Nebenresultate und Fernwirkungen hinzu, die man in Kauf nehmen mußte oder mit denen einfach nicht zu rechnen war und die daher aufs Konto des Weltgeists gehen. Die Behauptung, daß durch Handeln Dinge passieren, die keiner gewollt hat, wäre allerdings nur dann richtig, wenn wir wüßten, was die Handelnden wirklich gewollt und in Kauf genommen haben. Das ist historisch kaum zu ermitteln, und es gibt Gründe für die Annahme, daß Menschen zwar negativ wissen, was sie beseitigen wollen, weil das wirklich vorliegt und aufgezeigt werden kann,
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nicht aber wissen, was sie positiv erreichen wollen, weil das nur in der Vorstellung existiert. Ist es eingetreten, muß das Ergebnis mit der Erwartung verglichen werden, und das ist schwierig, nicht zuletzt, weil der Gewinn um die Kosten vermindert werden muß. 4g. Die Kosten eines Unternehmens stellen sich erst nachträglich heraus. Ob sie bewußt oder fahrlässig in Kauf genommen wurden, ist selten zu ergründen, und ob sie dem Handelnden dann als angemessen erscheinen, hängt davon ab, wie er sich selbst interpretiert, d.h. es ist eine Frage des Naturells. Kaiser Septimius Severus endete in der Einsicht: omnia fui et nihil expedit. 4h. Der durch Ordnung und Bündelung von Handlungen gesteigerte Effekt läßt sich aus der Außenperspektive als Trichterfigur beschreiben, ohne daß diese aus der Innenperspektive mehr wäre als die Summe aller Einzelhandlungen. Auch die politischen und geographischen, sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen sind von grundsätzlich benennbaren Individuen gewählt oder geschaffen. Die Alternative zwischen Einzelverantwortung und Strukturbedingtheit ist ein Scheinproblem: kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als-Auch, je nach Blickweise auf dasselbe Phänomen.
5. Ursache gleich Wirkung? 5a. Schwieriger als der Widerspruch zwischen individueller Verantwortung und struktureller Dynamik ist die in der Trichterfigur ausgedrückte kausale Asymmetrie zwischen kleinen Ursachen und großen Wirkungen zu überwinden. Das Mißverhältnis zwischen langem Anlauf und kurzem Sprung stört unser Kausalbedürfnis beim Versuch der Erklärung und beeinträchtigt unser Äquivalenzgefühl bei der moralischen Zurechnung.
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5b. Das auch für die Erklärung historischer Ereignisfolgen verwendete Hempel-Oppenheim-Modell deduziert die Konsequenzen aus den Prämissen, bestehend aus einer typisierbaren Situation und einer empirisch gewonnenen allgemeinen Gesetzlichkeit, einem covering law für eben diesen Situationstyp. Erklärbar nach diesem Muster ist ein Vorgang nur so weit, als er typisch, d.h. wiederholbar ist. Sofern er etwas Neues schafft, entzieht sich dieses der Erklärbarkeit. Nur durch den Kunstgriff, die Entstehung von Neuem für typisch zu erklären, die Ausnahme zum Regelfall zu ernennen, entgeht das Modell seiner Verurteilung wegen Untauglichkeit. Damit wird die Unschärfe in den Erklärungsakt eingebaut, wird die Asymmetrie abgesegnet aber nicht behoben. 5c. Besseren Dienst leistet die nach Maßgabe der Folgenmenge erweiterte Ursachenmenge, indem wir unseren katachronischen Trichter anachronisch verdoppeln zu einem Faktorenbaum: Die weit verzweigte Krone der Wirkungen, die aus dem Stamm eines Vorgangs erwächst, wird zurückgeführt auf ein breit gefächertes Wurzelwerk, das sich unterirdisch dem Blick entzieht, aber aufgrund der ausladenden Krone zu erwarten war, bevor wir noch den Spaten ansetzen. 5d. Tatsächlich lassen sich alle großen Strömungen auf eine Vielzahl von Einflüssen zurückführen. Das gilt nicht nur für die Entstehung und den Zerfall des Imperium Romanum, das gilt ebenso für das frühe Christentum, das jüdische, persische und griechische Ideen verschmolz; daneben religiöse, soziale und psychologische Motive bündelte. Eine ähnliche Vielzahl und Vielfalt an Kräften erklärt die Entwicklung des modernen Kapitalismus, den Aufstieg der Großmacht Amerika oder die Umweltkatastrophe. 5e. Das Bild des Faktorenbaumes bietet über den strukturellen Vergleichspunkt hinaus noch einen genetischen. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß ein Baum aus seinen Wurzeln, einsinnig von unten nach oben wüchse. Der ruhende Keimpunkt liegt
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vielmehr an der Schnittstelle zwischen vertikaler Pflanze und horizontaler Erdoberfläche. Dort ruht die Eichel und wächst nach oben und unten zugleich; und je mehr sie an Höhe gewinnt, desto mehr muß sie an Tiefe zulegen. Das erinnert daran, daß alle historischen Phänomene sozusagen ihre eigene Entstehungsgeschichte hervorbringen. Erst wenn sich die Krone entfaltet, suchen wir nach den Wurzeln, erst nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist, fragen wir: wie konnte das passieren? Sobald das große Ereignis eingetreten ist, liefern die Historiker die Gründe dafür. Sie benennen die Faktoren, die sich im Ereignis offenbaren, zuvor aber nicht aufgefallen sind. Philipp von Makedonien wurde wichtig als Wegbereiter Alexanders, Johannes der Täufer als Vorläufer Jesu, Vorreformatoren und Frühsozialisten, Hitlergegner und Ostblockdissidenten wurden entsprechend nachträglich bedeutsam. Theodor Lessing nannte das logificatio post festum.
6. Prognostische Kompetenz 6a. Das Modell des Faktorenbaumes vermag die Symmetrie zwischen Ursachengeflecht und Wirkungsvielfalt herzustellen, zeigt aber nicht im voraus, nach welchen Prinzipien sich die Ursachen bündeln und die Wirkungen entfalten. Das aber muß deutlich sein, wo moralische Zurechnung gefordert wird. Verantworten lassen sich allein absehbare Auswirkungen; ohne prognostische Kompetenz gibt es keine Verantwortung. Prognose ist mehr als Konjektur. Sie beruht auf den beiden Methoden des Vergleichs, indem einerseits aus dem Verhältnis zwischen dem früheren und dem späteren Zustand desselben Objektes, also durch diachrone Tendenzanalyse auf die künftige Verfassung unseres Objektes geschlossen wird, und andererseits aus der Analogie zu einem anderen Objekt typologisch begründete Folgerungen auf unseren Gegenstand übertragen werden. Um gute Resultate zu erzielen, sollten wir so viel Wissen wie möglich und nicht mehr Gefühle als nötig mitsprechen lassen.
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6b. D a wir in der Geschichte kaum jemals angeben können, wieviel Weitsicht den Agierenden zuzutrauen war, steht als mildernder Umstand jederzeit die Dummheit zur Verfügung. Die Geschichte ist ein Lernprozeß, und zu ihren Ironien gehört, daß kluge Schüler ihre dummen Lehrer nicht verurteilen sollten. Sobald wir die Torheiten und Verbrechen aus der Vergangenheit hinwegwünschen, opfern wir die Belehrung, die wir ihnen verdanken. U n d je größer die Torheiten, je brutaler die Verbrechen waren, desto wichtiger ist ihr Lehrgehalt. Wir wären dümmer ohne Hitler.
6c. Angesichts des von Hitler angerichteten Unheils müßten wir wünschen, daß es diesen Menschen niemals hätte geben dürfen. Mit Rücksicht darauf scheint sogar der Verzicht auf die im Leid gewonnene Erfahrung geboten. D o c h nimmt uns dieses Opfer niemand ab. Wir können beim besten Willen nicht zurück in den Zustand der Unschuld und des Unwissens. Schließlich verdankt die Nachkriegsgeneration Hitler auch ihre biologische Existenz. Nahezu jeder Deutsche, der nach 1945 geboren ist, hat Vorfahren, die sich ohne die von Hitler ausgelösten Wirren nie begegnet wären. Wünschen wir Hitler weg, so wünschen wir zugleich die Mehrzahl unserer Studenten weg, und daß wir stattdessen andere hätten, kann einen konservativen Professor nicht entschädigen.
6d. Die Asymmetrie von Trichterprozessen, der Wechsel vom Anlauf zum Sprung erschwert die Vorhersage und mindert die Verantwortlichkeit. Eine grundsätzliche Unfähigkeit zur Prognose j edoch bedeutete die Entwertung j eglicher Erfahrung und den Abschied von der Vernunft, die uns Ziele und Wege zeigt. Die Erfahrung ist aber weder durch sich selbst noch durch die Vernunft zu widerlegen, so wie auch die Vernunft weder durch sich selbst noch durch die Erfahrung zu entwerten ist. Das jedenfalls lehrt die Historie selbst dann, wenn sie sonst nichts lehrte.
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6e. Auch wenn Millionen vor dem Ersten Weltkrieg an die Stabilität der großen Monarchien geglaubt haben, auch wenn Millionen vor dem Zweiten Weltkrieg im Einparteienstaat die Zukunft gesucht haben, auch wenn Millionen vor der Wende ihre Hoffnung auf den Sozialismus gesetzt haben, ja wenn wir selbst zu diesen Millionen von Irrenden gehört haben sollten, ist das noch längst kein Beweis für die prinzipielle Zukunftsblindheit des Handelnden. Denn Fehlprognosen lassen sich in der Regel erklären. Die wichtigste Quelle unseres Irrens ist unsere Emotionalität. Sie zeigt uns, was wir sehen wollen, und verdeckt uns, was wir sehen sollten. 6f. Soweit die Geschichte ein Lernprozeß ist, soweit ist ihre diachrone Asymmetrie unaufhebbar. Die Geschichte ist aber nur dann ein Lernprozeß, wenn wir aus der trichterbedingten Asymmetrie und den daraus resultierenden Fehlprognosen nicht den Schluß auf die Sinnlosigkeit jeder Vorausschau ziehen und damit jede Verantwortung für das abweisen, was wir anrichten. Das erfordert eine Bereitschaft zum Lernen, die unsere Fehlprognosen als Aufforderung interpretiert, Denkfehler zu mindern. Das gilt auch und gerade für den kapitalen Irrtum über die Zukunft des Sozialismus. In der Tat scheinen mir in dessen Fehleinschätzung Denkfehler vorzuliegen, die sich aufzeigen und vermeiden lassen. Der Irrtum über den Ost-WestGegensatz beruhte darauf, daß wir nicht sine ira et studio geurteilt haben. 6g. Vor etlichen Jahren legte das Meinungsforschungsinstitut Allensbach einer Auswahl deutscher Professoren eine Skala vor, von Null in der Mitte bis Ziffer minus 10 nach links und Ziffer plus 10 nach rechts. Man sollte sich da politisch einordnen. Diese geistlose Latte entsprach dem damals herrschenden, ja bis in die jüngste Zeit beliebten Modell für das eindimensionale Selbstverständnis unserer Intellektuellen. (Der Schnitt lag dann bei minus 3. Man war auf der Hochschule leicht links). Gleichwohl läßt sich mit seiner Hilfe die Fehlprognose im OstWest-Konflikt erklären.
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6h. Die tendenziell optimistischen Linken hielten den Sozialismus deswegen f ü r stabil, weil sie ihn mutatis mutandis bewunderten. In zynischer Weise haben sie dabei die O p f e r des U n rechts im Osten als Kinderkrankheiten einer goldenen Z u k u n f t verharmlost und als den verlorenen Haufen des Fortschritts, als Preis f ü r den Weltfrieden abgesegnet. Der Zweck hat immer die Mittel geheiligt. Dagegen ist nichts grundsätzlich einzuwenden. Es fragt sich nur, welche Mittel welchen Zweck heiligen, und ob nicht der Zweck durch die Mittel entheiligt wird. 6i. Die traditionell pessimistischen Rechten hingegen überschätzten den Ostblock, weil sie selber Angst hatten oder kaum weniger zynisch als die Linken - die Angst anderer Westler schürten und nutzten, u m aufrüsten zu können. „Petit Paysan" war kein eidgenössisches Spezifikum. Linke wie Rechte waren an einer dauerhaften Großwetterlage interessiert, um im Kleinklima kalkulieren und profitieren zu können. Die Devise „Keine Experimente" galt allenthalben. Rechts wie links hieß es: D e r Weltfriede beruhe auf dem Gleichgewicht des Schreckens unter dem Schirm der amerikanischen Raketen. Das Gleichgewicht aber sei nur gesichert, solange der Schrecken stabil und die Welt geteilt bleibe, insbesondere Deutschland. Die Spaltung Deutschlands sei die Sühne für die Hitlerei; den Verzicht auf die Wiedervereinigung seien wir unseren Nachbarn im Westen wie im Osten, ja uns selbst schuldig. 6j. Die Besatzungsmächte ersparten uns die letzte Verantwortung f ü r das eigene Tun und Lassen, und die damit verbundene begrenzte Souveränität, die politische Unmündigkeit, hatte ihre angenehme Seite. „Es ist so bequem, unmündig zu sein", heißt es bei Immanuel Kant 1784. Er fährt fort: „Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann." Es scheint jedenfalls leichter zu zahlen als zu denken, namentlich in Zeiten des Wirtschaftswunders. 6k. Die Fragilität des Sowjetsystems war immerhin einigen wenigen klar. Sie haben die Wende vorausgesagt, unter ihnen Ar-
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min Möhler, Martin Kriele und Hanns-Albert Steger. Letzterer 1986 in Regensburg: Man kann „mit Sicherheit sagen, daß die Zweiteilung Europas, Ergebnis des Kalten Krieges von 1948 bis 1953, jeder wie immer gearteten geschichtlichen Absicherung ermangelt und daher auf Dauer unter keinen Umständen wird durchgehalten werden können". Wer so dachte - gemäß der Stimme des Gewissens oder mit dem Blick auf die Geschichte - , den traf die Schelte beider Seiten. Er wurde von links dem Weltfeind Kapitalismus zugezählt, der ja nur seine Geschäfte auf den armen Osten ausdehnen wolle, und wurde von rechts der Verharmlosung des Weltfeindes Kommunismus geziehen, der zwar gebändigt, aber auch - Gulag hin, Gulag her - erhalten werden müsse, da in seinen Untergang unweigerlich der Rest der Welt hineingezogen werde. 61. Der Abgott im Kalten Krieg war der status quo, das Dogma die politische Phantasielosigkeit. Darum hat der Westen den Osten bis zuletzt durch gigantische Kredite gestützt und aus „humanitären Gründen" das menschenunwürdige System künstlich am Leben gehalten. Ein kluger Kopf von drüben bekannte schon vor zehn Jahren: „Ohne die Lieferungen aus dem Westen wären wir binnen eines Vierteljahres am Ende." Wünsche und Ängste der Westler haben nur die politisch-militärische Fassade des Ostens sehen wollen, nicht die Wünsche und Ängste der Menschen dahinter. Nirgends hat man lauter protestiert, als Ronald Reagan 1987 von den Sowjets den Abbruch der Berliner Mauer forderte, denn in Western Germany. Das war mit den politischen Nerven unserer Protestler nicht vereinbar. Sie erachteten jede Anmahnung der Menschenrechte im Osten als Gefährdung ihres persönlichen Wohlergehens, als Unterhöhlung des Weltfriedens. Auch die Republikflucht bot ein willkommenes Ventil. Wären die Unzufriedenen im Lande geblieben, hätten sie zuerst die Gefängnisse gesprengt und dann den Staat zum Platzen gebracht. Wer Asyl sucht, vermehrt und verlängert das Unrecht, dem er entflieht, und wer Asyl gewährt, unterstützt die Urheber jenes Unrechts, demotiviert und demoralisiert den inneren Widerstand, sofern
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er keinen äußeren Widerstand leistet. Politische oder ökonomische Rentabilitätsberechnungen mögen dem die Waage halten, könnten aber auch eine Lawine auslösen, die künftige Historiker um ein weiteres Beispiel für Trichterprozesse bereichert. 6m. Für diese Thesen kann ich keinen Beifall erwarten. Das Bedürfnis nach moralischer Selbstbestätigung überzeugt uns von den höchsten Idealen abendländischer Humanität in unserer Politik, und der Wunsch nach historischer Selbstentlastung verführt zum Glauben daran, wir hätten alles ganz richtig gemacht. Auch künftig wird man die ostfreundliche Stabilisierungspolitik von Bahr und Strauß daran messen, welches Unglück sie (angeblich) verhindert hat, und nicht daran, welches Glück sie (tatsächlich) verzögert hat. Es lebt sich besser im wohligen Bewußtsein, das Schlimmste verhütet zu haben, als in der peinlichen Erkenntnis, für das Schlimme Mitschuld zu tragen. Künftige Generationen aber werden verständnislos fragen, wie es möglich war, daß Unrechts-Staaten gestützt wurden von Nachbarn, die den Unrechts-Charakter erkannt hatten. Das Urteil über uns wird lauten: Es war die moralische Schwäche des Westens, die ihm die politische Schwäche des Ostens verdeckte, so daß er dessen Zusammenbruch bejammerte, solange noch irgend Aussicht auf Rettung des Arbeiter- und Bauernparadieses bestand. Wer den Grund für die begangene Fehleinschätzung erkennt, hat damit leider nicht die Gewähr, jede weitere zu vermeiden. Soweit er aber bereit ist, durch eigenes Irren andere zu belehren, darf er von seinen Zeitgenossen Nachsicht fordern. Unsere Erde ist ein Planet, ein „irrender" Stern.
7. Die Lehre 7a. Die Geschichte erscheint dem Historiker ähnlich wie dem Astronomen der Kosmos. Der ungeheure Raum ist höchst ungleichmäßig strukturiert. In weiten Bereichen herrscht Leere oder dünne Materie - in anderen verdichtet sie sich zu kompakten, explosiven Massen. Entsprechend unterschiedlich präsen-
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tiert sich das historische Geschehen. Große Zeiten und Räume, in denen nahezu nichts passiert, und kurze Jahrzehnte in kleinen Gebieten, wo sich erstaunlich viel bewegt. - Eine Form, in der das Geschehen kulminiert, sind die beschleunigten Prozesse, die Krisen im Sinne von Jacob Burckhardt. Sie lassen sich nach dem Modell des Trichters beschreiben, der eine plötzliche Geschwindigkeit erzeugt und damit die Homogenität in der Ereignisdichte stört. Die Beispiele für diesen Ereignistypus verteilen sich über alle Phasen der europäischen Geschichte. Auch die Umwälzungen unserer Zeit unterscheiden sich nur quantitativ von den Revolutionen der Vergangenheit. 7b. Die Plötzlichkeit, mit der Trichtereffekte auftreten, entziehen diese gleichwohl weder der Erklärbarkeit noch der Vorhersagbarkeit. Den Blitz aus heiterem Himmel kennt auch die Historie nicht. N u r das kommt zur Entladung, was sich in langer Zeit angestaut hat und in der Regel unbemerkt blieb, weil die Spannung allmählich wuchs und aus allzu menschlichen Gründen für normal erklärt wurde. Die latente Unzufriedenheit, die quantitativ möglicherweise gleich bleibt, erhält qualitativ ein anderes Gesicht, sobald sich die einander durchkreuzenden Interessen in dieselbe Richtung drehen. 7c. Das methodische Problem, wie sich die Kausalanteile auf die Individuen und die Strukturen verteilen, löst sich perspektivisch. Die Innensicht zeigt uns die Menschen, die Außensicht erkennt Systeme im selben Handlungsgefüge. Die diachrone Asymmetrie zwischen unmerklicher Inkubation und schmerzhaftem Ausbruch verschwindet, wenn wir die Trichterstruktur zum Faktorenbaum verdoppeln und zur Vielzahl der Wirkungen eine Vielzahl von Ursachen hinzusuchen. 7d. Historische Explosionen sind schwer vorauszusehen; Unvorhersehbares aber müssen wir nicht verantworten und könnten daher unsere Hände in Unschuld waschen und nicht nur unsere Hände. Gewöhnlich liegt hier aber keine konstitutionelle Insuffizienz unseres Urteilsvermögens vor, sondern die
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partikulare Betriebsblindheit schuldhafter Desinformation und nachweisbarer Interessenbindung. Es wäre töricht, von einem Papst wie Leo X zu erwarten, daß er die Erfolge Luthers hätte ahnen müssen. Es wäre unrealistisch, von einem König wie Louis XVI anzunehmen, daß er die Französische Revolution hätte fürchten müssen. Es wäre zu viel, von einem Fanatiker wie Stalin zu verlangen, daß er den Zusammenbruch des Sozialismus hätte einkalkulieren müssen. Der säkulare Irrtum über die Zukunft des Sozialismus war nicht unverschuldet und eignet sich darum nicht als Kronzeugnis für die notwendige Ahnungslosigkeit gegenüber Trichtereffekten. 7e. Um treffend zu prognostizieren, bedarf es eines Augenmaßes, das nicht durch Hoffnung, nicht durch Ängste getrübt ist. Gefordert ist Realismus, sei es als möglichst einflußreicher Drahtzieher (wie Julius Caesar), sei es als möglichst absichtsloser Betrachter (wie Jacob Burckhardt). Man sollte eine minimale oder eine maximale Distanz zum Geschehen einnehmen. Ungünstig ist die mittlere Position des interessierten Nutznießers, der, je nach Temperament, Zweckpessimist oder Zweckoptimist sein wird und daher durch Angst oder Hoffnung geblendet wird. 7f. Das Facit der Krisenanalyse lautet: Krisen sind im frühen Stadium schwer zu erkennen, im späten Stadium schwer zu steuern. Unmöglich ist weder das eine noch das andere. Die Bedingungen für beides lassen sich angeben, wenn auch nicht ohne weiteres erfüllen. Gefordert ist Einsicht, oder wie es bei Philostrat Apollonios von Tyana sagt: Die Menschen erkennen was da ist; die Götter wissen, was sein wird; der Weise spürt, was sich nähert.
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Literatur Baladur (1991), Rigo: Gründe warum es uns nicht geben darf, Essen: Verlag Die Blaue Eule. Burckhardt (1868/1935), Jacob: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Leipzig: Kröner. Demandt (1978), Alexander: Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München: Beck. Demandt (1984), Alexander: Der Fall Roms. Die Auflösung des Römischen Reiches im Urteil der Nachwelt, München: Beck. Demandt (1986), Alexander: Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn 2. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Demandt (1993), Alexander: Endzeit ? Die Zukunft der Geschichte, Berlin: Siedler. Meyer (1993), Martin: Ende der Geschichte?, München: Hanser. Taubes (1947), Jacob: Abendländische Eschatologie, Bern: Francke. Vondung (1988), Klaus: Die Apokalypse in Deutschland, München: Deutscher Taschenbuchverlag. Weizsäcker (1993), E. U . von: Wachstum und Umwelt, in: R. Göhner (Hrsg.), Die Gesellschaft für morgen, München: Piper.
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Moralismus oder fingierte Handlungssubjektivität in komplexen historischen Prozessen
Mit der wachsenden Komplexität moderner Industriegesellschaften sind Vorgänge der Zurechenbarkeitsexpansion verbunden. Zurechenbarkeitsexpansion - der so gekennzeichnete Vorgang hat rechtliche, moralische und politische Aspekte. Exemplarisch hebe ich die Expansion der haftrechtlichen Verbindlichkeiten heraus, denen wir uns als Subjekte moderner Lebensvollzüge unterworfen finden. Ineins damit expandieren die ökonomischen Dimensionen der Sache. In der Expansion des Haftpflichtversicherungsgeschäfts spiegelt sich beides. Auch für Philosophen lohnt es sich, zur Festigung ihrer Realitätsbindung sich Kenntnis der quantitativen Dimensionen des fraglichen Vorgangs zu verschaffen. Der Verlauf der Versicherungsstatistik ist eindrucksvoll. Die Expansion unserer Anstrengungen, Risiken versicherungspraktisch abzudecken, belehrt uns, so scheint es, über den guten Sinn der populär gewordenen Kennzeichnung unserer Gesellschaft als einer „Risikogesellschaft" 1 . Aus Platzgründen sei hier auf Präsentation von Schaubildern zur Versicherungsstatistik verzichtet. Die Fachliteratur, zu deren Detailstudium man freilich Spezialbibliotheken aufsuchen muß 2 , verschafft nahezu jeden gewünschten Einblick. Makrohistorischen Überblick gewährt die versicherungshistoriographische Literatur 3 . Dem ökonomischen, rechtlichen und politischen Gewicht des fraglichen Lebensbereichs und über1 Beck (1986). 2 Swiss Reinsurance Company (1993). 3 Scharlau (1929), Halpérin (1946), Arps (1965).
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dies den Selbsthistorisierungstendenzen unserer Zeit entspricht es, daß inzwischen sogar Lehrkanzeln und Forschungsinstitute für die Geschichte des Versicherungswesens eingerichtet sind an der Hochschule St. Gallen zum Beispiel 4 . Die haftungskulturelle Seite der hier so genannten Zurechenbarkeitsexpansion sei im folgenden mit einigen Hinweisen skizzenhaft zunächst anschaulich gemacht. Erstens sind wir heute Begünstigte, nämlich als Kunden, oder Verpflichtete, nämlich als Hersteller, einer dramatisch verlaufenden Produkthaftungsexpansion 5 . Jeder PKW-Halter kennt das aus gelegentlichen Rückrufaktionen der Hersteller, die zur Vorbeugung von Produkthaftungsansprüchen in ihren Vertragswerkstätten im nachhinein typenspezifische Mängel beheben möchten, die nach statistischer Evidenz sich als risikoträchtig erwiesen haben. In der Frühzeit des Kraftfahrzeugwesens hätten die Fahrer, mangelhaft informiert, Unfälle oder sonstige Risiken bereitwillig Höherer Gewalt oder eigenen Fehlern zugeschrieben. Das hat sich unter dem Druck der materiellen Dimensionen der Schäden aus heutiger PKW-Nutzung geändert. Die Wirkungskette aus den Folgen von Mängeln benutzter Produkte, die heute von Haftpflichten des Herstellers umschlossen ist, hat sich durch Gesetzgebung und Rechtsprechung außerordentlich verlängert. Zu den Gründen dieses Vorgangs gehört, noch einmal, vor allem verbesserter Informationsstand durch die inzwischen verfügbare Unfallstatistik, die statistische Korrelationen zwischen Unfallhäufigkeit und Fahrzeugtypen sichtbar macht, die auf die Spur kausaler Beziehungen zwischen gewissen Unfalltypen einerseits und gewissen Konstruktionseigenschaften andererseits führen. Zweitens beobachten wir gegenwärtig Zurechenbarkeitsexpansion als Expansion der Haftung für Versäumnisse in der Information der Benutzer von Produkten, die als solche fehlerfrei sind. Zur Demonstration des so beschriebenen Vorgangs wird 4 Am dortigen Institut für Versicherungswirtschaft, Direktor: W. Ackermann. 5 Taschner (1986).
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in der Literatur gern die kleine amerikanische Tragödie erzählt, der ein Hündchen zum Opfer fiel, das seine Herrin nach einem Bad im Mikrowellenherd trocknen wollte. Daß dergleichen einem lebenden Haustier nicht guttut, war in der Bedienungsanleitung nicht mitgeteilt worden. Dafür hatte der Hersteller nun zu haften, und es leuchtet auch dem juristischen Laien ein, wieso. Der Umgang mit Feuer, gewiß, ist dem Menschen seit den allerältesten Tagen der Ur- und Frühgeschichte vertraut. Im Mikrowellenherd lodern aber keine Flammen, deren Gefährlichkeit jeder kennt, und es glüht auch nichts wie bei den Kochplatten des Elektroherds. Kurz: Die Technik des Mikrowellenherds ist eine lebenserfahrungsferne6 Technik. Daraus resultieren spezielle Aufklärungspflichten für die kommerziellen Anbieter solcher Technik. Sie zu erfüllen hatte der Hersteller mit Haftungsfolgen versäumt. - Gemeiner Lebenserfahrung näher begegnen uns analoge Zusammenhänge in der Fernsehwerbung für Pharmazeutika oder auch für kosmetische Produkte. „Über mögliche unerwünschte Nebenwirkungen informieren Sie Pakkungsbeilage, Arzt oder Apotheker" - so werden wir im Anschluß an den Werbespot, der die Vorzüge des Produkts ins Bild gebracht hatte, von geübten Schnellsprechern belehrt. In der Mehrzahl der Länder geschieht das entsprechend gesetzlichen Vorschriften, aber zugleich schließt es vorteilhaft auch für die Produkthersteller gewisse Haftungsrisiken aus. Drittens umfaßt die haftungsrechtliche Zurechenbarkeitsexpansion über Produkte hinaus längst auch allerlei Dienstleistungen, zum Beispiel die spezielle Dienstleistung der Vermittlung von Dienstleistungen anderer - im Geschäft der Vermittlung von Urlaubsreisen zum Beispiel. Beeinträchtigungen, die die Vermutung entgangenen Urlaubsgenusses begründen, haben rechtssprechungsabhängig inzwischen sehr subtilen Charakter angenommen. Versierte Reisebürokunden wissen das auszunutzen und verlangen Entschädigungen in Fällen, die noch vor wenigen Jahren, statt einem Geschäftspartner, dem Lauf der Welt zugerechnet worden wären. 6 Lübbe (1990), 56 ff.
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Viertens expandiert in Abhängigkeit von der zivilisatorischen Evolution die materielle und soziale Größenordnung der uns zuzurechnenden Wirkungen konventioneller Handlungen. Alltagspraktisch kennt das jedermann, zum Beispiel, aus dem permanenten Anstieg der Haftpflichtversicherungsprämien, die er als PKW-Halter zu entrichten hat. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Nach Leistung, Ausstattung und Design steigt immer noch der Wert des am meisten von den Folgen unseres Handelns gefährdeten Objekts, nämlich des Fahrzeugs anderer Verkehrsteilnehmer. Moderne Infrastrukturen - von technisch aufwendigen Verkehrsleitsystemen bis hin zu modernen Treibstoffumfüllanlagen - repräsentieren nie zuvor gekannte potentielle Schäden, die haftpflichtmäßig abgedeckt sein wollen. Im sozialen Aspekt der Sache ist zu sagen, daß der Wert unfallabhängig potentiell beeinträchtigter Arbeitskraft nie höher war als heute. Diese sozial vermittelte Expansion der materiellen Dimensionen von Personenschäden macht heute versicherungspraktisch auch das ärztliche Handeln riskanter als je zuvor, und nie zuvor erfuhren sich entsprechend die Ärzte auf Versicherungsschutz mehr angewiesen als heute7. Es ist dieser Zusammenhang, in welchem auch verständlich wird, daß seit einigen Jahren sogar das Faktum der eigenen Existenz, näherhin der geschädigten eigenen Existenz, zum Gegenstand von Schadensersatzklagen gemacht werden konnte, nämlich in der Konsequenz der Tatsache, daß neuerdings der Unterschied, den es macht, zu sein statt nicht zu sein, oder so zu sein statt, wie gewünscht, anders zu sein, als ein durch zurechenbare Handlungen anderer bewirkter Unterschied sich darstellt8. - Jeder Medienkonsument ist schließlich mit jenen spektakulären Großkatastrophen vertraut, bei denen gestrandete Großtanker die Biotope von Meeresstränden ganzer Provinzen ruinieren, abstürzende Jumbo-Jets Vorstadtquartiere in Flammenmeere verwandeln und giftige chemische Substanzen, die bei einem trivialen Rohrleitungsbruch freige-
7 Layton-Cook (1990), 2 f. 8 Deucher (1984), Knörr (1987), 24-36.
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setzt werden, eine Dorfbewohnerschaft töten 9 . Auch der Laie wird plausibel finden, daß die infrastrukturabhängig wachsende Größenordnung handlungsvermittelter Risiken jenseits unbestimmter Grenzen versicherungspraktisch gar nicht mehr gehandhabt werden kann 10 . Das „Risikomanagement" wird dann in solchen Fällen zu einer öffentlichen Angelegenheit11. Kategorial bedeutet das: Jenseits ungewisser Grenzen wird in komplexen Systemen die Zurechenbarkeit von Handlungsfolgen an die Adresse speziell verantwortlicher individueller oder juristischer Personen fiktiv. Das, wofür ein individuelles, auch institutionelles Handlungssubjekt einzustehen vermag, gerät in ein derartiges MißVerhältnis zu den Folgen seiner Handlungen, daß sich Zurechenbarkeit dieser Handlungsfolgen pragmatisch sinnvoll nicht mehr fingieren läßt. Mit der Veranschaulichung dessen, was eingangs „Zurechenbarkeitsexpansion" genannt worden war, ließe sich weit über den haftungsrechtlichen Aspekt der Sache hinaus lange fortfahren. Das erübrigt sich hier. In der begrifflichen Quintessenz besagen die veranschaulichten Bestände: Die skizzierte Zurechenbarkeitsexpansion folgt der zivilisationsevolutionären Expansion unserer realen Abhängigkeiten und Betroffenheiten von Handlungen sozial entfernter Anderer. Komplementär ausgedrückt heißt das: Die Zurechenbarkeitsexpansion folgt zivilisationsabhängig zunehmenden Autarkieverlusten. Das hat für die Wahrnehmung der Handlungen und Handlungsfolgen anderer und für die Kultur unseres Umgangs damit weitreichende Konsequenzen. Zwei dieser Konsequenzen scheinen mir die wichtigsten zu sein. Erstens geht die Zurechenbarkeitsexpansion mit einer fortschreitenden Entpersonalisierung der Handlungssubjekte einher. Daß wir für irgendwelche Schäden unseren namentlich bekannten Nachbarn haftbar machen könnten, ist ein sozusagen archaischer Restbestand in unserer rechtlichen Alltagsverbringung. Schon bei der Inanspruchnahme von Ärz9 Crescenzo-d'Auriac (1988), Krejci (1990), 97-115. 10 Harrington (1990), 17-28. 11 Jaisli (1990).
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ten für Folgen aus Kunstfehlern haben wir es häufiger als mit Individuen mit den körperschaftlichen Trägern der Spitäler zu tun, in denen wir die fehlerhaften ärztlichen Eingriffe erlitten. Für überraschend schädigende Nebenfolgen ärztlich verordneter Medikamente gilt das ohnehin und für unsere Betroffenheiten aus zurechenbar verbliebenen Großschäden aus Transportunfällen oder Industriekatastrophen sowieso. In allen diesen Fällen erscheinen zwar in der medialen Berichterstattung Individuen, in bezug auf die von Interviewern insinuiert wird, sie seien „verantwortlich". Indessen handelt es sich bei dieser Verantwortlichkeit zumeist um Verantwortlichkeit von der Art, wie wir sie aus politischen Lebenszusammenhängen kennen. Das bedeutet: Handlungstheoretisch sinnvolle juridische oder moralische Zurechnungen finden hier gar nicht statt. Die Zurechnung erfolgt rein symbolisch, das heißt durch „Rücktritt" und Personenaustausch, und die handlungstheoretisch tatsächlich sinnvollen, juridisch einlösbaren Verantwortlichkeiten werden im zivilrechtlichen Teil der Sache in Prozessen effektuiert, in denen es sich bei den Subjekten, denen zugerechnet wird, zumeist nicht mehr um Individuen handelt. "Zweitens ralisierung zugerechneter Handlungen einher. Die wachsende ökonomische und kulturelle Bedeutung des Rechtsinstituts der Gefährdungshaftung macht das evident. Ihr Sinn ist die Sicherstellung verschuldensunabhängiger haftrechtlicher Zurechenbarkeit von Handlungsfolgen. Für weite Bereiche unserer rechtlich so normierten sozialen Interaktionen bleibt damit der moralische Faktor außer Betracht. Das wirkt inzwischen sogar verhaltensprägend, und wir erfahren es in unserer Interaktion als Verkehrsteilnehmer als rational, uns angesichts verursachter Schäden statt in Bekundungen von Empörung oder Betroffenheit auf die Subjektivität der beteiligten Subjekte auf die prophylaktische rechtliche Wohlgeordnetheit des Falls zu beziehen, Protokolle auszutauschen und die Adresse zuständiger Versicherungen bekanntzugeben. - Die spezifisch moderne Inkongruenz von technisch und sozial vermittelten weitreichenden Handlungsfolgen einerseits und konstatierbarer „Schuld"
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handelnd beteiligter, zurechnungsfähiger Subjekte andererseits wird auch in strafrechtlichen Zusammenhängen deutlich. Die unseren Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechenden Korrelationen von schuldabhängig zugerechneter Straftat einerseits und zuerkannter Strafe andererseits sind bei den strafrechtlich relevanten Handlungen mit den Folgen zivilisatorischer Großkatastrophen schlechterdings nicht mehr gegeben. Eine Commonsense-nahe Verhältnismäßigkeit der Strafe für Trunkenheit auf der Schiffsbrücke und ihren Katastrophenfolgen fürs Biotop ganzer Meeresbuchten besteht nicht, und wer, juristisch belehrt, schließlich eingesehen hat, was hier eigentlich strafrechtlich relevant ist und was nicht, begreift zugleich, daß jenseits ungewisser Grenzen im Kontext der modernen Zivilisation Folgen aus Handlungen immer häufiger moralisch sinnvoll nicht mehr zugerechnet werden können. Das Prinzip der Verantwortung im moralischen Sinn reicht fortschreitend weniger weit als der Bereich kausalanalytisch identifizierbarer Handlungsfolgen 12 . Wo schließlich Handlungsfolgen in Abhängigkeit von der wachsenden Komplexität moderner technischer Lebensvoraussetzungen weder adäquat strafrechtlich noch auch haftrechtlich zugerechnet werden können, wo also die Zurechenbarkeitsexpansion die Grenzen des Bereichs überschreitet, der mit Hilfe von Handlungsbegriffen sich sinnvoll beschreiben läßt, verbleibt in letzter Instanz nichts als die Überbürdung von Lasten aus Handlungsfolgen auf den kollektiven Nutznießer des erreichten Standes zivilisatorischer Evolution, das heißt auf die politisch organisierte Gemeinschaft. - Analoge Erfahrungen einer modemitätsabhängig sich öffnenden Schere zwischen Handlungswirkungen einerseits und Sanktionierbarkeit von Handlungen andererseits sind uns aus dem modernen politischen Lebenszusammenhang ohnehin vertraut. Die Auswirkungen systemspezifischer politischer Handlungen, die nach dem Untergang der entsprechenden Systeme als „Regierungsverbrechen" qualifiziert werden, sind nach Zahl der Betroffenen ebenso wie nach Schadensausmaß gewaltig. Es gibt die 12 Jakobs (1993).
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Strafen nicht - und seien es die schwersten - , die hier einen von erfüllten Gerechtigkeitsansprüchen bewirkten Rechtsfrieden stiften könnten. Das bedeutet: Rechtsförmig ist eine genugtuende Aufarbeitung politischer Großverbrechen prinzipiell nicht möglich, und indem nichtsdestoweniger auf ihre rechtliche Verfolgung nicht verzichtet werden kann, enthüllt sich als humaner Sinn dieser Verfolgung die Vergegenwärtigung der Einsicht, daß im modernen politischen Lebenszusammenhang die Wirkungen unserer Handlungen sich weit über den Umkreis dessen hinaus erstrecken, was moralisch oder juridisch adäquat sanktionierbar wäre 1 3 . Noch einmal also: Die Zurechenbarkeitsexpansion, die sich im Rechtsleben wie in der Politik beobachten läßt, folgt zunächst aus unserer real anwachsenden Abhängigkeit von den Handlungen sozial entfernter anderer, der wir im modernen Lebenszusammenhang unterliegen. Dabei wird tendenziell zugleich der Sinn überdehnt, den es pragmatisch haben kann, Wirkungen von Handlungen in sanktionierender Absicht auf ihre Verursacher zurückzubeziehen. Soweit das der Fall ist, werden zugleich die Grenzverläufe zwischen naturalen Prozessen einerseits und kulturellen Prozessen andererseits unscharf. Begrifflich lassen sich allerdings Natur und Kultur leicht unterscheiden - als das Insgesamt der Prozesse, die handlungsfrei ohne Beteiligung sprachfähiger Subjekte ablaufen, einerseits und der handlungsverfügten, symbolisch repräsentierten Realität andererseits. Was so kategorial unterscheidbar ist, ließ sich freilich in der Realität niemals vollständig trennen, das aber inzwischen in Dimensionen nicht mehr, in denen wir ausgewachsene Naturkatastrophen ineins als Zivilisationskatastrophen wahrzunehmen haben. Für die in ihren Schadensdimensionen dramatisch angewachsenen Sturmkatastrophen jüngstvergangener Jahre wird mit guten Gründen eine zivilisationsabhängige Kausalität vermutet. Die Versicherbarkeit von Risiken dieses Typs droht an ihrer prognostischen Unkalkulierbarkeit, das heißt an
13 Lübbe (1991), 1 0 2 9 - 1 0 3 1 .
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Schwierigkeiten der Feststellung ihrer statistischen Eintrittswahrscheinlichkeit zu scheitern 14 . Daß man weder individuelle noch institutionelle Subjekte für zivilisationsabhängige Naturkatastrophen nach dem Muster traditioneller juridischer Verantwortlichkeiten verantwortlich machen kann, ist bei „incremental summierten Gefahren" 1 5 ohnehin klar. Incrementalismus - das ist ein Begriff für Handlungswirkungen, die uns, wie die schon erwähnten Sturmkatastrophen, der Meeresanstieg oder die Schadstoffanreicherungen in Nahrung und Wasser kollektiv bedrohen, ohne daß es möglich wäre, singulär die Handlungen und ihre Subjekte zu identifizieren, um deren Folgen es sich dabei handelt, indem diese Folgen sich als Wirkungssumme zahlloser Handlungen faktisch unabzählbar zahlreicher Beteiligter einschließlich unserer selbst darstellen. Die Beiträge, die wir als PKW-Halter zur globalen Klimaveränderung leisten, sind von der beschriebenen Art, oder auch unsere zu kollektiven epidemiologischen Katastrophen sich aufsummierenden Akte massenhafter individueller Selbstschädigung durch Alkohol- oder Tabakabusus. Nicht, daß es hier Gegensteuerungen, auch rechtlich normierte Gegensteuerungen nicht gäbe. Sie sind zumeist ordnungspolitischer Natur - das heißt sie laufen über normative Stiftung von Rahmenbedingungen, die Individuen massenhaft interessiert machen, ihr Handeln in einer Weise zu ändern, daß sich die Folgen dieses Handelns, wiederum incrementalistisch, zu den gewünschten Gesamtwirkungen aufsummieren. Abgaben, Verzichtsprämien etc. — das sind ordnungspolitische Maßnahmen der skizzierten Art. Ihr Nachteil ist, daß sie kaum einen moralischen „Appeal" haben. In ihrer Wirkung sind sie sozial wie natural kausalanalytisch für Laien undurchsichtig. Sie wirken gemeinsinnsfern. Genau dazu verhält sich der sich zivilisationsspezifisch ausbreitende Moralismus komplementär 16 . „Moralismus" - so ließe sich der unsere politische und kul14 Schweizerische Rückversicherungs-Gesellschaft (1990). 15 Lübbe-Wolff (1987), 167 ff. 16 Lübbe ( 2 1989).
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turelle Öffentlichkeit durchherrschende Vorgang des Versuchs der Lösung drängender Zivilisationsprobleme über Appelle an das Kollektiv nicht-organisierter beteiligter Individuen nennen. Der außerordentliche Erfolg der Verkündung des „Prinzips Verantwortung" gehört in diesen Zusammenhang. Zur guten Wirkung dessen gehört massenhaft evozierter guter Wille, der sich ordnungspolitisch durchaus handlungsfähig machen ließe. Soweit das nicht geschieht, wird, statt wahrgenommener Verantwortung, Verantwortungsgesinnung17 zivilisationsspezifisch. Die Folgen evozierter guter Gesinnung, die für pragmatisches Handeln keinen Ansatzpunkt findet, sind erheblich. Erstens neigt man zur deklamatorischen Verantwortungsüberlastung. Bis in die Sprache der Kirchentage, ja der Parlamentsdebatten zur Verfassungsrechtsrevision hinein begegnet uns inzwischen der Appell zur „Bewahrung der Schöpfung", während wir doch noch aus dem Konfirmandenunterricht oder aus der Sonntagsschule die Lehre in Erinnerung haben, daß Gott die Welt geschaffen habe und sie auch erhalte. Tatsächlich ist die Handlungssubjektivität, die zur Bewahrung der Schöpfung kompetent wäre, gänzlich fingiert, das heißt sie ließe sich institutionell weder rechtlich noch politisch organisieren. Worum es sich in Wahrheit jeweils handelt, sind in der Tat organisierbare Veranstaltungen, die das fällige Recycling abgebrannter Kassettenrecorderbatterien auf Dauer stellen - und so mit incrementalistisch sich aufsummierenden Wirkungen in allen anderen analogen gewichtigeren oder auch weniger gewichtigen Fällen. Zweitens verführt der skizzierte Moralismus zur Suche nach individuell oder institutionell identifizierbaren großen Schuldigen. Die Identifizierung solcher Schuldigen erfolgt nach allerlei rezenten Traditionalismen eher kontingent. Profitinteressen von Kapitalverwertern, zum Beispiel, werden namhaft gemacht. Aber auch Formen kollektiver Selbstanklage breiten sich aus, zum Beispiel bei allen, die in ihrer Wohnung oder in ihrem Gemeindesaal Möbel, auch bescheidenere Werkstücke, die aus Tropenholz gefertigt sind, entdecken. Die gute Gesinnung, die sich 17 Nach einer Formulierung O d o Marquards.
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in solchen Selbstanklagen bekundet, wirkt rührend. Aber ihre Intensität verhält sich zum Mangel an Wissen über die im fraglichen Fall entscheidenden kausalen Wirkungszusammenhänge genau komplementär. Die Wahrheit ist, daß wir gemeinhin ganz einfach nicht wissen, ob unsere verbreiteten Formen der Tropenholznutzung den Untergang des Regenwaldes beschleunigen, oder ob eher umgekehrt Expansion unserer Tropenholznutzung die ökonomischen Bedingungen für den Übergang zur forstwirtschaftlich elaborierten Forterhaltung des Tropenwaldes schüfe. Einige Experten wissen es durchaus, wie wir annehmen dürfen. Aber die soziale und politisch wirksame Verbreitung ihres Wissens nimmt nach der Natur solcher Verbreitungsvorgänge Zeiträume in Anspruch, die länger währen, als die Fristen laufen, innerhalb derer wirksame Gegensteuerungen eingeleitet werden sollten. In der Zusammenfassung bedeutet das: Wir machen gegenwärtig Erfahrungen unserer Abhängigkeit von evolutionären Verläufen unserer Zivilisation, die handlungsmitbestimmt sind, aber ersichtlich gesamthaft weder im guten noch im bösen handlungsrational interpretiert werden könnten. Man kann das auch so ausdrücken: Der Zivilisationsprozeß ist ein Vorgang ohne Handlungssubjekt. Man könnte verständlich machen, wieso die Erfahrung, daß das so ist, in tiefreichender Weise verunsichernd wirkt. Versteht man die verunsichernden Wirkungen der Einsicht in die schwer zu leugnende Schwierigkeit, komplexe kulturevolutionäre Prozesse handlungsanalog zu denken, so versteht man auch die komplementäre ideologische Attraktivität jener Geschichtstheorien, die Karl Popper „historizistisch" genannt hat 1 8 . „Historizismus" - das ist nach Popper der Irrglaube an die Existenz von Geschichtsgesetzen, die, wenn es sie gäbe, das Subjekt der Einsicht in sie in der Tat in die Rolle eines Handlungssubjekts der Geschichte versetzen könnten - so wie uns die Einsicht in Naturgesetze unter gegebenen Randbedingungen zu Beherrschern der durch sie bestimmten Prozesse macht. Geschichts18 Popperai969).
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gesetzkenntnis als Voraussetzung der Selbsteinweisung in die Rolle eines maître et possesseur de l'histoire - das ist, quintessentiell formuliert, das Konzept totalitärer Geschichtsideologie. Die politischen Konsequenzen eines solchen Konzepts sind uns aus der Geschichte unseres eigenen Jahrhunderts bekannt. In Wahrheit sind Vorgänge zivilisatorischer Evolution, Kulturgeschichten also, strukturell naturgeschichtlichen Evolutionen analog. Sie sind Resultanten kontingenter Interferenz kausaler Prozesse, sie folgen daher gesamthaft keiner bekannten Gesetzmäßigkeit, sind vielmehr singulär, nicht prognostizierbar und faktisch, nämlich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit irreversibel und unbeschadet erkennbarer Gerichtetheit und unbeschadet etwaiger Handlungsmitbestimmtheit nicht zielgerichtet. Statt Handlungssubjekt lediglich das Referenzsubjekt eines Prozesses dieser Struktur zu sein - an diesen irritierenden Gedanken gewöhnen wir uns nur langsam. Die hier skizzierten Schwierigkeiten, über die Expansion fingierter Zurechenbarkeiten komplexe zivilisatorische Prozesse handlungsrational beherrschbar zu halten, werden die fällige Gewöhnung an den Gedanken fördern, daß wir in letzter Instanz eben lediglich Referenzsubjekt, aber nicht Handlungssubjekt unserer Geschichte sind.
Literatur Arps (1965), Ludwig: Auf sicheren Pfeilern. Deutsche vor 1914, Göttingen.
Versicherungswirtschaft
Beck (1986), Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Moderne,
Crescenzo-d'Auriac (1988), Marie-Béatrix: Les risques catastrophiques. Evénement naturel, politique et technologique. Préface de Jacques Lallement, président de la Fédération française des sociétés d'assurance, Paris. Deucher (1984), Wolfgang: Die Haftung des Arztes für die unerwünschte Geburt eines Kindes („wrongful birth"). Eine rechtsvergleichende Darstellung des amerikanischen und deutschen Rechts, Frankfurt a.M./Berlin/New York/Nancy. Halpérin (1946), Jean: Les assurances en Suisse et dans le monde. Leur rôle dans l'évolution économique et sociale, Neuchâtel.
Moralismus oder fingierte Handlungssubjektivität
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Harrington (1990), Scott E.: A Retrospective on the Liability Insurance Crisis, in: CPCUJournal, 17-28. Jaisli (1990), Urs: Katastrophenschutz nach Jichweizerhalle" unter besonderer Berücksichtigung des Risikomanagements im Kanton Basel-Landschaft, Liestal. Jakobs (1993), Günther: Das Schuldprinzip, Opladen: Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 319. Knörr (1987), Karl: Pränatale Diagnostik - Klinik und Folgerungen, in: Odo Marquard, Hansjürgen Staudinger (Hrsg.): Anfang und Ende des menschlichen Lehens. Medizinethische Probleme, München/Paderborn, 24-36. Krejci (1990), Heinz: Schäden durch internationale Katastrophen im Lichte des Schadenersatz- und Versicherungsrechtes. Österreichischer Landesbericht anläßlich des 8. Weltkongresses der Internationalen Vereinigung für Versicherungsrecht 1990 in Kopenhagen, in: Die Versicherungsrundschau. Zeitschrift der Österreichischen Gesellschaft für Versicherungsfachwissen 45, 97-115. Layton-Cook (1990), Nanci: Medical Malpractice Insurance, in: Professional Liability Today, 2-3. Lübbe (21989), Hermann: Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Berlin: Siedler-Verlag. Lübbe (1990), Hermann: Der Lebenssinn der Industriegesellschaft. Über die moralische Verfassung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation, Berlin/Heidelberg: Springer-Verlag. Lübbe (1991), Hermann: „Das Strafrecht ist ein nötiges, aber schwaches Mittel zur Aufarbeitung des Totalitarismus", in: Universitas. Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaft 46, Nummer 545, 1029-1031. Lübbe-Wolff (1987), Gertrude: Die rechtliche Kontrolle incremental summierter Gefahren am Beispiel des Immissionsschutzrechts, in: Horst Dreier, Jochen Hofmann (Hrsg.): Parlamentarische Souveränität und technische Entwicklung, Berlin: Duncker & Humblot, 167 ff. Popper (21969), Karl R.: Das Elend des Historizismus, Tübingen: J.C.B Mohr. Scharlau (1929), Martin: Die Entstehung neuer Versicherungszweige. Veröffentlichungen des Deutschen Vereins für Versicherungs-Wissenschaft, hrsg. von Alfred Manes, Heft XLIII (ausgegeben Januar 1929), Berlin. Schweizerische Rückversicherungs-Gesellschaft (1990), Umwelthaftpflichtversicherungfür Unternehmen. Eine moderne Versicherungskonzeption, Zürich. Swiss Reinsurance Company (1993): Publications, Zurich. Taschner (1986) berichtet über europarechtliche Angleichungstendenzen: Produkthaftung. Richtlinie des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftungfürfehlerhafte Produkte (85/374/EWG). Erläutert von Hans-Claudius Taschner, M.C.J. Abteilungsleiter bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Brüssel, München: Verlag C.H. Beck.
Über die Autoren Prof. Dr. Alexander Demandi, geb. 1937, Lehrstuhl für Alte Geschichte an der Freien Universität Berlin. Publikationen u.a.: Endzeit? Die Zukunft der Geschichte, 1993; Umgang mit Geschichte, in: R. Göhner (Hrsg.), Die Gesellschaft für morgen, 1993, 170 ff; Historische Selbstentlastung in der Antike, in: B. Löwenstein (Hrsg.), Annäherungsversuche. Geschichte und Psychologie Band IV, 1992,115-142; Gibt es Maßstäbe für historische Größe?, m: Jahrbuch der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft (1990), 75 ff; Macht und Recht als historisches Problem, in: Alexander Demandt (Hrsg.), Macht und Recht. Große Prozesse in der Geschichte, 1990,271-292; Biologistische Dekadenztheorien, in: Saeculum 36 (1985), 4-27; Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt, 1984; Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn..., 1984, 2 1986; Was ist Geschichte?, in: Neue Deutsche Hefte 183 (1984), 451-461; Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, 1978. Prof. Dr. Dietrich Dörner, geb. 1938, Professor für Psychologie an der O t t o Friedrich-Universität Bamberg. Forschungsschwerpunkte im Bereich Denken, Problemlösen, Planen und Entscheiden, dabei Befassung mit ökologischen und ökopolitischen Fragen sowie mit den Schwierigkeiten des Umgangs mit U n bestimmtheit, Komplexität und langfristig ablaufenden Veränderungen. Publikationen u.a.: Die kognitive Organisation beim Problemlösen: Versuch einer kybernetischen Theorie der elementaren Informationsverarbeitung beim Denken, 1974; Problemlösen als Informationsverarbeitung, 1975; Lohhausen: Vom Umgang mit Komplexität (hrsg. zusammen mit H . W. Kreuzig, F. Reither und T. Stäudel), 1983; Psychologie - Eine Einführung in ihre Grundlagen und Anwendungsfelder (hrsg. zusammen mit H . Selg), 1985; Die Logik des Meßlingens, 1989. Dr. habil. Wulf Hopf, geb. 1944, Akad. Oberrat am Pädagogischen Seminar der Georg-August-Universität in Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Soziale Ungleichheit und Bildung; Politische Sozialisation; Methodologie. Publikationen u.a.: Ausbildung und Statuserwerb. Theoretische Erklärungen und Ergebnisse der Sozialforschung, 1992; Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung (zusammen mit H.-G. Herrlitz und H . Titze), 3 1993;
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Über die Autoren
Famiiiale und schulische Bedingungen rechtsextremer Orientierungen von Jugendlichen, in: Zeitschrift für Sozialforschung und Erziehungssoziologie 11 (1991), 43-59; Regelmäßigkeiten und Typen - das Durchschnittshandeln in Max Webers Methodologie, in: Zeitschrift für Soziologie 20 (1991), 124-137; Handlungsforschung und .natürliche Sozialsysteme'. Anmerkungen zur Methodik und zum Erkenntnisertrag von Handlungsforschungsprojekten, in: Soziale Welt 35 (1984), 350-371. Prof. Dr. Paul Hoyningen-Huene, geb. 1946, Professor für Philosophie in der Fachgruppe Philosophie der Universität Konstanz. Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftsentwicklung, Reduktionismus. Publikationen u.a.: (Hrsg.) Die Mathematisierung der Wissenschaften, 1983; Autonome historische Prozesse kybernetisch betrachtet, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), 119-123; Wozu Wissenschaftsphilosophie? Positionen und Fragen zur gegenwärtigen Wissenschaftsphilosophie (hrsg. zusammen mit Gertrude Hirsch), 1988; Die Wissenschaftsphilosophie Thomas S. Kuhns. Rekonstruktion und Grundlagenprobleme, 1989, engl. 1993; Reductionism and Systems Theory in the Life Sciences: Some Problems and Perspectives (hrsg. zusammen mit F. M. Wuketits), 1989; The Interrelations Between the Philosophy, History, and Sociology of Science in Thomas Kuhn's Theory of Scientific Development, in: British Journal for the Philosophy of Sáence 42 (1992), 487-501; Niels Bohrs Argument für die Nichtreduzierbarkeit der Biologie auf die Physik, in: Philosophia Naturalis 29 (1982), 229-267; Zankapfel Reduktionismus, in: Merkur 47 (1993), 399-409; Zur Bedeutung der Semiotik in der Naturwissenschaft, in: P. Rusterholz, M. Svilar (Hrsg.): Welt der Zeichen - Welt der Wirklichkeit, 1993. Dr. Wolfgang Köck, geb. 1958, Wissenschaftlicher Assistent am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen, Mitarbeiter im Graduiertenkolleg „Risikoregulierung und Privatrechtssystem". Forschungsschwerpunkte: Umwelt-, Technik- und Produktsicherheitsrecht einschl. der privatrechtlichen Bezüge; Abgabenrecht. Publikationen u.a.: Abfallvermeidung durch kommunale Verpackungsabgaben (zusammen mit M. v. Schwanenflügel), 1990; Die Sonderabgabe als Instrument des Umweltschutzes, 1991; Umweltsteuern als Verfassungsproblem, in: Juristenzeitung (1991), 692-699; Zum Stand der Verbraucherrechtsentwicklung (zusammen mit D. Hart), in: Zeitschrift für Rechtspolitik (1991), 62-67; Wandel der Handlungsformen im Öffentlichen Recht (hrsg. zusammen mit K. Becker-Schwarze, T. Kupka, M. v. Schwanenflügel), 1991; Vertragsrechtliche Sicherheitsgewährleistung und „Neue Risiken" (zusammen mit K. Meier), in: Juristenzeitung (1992), 548-557; Umweltrechtsentwicklung und ökonomische Analyse, in: Natur und Recht (1992), 412-420; Umweltabgabe - Quo vadis? Entwicklungstendenzen des Umweltabgabenrechts, in: Juristenzeitung (1993), 59-67; „Risiko-Information" - Zur Diskussion um behördliche Warnungen und Empfehlungen im Umwelt- und Gesundheitsbereich, in: R. Damm/D. Hart (Hrsg.), Regulierung von Gesundheitsrisiken, 1993 (i.E.); Die rechtliche Bewältigung technischer Risiken, in: Kritische Justiz (1993) (Ì.E.).
Über die Autoren
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Prof. Dr. Lorenz Krüger, geb. 1932, Professor f ü r Philosophie am Philosophischen Seminar der Universität Göttingen und kommissarischer wissenschaftlicher Leiter des Forschungsschwerpunktes Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie der Förderungsgesellschaft Wissenschaftliche Neuvorhaben m b H in Berlin. Forschungsschwerpunkte: Philosophie und Geschichte der Naturwissenschaften, neuere Philosophiegeschichte. Publikationen u.a.: The Empire of Chance - How Probability Changed Science and Everyday Life (zus. mit G. Gigerenzer et al.), 1989; Kausalität (zus. mit Rosemarie Rheinwald), in: Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe, 1980, Bd. 2, 318-327; Kausalität und Freiheit - Ein Beispiel für den Zusammenhang von Metaphysik und Lebenspraxis, in: Neue Hefte für Philosophie 32/33 (1992), 1-14. Prof. Dr. Hermann Lübbe, geb. 1926, Honorarprofessor für Philosophie und politische Theorie an der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie, Kulturphilosophie, Wissenschaftstheorie historischer Wissenschaften. Publikationen u.a.: Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, 1977; Religion nach der Aufklärung, 1986, 2 1990; Ökologische Probleme im kulturellen Wandel. Ethik der Wissenschaften, Band V (hrsg. zusammen mit Elisabeth Ströker), 1986; Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, 1987, 2 1989; Fortschrittsreaktionen. Uber konservative und destruktive Modernität, 1987; Die Wissenschaften und ihre kulturellen Folgen. Über die Zukunft des Common sense, 1987; Die Aufdringlichkeit der Geschichte. Herausforderungen der Moderne vom Historismus bis zum Nationalsozialismus, 1989; Der Lebenssinn der Industriegesellschaft. Über die moralische Verfassung der wissenschaftlichtechnischen Zivilisation, 1990; Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, 1992. Dr. Weyma Lübbe, geb. 1961, Wissenschaftliche Angestellte am Zentrum Philosophie und Wissenschaftstheorie der Universität Konstanz. Forschungsschwerpunkte: Gesellschaftstheorie, Rechtstheorie, Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte der Sozialwissenschaften. Publikationen u.a.: Der Normgeltungsbegriff als probabilistischer Begriff, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 44 (1990); Legitimität kraft Legalität (1991); Die Theorie der adäquaten Verursachung, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 24 (1993); Die Fäden im Gewebe der Natur. Determinismus und Probabilismus in der Kausalitätstheorie John Stuart Mills, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 47 (1993). Dr. Lorenz Schulz, geb. 1956, Wissenschaftlicher Assistent am Institut f ü r Kriminalwissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt. Forschungsschwerpunkte: Strafprozeßrecht, Rechtsmethodologie, Pragmatismus. Publikationen u.a.: Das rechtliche Moment der pragmatischen Philosophie von Charles Sanders Peirce, 1988; (Hrsg.) Ökologie und Recht, 1991; Die Zeit drängt. Überlegungen zum Problem von Zeit und beschleunigter Geschwindigkeit und ihrer Bedeutung im Recht, in: Schulz (Hrsg.) 1991, 127-165.
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Über die Autoren
Prof. Dr. Gunther Teubner, geboren 1944, Otto-Kahn-Freund Chair for Comparative Law and Legal Theory, London School of Economics and Political Science, London, und Europäisches Hochschulinstitut, Florenz. Forschungsschwerpunkte: Theoretische Rechtssoziologie, Privatrechtstheorie, Vergleichendes Gesellschaftsrecht. Publikationen u.a.: Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung, 1978; Recht als autopoietisches System, 1989; (Hrsg.) Dilemmas of Law in the Welfare State, 1985; (Hrsg.) Juridification ofSocial Spheres, 1987; (Hrsg.) Autopoietic Law, 1988; (Hrsg.) Regulating Corporate Groups in Europe, 1989; (Hrsg.) State, Law, Economy as Autopoietic Systems, 1992; (Hrsg.) Ecological Responsibility of Enterprises: Theories of Self-Organization Applied (im Erscheinen).
Personenverzeichnis Ablowitz, R. 183 f Abraham, K. S. 93, 101, 103, 107, 111, 125 f, 136 Ackermann, W. 290 Adams, J. N . 101 Adams, M. 125 Aird, P. R. 136 Albrecht, P.-A. 79 Alexander, S. 167 Aristoteles 152, 225, 229 Arps, L. 289 Assmann, H.-D. 23, 27, 32, 103, 108 Ayala, F. J. 170,179 Bachmann 63 f, 70 Baladur, R. 275 Bar, C. v. 20, 23, 27 Bar, L. v. 43 f Baumgärtel, G. 27 f Bechmann, G. 78, 99 Beck, U. 2, 75-77, 79 f, 189 Berenda, C. W. 172 Beulke 63 f, 70 Beyer, C. 45, 68 Bischof, N . 171, 182 Bismarck, O . 102 Blecher, M. 123 Blitz, D. 165, 167 Bodewig, T. 33, 128 Boedeker, Κ. A. 134 Bohne, E. 114 Boucquey, N . 114, 116 Brammsen, J. 45 f, 54, 66 Brandstätter, H . 217
Braum, S. 45 Brehmer, B. 210 Broad, C. D. 167-170, 172, 174 f, 179, 186, 188 Brockett, P. L. 136 Brodbeck, M. 171, 179-181 Brown, R. 167 Brownsword, R. 101 Brüggemeier, G. 24, 27, 29 f, 32, 34, 78, 100 f, 108, 119, 132 Bruns, H.-J. 63 Bunge, M. 179 f, 182 f, 185, 188 Burckhardt, J. 265 f, 272 f, 286 f Buri, Μ. v. 54 Burley, D. M. 133 Bush, R. A. B. 93, 98, 100, 106 f, 110, 117 Caemmerer, E. v. 16 Caesar 268 f, 287 Campbell, D. T. 176 f, 180, 185 Canetti, E. 217 Carrier, M. 148, 156, 171 f, 173, 181, 185 Causey, R. L. 175 Celli, A. G. 93, 96 Collingwood, R. G. 157 f Comment 137 Crescenzo-d'Auriac, M.-B. 293 Csikszentmihalyi, M. 217 Dahrendorf, R. 248 Dales, J. H . 114 Damm, R. 23 f, 29, 78 Darwin, C. 167
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Personenverzeichnis
Denninger, E. 77, 79 Deucher, W. 292 Deutsch, E. 9-11, 14, 18-20, 26 f, 32 Diederichsen, U. 22 f, 25, 27 f, 31 Dörnberg, H. F. v. 31 Dörner, D. 217, 226, 234, 238-241 Driesch, H. 168 Duncker, K. 205 Eads, G. 120, 122, 124, 134 Egidi, R. 185 Engels, F. 277 Engisch, K. 53 f, 56 Enzensberger, H. M. 81 Epstein, R. 103, 126 Erb, V. 59 Esser, J. 10, 12, 14, 17, 19 f, 25 Eubank, K. T. 111,135-137 Evers, A. 75 Ewald, F. 75 Feigl, H. 184 Feldhaus, G. 116, 137 Feldmann, S. L. 114 Fend, H. 249 Fikentscher, W. 13, 23 Foerster, H. v. 120 French, P. 107 Gasking, D. 157 Geerds, F. 82 Gibbon, E. 270 f Giere, R. N. 175 Giesen, B. 171, 175, 179, 181 Glaser, J. 54 Gleick, J. 175 Gmehling, B. 23 Golden, L. 136 Gottwald, P. 10, 20, 23-25, 31 f Goudge, T. A. 167, 174, 183 f Green, N. 42 Grunsky, W. 14-16, 21 Haffke, B. 79 Hager, G. 29 f, 32, 34 Halpérin, J. 289 Hamm, R. 44 Harrington, S. E. 293
Hart, H. L. A. 61, 147 f, 151 f, 155-158, 160, 162 Hassemer, W. 45, 63, 78 f Heine, G. 44 Hempel, C. G. 10, 54, 168, 170, 174, 185, 259, 279 Herdegen, G. 62 Herrmann, H. 28 Herodot 236 Herzog, F. 78 Hilgendorf, E. 44 f, 79, 82 Hirte, H. 45, 66 Hitler, A. 220, 281 Hösle, V. 236 Hofstetter, K. 101,118,123,133 Hohloch, G. 35, 139 Hohlweck, M. 91 Holmes Jr., O. W. 42 Hommers, W. 201 Honnecker, E. 220 Honoré, Α. M. 57 f, 61, 147 f, 151 f, 155-158, 160, 162 Hopf, C. 261 Hopf, W. 263 Horn, E. 81 Hoyningen-Huene, P. 172, 191 Huber, P. 126 Hume, D. 62, 148, 152, 156 Jaisli, U. 293 Jakobs, G. 56, 63, 80, 295 Janis, I. 216 Jencks, C. 263 Jescheck, H.-H. 80 Jonas, H. 1 f, 223-234 Kaminsky, A. R. 166 Kant, I. 62, 150, 154 f, 283 Kaufmann, A. 63 f, 69 Keeler, A. J. 114,126 Keeton, P. H. 105 f Kegel, G. 24 Kekes, J. 172, 179 f, 186 Kim, J. 169, 173 f, 176, 178 f, 183, 188, 190 Kindhäuser, U. 56 f, 61, 78 King, J. H. 93 Kinkel, K. 102, 114 f
Personenverzeichnis Klee, R. L. 171 f, 175, 177, 179, 181, 186, 191 Knebel, J. 35 Knörr, K. 292 Koch, J. 33 Köck, W. 12, 30, 35, 54, 62, 65, 248 Köndgen, J. 10, 19, 23, 27, 29, 32, 35, 101, 108 Kötz, H. 16, 20 Koriath, H. 10 f, 19 f, 55-57, 61 Kornhauser, L. A. 128 Kramer, E. 9 Krejci, H . 293 Kriele, M. 284 Kries, J. v. 43 f, 237 Krüger, L. 61 Kuhlen, L. 44, 46, 51, 53, 64-66, 70, 82-84 Kulimann, H . J. 33 Ladeur, K.-H. 78 Lampe, E.-J. 54 Lange, H . 11,14-16,18-20 Larenz, K. 9, 11, 14, 16, 18 f Lau, C. 75 Layton-Cook, N . 292 Lessing, T. 280 Lewes, G. H. 166 f, 172, 183 Lifton, R . J . 213 Lisken, H . 79 Lorenz, K. 185 Lovejoy, A. O. 168 Lucas, J. R. 202 Lübbe, H. 291, 296 f, 223 Lübbe, W. 3, 57, 233 Lübbe-Wolff, G. 297 Lüderssen, Κ. 81 Luhmann, Ν . 79, 99 f, 110, 120 f Maassen, Β. 24 Mackie, J. L. 56 f, 60-62, 150, 257 MacKinnon, F. I. 167, 183 Maiwald, M. 45, 63 f Marburger, P. 28 Marino, A. M. 126-128 Marquard, O. 298 Marsh, C. 247, 253 Marx, K. 277
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Maurach, R. 62, 80, 82 May, O . 33 Mayr, E. 168 f, 172 McCrone, J. 207 McGuire, P. E. 120, 124 McLaughlin, Β. P. 165-167 Medicus, D. 23, 103, 108 Meehl, P. E. 168, 180 Meier, B.-D. 45 f Meinberg, U. 78 Menell, P. S. 130 Mertens, H.-J. 15 f, 21, 32 M eulemann, H. 251, 253-262 Meurer, D. 62 Mill, J. S. 57, 151, 166 f, 172, 180, 183, 185 Mittelstraß, J. 171 f, 174, 181, 185, 212 Möhler, A. 284 Montesquieu, C.-L. de S. de 269 Morgan, C. L. 167, 169, 172, 174176, 179, 182 f, 186 Morgan, F. W. 134 Münch, R. 170 Nagel, E. 168, 172, 179 f, 185 Naucke, W. 53 Nestler-Tremel, C. 81 Nicklisch, F. 23, 96 Norman, D. 199 Nowotny, H. 75 Oison, M. 126, 131 Oppenheim, P.' 10, 54, 168, 170 f, 174, 185, 279 Otto, H. 54 f, 57 Pap, A. 168 Paracelsus 71 Paschke, M. 31 f Pavlov, I. P. 207 Peck, M. S. 212 Peeters, M. 114 Peirce, C. S. 58 Peisert, H. 248 Phillips, L. 42, 56 Pluhar, E. B. 179 Podgers, J. 106 Polanyi, M. 175-177, 182, 189
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Personenverzeichnis
Popper, Κ. 69 f, 172, 176, 178 f, 185, 299 Preuß, W. 42 f Priest, G. 9 3 , 9 6 , 9 8 , 1 0 5 , 1 1 6 Primas, H. 179, 182 Prittwitz, C. 42 f, 78 f Presser, W. L. 105 f Prutting, H. 24, 26 Puppe, I. 45 f, 53, 56-61, 66, 70 Putnam, Η. 171, 185 Rabin, R. L. 100 Raufer, R. Κ. 114 Reason, J. T. 213 f Rehbinder, E. 25, 29, 102 f, 113 f, 125 Reither, F. 217-219 Rengier, R. 84 Rentsch, T. 237 Reuter, P. 120, 122, 124, 134 Revesz, R. L. 128 Roberts, M. W. 114, 116 Robinson, G. O. 92 f, 96, 105 Ropohl, G. 233 Rose-Ackermann, S. 103, 118, 129 f Rosenberg, D. 93, 129-131, 133135, 138 Roxin, C. 53, 58, 60, 64 f, 70, 79, 81 Rüßmann, H. 14, 16 f, 21, 26 Russell, B. 147-149 Salje, P. 31, 35 Samson, E. 44 f, 69 f Schäfer, K. 33 Schaffner, K. F. 175 Scharlau, M. 289 Scharpf, F. 122 Schievella, P. S. 179 f Schiller, F. 152, 216 Schlüchter, E. 59 Schmehl, A. 79 Schmidt, E. 10, 12, 14, 17, 19 f, 25, 100 Schmidt-Salzer, J. 25, 32, 45, 65 Schnell, R. 257, 260 Schöndorf, E. 50 Schroeder, F.-C. 81
Schünemann, B. 79 Schünemann, W. 10, 14 Schulin, B. 10, 14, 19 Schulz, L. 42, 44 f, 47, 58, 74, 78, 80, 248 Seelmann, K. 41 Sellars, W. 168, 180 Sheiner, N. 106,111 Sieg, K. 24 Smart, J. J. C. 180 Smelser, N. J. 170 Sperry, R. W. 170, 173 f, 176-180, 182, 189 f Spitz, S. A. 106,112 Sprenger, R.-U. 113 Stäudel, T. 217 Staub, E. 213 Steffen, E. 15 Steger, H.-A. 284 Stegmüller, W. 10 Stephan, A. 165, 168, 171-173, 179, 181, 185 Stewart, R. B. 102, 113 f, 116, 135 Stöckler, M. 165, 172, 179 f, 182 f Stone, C. 122 Stratenwerth, G. 54 Strohschneider, S. 217 Stübel, C. C. 54 Stümper, A. 79 Taschner, H.-C. 290 Teubner, G. 24, 94, 120 f, 248 Thukydides 266 Tiedemann, K. 44 Tietenberg, T. H. 119,122 Toepel, F. 41, 56-61 Traeger, L. 14 Tscherwinka, R. 44 Turner, S. P. 3 Van Cleve, J. 169 Vogel, J. 44, 46 Wagner, G. 35, 99, 102, 114 f, 125, 136, 139 Walter, G. 27-29 Weber, A. D. 129 Weber, M. 120, 235-237, 245 f, 252 Weber, N. 124
Personenverzeichnis Weidner, H. 113 Weigend, E. 81 Weiss, P. Α. 182 Wenzel, D. 45 Wenzel, Κ. H. 45 Westermann, H.-P. 33 Williamson, O. 110,127 Wilson, E. O. 172, 180 Wimsatt, W. C. 171, 182 f Wolf, R. 76 f Wolff, C. 212
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Wolff, Ε. Α. 57 Wolter, J. 79 Wright, G. Η. v. 150 Wright, R. W. 57 Xenophanes von Kolophon 274 Yamanaka, K. 61 f Zipf, H. 62, 80
Stichwortverzeichnis Adäquanztheorie 13-15, 18, 43 Äquivalenztheorie, Bedingungstheorie 10-15, 54 f, 60 f Alternativenausschluß 66-74 Anteilszweifel, Anteilshaftung 3234 Autarkieverlust 293 Automatismen 211-214 autonome historische Prozesse 191 beschleunigte Prozesse 265 Beweisrecht, Beweislastverteilung 23-36 passim, 62-69, 96 f bubbles 114, 116 f Chaos, deterministisches 175 common sense, Lebenserfahrung 24, 26, 74, 147, 291 conditio-sine-qua-non-Formel 13, 54 f, 59-61 Contergan-Verfahren 45, 67 f Denkstereotypien 206 Determinismus, sozialer 253 f Effekte, direkte/indirekte 252 Effekte, kumulative/synergetische 22 Eigendynamik 271, 277 Emergenz 165-192 passim Emergenz, deskriptive/ nomologische 179-181 Emergenz, explanatorische 181
Emergenz, ontologische/ epistemologische 185 enterprise liability 106 f Entschädigungsfonds 35, 78 Erfahrungsregeln 236-242 Erfolg/Mißerfolg 214, 234-236 Erklärung, deduktiv-nomologische 10, 12, 260 Erklärung, sozialwissenschaftliche 252 Erklärung, statistische 12, 23, 62, 255-258, 260 erlaubtes Risiko 42 f exponentielle Verläufe 238-240 Extrapolation 239 f Faktorenbaum 279 Fehler 210, 237-239 Gefährdungsdelikte 74, 78, 81-83 Gefährdungshaftung 53, 294 Gentechnik 12, 23, 29, 230 Gesamtschuldner 32 f, 128 f Gesetzmäßigkeit s. Regularität Giftigkeit 70 f Grenzen der Zurechnung (der Haftung) 105, 225, 229 Großschäden 1, 292-297 group-think 216 Haftung 9-36 passim, 289-292 s.a. Produkthaftung, Kollektivhaftung Handeln, kollektives 2, 95, 118, 125 s.a. Kollektivakteur
Stichwortverzeichnis Handeln, polytelisches 201 Handlungsfolgen, inkaufgenommene 228 f, 277 f Handlungsfolgen, intendierte/ nichtintendierte 228 f Handlungsfolgen, unvorhersehbare 229 f s.a. Ungewißheit Handlungsfreiheit 207 Handlungsspielraum, Entscheidungsspielraum 267, 269, 276 Handlungssubjekt 2, 277, 293, 297-300 höhere Gewalt 290 Holzschutzmittel-Verfahren 47-52, 70-74 Incrementalismus 297 Indikator 257 f Individualismus, methodologischer 98, 104 Individuum, großes 265 in dubio-Satz 64, 74, 80 Interventionstheorie der Kausalität 61, 158 Inus-Bedingung 56-59, 61 Ironie der Geschichte 269-271 Kausaladäquanz/Sinnadäquanz 252 f kausale Reichweite des Handelns 3, 227 f, 295 kausales Feld 57 f, 60 f Kausalität, alternative 32, 59 s.a. Alternativenausschluß Kausalität, generelle 63 f, 71 Kausalität, probabilistische (statistische) 66, 93, 96 s.a. Erklärung, statistische Kausalität, psychische 20 Kausalität, singuläre 148, 151 Kausalität nach unten, downward causation 176-178, 189-191 Kausalitätsbegriff, epidemiologischer 61 f Kausalitätsbegriff, juristischer 92, 96 Kausalitätsvermutung 23, 30 Kausalverlauf, atypischer 26, 65
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Kollektivakteur 101-105 s. Handeln, kollektives Kollektivhaftung 92-139 passim Kompositionsgesetz 168, 184, 187 f Kooperationspflicht, Organisationspflicht 118 f Korrelation 62, 81 Krise, historische 265 f Kumulationsdelikt 83 f Lederspray-Verfahren 45, 68-70 Lernen, Lernbarkeit 210, 240 f, 281 f Makrobedingungen 181 f Makrodetermination 175-181, 188192 market share liability, Marktanteilshaftung 33, 107109,111 f Mikrodetermination 172-175 Moralismus, Entmoralisierung 294, 297 f multivariate Analyse 250-253 naturale/kulturelle Prozesse 296, 300 Normalverlauf 156-160 Norm-Anreiz-Modell 119-122 Olson-Problem
126
Pharmaindustrie 132 Planen 211 f pollution share liability 114 Prävention 78 f, 103, 127 Produkthaftung, strafrechtliche 41-84 passim Prognose 152 f, 280-282 Protokoll, Protokollgedächtnis 202-204 Rahmenbedingungen 269 f, 297 Rasmussen-Leiter 212 f Rationalität 235 f, 241 f Regularität 148-158 Re-individualisierung der Haftung 127 f
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Stichwortverzeichnis
Relativitätsproblem, Relativismus 61, 159 f resultante Eigenschaften 183 f Rezept-Theorie der Kausalität 157 f Richtigkeitsrationalität 235 f Risikoerhöhung, Gefahrerhöhung 17, 66 f, 74 Risikomanagement, Fähigkeit zum 110-115 Risikopool 94 -136 passim Risikostrafrecht 78 f Risikotypen 75 f Ritualisierung 216 Rückmeldungsverzögerung 209 f Sachzwang, Systemzwang 275-277 Schmetterlingseffekt 99 Schuld, Schuldprinzip 76 f, 80, 276, 294, 298 Selbstkontrolle 218 f Selbstreflexion 199-221 passim Simulationsspiel 238, 240 statistische ex-post-facto-Analyse 249 Steuerung 5, 121 Strukturen 245 f, 254, 276 f Subjektlosigkeit von Prozessen 4, 299 f Superfund-Haftung 113, 135 symbolisches Strafrecht 78 Tendenz, Trend, Strömung 268 f Theorie des Entscheidungsfeldes 254-262 Toxikologie 71-73 Trichtereffekt 266 Trompeteneffekt 273 Tschernobyl 214, 238, 241 ultima ratio-Funktion des Strafrechts 80, 84 Umweltgenossenschaften 114 Ungewißheit 232-234
Unterlassen 19, 224, 231-233 Unvorhersehbarkeit 172-175, 187 f Ursache 60, 147, 149 f, 156-161 Ursache, kleine, und große Wirkung 278 Verantwortung 161, 200-202, 223230, 275, 294 Verantwortung (Haftung), individuelle 77, 93 f, 96-99, 268 s.a. Zurechnung, individuelle Verantwortung, kollektive s. Kollektivhaftung Verantwortungsethik 2 Verantwortungsgesinnung 298 Versicherbarkeit 75 f, 296 Versicherungswesen 136 f, 289 f, 292 f Vorrang der schlechten Prognose 232 Waldschäden, Waldsterben 76, 115 Wissenkönnen 229 f
23, 35,
Zeitknappheit 241 Zufälligkeit 154 f Zurechnung, handlungstheoretische 231 Zurechnung, individuelle 76, 104, 245, 293 s.a. Verantwortung, individuelle Zurechnung, kollektive s. Kollektivhaftung Zurechnung, moralische 231, 280, 294 f Zurechnung, symbolische 294 Zurechnungsentlastung 262 f Zurechnungsexpansion, Zurechenbarkeitsexpansion 223 f, 289-293 Zurechnungszusammenhang 18 Zuschreibung 61, 73-75, 161 Zwangskollektiv 102 f, 113