Kausalität und Teleologie bei G. W. Leibniz 3515113495, 9783515113496

Kausalität und Teleologie sind zentrale Begriffe in der Philosophie von G. W. Leibniz (1646 1716). Leibniz betont immer

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German Pages 417 [423] Year 2016

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
BEMERKUNGEN ZU DEN QUELLEN, ÜBERSETZUNGEN UND ZUR ZITIERWEISE
EINLEITUNG
1. KAUSALITÄT UND TELEOLOGIE ALS PHILOSOPHISCHER PROBLEMKOMPLEX
2. ZU AUFBAU UND ZIEL DIESER UNTERSUCHUNG
3. LEIBNIZ IN SEINER TRADITION
TEIL I: GRUNDLEGENDE PRINZIPIEN
1. DER SATZ VOM GRUND
2. GOTT WILL NICHTS OHNE GRUND – DEUS NIHIL VULT SINE RATIONE
3. DER GRUND DER DINGE
4. NOTWENDIGE UND HINREICHENDE GRÜNDE
TEIL II: THEORIE DER REQUISITA
1. REQUISITA
2. PRAEDICATUM INEST SUBJECTO – BEWEISBARKEIT UND WAHRHEIT
TEIL III: EINFACHE SUBSTANZEN
1. GRUNDPROBLEME DER SUBSTANZENLEHRE BEI LEIBNIZ
2. DIE THEORIE DER EINFACHEN SUBSTANZEN
3. DIE GRENZEN DER MONADENLEHRE
TEIL IV: KRAFT UND MATERIE
1. EINIGE GRUNDPROBLEME DER BEWEGUNGSLEHRE
2. DIE GRUNDBEGRIFFE DER DYNAMIK
3. DIE MATERIEBEGRIFFE
TEIL V: SUBSTANZEN UND IHRE KÖRPER
1. DIE KÖRPERLICHE SUBSTANZ
2. DAS PROBLEM DER EINHEIT
3. KÖRPER UND SEELE
4. SUBSTANZIELLE AKTIVITÄT ALS GRUND TRANSITIVER KAUSALITÄT
5. DIE LEHRE VON DEN ZWEI REICHEN
6. SCHLUSSBEMERKUNG
TEIL VI: LEIBNIZ’ THEORIE DER ORGANISMEN
1. DER ORGANISMUS: ZWISCHEN EMPIRIE UND METAPHYSIK
2. ORGANISMEN: VON MENSCHEN, TIEREN UND ANDEREN MASCHINEN
3. DIE ERKLÄRUNGSKAPAZITÄT VON LEIBNIZ’ ORGANISMUSBEGRIFF
TEIL VII: FREIHEIT IN DER MONADENLEHRE
1. EINFÜHRUNG IN DEN PROBLEMKONTEXT
2. ÜBERBLICK ÜBER DEN FREIHEITSBEGRIFF BEI LEIBNIZ
3. FREIHEIT UND DETERMINATION
4. APPETITUS RATIONALIS: DIE FREIHEIT DES MENSCHEN
5. SCHLUSSBEMERKUNG
BIBLIOGRAPHIE
PRIMÄRTEXTAUSGABEN VON LEIBNIZ UND ÜBERSETZUNGEN
SEKUNDÄRLITERATUR ZU LEIBNIZ
SONSTIGE LITERATUR
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Kausalität und Teleologie bei G. W. Leibniz
 3515113495, 9783515113496

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Ansgar Lyssy

Kausalität und Teleologie bei G. W. Leibniz Philosophie Franz Steiner Verlag

Studia Leibnitiana – Sonderhefte 48

Kausalität und Teleologie bei G. W. Leibniz

studia leibnitiana sonderhefte Im Auftrage der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft e.V. herausgegeben von Herbert Breger, Wenchao Li, Heinrich Schepers und Wilhelm Totok In Verbindung mit Michel Fichant, Emily Grosholz, Nicholas Jolley, Klaus Erich Kaehler, Eberhard Knobloch, Massimo Mugnai, Pauline Phemister, Hans Poser, Nicholas Rescher, André Robinet, Martin Schneider (†) und Catherine Wilson Band 48

Ansgar Lyssy

Kausalität und Teleologie bei G. W. Leibniz

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11349-6 (Print) ISBN 978-3-515-11351-9 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort.................................................................................................................... 9 Bemerkungen zu den Quellen, Übersetzungen und zur Zitierweise ..................... 11 EINLEITUNG....................................................................................................... 15 1. 2. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.

Kausalität und Teleologie als philosophischer Problemkomplex ............... 15 Zu Aufbau und Ziel dieser Untersuchung ................................................... 26 Leibniz in seiner Tradition .......................................................................... 34 Antike Grundlegungen ................................................................................ 35 Der Einfluss des Christentums: Die Welt als Schöpfung ............................ 51 Neuzeitliche Positionen: zwischen Materialismus und Moral .................... 55 Leibniz’ Philosophie: Eine einleitende Übersicht ....................................... 63

TEIL I: Grundlegende Prinzipien ......................................................................... 73 1. 1.1. 1.2. 1.3 2. 3. 3.1. 3.2. 4.

Der Satz vom Grund ................................................................................... 73 Der Satz vom Grund als zentrales Prinzip der Philosophie ........................ 73 Was bedeutet „ratio“?.................................................................................. 76 Die verschiedenen Sätze vom Grund .......................................................... 80 Gott will nichts ohne Grund – Deus nihil vult sine ratione ........................ 85 Der Grund der Dinge .................................................................................. 93 Ratio als Existenzgrund .............................................................................. 95 Ratio als Finalursache ............................................................................... 102 Notwendige und hinreichende Gründe ..................................................... 108

TEIL II: Theorie der requisita ............................................................................. 119 1. 1.1. 1.2 1.3. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4.

Requisita ................................................................................................... 119 Requisita als Teile ..................................................................................... 119 Requisita als Ursachen .............................................................................. 132 Requisita als Denk- und Beweisbedingungen........................................... 147 Praedicatum inest subjecto – Beweisbarkeit und Wahrheit...................... 152 Requisita als einfache Begriffe ................................................................. 152 Analytische Wahrheit ................................................................................ 156 Vollständige Begriffe ................................................................................ 159 Rationale Prinzipien des Weltgeschehens ................................................. 165

6

Inhaltsverzeichnis

TEIL III: Einfache Substanzen ........................................................................... 171 1. 1.1. 1.2. 2. 2.1. 2.2 2.3 2.4. 3.

Grundprobleme der Substanzenlehre bei Leibniz ..................................... 171 Phänomenalismus und Theorie der körperlichen Substanzen................... 172 Phänomenale und metaphysische Beschreibung ...................................... 182 Die Theorie der einfachen Substanzen...................................................... 188 Einfache Substanzen und die Repräsentation der Welt ............................. 188 Die Phänomenalität der Körper ................................................................ 202 Einfache Substanzen und ihre Körper....................................................... 210 Die prästabilierte Harmonie der Substanzen............................................. 217 Die Grenzen der Monadenlehre ................................................................ 225

TEIL IV: Kraft und Materie ................................................................................ 233 1. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3. 4.

Einige Grundprobleme der Bewegungslehre ............................................ 233 Die Grundbegriffe der Dynamik ............................................................... 239 Conatus und Impetus, lebendige und tote Kraft........................................ 240 Die ursprüngliche Kraft (vis primitiva)..................................................... 254 Die abgeleitete Kraft (vis derivativa) ........................................................ 258 Der Appetitus als Grund aller Kräfte ........................................................ 265 Die Materiebegriffe ................................................................................... 270 Die Erstmaterie (materia prima)............................................................... 271 Die zweite Materie (materia secunda) ...................................................... 273 Materie und Form ..................................................................................... 275 Die individuelle Substanz als Grund aller Materie ................................... 282

TEIL V. Substanzen und ihre Körper .................................................................. 285 1. 2. 2.1. 2.2. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 4. 5. 6.

Die körperliche Substanz .......................................................................... 285 Das Problem der Einheit ........................................................................... 296 Die Entelechie ........................................................................................... 297 Die Mereologie der körperlichen Substanz............................................... 300 Körper und Seele....................................................................................... 311 Das substanzielle Band ............................................................................. 311 Dominanz durch Perfektion ...................................................................... 314 Die prästabilierte Harmonie von Seele und Körper .................................. 318 Substanzielle Aktivität als Grund transitiver Kausalität ........................... 323 Die Lehre von den zwei Reichen .............................................................. 326 Schlussbemerkung .................................................................................... 332

TEIL VI: Leibniz’ Theorie der Organismen........................................................ 335 1. 2. 2.1.

Der Organismus: Zwischen Empirie und Metaphysik .............................. 335 Organismen: Von Menschen, Tieren und anderen Maschinen .................. 342 Die Aktivität des organischen Körpers ..................................................... 348

Inhaltsverzeichnis

2.2. 2.3. 2.4. 3.

7

Die Substanzialität des Organismus.......................................................... 354 Die unendliche Strukturiertheit des Organismus ...................................... 361 Das Streben nach Perfektion ..................................................................... 366 Die Erklärungskapazität von Leibniz’ Organismusbegriff ....................... 372

TEIL VII. Freiheit in der Monadenlehre ............................................................. 375 1. 2. 3. 4. 5.

Einführung in den Problemkontext ........................................................... 375 Überblick über den Freiheitsbegriff bei Leibniz ....................................... 381 Freiheit und Determination ....................................................................... 386 Appetitus rationalis: Die Freiheit des Menschen ...................................... 395 Schlussbemerkung .................................................................................... 405

Bibliographie....................................................................................................... 409 Primärtextausgaben von Leibniz und Übersetzungen......................................... 409 Sekundärliteratur zu Leibniz ............................................................................... 410 Sonstige Literatur ................................................................................................ 416

VORWORT Das vorliegende Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Juni 2011 von der Fakultät für Geistes- und Bildungswissenschaften an der TU Berlin angenommen wurde. Die Entstehung der Arbeit wurde durch eine Reihe von Personen und Institutionen unterstützt, denen ich hier meinen aufrichtigen Dank aussprechen möchte. Ich bedanke mich herzlich bei meinem Doktorvater, Prof. em. Hans Poser für seine umfassende und geduldige Unterstützung, für philosophische Anregungen und Diskussionen und dafür, dass er mir mehrfach die Gelegenheit gegeben hat, meine Idee anderen Leibniz-Forschern vorzustellen. Ebenso bedanke ich mich bei Prof. Thomas Gil und Prof. Wenchao Li für die beiden Zweitgutachten. Dank gebührt auch Prof. Günter Abel, Prof. Christoph Asmuth, Prof. Hubertus Busche, Prof. François Duchesneau, Prof. Christian Leduc und Prof. Günter Zöller, die meine bisherige akademische Karriere gefördert haben und von denen ich viel gelernt habe. Bei Anna Maria Bartsch, M.A., Mag.-Phil. Michael Huber und Dr. Katerina Mihaylova bedanke ich mich für ihre Korrekturvorschläge und Hilfe bei der Durchsicht des Manuskripts. Ich bedanke mich bei der Berliner Graduiertenförderung (NaFöG), die mir ein Promotionsstipendium gewährt hat, und bei der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften, die den Druck dieser Arbeit durch einen Druckkostenzuschuss unterstützt hat. Ich möchte mich auch beim Franz Steiner Verlag und bei Prof. Herbert Breger für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Studia Leibnitiana Sonderhefte bedanken. Besonderer Dank gebührt auch meiner Frau und meiner Tochter, die mir viel Kraft und Freude schenken; und natürlich meinen Eltern, die mich immer vorbehaltlos unterstützt haben. Ihnen sei dieses Buch gewidmet.

BEMERKUNGEN ZU DEN QUELLEN, ÜBERSETZUNGEN UND ZUR ZITIERWEISE Die Übersetzungen der Originaltexte lehnen sich wenn möglich an die zahlreichen gängigen Übersetzungen der Schriften von Leibniz ins Deutsche an. Besonders hervorzuheben sind dabei die Übersetzungen von Hubertus Busche1, Ernst Cassirer2, Hans Günter Dosch, Glenn W. Most und Enno Rudolph3, Wolf von Engelhardt4, Reinhard Finster5, Herbert Herring6, Hans Heinz Holz7, Otto Saame8, Werner Wiater9 und Cornelius Zehetner10. Gelegentlich wurden die übernommenen Übersetzungen abgeändert und auf die hier verwendete Terminologie hin vereinheitlicht11. So wurde etwa „requisitum“ in verschiedenen Übersetzungen als „Merkmal“, „Erfordernis“, „Einzel-“ oder „Vorbedingung“ übersetzt, hier aber bleibt es als lateinischer terminus technicus stehen und wird als solcher lediglich kursiviert, ähnlich auch in vielen Fällen das Wort ratio12. Ältere Übersetzungen und andere Texte wurden zudem auf die neue Rechtschreibung (Stand 2006) hin vereinheitlicht, um unterschiedliche Schreibweisen desselben Wortes zu vermeiden; Leibniz’ deutsche Schriften wurden selbstverständlich nicht in die moderne Rechtschreibung transponiert. Zur Zitierweise: Leibniz’ Texte werden ohne Autorenangabe zitiert. Zudem verwendet die vorliegende Untersuchung folgende Siglen, die für viele LeibnizInterpretationen mittlerweile gängig sind:

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Frühe Schriften zum Naturrecht, hrsg. von Hubertus Busche, Hamburg 2003. Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, hrsg. von Ernst Cassirer, Leipzig 1903. Neudruck Hamburg 1996. Specimen Dynamicum, hrsg. von Günter Dosch / Glenn W. Most / Enno Rudolph, Hamburg 1982. Schöpferische Vernunft. Schriften aus den Jahren 1668–1686, hrsg. von Wolf von Engelhardt, Münster 21955. Der Briefwechsel mit Antoine Arnauld, hrsg. von Reinhard Finster, Hamburg 1997. Schriften zur Logik und zur philosophischen Grundlegung von Mathematik und Naturwissenschaft, hrsg. von Herbert Herring, Frankfurt a. M. 1996. Kleine Schriften zur Metaphysik, hrsg. von Hans Heinz Holz, Frankfurt a. M. 1996. Confessio Philosophi, hrsg. von Otto Saame, Frankfurt a. M. 1967. Philosophische Schriften 5.2: Briefe von besonderem philosophischen Interesse, hrsg. von Werner Wiater, Frankfurt a. M. 1990. Der Briefwechsel mit Bartholomäus Des Bosses, hrsg. von Cornelius Zehetner, Hamburg 2007. Die Übersetzer der Werke von Aristoteles, Platon, Descartes und Hobbes werden in der Bibliographie angegeben. Die Termini „Conatus“, „Impetus“ und „Appetitus“ werden dagegen als eingedeutscht betrachtet und sind in der Leibnizforschung etabliert. Sie werden hier nicht kursiv gesetzt, da die of verwendeten Übersetzungen wie „Neigung“, „Streben“ etc. zumeist missverständlich sind.

12

Bemerkungen zu den Quellen, Übersetzungen und zur Zitierweise

CD: DM: Mo: NE: PNG: SD: SN: TD: TMA: TMC:

Causa Dei, Discours de Métaphysique, Monadologie, Nouveaux Essais, Principes de la Nature et de la Grace, Specimen Dynamicum, Système Nouveau, Théodicée, Theoria Motus Abstracti, Theoria Motus Concreti.

Insgesamt werden folgende Ausgaben herangezogen, die ebenfalls mit Siglen abgekürzt werden: Sämtliche Schriften und Briefe, Reihe I–VII, hrsg. von der KöniglichPreußischen (später: Deutschen) Akademie der Wissenschaften zu Berlin; jetzt Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Darmstadt, später Leipzig, zuletzt Berlin 1923 ff. Zitiert nach Reihe, Band, Seite13. BLW: Briefwechsel zwischen Leibniz und Christian Wolff, hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt, Halle 1860, Nachdruck Hildesheim 1963. LH: Die Leibnizhandschriften der Königlichen öffentlichen Bibliothek zu Hannover, hrsg. von Eduard Bodemann, Hannover 1895, Nachdruck Hildesheim 1966. C: Opuscules et fragments inédits de Leibniz, hrsg. von Louis Couturat, Paris 1903. Carvallo: La controverse entre Stahl et Leibniz, hrsg. von Sarah Carvallo, Paris 2004. Erdmann: God. Guil. Leibnitii opera philosophica, hrsg. von Johann Eduard Erdmann, Berlin 1840. FC: Lettres et opuscules inédits de Leibniz, 2 Bände, hrsg. von Louis A. Foucher de Careil, Paris 1854; Nachdruck Hildesheim 1975. Finster: Der Briefwechsel mit Antoine Arnauld, hrsg. von Reinhard Finster, Hamburg 1997. GP: Die philosophischen Schriften, 7 Bände, hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt, Berlin 1875–90, Nachdruck Hildesheim 1960–61. GM: Mathematische Schriften, 7 Bände, hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt, Halle 1855–63, Nachdruck Hildesheim 1962. Grua: Textes inédits d’après les manuscripts de la Bibliothèque provinciale de Hanovre, 2 Bände, hrsg. von Gaston Grua, Paris 1948. Smith: The Body-Machine in Leibniz’s Early Physiological and Medical Writings: A Selection of Texts with Commentary, hrsg. von Justin E. Smith, in: The Leibniz Review 17 (2007), 141–179. A:

13

Hochgestellte Ziffern bedeuten dabei die Neuauflage eines Bandes, etwa: A II, 1 (2. Auflage)…

Bemerkungen zu den Quellen, Übersetzungen und zur Zitierweise

13

Alle Arten der Hervorhebung, die bei Leibniz verwendet werden, wie etwa der Wechsel der Schrifttype, Sperrung, Kapitale etc., wurden hier auf Kursivierung reduziert. Zitiert wird nach Band, ggf. Teilband, Seite. Sekundärliteratur wird in jedem Teil dieser Untersuchung zuerst als volle Quellenangabe genannt, im weiteren Verlauf dann als Kurztitel.

EINLEITUNG There is no question, which on account of its importance, as well as difficulty, has caus’d more disputes both among ancient and modern philosophers, than this concerning the efficacy of cause, or that quality, which makes them, be followed by their effects. David Hume1

1. KAUSALITÄT UND TELEOLOGIE ALS PHILOSOPHISCHER PROBLEMKOMPLEX Im Alltag wirft der Begriff der Kausalität wenig Probleme für unser Denken auf und ist intuitiv zugänglich. Zwar wissen wir nicht immer mit Sicherheit, was die Ursache eines Ereignisses ist oder wie wir sie identifizieren können, aber wir können in fast allen Fällen plausible Kandidaten benennen, die mit den Mitteln der Wissenschaft erforscht und früher oder später als die tatsächliche Ursache ausgewiesen werden können. Ebenso sprechen wir auf eine Weise von Zielen und Absichten, die im Normalfall unproblematisch ist. Trotz der umfassenden philosophischen Debatte um die menschliche Willensfreiheit im Angesicht allumfassender Kausaldetermination, scheint dieses Konzept für unser alltägliches Selbstverständnis kein Problem darzustellen – wir begreifen uns in allen reflektierten Handlungen als zwecksetzende Wesen und treffen jeden Tag zahllose Entscheidungen, die ohne dieses Selbstverständnis undenkbar sind. Die Begriffe der Kausalität und der Teleologie sind sowohl für unser alltägliches als auch für das technische und das wissenschaftliche Denken notwendig und von zentraler Bedeutung, denn das Wissen um Kausalzusammenhänge erlaubt es uns nicht nur, physisches Geschehen zu erklären, sondern auch in dieses manipulierend einzugreifen. Wir müssen bei Artefakten ihren Zweck kennen, um sie angemessen verwenden zu können. Die meisten unserer Handlungen hängen direkt oder indirekt von der Art und Weise ab, wie wir das natürliche oder menschliche Geschehen verstehen. Das Wissen um Ursachen und Gründe hilft uns, vergangene Ereignisse zu erklären und zukünftige vorherzusagen und unsere Handlungen daraufhin auszurichten, freilich unter Voraussetzung einer ubiquitären Naturgesetzlichkeit. Finalerklärungen sind allerdings im wissenschaftlichen und philosophischen Kontext in ihrer Geltung umstritten, weil nur schwer ersichtlich ist, wie sie mit dem 1

Hume, David: Treatise of Human Nature, hrsg. von Lewis Amherst Selby-Bigge, Oxford 1896, 156. Im Folgenden abgekürzt als SB.

16

Einleitung

atomistisch geprägten Weltbild unserer Zeit kompatibel sein können. Aufgrund ihrer metaphysischen Voraussetzungen und Implikationen werden Finalerklärungen heute meist nur noch im Bereich menschlicher Handlungen oder in religiöser Perspektive akzeptiert. Dies wird leicht durch unsere Alltagspraxis verschleiert, weil sich in ihr kausales und teleologisches Denken nicht unbedingt konträr gegenüberstehen, sondern auch komplementär aufeinander bezogen werden: Wenn etwa eine Maschine ausfällt, dann müssen wir die Ursache des Defektes kennen, um die Zweckmäßigkeit der Maschine wieder herzustellen, d. i. diese zu reparieren. Bevor wir eine Krankheit angemessen diagnostizieren können, müssen wir die Funktionsweise unseres Körpers kennen, denn erst dann können wir beispielsweise ein gesundes Organ von einem schädlichen Tumor oder einer Missbildung unterscheiden. Im Alltag hängen die Möglichkeiten jeder Zwecksetzung oft von unserer Kenntnis der kausalen Prozesse ab, nach denen das anvisierte Geschehen ablaufen soll, etwa wenn wir die Natur intentional manipulieren oder unser Verhalten an die Natur anpassen wollen. Da der Zweck per se noch nicht realisiert ist, setzen Finalerklärungen voraus, dass sich das zu erklärende Objekt oder der zu erklärende Prozess auf etwas bezieht, dem nur ideelle oder virtuelle Geltung zugeschrieben werden kann. Dies ist besonders für die Naturwissenschaften problematisch, auch wenn dies in unserem Alltag oft unproblematisch und sogar notwendig ist. Insgesamt hängt unsere menschliche Lebensform in entscheidendem Maße davon ab, dass wir sowohl Kausal- wie Finalbegriffe zu Erklärung und Vorhersage unserer Umwelt und des menschlichen Verhaltens heranziehen. Dennoch erweisen sich sowohl der Kausalitätsbegriff als auch der Teleologiebegriff auf theoretisierende Nachfrage hin als komplizierter, als es in unserer Alltagspraxis den Anschein hat. In der Philosophie eröffnet sich ein kaum mehr überschaubarer Fragenkomplex: Nach welchen Kriterien kann ein Geschehen als monokausal verstanden werden oder ist jedes Ereignis immer durch mehrere Ursachen bedingt? Gibt es basale, unzergliederbare Kausalrelationen, aus denen sich komplexere Relationen zusammensetzen? Wie können die Kriterien gerechtfertigt werden, mit denen wir überhaupt einzelne Ereignisse als Ursache oder Wirkung individuieren? Welche Rolle spielen Dispositionen oder kontrafaktische Beschreibungen für Kausalerklärungen? Wie verhalten sich ermöglichende Bedingungen und realisierende Ursachen zueinander? Hängen Kausalzusammenhänge rein von der menschlichen Perspektive ab oder kommt ihnen eine objektive Notwendigkeit zu? In welchem Verhältnis stehen kausal wirksame Kräfte zu den Ereignissen, in denen sich diese Kräfte manifestiert bemerkbar machen? In welchem Verhältnis steht die kausale Determiniertheit der Welt zu der Freiheit, die wir uns selbst zuschreiben? Dabei ist die Frage, ob die Kausalrelation als notwendig oder kontingent zu verstehen ist, von besonderer historischer und systematischer Bedeutung. Prominent ist hierbei David Humes Theorie, dass alle Kausalrelationen nur Beobachtungen nach menschlicher Gewohnheit und Praxis sind, dass sie also kontingent sind. Dagegen wurde eingewandt, dass dies in einen radikalen Außenweltskeptizismus führt oder dass der Kausalbegriff entweder lieber gleich verworfen oder umfassend ausdifferenziert werden müsste. Kant hat mit seiner Deduktion der Kategorien ei-

Kausalität und Teleologie als philosophischer Problemkomplex

17

nen direkt gegen Hume gerichteten Ansatz geliefert, die Kausalrelation wieder im Rahmen einer kritischen Erforschung der Natur der Vernunft selbst zu begründen. Trotz der metaphysischen Implikationen hat sich der Begriff der Wirkursache im naturwissenschaftlichen Denken ebenso fest etabliert wie die weniger voraussetzungsreichen Begriffe der Funktionalität und der Zweckmäßigkeit. Diese Differenz wird dann besonders deutlich, wenn wir über biologische Funktionen nachdenken, Artefakte benutzen oder menschliche Handlungen beschreiben. Hier sind funktionalistische und Finalerklärungen oftmals angebrachter als Kausalerklärungen. Dennoch sind die modernen Naturwissenschaften zumeist am Vorbild der Physik orientiert, die auf teleologische Begrifflichkeiten verzichtet. Diese gehören deshalb mittlerweile fast nur noch der Alltagspsychologie (im Sinne einer folk psychology), der Psychologie und den Biowissenschaften an und werden auch dort oft abgelehnt. Kausale Erklärungen passen in vielerlei Hinsicht besser in unser atomistisch geprägtes Weltbild: Heute würde man die Aussage, dass eine Pflanze von sich aus zum Licht strebt wohl eher als metaphorisch verstehen und dies als einen komplexen Prozess von Reizen und Reaktionen verstehen. Selbst die Verwendung funktionaler Begriffe in den Biowissenschaften kann angezweifelt werden und gelegentlich spricht man stattdessen von Teleonomie, also von Prozessen, die den teleologischen Prozessen analog betrachtet werden können, streng genommen aber kausal zu verstehen sind. Dagegen spricht, dass Zwecke stets nur so verstanden werden können, dass sie auf ein Ziel oder ein Gut hin ausgerichtet sind, das nicht im Rahmen rein kausaler Begrifflichkeiten als ein solches verstanden werden kann. Doch es ist umstritten, inwieweit dies für echte intentionale Systeme gilt: Wenn wir sagen, dass Peter seine Tasche nimmt, um damit einkaufen zu gehen, ist dies dann mit der Beschreibung gleichzusetzen, dass bestimmte neuronale Ereignisse ursächlich bewirken, dass Peter nach der Tasche greift? In der philosophischen Reflexion spielt das Denken von Kausalität und Teleologie jedoch eine besondere Rolle und wirft zahlreiche Probleme auf, die zu einer Fragmentierung des Problemfeldes führen: Der Begriff der Kausalität spielt nicht nur eine bedeutende Rolle in der Begründung der Naturwissenschaften und der Unterscheidung der verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen2, sondern u. a. auch im Spezialfall der „mentalen Verursachung“ in der Debatte um Willensfreiheit und Determinismus. Skeptische Angriffe gegen den Kausalitätsbegriff haben eine lange Tradition und richten sich oft auf die Begründung des Kausalurteils im Subjekt und sind deshalb zumeist, wie etwa bei David Hume, Immanuel Kant oder Bertrand Russell, gegen Theorien gerichtet, die der Wahrheit einer Erklärung metaphysische, d. i. transsubjektive Gültigkeit zusprechen wollen3. Auch von Seiten der 2

3

Es wird im Laufe der Untersuchung detaillierter herausgearbeitet, inwieweit bei Leibniz die Biologie, ausgehend vom Organismusbegriff, auf andere Kausalitätsformen zurückgreift als die Physik, deren zentraler klassischer Begriff der des Mechanismus war. Immerhin hat Leibniz’ Theorie des Organismus eine bedeutende Rolle gespielt in der Herausbildung der Biologie als eigener Wissenschaft. Hume: Treatise of Human Nature, a. a. O.; Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Königsberg 1781 u. ö.; Russell, Bertrand: „On the Notion of Cause“, in: Proceedings of the Aristotelian Society 13 (1913), 1–26.

18

Einleitung

Naturwissenschaft ist der philosophische Kausalbegriff angegriffen worden, da vor allem die Quantenphysik die Philosophie vor große Probleme gestellt hat, bislang geltende Vorstellungen über Naturgesetzlichkeiten, die in Bezug auf den Mesokosmos, dem Bereich der mittelgroßen Dinge, entwickelt wurden, auf den Mikrokosmos zu übertragen. So ist es keine unrealistische Annahme, dass die gegenwärtige Philosophie der Kausalität in ebenso viele Positionen zerfällt, wie sich Denker mit ihr beschäftigen. Dabei sollte der Kausalitätsbegriff gar nicht für sich isoliert diskutiert und verworfen werden, schließlich steht er in einem systematischen Zusammenhang mit der Konzeption der Materialität der Dinge, dem Verhältnis von Werden und Beharren, von Einheit und Vielheit, sowie dem Grund von Wirklichkeit und Erscheinung. Es scheint schwerlich möglich zu sein, den Ursachenbegriff oder den des Kausalzusammenhanges aus einem umfassenden begrifflichen und theoretischen Kontext zu lösen, in dem ontologische, naturphilosophische und modallogische Überlegungen zum Tragen kommen. Der Ursachenbegriff und die allgemeine Modellierung von Kausalzusammenhängen ist in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften anders auszuarbeiten als in der Biologie oder der Quantenphysik. Es ist dabei unklar, ob es überhaupt eine gemeinsame Grundlage für alle einzelnen Kausalverhältnisse gibt oder ob es sich hier nicht vielmehr um ‚Familienähnlichkeiten‘ in einem umfassenderen Begriffszusammenhang handelt. Allein dem Begriff nach kann man verschiedene Formen der Kausalität unterscheiden4. Als Erstes seien externe und interne Ursachen genannt: Eine externe Ursache bewirkt ein Geschehen, an dem sie selbst unbeteiligt ist, so wie ein Uhrmacher eine Uhr aufzieht oder wie ein Stein in einen See geworfen wird und dort zahlreiche Wellen verursacht. Eine interne Ursache ist dagegen ein Teil des Geschehens, etwa wenn ein Organismus durch das Zusammenwirken seiner Teile, durch zweckmäßiges Reagieren auf die Umwelt und durch Anpassungsprozesse überlebt, sich fortbewegt, ernährt und weiterentwickelt. Diese Ausdifferenzierung betrifft Kausalität und Teleologie gleichermaßen. Die Struktur der Abfolge bestimmter Ursachen entspricht einer Gesetzmäßigkeit, die von uns induktiv erschlossen wird, die für Vorhersagen und Erklärungen von zentraler Bedeutung ist und deren Verständnis als Leitfaden für die Identifikation einzelner Ereignisse als Ursachen dient. Deshalb sollte analog zwischen immanenter und auferlegter Gesetzmäßigkeit unterschieden werden5: Eine auferlegte Gesetzmäßigkeit geht auf einen externen Souverän zurück, im Falle der Naturgesetze etwa in der christlichen Metaphysik auf Gott, im Falle der juristischen Gesetze auf einen Gesetzgeber. Eine immanente Gesetzmäßigkeit dagegen folgt aus dem Wesen der Dinge, über die sie herrscht, etwa wenn Kant von der Selbstgesetz-

4

5

Siehe für eine nähere Darstellung dieser mittlerweile klassischen Unterscheidungen bspw. von Brandenstein, Béla / Schöpf, Alfred: Art. „Kausalität“, in: Handbuch philosophischer Begriffe, Band II, hrsg. von Hermann Krings / Hans Michael Baumgartner / Christoph Wild, München 1973, 779–798. Diese Unterscheidung geht auf Alfred N. Whitehead zurück, vgl. dazu Hampe, Michael: Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs, Frankfurt a. M. 2007, 71 ff.

Kausalität und Teleologie als philosophischer Problemkomplex

19

gebung der Vernunft spricht. Diesen zwei Arten der Gesetzmäßigkeit entspricht das Wortpaar Heteronomie und Autonomie6. Schließlich ist es sinnvoll, transitive Ursachen (in der Literatur manchmal auch transiente oder transeunte Ursachen genannt) von immanenten zu unterscheiden. Eine transitive Ursache geht vollständig in ihrer Wirkung auf, so wie etwa die Bewegungsenergie einer Billardkugel im Stoß mit einer anderen vollständig übertragen wird. Eine immanente Ursache vergeht nicht mit ihrer Wirkung, sondern besteht in den Dingen weiter. So konnte man vor dem Aufkommen der Thermodynamik ein Feuer als eine solche immanente Ursache verstehen, das Wärme abgibt, ohne deswegen an Wärme zu verlieren. Ähnlich kann man von transzendenten Ursachen sprechen, die „hinter“ den Dingen stehen und auf sie wirken, ohne in ihnen aufzugehen, so wie im platonischen Weltbild der Körper durch die in ihm gefangene Seele bewegt wird, ohne dass diese sich darin in irgend einer Weise vermindert. Auch hier lassen sich, wenn auch weniger üblich, entsprechende Gesetzmäßigkeiten formulieren: Mechanik, Dynamik und Bewegungslehre sind im Kontext der Leibnizschen Philosophie die Theorien der Gesetzmäßigkeiten transitiver Ursachen; die monadische Weltkonstitution ist als immanente Ursächlichkeit zu verstehen und unterliegt dem Prinzip des Besten. Grob gesagt stehen zwei verschiedene Traditionen einander gegenüber: Während im Anschluss an David Humes Ansatzes Kausalität als Verknüpfung zweier Ereignisse gilt, so ist Kausalität in der aristotelischen Tradition, zu der auch Leibniz gehört, eher auf Existenz und Beschaffenheit von Dingen bezogen. Dies liegt auch in der Ablehnung der Formursachen und in der Konzentration auf transitive Kausalität begründet, die mit der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft einhergeht. Seit dem 18. Jahrhundert wird oft stillschweigend vorausgesetzt, dass Kausalbehauptungen, die Dinge oder Prädikate als Ursache beschreiben, in Aussagen über Ereignisse überführt werden können oder äquivalent sind. Diese Voraussetzung ist symptomatisch für das Verlassen der aristotelischen Tradition. Diese kann auch nicht-temporale Kausalbeziehungen zwischen ontologischen Ebenen denken, etwa wenn auf Materialursachen rekurriert wird. Zudem sieht sich die aristotelische Tradition nicht gezwungen, jeder Kausalbehauptung eine Naturgesetzlichkeit zugrunde zulegen, sondern kann eine viel ‚individuellere‘, d. h. ungesetzliche Verursachung durch substanzielle Formen annehmen. Letzteres ist der Grund für die Tatsache, warum das Problem eines Konfliktes der Freiheit des Willens in einer physikalisch determinierten Welt erst mit dem modernen Weltbild entstehen konnte. Heute sind bekanntlich vor allem Formen externer und transitiver Verursachung von Interesse, während transzendente und immanente Ursachen sowohl aus der philosophischen Debatte um Kausalität als auch aus dem Arsenal an naturwissenschaftlichen Begrifflichkeiten fast völlig verschwunden sind. Humes berühmter Einwand, Kausalität sei keine echte Verknüpfung zweier Ereignisse (connexion), sondern ein bloß vom Beobachter hergestellter Zusammenhang (conjunction), hat maßgebliche Wirkung gezeigt, so dass sich das moderne Denken oft auf statistische 6

Neben diesen beiden kennt Whitehead noch das Verständnis des Gesetzes als beobachtete Abfolgeordnung und die des Gesetzes als bloß konventionelle Interpretation des Geschehens.

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Einleitung

Relationen zwischen Ereignissen stützen kann. Dagegen wurden zu anderen Zeiten alternative Kausalitätskonzepte diskutiert, etwa neoplatonistische Theorien der Immanenz, die nicht nur für die Naturphilosophie zentral waren, sondern auch für Theologie, Erkenntnistheorie und die philosophische Seelenlehre, die man heute als Philosophy of mind bezeichnet. In grober historischer Vereinfachung kann man festhalten, dass die frühneuzeitliche Debatte um den Kausalitätsbegriff zu drei geistesgeschichtlich bedeutsamen Veränderungen geführt hat: Erstens hat sie die Grundlagen der heutigen Naturwissenschaft entscheidend mitbestimmt. Zweitens war sie zentral für das Selbstverständnis eines neuen atomistisch-materialistisch geprägten Weltbildes gegenüber der scholastischen Theologie und dem Aristotelismus. Drittens geht mit ihr die Aufstellung der ontologischen Grundpositionen der Metaphysik einher, neben denen es auch heute kaum noch Alternativen zu geben scheint: Monismus, Dualismus, Atomismus, Dynamismus bzw. Vitalismus, Monadenlehre. Solche ontologischen Grundpositionen sind auch durch entsprechend unterschiedliche Kausalitätsbegriffe bedingt und gehen mit jeweils unterschiedlichen philosophischen Problemen einher. Der Monismus scheint zwar relativ problemlos einen allgemeinen Kausalnexus postulieren zu können, allerdings zu dem Preis der Aufhebung echter Individualität und, wie etwa bei Spinoza, einer fehlenden Differenz von Welt, Schöpfer und Geschöpf. Der Dualismus ist dafür allgemein bekannt für das Problem einer unerklärbaren Wechselwirkung zwischen den beiden Substanzen des Geistigen und des Körperlichen bzw. Ausgedehnten. Der Atomismus denkt die Welt von ihrer Kontingenz her und scheint jede Art der Notwendigkeit unmöglich zu machen. Der Dynamismus postuliert die Existenz von Kräften als ontologisch grundlegende Entitäten, die im Vitalismus als lebendige Kräfte gedacht werden. Wenn er dabei aber nicht ein für ihn rätselhaftes Zusammenspiel von veränderlichen Kräften und unveränderlichen Substanzen annimmt, dann liegt es nahe, dass er sich dem Konzept einer objektiven Realität verschließt, was etwa in Nietzsches Perspektivismus mündet und den Grundstein für die moderne Prozessontologie bildet. Die Monadenlehre wiederum erfordert einen starkes metaphysisches Fundament und die in ihr zentrale Idee einer allumfassenden Beseeltheit der Materie ist dem modernen Denken fremd. Bei Leibniz wird der Kausalitätsbegriff auch mit Blick auf ethische und theologische Fragen konzipiert und in ein philosophisches System eingepasst, in dem nicht alle Konzepte, Theorieelemente und Postulate diskutabel sind, sondern am Besten als Theologumena zu verstehen sind. Ein jeder Versuch einer historischen Rekonstruktion frühneuzeitlicher Kausalitätstheorien wird also mit bestimmten Problemen konfrontiert, die in der zeitgenössischen Debatte so nicht auftreten. So bemerkt etwa Tad Schmaltz, dass der Kausalitätsbegriff zwar in den philosophischen Systemen frühneuzeitlicher Denker und für die Entstehung der modernen Naturwissenschaft eine fundamentale Rolle spielt, aber nur selten explizit zum Gegenstand der philosophischen Debatte gemacht wurde7. Ein anderes Problem liegt in der noch unzureichend erforschten Verankerung der neuzeitlichen Philosophie in der Scholastik, die vor allem in den 7

Schmaltz, Tad: Descartes on Causation, Oxford 2008, 3.

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letzten Jahren zum Gegenstand intensivierten Forschens gemacht wurde: Die lang gehegte Annahme, dass mit Galilei und Descartes radikal neue Ansätze des Denkens und Forschens begonnen hätten, hat den massiven Einfluss scholastischen Denkens verunklart8. Das Werk Leibnizens, dessen Kausalitäts- und Teleologiebegriff in dieser Untersuchung erarbeitet werden soll, bringt ebenfalls bestimmte interpretative Probleme mit sich. So gehen etwa die Meinungen der Leibniz-Interpreten auseinander, was die eigentlichen für die Ausbildung seines Systems ausschlaggebenden Kernprobleme seiner Philosophie sind. So betonen manche Autoren die Grundlegung des Wissens in Logik und Metaphysik9; manche sehen die Begründung der Dynamik als Leibniz’ Hauptabsicht, zugunsten derer das System entworfen wurde10. Andere halten wiederum das Projekt der Theodizee und den entsprechenden Gottesbegriff11 für grundlegend, die Philosophie des Geistes,12 oder die Versöhnung des Christentums mit den Herausforderungen des Naturalismus13. Diese Unklarheit ist auch dem Versuch geschuldet, nachträglich eine Systematik in das Leibnizsche Schaffen hineinzudenken. Wenn man stattdessen die Genese und Entwicklung seiner Ideen betrachtet, so scheint es schwierig, einem dieser Interpretationsansätze den Vorrang zu geben, weil „entscheidende Leibnizsche Schritte zeitlich parallel erfolgten. Vielmehr wird man sagen müssen, dass alle Themenkomplexe, einander wechselseitig stützend und vorantreibend, von Leibniz gleichzeitig bearbeitet wurden. Er besaß die Eigenschaft, Anregungen der entlegensten Bereiche aufeinander zu beziehen und zu synthetisieren. Da überdies keiner der Ansätze je für sich ausreicht, die Monadenlehre insgesamt zu begründen, stellt sich allein die Frage nach dem geeignetsten Zugang.“14

Dementsprechend ist es notwendig, für jede Darstellung oder Untersuchung der leibnizschen Philosophie eine konkrete Fragestellung zu entwickeln und in jeder systematisch ausgerichteten Rekonstruktion den Aspekt der zeitlichen Genese des 8

9 10

11 12 13

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Die Arbeiten von Anneliese Maier und Pierre Duhem sind Meilensteine für die Erforschung dieser Kontinuität zwischen Scholastik und Neuzeit, welches in der jüngeren Vergangenheit wieder verstärkt in die Aufmerksamkeit der Forscher geraten ist. Erwähnenswert sei dabei auch die Debatte zwischen Hans Blumenberg und Karl Löwith über die Kontinuität neuzeitlicher und mittelalterlicher Philosophie. Z. B. Martin, Gottfried: Leibniz. Logik und Metaphysik, Köln 1960. Siehe Costabel, Pierre: Leibniz et la dynamique, Paris 1960; Dillmann, Eduard: Eine neue Darstellung der Leibnizischen Monadenlehre, Leipzig 1891; Gueroult, Martial: Leibniz, Dynamique et Métaphysique, Paris 1967; vgl. die Darstellung der Rezeptionsgeschichte in Poser, Hans: Leibniz, Hamburg 2005, 26. Beispielsweise Rutherford, Donald P. / Cover, Jan A. (Hrsg.): Leibniz. Nature and Freedom. Oxford 2005; Saame, Otto: Der Satz vom Grund bei Leibniz. Ein konstitutives Element seiner Philosophie und ihrer Einheit, Mainz 1961. Siehe bspw. Leinkauf, Thomas: Einheit, Natur, Geist. Beiträge zu metaphysischen Grundproblemen im Denken von Gottfried Wilhelm Leibniz, Berlin 2012. „Die Defensivstellung der christlichen Metaphysik gegenüber dem physikalischen Naturalismus der Neueren ist sogar die kardinale Herausforderung, auf die Leibniz’ Denken als ganzes eine überzeugende Antwort geben will.“ Busche, Hubertus: „Einleitung“, in: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Frühe Schriften zum Naturrecht, hg. von ders., Hamburg 2003, XI–CXII, hier XLIV. Poser: Leibniz, a. a. O., 27.

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Einleitung

Systems entsprechend mitzudenken. Klar ist, dass der göttliche Plan für die Welt eine weltimmanente, teleologische Ausrichtung allen Geschehens bedingt, zugleich aber der Berechtigung der Mechanik gegenübersteht und der Idee zu wiedersprechen scheint, dass der Weltablauf mit kausalen Begriffen vollständig erklärbar ist. Dieses Verhältnis zwischen ubiquitärer Teleologie und allumfassendem Kausalnexus ist der zentrale Problemkomplex der vorliegenden Untersuchung, aus dem sich zahlreiche einzelne Fragen entwickeln: Wie verhalten sich im Rahmen von Leibniz’ Philosophie teleologische und kausale Prozesse zueinander? Ist einem dieser Begriffe ein Primat zuzusprechen, wodurch der andere bestimmt wird, oder stehen sie beide gleichberechtigt einander gegenüber? Wie kann Leibniz die Welt einerseits als Resultat einfacher und seelenartiger Substanzen denken und andererseits ebenso als Aggregation von Kräften und körperlichen Substanzen? – All diese Fragen werden im Verlauf der folgenden Untersuchung aufgegriffen und ausdifferenziert und es wird versucht, eine Antwort wird gegeben. Leibniz ist klar, dass sich die Philosophie nicht auf der Beantwortung einzelner, kontextloser Fragen ausruhen kann. Er selbst benennt zwei Problemkomplexe als „Labyrinthe“, die für seine Philosophie zentral sind, die in ihrer Problematik aber als kaum überschaubar und ausweglos erscheinen: Die Problematik des Kontinuums, das den Bezugsrahmen der Frage physikalischer Kausalität vorgibt, sowie die Problematik der menschlichen Freiheit, die vor allem vor dem Hintergrund der teleologischen Bestimmung der Welt durch Gott durchdacht werden muss. Beide Labyrinthe sind also systematisch mit dem Zusammenhang zwischen Kausalität und Teleologie verwoben. Aber neben den benannten zwei Labyrinthen kann man gewissermaßen noch ein drittes ausmachen: Das Werk Leibnizens selbst. Es besteht aus einer schier überwältigende Textmenge, immerhin wird der Nachlass auf insgesamt 200.000 Blätter geschätzt, die u. a. einen Briefwechsel von ca. 15.000 Briefen enthalten. Darin finden sich gleichwohl nur wenig in sich abgeschlossene Werke und von der Interpretation des Gesamtwerkes hängen die Kriterien ab, nach denen man einzelne Schriften als ‚Hauptwerke‘ der Leibnizschen Philosophie bezeichnen kann. Damit fehlt ein definitives Referenzwerk, auf das man die zahlreichen Ideen aus den Fragmenten, Notizen, Manuskripten, Entwürfen und Briefen beziehen kann. Da Leibniz bestimmte Teile seiner Philosophie vor der Öffentlichkeit verborgen hielt oder wenigstens dem Adressaten angepasste Formulierungen verwendet hat, kann man seine Philosophie in eine exoterische, öffentliche und esoterische, eigentliche und geheime Philosophie unterteilen. Streng genommen ist es sogar nicht unproblematisch, festzustellen, welche Begriffe überhaupt als die Zentralbegriffe des Denkens von Leibniz gelten können, weil dies ebenfalls eine systematische Rekonstruktion seiner Philosophie voraussetzt. Dabei ist es nicht hinreichend, auf eine besonders aufwendige Erarbeitung bestimmter Termini oder die quantitative Häufung einiger Begriffe zu verweisen, weil dabei die systematische Geltung einerseits und Leibniz’ tiefgehende Anbindung an die philosophische Tradition andererseits vernachlässigt werden. Beispielsweise kann die Bedeutung eines Begriff wie fulguratio, den Leibniz nur selten verwendet, der aber eine dezidiert neuplatonische Interpretation des Verhältnisses der Welt

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zu Gott bestärkt, mit ganz unterschiedlichen Argumenten hervorgehoben oder vernachlässigt werden. Stattdessen profitiert die Lektüre vieler leibnizscher Werke von einem holistischen Blick auf das Gesamtwerk: Nicht wenige seiner Argumentationen sind oft abgekürzt und wenn Leibniz einen Begriff in einem Text einmal definiert und erörtert hat, dann erspart er sich oft die Wiederholung an anderer Stelle, selbst wenn dies den Text für den Adressaten schwer verständlich macht. Während sich in einigen seiner publizierten Schriften wie dem Discours, dem Système Nouveau oder den Nouveaux Essais recht ausführliche Herleitungen finden, so ist beispielsweise die Monadologie nur noch eine Aneinanderreihung von Thesen, die selbst keine ausführliche Begründung oder Erläuterung mehr erfahren. Viele Notizen und Vorarbeiten, aber auch eine erhebliche Menge an Briefen sind sprunghaft formuliert, viele Argumente sind nur angerissen statt ausgeführt, so dass sie manchen Briefpartner zu wiederholten Nachfragen und schier zur Verzweiflung brachten. Oft genug hat es den Anschein, dass Leibniz sich schlichtweg nicht die Zeit nimmt, das noch einmal gründlich aufzuschreiben, was er schon andernorts ausführlicher dargelegt hat, auch wenn sein Adressat die relevanten Texte kaum kennen kann. Dazu wirft die wechselnde Terminologie ein weiteres Problem auf: „Leibniz encourages confusion by using one terminology (say, scholastic) in one text and an entirely different one (say, mechanical) in another.“15 Damit hängt der permanente Wechsel des Problemkontexts und die ständig neu erfolgende Einbettung der jeweiligen Themen und Ideen in verschiedene philosophische Traditionen und ihre Begrifflichkeiten zusammen: Leibniz bekennt sich sowohl zu Aristoteles, zu Platon wie auch zur mechanistischen Philosophie, wenn er auch keinen Denkansatz und kaum eine Theorie in Gänze und unverändert übernimmt. Angesichts solcher Schwierigkeiten ist es nicht erstaunlich, dass Leibniz’ Theorie der Substanzen oft genug als unverständlich, bizarr16 oder gar völlig willkürlich, ja märchenhaft17 gilt. Dem modernen Interpreten liegt Leibniz’ Philosophie damit wie ein nicht nur unübersichtliches, sondern auch unvollständiges Puzzle vor, dessen Teile nicht immer in der gewünschten Schärfe geschnitten sind und bei dem man sich oft unsicher ist, welches Verhältnis manche einzelnen Ideen zu den anderen Theorieelementen haben. Man kann nun das Denken Leibnizens als ein umfassendes, ja geradezu monumentales System verstehen, in dem verschiedene Prinzipien eine zentrale Rolle einnehmen, so dass andere untergeordnete Theorien und Problemaspekte auf diese Prinzipien bezogen werden müssen. Dabei gilt es aber, die zahlreichen und oftmals sehr heterogenen Texte miteinander in Verbindung zu bringen. Es finden sich bei Leibniz einige traktathafte Abrisse seiner Grundideen, wie die Monadologie; an ein breiteres Publikum ausgerichtete Essays, wie die Nouveaux Essais; längere und umfassende Diskussionen einzelner Probleme, wie die Theodizee; sowie einige Ver15 16 17

Mercer, Christia: Leibniz’ Metaphysics. Its Origins and Development, Cambridge 2001, 12. Ebd., 4. „I felt – as many others have felt – that the Monadology was a kind of fantastic fairy tale, coherent perhaps, but wholly arbitrary.“ Russell, Bertrand: A Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz, London 1937 (2. Auflage) u. ö., xii.

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Einleitung

suche, alle Grundaxiome übersichtshaft zu formulieren, aus denen er seine Philosophie herleiten möchte, etwa die Principia logico-metaphysica (1689), die bislang als Primae veritates bezeichnet wurden18. Dazu kommen noch zahlreiche Briefe, in denen Leibniz seine Philosophie im Dialog mit seinem Briefpartner darlegt. Dabei fehlt aber ein ausgearbeiteter Ansatz, wie all die von ihm ausgearbeiteten Thematiken zusammenzuführen oder aufeinander zu beziehen sind und es ist unklar, welche Form dieses rahmengebende System haben soll, das die ganze Spannweite von theologischen, metaphysischen, epistemischen, rechtsphilosophischen, politischen, mathematischen, symboltheoretischen und physikalischen Überlegungen umfassen und ordnen kann. Die Scientia generalis, mit der die Architektonik allen Wissens und aller Wissensformen aufgezeigt werden sollte und die damit am ehesten eine solche übergreifende Architektonik bieten könnte, ist eine unübersichtliche Menge an Fragmenten geblieben. Das hat konsequenterweise zu verschiedenen interpretativen Ansätzen geführt, die Form dieses System zu bestimmen. Es wurde etwa von Bertrand Russell und Louis Couturat als ein aus Axiomen hergeleitetes, gewissermaßen pyramidal darstellbares Gedankengebäude aus ‚obersten‘ Sätzen dargestellt, aus denen die anderen in zunehmender Ausdifferenzierung und Spezifizierung folgen19. Es ist aber nie in zufriedenstellendem Maße gelungen, eine derartige systematische und umfassende Herleitung anhand der Texte Leibnizens zu rekonstruieren. Solch eine Herleitung wird zwar von Leibniz selbst als Methodologie konzipiert und er betont den Grundlagencharakter einiger Prinzipien, etwa des Prinzips der Identität des Ununterscheidbaren, des Satzes vom Grunde und des Prinzip des Widerspruchs, aber eine konsequente und umfassende Anwendung auf seine eigenen Thesen liegt bislang nicht vor. Das, was uns dagegen an systematischen Ansätzen vorliegt, divergiert zumeist in Stil, Vokabular, Thematik, anvisierter Leserschaft, argumentativer Stringenz und Theorieniveau. Der Leibnizsche Begriff eines einheitlichen, umfassenden und eines linear deduzierbaren Systems scheint also ein Ideal zu sein, das nie verwirklicht wurde, da die faktische philosophische Vorgehensweise eine gänzlich andere ist. Selbst wenn man einzelne Bereiche seines Denkens systematisch zu rekonstruieren versucht, etwa die Metaphysik, dann steht man vor der Schwierigkeit, einzelne scheinbar widersprüchliche Konzepte miteinander in Einklang zu bringen, indem man entweder eine fundamentale Disjunktion mindestens zweier Denkansätze allein im Bereich der Substanzenlehre annimmt20 oder aber eine Entwicklung des leibnizschen Denkens, bei der frühere Konzeptionen verworfen und durch andere ersetzt wurden21. 18 19 20

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A VI, 4, 1643 f. Siehe Cassirer, Ernst: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Berlin 1902, Nachdruck Hamburg 1998; Couturat, Louis: La logique de Leibniz d’apres des documents inédits, Paris 1901; Russell, Bertrand: A Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz, a. a. O. Vor allem Mahnke, Dietrich: Leibnizens Sythese von Universalmathematik und Individualmetaphysik, Halle 1925; Robinet, André: Architectonique disjonctive, automates Systèmiques et idéalité transcendentale dans l’œuvre de G. W. Leibniz, Paris 1986; sowie Catherine Wilson: Leibniz’s Metaphysics: A Historical and Comparative Study, Princeton 1989. Siehe Garber, Daniel: „Leibniz and the Foundation of Physics: The Middle Years“, in: Okruhlik, Kathleen / Brown, James B.: The natural philosophy of Leibniz, Dordrecht 1985, 27– 130; ders.: Leibniz: Body, Substance, Monad, Oxford 2009.

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Beide Positionen haben ihre interpretative Berechtigung, auch wenn gleichwohl Leibniz’ stetes und emphatisch hervorgehobenes Bestreben nach größtmöglicher Kohärenz dagegenspricht, wie auch die Tatsache, dass Leibniz seine eigene Position zumindest nach 1686 für voll entwickelt erklärt und sich nur sporadisch seinem Frühwerk gegenüber kritisch äußert, vor allem gegenüber den Schriften vor 1678. Die Kohärenz des Gesamtwerkes wird dagegen von Jan A. Cover, Willi Kabitz, Benson Mates, Laurence McCullough u. a. betont, welche die These vertreten, Leibniz habe sein Denksystem über die Jahrzehnte nie grundlegend geändert, sondern nur weiter ausgearbeitet22. Andere Interpreten wie Stuart Brown, Charlie Broad oder Daniel Garber dagegen argumentieren, dass es in Leibniz’ Denken einen oder mehrere gravierende Umbrüche gegeben hat23. In letzter Zeit setzt sich demnach immer mehr die Idee durch, die in den vorliegenden Texten entwickelte Systematik zwar als einen großen Problemkomplex zu denken, in welchem jede Idee mit anderen Thesen verwoben ist, aber in dem sich die tatsächlich ausgearbeitete Systematik nur auf Teilbereiche erstreckt, etwa auf die Scientia generalis oder die Ars combinatoria, denen eine Fülle an heterogenen Ideen, Konzepten, Diskussionen, Versuchen, Plänen, unhinterfragbaren Grundannahmen und begrifflichen Verschiebungen gegenübersteht24. Die Struktur dieser heterogenen Problemkomplexe lässt sich durch verschiedene Metaphern beschreiben: Glenn Hartz spricht von einer Flotte von Schiffen, die unabhängig voneinander auf ein Ziel losgeschickt werden25, Michel Serres dagegen von einem Netz, das keinen Anfang und kein Ende kennt, dafür über strukturbildende Knoten und offene Enden verfügt26. Die hier durchgeführte Untersuchung schließt sich den genannten 22

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Benson Mates benennt als Beispiel einen für die hier angestrebte Untersuchung wichtigen Punkt: „But on the fundamental points of his philosophy, his constancy over the years is little short of astonishing. For instance, from the first of his publications, at age seventeen, to the end of his life he never wavered in holding the rather unusual and implausible doctrine that things are individuated by their ‚whole being‘; that is, every property of a thing is essential to its identity.“ Mates, Benson: The philosophy of Leibniz. Metaphysics and language, Oxford 1986, 7. Ähnlich auch Busche, Hubertus: Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum. Eine Harmonie im Zeitalter der Berechnung, Hamburg 1997; Poser: Leibniz, a. a. O.; McCullough, Laurence: Leibniz on individuals and individuation, Dordrecht 1996, 133; Cover, Jan A.; O’LearyHawthorne, John (Hrsg.): Substance and Individuation in Leibniz, Cambridge 1999, 3; Kabitz, Willi: Die Philosophie des jungen Leibniz, Heidelberg 1909, Nachdruck Hildesheim 1997. Daniel Garber diskutiert diese Aussage von Benson Mates und kommt zu dem Schluss, dieser habe hier falsch verstanden, dass sich Leibniz in seinem Frühwerk von 1663 nicht auf Attribute oder Eigenschaften bezieht, sondern auf die aristotelische These der Union von Form und Materie. Siehe Garber: Leibniz, a. a. O., 58. Einige der Interpreten, die die Position vertreten, Leibniz’ spätes System habe sich noch stark geändert: Brown, Stuart: Leibniz, Minnesota 1984; Broad, Charlie D.: Leibniz. An Introduction, Cambridge 1975; Garber: Leibniz: Body, Substance, Monad, a. a. O.; u. a. „Leibniz’s philosophy is not, I think, a linear argument, with a beginning, middle, and end, but a complex of interrelated and mutually reflecting positions, principles and arguments.“ Garber, Daniel: „The middle years“, a. a. O., 73. Hartz, Glenn: „Inconsistency in Leibniz’s Metaphysics of Body is consistent with his Strategy“, in: Poser, Hans (Hrsg.): VII. Internationaler Leibniz- Kongress, Berlin 2001, 470–477. Serres, Michel: Le Système de Leibniz et ses Modèles Mathématiques, Paris 2001 (4. Auflage), 14. Ebenso Mercer: Leibniz’s Metaphysics, a. a. O., 58.

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Einleitung

Positionen von Poser und Serres an: Leibniz’ Denken gleicht eher einem Gewebe aus verschiedenen Fäden, die, anfangs relativ unverbunden nebeneinanderliegend, zunehmend zusammengewebt werden, aber auch gelegentlich unverknüpft und unfertig im Nichts enden, aber nie völlig separat von allen anderen Fäden existieren. Demnach muss die vorliegende Untersuchung auch gelegentlich Begriffe oder Termini verwenden, die erst später erläutert und eingeführt werden, da die hier angestrebte Argumentation eben auf die verschiedenen, parallel entwickelten Argumentationen zurückgreifen muss. Ob und inwieweit sich Leibniz’ Denken dabei von seinen in den jungen Jahren ausgearbeiteten Positionen entfernt oder ob das spätere monadische Denken als eine Abkehr von den frühen Korpuskulartheorien und der Theorie der körperlichen Substanzen ist, muss noch genauer diskutiert werden. 2. ZU AUFBAU UND ZIEL DIESER UNTERSUCHUNG Die vorliegende Untersuchung soll nun Leibniz’ Konzeption von Kausalität und Teleologie systematisch rekonstruieren. Es soll ein umfassender, systematisch-argumentativer Zusammenhang innerhalb der leibnizschen Philosophie herausgestellt werden, der von der logischen Grundlegung seiner Philosophie über die Konzeption der Substanzen und Körper zu den Organismen und zur menschlichen Freiheit führt. Dabei wird erläutert, dass und auf welche Weise im Rahmen von Leibniz’ Metaphysik interne und immanente Formen der Kausalität konstitutiv sind für transitive Verursachung, vor allem für mechanische Kausalität. Eine solche Fundierung von transitiver in immanenter Kausalität geht auf Leibniz’ Versuch zurück, die Physik in der aristotelischen Substanzlehre zu begründen und ist dem zeitgenössischen Denken der Kausalität fremd. Der moderne Kausalitätsbegriff ist vor allem durch die Definition von David Hume geprägt27, der bestritt, dass die Notwendigkeit einer Verknüpfung von Ursache und Wirkung überhaupt je a priori bestimmt werden kann, d. h., dass nie ein Objekt unabhängig von aller Erfahrung und nur aufgrund von unserer rationalen Einsicht in das Wesen der Dinge als Ursache eines anderen Objektes erkannt werden kann. Unser Konzept der Verursachung beruht dabei rein auf Gewöhnung: ’Tis natural for men, in their common and careless way of thinking, to imagine they perceive a connexion betwixt such objects as they have constantly found united together; and because custom has render’d it difficult to separate the ideas, they are apt to fancy such a separation to be in itself impossible and absurd.28 27

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Dies stützt sich auf folgende Bemerkungen von Hume: Er gibt eine „precise definition“ einer Ursache an als „An object precedent and contiguous to another, and where all the objects resembling the former are plac’d in like relations of precedency and contiguity to those objects, that resemble the latter“, Treatise of Human Nature, 1.3.14.33, SB 170. Wenn wir aber von einer immanenten Ursache sprechen, statt von einer notwendigen Verbindung von Dingen oder Ereignissen, dann kann man sagen, wir „contradict ourselves, or talk without a meaning“, Ebd., 1.4.7.5, SB 267. Ebd., 1.4.3.9, SB 223. Unser Konzept der Verursachung beruht dabei rein auf Gewöhnung: „’Tis natural for men, in their common and careless way of thinking, to imagine they perceive a connexion betwixt such objects as they have constantly found united together; and because

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Doch ein solches Denken ist Leibniz fremd und unser modernes Verständnis von Kausalität sollte nicht anachronistisch auf Leibniz’ Philosophie übertragen werden. Hier eröffnet sich vielmehr ein komplexes Netzwerk ausdifferenzierter Kausalitätsbegriffe, die in verschiedenen theologischen, naturphilosophischen und epistemologischen Diskursen bereits etabliert wurden. Beispielsweise kennt Leibniz streng genommen den modernen Teleologiebegriff nicht, denn dieser wird erst von Wolff eingeführt. Er orientiert sich terminologisch vielmehr an den vier aristotelischen Ursachentypen, die von der Scholastik transformiert wurden und im Kontext des modernen, mechanistischen Denkens neu verortet werden müssen. Im Allgemeinen denkt er Kausalität weniger als eine derartige diachrone Verknüpfung verschiedener Ereignisse – eine solche Ereigniskausalität betrifft vor allem den Bereich der transitiven Ursachen, die in der Dynamik und Mechanik eine Rolle spielen. Diese Form der Kausalität weist er als unvollständig aus und betont, dass deren epistemisches Potenzial nur in bestimmten, klar umgrenzten Wissensgebieten zur Geltung kommen kann. Die Leitidee der hier zu entwickelnden Argumentation lautet wie folgt: In einer weiter gefassten Perspektive denkt Leibniz sowohl Kausalität als auch Teleologie als Weisen, die Existenz und Beschaffenheit der Dinge aus übergeordneten Prinzipien und der zugrunde liegenden Realität zu erklären und zu begründen. In diesem Sinne ist sein Denken der Kausalität im Allgemeinen sehr viel umfassender als das heutige, das sich vor allem an der Abfolge physischer Ereignisse orientiert. Dies hängt wiederum damit zusammen, dass das moderne Kausalitätsdenken auf einem gemeinhin akzeptierten Atomismus basiert, in dessen Rahmen die moderne Physik zahlreiche Reduktionen erlaubt, die Leibniz fremd waren. Insgesamt wehrt sich Leibniz gegen jede Form von materialistischer Reduktion allen Seins auf physikalisch feststellbare Körper. Er kehrt diese Struktur geradezu um und versucht die physische Wirklichkeit in einer grundlegenden, geistigen Ontologie zu begründen. Deswegen wird es eine zentrale Aufgabe dieser Arbeit sein, zu klären, wie übergeordnete, immaterielle Prinzipien die Vorgänge in der physischen Welt bestimmen. Leibniz’ Perspektive auf die Kausalitätsproblematik resultiert aus mehreren historischen Vorbedingungen, von denen hier zwei besonders hervorgehoben sein sollen. Einerseits greift Leibniz die aristotelische Substanzlehre auf, nach der die Substanzen ihrem Wesen folgend die ihnen je physisch zukommende Form ausbilden, so wie der Samen sich selbst seinem Wesen nach zu einem Baum verwirklicht; andererseits verbindet Leibniz diese Idee mit seiner Auseinandersetzung mit dem Cartesianismus, den er so versteht, dass die sekundären Qualitäten der Dinge (Farben, Gerüche, Gewicht etc.) als das Ergebnis einer bestimmten Konstellation von primären Qualitäten (Ausdehnung, Form und Bewegung) zu denken sind und so als durch diese verursacht gelten können. Diese Idee begründet den cartesischen Mechanismus, der die physischen Prozesse auf ein rein quantitativ zu denkendes Geschehen reduziert. Ein Teil der vorliegenden Arbeit ist deshalb auch der Frage gewidmet, wie die Idee einer Bestimmung physischer Eigenschaften durch das custom has render’d it difficult to separate the ideas, they are apt to fancy such a separation to be in itself impossible and absurd.“

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Wesen der Substanz gedacht werden kann, ohne dass dabei die Grundlagen der Mechanik untergraben werden. Die dabei erfolgende Rekonstruktion der naturphilosophischen Theorie der Kräfte sowie der Substanzmetaphysik bei Leibniz ist der Kausalitätstheorie dabei keineswegs äußerlich. Schließlich gilt auch für Leibniz’ Metaphysik, dass die Frage nach dem Wesen eines Dinges auch eine Frage nach dem Grund desselben ist und dass demnach die Begrifflichkeiten von Wesen, Genese und Erklärbarkeit miteinander einhergehen. Spätestens im dritten, der Lehre der einfachen Substanzen gewidmeten Teil dieser Arbeit wird deutlich, dass Leibniz’ Kausalitätstheorie nicht auf bloß formale oder formalisierbare Muster reduziert werden kann. So wird deshalb eine umfassende Darstellung der leibnizschen Substanzenlehre angestrebt, welche die Theorie der Interaktion physischer Körper erhellen und begründen soll. Die Kausalitätsprinzipien, die im ersten Teil der Arbeit dargestellt wird, sollen im Zusammenhang mit einer Ontologie der kausalen Kräfte gedacht werden. Letzten Endes ist Leibniz’ Kausalitätstheorie als eine Theorie interdependenter ontologischer Ebenen zu begreifen. Kausalerklärungen umfassen sowohl Wirk- als auch Finalursachen, in manchen historischen Kontexten sogar alle vier aristotelischen Ursachentypen. Leibniz selbst betont in einem seiner Texte, dass er alle vier zugleich in dem Ausdruck der nihil est sine ratione zusammen denkt29. Zudem ist der Kausalitätsbegriff im weiteren Sinne entscheidend für die Genese der Vielheit aus der Einheit, für die Begründung phänomenaler Wirklichkeit in substanziellen Entitäten, und für die Fähigkeit, das empirische Wissen kontingenter Tatsachen gegen den Skeptizismus abzusichern, indem es in übergeordneten Prinzipien begründet wird. Es wird deutlich werden, dass sich Leibniz’ Theorie der Kausalität aus verschiedenen historischen Traditionen nährt und diese miteinander verknüpft: Leibniz integriert sowohl die platonische Idee der Seele als Bewegungsgrund, als auch die aristotelische Idee einer energetischen, qualitativ zu verstehenden, individuellen Entelechie in sein Denken. Diese Theorien werden mit der neuplatonischen Idee der Emanation als Einheit von Vielheit und Einheit verknüpft sowie mit den neuzeitlichen Theorien einer quantitativ zu begreifenden Bewegung und Kraftübertragung, zu denen sich auch spinozistische Gedanken einer Entsprechung von physischem und mentalem conatus gesellen30. Wenn sich diese Arbeit nur auf die Kausalabfolge physischer 29

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Vgl. „Nihil est sine ratione, intelligitur de causa efficiente, materiali, formali, finali. Causa formalis est ipsa rei essentia, seu si ratio cur res aliqua sit, vel talis sit, sit intra rem ipsam. Causa materialis et efficiens, ut in motu movetur quid semper eodem modo, nisi ratio sit mutationis, vel in re, vel in alio in rem agente. In finali, ut ratio debet esse eligendi ex duobus hoc, vera vel apparens.“ Conversatio cum Steno (1677), A VI, 4, 1375. Er selbst resümiert die Einflüsse auf sein System so: „Dieses System scheint Platon mit Demokrit, Aristoteles mit Descartes, die Scholastiker mit den Neueren, die Theologie und Moral mit der Vernunft zu verbinden. Von allen Seiten scheint es das Beste zu nehmen, und danach weiter fortzuschreiten, als man jemals gegangen ist.“ – „Ce systeme paroist allier Platon avec Democrite, Aristote avec des Cartes, les Scholastiques avec les Modernes, la Theologie et la morale avec la raison. Il semble qu’il prend le meilleur de tous costés, et que puis apres il va plus loin qu’on n’est allé encor.“ NE I, Kapitel 1, A VI, 6, 71.

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Dinge konzentrieren würde, dann wäre dies eine grobe Verkennung der leibnizschen Metaphysik. Im modernen Verständnis wird die Kausalbeziehung oftmals als Relation zwischen zwei Ereignissen verstanden, wodurch diese in Ursache und Wirkung unterschieden und aufeinander bezogen werden. Im Rahmen von Leibniz’ Philosophie ist Kausalität dagegen oftmals ganz abstrakt als Beziehung im Rahmen der Bestimmung eines Dinges durch die grundlegenden Prinzipien und Entitäten zu verstehen. Daraus ergibt sich zwar auch eine wirkursächliche Bestimmung eines physischen Dinges, diese ist aber im Rahmen der hier vorgeschlagenen Interpretation als Resultat einer grundlegenden, substanziellen Dynamik zu verstehen, die eher als immanente Finalursächlichkeit und autopoietische Selbstrealisierung zu denken ist. Die Termini der Kausalrelation sind deswegen weder auf die bloße Wirkursächlichkeit, noch auf Erklärungsmodelle oder kategoriale Grundbegriffe zu reduzieren. Leibniz ringt vielmehr gerade in seinen Schriften der 1670er Jahre darum, Kausalbegriffe so zu definieren, dass sie verschiedene Kausalrelationen ausdrücken können (siehe Teil I und II dieser Arbeit). Kausalerklärungen sind in der Geschichte der Philosophie zumeist mit Begründungsfragen verknüpfte Prinzipien erschließendes Denken, was in den griechischen Ausdrücken für ajrchv und ai[tion, aber auch im lateinischen causa mitschwingt. Beispielsweise ist mit Spinozas Ausdruck der causa sui nicht etwa eine Schöpfung aus dem Nichts gemeint, sondern die Tatsache, dass Gott keiner weiteren Begründung bedarf: Gott ist sein eigener Grund. Diese Tradition spielt bei Leibniz eine große Rolle und soll als Hintergrund für seine eigene Konzeption dienen. Wirk- und Finalursachen sind also keineswegs nur auf der Ebene der transitiven Kausalität zu begreifen. Auch sollte es vermieden werden, anachronistisch ein modernes Konzept von Ereigniskausalität auf Leibniz zu übertragen, dem es doch zuerst um die Frage nach ontologischer Fundierung und Interdependenz ontologischer Ebenen geht. Die vertretene These lautet dagegen, dass immanente Ursachen als atemporal zu denken sind und in erster Linie finalursächlich wirken. Sie spielen in Leibniz’ Metaphysik eine zentralere bzw. grundlegendere Rolle als transitive Wirkursachen – letztere gehen aus ersteren hervor und können auf sie zurückgeführt werden. Von Wirkursächlichkeit sprechen wir vor allem in Bezug auf Ereignisse, die durch Naturgesetze erklärt werden. Dementsprechend unterscheiden sich die verschiedenen Erklärungen: Kausalerklärungen können nie einen vollständigen Grund für etwas angeben, weil sie stets auf die Kette weltlicher Ereignisse beschränkt sind, aber nicht angeben können, warum es überhaupt einen solchen Kausalnexus gibt. Dies aber ist nur durch Finalerklärungen möglich. Aus diesem Grund lehnt Leibniz die beiden Alternativmodelle seiner Zeit ab, d. i. den Okkasionalismus und die Influxus-Theorien, denen er seine Theorie der prästabilierten Harmonie als plausiblere Alternative gegenüberstellt31. 31

Dritte Erläuterungen zum Neuen System, GP IV, 500. Die Ablehnung des Okkasionalismus wird bspw. in Rutherford, Donald P.: „Natures, Laws, and Miracles: The Roots of Leibniz’s Critique of Occasionalism“, in: Nadler: Causation in Early Modern Philosophy, a. a. O., 135– 158 ausführlich dargestellt.

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Einleitung

Aufgrund des fragmentarischen Charakters der leibnizschen Schriften soll seine Position systematisch rekonstruiert werden und dabei in ihrer Genese nachvollzogen werden. Dazu werden einzelne Themenkomplexe gesondert betrachtet, in denen verschiedene Arten der kausalen Determination ihren systematischen Ort haben. Die vorliegende Untersuchung wird sich vor allem dem Zusammenhang von externer, transitiver Wirkursächlichkeit und grundlegender, immanenter Teleologie widmen und damit versuchen, ein Forschungsdesiderat zu bedienen, das zu einigen Missverständnissen über die Rolle der Substanz in den kausalen Prozessen des physischen Geschehens geführt hat. Durch eine Reihe von Einzeluntersuchungen wird sich ein großes Panorama von Positionen und Thesen ergeben, deren Zusammenhang in jeder einzelnen Untersuchung diskutiert werden muss. Deswegen liegt es nahe, in gewissen Grenzen auch genealogisch vorzugehen, weil so die Entstehung des finalen Entwurfs der Metaphysik nachvollzogen werden kann und ihre Herleitung und Begründung am Deutlichsten wird. Die folgende Untersuchung ist in eine Einleitung und sieben Teile geteilt: Die Einleitung soll vor allem den historisch-systematischen Problemkontext der leibnizschen Kausalitätstheorie vorstellen, der von den heutigen Fragen oftmals nicht unerheblich verschieden ist. Der erste Teil (Grundlegende Prinzipien) beschreibt die grundlegenden Prinzipien der Philosophie und des wahrheitssuchenden Denkens, die Leibniz stets als das Fundament seiner Philosophie angesehen und bereits in Grundzügen in seinen frühesten Schriften festgehalten hat. Dabei kommt dem Satz vom Grund und dem Prinzip des Besten die Rolle der zentralen Prinzipien zu, die – neben dem hier weitgehend vernachlässigten Prinzip der Identität – auch das Fundament für Leibniz’ Ontologieentwurf ausmachen. Aus diesen Prinzipien folgt die Idee, dass die Erkenntnis des vollständigen und letzten Grundes eines Dinges auf dessen ontologische Voraussetzungen rekurrieren muss. Der zweite Teil (Theorie der requisita) versucht dabei, diese Diversität an zureichenden, vollständigen oder internen bzw. unzureichenden, unvollständigen oder externen Gründen auf eine gemeinsame formale Basis zu stellen. Dabei handelt es sich um die Theorie der requisita, die das, was Leibniz auch als ratio sive causa formuliert, auf Grundlage einer formalisierten Basis begreifen soll. Dabei arbeitet Leibniz verschiedene Arten von Begründungsverhältnissen aus, die mit einer Theorie der Mereologie und der ontologische Konstitution einhergehen und schließlich eine Hierarchie an Ursachetypen eröffnen. Doch eine solcherart formale Theorie benötigt einen Rekurs auf die real existierenden Dinge, also auf Substanzen, in denen die physischen Körper begründet sind. Problematisch ist dabei, dass die Textgrundlage eine scheinbar heterogene Position Leibnizens aufzuzeigen scheint: Einerseits begreift er die materiellen Körper als bloße Phänomene, andererseits kennt er aber auch körperliche Substanzen, denen eine ganz eigene, unreduzierbare Realität zukommt. Dieses problematische Verhältnis wird im dritten Teil (Einfache Substanzen) auch als ein Problem der Kausalität verstanden, weil es dabei gerade darum geht, den wahren Grund der Dinge zu identifizieren. Da Leibniz aber seit seinen frühesten Schriften insistiert,

Zu Aufbau und Ziel dieser Untersuchung

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dass Sein und Einheit stets zusammenfallen (ens et unum convertuntur), ist anzunehmen, dass er als letzten Grund der Realität nur einfache Substanzen akzeptiert. Als Einheitsprinzip gilt hier die formale und ontologische Einheit, zu denen später noch Aktivität als weiteres einheitsstiftendes Prinzip hinzukommt. Dies führt zu der im vierten Teil (Kraft und Materie) erörterten Problematik des Verhältnisses zwischen Substanzen und Körpern. Substanzen kommt eine grundlegende Realität zu, während die Körper eine bloß phänomenale Natur haben. Substanzen kommt eine grundlegende Kraft zu, Körpern hingegen eine derivative Kraft. Im Rahmen dieser Erörterungen wird deutlich, wie physisch-transitive Kausalität aus der Kausalität der einfachen Substanzen resultiert und warum die nomologischen Erklärungen der Naturwissenschaften zwar über eine gewisse Erklärungskapazität verfügen, aber stets unvollständig bleiben müssen, solange sie nicht in einen Kontext eingebettet werden, der eine metaphysisch zugrunde liegende Realität an individuellen und spontanen Substanzen annimmt. In diesem Sinne ist dieser Teil auch als ein Vorschlag zu lesen, wie das Verhältnis zwischen Leibniz’ Metaphysik und seiner Physik zu denken ist. Doch im Rahmen dieser komplexen ontologischen Struktur aus Substanzen, Phänomenen und Kräften stellt sich die Frage nach der Realität von Individuen, die aus Körper und Seele bestehen. Dazu wird der fünfte Teil (Substanzen und ihre Körper) wiederum die Frage nach körperlichen Substanzen aufgreifen und deren komplexes Zusammenspiel miteinander bestimmen. Hier wird auch deutlich, wie die Seele über den Körper herrscht, d. h. wie die spezifische Form von psychophysischer Kausalität zu denken ist. Die organische Teleologie der Lebewesen ist das Gegenstück zu den mechanischen Prozessen und Gegenstand des sechsten Kapitels (Leibniz’ Theorie der Organismen). Dort wird deutlich gemacht, inwiefern es spezifische Formen der kausalen Ausrichtung und der Teleologie gibt, die nur den Lebewesen zugehören. Schließlich wird im siebten Kapitel (Freiheit in der Monadenlehre) die Selbstbestimmung des Menschen als ein Akt der Freiheit dargestellt, der sich in einem doppelten Spannungsverhältnis situiert, einerseits gegenüber der göttlichen Vorhersehung, andererseits in Bezugnahme auf die Situation des Individuums in der Welt. Im Laufe dieser sieben Teile werden vier ontologische Konstitutionsrelationen konzipiert, die je vier Erklärungsweisen entsprechen: 1.) Die Begründung der Dinge, Ereignisse und Relationen in übergeordneten Prinzipien; 2.) die Konstitution der physisch-wahrnehmbaren Welt durch die zugrunde liegende Realität der Substanzen, aus der heraus die transitive mechanische Kausalität zu verstehen ist; 3.) die Selbstorganisation der Materie als strukturierte Lebewesen; 4.) Freiheit als ein Akt der Selbstrealisierung. Diese vier Verhältnisse stehen in einem hierarchischen Verhältnis, das vom Allgemeinen zum Einzelnen herabreicht, vom wirklich Seienden zum bloß Erscheinenden, vom grundlegenden Prinzip zum bedingten und begründungsbedürftigen

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Einleitung

Wirklichkeitsmoment. Der erste Teil widmet sich vor allem dem Satz vom Grund und seinem Verhältnis zum Prinzip des Besten, also den höchsten Prinzipien, die nicht nur die Beschaffenheit, sondern ebenso die Existenz der Welt per se bestimmen. Leibniz hat nur wenige Tatsachen oder Gesetze der Natur selbst und explizit mit einer metaphysisch-spekulativen Begründung versehen, so wie etwa die Herleitung der Gravitation aus der Rotationsbewegung der mikroskopisch kleinen Kugeln oder Bläschen (bullae), welche die Materie der Welt ausmachen – so vorgetragen in seinem frühen naturphilosophischen Werk Theoria Motus Abstracti (1671). Selbst die Herleitung des Bewegungskraft als mv2 aus den Gedankenexperimenten zur Fallgeschwindigkeit findet rein physikimmanent statt32. Aber er war sich sicher, dass man ähnliche Begründungen für schlichtweg alle Naturgesetze finden würde. Doch diese Überlegungen konkret nachzuzeichnen ist nicht hauptsächlicher Gegenstand dieser Untersuchung. Vielmehr müssen die metaphysischen Grundlagen in Betracht gezogen werden, dass es überhaupt geordnete Realität und regelgeleitete Veränderungen gibt. Als Grund dafür dienen die verschiedenen Substanz- und Kraftbegriffe, die alle temporal strukturierten, durch Prinzipien determinierten Dinge und Veränderungen bestimmen, seien sie kausaler oder teleologischer Natur. Teil vier und sechs sind je dem Mechanismus und dem Organismus gewidmet: der scheinbar unbelebten und sich nicht selbst bewegenden oder verändernden Materie; sowie den Lebewesen, die diese Materie ausmachen, ihr zugrunde liegen und sich von ihr dennoch insoweit unterscheiden, als sie belebt und automotorisch sind. Die körperliche Substanz, die im fünften Kapitel vorgestellt wird, vermittelt zwischen Mechanismus und Organismus. Der siebte Teil hebt den Sonderstatus der Menschen hervor die sich durch ihre Vernunft auszeichnen. Sie folgen weder auf unmittelbare Weise den kausalen Kräften, noch ihren eigenen Instinkten, Bedürfnissen und Trieben, sondern können sich in gewissem Maße kraft ihrer Vernunft davon lösen. Den oben genannten ontologischen Konstitutionsrelationen entsprechen verschiedene Erklärungsarten, die in Leibniz’ Werk stets eine große Rolle spielen und die sich gegenseitig überlagern können: Zuerst werden die metaphysischen Erklärungen untersucht, die in Bezug auf die allgemeine Beschaffenheit der Welt und deren Existenz angegeben werden können. Dabei geht es hauptsächlich um die letzten Ursachen und damit um die höchsten Erklärungsprinzipien, vor allem um die verschiedenen Aspekte des Satzes vom Grunde, sowie um das Prinzip des Besten, denen in gewissem Maße auch eine theologische Geltung zukommt. In den Überlegungen über das Wesen der Substanzen findet sich die Begründung der Mechanizität der Welt und damit wird auch die metaphysische Grundlage der mechanistischen Erklärungen aufgezeigt. Die später eingeführten funktionalistischen Erklärungen gehen ebenfalls auf metaphysische bzw. theologische Prinzipien zurück, vor allem auf das Prinzip des Besten und das Postulat der universalen Harmonie, sind aber individuelle Erklärungen einzelner und konkreter Dinge und Ereignisse. Sie richten sich auf die Lebewesen, die jenseits aller Mechanik die Grundlage der Wirklichkeit und der Materie ausmachen und in denen die allgemeine Strukturiert32

Siehe dazu Stammel, Hans: Der Kraftbegriff in Leibniz’ Physik, Mannheim 1982.

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heit, Harmonie und teleologische Ausrichtung des Weltgeschehens manifest wird. Die Frage nach dem rationalen Willen etabliert dann individuelle Erklärungen, die keinen Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit mehr erheben können und deren Begründung direkt im holistisch zu begreifenden Gesamtsystem der Weltgeschichte bzw. dem allumfassenden, vollständigen Begriff des Individuums (der notio completa) liegen muss. Bei einer Betrachtung von Leibniz’ Kausalitäts- und Teleologiekonzept muss der Rekurs auf die Schöpfung der Welt an erster Stelle stehen, weil ohne diese weder die Prinzipien der Naturgesetzlichkeit, noch das Faktum der Welt selbst verständlich wäre. Die Überlegungen über die Freiheit des Menschen zeigen wiederum Bedeutung und Grenzen aller temporalen Relationen auf, da sie das menschliche Leben und Handeln zwar mitbestimmen, aber eben gerade nicht in Gänze determinieren. Schlussendlich entwickelt sich die Untersuchung ganz grob auch entlang den verschiedenen Phasen der Entwicklung des leibnizschen Denkens. Die Untersuchung in den ersten beiden Teilen, die der Begründung des Satzes vom zureichenden Grund in den requisita gewidmet ist, folgt vor allem den bereits vor ca. 1686 etablierten Fundamenten der Metaphysik. Die Untersuchung der substanzontologischen und naturphilosophischen Grundlagen in Teil drei, vier und fünf konzentriert sich dagegen auf die sogenannte „mittlere“ und spätere Phase, die ungefähr damit beginnt, dass Leibniz in den späten 1670er Jahren die substanziellen Formen einführt und sie reicht über den Discours de Métaphysique (1686) und das Système Nouveau (1695) hin zur Monadologie (1714). Diese über einen langen Zeitraum entfaltete Substanzenlehre basiert gleichwohl auf zahlreichen, oft schon sehr früh festgelegten Annahmen über die letzte Realität und die Geltung der ersten Prinzipien. Dabei wird die Annahme als Leitlinie der Untersuchung dienen, dass Leibniz’ Philosophie in wesentlichen Teilen kohärent geblieben ist und keinesfalls, wie gelegentlich angenommen wird, wesentliche Elemente der Substanzontologie verworfen oder überarbeitet worden sind33. Dessen ungeachtet ist es offenkundig, dass Leibniz die Grundlagen seiner Philosophie weiter ausgearbeitet hat, die um ungefähr 1678 fast vollständig etabliert waren und in seine Metaphysik von 1686 und später die Monadologie münden. Die im sechsten Teil angestellten Überlegungen zum Organismus folgen dagegen den späteren Schriften, weil erst dann der Begriff des Organismus eine große Rolle im leibnizsche Denken spielt. Schlussendlich wird im letzten Teil die menschliche Freiheit thematisiert. Leibniz hat sich zwar schon in einigen frühen Schriften dem Freiheitsbegriff gewidmet, der am weitesten ausgearbeitete und philosophisch bedeutsamste Referenztext aber ist die erst 1710 erschienene Theodizee. Diese mehr oder weniger an die chronologische Denkfolge angelehnte Herangehensweise ist vor allem systematisch bedingt und deckt zwar die chronologische Entwicklung auf, aber nicht zum Selbstzweck der historischen Darstellung, sondern zum Nachvollzug der inneren Logik von Leibniz’ System. So wird auch deutlich, dass Leibniz vor allem an den abstrakten Grundlegungsfragen seiner frühen Jahre festgehalten hat und von dort aus die Beschaffenheit der Welt 33

Solche Aussagen sind natürlich cum grano salis zu verstehen, denn jeder, der eine Kohärenz solcher umfassender Theoriekomplexe behauptet, lädt sich eine kaum bewältigbare Beweislast auf.

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Einleitung

zuerst in Hinsicht auf die Grundlegung des mechanistischen Kausalnexus der physischen Körper in den Substanzen, dann in Hinsicht auf die teleologische Strukturierung lebendiger Körper in zunehmend subtilerem Maße durchdacht hat34. Die leibnizsche Theorie der Kausalität ist derart umfassend, dass einigen Themen hier zugunsten einer engeren thematisch-argumentativen Fokussierung nicht gebührend Beachtung geschenkt werden kann. Um einige Beispiele zu nennen: Die Frage nach der Erhaltung der Welt durch Gott und sein Zusammenwirken (concurrere) mit den substanziellen Ursachen wird nicht näher behandelt.35 Leibniz’ Ablehnung des Influxus und Okkasionalismus wird zugunsten einer positiven Darstellung seiner eigenen, innovativen Ideen nur gestreift.36 Die für die Freiheitsdebatte relevanten Fragen nach der Vorhersehung Gottes und der Distribution der Gnade werden hier aus Platzgründen ignoriert. 3. LEIBNIZ IN SEINER TRADITION Wenn hier die Frage nach dem Kausalbegriff bei Leibniz und nach dessen Verhältnis zur Teleologie des Weltgeschehens im Allgemeinen und der Lebewesen im Besonderen gestellt werden soll, dann gilt es, als ersten Anhaltspunkt den für Leibniz’ Kausaltheorie relevanten historisch-systematischen Kontext auszuloten. Eine bloße Reduktion seines Kausalbegriffs auf eine Verkettung von Ereignissen wäre ebenso anachronistisch wie die Reduktion der leibnizschen Teleologiekonzeption auf teleologische Erklärungen. Der Problemkontext des Kausalitätsbegriffs bei Leibniz erstreckt sich bis in die Antike und wird durch das Aufkommen des mechanistischen Weltbildes nur erweitert. Leibniz selbst betont die verschiedenen, bis hin zu den Vorsokratikern zurückgehenden Einflüsse ganz ausdrücklich und verweist auf seine eklektizistische Aneignung einzelner Aspekte ganz verschiedener Positionen:

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Einzelne Ideen dieser Untersuchung wurden in anderer Form schon in den folgenden Aufsätzen veröffentlicht: Heßbrüggen-Walter, Stefan / Lyssy, Ansgar: „Maschinen der Kunst, Maschinen der Natur“, in: Busche, Hubertus (Hrsg.): Klassiker Auslegen: Monadologie, Berlin 2009, 175– 196; Lyssy, Ansgar: „Monaden als lebendige Spiegel der Welt“, in: Busche, Hubertus (Hrsg.): Klassiker Auslegen: Monadologie, Berlin 2009, 145–160; Lyssy, Ansgar: „Der Organismusbegriff bei Leibniz“, in: Stache, Antje (Hrsg.): Das Harte und das Weiche. Körper – Erfahrung – Habitus, Bielefeld 2006, 171–186; „Psychophysische Kausalität bei G. W. Leibniz“, in: Breger, Herbert / Herbst, Jürgen / Erdner, Sven (Hrsg.): Akten zum XX. Internationalen Leibnizkongress, Hannover 2006, 546–554; „Freiheit und Kausalität bei G. W. Leibniz“, in: Herbert Breger u. a. (Hrsg.): Akten zum XXI. Internationalen Leibnizkongress, Bd. 2, Hannover 2011, 632–642. Siehe dazu v. a. Jorati, Julia: „Leibniz on Concurrence, Spontaneity, and Authorship“, in: The Modern Schoolman 88 (2011), 267–297; Lee, Sukjae: „Leibniz on Divine Concurrence“, in: Philosophical Review 113 (2004), 203–48; McDonough, Jeffrey: „Leibniz: Creation and Conservation and Concurrence“, in: The Leibniz Review 17 (2007), 31–60. Siehe dazu bspw. Rodriguez-Pereyra, Gonzalo: „Leibniz. Mind-body causation and pre-established harmony“, in: Le Poidevin, Robin / Simons, Peter et al. (Hrsg.): Routledge Companion to Metaphysics, New York 2009, 109–118.

Leibniz in seiner Tradition

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Die Betrachtung dieses Systems macht auch kenntlich, dass man, wenn man in den Grund der Dinge eindringt, mehr Vernunft in den meisten Philosophenschulen entdeckt, als man glaubt. Die geringe substanzielle Wirklichkeit der sinnlichen Dinge bei den Skeptikern; die Reduktion von allem auf Harmonien oder Zahlen, Ideen und Perzeptionen bei den Pythagoreern und Platonikern; das Eine, das zugleich ein All ist, bei Parmenides und Plotin ohne jeden Spinozismus; die mit der Spontaneität der anderen verträgliche Verbindung der Stoiker; den Vitalismus der Kabbalisten und Hermetiker, die in alles Empfindung legen; die Formen und Entelechien des Aristoteles und der Scholastiker; und sogar die mechanische Erklärung aller besonderen Erscheinungen nach Demokrit und den Neueren – sie alle finden sich vereinigt wie in einem Zentrum der Perspektive, bei welcher der Gegenstand […] die Regelmäßigkeit und Übereinstimmung seiner Teile erkennen lässt.37

Um diese Einflüsse aller Art auch nur ansatzweise nachzuvollziehen, sollen im Folgenden verschiedene Positionen skizziert werden – zumindest so, wie sie für Leibniz relevant sind. Dabei werden einige Ergebnisse der folgenden Untersuchung hier in grob andeutender Weise schon vorweggenommen. 3.1. Antike Grundlegungen Wie für fast jeden neuzeitlichen Philosophen ist Platon eine bedeutende Referenz für Leibniz. Platon konzipiert eine doppelte Erklärung der Naturdinge: Einerseits kann man diese im Hinblick auf einen ordnenden, planenden Schöpfer verstehen, andererseits auf ihr ewiges Wesen zurückbeziehen, das in den Ideen erkannt werden kann. Im Ganzen der Welt wirkt so eine formhafte Gesetzlichkeit (tevcnh) göttlichen oder menschlichen Ursprungs, die dem Gegenstand dieser Gesetze, der für sich nicht zielgerichtet wirkenden Natur (fuvsi~), übergeordnet ist und für das Wohlergehen der Dinge sorgt, so, wie ein Arzt den Kranken zum Wohlergehen hinführt38. Diese Angleichung der Natur an die Kunst wird von Leibniz auch in einem theologischen Kontext aufgegriffen, wenn er von der Schöpfung als Kunstgriff (artifice) spricht: Die Natur ist durch ihren Urheber final ausgerichtet. In dem Dialog Phaidon wird der Ansatz des Anaxagoras diskutiert, nach dem das universale Geschehen durch ein allumfassendes Vernunftprinzip begründet ist. Sokrates weist jedoch auf ein zentrales Problem dieses Ansatzes hin, wenn er fordert, dieses Prinzip auch tatsächlich als Erklärungsgrund aufzugreifen und konkrete Ursachen zu benennen, statt dass es bloß als allgemeiner Verweis auf die universelle 37

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„La consideration de ce systeme fait voir aussi que lorsqu’on entre dans le fonds des choses, on remarque plus de la raison qu’on ne croyoit dans la pluspart des sectes des philosophes. Le peu de realité substantielle des choses sensibles des Sceptiques; la reduction de tout aux harmonies ou nombres, idées et perceptions des Pythagoristes et Platoniciens; l’un et même un tout de Parménide et de Plotin, sans aucun Spinozisme; la connexion Stoïcienne, compatible avec la spontaneité des autres; la philosophie vitale des Cabalistes et Hermetiques, qui mettent du sentiment par tout; les formes et Entelechies d’Aristote et des Scholastiques; et cependant l’explication mecanique de tous les phenomenes particuliers selon Democrite et les modernes, etc. se trouvent reunies comme dans un centre de perspective, d’où l’object […] fait voir sa regularité et la convenance de ses parties […].“ Eclaircissement des Difficultés (1696), GP IV, 523 f. Platon: Gorgias, 464c.

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Einleitung

Vernunft dient. Er fordert dazu eine Erklärung, auf welches Ziel diese Vernunft hin ausgerichtet ist. Auf Einzelfälle, wie etwa die Tatsache des Sternenumlaufs um die Erde, ist diese theoretische Grundüberlegung gerade nicht ohne Hinzunahme weiterer Prinzipien anzuwenden und Anaxagoras kann die im Folgenden von Sokrates geforderte Vernunft der Gestirne natürlich nicht nennen. Sokrates resümiert: so kam ich denn zu der Überzeugung, dass, wenn es sich so verhält, eben die Vernunft auch wirklich alles ordne und ein jedes Ding auf die denkbar zweckmäßigste Weise einrichte, wenn also jemand die Ursache in Bezug auf irgend etwas finden wolle, wie es entsteht oder vergeht, oder ist, so müsse er ergründen, welches gerade für dies Ding die zweckmäßigste Art zu sein oder sich sonst in irgendwelchem Zustand des Leidens oder Wirkens zu befinden sei.39

Damit bringt Platon gleich zwei entscheidende Punkte zur Sprache: Es ist eine Sache, eine ordnende Vernunft als allgemeines Prinzip anzunehmen, und es ist doch eine ganz andere, diese für die Einzelfallerklärungen tatsächlich heranzuziehen. Auch wenn eine teleologische Erklärung auf eine allgemeine Vernunft oder einen zwecksetzenden Willen rekurriert, so ist davon doch die menschliche Vernunft oder Einsichtsfähigkeit deutlich verschieden. Anaxagoras hat eine allgemeine Ursächlichkeit angegeben, aus der aber keine konkreten Einzelursachen abgeleitet werden können und die deshalb nicht in Kausalerklärungen sinnvoll verwendet werden kann: Es fehlen die Richtlinien, nach denen die konkreten Ziele und Absichten der allgemeinen Weltvernunft bestimmt werden können. Stattdessen führt Platon im Folgenden40 die Unterscheidung zwischen der eigentlichen (Zweck-) Ursache und den Entstehungsbedingungen (in der lateinischen Terminologie: conditio sine qua non) ein: Sokrates ist nicht deswegen im Gefängnis, weil sich seine Muskeln und Knochen nicht bewegen, sondern weil er sich dafür entschieden hat. Der Wille allein vermag nicht ursächlich zu wirken, wenn der Körper nicht die entsprechende Fähigkeit zur Ausführung besitzt. Um aber ein einzelnes Ding oder Ereignis zu erklären, muss man die entsprechende Absicht, Funktion oder Zweck dieses Dinges verstehen. Das beste Beispiel dafür sind die Organe des Lebewesens: Die Individuierung von Organen wird anders erfolgen, wenn man ihre Funktion kennt, als wenn man sie nur anhand von Form und Beschaffenheit unterscheidet. Leibniz wird diesen Punkt aufgreifen, wenn er in einem gegen die als deterministisch verstandenen Stoiker und Epikureer gerichteten Text eine Paraphrase dieser Passage des Phaidon anführt und gezielt auf Anaxagoras’ Theorie der durch die Himmelskörper bedingten Stabilität der Erde eingeht: Diejenigen, die nichts anderes sagen, als dass zum Beispiel die Bewegungen der Körper um die Erde diese dort halten, wo sie ist, vergessen, dass die göttliche Macht alles auf die schönste Weise erhält, und verstehen nicht, dass es das Gute und das Schöne ist, was sich zusammenfügt, sich formt und die Welt erhält.41

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Platon: Phaidon, 97b. Ebd., 99a ff. Vgl. dazu auch: Spaemann, Robert / Löw, Reinhard: Natürliche Ziele. Geschichte und Wiederentdeckung des Teleologischen Denkens, Stuttgart 2005, 24 f. „Ces gens qui disent seulement par exemple que le mouvement des corps à l’entour soûtient la terre là où elle est, oublient que la puissance divine dispose tout de la plus belle maniere, et ne comprennent pas que c’est le bien et le beau qui joint, qui forme et qui maintient le monde.“

Leibniz in seiner Tradition

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Die allumfassende Vernunft, die der Welt zugrunde liegt, ist für Leibniz eine Erklärung der Prinzipienhaftigkeit des Naturgeschehens im Allgemeinen. Leibniz schätzt eine solch umfassende, weil so abstrakt wie möglich ausgerichtete Erklärung nicht gering, vielmehr sieht er darin den Grund für die Möglichkeit der Erklärung eines jeden Kausalgeschehens überhaupt und somit hält er solche allgemeinen Finalerklärungen für epistemisch primär, sie nützt aber nichts für die Erklärung des konkreten Einzelereignisses. Gegen eine allzu abstrakte Erklärung wendet sich Aristoteles, der für Leibniz’ Konzeption der Kausalität eine weitaus bedeutendere Rolle spielt als Platon. Aristoteles führt gegen Platon verschiedene Argumente ins Feld, vor allem lehnt er die Konzeption einer umfassenden Gesetzlichkeit (tevcnh) ab, da diese dem zielgerichteten und intelligenzgesteuerten Handeln der Menschen analog konzipiert ist. Er schlägt stattdessen vor, das Handeln der Menschen als der Naturgesetzlichkeit unterlegen zu konzipieren. Die Natur (fuvsi~) selbst kann als der Ort der maßgeblichen Einheitsfunktion der Dinge verstanden werden, wie auch als Ordnungsfunktion jedes Geschehens und zugleich als Materie und Prozess allen Werdens42. Das Prinzip der Veränderung ist nicht von Einheit und Wesen der Dinge zu trennen. Das menschliche Handeln soll nicht als Vorbild für die theoretische Reflektion der Natur dienen, sondern umgekehrt ist dieses vor dem Hintergrund der natürlichen Entwicklungen zu verstehen. Dem aristotelischen Wissensbegriff nach wissen wir dann über etwas Bescheid, wenn wir auf die Frage nach dem warum eine Antwort geben können.43 Damit ist sein Begriff des Wissens an unser Verständnis von Ursachen geknüpft. Freilich hat Aristoteles einen Ursachenbegriff, der sich deutlich von unserem heutigen Verständnis unterscheidet. Im Alltag etwa wollen wir wissen, warum etwas, ein propositional ausdrückbarer Sachverhalt, der Fall ist, während für Aristoteles nach dem Grund eines Dinges zu fragen ist. Dies ist ein zentraler Aspekt des Kausalitätsdenkens, der von entscheidender Bedeutung für Leibniz sein wird. In diesem Sinne unterscheidet Aristoteles vier Arten von Ursachen: materiale, effiziente, finale und formale. In einem berühmten Beispiel aus der Physik illustriert er dies anhand einer Statue44: Mit der Materialursache, seit der Scholastik als causa materialis bekannt, ist der Stoff gemeint, aus dem ein Gegenstand besteht, z. B. im Fall einer silbernen Statue das Metall. Die Formursache, causa formalis, ist die Gestalt oder die Figur oder das Modell des Gegenstandes, hier etwa die Gestalt eines Pferdes. Die Wirkursache, causa efficiens, bezeichnet den Ursprung der Veränderung oder des Fehlens derselben; im Beispiel der Statue entspricht dies dem Bildhauer. Die Zweckursache, causa finalis, schließlich ist das Ziel, die Antwort auf die Frage wozu?, hier etwa die schmückende Funktion der Statue. Heute aber beschränken wir unsere Rede von Ursachen im Alltag, wie auch in den Wissenschaf-

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Sentiments de Socrate opposes aux nouveaux Stoiciens et Epicureens (1678–80 [?]), A VI, 4, 1388. Vgl. Garber: Leibniz, a. a. O., 234. Siehe dazu etwa Buchheim, Thomas: „The Functions of the Concept of Physis in Aristotle’s Metaphysics“, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 20 (2001) 201–234. Aristoteles, Physik, Buch II, 194b. Aristoteles, Physik, Buch III, 195a.

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Einleitung

ten und in der Philosophie, auf die Wirkursachen und gliedern die Finalursachen in einen eigenen, als gegenläufig gedachten Bereich ein, in die Teleologie, deren Erklärungskraft in wissenschaftlichen Kontexten heute nicht mehr akzeptiert wird. Der große Vorteil des aristotelischen Ansatzes ist es, Beschaffenheit oder Essenz eines Dinges mit seiner Existenz zusammen denken zu können, während beides auch begrifflich ausdifferenziert werden kann. Dies wird etwa bei der Betrachtung der Lebewesen deutlich, denn hier können wir diese beiden Aspekte streng genommen nicht voneinander trennen – es gibt kein Wesen der Pferde ohne die Existenz von Pferden. Wenn wir also wissen wollen, warum es Pferde gibt, dann kommen wir nicht umhin, auch den Grund zu nennen, warum es sich bei diesen Lebewesen um Pferde handelt – und umgekehrt. Dies wird im aristotelischen Substanzbegriff aufgegriffen, weil in ihm die Beschaffenheit eines Tieres, seine Spezies, nicht von der faktischen Existenz dieser Tierart losgelöst werden kann – eine von der Existenz abgelöste Essenz kann nicht verstanden werden. Dies wird besonders deutlich im Kontrast zu Platon, der diese Gattungsbegriffe und damit die Essenzen den Einzeldingen ontologisch primär konzipiert und ihnen eine eigene Existenzweise zuspricht. Ohne echte, konkrete, existierende Pferde gibt es jedoch bei Aristoteles auch keine „Pferdheit“, kein Pferde-Wesen. Bei Aristoteles hat deshalb die Substanz immer eine allgemeine und zugleich eine individuelle Komponente. Sie besteht folgerichtig aus einer Form und einer Materie, die beide wechselseitig voneinander abhängen und einander bedingen. Die Materie ermöglicht die Existenz einer Form und konkretisiert sich in einem Individuum. Dabei erfährt die Materie durch die Form ihre allgemeine Bestimmung, nach der dieses Wesen begrifflich gedacht werden kann und, im Falle der Lebewesen, sich durch Beibehaltung dieser Form in einer weiteren materiellen Ausprägung reproduzieren kann. Fragt man im Kontext des Beispieles eines Pferdes nach dem warum?, dann bestehen die Antworten vier mal im Verweis auf einen Aspekt des Pferdes: Die Materialursache eines Pferdes ist der Pferdekörper, die Wirkursache liegt in dem Prozess des Heranwachsens, im „Pferd-Werden“. Dies bezeichnet Aristoteles auch als Entelechie, womit die Fähigkeit bzw. Tendenz eines Lebewesens oder Dinges gemeint ist, das zu werden, was es eigentlich ist. Die Formursache benennt die Art Pferd. Die Finalursache schließlich sind weitere Pferde, die durch Paarung entstehen können. Die Formursache nimmt dabei eine besondere Rolle ein, weil die Form oder Idee (eijdo~) die sich dem Denken erschließende Gestalt (morfhv) bestimmt und so für die Rückführbarkeit jeder Manifestation auf eine dem Ding wesentliche Identität verantwortlich ist. Die Form macht die Wesenheit (oujsiva) des jeweiligen Einzelnen aus, das „Wesenswas“ oder „Was-es-heißt-dies-zu-sein“ (to tiv m\n ei|nai). Damit ist die Form auch das für die Individualität konstitutive Element sowie das, was in einer definitorischen Wesensbestimmung zum Ausdruck kommt. In der Form fallen Zweck und Wesen zusammen, weil der Zweck einer Entität in dessen voll realisierter Form liegt, die zugleich sein Wesen ist und seine Entwicklung bestimmt. Solche Ideen scheint Leibniz auch immer wieder aufzugreifen, wenn er davon ausgeht, dass das einzelne Lebewesen nicht anders kann, als seinem Wesen gemäß zu handeln, darin aber nicht kausal, sondern final bestimmt ist (s. Teil VII, Kapitel 4).

Leibniz in seiner Tradition

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Der aristotelische Substanzbegriff hat einen enormen Erklärungsvorteil gegenüber der Urstofflehre der Milesier, den Zahlentheorien der Pythagoreer, dem Einheitsdenken der Eleaten und der Ideenlehre Platons: Er kann das Entstehen und Vergehen der Dinge thematisieren und erklären, warum es etwas diesen Prozessen gegenüber Indifferentes und Unveränderliches gibt, das jedem Wandel zugrunde liegt, ohne dabei zusätzliche transzendente Entitäten wie die platonischen Ideen anzunehmen. Es handelt sich um ein Denken in Qualitäten, die ineinander übergehen können, sich gegenseitig realisieren und echte wirklichkeitskonstituierende Momente sind. Platon ordnet Sein und Werden unterschiedlichen Seinsregionen zu, dem Sein die Ideenwelt, dem Werden die irdisch-materielle Welt, wobei letztere durch erstere geformt und angeleitet wird. Damit provoziert der die Kritik, dass die Verbindung der Seinsregionen unklar ist. Während Parmenides noch das Werden zugunsten des reinen, unveränderlichen Seins verneint und Heraklit dagegen das Sein ablehnt und nur den ewigen Prozess der Veränderung gelten lassen will, so kann Aristoteles beides denken, das unveränderliche Sein als die Form, die hier auch als die Substanz bezeichnet werden kann, und den Prozess des Werdens, in dem sich die Form konkret und zeitlich realisiert. Er kann so beides, Sein und Werden, in seinem Substanzbegriff vereinen als Elemente, die nur der Aussage nach, nicht aber der Sache nach getrennt sind. Anders als Platons ewige und unveränderliche Ideen sind Aristoteles’ Substanzen vergänglich und korrumpierbar, alle Prozesse des Entstehens, Werdens und Vergehens sind den Substanzen inhärent und wirklich. Es ist nicht nötig, eine transzendente Welt der ewigen Ideen anzunehmen. Aristoteles versteht alle Arten der Veränderung als Bewegung im weitesten Sinne, nicht nur als kinetische Bewegungen. Auch Leibniz vertritt die These, dass alle Veränderungen der Körper durch Bewegungen erklärt werden können45. Jede Bewegung aber erfordert eine Ursache, einen Beweger, der dieser Bewegung innewohnt oder sie von außen angestoßen hat. Dazu kennt Aristoteles noch eine Theorie der natürlichen Bewegungen, die an die Lehre von den vier Grund-Elementen gebunden ist. Nach dieser Lehre wohnt den verschiedenen unbelebten Körpern ein Streben zu ihrem natürlichen Ort inne, der ihren Zusammensetzungen und ihren Qualitäten entspricht, letztere etwa Hitze, Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit: Wirft ein Mensch einen Stein empor, so fällt dieser nach unten, weil er zu seinem natürlichen Ort heimkehrt, von dem ihn etwa der Mensch durch das Aufheben und Werfen getrennt hat. Die Flammen des Feuers streben von sich aus nach oben, den Sternen entgegen, die als Verkörperungen reinen Feuers ihren Ort am Himmel gar nicht erst verlassen können. Lebendige Wesen bewegen sich aufgrund einer inneren und immanenten Ursache, nämlich kraft der als Bewegungsprinzip fungierenden Seele. Die unbelebten Dinge dagegen kehren in natürlichen Bewegungen zu ihrem natürlichen Ort zurück. Dabei entsprechen die Bewegungen den Essenzen der Dinge: Was schwer ist, fällt nach unten; was leicht ist, steigt nach oben. Der natürliche Ort ist dabei das natürliche Ziel im Sinne einer Finalursache, denn Fernwirkungen kann es nicht geben. Damit führt die aristotelische Physik direkt in eine 45

„Nam per motum localem caetera phaenomena materialia explicari posse agnoscimus.“ SD, GM VI, 237.

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Einleitung

Aporie: Wenn die unbeseelten Dinge sich nicht selbst bewegen können und es keine Fernwirkung geben kann, dann scheint es unmöglich, einen Grund für die Bewegung anzunehmen46. Diese Aporie wird bei Leibniz, der großes Interesse an der Wiederbelebung der aristotelischen Physik hat, dazu führen, dass er die umfassende Beseeltheit aller materiellen Dinge annimmt. Substanzen sind sowohl ontologisch grundlegend für die Existenz aller Eigenschaften und Besonderheiten, als sie auch der letzte epistemische Grund einer jeden Erklärung sind. Sowohl für eine echte Erklärung als auch einen ontologischen Grund bedarf es eines Wechsels von der physikalischen Ebene auf die substanzontologische. Leibniz greift diese Doppelung von ontologischer und epistemologischer Priorität der Substanz schon in seinen frühen Schriften auf und behält sie stets bei, auch wenn er dies in den Kontext seiner komplexen Theorie der einfachen Ideen und der vollständigen Begriffe einfügt. Dabei greift er die substanzontologischen Debatten der Antike auf: Nach Platon ist es die unzerstörbare Seele, die den Körpern Substanzialität verleiht, ihnen Leben und Empfindungen ermöglicht und so die bloße Masse zu einem bestimmten Wesen macht. Leibniz beruft sich folglich auf Platon, wenn es um die Immaterialität und Unzerstörbarkeit der Substanz geht und wenn er die Wirklichkeit der Lebewesen aus ihrer Vereinigung von Seele und Körper heraus begründet47. Auf Aristoteles dagegen beruft er sich, wenn er der Unzerstörbarkeit der Substanz seine Theorie der Metempsychose zur Seite stellt, nach der ein Lebewesen verschiedene Formen durchlaufen kann und dennoch dasselbe bleibt, so wie eine Raupe zum Schmetterling wird48. Platon und Aristoteles unterscheiden beide zwischen dem zielgerichteten Werden und der ungerichteten Bewegung, der kivnhsi~. Während bei Platon die ungerichtete Bewegung vor allem dem Sternenhimmel und dem Reich der Ideen zugeordnet ist und keiner Begründung bedarf, streben die werdenden Dinge kraft der ihnen innewohnenden, immateriellen Seele nach einer Gestalt oder Form, die durch die Ideen vorgegebenen ist. Die ideelle Form ist ontologisch besser als das Ding und damit das Gute, nach dem das Ding strebt; das schlechthin Gute ist höchster Erkenntnisgegenstand und mithin Grund allen Seins, weil es die Überlegenheit des Seins gegenüber dem Nichts begründet49. Das Gute ist dabei zugleich der Grund und das Prinzip alles Schönen und Wahren und aller Moral. Die Idee des Guten ist identisch mit der göttlichen Vernunft50. Diese Punkte wird Leibniz mit der aristotelischen Substanzenlehre verbinden. Das aristotelische Modell geht auf einfache, unzergliederbare Substanzen zurück, die Individuen sind und zugleich eine Gattung realisieren. Das Wesen dieser Substanz aber ist weder zergliederbar, noch ist sein Begriff weiter zerteilbar. Das be46 47 48 49 50

Siehe dazu Dijksterhuis, Eduard Jan: Die Mechanisierung des Weltbildes, Berlin/Heidelberg u. a. 1987, 30 ff. Brief an Arnauld, 28. November / 8. Dezember 1686, A II, 2, 121. NE, Vorwort, A VI, 6, 58. Platon: Politeia, Buch VI, 505a ff. Die Idee des Guten an sich übersteigt die Seinsidee. Vgl. ebd., 509b. Ders.: Philebos, 22.

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deutet, dass man es hier mit Entitäten zu tun hat, die sich bloß ihrem Wesen nach unterscheiden, ohne dass man dieses Wesen näher benennen könnte – ein Pferd ist nicht deshalb ein Pferd, weil es vier Beine hat und wiehert, sondern weil ihm eine nicht näher bestimmbare ‚Pferdhaftigkeit‘ zukommt. Aristoteles nennt dies das uJpokeivmeivnon, man kann es unter gewissen Vorbehalten mit dem lateinischen Terminus subiectum oder auf Deutsch als „Zugrundeliegendes“ oder „Substanz“ übersetzen. Duns Scotus hat dieser rätselhaften, weil sprachlich nicht näher bestimmbaren Besonderheit den Namen haecceitas verliehen, also „Dasheit“ oder „Diesesheit“, die den allgemeinen Aspekten des Dinges, der quidditas, gegenübergestellt ist. Leibniz identifiziert diese haecceitas als identifizierbare und komplexe Identität eines Lebewesens, als sein vollständiger Begriff51. Dieser Begriff ist dann letztlich die apriorische, formale Grundlage der Identität der individuellen Entelechie, die Leibniz am Vorbild der aristotelischen Entelechie begreift. Aristoteles denkt das Prinzip der teleologischen Ausrichtung der Dinge als in diese hineingelegt. Die Vorsokratiker unterscheiden nicht zwischen den Fragen nach dem Was, dem Woher und dem Wozu, sondern bündeln diese in der Frage nach dem Ursprung, der archv. Teleologische Erklärungen werden vor allem bei Platon und Aristoteles als die Antworten auf die Frage, was für etwas das Beste sei, angeführt. Den Vorsokratikern wirft Aristoteles im 1. Buch der Metaphysik gerade vor, die Frage nach dem Zweck von etwas aus ihrem Fragen nach dem Ursprung ausgeklammert zu haben.52 Einzig Anaxagoras und Hermotimos von Klazomenai gesteht er zu, dass in der Natur die Vernunft (nou§~) der Grund der Schönheit (kovsmo~) und der Ordnung sei: Denn dass sich im Sein und Werden das Gute und Schöne findet, davon kann doch billigenderweise nicht das Feuer oder die Erde oder sonst etwas die Ursache sein […]; aber ebenso wenig ging es wohl an, eine so große Sache dem Zufall und dem Ungefähr zuzuschreiben.53

Aristoteles wendet sich gegen die platonische Idee, die Urform als das Ziel der Dinge transzendent zu denken, weil so die Kluft zwischen Prinzip und Gegenstand desselben zu groß wird und einen Mittler erfordert, was er in dem berühmten Problem vom dritten Menschen formuliert54. Er versucht, diese Kluft zu überbrücken, indem er die formgebenden Ideen als abstrakte Formen in die Dinge selbst hineindenkt. Die von Menschen in die Welt gesetzte Teleologie der Artefakte orientiert sich dabei an der natürlichen Teleologie, welche die Form der Dinge in ihrem natürlichen Wandel bestimmt: Der Mensch schafft seine Artefakte so, wie es die Natur auch tun würde. Wären Teller, Häuser, Gabeln usw. natürliche Dinge, so würden 51

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Siehe DM, § 8, A VI, 4, 1539 f.: Es ist Gott, der „den individuellen Begriff oder die haecceitas Alexanders erkennt, darin zu gleicher Zeit die Grundlage und den Seinsgrund aller Prädikate erkennt, die man von ihm wahrhaft aussagen kann […]“ – „Dieu voyant la notion individuelle ou hecceité d’Alexandre, y voit en même temps le fondement et la raison de tous les predicats qui se peuvent dire de luy veritablement […].“ Gegen die haecceitas als ein eigenständiges, jenseits von Begriff und Substanz zu denkendes Individuationsprinzip wehrt er sich gleichwohl, siehe A VI, 1, 18 f. Aristoteles: Metaphysik, Buch A, 983b. Ebd., Buch A, 984b. Aristoteles: Metaphysik, Buch A, 990a.

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sie sich nicht von den besten von Menschenhand geschaffenen Exemplaren unterscheiden. Dabei geht es nicht nur um die Form der Dinge, sondern auch um deren Vollständigkeit, ihren Realitätsgehalt und ihre moralischen Werte. Schließlich ist in der antiken Philosophie die Annahme verbreitet, dass die kosmische Ordnung ihrem Wesen nach eine Rechtsordnung ist und dass die ontologische Struktur des Seins selbst auch als eine deontische Struktur gedacht werden muss, was sich für den menschlichen Geist als eine sittliche Weltordnung erschließt. Der Kosmos wird als eine deontische Ontologie konzipiert, in deren Rahmen die Dinge nicht einfach nur sind, sondern auch auf eine bestimmte Weise sein sollen: Form und Ablauf des weltlichen Geschehens sind einem übergeordneten Recht gemäß vorgeschrieben. So war die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Ursachenbegriffs (als Adjektiv: ursächlich, ai[tio~) eher „schuldig“ oder „verantwortlich“ in einem juristischpolitischen Sinne. Dabei klingt die von Anaximander formulierte Idee nach, dass jede Veränderung auch eine Verpflichtung der Dinge untereinander und im Rahmen kosmischer Gesetze bezüglich ihrer Ursache bedeutet. So ist mit dem aristotelischen Diktum der Unbedingtheit Gottes wörtlich und eigentlich die „Schuldlosigkeit“ Gottes gegenüber den anderen Dingen gemeint55. Ebenso bedeutete Prinzip bzw. Ursprung (archv) ursprünglich „Herrschaft“, sogar die lateinische Entsprechung principium ist abgeleitet von princeps, was den Ersten im Staate bedeutet, etwa den Kaiser. Explizit wird diese ‚deontische Ontologie’ wohl zum ersten Mal auf theoretische Weise in dem Satz des Anaximander formuliert, dem ältesten Fragment der Philosophiegeschichte: „Aus welchen [seienden Dingen] die seienden Dinge ihr Entstehen haben, dorthin findet auch ihr Vergehen statt, wie es in Ordnung ist, denn sie leisten einander Recht und Strafe für das Unrecht, gemäß der zeitlichen Ordnung“56. Dieses aus dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert stammende Zitat ist für den hier diskutierten Kontext vor allem in einer Hinsicht bemerkenswert: Hier wird die natürliche Ordnung des Kosmos als eine Rechtsordnung begriffen, der Mensch und Dinge gleichermaßen unterliegen. Dabei handelt es sich um eine zyklische Ordnung, in der die Dinge wie ein Pendel57 zwischen Unrecht und Buße oszillieren, wie in einem kosmischen Wettstreit einbegriffen und stets nach einem Gleichgewicht strebend. Solche Gleichgewichtsideen mögen noch den intellektuellen Hintergrund bilden, wenn es auch bei Platon im Timaios heißt: „kunstvoll ist die Welt so eingerichtet, dass sie sich Nahrung aus dem verschafft, was sie selbst ausscheidet“58, woraus gefolgert werden kann, „dass also, wie es scheint, das Werden in einem Kreislauf [der Elemente] ineinander besteht“59. So betont Platon, dass die soziale Ordnung der natürlichen Ordnung gemäß ist und arbeitet dies später im Staat zu einer Staatstheorie aus. Dabei sind ihm, wie auch Aristoteles, Stabilität 55 56 57 58 59

Platon: Politeia, Buch X, 617e. DK Fragment 12A9, B1, Übersetzung nach Mansfeld, Jaap (Hrsg.): Die Vorsokratiker, Bd. I, Stuttgart 1983, 73. Siehe dazu Toulmin, Stephen / Goodfield, Jane: The Architecture of Matter, Chicago 1962, 50. Platon: Timaios, 33c. Ebd., 49c.

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und Gerechtigkeit im Sinne eines Ausgleichs von allzu großen Differenzen die entscheidenden normativen Kriterien, die sowohl für den Staat, als auch für die Natur gelten. Die Idee eines universellen Gleichgewichts in allen Veränderungen kann als ein Vorläufer der Idee der Naturgesetze gelten, ebenso als ein Vorbild für den von Leibniz entwickelten Harmoniebegriff. Die Naturprinzipien, die konkreten Ausprägungen der allgemeinen Ordnung des Kosmos, werden bis hin zu Galilei und Newton nicht deskriptiv verstanden, sondern sind immer auch normativ belegt: Die Kreisformen der Sternbewegungen werden etwa als Ausdruck des Guten verstanden, weil die Kreisform selbst als schlechthin besser gilt als jede andere Form; ein Argument, das bis weit in die Neuzeit hinein, sogar bei Galilei noch diskutiert wird. Das Bedürfnis, den Kosmos als ein harmonisches, wohlgeformtes, ökonomisches Gebilde anzuerkennen, reicht dabei in seinen Konsequenzen weit über Ockhams Rasiermesser hinaus. Erst mit Johannes Keplers bahnbrechender Entdeckung der Ellipsenform der Umlaufbahnen stellt man fest, dass diese grundlegende Leitidee nicht immer mit den empirischen Daten in Einklang gebracht werden kann. Es ist bemerkenswert, dass auch der Begriff des Naturgesetzes ursprünglich an den der weltlichen Gesetze angelehnt war, welcher wiederum in Analogie zum göttlichen Gesetz gedacht wurde – eine Verbindung der Natur zu ihrem göttlichen Ursprung, die Leibniz entgegen ihrer weit verbreiteten Ablehnung im Zuge der neuzeitlichen Revolution der Wissenschaften wieder etablieren will. Neben der Idee eines universalen Gleichgewichts als Soll-Zustand ist ein anderer Aspekt dieser deontischen Ontologie bedeutsam: Die Verknüpfung von Realitätsgehalt bzw. Seinsstatus und moralischem Gehalt. Damit ist nichts anderes gemeint als dass dasjenige, was ein Mehr an Realität besitzt, auch moralisch bessergestellt ist oder einen höheren moralischen Rang im Rahmen der Schöpfung einnimmt. Das Böse ist als eine bloße Privation der Realität zu denken: das Ungeformte, das Unbeseelte, das Ungeordnete. Aus diesem Grund ist bei Platon die höchste Idee die des Guten, da diese sogar die Seinsidee noch mitbestimmt; deswegen ist bei Plotin das Eine identisch mit dem schlechthin Guten und die reine Materie nichts weniger als das reine Böse. Solche Ideen einer moralischen Naturordnung spielen auch bei Leibniz eine besondere Rolle. Er wird diese Begründungsformen in seinen umfassenden Theorieapparat aufnehmen, in dem auch die Struktur weltlicher Fakten durch übergeordnete, aber in ihnen wirksame Prinzipien bestimmt wird. Von diesen Prinzipien ist das Streben nach maximaler Ordnung und mithin nach möglichst umfassender Perfektion das höchste, also ein moralischer Grund für Existenz wie Beschaffenheit der Welt. So wird die kausale Struktur der physischen Ereignisse in der Welt mit einer teleologischen Begründung gestützt, die zu ihr nicht „parallel“ steht, sondern sie immanent begründet und selbst wieder auf normative Wertsetzungen zurückgeht. So ist jedes Geschehen mithin sinnhaft, auch wenn es keinen für uns Menschen unmittelbar erkennbaren Urheber haben muss. Epistemisch bedeutet dies, dass jedes scheinbar amoralische Faktenwissen auch für das menschliche Seelenheil relevant sein kann, was mit je unterschiedlichen Gewichtungen konzipiert wird. Spätestens das Aufkommen des Christentums radi-

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kalisiert diese Position: Augustinus etwa nimmt die Position ein, nach der allein das Streben nach Betrachtung der göttlichen Wesenheit eschatologische Relevanz hat. Eine gegenteilige Position kommt dem wieder auflebenden Epikureismus zu60, der seinen Fokus aufgrund seiner Ablehnung solcherart sittlicher Weltordnung vor dem Hintergrund eines atomistischen Weltbildes vor allem auf das Praktische ausrichtet und der einen starken Einfluss auf die Ideen von Thomas Hobbes hatte, gegen den sich Leibniz wiederum wendet. Daneben versuchen andere Denker seit der Renaissance, unter ihnen auch Leibniz, eine Balance zu finden zwischen der für das Seelenheil bedeutsamen Erkenntnis göttlicher Tugenden und der Naturforschung, die vor allem dem praktischen Überleben dienen soll und die damit auf transzendente Moralprinzipien und metaphysische Spekulationen wenn möglich verzichten will. Mit der Idee einer essentiell moralischen Struktur der Weltordnung hängt auch die Idee einer teleologischen Ausrichtung der Welt zusammen und ebenso die Idee, dass die Dinge ihren je spezifischen Platz in der Welt gemäß ihren moralischen Qualitäten oder ihrer individuellen, substanziellen Beschaffenheit einnehmen. Gegen diesen Zusammenhang aber bildet sich in der Antike eine einflussreiche Opposition heraus, die auch praktisch motiviert ist. Denn wenn man erfolgreich mit der natürlichen Welt interagieren will, dann hilft einem dieser auf die undefinierbare, qualitative Besonderheit eines Dinges hinweisende Substanzbegriff nicht weiter. Wenn man etwa Schiffe, Brücken oder Gebäude konstruiert, wenn man Felder absteckt, wenn man Vorräte anlegt oder Handel treibt, sogar wenn man nur den Himmel beobachtet und etwa eine Sonnenfinsternis vorhersagen will, dann reduziert sich das begriffliche Arsenal, das dabei eine Rolle spielt, maßgeblich auf Quantitäten und quantifizierbarer Einheiten. Dazu ist es hilfreich, wenn man die Dinge in der Welt auf etwas reduziert, das entsprechend zähl- und messbar ist und damit auch repliziert werden kann. Man begreift die Dinge in verschiedenen empirischen Größen, wie Gewicht, Größe, Form, Anzahl, usw. Für solcherart Quantifizierungsversuche versucht man die Materie selbst als unabhängig von allen individuierenden Formen zu denken. Jede Veränderung ist somit derivativ gegenüber dem ewigen, unveränderlichen materiellen Substrat, welches das Universum ausmacht. Sie kann auf mathematisch berechenbare Kombinationen einzelner Grundelemente zurückgeführt werden. Dieser Ansatz hat eine Idee begründet, die sowohl der platonischen als auch der aristotelischen Philosophie entgegengesetzt ist und die auch heute noch unser modernes Weltbild bestimmt: Der Atomismus. Der Atomismus ist wohl vor allem in der Auseinandersetzung mit der Einheitsphilosophie der eleatischen Ontologie entstanden und wird in der Antike hauptsächlich durch die Lehren von Leukipp, Demokrit, Epikur und später durch Lukrez vertreten. Er reagiert auf das von Parmenides konzipierte ewige Sein, nach dem keine Veränderung möglich ist, indem er dieses irreduzible Sein nicht der gesamten Wirklichkeit zuschreibt, sondern ihren kleinsten Bestandteilen. So reduziert er die Entitäten der Welt auf nur zwei Seinsweisen, die Atome und das Nichts. Alle anderen Entitäten sowie deren Eigenschaften lassen sich letzten Endes auf Atom60

Zum neu erstarkten Epikureismus in der Neuzeit siehe Wilson, Catherine: Epicureanism at the Origins of Modernity, Oxford 2008.

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bewegungen und -akkumulationen zurückführen. Diese als eigenständige Dinge zu denken ist nichts als ein begriffliches Hilfsmittel, um die für uns unüberschaubaren Zusammensetzungen der Dinge denkbar zu machen. Dabei sind sich die Atomisten uneinig, welche Formen die Atome haben und wie viele Formen es gibt. Die konkreten Differenzen und Ausprägungen des Atomismus sind in diesem Zusammenhang jedoch unwichtig. Entscheidend ist vielmehr, dass Aristoteles noch vier Arten der Veränderung annimmt (qualitative und quantitative Veränderungen, Ortsbewegungen sowie Entstehen und Vergehen), die hier auf nur eine reduziert werden können: auf die Bewegung. Diese kann zusammen mit der Materie in einer Triade aus Ursache, Gegenstand und Effekt gedacht werden, von denen jedes Element einzeln benannt und betrachtet werden kann, anders als etwa in der aristotelischen Philosophie, in der die Prozesse des Entstehens und Vergehens ja gerade nicht von der Substanz zu unterscheiden sind. Die atomistische Position kann also kausale Veränderungen auf Bewegung, Stoß und Rückstoß von Atomen reduzieren und verfügt so über eine einzelne, allgegenwärtige primäre Qualität, was verschiedene explanatorische Vorteile hat: Die Anzahl der Arten anzunehmender Entitäten ist minimal, die Anzahl der anzunehmenden Veränderungsgrundlagen ebenso, beides ist quantifizierbar. Die wirklichen Dinge, die Atome, entziehen sich zudem unserer Wahrnehmung und können nur theoretisch erschlossen werden. Die von uns als Einheit wahrgenommenen Dinge, etwa die Lebewesen, sind in ihrer Realität nichts weiter als Aggregationen von Atomen. Damit entwirft der Atomismus eine Realität, die unserer Erfahrung fremd ist und in der den Dingen unserer Erlebniswelt keine ursprüngliche Realität mehr zukommt, auch wenn er gerade als eine Theorie entworfen wurde, die den Sinneserfahrungen entsprechen sollte61. Aristoteles nimmt zwar auch einen allgemeinen und unveränderlichen Grundstoff, ein erstes Sein (tiv ejsti prw'ton) oder eine Erstmaterie (prw'ton u{le) an62, den Äther, der als Ergänzung der traditionellen Lehre der vier Elemente als eine Materialursache der Dinge gelten kann. Allerdings ist bei ihm die bloße Materie nur ein gedankliches Konstrukt, eine rein begriffliche Absonderung von den wirklichen Dingen, während sie im Atomismus zum eigentlichen Grund und Ursprung der Dinge wird. Der Atomismus verweigert sich ebenfalls der Frage nach dem Ursprung der Dinge, er reduziert diese auf die Herleitung einer mechanischen Genese durch Kombination und Rekombination ewig gleicher Teile. Er kennt keine anderen Ursachen als transitive Ursachen. Werden und Vergehen kann er nur auf der Erscheinungsebene verstehen. Er wendet sich gegen die Eleaten, nach denen das Sein we61

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Demnach „glaubte Leukipp Argumente zu haben, die mit der Wahrnehmung Übereinstimmendes aussagen, ohne aufzuheben, dass Werden und Vergehen, Bewegung oder Vielzahl des Seienden stattfinden.“ In diesem Punkt glaubte er sich „einstimmig mit den Phänomenen“, Aristoteles: De generatione, Buch I, 315a24. Übersetzung nach der Ausgabe von Thomas Buchheim, Hamburg 2011, 69. Die Sinne irren sich zwar nicht darin, dass es eine Vielheit und Bewegung gibt, wie Parmenides postuliert; wohl aber darin, was die Natur dieser Vielheit ausmacht. Der Atomismus kann dagegen darlegen, warum die Betrachterbeschaffenheit zu Differenzen in der Wahrnehmung führen muss, siehe Aristoteles: De gen. et corr., Buch A, 1, 315b10. Aristoteles: Physik, Buch q, 7, 1049a.

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der Werden noch Vielheit kennt und bewegungslos ist: Das Universum ist gerade keine Einheit, sondern eine Vielheit zufällig bewegter Einzeldinge, die von uns als materielle Welt erfahren werden. Die eleatische Differenz zwischen Meinung und Wirklichkeit wird zwar als Differenz beibehalten, aber von der reinen Verfehlung der nur durch mystische Versenkung erkennbaren Wirklichkeit zu einer nützlichen Theorie umgelagert, nach der unser Wissen unserer mesokosmischen Perspektive geschuldet, aber deswegen nicht falsch ist. Dies scheint direkt in den Atheismus zu führen: Eine Erklärung des Wesens der Dinge durch ihre begrifflich-ideelle Rückführung auf einen extern ursächlichen Gott (dhmiourgovs) ist dem Atomismus nicht mehr möglich. Der von Aristoteles noch als Begründer des Atomismus gesehene Leukipp will as daraus resultierende Chaos verhindern und eine universale Notwendigkeit (anagkh) als Sinn des Seins ausweisen: „Nichts geschieht ohne Grund, aber alles geschieht aufgrund eines Gesetzes und durch Notwendigkeit“63. Diese mächtige philosophische Position führt zur Herausbildung der Opposition zwischen dem materialistisch-mechanistischen Weltbild der Korpuskulartheoretiker bzw. des Atomismus und dem substanzialistisch-teleologischen Weltbild, das in verschiedener Weise von vielen Vorsokratikern, Platon und Aristoteles vertreten wird64. Diese Opposition ist sogleich wiederum zu relativieren, denn so eingängig diese Klassifizierungen auch sind, so problematisch sind sie auch bei näherem Hinsehen65. Für eine historisch angemessene Beschreibung müsste den einzelnen Autoren und Positionen ein viel größerer Raum eingeräumt werden, als es hier möglich ist. Gleichwohl ist es durchaus eine hilfreiche Heuristik, Leibniz vor dem Hintergrund dieser zwei Achsen zu verstehen, um die enorme synthetische Leistung seiner Philosophie zu verstehen. Dies bezieht sich vor allem auf folgende These: Die Beschreibung der Dinge als Substanzen und mithin letzte Realitäten kann nicht in eine Beschreibung der Dinge als bloß materielle Korpuskular- oder Atomgebilde überführt werden, weil sich kategoriale Differenzen auftun, was das Verhältnis von Sein zum Schein angeht und ebenso bezüglich der Bestimmung von materiellen Prozessen durch übergeordnete Prinzipien. Für den Atomismus und die Korpuskularphilosophie scheint in grober Annäherung zu gelten: Die Vielfalt der Phänomene wird gerettet mit ihrer „dezidierten Umdefinition“66. Die sekundären Eigenschaften der Dinge liegen bloß im Bereich des menschlichen Fürwahrhaltens, da der Mensch nicht in der Lage ist, die ungeheure Komplexität der Dinge zu überschauen. Dadurch reduziert sich die Menge an Qualitäten, die den Körpern 63 64 65

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Diels, Hermann / Kranz, Walther (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker, Hildesheim 1903 u. ö., Fragment 67B2. Siehe Furley, David: The Greek Cosmologists, Bd. 1: The Formation of the Atomic Theory and its Earliest Critics, Cambridge 1987, 1 ff. Für eine Problematisierung der Idee, die mechanistische Philosophie sei irgendwie einheitlich auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, siehe Garber, Daniel / Roux, Sophie: „Introduction“, in: dies. (Hrsg.): The Mechanization of Natural Philosophy, Heidelberg, New York 2012, xi–xviii; Garber, Daniel: „Remarks on the Pre-history of the Mechanical Philosophy“, in: ebd., 3–26. Angehrn, Emil: Der Weg zur Metaphysik. Vorsokratik, Platon, Aristoteles, Weilerswist 2000, 178.

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zugeschrieben werden, auf eine überschaubare Anzahl, die von den Wissenschaften präzise erfasst werden kann und aus denen normativ-ideelle Geltungsansprüche, wie sie bspw. im Platonismus erhoben werden, verbannt sind. Dafür hat der Atomismus auch verschiedene explanatorische Nachteile: Die Ähnlichkeit von Lebewesen einer Art kann kaum anhand des Atommodells erklärt werden. Ein Ansatz dazu wird zwar von Epikur eingeführt, der neben den von Demokrit postulierten „Wirbeln“ (dine§) als kosmischer Struktur, die aus dem Aneinanderstoßen und Abprallen der Atome entsteht, auch noch die „Samen“ (spevrmata) kennt, durch die noch ein Element der spontanen Selektion in die Welt kommt. Leider sind kaum Texte der Philosophie Epikurs erhalten geblieben, so dass gerade dieser Aspekt umstritten geblieben ist. Auch kann der Atomismus weder die Idee aufgreifen, dass den Dingen ein Streben nach einer moralischen Ordnung innewohnt, noch kann er eine echte Einheit von beseelten Lebewesen konzipieren, was ihn beides für die christliche Philosophie unhaltbar gemacht hat. Dafür hat der Atomismus wiederum den Vorteil, mit der neuzeitlichen Wissenschaft der Mechanik kompatibel zu sein, die die Bewegungen der Körper anhand einfacher Kräfte und Naturgesetze beschreibt und deren Durchbruch mit den Forschungen von Nikolaus Kopernikus und Galileo Galilei stattfindet67. Die Metaphysik Leibnizens strebt an, diese Kluft zwischen Atomismus und teleologischem Weltbild aufzuheben und die dem Atomismus verhaftete, neuzeitliche Wissenschaft mit Ideen- und Substanzenlehre zu versöhnen. Neben dem Atomismus gibt es noch eine weitere philosophische Strömung, die das Denken der Kausalität über anderthalb Jahrtausende beeinflussen wird: der auf die Lehren von Plotin und Proklos zurückgehende Neuplatonismus. Diese Philosophie versteht sich als eine Weiterentwicklung der platonischen Lehre auf der Grundlage eines stark hervorgehobenen und ins Ontologische überführten Einheitsdenkens. Der Neuplatonismus konzipiert eine dreistufige Seinslehre, nach der das Eine (e{n), der Geist (nous) und die Seele (yucev) verschiedene Hypostasen bilden, d. h. Verwirklichungen des Urprinzips in der Welt. So entfaltet sich das Eine in unterschiedlichen Formen der Vielheit: Für sich genommen ist es die reine, allumfassende und unbedingte Einheit, die sich allen menschlichen Begriffen entzieht und deshalb undenkbar ist. Der Geist ist das Reich der Unterscheidungen und mithin der begrifflichen Ausdifferenzierungen, er umfasst die Ideen, die zugleich als dynamische, aber abstrakte Kräfte der Veränderung begriffen werden. Die Hypostase der Seele besteht aus der Weltseele und den individuellen Seelen: In ihr werden die abstrakten Begriffe mit der bloßen Materie vereint, es kommt zu Individuation und einer konkreten zeitlich-physischen Dynamik. Die Materie ist dagegen die reine Vielfalt, reine Unordnung. Als die am Weitesten vom echten Sein, dem Einen, entfernte Seinsstufe ist sie zugleich das reine Böse. Plotin kennt drei Hypostasen, die die Welt ausmachen: Das übergeordnete, differenzlose, unbedingte, undenkbare und unveränderliche Eine (eJn); den einheitlichen, die Welt umfassenden und transindividuellen Geist (nou`~), der die Ideen in unmittelbarer Anschauung enthält; und 67

Siehe dazu die einschlägigen Arbeiten von Maier, Anneliese: Die Vorläufer Galileis im 14. Jahrhundert, Rom 1949; Blumenberg, Hans: Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt a. M. 1975.

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die individuelle Seele (yuchv), die die Ideen vermittels einer Reflexionsbewegung in Begriffen (lovgoi) erfasst und in sich selbst die materielle Welt repräsentieren kann. Die Fakten, Dinge und Ereignisse im Bereich des Körperlichen sind dabei wenig reale Erscheinungen des in ihnen waltenden Geistes, der sich vermittels der Einzelseelen in die Körper ausströmt. Diese Emanationstheorie ist eine von Platon vorbereitete radikale Abwendung von den vorherigen Materiekonzeptionen. Die Vorsokratiker waren hauptsächlich Materialisten, die keine Existenz bloß ideeller Entitäten annahmen. Der Geist wurde vielmehr als eine bloß feinstoffliche Materie verstanden, die durch den Körper fließt. Platons Frage nach dem Verhältnis von Vielheit zur logischen Einheit ändert dies. Da es den weltlichen Dingen als bloße Erscheinungen bei Platon an echtem Sein mangelt, kommt der Materie eine grundlegende Funktion zu, ohne dabei aber ein genuiner Ursprung für etwas zu sein: Sie ist die Prägemasse oder „Unterlage (uJpodochvn) und Amme (tiqhvnhn) allen Werdens“68, „denn sie steht von Natur aus als grundlegender Stoff (ejkmagei§on) für alles bereit, das von dem Hereinkommenden bewegt und ausgestaltet wird, und sie zeigt sich in Abhängigkeit von jenem bald so, bald anders.“69 Die amorphe Materie wird von Platon als die „Mutter“ (mhvthr) allen Werdens bezeichnet, daher leitet sich auch der lateinische Ausdruck materia ab. Als Mutter gilt sie insoweit, weil der eigentliche Ursprung, der „Vater“, die Urbilder oder Ideen sind, die sich in einem Abbildverhältnis der Materie einprägen. Aristoteles benennt dieses Mythologem der ungeformten Mutter in u{lh um und macht die Materie so zu einem Teil der Substanz, die untrennbar mit einer substanziellen Form verknüpft ist und nur begrifflich ausdifferenziert werden kann. Bei Plotin ist es die Seele selbst, die die Materie hervorbringt70, was der Seele eine weltschöpfende Funktion zukommen lässt. Da die Materie aber hier als die letzte bzw. unterste Ausfaltung des Einen gedacht wird, also als die am wenigsten vollkommene Instanz der Realität, deren Erscheinung den geringsten Realitätsgrad aufweisen kann, gilt sie als schlechthin böse71. Damit nicht genug, im geistigen Kontakt des Menschen mit der Materie erweist diese sich sogar als Ursprung des Bösen in der Seele72. Bei Plotin wird, ähnlich wie bei Platon, eine Form der teleologischen Dynamik betont, die uns heute fremd ist: Das Streben zum Guten ist atemporal zu verstehen, es führt über verschiedene ontologische Ebenen hinweg zur absoluten Einheit. Das Gute ist nichts, was sich mit physischen Handlungen in irgendeiner Weise erreichen ließe, vielmehr markiert es eine Einheitsfunktion für alles Gegebene, in der auch letztlich alle individuellen Unterschiede aufgehoben sind. Dieser ontologische Aufstieg zum Einen, beispielsweise realisiert im Aufstieg der Seele zu Gott, vollzieht sich zwar aus menschlicher Perspektive zeitlich, dies aber nur in derivativer Hinsicht. Der eigentliche Aufstieg ist ein ontologischer, eine Ablösung von der materiellen Vereinzelung der Körper hin zur Einheit in und mit Gott. Die Bestimmung 68 69 70 71 72

Platon: Timaios, 49a. Ebd., 50c. Plotin: Enneade III 4, 1. Ders.: Enneade I 8, 8; I 8,13. Ders.: Enneade I 8, 14.

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der Seele, das Ziel ihres Strebens, besteht in ihrer vollständigen Selbstrealisierung in der Einheit mit dem Absoluten. Hierbei handelt es sich um eine immanente teleologische Wesensveränderung (bspw. der Samen realisiert sich zum Baum), die von einer transitiven teleologischen Handlung (bspw.: ich mache p, weil ich q will) streng unterschieden werden sollte und die ein entscheidender Schlüssel für das Verständnis der leibnizschen Monadenlehre ist. Der Neuplatonismus versucht damit, die auch von Platon und Aristoteles akzeptierte Vielfalt allen Seins mit einer wohl aus der parmenideischen Tradition stammenden, radikalen Einheit als Grundlage allen Seins zu vereinen. Dies bereitet die für die christliche Philosophie wichtige Konzeption einer Einheit in der Vielheit vor, die auch in der leibnizschen Philosophie eine entscheidende Rolle spielt. Bedeutsam ist hierbei die Formulierung einer immanenten oder emanativen Kausalität, in der das Eine sich in einem Prozess der Ausfaltung in die Vielheit der Welt „ergießt“ – der Neuplatonismus verwendet für diese Kausalität häufig die Metapher einer Quelle, aus der etwas entfließt. Dabei ist das Eine, die Ur-Einheit, keineswegs der Welt und damit der Vielheit der Dinge extern oder fremd, sondern es ist nur unserer menschlichen, an den Dingen orientierten Perspektive fremd. Das Eine geht dabei nicht in der Vielheit auf, sondern diese bleibt in einem fast schon paradox anmutenden, einseitigen Identitätsverhältnis abhängig von dem Einen: Die Vielheit ist die Einheit, aber nicht als Einheit sondern als Vielheit. Die Vielheit ist das Eine, aber nur in bestimmter Hinsicht bzw. in einer bestimmten Perspektive, die es zu transzendieren gilt. Der Ursprungsgedanke der Eleaten wird damit auf eine neue Ebene gehoben, da der Ursprung sowohl in einer höheren Seinsebene verortet wird, wie auch der Versuch unternommen wird, das logische Ursprungsverhältnis der Vielheit aus der Einheit gleich in einer ontologischen Genese mitzudenken. Die weltliche Abfolge der Dinge in ihrer individuellen Beschaffenheit und in ihrer Einbettung in Sachverhalte und einen Ereigniszusammenhang interessiert die Neuplatoniker weniger als ihre Abhängigkeit von der obersten Einheit. Die Zeit als Grundlage aller weltlichen Veränderungen ist ohnehin nur ein bewegtes Abbild der Ewigkeit, die in der reinen Einheit manifestiert ist und in der die eigentliche Wahrheit der Dinge ruht. Der Verweis auf diese statische oberste Einheit dient dann als Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Vielheit per se, auf die weder Platon noch Aristoteles plausible Antworten geben konnten73. Plotin konzipiert die Rückverweisung der weltlichen Vielfalt auf die höheren, einheitlicheren Hypostasen in den Begriffen von Betrachtung oder Theorie (qewriva) und Handeln oder Praxis (pra'xis). Damit ist die Beziehung zwischen übergeordnetem, allgemein-intelligiblem und ontologisch primärem Prinzip und seiner dynamischen, seelischen oder materiellen Verwirklichung gemeint. Dabei richtet sich die Praxis nicht nur nach der Theorie als lenkender Funktion, sondern sie strebt auch zu dieser in ihrem Drang nach Selbstaufhebung in der höheren Einheit. Plotin betont, dass jegliches Handeln bzw. Praxis nach der Betrachtung bzw. 73

Siehe in direkter Bezugnahme auf die neuplatonische Tradition beispielsweise Nikolaus von Kues: De Coniecturis, hrsg. von Josef Koch / Winfried Happ, Hamburg 1971; ebenso De Beryllo, hrsg. von Ernst Hoffmann / Paul Wilpert / Karl Bormann, Hamburg 2002.

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Theorie strebt74. In Verbindung mit der Alterität bzw. der Negation, die weltliche Individuen erst hervorbringt, wirken diese beiden Grundprinzipien ordnend auf das Naturgeschehen. Dies gilt für alle konkreten Wesen, die allesamt dem ihnen zugeordneten Prinzip folgen: „Nach der Betrachtung verlangen alle Dinge, auf dieses Ziel richten sie sich, nicht nur die vernünftigen, auch die vernunftlosen Geschöpfe und die Naturkraft, die in den Pflanzen ist, und die Erde, die die Pflanzen hervorbringt; und alle Dinge erlangen die Betrachtung in dem Grade, in dem es ihnen in ihrem naturgemäßen Zustand möglich ist […].“75

Platons Idee eines transzendenten Einheitsgrundes wird hier monistisch gedacht. Bei Plotin ist die Natur kein bloßes Substrat an Qualitäten, sondern das Ergebnis einer dynamischen Verflechtung zahlreicher Lebewesen, die sich an den Ideen ausrichten. Die Natur kann für sich genommen als ein einziges, strukturiertes Lebewesen begriffen werden, in dem alles mit allem zusammenhängt. Die kausale Struktur und mithin ihr Realitätsgrund ist dabei nicht in der Materie selbst, sondern in den Lebewesen qua ihrer Beseeltheit zu verorten – eine Konzeption, die Leibniz bereitwillig übernimmt76, ebenso wie die Ausdifferenzierung und Dependenz der ontologischen Ebenen Materie-Geist-Ideen-Eines. Damit findet sich im Bereich der immanenten Ursachen eine ontologische Asymmetrie zwischen Substanz und Phänomen, zwischen Entelechie und Bewegung sowie zwischen conatus und impetus. Diese ontologische Asymmetrie ist ein Kerngedanke leibnizscher Metaphysik und steht im Gegensatz zu der temporalen Asymmetrie, die ein Kernaspekt in der von Hume ausgehenden Tradition des Kausalbegriffs als transitiver Ereigniskausalität ist. Für Platon gewährleistet die Ideenlehre die Übereinstimmung der Strukturen des Seienden mit unserem Denken, bei Aristoteles wird dies durch die Substanzenlehre ermöglicht, bei Plotin durch die Hypostasenlehre. Bei allen drei Autoren ist gleichwohl die Grundlagenfunktion der radikalen, d. i. wurzelhaften Einheit entscheidend, die sie allesamt vom Atomismus unterscheidet. Während Platon die Einheit aber als eine transzendente denkt, da sie vor allem im Reich der Ideen gegeben ist, wird sie bei Aristoteles zu einer immanenten Einheit und bei Plotin zu einer Einheit, die sowohl immanent als auch transzendent ist. Die Einheit übernimmt nicht nur die Funktion, Sein und Denkbarkeit des Seienden zu gewährleisten, sondern sie setzt das Seiende bereits als ein ausgerichtetes Seiendes ins Sein.

74 75 76

Plotin: Enneade III 8, 1, 15. Ebd., 1, 2 ff. Siehe dazu Bertini, Daniele: „Plotinus, Leibniz, Berkeley on Determinism“, in: Vassilopoulou, Panayiota / Clark, Stephen R. L. (Hrsg.): Late Antique Epistemology, New York 2009, 211– 227. Leibniz begreift keinesfalls die Welt als Organismus, denn sonst würde ihr zugleich die Seele mit dem höchsten Grad an Perfektion, noch jenseits der menschlichen Seele zukommen. Eine solche Konzeption einer Weltseele würde Leibniz’ Theologie zutiefst widersprechen; aber gleichwohl spiegelt seine Philosophie Plotins Ideen einer fundamentalen Belebtheit der Natur, der Verankerung des Realitäts- und Bewegungsgrundes in den Seelen und eines allumfassenden, harmonischen kausalen Zusammenhangs wider.

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3.2. Der Einfluss des Christentums: Die Welt als Schöpfung Ab dem dritten Jahrhundert bestimmt zunehmend das Christentum die intellektuellen Debatten über Sein, Werden und Ursprung. Zentrale Fragen der Philosophie werden neu kontextualisiert. Während man etwa vorher über das gute Leben in menschlicher Hinsicht nachgedacht hat, so wird nun das gute Leben gegenüber Gott und gemäß dem göttlichen Gesetz thematisiert. Auch ist der Mensch nicht mehr ein Teil unter vielen in der Welt, sondern Mittelpunkt derselben – die Schöpfung steht im Dienste des Menschen und sie stellt den Kontext, in dem die moralische Prüfung des Menschen stattfindet. Im Zusammenhang mit der Kausalitätsdebatte ist die christliche Theologie vor allem in einer Hinsicht entscheidend: Sie löst das antike Weltmodell einer zyklischen Zeit ab durch das einer linearen Zeit, in der das Weltgeschehen eine teleologische Ausrichtung erfährt. Während die Antike ihr Zeitmodell vor allem am perfekten und ewigen Kreislauf des Sternenhimmels orientiert, so durchbrechen das Judentum und das Christentum mit der Figur des noch ausstehenden oder bereits erschienenen Heilands die Zirkularität der Zeit. Die Ankunft des Messias und die Erweckung der Toten am Tag des Jüngsten Gerichts lassen ein zirkuläres Zeitmodell im antiken Sinne nicht mehr zu, sondern die Geschichtlichkeit der Menschen wird nunmehr vor dem Hintergrund des Sündenfalls des Menschengeschlechts und der irdischen Bewährung des Einzelnen als globaler wie individueller Prozess der moralischen Entwicklung gedacht. Die Zeit selbst eröffnet so eine der Schöpfung immanente moralische Dimension, da sie den Rahmen vorgibt, innerhalb dessen sich der Mensch bewähren muss. Das Heilsgeschehen wird als eine grundlegende Kategorie in das Denken der Welt selbst integriert, zusammen mit einer Ökonomie der Gnadenverteilung. Existenz, Sein und Realität verweigern sich damit jeder Reduktion auf einen Status bloß materieller Gegebenheiten. Die Vergangenheit wirkt in Form der Erbsünde in moralischen Geboten und unmittelbar auch im moralischen Status der Menschen nach, die Verteilung der göttlichen Gnade in der Schöpfungsökonomie ist Grund und Ursache für die jeweilige Heilserwartung. Die Struktur der Schöpfung wird so zur endlichen Verkörperung der göttlichen Vernunft und durch den göttlichen Willen wird dem gesamten Kosmos eine Zielgerichtetheit implementiert, etwa in dem Sinne, dass sie dem Menschen als Lebensgrundlage, Prüfung und später auch als Anschauung der Herrlichkeit Gottes dienlich ist. Die Welt verkörpert die göttliche Herrlichkeit und ist insgesamt und für sich genommen gut77. Dem Menschen als Höhepunkt der Schöpfung werden durch die göttliche Offenbarung sein moralisches Ziel sowie Grund und Absicht der gesamten Welt vermittelt. Damit stellt sich auch die Frage nach Grund und Sinn der Welt auf eine neue Weise, indem sie auf Gottes Willen bezogen wird. Der Atomismus kann auf beide Fragen keine Antwort geben und wird deshalb über Jahrhunderte hinweg als Erklärungsmodell abgelehnt. Die atomistischen Konzepte der materiellen Notwendigkeit und der grundlosen Bewegung der Atome werden verworfen. Dagegen können sich 77

Gen. 1. 1, 31: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut.“

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die christlichen Philosophen an Platons Ideen des Timaios anlehnen, etwa dass ein guter Gott die Welt zur Aufhebung des Chaos geschaffen hat. Ähnliche Anknüpfungspunkte ergeben sich mit Aristoteles’ Idee eines unbewegten Bewegers als Ursprung aller Veränderung und durch Plotins Ausarbeitung einer Emanation der Welt aus der divinen Einheit. Als Maßstab für jede Art der natürlichen Veränderung dient die aristotelische Lehre von Bewegungen, die nicht nur die kinetische, also räumliche Bewegung umfasst, sondern die vor allem qualitativen Veränderungen und Entstehen und Vergehen, also ontologische Veränderungen, in den Mittelpunkt rückt. Ein weit verbreitetes Schlagwort lautet: Wer die Bewegung nicht kennt, der kennt auch die Natur nicht (ignorato motu ignoratur natura). Entgegen unseres heutigen Verständnisses gilt im weiteren Sinne jede Art des Übergangs von Potenzialität hin zu ihrer Aktualisierung als Bewegung: „Bewegung ist der Akt des potenziell Seienden, aus dem Gesichtspunkt des potenziellen Seins heraus betrachtet.“78 Das platonische Verständnis von Gott als handwerklicher Schöpfer ist für die Philosophen des Christentums attraktiv, weil es nicht nur eine Erklärung für den Grund des Seins und so einen Ansatz bietet, die philosophische Interpretation der Kosmogenese mit der Bibel zu harmonisieren, sondern weil dies auch einen Grund für die Regelmäßigkeit und den Ausgleich im Naturablauf liefert. Nach Platon hat der Demiurg das Universum als einen effizienten Kosmos mit einer final implementierten Kausalität gestaltet, in der es keine Störungen oder Unterbrechungen gibt. Dies kommt der christlichen Schöpfungsvorstellung sehr entgegen. Aristoteles hatte dagegen ein seit Ewigkeiten existierendes Universum konzipiert, das auch in alle Ewigkeit weiter existiert79 und deshalb sollte der unbewegte Beweger, anders als der platonische Demiurgos, als ein transzendentes, atemporales Prinzip gedacht werden. Dies wird auch von Leibniz aufgegriffen, der seine Prinzipien durchaus analog zu der Idee eines transzendenten unbewegten Bewegers und damit eines absoluten Bewegungsgrundes konzipiert, der keineswegs am Anfang der Zeit steht, sondern jenseits aller Zeitlichkeit selbst. Schließlich weicht Leibniz mit seiner Apokatastasis-Lehre, die ein zyklisches Zeitmodell diskutiert, stark von der christlichen Vorstellung einer Endzeit ab; auch zahlreiche seiner Bemerkungen über die Ewigkeit der Substanzen können in diesem Zusammenhang verstanden werden. Durch den paulinischen Begriff der göttlichen Ökonomie, mit dem Gott als Verwalter der Welt verstanden wird, sind bereits die Konzepte der Aktivität und Persönlichkeit in das Konzept Gottes eingeführt worden80, das bei Platon und Aristoteles noch gänzlich apersonal war. Der einflussreichste Vordenker der christlichen Philosophie, Augustinus von Hippo, wendet den neuplatonischen Monismus in einen Monotheismus um, in dem zwar die Transzendenz Gottes betont wird, ihm aber auch in anthropomorpher Betrachtungsweise Vernunft und Willen zugeschrieben werden. Augustinus übernimmt ebenso die neuplatonische Abwertung der Materie, die mit der dem Christentum genehmen Forderung einhergeht, der Geist habe sich dem Guten, d. h. dem Einen zuzuwenden, das nunmehr in rein geistigen Sphären 78 79 80

Dijksterhuis: Die Mechanisierung des Weltbildes, a. a. O., 21 Aristoteles: De Caelo, 279b12. Siehe dazu Agamben, Giorgio: Herrschaft und Herrlichkeit, Frankfurt a. M. 2008, Kapitel 1–2.

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gesucht wird. Durch die so erneut eröffnete Differenz zwischen der materiell begründeten Welt und dem geistigen Absolutem gilt ihm die Wahrheitssuche in den materiellen Dingen als ein Irrweg des Menschen. Dem stellt er im 7. Buch der Confessiones den „Heimweg“ nach Innen, also in das Reich des Geistes, entgegen. Damit ist einerseits eine kontemplative Zuwendung zum Einen in Form einer Überwindung aller begrifflichen Negationen und Formen im Versuch einer Wesensschau gemeint, andererseits auch die Rückbesinnung auf das Wesen des Geistes als ein intentionales Subjekt selbst, das sich nicht nur selbst erkennen kann, sondern den Materialismus überwindet: Der Geist unterscheidet sich von den Dingen, weil er über diese urteilen kann. Er ist als Teil eines eigenständigen Geschöpfes mehr als ein bloßer Teil des neuplatonischen Weltgeistes, denn ihm kommt ein eigenes Sein zu, das isomorph, also strukturanalog zum göttlichen Geist zu denken ist. Der Mensch ist kraft seiner Geistigkeit das Bild Gottes, von Gott vor allem darin unterschieden, dass er ein endliches Bild Gottes ist. Augustinus ist vermutlich der erste, der den Menschen als endliches Subjekt begreift. In der ihm folgenden Tradition geht dieses Konzept der Subjektivität mit einer Aufforderung zur Kontemplation einher, die auch eine Abwendung von den naturphilosophischen Ideen der Antike ist. Erst mit Petrarca wird die materielle Natur als positiver Ausdruck der göttlichen Schöpferkraft wieder in das Blickfeld der Philosophen gerückt, was als Schlüsselmoment des Humanismus auch eine Aufwertung des leiblichen Menschen bedeutet. Descartes wird die Idee der genuin menschlichen, endlichen Subjektivität später aufgreifen und darauf einen fundamentalen Schlag gegen zahlreiche Positionen der Scholastik gründen. Im Christentum und in Bezug auf die Frage nach der Ökonomie der Gnade erhält die Zeit eine moralische Dimension: Die Welt strebt in temporaler Progression und echten Veränderungen zum Guten hin, weil an ihrem Ende die Erlösung der Gläubigen und Gerechten steht. Wie jedoch die Zeitlichkeit der Welt gegenüber ihrem unveränderlichen und unzeitlichen Schöpfer und Seinsgrund zu denken ist, das stellt sich als eine außerordentlich problematische Frage heraus. Gott selbst kann nicht temporal gedacht werden, da er ansonsten zu jedem Zeitpunkt noch nicht in Gänze realisiert wäre, was seiner Vollkommenheit widersprechen würde. Der schöpferische Willensentscheid kann der Welt also nicht temporal vorhergehen, sondern muss sie als Ganze erfassen. Augustinus übernimmt, wegbereitend für andere christliche Denker, die Idee einer weltumfassenden Teleologie, nach der die Wesen auf die für sie bestmögliche Weise beschaffen sind81. Dadurch ergeben sich auch ganz andere moralische Verpflichtungen der Wesen in Entsprechung der Abhängigkeit von ihrem Schöpfer82. Das Christentum verändert dabei gegenüber den antiken Positionen das Denken der Normativität des Seins selbst. Die natürliche Ordnung muss im Rahmen des christlichen Kontextes auf eine transzendente moralische Ordnung bezogen werden, die ihr als Ursprung und Grund vorhergeht und die dem Menschen im Glauben 81 82

Vgl. Brachtendorfer, Johannes: Augustinus ‚Confessiones‘, Darmstadt 2005, 46. Zu der Abhängigkeit der Welt von Gott als Schöpfung und Erhaltung und zu den historischen Vorgängern Leibnizens siehe McDonough, Jeffrey K.: „Leibniz: Creation and Conservation and Concurrence“, in: The Leibniz Review 17 (2007), 31–60.

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offenbart werden kann. Während die Vorsokratiker die Schuldigkeit des Seins als eine weltimmanente Verpflichtung der Dinge selbst dachten, wird mit dem Konzept eines transzendenten Schöpfergottes eine asymmetrische Schuldigkeit zwischen Schöpfer und Geschöpf gedacht. Die christliche Theologie formuliert dies in verschiedenen Formen als eine zugleich normative und ontologische Abhängigkeit der Geschöpfe von Gott aus, der eine weltliche Ordnung entspricht, die die Stellung des Menschen als imago Dei hervorhebt und diesen so radikal von den Dingen und Tieren unterscheidet. Während Gott das absolut höchste Sein und damit auch das höchste Gut ist, so ist der Mensch als Abbild Gottes das auf Erden höchste Sein und das wertvollste Wesen von materialer Existenz. Der Mensch ist auf Gott als Wesens- und Erkenntnisziel hin ausgerichtet83, er ist als endliches Wesen von diesem jedoch zugleich durch eine unüberbrückbare Differenz getrennt. Augustinus wendet sich gegen die concupiscentia oculorum, also gegen die Eitelkeit der Augen und mithin gegen den Wert der empirischen Erkenntnis. Tertullian geht darüber hinaus und erklärt die Erkenntnis gegenüber der Offenbarung für unnütz: Nach dem Erscheinen Jesu Christi bedürfen wir keiner Neugier, nach dem Wort Gottes auch nicht der Erforschung der Natur (nobis curiositate non opus est, post Christum Jesum; nec inquisitione, post Evangelium)84. Dabei wird die Erkenntnis der weltlichen Dinge nicht vollständig abgelehnt, aber abgewertet gegenüber der für das Seelenheil relevanten Erkenntnis des Einen. Damit stellt sich auch eine andere Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Wissens. Die christlichen Denker im Mittelalter wie in der Neuzeit teilen bis auf die Empiristen weitestgehend die platonische Ansicht, der Mensch könne als imago Dei am göttlichen Geiste teilhaben und so die Fähigkeit zu wahrer Erkenntnis erlangen85. Doch dieser Fakt einer Teilhabe am göttlichen Geiste kann natürlich nicht durch die menschliche Erkenntnis selbst bewiesen werden, sondern er setzt verschiedene Glaubensinhalte voraus, die durch die Kirche vorgegeben werden. Dadurch stellt sich eine Frage, die dem antiken Denken fremd ist: Wie verhält sich das menschliche Wissen zum Glauben durch die Offenbarung? In Bezug auf die philosophische Methodologie formuliert lautet die Frage dann: Inwieweit hängen Erkenntnistheorie und Metaphysik von der Theologie ab oder mit dieser zusammen? Thomas von Aquin arbeitet eine an Aristoteles angelehnte sensualistische Theorie des Wissens aus, nach der den Sinnen eine entscheidende Rolle für die Erkenntnis des Faktenwissens zugesprochen wird. Dem empirischen Wissen wird damit ein hoher Stellenwert zugemessen, entgegen der augustinischen Doktrin reiner Verstandeserkenntnis. Er übernimmt Avicennas Unterscheidung zwischen Ursachen per se, mit denen die durch Gott gegebene Existenz eines Dinges erklärt 83 84

85

„Denn auf dich hin hast du uns gemacht, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.“ Augustinus: Confessiones, Stuttgart 1998, 34 (Buch I, Kapitel I, 1). Siehe Dijksterhuis: Die Mechanisierung des Weltbildes, a. a. O., 102. Dijksterhuis zitiert dabei nach Tertullian: Liber de Praescriptione Haereticorum, c 7, in: Patrologia latina, hrsg. von Jacques P. Migne, Paris 1844, Band II, 20–21; siehe auch Augustinus: Confessiones, a. a. O., Buch X. Siehe dazu die Studie von Schmidt, Andreas: Göttliche Gedanken, Frankfurt a. M. 2009.

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werden kann, und Ursachen per accidens, die als Ursachen der Bewegung gelten. Damit wird die Differenz zwischen theologischem Wissen um den Grund der Welt und dem physischen Faktenwissen um die Beschaffenheit der Einzeldinge eröffnet. Für Thomas ist Gott unbezweifelbar die erste Ursache von allem. Seine Theorie der weltlichen Ursachen aber, welche die Beschaffenheit der Einzeldinge erklären soll, antwortet indirekt auf das eingangs dargelegte Dilemma des Anaxagoras, dass die allgemeine Erklärung der Welt als intelligibel, strukturiert und harmonisch insgesamt nur wenig zu unserem konkreten Verständnis einzelner Ereignisse beiträgt. So ist die Physik als Faktenwissenschaft der Theologie untergeordnet, aber das durch sie erforschte empirische Wissen kann dazu dienen, das Böse zu vermeiden und den eigenen Verstand für die Suche nach dem Glauben zu schärfen. Auch das empirische Wissen um weltliche Ursachen und Entstehungsbedingungen kann dem Seelenheil dienen, wenn auch nicht in dem Maße wie die Theologie. So entsteht zunehmends ein moderner Begriff von Wissenschaft, der nicht mehr auf Glauben und Autoritäten rekurriert, sondern sich auf das Wissen um die Ursachen der Dinge bezieht. Roger Bacon etabliert in diesem Sinne eine Scientia Experimentalis, die er der Sacra Doctrina nicht gegenüber, sondern zur Seite stellt. Damit ist noch keine Experimentalwissenschaft im modernen Sinne gemeint, wohl aber die Idee einer erfahrungsbasierten und praxisbezogenen Wissensevaluation, die zwar kaum durchgeführt werden konnte, doch die als Idee eine Jahrhunderte durchmessende Wirkung entfaltete. Mit solchen christlichen Gedanken ist der Atomismus nicht vereinbar. Bis in die frühe Neuzeit ist er eine tote Option aus heidnischer Zeit, die geradewegs in Häresie, Immoralität und Atheismus mündet. Doch allmählich gibt es mehr und mehr Anreize, ihn wieder ernst zu nehmen. Der griechische Begriff der fuvsi~ erlebt im späten Mittelalter entscheidende Transformationen. Mit Alanus de Insulis gewinnt der an den aristotelischen fuvsi~-Begriff angelehnte Begriff der Natur an Bedeutung, die er in Anlehnung an die göttliche Weltseele und die plotinsche Emanationslehre als hypostasierte, allumfassende und prinzipienhafte Form begreift, als eine selbst als intelligent, d. h. prinzipiengeleitet zu begreifende Zwischenstufe zwischen Gott und der Materie86. Die Weltseele als Grund aller Veränderungen fällt mit der abstrakten, universalen Vernunft zusammen. Dadurch wird der Naturwissenschaft ein eigener Gegenstandsbereich zugewiesen, die Sphäre der niederen, materiellen Ursachen; die Theologie kann die höheren Ursachen und deren Quelle in Gott denken. Damit wird die Möglichkeit der Naturwissenschaft als eigener Wissenschaft etabliert und ihre Abhängigkeit von theologischen Letztbegründungen ausgewiesen. 3.3. Neuzeitliche Positionen: zwischen Materialismus und Moral Der von Wilhelm von Ockham begründete Nominalismus lehnt den Gedanken der Existenz von Universalien ab, da diese die Allmacht Gottes beschränken würden 86

Siehe Dijksterhuis: Die Mechanisierung des Weltbildes, a. a. O., 138 ff.

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und betont die Unbegrenztheit des göttlichen Willens. Dadurch wird auch eine Ablehnung der Ideenlehre und der substanziellen Formen denkbar und es kommt zu einem umfassenden Angriff auf das vormalige Bild eines guten Gottes, an dessen Geist der menschliche Geist in endlicher Form Teil hat. Statt universeller Wesenheiten müssen die Bestandteile des Universums als radikal individuell gedacht werden, die nur durch den menschlichen Geist unter künstliche Begriffe subsumiert werden. Der Nominalismus eröffnet eine ähnliche Differenz zwischen wahrem Sein und bloßem Schein wie der Atomismus: Die Realität ist dem Menschen radikal unverständlich87. Dies wiederum begünstigt empiristische Ideen und wird es später Hobbes, Hume und Locke ermöglichen, der Idee des menschlichen Geistes als imago Dei skeptisch gegenüberzustehen. Die radikale Rückbesinnung auf individuelle Entitäten als Grund allen Seins in einer der Wissenschaft zugänglichen Natur kommt dem Atomismus entgegen und erlaubt es, ihn wieder im positiven wie im negativen Sinne als eine lebendige Option zu sehen. Zudem verzeichnet die Naturwissenschaft, die das Weltgeschehen auf rein quantifizierbare physische Entitäten wie Korpuskel und Kräfte zurückführt, enorme Fortschritte und entwickelt eine bahnbrechende Erklärungskapazität. In der Renaissance beginnt die Wiederentdeckung des antiken Atomismus und wird mit der mathematischen Beschreibung empirischer Vorgänge in eine als mechanistisch zu bezeichnende Philosophie überführt88. Dadurch wird der Kraftbegriff fundamental neu gedacht: Während man beispielsweise vorher noch zahlreiche okkulte Kräfte annahm, so lässt die neuzeitliche mechanistische Philosophie zumeist nur noch Kräfte gelten, die im Stoß fester Körper wirken oder die anhand klassischer mechanischer Instrumente wie Hebel, Winde etc. definiert werden. Der aristotelische Bewegungsbegriff wird auf die räumliche Bewegung begrenzt. René Descartes entwirft als Erster eine rein auf Quantität begründete Physik, deren letzter Realitätsgehalt in der reinen Ausdehnung liegt und die das beobachtbare physische Geschehen, den Prozess der Beobachtung selbst und die empirische Basis des subjektiv gefühlten Innenlebens erklären soll. Es ist ein vor allem auf Descartes zurückgehendes Kennzeichen neuzeitlicher Wissenschaft und Naturphi87

88

Leibniz bekennt sich schon früh zum Nominalismus, siehe die Vorrede zu Marius Nizolius’ Anti-Barbarus (1670), A VI, 2, 427 f. Dort betont er die Attraktivität der nominalistischen Methode, die angenommenen Entitäten nicht ohne Not zu vervielfachen, die okkulten Qualitäten wenn möglich auf einfachere zu reduzieren oder abzulehnen, die extramentale Realität der Ideen zu bestreiten, sowie sich über die Vielfalt der Natur zu freuen (gaudere). Hubertus Busche betont, dass diese philosophisch grundlegende Entscheidung bereits in die frühesten Schriften der 1660er Jahre getroffen wurde, siehe ders.: Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum, a. a. O., 37. Dennoch muss festgehalten werden, dass Leibniz eher ein distanzierter Nachfolger denn ein Anhänger des Nominalismus ist, denn er teilt gerade die These der radikalen Unintelligibilität der Welt nicht und will auch den logischen Relationen eine Gültigkeit jenseits der bloßen Abstraktion zuschreiben. Insgesamt versucht Leibniz, den Nominalismus anzuerkennen, aber die Wirkungen des Nominalismus aufzuheben; siehe Hübener, Wolfgang: „Leibniz’ gebrochenes Verhältnis zur Erkenntnismetaphysik der Scholastik“, in: Studia Leibnitiana 17 (1985), 66–76. Manche Autoren nennen diese auch „mechanisch“, man könnte sie auch als „mechanizistische“ Philosophie bezeichnen. Siehe dazu Dijksterhuis: Die Mechanisierung des Weltbildes, a. a. O., 1.

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losophie, dass sie den Zweckursachen keinen Raum mehr zugestehen, zumindest nicht im konkreten empirischen Forschen. Diesen Verzicht formuliert bereits Descartes mit Vehemenz: Aus diesem einzigen Grunde [der Unendlichkeit Gottes] glaube ich auch, dass jene ganze Gattung von Ursachen, die man gern aus dem Zweck entnimmt, für die Gegenstände der Physik von gar keiner Bedeutung sind; denn es wäre verwegen, wenn ich die Absichten Gottes ausforschen zu können meinte.89

Ebenso heißt es: „Nicht die [Finalursachen] der geschaffenen Dinge, sondern die Wirkursachen müssen untersucht werden.“90 Die substanzielle Form ist für ihn nur noch ein spöttisch betiteltes „Philosophen-Ding“ (estre philosophique)91, das jenseits phantastischer Spekulation in der Beschreibung und Erklärung der Weltphänomene nicht mehr benötigt wird. Das Weltgeschehen ist bei Descartes zwar noch in Gänze von Gott abhängig, nun aber auch vom Menschen in Begriffen erklärbar, die sich nicht mehr auf transzendente Entitäten beziehen, sondern die rein im Beobachtbaren aufgehen. Der Begriff der Bewegung wird als die einzige Grundkategorie aller Veränderungen emphatisch betont. Dadurch wird die Verknüpfung mit real existierenden, aber immateriellen Instanzen der veränderungsleitenden Prinzipien aufgehoben und die Fragen nach dem Wozu und Woraufhin einzelner Dinge oder Ereignisse verlieren schlagartig an Bedeutung – kaum ein Autor jedoch hat die Frage nach dem Grund und Sinn der Welt als schlichtweg unbeantwortbar abgelehnt, weil dies unmittelbar in den Nihilismus geführt hätte. Mit der Reduktion der Materie auf die bloße Ausdehnung geht die Konzeption eines immateriellen Subjektes einher und der Weg zu einer unbeseelten Materie jenseits aller hylemorphistischen Grundideen wird wieder attraktiv, da das Denken kein physischer Prozess mehr ist. Mit Galileis Universalisierungsanspruch wird auch die aristotelische Unterscheidung von erzwungenen und natürlichen Bewegungen aufgegeben. Diese Aufhebung steht symptomatisch für die Ambitionen des neuzeitlichen Menschen, die Natur zu beherrschen: „Einer Natur, die von sich her auf nichts aus ist, kann man auch keine Gewalt antun.“92 Eine bloß durch Wirkursächlichkeit bestimmte Natur kann vom Menschen zwar gegebenenfalls noch in immoralischer, aber nicht mehr in widernatürlicher Weise benutzt werden. Die Ablehnung der aristotelischen Entelechie und damit der natürlichen Teleologie untergräbt den gerade erst entstandenen Naturbegriff, nach dem Natur ein holistisches, sinnhaft geordnetes und 89

90

91 92

Descartes, René: Meditationes de Prima Philosophia, hrsg. und übersetzt von Arthur Buchenau, Hamburg 1915, Nachdruck 1994, 46; siehe in der Ausgabe Œuvres de Descartes, 12 Bände, hrsg. von Charles Adam / Paul Tannery, Paris 1897–1910, Bd. VII, 55 (im Folgenden abgekürzt als AT). Ders.: Principia Philosophiae, hrsg. und übersetzt von Arthur Buchenau, Hamburg 1992, 37; AT VIII, 15. Zur Transformation der Finalursachen in der frühen Neuzeit siehe auch Schmid, Stephan: Finalursachen in der frühen Neuzeit: eine Untersuchung der Transformation teleologischer Erklärungen, Berlin 2011. Ders.: Brief an Morin, 12. September 1638, AT II, 367. Spaemann, Robert: „Natur. Zur Geschichte eines philosophischen Grundbegriffs“, in: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.): Natur. Ein philosophischer Grundbegriff, Darmstadt 2010, 21–36, hier 23.

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generell intelligibel strukturiertes Ganzes ist, dessen Relevanz sogleich in Zweifel gezogen wird. Leibniz wird dieser Kritik in De ipsa natura (1698) nachdrücklich widersprechen. Es ist in diesem Kontext kein Zufall, dass Descartes eine der frühesten Formulierungen des Trägheitsgesetzes vorlegt, und zwar eine, in der Bewegung und Ruhe bereits als gleichwertige Faktoren der Trägheit betrachtet werden. Dies ist das erste „Naturgesetz“ im zweiten Buch der Principia philosophiae (1644): Ein jedes Ding, insofern es ein einzelnes und ungeteiltes ist (simplex et indivisa), verbleibt von sich aus in dem selben Zustand und verändert sich niemals außer durch äußere Ursachen.93

Dadurch verändert die mechanistische Philosophie auch den Begriff der Bewegung. Mit Ausnahme der Nominalisten, in deren Tradition Descartes steht, wurde der Kosmos vor allem als beseelt gedacht, wobei die Seele in den Dingen als deren Bewegungsprinzip fungierte. Mit Descartes wird diese Idee der Seele als Grund und Prinzip der Bewegung und der physischen Veränderungen massiv angegriffen. Stattdessen folgen in seiner Korpuskulartheorie der Principia die Bewegungen einem bloß zufälligen Muster, auch wenn sie in ihrem Sein gleichwohl noch von Gott abhängen. Während für Aristoteles die Bewegung immer eine durch die substanzielle Form vorgegebene Transformation von etwas in etwas anderes ist, so verändert sich dies mit Galileis Mechanik, durch welche die Trägheit physischer Körper vorausgesetzt wird: Ein Körper wird sich so lange so weit bewegen, wie er nicht auf Hindernisse stößt oder gebremst wird. Diese simple Idee hat weitreichende Konsequenzen, weil sie erstens den letzten Schlag gegen die Idee der ewigen Selbstbewegung des Sternenhimmels kraft der Weltseele94 austeilt, zweitens den Weg für die modernen Bewegungsgesetze ebnet. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen die Kraft als die dem bewegten Ding externe Wirkursache die zentrale Rolle spielt. Erst Leibniz wird gegen Galilei die Idee der sich selbst bewegenden Körper und die einer immanenten, spontan wirkende Kraft wieder in die Philosophie integrieren. Dennoch wird er versuchen, die Erklärungskapazität der Mechanik beizubehalten, indem er verschiedene Arten von Kräften unterscheidet und diese auseinander hervorgehen lässt: Die mechanische, beobachtbare und quantifizierbare derivative Kraft entspringt der unbeobachtbaren, integral kleinen und damit qualitativen Kraft, die als ursprünglich oder „primitiv“ verstanden werden kann. Leibniz insistiert darauf, dass die gesamte aristotelische Physik akzeptiert werden kann, ohne mit der mechanistischen Philosophie in Konflikt zu geraten95. Die Naturphilosophie der Neuzeit ist also durch eine doppelte Abwendung von Aristoteles gekennzeichnet: Die Atomisten und die Korpuskularphilosophie wen93

94 95

Descartes: Principia Philosophiae, a. a. O., 137; AT VIII, 62. Interessanterweise wird genau Bestimmung der Dinge als simplex et indivisa, die im Folgenden im Mittelpunkt der Diskussion stehen wird, in der französischen, von Descartes selbst autorisierten, Ausgabe weggelassen. Z. B. vertreten in Platon: Nomoi, 896e. Brief an Thomasius, 1669, A VI, 2, 434. Siehe auch A II, 1 (2. Auflage), 15. Diese Idee hatte sein Lehrer Thomasius bereits in seinem 1658 erschienen Werk Analysis Aristotelica ex Euclide Restituta vertreten. Nach Thomasius soll Aristoteles als Grundlage für die Ideen von Gassendi und Descartes dienen. Siehe dazu Mercer: Leibniz’s Metaphysics, a. a. O., 104.

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den sich gegen die Unterscheidung von substanzieller und akzidenteller Form, die Neuplatoniker und Nominalisten wenden sich gegen die Einzigartigkeit der substanziellen Form oder lehnen die Einheit von Materie und Form ab96. Das Fünfte Laterankonzil von 1512–17 bestimmt, dass die Seele als die substanzielle Form des Körpers zu gelten hat, was auch von Leibniz aufgegriffen wird97. Dies impliziert ein Verbot, die Idee zu vertreten, dass die individuelle Seele zusammen mit dem Tode des Körpers vergeht. Die aristotelische Substanzlehre wird damit für lange Zeit politisch vergiftet, ohne dass sie auf theoretischer Ebene unplausibel geworden wäre. Mit dieser radikalen und erzwungenen Abkehr vom Aristotelismus wird der Weg für neue Formen des physikalischen Denkens eröffnet und damit wird auch der aristotelisch begründete horror vacui aufgehoben oder wenigstens begrenzt, der wiederum eines der großen Hindernisse für die Akzeptanz atomistischer Positionen ist. Dies führt auch dazu, dass die Theologie ihre Form ändert: Es entsteht neben der herkömmlichen Theologie, die sich vor allem als Wissenschaft der Offenbarung und Gottes selbst versteht, auch eine säkulare Theologie, die ein Interesse an Gottes Wirken in der Welt hat und die auch die Kreatürlichkeit der Wesen mit den Mitteln der Vernunft beleuchten will98. Die frühe Neuzeit ist mithin auch die Zeit, in der die theologia naturalis ihren Höhepunkt findet. Der trotz des Verbots weiterhin verbreitete Aristotelismus und die Lehre von den substanziellen Formen werden durch Angriffe sowohl durch das Christentum als auch von Seiten des neu entstehenden Humanismus geschwächt99. Dazu kommen noch die Erfolge der modernen Wissenschaft, die mit Konzeptualisierungen quantitativer Verhältnisse arbeitet und mit einer Reduktion sinnlicher Eigenschaften auf Quantitäten. Besonders die klassische Mechanik und die Lehre von den Himmelsbewegungen nach Kopernikus und Kepler werden als bahnbrechend wahrgenommen, gerade auch weil diese für sich genommen gänzlich ohne eine solche aristotelische Formenlehre auskommen. Im 15. und 16. Jahrhundert werden zudem Lukrez und Cicero wiederentdeckt und vermehrt gelesen und auch ein neues Interesse an Epikur erwacht. Francis Bacon, Pierre Gassendi, Kenelm Digby und Thomas Hobbes schließlich können sich zu den materialistischen Prinzipien des Atomismus bekennen, wobei es vor allem Hobbes gelingt, dessen Grundideen in prominenter Weise auch mit einer ausgearbeiteten Tugendlehre und politischer Philosophie zu verknüpfen. Die neue Stoßrichtung wird deutlich: Man sieht im Atomismus einen Ausweg, die menschliche Freiheit zu rehabilitieren, die in der von göttlicher Omnipotenz und Allwissenheit gänzlich bestimmten Welt nicht gegeben zu sein schien – vor allem Hobbes bietet eine Antwort auf die Frage, warum der freie Mensch auch ohne Furcht vor Gottes96 97 98 99

Dazu ausführlicher: Des Chene, Dennis: Physiologia. Natural Philosophy in Late Aristotelian and Cartesian Thought, Ithaca, London 1996, 64 ff., 64 ff. Siehe bspw. Brief an Arnauld, 28. November / 8. Dezember 1686, A II, 2, 119. Vgl. dazu ausführlich Funkenstein, Amos: Theology and The Scientific Imagination from The Middle Ages to The Seventeenth Century, Princeton 1986. Siehe zu der humanistischen Kritik am Aristotelismus Menn, Stephen: „The intellectual setting“, in Garber, Daniel / Ayers, Michael (Hrsg.): The Cambridge History of Seventeenth Century Philosophy, Cambridge 1998, Band I, 33–86.

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strafe genug Anreize hat, nicht in den Zustand des amoralischen Egoismus, gar der Bestialität zu verfallen. In dieser Zeit verändert sich auch die Konzeption der Natur und der natürlichen Prozesse. Galileo Galilei prägt die Metapher, dass das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben sei, und ebnet damit den Weg für eine quantitative Betrachtung der Natur. Er reduziert die vier aristotelischen Ursachen auf nur eine, die Wirkursache, weil diese durch die Mechanik beschrieben werden kann. Die moderne, stetig verbesserte Maschinentechnik erfordert ein genaues Wissen um Wirkursachen, die so in den Mittelpunkt der Forschung geraten. Auch die Lebewesen werden unter Rückgriff auf die Maschinenanalogie verstanden, was dazu beiträgt, dass der Materialismus eine echte Alternative zur Annahme substanzieller Formen und Formursachen wird. Mit Kenelm Digby und Robert Boyle wird die Korpuskularphilosophie neu begründet, letzterer führt den Terminus im Titel seiner Schrift Origins of Forms and Qualities according to Corpuscular Philosophy (1666–67) ein. Die Korpuskularphilosophie verdankt ihr Erstarken einer anti-aristotelischen Haltung, die sich aus verschiedenen Quellen speist: Mit Kopernikus wird der von Aristoteles vertretene Geozentrismus angegriffen, was dessen philosophische Autorität in Zweifel ziehen lässt. Zwar kann sein Hylemorphismus nicht widerlegt werden, aber er ist nicht auf triviale Weise mit der neuen Wissenschaft der Dynamik vereinbar. Die Lehre von den vier Grundelementen wird zunehmend unattraktiv. Die galileischen Fallgesetze sind eine direkte Widerlegung der aristotelischen Theorie der Bewegung. Es sind dabei vor allem die Himmelserscheinungen, die sich lange der Erklärung durch Wirkursachen entziehen, aber mit den neuzeitlichen Theorien des Lichtes, des kopernikanischen Weltbildes, der keplerschen Gesetze, der galileischen Berechnungen, der Anwendung der Korpuskulartheorie auf die Wolkenbildung und anderen neuzeitlichen Ideen werden auch hier die Grenzen des menschlichen Verständnisses und der Berechenbarkeit der Naturvorgänge stetig ausgeweitet. Spätestens mit Newton wird die Erklärung des Sternenhimmels durch quantifizierbare Gegenstände und ebensolcher Kräfte endgültig vom antiken Dogma einer bewegenden Vernunft befreit. Newtons Ablehnung metaphysischer Spekulationen über Grund und Ursprung100, angelehnt an Galileis bloß deskriptiven Zugang zur Physik, trägt 100 So sein berühmtes Diktum, dass die experimentelle wissenschaftlichen Forschung es nicht nötig hat, spekulative Hypothesen eigens auszudenken: „Ich täusche keine Hypothesen vor. Was nämlich aus den Phänomenen nicht hergeleitet wird, wird Hypothese genannt; und Hypothesen haben […] in der experimentellen Philosophie keinen Ort. In dieser Philosophie werden die Propositionen aus den Phänomenen hergeleitet und durch Induktion verallgemeinert.“ – „Hypotheses non fingo. Quicquid enim ex phaenomenis non deducitur, hypothesis vocanda est; & Hypotheses […] in philosophia experimentalis locum non habent. In hac philosophia propositiones deducuntur ex phænomenis, & redduntur generales per inductionem.“ Newton, Isaac: Philosophiae naturalis principia mathematica, hrsg. von Bernard Cohen / Alexandre Koyré, Cambridge, Massachusetts 1972, 764. Damit grenzt er seinen eigenen Entwurf der Experimentalwissenschaft von den Spekulationen der Rationalisten und des jungen Leibniz ab, zumal beide im Rahmen ihrer Naturphilosophie auf Entitäten zurückgreifen, die sie nur ex hypothesi annehmen, anstatt sich auf beobachtbare und überprüfbare Fakten zu beschränken. Die Frage

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maßgeblich dazu bei, die Physik von der Metaphysik abzukoppeln und als eigene Disziplin zu etablieren. Da der Mensch sich selbst immer mehr als ein erkennendes Wesen in einer Natur versteht und da diese Natur einsehbaren Gesetzen unterliegt, begreift er sich zunehmend als ein die Geschichte gestaltendes, die Natur nachahmendes, gar teilweise beherrschendes Wesen. Im Einklang mit der neuzeitlichen Neuordnung von Politik und Gesellschaft ist der Atomismus vor allem in seiner durch Epikur tradierten Form in verschiedener Hinsicht durchaus attraktiv: The philosophically and morally attractive features of Epicureanism were its integration of human beings into the natural world, the postulate of human equality that it implied, and the notion that pain and pleasure, both psychological and physical, mattered, regardless of who was experiencing them and what that person’s status or merits might be.101

Der Atomismus konfrontiert dafür zahlreiche Aspekte des christlichen Weltbildes, gerade in Bezug auf die Fragen nach Ursprung und Ursache: Haben die Körper Sinnesorgane, damit sie wahrnehmen können – oder können sie wahrnehmen, weil sie über Sinnesorgane verfügen? Ist der menschliche Kampf zwischen dem Hang zum Bösen und dem Streben zum Guten ein Konflikt innerhalb der Seele? Ist gar dem Körper selbst bereits das Böse in Form von Trieben, Gelüsten eingeschrieben? Ist die Ordnung der Welt ein Resultat der natürlichen Kontingenz oder ist der Zufall der kosmischen Ordnung unterworfen? Kann die Erkenntnis unseres Körpers und unserer Umwelt etwas zu unserem Seelenheil beitragen?102 Diese Fragen sind nicht bloß wissenschaftlicher, kosmologischer oder metaphysischer Natur, sondern immanent wichtig für die Idee eines guten Lebens vor Gott. Ebenso wie die Tradition der Parallelen zwischen der natürlichen Ordnung der Welt und der moralischen Ordnung der Menschen nie ganz aufgegeben wurde, so gibt es für die Philosophen der frühen Neuzeit auch kaum eine rein theoretische und von moralischen oder wenigstens praktischen Fragen losgelöste Erkenntnis von Relevanz103. Mit der nominalistischen Emphase des radikal freien göttlichen Willens wird auch der Mensch als ein ebenso freies Geschöpf verstanden104 und so

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nach dem Warum wird zugunsten der Frage nach dem Wie aufgegeben. Newton meint natürlich: Keine weiteren Hypothesen sind anzunehmen außer der Einwirkung Gottes. Wilson: Epicureanism at the Origins of Modernity, a. a. O., 37. Neben diesen Problemen sind zahlreiche moralische, politische und theologische Fragen heiß umstritten: „Epicurean cosmology and philosophy contradicted the Christian theses of the uniqueness of the world, the special status of men vis-à-vis other animals, and the doctrine of original sin. It implied that prayer and sacrifice were useless and made the notion of a providential plan in history unthinkable.“ Wilson: Epicureanism at the Origins of Modernity, a. a. O., 4. Siehe dazu bspw. Jones, Matthew L.: The Good Life in the Scientific Revolution. Descartes, Pascal, Leibniz, and the Cultivation of Virtue, Chicago 2006. „Scotus (building on Bonaventura’s emphasis on God’s independence of his contingent creation) and then Ockham asserted the radical freedom of devine will. In emphasizing the centrality of divine will, however, they both also gave a new prominence to and justification of the human will. Humans were made in the image of God, and like God were principally willful rather than rational beings.“ Gillespie, Michael Allen: The Theological Origins of Modernity, Chicago 2009, 27 f.

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in die Lage versetzt, sich selbst gemäß den eigenen Fähigkeiten und der menschlichen Rolle im Universum gestalten und verwalten zu können. Spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg sind die Denker außerordentlich sensibel, was die politischen und sozialen Konsequenzen metaphysischer und theologischer Annahmen angeht. So wurde etwa der neuzeitliche Naturalismus als die Ablehnung aller unkörperlichen Entitäten stark angefeindet, weil er vor allem die Konsequenz hat, die biblischen Wunder zu negieren. Doch ein solches Zugeständnis an die Wissenschaften ist von Seiten der Kirche kaum zu erwarten, schon gar nicht im Zeitalter der Kirchenspaltung und der Glaubenskämpfe. In diesem Sinne ist die Metaphysik in der frühen Neuzeit auch von einem komplexen Geflecht an Konflikten zwischen metaphysischen, ekklesialen und politischen Positionen mitgeprägt. Als Reaktion auf Galileis Verurteilung hält Descartes seine Frühschriften Le Monde und L’Homme zurück. Giordano Bruno wird 1600 in Rom verbrannt, weil er die Unendlichkeit des Raumes angenommen hatte und damit göttliche Attribute auf die Welt übertragen hatte. Spinozas Ablehnung der immateriellen Formen und damit die eines transzendenten Gottes hat ihm den Vorwurf des Pantheismus und damit der Gotteslästerung eingebracht, seine Werke wurden verbrannt und seine Anhänger verfolgt105. Leibniz ist sich nur allzu bewusst, dass eine Metaphysik mit politisch und theologisch brisanten Implikationen nicht nur seiner eigenen Karriere schaden kann, sondern auch die Fundamente des Friedens zwischen den Konfessionen untergraben kann. Der repressiven Haltung der Kirche steht die Aufbruchsstimmung gegenüber, die die Philosophie der frühen Neuzeit auf einzigartige Weise beherrscht: Nach dem Humanismus und der Renaissance wird die Rolle und Bedeutung des Menschen in der Welt emphatisch betont, ein tiefer Glaube an die menschliche Erkenntnisfähigkeit, an die Möglichkeit echter Wissenschaft und erfolgreicher Technologie durchzieht das Denken vieler Philosophen und auch die Fähigkeit und Berechtigung des Menschen zu politischer Selbstbestimmung stellt ein wichtiges Element jeder modernen Philosophie dar. Diese Positionen und Forderungen stehen aber unter großem Vorbehalt, weil sie in einer dialektischen Denkbewegung zur Selbstaufhebung neigen: Je mehr der Mensch seine Freiheit betont, umso stärker treten auch deren Grenzen zum Vorschein. Das geht nun mit Konflikten an mehreren Fronten einher: Zuerst einmal ist das klassische Problem des Konfliktes zwischen menschlicher Freiheit und göttlicher Vorsehung noch nicht gelöst. Die jesuitische Scientia media bietet einen Ausweg an, der wiederum mit den Ansprüchen des Nominalismus kaum kompatibel ist. An zweiter Stelle kommt es zu einem neuen Konflikt: Je mehr der Mensch über die Natur und deren Gesetze weiß, desto mehr muss er die eigene menschliche Freiheit rechtfertigen. Bei Descartes ist der menschliche Wille qua seiner immateriellen Natur frei, aber es ist völlig unklar, wie diese Freiheit im Rahmen des cartesischen Dualismus ausgelebt werden kann. Spinoza sieht im Rahmen der mit unausweichlicher Notwendigkeit vollzogenen Verknüpfung aller weltlichen Ereignisse eigent105 Siehe dazu: Isreal, Jonathan: Radical Enlightenment: Philosophy and the Making of Modernity, 1650–1750, Oxford 2002.

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lich keinen Spielraum für die menschliche Freiheit mehr. Dafür ist er einer der ersten Denker, der Kausalität nicht nur als die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Dinge konzipiert, sondern als eine Abfolge von Ereignissen. Dazu unterscheidet er gezielt eine immanente Kausalität, die den Grund des Seins und der Seinserhaltung bezeichnet, von einer transitiven Kausalität, welche die Übergänge zwischen verschiedenen Ereignissen bestimmt106. Für Hobbes dagegen besteht die menschliche Freiheit nur noch im negativen Sinne als Freiheit von äußeren Hindernissen und politischen Restriktionen. Langsam entsteht zu dieser Zeit auch ein allgemeines Bewusstsein des für heutige Debatten so ausschlaggebenden Konfliktes zwischen determinierenden Naturgesetzen und menschlicher Freiheit – ein Konflikt, der sich für die Anhänger der Lehre von den aristotelischen substanziellen Formen nicht in dieser Form ergeben hat, weil dort die Lebewesen nicht externen Prinzipien oder Gesetzen unterliegen, sondern weil sie selbst ihr eigenes Prinzip enthalten und in ihrem eigenen Werden ihr eigenes Sein realisieren. 3.4. Leibniz’ Philosophie: Eine einleitende Übersicht Leibniz steht nun an historisch entscheidender Schnittstelle zwischen diesen skizzierten, teils sehr heterogenen Positionen. Man kann seine Metaphysik als den Versuch verstehen, spätantike und scholastische Einheitsmetaphysik mit neuzeitlicher Atomistik zu kombinieren. Er will die cartesianische Idee der räumlichen Koordination der Körper durch Bewegungsgesetze mit der aristotelischen Metaphysik der körperlich-individuellen Substanzen vereinen. Dabei betont er gegen den Atomismus, dass Fakten in einem kosmischen Ordnungszusammenhang Sinn, Wert und Berechtigung haben und keinesfalls ‚bloß vorliegen‘ – sie gehorchen einem oberen Prinzip, das Harmonie und moralische Perfektion sichert: das Prinzip des Besten. Das Sein selbst ist nicht durch materielle Reduktionen zu verstehen, sondern bedarf des Rückgriffs auf oberste Prinzipien, die auch normative Geltungen mit einschließen können, wie etwa das Prinzip des Besten. Dabei wird die antike Idee der Entelechien mit der aus der christlichen Theologie stammenden Idee eines 106 „Gott ist die allen Dingen immanente Ursache, nicht die wahre transiente Ursache.“ – „Deus est omnium rerum causa immanens, non vero transiens“ Spinoza: Ethik, hrsg. und übersetzt von Wolfgang Bartuschat, Hamburg 1999, I, prop. XVIII. Dabei richtet sich Spinoza anscheinend nach einer theoretischen Vorgabe von Adrian Heereboord: „Die immanente Ursache ist die, die den Effekt in sich selbst produziert. Die transiente Ursache ist die, die den Effekt außerhalb ihrer produziert.“ „Causa immanens est quae producit effectum in se ipsa. […] Causa transiens est quae producit effectum extra se.“ Hermeneia Logica seu Explicatio Synopseos Logicae Burgersdicinae, Teil I, Leiden 1650, 98. Zitiert nach Gueroult, Martial: Spinoza, tome I, Paris 1968, 246. Die immanente Ursache wird im Aufgreifen der neuplatonische Begriffe gelegentlich auch als causa emanens, als ausfließende Ursache bezeichnet. In Spinozas Kurzer Abhandlung wird deutlich, dass die causa immanens / emanens mit der aktiv wirkenden Ursache (causa activa) identisch ist. Vgl. dazu Ellsiepen, Christof: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva, Berlin 2006, 16.

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göttlichen Weltplanes und zugleich mit der materialistisch-deterministischen Auffassung kausaler Determination verbunden. Vor diesem Hintergrund sollte Leibniz’ Frage verstanden werden, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts – damit wird nicht nur nach dem ursächlichen Grund, sondern auch nach dem Sinn des Seienden gefragt, gar nach dem Sinn des Seins schlechthin. Kausalität und Teleologie lassen sich in der philosophischen Betrachtung des Seienden nicht trennen. Die Disziplin, die sich mit kausalen Erklärungen beschäftigt, ist die Physik, wohingegen traditionell die teleologischen Gründe vor allem in Theologie, Biologie und Psychologie eine Rolle spielen. Beide sind bei Leibniz durch den Satz vom Grunde untrennbar miteinander verknüpft, auch wenn diese Verknüpfung komplizierter ist, als es auf den ersten Blick aussieht. Die vorliegende Arbeit ist diesem Forschungsdesiderat gewidmet. Die umfassenden Quellen für beide unterschiedlichen Ansichten der Weltdynamik können gleichwohl nicht angemessen berücksichtigt werden, würde eine solche Aufarbeitung angesichts des enzyklopädischen Wissens von Leibniz wohl ganze Buchreihen füllen. Ebenso soll auf eine umfassende Darstellung des Forschungsstandes zur Kausalitätsproblematik verzichtet werden, weil viele Interpreten sich zumeist entweder einzelnen Detailfragen widmen oder den Kausalbegriff auf eine Ereignisabfolge reduzieren, was Leibniz’ Denken nur bedingt gerecht wird. Es lässt sich aber festhalten, dass es bislang zu dieser Problematik keine umfassende Untersuchung gibt. In einigen Kapiteln wird dafür ein Überblick über einzelne Debatten zu relevanten Problemen gegeben. Die folgende Übersicht soll die hier entscheidenden Entwicklungsschritte der leibnizschen Philosophie grob skizzenhaft nachzeichnen. Leibniz ist bereits 1661 mit den Ideen von Hobbes, Gassendi und Descartes in Kontakt gekommen und will an der starken Erklärungskraft des Atomismus und der mechanistischen Philosophie, wie aber zugleich auch an der aristotelische Lehre der substanziellen Formen festhalten – immerhin entscheidet er sich bereits in diesem Jahr, dass die Lehre der substanziellen Formen mit dem Atomismus zu vereinbaren ist. Von den Atomisten wird er zu der Idee einer Beschreibung und Analyse des Weltgeschehens durch die Begriffe der Mechanik inspiriert. Von Hobbes übernimmt Leibniz die Idee, dass Denken im Prinzip Rechnen sei, während er zugleich den Scholastikern zustimmt, welche die Idee der Teilhabe des menschlichen am göttlichen Geist vertreten. Von Descartes übernimmt er die Idee der Metaphysik als Grundlegung aller Wissenschaften. An Pierre Gassendis Schriften lehnt er den Gedanken einer Naturphilosophie an und die Idee, dass der Bewegungsgrund nicht in den Dingen selbst zu finden sei107. Dazu kommt noch Erhard Weigel, von dem er den Gedanken eines umfassenden, mathematisch-logisch gegliederten Systems aufgreift108, in dem einzelne übergeordnete, unhintergehbare und unbegründbare Prinzipien die Erkenntnis und die Weltstruktur bestimmen – beispielsweise soll in der Nova Methodus die Syste107 Hier in einer Formulierung von 1669: „Omnem in Corporibus Cohaerentiæ causam esse naturaliter figuras quasdam implicatorias, nempe: hamos, uncos, annulos, eminentias, breviter […]. Sed in istis ultimis corpusculis nulla apparet ratio cohærentiæ et insecabilitatis.“ Confessio Naturae contra Atheistas (1669), A VI, 1, 492. 108 Vgl. Kabitz: Die Philosophie des jungen Leibniz, a. a. O., 12.

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matisierung der Jurisprudenz gemäß der Vernunft (ratio) auf eine philosophische Basis gestellt werden. Diese Herangehensweise wird dann in der Auseinandersetzung mit den Theorien über die Mechanik der Körper in der TMA und TMC (beide 1671) auf die Systematisierung einer Theorie der materiellen Körper ausgedehnt. Er wendet sich ebenfalls bereits um 1661 gegen den Cartesianismus, dem er ein Defizit an metaphysischen Begründungen vorwirft, obwohl er der mechanistischen Philosophie auf phänomenaler Ebene Gültigkeit zuspricht. Die Wirklichkeit selbst aber kann durch mechanische Erklärungen nicht erklärt werden, da diese selbst nicht in körperlichen Begebenheiten aufgehen109. Er will damit die aristotelischen substanziellen Formen rehabilitieren, auch wenn er Descartes durchaus zustimmt, dass diese im Bereich der Phänomene nicht zu Erklärungszwecken herangezogen werden dürfen – ihre Bedeutung liegt vielmehr in der metaphysischen Begründung der Phänomene. Um 1663 bekennt er sich unter Anleitung seines Lehrers Jakob Thomasius zum principium individuationis, nach dem das echte Seiende nicht teilbar ist, und verwendet in diesem Zusammenhang bereits die Termini unum monadicum und individuum monadicum110, die er gleichwohl erst um 1696 in die eigene Monadenlehre münden lässt. Zumeist aber wird er vorerst von den einfachen und körperlichen Substanzen sprechen. Mit seinen ersten Ansätzen zu einer Theorie der Individuen geht aber auch bereits die Theorie der nur in einer individuellen Perspektive perzipierten Welt einher111. Er scheint auch zu dieser Zeit keinesfalls die Welt als aperspektivisch, objektiv Gegebenes zu konzipieren. Einige Grundannahmen bringen ihn bereits um 1663 mit den Ideen seines Lehrers in Konflikt112, vor allem die einer weltumspannenden Harmonie, das Konzept der Welt als Schöpfung eines ihr externen Gottes sowie die Idee der durchgängigen Intelligibilität der Welt, die in der Ars combinatoria in ersten Ansätzen auf formaler Ebene entwickelt wird und der Harmonie der Welt formal entspricht. Letzteres wird darin deutlich, dass es sich hier eben nicht um eine bloße Ars analytica handelt, sondern vor allem um ein Mittel der Neuschöpfung von sinnvollen Begriffen vor dem Hintergrund der gegebenen Möglichkeiten. Leibniz entwickelt so eine Methode der Erkenntnisgewinnung a priori, die voraussetzt, dass alle komplexen und widerspruchsfreien Begriffe eine mögliche Entsprechung haben können, also eine nicht-leere Extension. Damit muss angenommen werden, dass die Struktur der Logik der Struktur der Welt entspricht: Das, was begrifflich kohärent aussagbar ist, kann nicht gänzlich unmöglich sein. Da jedoch nicht alles sinnhaft Sagbare auch in dieser Welt angetroffen werden kann, wird Leibniz später aus diesem Grundgedanken ein begriffslogisches Konzept von möglichen Welten entwickeln.

109 Siehe dazu Busche: Der Weg ins perspektivische Universum, a. a. O., 51 ff. 110 Jacobi Thomasii Praefatio: De Principio Individuo (1663), A VI, 1, 5 ff. 111 Siehe A VI, 1, 53 ff. Dazu ausführlich Busche: Der Weg ins perspektivische Universum, a. a. O., 57 ff. 112 Dazu siehe Kabitz: Die Philosophie des jungen Leibniz, a. a. O., 4 ff.

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Ab 1664 vertritt Leibniz die Position, dass Gott die bestmögliche Welt geschaffen habe113, womit er eine molinistische und jesuitische Tradition aufgreift114. Dabei betont er auch die Determination des Willens durch die göttliche Weisheit anhand der Einsicht in das Bestmögliche: Gott hätte die Welt auch anders schaffen können, „wegen der Weisheit des Schöpfers, der das Beste auswählte“, ist dies jedoch nicht geschehen115. Dass auch andere Welten logisch möglich sind, wird Leibniz allerdings erst später explizit formulieren. Im Jahre 1666 publiziert Leibniz seine Dissertatio de arte combinatoria, in der er konkret auf Aristoteles’ Theorie der vierfachen Ursachen zurückgreift und diese in mechanischen Begriffen skizziert. Zwei Jahre später präsentiert er seinem Lehrer Thomasius einen ersten, ebenfalls an Aristoteles angelehnten Entwurf einer körperlichen Substanz116 und betont, dass anscheinend die gesamte aristotelische Physik mit der reformierten, d. i. mechanistischen Philosophie erklärt und erhellt werden kann. Die Vernunft kann ebenso zur Anerkennung des Christentums beitragen, wie dieses in Geschichte und Schrift offenbart wurde117. Leibniz sieht in Aristoteles sogar den Vater der modernen mechanistischen Philosophie, weil dieser die Körperentstehung als Frage der Bewegung, Größe und Zeit konzipiert hat118. In diesem Sinne macht er deutlich, dass die Materie den Grund ihrer Bewegung nicht in sich selbst tragen kann119. Die Seele wird seitdem in Anlehnung an Aristoteles den Grund der Bewegung ausmachen: Sie ist die abstrakte Form der Materie und verleiht der Materie Bewegung120. Dabei findet sich eine Analogie zwischen der kausalen Bestimmung des Körpers durch die Seele und der Konstruktion geometrischer Körper, ein Topos, den Leibniz immer wieder aufgreifen wird und der später in dieser Untersuchung noch von entscheidender Bedeutung sein wird: Die Geometrie behandelt die von der Materie abstrahierten substanziellen Formen121, 113 „Uti, cum negatur, potuisse mundum à Deo aliter, quam factus est, creari, non quod impossibile sit, sed quia ob sapientiam Conditoris, qui optimum eligit, non erat futurum.“ Specimen quaestiones philosophicarum (1664), A VI, 1, 86. 114 Vgl. Knebel, Sven: Necessitas Moralis ad Optimum. Zum historischen Hintergrund der Wahl der besten aller möglichen Welten, in: Studia Leibnitiana 23.1 (1991), 3–24. 115 „Sed quia ob sapientiam Conditoris, qui optimum eligit, non erat futurm.“ Specimen Quaestiones Philosophicarum ex Jure Collectarum (1664), A VI, 1, 86. 116 Brief an Thomasius vom 6. Oktober 1668, A II, 1 (2. Auflage), 17 ff.; Siehe Mercer, Christia: „Leibniz and His Master: The Correspondence with Jakob Thomasius“, in: Lodge, Paul (Hrsg.): Leibniz and His Correspondents, Cambridge 2004, 10–46, hier 22 f. 117 „Nunc conciliata iam cum Aristotele philosophia reformata, restat, ipsius per se veritas ostendatur, prorsus quemadmodum religio Christiana, tum ex ratione et historia, tum ex scriptura sacra probari potest.“, Brief an Thomasius vom 20./30. April 1669, A II, 1 (2. Auflage), 34. 118 A II, 1 (2. Auflage), 30. Siehe dazu Garber: Leibniz, a. a. O., 9. 119 In expliziter Anlehnung an Aristoteles: „praecludemus ipsi nobis demonstrandi Dei viam aptissimam, ac ruet praeclarum illud theorema Aristotelis: quicquid movetur, habet caussam motus extra se“, Brief an Thomasius, 29. September / 6. Oktober 1668, A II, 1 (2. Auflage), 19. 120 „Realiter a materia abstracta forma“, Brief an Thomasius, 20./30. April 1669, A II, 1 (2. Auflage), 31. „Mens enim ut bonam gratamque sibi rerum figuram et statum obtineat, materiae motum praebet. Nam Materia per se motus expers est. Motus omnis principium, Mens, quod et Aristoteli recte visum.“ Ebd. 121 „Geometria agit de forma substantiali.“ ebd.

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während die Physik die Materie behandelt. Deswegen ist es keineswegs absurd, die metaphysische Kausalität, durch die die Seele die Materie bestimmt, durch geometrische Konstruktionen zu bestimmen: Der Körper konstituiert sich aus der ihm zugeordneten, punktförmigen Seele, und zwar so, wie eine Linie durch die Bewegung eines Punktes konstruiert wird, eine Ebene durch die Bewegung der Linie, der Raum durch die Bewegung der Ebene122. Der Punkt aber ist nicht ein räumlicher Teil des Raumes selbst123, sondern seine Quelle. Dasselbe gilt für die Körper: „Die Linie, wie unendlich klein sie sein mag, ist nicht der wahre Anfang (initium) des Körpers.“124 In der Confessio naturae contra atheistas wendet er sich 1668 ausführlich gegen den Atomismus125. Dieser kann nicht auf unkörperliche Prinzipien verzichten, die der Grund der körperlichen Phänomene sein müssen126, weil der Ursprung der ersten Qualitäten (Größe, Gestalt und Bewegung) nicht in den Körpern gefunden werden kann; und er kann die Unzerteilbarkeit der Atome nicht begründen und es ist kein Grund ersichtlich für Kohärenz und Unteilbarkeit der Körper127. Der Atomismus verlangt seinen Anhängern deswegen eine Art Glaubensbekenntnis ab, weil er auf etwas verweist, das rational nicht begründet werden kann, aber auch nicht Gott ist.

122 Ebd. Eine Deutung der Philosophie Leibnizens, nach der die Seele punkthaft im Körper lokalisiert ist, ist also abzulehnen. Materie und Seele gehören nicht nur unterschiedlichen Ideenbereichen oder Denkweisen (Geometrie bzw. Physik) an, denn die Körper können die Seele schlichtweg gar nicht „enthalten“, sie resultieren vielmehr aus diesem (s. u.). Dieses ‚Resultieren‘, das will Leibniz anscheinend mit diesem Beispiel zeigen, ist keines, das in räumlichen Inklusionsverhältnissen gedacht werden kann, sondern eine Form eines kausalen Abhängigkeitsverhältnisses. Siehe auch: „An dicendum est puncta non interire, quia non partes corporum, sed termini, et quia de punctis cessat illa circa corpora demonstratio“, De Incarnatione Dei (1669–70 [?]), A VI, 1, 535. Die Punkte sind keine Teile des Körpers, sondern dessen Grenzen und damit sein Grund, weil jede Erklärung der Konstitution des Körpers wie in der oben dargestellten geometrischen Konstruktion bei einem Punkt endet. Deswegen trifft Leibniz sogar in der TMA eine Unterscheidung zwischen realen Teilen rationaler Natur und mechanischen Teilen, die erfahrbar sind, und benutzt dies zur Vorbereitung eines ganz ähnlichen Vergleichs zwischen Physik und Geometrie, wirklichen Ursachen und geometrischen Konstruktionen. Vgl. A VI, 2, 274 f. 123 TMA, A VI, 2, 264 f. 124 De Minimo et Maximo: „Nam nec linea ista utcunque infinite parva erit verum corporis initium.“ A VI, 3, 100. 125 Zu Leibniz’ ambivalentem Verhältnis zum Atomismus siehe Wilson, Catherine: „Leibniz and Atomism“, in: Woolhouse, Roger (Hrsg.): Gottfried Wilhelm Leibniz. Critical Assessments, Bd. III, London, New York 1994, 342–368. 126 So wird von Leibniz das erste Argument in der Confessio Naturae (1668 [?]) betitelt: „Quod ratio phaenomenorum corporalium reddi non possit, sine incorporeo principio, id est Deo.“ A VI, 1, 489. Leibniz markiert hier vielleicht zum ersten Mal die Differenz zwischen der empirischen Erscheinung und Erforschung der Körper, die sich auf den Phänomenbereich erstreckt, und einer metaphysischen Theo-Ontologie, die dieser zugrundeliegen muss. 127 „Sed in istis ultimis corpusculis nulla apparet ratio cohaerentiae et insecabilis.“ Confessio Naturae, A VI, 1, 492. In der frühen Debatte um die Kohärenz der Körper spielt die Seele keine große Rolle, vgl. TMA, §§ 15–16, A VI, 2, 266.

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Ab 1669 entwickelt Leibniz die Ansicht, dass Körper aus Ausdehnung und Undurchdringlichkeit (antitypia) bestehen. Durch die Hinzunahme des Konzeptes der Undurchdringlichkeit kann Leibniz zwischen Körper und Phantasma unterscheiden. Dabei scheint Leibniz schon zu dieser Zeit der Meinung zu sein, dass jedem Körper qua seiner Undurchdringlichkeit eine Seele zukommt: Um 1670 oder 1671 bekennt er sich zu dem platonischen Prinzip, nur die Seele könne die Bewegung begründen. Er betont ebenso, dass die Materie ohne Bewegung ihre Materialität verlieren würde. Die Bewegung erfordert aber je eine dem Körper eigene Seele, d. i. ein Lebewesen, was ebenso für den Widerstand gegenüber eines Bewegungsanreizes gilt. Aufgrund der durchgängigen Materialität der Körper, die sich gerade in diesem Widerstand zeigt, muss man demnach eine unendliche Anzahl von Lebewesen mit einem Körper annehmen128. Diese Annahme führt Leibniz bereits früh zu einer umfassenden Naturphilosophie. In den Schriften zur Bewegung, der TMA und TMC aus den Jahren 1671, entwirft er eine Theorie der kleinsten Körperteilchen, dort noch „globuli“ genannt. Diese gelten als beseelt, um so in Anlehnung an Platons Ideen der Selbstbewegung der Seele die Genese und Erhaltung der Bewegung behaupten zu können129. Bewegung wird als Zentralbegriff der Physik ausgewiesen, da ein ruhender Körper nicht handeln kann. In diesem Sinne nähert sich Leibniz der Physik von Hobbes an, da auch diesem zufolge Widerstand nicht aus den Körpern selbst folgt, sondern aus der Bewegung130. Die für die weitere Entwicklung der leibnizschen Philosophie grundlegenden metaphysischen Prinzipien werden in den Jahren zwischen 1671 und 1686 entwickelt: Das logisch zu verstehende Prinzip der Identität, der Satz vom Grunde und das Prinzip des Besten. Ein nicht unerheblicher Teil der frühen Leibnizschen Philosophie ist der Frage gewidmet, welche Rolle diesen Prinzipien im menschlichen Denken zukommt. Um 1676, während seines Aufenthalts in Paris, konzipiert er diese beseelten Körperteilchen im Hinblick auf die menschliche Eizelle als organische Lebewesen und bereitet seine spätere Theorie der Organismen vor. Dem stellt er dann ab 1677 eine phänomenalistische Position entgegen. Diese besagt, dass die von den Carte128 „Primärmaterie ist nichts, wenn sie ruht. […] Wenn den Körpern der Geist fehlt, ist es unmöglich, dass es eine unendliche Bewegung gebe. Die gegenläufigen universalen Zirkulationen erzeugen partikuläre, nämlich Körper. Materie ist aktual in unendliche Teile geteilt. Es gibt unendlich viele Kreaturen in jedem Körper.“ – „Materiam primam si quiescat esse nihil. […] Si corpora sint sine mente, impossibile est motum fuisse aeternum. Ex circulationibus universalibus confligentibus fiunt particulares seu corpora. Materia actu dividitur in partes infinitas. Sunt in quolibet corpore dato creaturae infinitae.“ De Materia Prima (1671 [?]), A VI, 2, 280. Im Original kursiv. 129 Dabei wendet er sich in seinen Briefen an Thomasius noch gezielt gegen die scholastische Interpretation, die substanzielle Form sei der Grund jeder Bewegung, denn dies wäre in letzter Instanz nur der göttliche Geist. Siehe bspw. A II, 1 (2. Auflage), 18 ff. 130 Siehe Hobbes, Thomas: De Corpore, Kap. 15.3, in: Opera Philosophica quae Latine scripsit, London 1839, Nachdruck Darmstadt 1966 (im Folgenden abgekürzt als OL), Band I, 179; in der Ausgabe De Corpore hrsg. von Karl Schuhmann, Hamburg 1997: 182 f. Darin steckt eine Kritik an Descartes, der die Widerständigkeit der Materie direkt aus der Ausdehnung folgen lässt und somit für unproblematisch hält. Zum ambivalenten Verhältnis des jungen Leibniz zu Hobbes siehe Moll, Konrad: Der junge Leibniz III, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996.

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sianern und Atomisten als ursprünglich und unreduzierbar gedachten Qualitäten (Masse, Materie, Bewegung etc.) nichts als Phänomene sind. Die Wirklichkeit der Körper entzieht sich dem Erkenntnisvermögen des Subjektes. Die Frage, ob die Körper Substanzen oder bloße Erscheinungen seien, kann demnach nicht in der Erfahrung bestätigt und auch nicht mit philosophischen Mitteln endgültig entschieden werden, auch wenn Leibniz’ theologische Grundannahmen die Wirklichkeit auf Grundlage des Vertrauens in die Güte des göttlichen Willens problemlos rehabilitieren können. Daraufhin findet seine Beschäftigung mit den Bewegungs- und Stoßgesetzen einen Höhepunkt, wenn er um 1678 feststellt, dass die Formel für die in dem Stoß zweier Körper übertragene d. h. erhaltene Kraft nicht, wie Descartes behauptet hatte, mv lautet, sondern mv2. So eröffnen die von Leibniz früh entwickelten und auch später noch konsequent durchgehaltenen Grundpositionen einen argumentativen Rahmen, der bereits um ca. 1678 kaum mehr überschaubar ist und in dem seine verschiedenen Kausalitätsbegriffe situiert sind. Einige wichtige Aspekte daraus sind: –





Mit dem Gottesbegriff verbinden sich bedeutsame Ideen über die Schöpfung: Gott ist Grund und Ursprung der Welt, er hat sie nicht nur geschaffen, sondern erhält auch ihr Sein. Gott ist allmächtig, allwissend und gut. Die Welt ist als Schöpfung gut, harmonisch nach der göttlichen Vernunft geordnet und strebt dem Besten entgegen. In der Welt gibt es keine bloßen Zufälligkeiten131. Alles, was ist, ist unaufhebbar Eines, denn Wirklich-Sein und Eines-Sein fallen zusammen: ens et unum convertuntur. Diese Grundannahme muss auch als Grundlage für die Debatte um die Substanzen begriffen werden und durch sie wird die Realität materieller Körper problematisch132. Die aristotelischen substanziellen Formen gilt es zu rehabilitieren, da sie als Grundlage teleologischer Erklärungen unverzichtbar sind und für die Rechtfertigung kirchlicher Dogmen sowie der Theorie echter Individualität dienen. Die durch die mechanistische Philosophie gewonnene Erklärungskapazität soll gleichwohl nicht aufgegeben werden, aber eine metaphysische Grundlage für die hauptsächlich mit Quantitäten operierende Naturwissenschaft muss gefunden werden, die nicht mit den theologischen Grundannahmen konfligiert (s. o.).

131 Gott ist „Ratio ultima rerum, und also die höchste Macht; dieses daß er seyn mus Harmonia maxima rerum, und also die größte weisheit. Hieraus folgt unwiedertreiblich, daß Caritas, daß Amor Dei super omnia, und die wahre Contritio, an der der Seeligkeit versicherung hanget, nichts anderes sey als amare bonum publicum, et harmoniam universalem; vel quod idem est gloriam Dei et intelligere, et qvantum in se est facere majorem, denn zwischen der UniversalHarmoni und der Ehre Gottes ist kein Unterschied, als zwischen Körper und Schatten […].“ Grundriss eines Bedenkens (1671), A IV, 1, 532. 132 „Omnis multitudo et potest et debet revocari ad unitatem.“ Notizen zu Bisterfeld (1663–66 [?]), A VI, 1, 158. Daran hält Leibniz auch in seinen späteren Schriften fest: „Ens et unum convertuntur, sed ut datur Ens per aggregationem, ita et unum, etsi haec Entitas Unitasque sit semimentalis“, Brief an des Bosses, 11./ 17. März 1706, GP II, 304.

70 – – – – – – –

Einleitung

Die geläufigen Kausaltheorien des Influxus oder des Okkasionalismus sind abzulehnen133. Bis auf Wunderereignisse wie die Transsubstantiation ist die Welt gänzlich durch Naturursachen determiniert134. Es gibt keine unbewegte Materie135. Jedes Lebewesen enthält in sich einen unzerstörbaren und unveränderlichen Kern136. Die Geschöpfe sind frei und können für ihre Taten verantwortlich gemacht werden137. Die Materie ist unendlich weit teilbar138. Alles in der Natur hängt mit allem zusammen (nach dem griechischen Ausdruck suvmpnoia pavnta)139.

Ab 1678/79 beginnt Leibniz, die vormals der Theologie vorbehaltene Theorie der substanziellen Formen auf die physischen Körper anzuwenden und diese so aus ihrem scholastischen Kontext herauszulösen und zu einem Teil der modernen Dynamik zu machen. Er wird sie mit der Theorie der Präformation verbinden, ab 1686 mit der Theorie der einfachen Substanzen und der Theorie der vollständigen Begriffe. Mit dem Discours de Métaphysique (1686) liegt zum ersten Mal ein einzelner, umfassender Entwurf vor, in dem Leibniz all diese Aspekte zu bündeln versucht. Dies ist der Problemkontext, der für die Untersuchung der Kausalität bei Leibniz entscheidend ist. Ein vollständiger Thesen- und Problemkatalog für die gesamte Philosophie Leibnizens müsste noch viel weiter reichen und eine Unmenge an bereits seit der Jugendzeit feststehenden Fragen und Kernthesen zusammensammeln, von der Reunionsproblematik über die Theodizeefrage und die Idee einer Universalwissenschaft bis hin zur Abwendung des Atheismus und der Rechtfertigung der christlichen Mysterien. Während die mechanistischen und die okkasionalistischen Philosophen den Körpern eine echte Aktivität absprechen und damit auch jede echte Teleologie ablehnen, strebt Leibniz einen anderen Weg an: Er rehabilitiert finale Kausalität nicht auf der Ebene der Dynamik, sondern auf der Ebene der Metaphysik. Deswegen kann er Descartes durchaus zustimmen, dass die substanziellen Formen für eine Erklärung auf phänomenaler Ebene unnötig sind. Dabei kommt er der cartesianischen Philosophie aber wiederum entgegen: Er akzeptiert deren Theorie der räumlichen Bewegung als Ursache aller Veränderung der physischen Dinge und verbannt die 133 Von der Allmacht und Allwissenheit Gottes (1670–71 [?]), A VI, 1, 545. 134 A VI, 3, 491. Siehe auch A VI, 1, 545, wo die Rede von der „adamantinen Kette der Ursachen“ ist. 135 A VI, 2, 279 f. 136 Bspw. A II, 1 (2. Auflage), 175, 185, 511. 137 Siehe etwa Brief an Wedderkopf, 1671, A VI, 2, 187. Dies wird auch 1676 in Leibniz’ Auseinandersetzung mit Spinozas Determinismus ganz deutlich werden. 138 De Arte Combinatoria, A VI, 1, 169. 139 „Nullum ens in universâ rerum naturâ est solitarum, sed omne ens est Symbioticum, seu pertinet ad societatem.“ Notizen zu Bisterfeld (1663–66 [?]), A VI, 1, 153. Siehe entsprechend NE, Vorwort, A VI, 6, 55.

Leibniz in seiner Tradition

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aristotelische Idee eines genuinen, substanziellen Werdens aus dem Bereich der Phänomene, ohne sie jedoch gänzlich aufzugeben. Leibniz wendet sich schnell und entschieden gegen die Idee einer per se unbelebten Materie, sei sie durch den Atomismus, die Korpuskularphilosophie oder durch den Cartesianismus vertreten: Die Körper sind kontinuierlich und unbegrenzt teilbar; nur das perzipierende Individuum ist Eines, zumal eine Seele nicht teilbar ist. Das Verhältnis von Körpern und Bewusstsein muss vor allem auf der Grundlage der Einschließung der Vielheit in der Einheit gedacht werden. Das Resultat seiner Ablehnung von Atomismus und Cartesianismus ist ein auf den ersten Blick radikaler Phänomenalismus: Folglich, wenn es in den Körpern nur Ausdehnung gibt, wird man, wenn man die Analyse fortführt, notwendig auf die Atome, wie auf die Epikurs oder Cordemoys, kommen, oder aber man muss die Körper aus mathematischen Punkten, d. h. die keine Teile haben, zusammensetzen, oder man muss schließlich zugeben, dass die Körper nur Phänomene sind, in denen sich nichts Wirkliches findet.140

Diesem Phänomenalismus als Ablehnung der mechanistischen und korpuskularistischen Traditionen stellt Leibniz eine komplexe Substanztheorie an die Seite, die vermeiden soll, dass die Phänomene nicht gänzlich jeder Wirklichkeit entbehren. Er bezeichnet die einfachen Substanzen als die wahren Atome der Natur und zeigt damit an, welche Wendung er der atomistischen Hypothese zu geben denkt. Der damit verbundene Kausalnexus wird vor allem in diesem Spannungsfeld zu situieren sein, in dem die aristotelische Substanztheorie gegen Descartes behauptet wird, während die moderne galileische Physik mit ihrer Konzentration auf quantitative Grundentitäten bzw. quantifizierbare Entitäten beibehalten werden soll. Leibniz wendet sich auch gegen die beiden anderen Kausaltheorien seiner Zeit: gegen den von Suarez entworfenen Influxionismus, nach dem zwei Substanzen mittels eines Transfers (communicatio) von Realität oder Sein (esse) aufeinander einwirken können, sowie gegen den von Malebranche vertretenen Okkasionalismus, demzufolge Gott selbst in das Geschehen eingreift und in zwei Substanzen Ursache und Effekt manifest werden lässt, ohne dass beide von sich aus eine Beziehung zueinander hätten. Gegen den Influxionismus wendet Leibniz konkret ein, dass keine Substanz einer transitiven, also sich selbst überschreitenden Handlung fähig ist, sondern nur einer immanenten141, d. i. die Substanz verändert nur sich selbst, sie kann kausal auf nichts außerhalb ihrer einwirken. Die transitiven Ursachen, die die mechanistische Philosophie kennt, werden durch immanente Ursachen begründet. Leibniz legt sich bereits in seiner Mainzer Zeit darauf fest, dass echte Verursachung nicht auf der Ebene des physischen Geschehens zu finden ist, sondern in dem Ver140 Brief an Arnauld, 30. April 1687, A II, 2, 169: „Par consequent s’il n’y a rien dans les corps que de l’extension en continuant la resolution on viendra necessairement à les atomes, comme ceux d’Epicure, ou de M. de Cordemoy ou bien il faut composer les corps des points mathematiques, c’est à dire qui soyent depourveus de parties; ou enfin il faudra avouer que les corps ne sont que des phenomenes, où il ne se trouve rien de reel.“ 141 „Nulla substantia capax est Actionis transeuntis, sed tantum immanentis, excepto solo Deo.“ De Libertate et Gratia (1680–84 [?]), A VI, 4, 1458.

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Einleitung

hältnis von Sein und Schein, d. h. von wirklichem Wesen und perspektivisch perzipiertem Ding verortet ist: „Die Natur der Sache ist die Ursache der Erscheinungen der Sache selbst.“142

142 „Natura rei est causa in re ipsa apparentiarum ejus.“ Specimen Demonstrationum, zweiter Entwurf (1671 [?]), A VI, 2, 303.

TEIL I: GRUNDLEGENDE PRINZIPIEN Das überall waltende Trachten nach Gründen verlangt, das Begegnende zu ergründen. Martin Heidegger1

1. DER SATZ VOM GRUND 1.1. Der Satz vom Grund als zentrales Prinzip der Philosophie Der Satz vom Grund gilt als eine der bedeutendsten philosophischen Errungenschaften von Leibniz. Er ist ein weitestgehend unangetastetes und vorausgesetztes Grundprinzip der Philosophie. Trotz dieser unbestritten zentralen Stellung kann dem Ausdruck „nihil (fit) sine ratione“ je nach Interpretation ein unterschiedliches Gewicht beigemessen werden. Als ein zentrales Prinzip hat ihn erst Leibniz ausdrücklich formuliert, wobei es manchen als „seltsam“2 erscheint, dass der Satz, der doch eine offenkundige Grundlage des menschlichen Nachdenkens über die Wirklichkeit ist, erst im 17. Jahrhundert explizit zum Gegenstand der Reflexion gemacht wurde. Es mutet beinahe schon paradox an, dass die meisten Philosophen sich über die zentrale Rolle dieses Satzes in der Philosophie einig sind, während es hingegen keinen etablierten Konsens gibt, wie er denn überhaupt zu verstehen ist3. Ein historischer Grund für die unterschiedlichen Auslegungen des Satzes vom Grund liegt bei Leibniz selbst, der ihm zwar zu prominenter Geltung verholfen hat, ihn dabei jedoch nicht so präzise formuliert, wie ein Philosoph sollte – so lautet jedenfalls ein berühmter Vorwurf von Arthur Lovejoy4. Diese fehlende Präzision ist gleichwohl nicht unbedingt einer Nachlässigkeit Leibnizens zuzuschreiben, sondern der unerwarteten Fülle an Ideen und Problemen, die mit dem Satz in Zusammenhang stehen und die sich erst bei näherer Betrachtung dem Interpreten eröffnen. Verschiedene Deutungen des Satzes lassen sich etwas holzschnitthaft so zusammenfassen, dass er entweder als eine Aussage de dicto, de cognitione oder de re gelten kann. Einige Beispiele dafür seien im Folgenden in parataktischer Reihung angegeben, denn 1 2 3

4

Martin Heidegger: Der Satz vom Grund, Stuttgart 92006, 13. Ebd.,15. Als Beispiel für seine zeitgenössische Geltung soll der Versuch von Alexander R. Pruss dienen, den Satz als Grundlagenparadigma im Rahmen einer analytischen Erkenntnistheorie zu neuer Geltung zu bringen: Pruss verortet dessen Wurzeln in einem parmenideischen Diktum, das über Leukipp und Thomas von Aquin tradiert und neu interpretiert wurde und das auf Latein als ex nihilo nihil fit formuliert wird. Siehe Pruss, Alexander R.: The Principle of Sufficient Reason. A Reassessment, Cambridge 2006, 21 ff. Lovejoy, Arthur: The Great Chain of Being, Cambridge 1936, 145 f.

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Teil I: Grundlegende Prinzipien

eine ausführliche Diskussion der verschiedenen Interpretationen würde hier den Rahmen sprengen. Die meisten Deutungen werden im Folgenden wieder aufgegriffen und in eine umfassendere Darstellung integriert. An erster Stelle gilt der Satz als ein wahrheitstheoretisches Prinzip. Bei Leibniz heißt es, dass jede Wahrheit darin besteht, dass das Prädikat im Subjekt enthalten ist; jede Wahrheit wird sich also in letzter Analyse immer als analytischer Satz entpuppen. Diese Version wird auch predicate containment-theory (PCT) genannt und gilt vielen Interpreten als die „tiefere“ oder grundlegendere Version. Louis Couturat und Bertrand Russell nehmen dies zum Anlass, Leibniz’ Metaphysik axiomatisch aus seiner Logik herzuleiten. Couturat meint sogar, die Monadologie selbst könne aus dem Prinzip des Grundes hergeleitet werden5. Nicholas Rescher identifiziert den Satz vom Grund dagegen bloß mit der Feststellung: „every true proposition is analytic“6. George H. R. Parkinson und Robert Sleigh7 erkennen zwar die nichtlogischen Formulierungen der Kausalität und göttlichen Rationalität an, stellen aber die metaphysischen Formulierungen als derivativ oder weniger wichtig dar. Benson Mates dagegen vertritt die These, Leibniz würde causa und ratio schlichtweg verwechseln und hätte eigentlich „Nichts ist ohne Ursache“ gemeint8. Zweitens gilt der Satz vom Grund als ein anleitendes Prinzip der Erkenntnistheorie. Jonathan Bennett identifiziert den Satz des Grundes auch mit der Bemerkung, dass nichts geschehen könne, das radikal unintelligibel ist9. Er identifiziert damit die Begründbarkeit der Welt mit ihrer Verständlichkeit. André Robinet unterscheidet das Prinzip vom zureichenden Grunde von einem Prinzip des notwendigen Grundes, das in der logischen Notwendigkeit, also der Unmöglichkeit der Negation einer bestimmten Aussage, gegeben sei10. Damit trennt er die Begründungsstrategien kontingenter und notwendiger Wahrheiten voneinander. Jürgen Mittelstrass hält das Kausalitätsprinzip für einen Sonderfall des Satzes vom Grund und für ein Prinzip, das als eine „regulative Idee“ der Physik dienen soll. Damit ist der Satz vom Grund hauptsächlich auf Gottes Handeln bezogen11. Auch Klaus Erich Kaehler sieht durch den Satz vom Grund die Übertragung der formalen Struktur der Ideen auf die Welt gegeben. Damit ist eine Letztbegründung beider Seinsbereiche, Ideen und Welt, im Geiste Gottes gegeben, wenn diese als vollkommene und schöpferische Vernunft verstanden wird12. Hans Poser betont, dass der Satz Erkenntnis im Allgemeinen überhaupt erst ermöglicht. Er bezieht sich erstens darauf, dass alle Sachverhalte dieser Welt eine kausale Ursache haben, zweitens auf das stets be5 6 7 8 9 10 11 12

Couturat, Louis: La Logique de Leibniz d’apres des Documents Inédits, Paris 1901, 23. Rescher, Nicholas: The Philosophy of Leibniz, Englewood Cliffs 1967, 25. Parkinson, George H. R.: Logic and Reality in Leibniz’s Metaphysics, Oxford 1965, 56–75. Mates, Benson: The Philosophy of Leibniz. Metaphysics and Language, Oxford 1986, 154 ff. So ausdrücklich in NE IV, Kapitel 3, A VI, 6, 381. Vgl.: Bennett, Jonathan: Learning from six philosophers. Volume 1: Descartes, Spinoza, Leibniz, Oxford 2003, 176. Robinet, André: Justice et Terreur. Leibniz et le Principe de Raison, Paris 2001, 123 f. Ebenso 131. Mittelstrass, Jürgen: Neuzeit und Aufklärung, Berlin 1970, 464 f. Kaehler, Klaus Erich: Leibniz’ Position der Rationalität. Die Logik im metaphysischen Wissen der „natürlichen Vernunft“, Freiburg 1989, 29.

Der Satz vom Grund

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gründete Handeln Gottes, drittens auf das intentionale und begründete menschliche Handeln, in dem causa und ratio zusammenkommen13. Drittens wird der Satz als ontologisches Prinzip verstanden und damit auf die Existenz selbst bezogen aufgefasst. Dabei gilt er nach Erhard Holze als ein theologisches Prinzip, das Gott als den Grund der Welt ausweist. Da er ebenso für die ratio cognoscendi wie für die ratio existendi gilt, handelt es sich beim Satz vom Grund zugleich auch um ein erkenntnistheoretisches Prinzip. Damit bezieht sich Holze auf Leibniz’ Begründung der Naturwissenschaften in einer außerhalb dieser liegenden ratio und kann so eine Verbindung zwischen wissenschaftlichem und theologischem Weltverständnis herstellen14. Benson Mates, Margaret Wilson, Fabrizio Mondadori und Hide Ishiguro sehen in dem Satz die Annahme ausgesagt, dass jeder Substanz alle ihre Eigenschaften essentiell zukommen, was als „Superessentialismus“15 bezeichnet wird, da hier die Unterscheidung zwischen essentiellen und akzidentellen Attributen aufgehoben wird16. Michael-Thomas Liske weist darauf hin, dass Leibniz’ ratio-Begriff so umfassend ist, dass der Satz vom Grund sowohl die Existenz der Welt wie auch die Existenz einzelner Dinge begründet. Eine begriffliche Erklärung ist selbst stets eine ratio, kann aber dann und nur dann das reale Geschehen bestimmen, „wenn sie der Gedanke eines wirklich existierenden Wesens, nämlich Gottes ist, der in ihrem Sinne als Ursache oder Realgrund wirksam wird.“17 Ebenso schreibt Liske dem Satz vom zureichenden Grunde je nach Geltungsbereich und Anwendungskontext verschiedene Funktionen zu: Er ist ein logisches Begründungsprinzip, ein kausalmechanisches Verursachungsprinzip sowie ein finales Erklärungsprinzip.18 Gleichwohl lassen sich nicht alle Interpretationen direkt miteinander in Einklang bringen. Francesco Piro, der die bis dato umfassendste Untersuchung des leibnizschen Satzes vom Grund unternommen hat, behauptet, dass es eigentlich zwei Sätze gibt: Einen, der auf existente Dinge bezogen ist und einen, der für Propositionen gilt. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die Ursachen den Gründen untergeordnet sind. Gleichfalls hält Piro es für eine wesentliche Aufgabe des Satzes vom Grund, die Scientia media für Gott zu ermöglichen, also das Wissen um die zukünftigen contingentia, durch die Vorhersehung und Willensfreiheit zugleich

13 14 15 16

17 18

Poser: Leibniz, a. a. O., 49 ff. Holze, Erhard: Gott als Grund der Welt im Denken des Gottfried Wilhelm Leibniz, Studia Leibnitiana, Sonderheft 20, Stuttgart 1991, 60. Siehe dazu bspw. Mondadori, Fabrizio: „Understanding Superessentialism“, in: Studia Leibnitiana 17 (1985), 162–190. Zentral ist dabei die These, dass alle Eigenschaften der Substanzen essentiell sind, außer der Existenz. Mates, Benson: The Philosophy of Leibniz, a. a. O.; Wilson, Catherine: Leibniz’s Metaphysics: a Historical and Comparative Study, Manchester 1989; Mondadori, Fabrizio: „Reference, Essentialism and Modality“, in: Studia Leibnitiana 5 (1973), 74–101; Ishiguro, Hide: Leibniz’s Philosophy of Logic and Language, Ithaca 1972. Siehe dazu Loptson, Peter: „Leibniz, Sufficient Reason and Possible Worlds“, in: Studia Leibnitiana 17 (1985), 191–203, hier v. a. 192 ff. Liske, Michael-Thomas: Gottfried Wilhelm Leibniz, München 2000, 61. Ders.: Leibniz’ Freiheitslehre. Die Logisch-Metaphysischen Voraussetzungen von Leibniz’ Freiheitstheorie, Hamburg 1993, 9

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Teil I: Grundlegende Prinzipien

ermöglicht werden sollen19. Eine ähnliche Position soll anfänglich auch hier vertreten werden, auch wenn mit Leibniz’ Theorie der requisita ein Lösungsvorschlag rekonstruiert wird, wie die verschiedenen Dimensionen des Satzes vom Grunde miteinander in Einklang gebracht werden können. 1.2. Was bedeutet „ratio“? Eines der Probleme bei der Interpretation des Satzes vom Grund liegt in der Ambiguität des Terminus „ratio“ begründet. Traditionelle Wörterbücher verzeichnen verschiedene, aufeinander verweisende Bedeutungsnuancen, die über die Vernunft als das menschliche Begründungsvermögen, über den Prozess des Begründens selbst bis hin zum Grund, Maßstab und Gesetzmäßigkeit schlechthin reichen20. Eine lexikalische Erfassung darf gleichwohl nicht die Erschließung der leibnizschen Idiosynkrasie ersetzen. Im Folgenden soll der Terminus in den meisten Fällen entgegen der Tradition unübersetzt stehengelassen werden und als terminus technicus wird er lediglich durch Kursivierung hervorgehoben. Immerhin hat das lateinische ratio keine eindeutige Entsprechung in den zeitgenössischen europäischen Sprachen, ähnlich wie der griechische Begriff logos, an den er sich anlehnt21. Die tote deutsche Metapher „Grund“ bezieht sich auf das Ende etwa eines Grabens oder Brunnens, an dem man nicht mehr tiefer graben kann, bzw. auf den Boden, auf dem man etwas aufbauen kann. Eine Übersetzung mit „Grund“ steht also immer unter einem starken Vorbehalt, weil der deutsche Ausdruck dem lateinischen ratio 19 20

21

Siehe Piro, Francesco: Spontaneitá e Ragion Sufficiente. Determinismo e Filosofia dell’Azione in Leibniz, Rom 2002, 6 f., für die Unterscheidung der verschiedenen Sätze; ebenso siehe ebd.: 103 ff. und 136 ff. für die Erläuterung der Scientia media bei Leibniz. Wörtlich kann „ratio“ übersetzt werden mit: „Das Abrechnen, Berechnen, die Rechnung, Berechnung“, wobei hier ein geistiger Prozess mitgemeint ist; eine statische Übersetzung lautet dagegen „Verzeichnis“, siehe Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, hrsg. von Georges Karl Ernst, Bd. II, Hannover 1962, 2202; im bildlichen Sinne wird es übersetzt mit „Rechnung, Berechnung, Rechenschaft, Aufschluss, Belehrung“, ebd. 2203; im allgemein-logischen Sinne als Relation, zum Ausdruck gebracht mit Termini wie „Verhältnis, Beziehung zu usw., Rücksicht auf usw., Verbindung, Verkehr mit usw.“ sowie als „höhere Geistestätigkeit, das Denken, die bewusste, vernünftige Überlegung, konkret die der Geistestätigkeit zugrunde liegende höhere Geisteskraft, das Denkvermögen, die Vernunft, die Einsicht, Klugheit u. dgl.“, ebd.; schließlich wird „ratio“ auch übersetzt mit „de[m] einen Gegenstand erklärende[n] vernünftige[n] Grund, Vernunftgrund, Beweggrund“, als „Vernunftmäßigkeit, Vernünftigkeit, das vernünftige Verhältnis – Maß, Gesetzmäßigkeit, Gesetz, Regel, Ordnung, Methode“ und als „Grundsatz, Prinzip, Lehre, Theorie, System, Wissenschaft, subj.-theoretische, wissenschaftliche Kenntnis“, ebd., 2205. Dazu kommen im Deutschen noch Übersetzungen als „Grundsatz, Denkart“ sowie „Maßstab“ und „Lebensanschauung“, Lateinisch-Deutsches Taschenwörterbuch, hrsg. von Theodor Bögel, Leipzig 1971, 420. Das Oxford Latin Dictionary, hrsg. von P. G. W. Glare, Oxford 1982, führt den für Leibniz zutreffenden Ausdruck „a satisfactory account can be given“ (ebd., 1575) auf und schlägt entsprechende Erläuterungen als „act or process of reasoning or working out“ oder „guiding principle, system, rule“ vor, ebd., 1575 f. Man kann sagen, dass „rationem reddere“ eine direkte Übersetzung sei von „logon didonai“ und damit aus einer platonisch-pythagoräischen Tradition stammt. Vgl. Piro: Spontaneitá e Ragion Sufficiente, a. a. O., 5.

Der Satz vom Grund

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gegenüber einen wesentlich geringeren Bedeutungsumfang aufweist. Gleiches gilt auch für eine Übersetzung durch den naheliegenden englischen Ausdruck „reason“, der ebenso wie das französische „raison“ mehr semantische Übereinstimmung vortäuscht als tatsächlich vorhanden ist22. Bei Leibniz lassen sich insgesamt mindestens zwölf verschiedene Verwendungsweisen zählen (s. u.), was bedeutet, dass die oft leichtfertig unternommene Identifikation der ratio mit der causa zu kurz greift, auch wenn Leibniz dies in einigen Kontexten selbst vorschlägt, beispielsweise in der Wissenschaftsbegründung. Christia Mercer schreibt dazu: In its causal sense, ‚ratio‘ is usually translated by the English ‚reason‘, where its causal meaning is as broad as that of the English term. That is, ‚ratio‘, like ‚reason‘, is so general in its causal link, however weak or strong. In this sense, it is also rather like the English preposition ‚because of‘ in that it may apply to a very large variety of explanatory relations.23

Dies steht in Einklang zu der tradierten Rolle der vier aristotelischen Gründe (aijtiva), die als vier Antworten auf die Frage nach dem „Warum?“ verstanden werden. Bei Leibniz drückt eine ratio allerdings nicht nur eine explanatorische Beziehung im Rahmen der menschlichen Kapazitäten aus, sondern auch eine alles Menschliche transzendierende Beziehung, welche die Intelligibilität und damit die Erklärbarkeit der Dinge überhaupt erst ermöglicht. Dies wird später noch ausgeführt (siehe Teil II, Kapitel 2–3.). Mercer erläutert weiter: The Latin term ‚ratio‘ is ambiguous among a variety of senses, many which Leibniz employs. He frequently uses the term, for example, as a relation between two quantities (see, e. g., A VI, i, 171, 172, 480), as the reasoning or reckoning faculty (see, e. g., A Vi, i, 169, 267, 269, 482, 485), as a proof or demonstration (e. g., A VI, i, 496, 499), and as the reason, motive, or ground for something (see, e. g., A VI, i, 341, 464, 470). In fact, there are times when Leibniz uses all of these senses in one passage (see A II, i, 117).24

Dazu kommt noch die ausdrückliche Verwendung als Ursache (causa)25, als das bestimmende Element des Reiches der Gnade, das dem der Natur kontradiktorisch entgegensteht26, sowie als alle vier aristotelischen Typen von Ursache zusammengenommen27. Leibniz identifiziert „ratio“ mit der Sammlung der hinreichenden Bedingungen (den requisita, denen der nächste Teil gewidmet ist), d. h. dem „aggregatum requisitorum sufficientium“28. In seinen juristischen Schriften hingegen

22

23 24 25 26 27 28

Beispielsweise wird der Ausdruck „ratio“ auch im Französischen nicht nur als „raison“ übersetzt, sondern auch als „calcul, supputation“, „compte“, „consideration“, „evaluation d’une chose“, „faculté de calculer“, „explication“, „argumentation“, „doctrine“ auf. Siehe das Dictionnaire Latin Français, hrsg. von Gaffiot, F. Paris 1934, 1313 f. Sowie als „sagesse“, „intelligence“ und „opinion.“ Bornecque, H., Cauët, F. (Hrsg.): Dictionnaire Latin Française, Paris 1957, 404. Mercer: Leibniz’s Metaphysics, a. a. O., 74. Ebd., 74n. Vgl. A VI, 6, 475 [bzw. GP V, 457], A VI, 4, 1360. Vgl. die Diskussion bei Carraud, Vincent: Causa sive ratio: la raison de la cause, de Suarez à Leibniz, Paris 2002, 391–416. Vgl. A VI, 4, 1375. Quod Ens Perfectissimum sit Possibile (November 1676[?]), A VI, 3, 573.

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Teil I: Grundlegende Prinzipien

verwendet er es gelegentlich im Sinne des „gesunden Menschenverstandes“, etwa in der Schrift Nova Methodus. Angesichts dieser verschiedenen Übersetzungsvorschläge bemerkt man, dass ratio neben einer systematischen Bedeutung auch eine praktische Komponente besitzt: Es wird nicht nur eine abstrakte theoretische Entität bezeichnet, d. h. ein Verhältnis, das Theorien, Systemen, Vernunftschlüssen, Rechtfertigungen und Geltungsfragen zugehört, sondern es sind konkrete kognitive Prozesse gemeint, in der traditionellen Bedeutung eben der Akt einer Berechnung oder einer Evaluation. Dieser Unterschied ist vergleichbar mit dem Verhältnis von Begründung und Grund, also zwischen einer intellektuellen Handlung und deren Gegenstand oder Resultat. Handelt es sich bei dem Satz vom Grund also um den axiomatisch-deskriptiven Grundsatz eines nach dem Vorbilde der euklidischen Geometrie zu deduzierenden Systems, dessen erste Axiomata als gegeben angenommen werden können? Oder handelt es sich hierbei eher um einen normativen Grundsatz für die Tätigkeiten menschlicher Vernunft, durch den die Angabe von vor allem letzten Gründen, die erst durch die Vernunft gesucht werden müssen, eingefordert wird? Dieses Fordern wird auf sprachlicher Ebene schon durch die gerundivische Formulierung „reddendae rationis“ verdeutlicht, die Leibniz oft mit dem Satz vom Grund identifiziert: Gründe sind anzugeben. In gewissem Maße kann man den Satz vom Grund zumindest auch als eine normative Anforderung verstehen, die unsere Vernunft sich selbst als Leitprinzip auferlegt. Dies lässt sich unter Rückgriff auf die architektonische Struktur von Leibniz’ Denken verstehen. Bekanntlich ist Leibniz ein rationalistischer „system-builder“29. Mit „System“ ist hier gemeint, dass verschiedene philosophische Annahmen aus übergeordneten Grundsätzen deduktiv hergeleitet werden können. Damit soll die Basis für alles Wissen in der Vernunft selbst gefunden werden, ohne dass man dabei auf Erfahrung rekurrieren muss. Der Satz vom Grund ist der oberste dieser Grundsätze und wird oft als axioma magnum bezeichnet30. Axiome sind, so Leibniz, Sätze, die von allen für offenkundig gehalten werden und die aus nicht weiter analysierbaren Grenzbegriffen bestehen: „Axiome sind Propositionen, die von allen für unerschütterbar gehalten werden“, im Manuskript ergänzend beigefügt: „und die aufmerksam betrachtet aus unwechselbaren Begriffen bestehen“.31 Hier wird also aus einer evidenten Anschauung heraus den Axiomata die zentrale Begründungsfunktion zugesprochen. Es handelt sich hierbei also um Sätze, bei denen alles Fragen endet, weil sie keine Begründung mehr benötigen und aller Argumentation zugrunde liegen. Damit haben Axiomata eine entscheidende epistemologische Funktion als Fundament einer bestimmten Theoriearchitektur. Dem entspricht auch, dass Leibniz den Satz vom Grund oftmals dem Prinzip des Widerspruchs als eine der „zwei ursprünglichen Wahrheiten“32 zur Seite stellt. Es ist anzunehmen, dass beide Wahrheiten selbst wiederum eine Einheit in 29 30 31 32

Phemister, Pauline: The Rationalists, Cambridge 2006, 12. Bspw. A VI, 4, 1360. „Axiomata sunt [propositiones], quae ab omnibus pro manifestis habentur, et attente considerata ex terminis constant.“ Consilium de Encyclopaedia (1679), A VI, 4, 341. GP II, 62; vgl. auch GP VII, 199 f.; GP I, 382.

Der Satz vom Grund

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Gott erfahren, denn einen heterogenen, dualistischen Ursprung der Wahrheit und damit der Philosophie sollten wir Leibniz nicht unterstellen. Es handelt sich beim Prinzip des Widerspruchs um das Grundprinzip des göttlichen Geistes, wohingegen der Satz vom Grund das Grundprinzip des göttlichen Willens ist. Die Unterscheidung zwischen göttlichem Geist und Willen jedoch geht nicht auf de facto distinkte Fakultäten zurück, sondern auf menschliche Begriffe, die eine Unterscheidung de dicto ermöglichen. Gott kommt mithin die primordiale Einheit schlechthin zu und sein Wille und Geist sollten nicht in anthropomorpher, prozessual-verzeitlichender Perspektive als Prozesse des Denkens und Wollens verstanden werden, sondern vielmehr als abstrakt-ideales Urbild allen Wollen und Denkens schlechthin. Die obersten Prinzipien sind demnach nicht nur epistemische Prinzipien jeglicher Erkenntnis, sondern es handelt sich ebenso um metaphysische Prinzipien: Die Welt richtet sich tatsächlich nach ihnen, unabhängig davon, was wir über die Welt denken, denn sie sind für Gottes Denken selbst konstitutiv und bestimmen so auch die Form der Schöpfung selbst. In diesem Sinne gilt es, größte Vorsicht mit der Überlegung walten zu lassen, dass die grundlegenden Prinzipien einen bloß formalen Charakter haben – vielmehr scheint es, dass sie über genau bestimmte Seinsbereiche herrschen; je ‚höher’ bzw. grundlegender das Prinzip anzusiedeln ist, umso größer ist sein Geltungsanspruch und auch der ihm unterworfene Seinsbereich. So gilt der Satz vom Grund gerade nicht nur für die Bestimmung der materiellen Dinge und der ihnen zugrunde liegenden Substanzen, sondern ebenso für die Gegenstände der Mathematik und für die zusammengesetzten und vollständigen Begriffe und Ideen. Andere Prinzipien, etwa das Prinzip der Äquipollenz, also der Gleichmächtigkeit von Ursache und Wirkung, gelten nur für bestimmte Seinsbereiche, in diesem Falle für Kräfte. Die Deutung, die den Satz vom Grund als „principium omnis ratiocinationis primarium“33 bzw. als „principium reddendae rationis“34 ausweist, sucht diesen im ratiocinare, dem als prozesshaft verstandenen, prinzipiengeleiteten und begründenden Denken selbst. Nach diesem Verständnis handelt es sich bei dem Satz um eines der „principia certitudinis metaphysicae“35, um eines der Prinzipien metaphysischer Gewissheit, dem Leibniz eine epistemische Bedeutung zuweist. In diesem Rahmen aber ist der Satz vom Grund kein rein methodologisches, systemimmanentes Axiom, sondern ein kognitives Instrument zur Gewinnung gewisser und sicherer Erkenntnis. So wird der Satz vom Grund als das „Axiom größten Nutzens“36 bezeichnet, aus dem die Gegenstände der Physik und Moral abgeleitet werden und mit dem die cartesischen und spinozistischen „Fiktionen“ widerlegt werden können37. Leibniz jedoch führt eine solche Herleitung bzw. Widerlegung 33 34 35 36

37

Conversatio cum Steno (1677), A VI, 4, 1379. Specimen Inventorum (1688 [?]), A VI, 4, 1612. Introductio ad Encyclopaediam Arcanam (1683–85 [?]), A VI, 4, 530. „Axioma maximi Usus ex quo pleraque in re physica et morali derivantur“ Principium Scientiae Humanae (1685/86 [?]), A VI, 4, 671. Ebenso: A VI, 4, 806. Im Jahre 1678 betont er, dass Axiome zwar keines Beweises bedürften, aber dennoch beweisbar seien: zwar nicht durch Induktion, aber aus ihnen selbst heraus, d. h. aus der Bedeutung der Termini. Brief an Hartsoeker, 6. Februar 1711. GP III, 518.

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Teil I: Grundlegende Prinzipien

nie detailliert durch und verwendet zumeist diese divergierenden Ausformulierungen des Satzes vom Grund, ohne sie explizit auf eine gemeinsame Basis zu stellen. Dennoch wird deutlich, dass der kognitive Prozess des reddere rationem in gewisser Weise mit der logisch-inferentiellen Implikation übereinstimmt, welche die Gewissheiten der Welt aus dem ersten Axiom folgen lässt. Der Satz vom Grunde ist als das principium ratiocinandi auch ein aktiv zu erstellendes Rationalitätsverhältnis, das, wie wir noch sehen werden, sowohl ontologischen als auch formalen Kriterien folgt. Damit wird dieses Verhältnis in erster Linie auf den göttlichen Geist zurückbezogen, erst in zweiter Linie auf den menschlichen38. Nicht zuletzt, dies wird noch gezeigt, können auch die mathematischen Kalküle nicht nur als logischformale Relationen, sondern auch als Prozesse des Transformierens eines Gedanken in einen anderen begriffen werden. Dieses doppelte Verständnis des Satzes vom Grund als logisch erster Satz und als fundamentale Verhaltensweise des Beweisens soll ausgearbeitet und in einen wesentlich komplexeren, metaphysischen Kontext eingebettet werden. Wir sehen jedenfalls, dass es nicht den entscheidenden Referenztext, nicht die eine zentrale Formulierung gibt, der oder die als Leitfaden für die Untersuchung des Satzes vom Grund dienen kann. Die Leibnizinterpretation steht so vor der für sie typischen Herausforderung, dass sie zugleich die zahlreichen Texte nicht nur in ihren stets mehr oder minder verschiedenen Inhalten und differierenden Formulierungen, sondern auch in ihrer jeweiligen systematischen Stellung berücksichtigen sollte – und bestenfalls auch noch in ihrer chronologischen Reihenfolge, um den Stufen der Genese des leibnizschen Systems gerecht zu werden. 1.3 Die verschiedenen Sätze vom Grund Während also dem Satz vom Grund schon durch die Ambivalenz von ratio verschiedene Funktionen zuzuschreiben sind, verwendet Leibniz nicht minder divergierende Formulierungen, mit denen er die Bedeutung von „nihil est sine ratione“ angibt. Man kann vier verschiedene Grundvarianten unterscheiden: 1. Jede Wahrheit basiert auf der Einschließung des Prädikats in das Subjekt (lateinische Formulierung: praedicatum subjecto inest, von manchen Forschern als predicate-containment-thesis [PCT] bezeichnet)39. Dies ist eine wahrheitstheoretische Formulierung. 2. Jede Wahrheit, jede wahre Proposition kann a priori bewiesen werden, ist also nicht von kontingenten Umständen abhängig (principium reddendae rationis)40. Dies ist eine epistemologische Annahme, mit der auch die norma38 39 40

Die naheliegende Konsequenz, dass die Welt selbst mit logischer Notwendigkeit aus den ersten Axiomata folgt, versucht Leibniz mit großem Aufwand zu vermeiden. Elementa verae Pietatis, sive de Amore Dei super Omnia (1677–1678 [?]), A VI, 4, 1360; Brief an Arnauld, GP II, 56; Definitiones Cogitationesque Metaphysicae (1678–1681 [?]); De Contingentia (1689 [?]), A VI, 4, 1651; A VI, 4, 1616; GP VII, 309; Mo § 32, GP VI, 612; uvm. Beispielsweise: „Et quidem nihil omnino fit sine aliqua ratione, seu nulla est propositio praeter

Der Satz vom Grund

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tive Forderung verbunden ist, dass eine vollständige Erkenntnis stets auf einen selbst wiederum vollständigen Grund rekurriert, der als solcher nur a priori einsehbar ist. 3. Jedes Ding oder jedes Ereignis hat eine determinierende Ursache (nullum effectum esse absque causa)41. Hierbei handelt es sich um eine wissenschaftstheoretische Leitidee, da, wie wir sehen werden, die Unterscheidung zwischen Ursache und Wirkung durch das Subjekt bedingt ist. 4. Es gibt für die Existenz eines jeden Dinges, einschließlich der Welt als Ganzes genommen, einen Grund (ratione cur haec existant quam alia, dies wird im Folgenden in Anlehnung an eine von Christia Mercer und Robert Sleigh entwickelte Interpretation mit dem englischen Ausdruck principle of sufficient reason bezeichnet, abgekürzt als PSR)42. Dabei handelt es sich wiederum ist eine ontologisches Prinzip, da es sich nur auf existierende Dinge bezieht. Dabei ist festzuhalten, dass Leibniz ganz explizit an verschiedenen Stellen jeden einzelnen dieser vier Sätze mit den Formulierungen „nihil est sine ratione“ oder „nihil fit sine ratione“ identifiziert43. Dadurch wird deutlich, dass er sie allesamt als ein einziges Prinzip versteht. Unklar ist, inwiefern diese Varianten als ein einziges Prinzip gelten können. Die Leitfrage soll die folgende sein: Wie kann Leibniz solche unterschiedlichen Annahmen als ein einziges, zentrales und fundamentales Prinzip annehmen? Wie kann ein wahrheitstheoretisches Prinzip zugleich auch eine ontologische Geltung beanspruchen? Es ist schließlich nicht anzunehmen, dass der Satz vom Grund in vier disjunkte Axiomata zerfällt, denn dies würde eine radikale Zersplitterung der

41

42 43

identicas in qua connexio inter praedicatum et subjectum non possit distincte explicari, nam in identicis praedicatum et subjectum coincidunt aut in idem redeunt.“ Introductio ad Encyclopaediam Arcanam (1683–85 [?]), A VI, 4, 529. Conversatio cum Steno (1677), A VI, 4, 1375; Leibniz an Coste, 19. Dezember 1707, GP III, 402; TD, GP VI, 392; ebd., 402; Elementa verae pietatis, sive de amore Dei super omnia (1677–78 [?]), A VI, 4, 1360; Principia logico-metaphysica (1689 [?]), A VI, 4, 1645; GP VII, 289 (undatiert); De Contingentia (1689 [?]), A VI, 4, 1651; Principium Scientia Humanae (1685/86 [?]), A VI, 4, 671; Mo § 32 GP VI, 612; De Principiis praecipue contradictionis et Rationis Sufficienti (1686/87 [?]), A VI, 4, 806.; GP I, 138; De Aequipollentia Causae et Effectus (1677–78 [?]), A VI, 4, 1963 f.; Meditatio de principio individui (1676), A VI, 3, 490. De Ratione cur haec Existant quam Alia (1689 [?]), A VI, 4, 1634. Ein paar Beispiele für eine solche Identifikation, alle aus der sog. mittleren Schaffensphase: (1.) „Et quidem nihil omnino fit sine aliqua ratione, seu nulla est propositio praeter identicas in qua connexio inter praedicatum et subjectum non possit distincte explicari, nam in identicis praedicatum et subjectum coincidunt aut in idem redeunt.“ Introductio ad Encyclopaediam Arcanam (1683–1685 [?]), A VI, 4, 529. (2.) „Nihil est sine ratione, seu nullam esse propositionem, […] seu quae non probari possit a priori.“ De Libertate et Necessitate (1680–84), A VI, 4, 1445. (3.) „Nihil esse sine ratione, seu nullum effectum esse absque causa.“ Principia Logico-Metaphysica (1689 [?]), A VI, 4, 1645. (4.) „Nihil est sine ratione. Sive quod idem est, nihil existit, quin ratio reddi possit (saltem ab omniscio) cur sit potius quam non sit, et cur sic sit potius quam aliter.“ Elementa Verae Pietatis, sive de Amore Dei super Omnia (1677–78[?]), A VI, 4, 1360. Vgl. GP VII, p. 289.

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Teil I: Grundlegende Prinzipien

Vernunft selbst bedeuten und die Übertragung einer Erkenntnis aus einem bestimmten Erkenntnisbereich (bspw. den der materielle Dinge oder den der ideellen Gegenstände) auf einen anderen unmöglich machen. Die logische Struktur der Welt würde nicht mehr der logischen Struktur der Ideen entsprechen. Diese Beziehung zwischen Ursachen und Gründen, begrifflicher Inklusion und ontologischer Abhängigkeit wurde oft eher auf unzureichende Weise erklärt. Nehmen wir als Beispiel ein Zitat von Couturat, der diese Parallelsetzung von Ursachen und rationes thematisiert: Man entdeckt leicht die Übereinstimmung zwischen dieser Theorie der kausalen und temporalen Kontingenz und der der logischen Kontingenz, die wir darstellen wollen. Das heißt, dass für Leibniz wie für die Cartesianer die Ursache eines Phänomens eigentlich das logische Prinzip der Wahrheit der Proposition ist, was im Grunde besagt, dass derart die Relation der Ursache zu ihrem Effekt im Grunde identisch ist mit der logischen Relation vom Prinzip zu seinem Folgesatz (consequence). Einen Fakt zu explizieren führt infolgedessen dazu, die korrespondierende Proposition zu analysieren und einen Grund in einer anderen Proposition zu suchen, von der diese der logische Folgesatz ist: Oder, wenn es sich um ein zeitliches Ereignis handelt, dann ist diese andere Proposition die Bestätigung des vorhergehenden Umstandes.44

Doch dies ist alles andere als selbstverständlich. Wieso gibt es eine Entsprechung zwischen kausaler und logischer Relation? Benutzt Couturat hier nicht gerade das als Explanans, was eigentlich begründungs- und erklärungsbedürftig ist? In unterschiedlichen Texten identifiziert Leibniz das Prinzip, dass nichts ohne Grund ist, mit der Annahme, dass jede Wahrheit im Prinzip a priori angegeben werden kann45. Damit bezieht sich Leibniz je nach Kontext auf zweierlei Begründungsmöglichkeiten: Erstens liegt der Grund einer Wahrheit in der Proposition selbst und kann durch eine Analyse der im Subjekt bereits enthaltenen Prädikate erfasst werden, d. h. ein Begriff wird in die in ihm enthaltenen einfachen Begriffe zerlegt. Zweitens hat jede Wahrheit einen Grund außerhalb ihrer selbst, also dient die ihr entsprechende Tatsache einem höheren Zweck oder folgt einem übergeordneten Prinzip. So ist jede Wahrheit auf die höheren Prinzipien zurückzuverfolgen, streng genommen bis hin zur Forderung nach einer universalen Harmonie der Welt selbst: Der gegenwärtige Zustand der Dinge ist in der Abfolge der Ereignisse oder, 44

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„On découvre aisément le rapport entre cette théorie de la contingence causale et temporelle et celle de la contingence logique que nous venons d’exposer. C’est que, pour Leibniz comme pour les Cartésiens, la cause d’un phénomène est proprement le principe logique de la vérité de la proposition qui l’affirme, de sorte que la relation de cause à effet est identique, au fond, à la relation logique de principe à consequence. Dès lors, expliquer un fait revient à analyser la proposition correspondante, et à en chercher la raison dans une autre proposition dont elle soit la conséquence logique: or, quand il s’agit d’un événement temporel, cette autre proposition est l’affirmation d’un fait antérieur.“ Couturat: La Logique de Leibniz, a. a. O., 222. „Es gibt zwei Prinzipien aller Überlegungen, das Prinzip des Widerspruchs […]; und der Satz vom Grund muss gegeben sein, d. i. dass jede wahre Proposition, die nicht aus sich selbst heraus bekannt ist, einen Beweis a priori hat, oder dass ein Grund gegeben werden kann für jede Wahrheit, oder wie gewöhnlich gesagt wird, dass nichts ohne Grund geschieht.“ – „Itaque duo sunt prima principia omnium ratiocinationum: Principium nempe contradictionis […]; et principium reddendae rationis, quod scilicet omnis propositio vera, quae per se nota non est, probationem recipit a priori, sive quod omnis veritatis reddi ratio potest, vel, ut vulgo ajunt, quod nihil fit sine causa.“ Specimen Inventorum (1688 [?]), A VI, 4, 1616.

Der Satz vom Grund

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wie Leibniz es nennt, der „Serie der Dinge“ begründet; diese wiederum in dem göttlichen Auswahlkriterium der Universalharmonie. Der Satz „Caesar überquert den Rubicon“ ist deshalb wahr, weil das Überqueren des Rubicons schon im Begriff des Individuums „Caesar“ enthalten ist – Leibniz verfolgt die Idee, dass der Begriff eines jeden Individuums alle Attribute umfasst, die zu irgendeiner Zeit dem Individuum zukommen.46 Aber der Satz ist auch deshalb wahr, weil Gott nur die beste aller möglichen Welten geschaffen haben kann und es im Rahmen der besten aller möglichen Welten auf bestimmte Weise notwendig ist, dass Caesar den Rubicon überquert. Die Tatsache, dass Caesar den Rubicon überquert, ließe sich also dadurch a priori herleiten, dass man den gesamten, unendlich komplexen Begriff Caesars analysiert; oder aber dadurch, dass man aufzeigt, wie die hinterfragte Tatsache dazu beiträgt, diese Welt zur besten aller möglichen Welten zu machen und wie ihr Ausbleiben den Perfektionsgrad der Welt schmälern würde. Beide Analysen hängen miteinander zusammen, weil der vollständige Begriff von Caesar auch die ganze Welt aus einer bestimmten Perspektive mit umfasst, schließlich steht Caesar zu allen Dingen und zu allen Ereignissen in einer bestimmten Relation. Diese Überlegungen beziehen sich auf die prinzipielle Möglichkeit einer derart vollständigen Analyse, die den Menschen aufgrund ihres begrenzten Verstandesvermögens im Bereich faktisch nicht gegeben ist. In diesem Sinne hat der Satz vom Grund auch die Funktion einer Leitidee, weil er die Richtung der Erkenntnis von den Tatsachen hin zu den Gründen der Dinge vorgibt. Man kann ihn so auch als eine transzendentale Möglichkeitsbedingung der Erkenntnis selbst bezeichnen. Es ist soweit deutlich geworden, dass der Satz vom Grund in engem Verhältnis zu Leibniz’ Begriffstheorie, seinem Gottesbegriff und seiner Theorie der Modalbegriffe steht und sich mit der Ausarbeitung dieser Theorieaspekte auch verändert hat. Francesco Piro macht darauf aufmerksam, dass sich der Satz vom Grund auch insoweit in der zeitlichen Genese des leibnizschen Werkes erweitert und entwickelt hat, als immer weitere Formulierungen hinzukommen, ohne dass sich Leibniz von früheren Formulierungen distanzieren würde47. Unter Rückgriff auf Piros Arbeit lassen sich folgende Entwicklungsstufen des Satzes vom Grund skizzieren: – – –

46 47 48 49

Die ersten Formulierungen um 1671 zeigen Leibniz als einen Deterministen, der als oberstes Prinzip einen „Satz vom notwendigen Grunde“ postuliert48. In den physikalischen Schriften um 1671–73 setzt er voraus, dass jede Bewegung einen Grund hat. Dies wird dann auch zum Grund der Wissenschaft erklärt49. Um 1671 definiert und beweist er den Satz vom Grund, der in erster Linie als Prinzip der Existenzursachen verstanden wird. Leibniz definiert ratio über den Zur Individuation von Substanzen aus epistemologischer Perspektive siehe Leduc, Christian: Substance, Individu et Connaissance chez Leibniz, Montréal, Paris 2009. Piro: Spontaneitá e Ragion Sufficiente, a. a. O. Vgl. Brief an Wedderkopf, 1671, A II, 1 (2. Auflage), 186. Bspw. der TMA: „Nihil est sine ratione, cujus consectaria sunt, quam minimum mutandum, inter contraria medium eligendum, quidvis uni addendum, ne quid alterutri adimatur; multaque alia, quae in scientia quoque civili dominantur.“ A VI, 2, 268.

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– – – – –

Teil I: Grundlegende Prinzipien

Begriff der requisita, entwickelt also Ansätze zu einer formalen Ontologie, wie sie im Folgenden noch dargestellt wird. Um 1672–73 thematisiert er damit den Unterschied zwischen bloßer Möglichkeit und Realität50. In der Auseinandersetzung mit Spinoza um 1676 begründet er die Unterscheidung zwischen hinreichenden und notwendigen Gründen auf einer metaphysischen Grundlage, die fortan den Begriff der einfachen Substanz miteinbezieht. Ab ca. 1680 bezieht er den Satz vom Grund nicht mehr nur noch auf existierende Dinge, sondern auch auf die Gültigkeit von Propositionen. Ab 1680 identifiziert er den Satz „nihil sine ratione“ auch mit der PCT und der Apriorizität der Beweisbarkeit51. Ab 1686 synthetisiert er im Discours de Métaphysique und im Briefwechsel mit Antoine Arnauld die vorhergehenden Ausformulierungen und Zuordnungen des Satzes vom Grund mittels seiner Substanzenlehre und dem vollständigen Begriff zu einem System, in dem Erkenntnistheorie und Ontologie aufeinander bezogen sind und in dem die Substanzbegriffe mit Rückblick auf die obersten Prinzipien gestaltet werden. Darin – und in einigen kleineren Schriften der sogenannten „mittleren Jahre“ bis ca. 1700 – findet eine umfassende Synthese statt, die verschiedene logische, erkenntnistheoretische, naturphilosophische und ontologische Annahmen miteinander in Einklang bringt.

Im Folgenden dieser Untersuchung werden entscheidende Schritte dieser durchaus metaphysischen Synthese nachvollzogen. Festzustellen ist, dass Leibniz seine Philosophie um 1686, spätestens mit dem Discours de Métaphysique und dem Briefwechsel mit Arnauld in dieser Hinsicht weit genug entwickelt hat, um diese Synthese herzustellen. Dabei soll dargelegt werden, wie Leibniz diese vier verschiedenen Sätze vom Grund unter bestimmten metaphysischen Voraussetzungen ineinander überführen kann und so tatsächlich berechtigterweise als ein einziges Prinzip formulieren kann. Es gilt herauszufinden, in welchem Begründungsverhältnis die Totalität des Kausalnexus zu der Apriorizität der Wahrheit steht. André Robinet hat umfassend auf die theologischen, moralischen und politischen Implikationen des Satzes vom Grund aufmerksam gemacht52. Hier jedoch soll es vor allem um die Stellung des Satzes vom Grund im Rahmen des metaphysischen Systems von Leibniz gehen. Demnach müssen verschiedene Aspekte von Gründen getrennt gehalten werden, die in ihrem jeweiligen Rahmen Geltung besitzen: In dem Rahmen, der von den Ideen eines „principium reddendae rationis“ aufgespannt wurde, entwickelt sich der leibnizsche Entwurf einer allumfassenden ratio. Mit der Unterscheidung zwischen notwendigen und hinreichenden Gründen ist die logische Grundlage dargelegt, auf der die Untrennbarkeit der rationalen Struktur der Welt mit der moralischen Struktur beruht und anhand derer die weltkonstituierende Rationalität mit dem moralischen Streben der Lebewesen zusammenfällt. 50 51 52

Vgl. Piro: Spontaneitá e Ragion Sufficiente, a. a. O., 4. Bspw. De Veritatibus Primis (1680 [?]), A VI, 4, 1443; Ebd, 1445. Robinet, André: Justice et Terreur. Leibniz et le Principe de Raison, Paris 2001.

Gott will nichts ohne Grund

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Die erste metaphysische Annahme, die hier eine zentrale Rolle spielen wird, ist die, dass der Wille Gottes selbst einen Grund für jede Entscheidung hat und dahingehend durch seinen Intellekt bestimmt wird. Leibniz fasst dies oft prägnant in dem Satz „Gott will nichts ohne Grund“ (Deus nihil vult sine ratione) zusammen. Dies wird sich als das Fundament herausstellen, auf dem die verschiedenen Varianten des Satzes vom Grund zu einer Einheit zusammenzubringen sind und soll nun im Folgenden näher erläutert werden. 2. GOTT WILL NICHTS OHNE GRUND – DEUS NIHIL VULT SINE RATIONE Um 1668 finden sich in der Confessio naturae contra atheistas die ersten Vorarbeiten zu einem Prinzip, das besagt, dass nichts ohne Grund geschieht. Dieser gegen die mechanistische Philosophie gerichtete Text stimmt den Atomisten insoweit zu, dass die Erklärung des beobachtbaren Weltgeschehens – mit Ausnahme der christlichen Mysterien – nicht auf Gott oder unkörperliche Formen zurückgreifen darf. Alle Erklärungen sollen sich stattdessen auf beobachtbare Eigenschaften stützen, auf Bewegung, Größe und Gestalt. Aber Leibniz widerspricht entschieden der atomistischen Annahme, dass die Erklärung hier bereits enden dürfe. Denn der Kausalnexus selbst wird von der mechanistischen Erklärung vorausgesetzt, kann durch diese aber nicht erklärt werden. Auch ist der Atomismus nicht in der Lage, die spezifische Ausrichtung der Welt durch die verschiedenen Gesetze und Prinzipien zu begründen, kraft derer sich die Harmonie in der Welt überhaupt erst einstellt – der Atomismus konzipiert eine wesentlich sinnlose Welt, die deshalb keine Schöpfung sein kann und mithin gar nicht existieren würde. Deshalb ist ein Rückgriff auf weitere transzendente Prinzipien notwendig, die den Kausalnexus und damit die Harmonie und Ordnung der Welt erklären können. Ebenso können die beobachtbaren Eigenschaften den Körpern nicht wesentlich zukommen, womit er eine bereits 1663 in seiner Disputatio de principio individui entwickelte Idee wiederholt, die in direkter Anlehnung an die scholastisch-aristotelische Tradition steht: Ein solches Aufgehen des Wesens der Dinge in ihrer Erscheinung würde die Identität und damit die Realität der Körper aufheben (s. u.). Also benötigen die Körper ein unkörperliches Prinzip, das ihre Realität sowie ihre Verknüpfung garantiert, doch ein solches unkörperliches Prinzip ist entweder das Absolute selbst oder von ihm abhängig. Das Verständnis der Körper als Dinge im Raum ist noch nicht hinreichend für ein echtes Wissen über die Körper, denn dazu muss man ihren vollständigen Grund erkennen, nämlich ihre Abhängigkeit vom Absoluten. Ohne den Atomismus direkt abzulehnen, strebt Leibniz hier an, ihn mit der Idee einer vom Schöpfer abhängigen, auf ihn bezogenen und durch ihn verständlichen Schöpfung zu kombinieren. Die Körper werden von Gott nicht nur geschaffen, sondern auch mit einem aus unserer Perspektive permanenten Akt der Neuschöpfung im Sein gehalten53. Die Bewegung der Körper kann ihre Ursache nur außerhalb derselben haben54. 53 54

Siehe bspw. Brief an Thomasius, 20./30. April 1669, A II, 1 (2. Auflage), 36. GP I, 11. Vgl. dazu Kabitz: Die Philosophie des jungen Leibniz, a. a. O., 55–60.

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Teil I: Grundlegende Prinzipien

Auf diese Weise hat Leibniz bereits den Kausalnexus mit der Frage nach dem Grund des Seins überhaupt in Verbindung gebracht, wenn auch auf eine noch unklare Weise. Diese Problemstellung erinnert an die aristotelische Idee des unbewegten Bewegers, die für das Verständnis von Bewegung überhaupt notwendig ist. Er akzeptiert die Annahmen der mechanistischen Philosophie jedoch für einen kosmologischen Gottesbeweis, den die scholastische Philosophie so nicht zugelassen hat, weil sie den Grund der Körper in den ihnen zukommenden substanziellen Formen sucht. In dieser Zeit um 1668 werden verschiedene Unterscheidungen getroffen, die für seine Philosophie ein modales und begriffliches Gerüst sein werden: Leibniz betont den Unterschied zwischen einer hinreichenden Bedingung, die auch durch eine andere ersetzbar ist, und einer notwendigen, also unersetzbaren, Bedingung55; er grenzt Gründe (rationes) von Materialursachen (causae materialis) ab56 sowie hypothetische von absoluter Notwendigkeit57. Der Bitte des Kieler Juristen Wedderkopf nachkommend, seine Meinung über das Fatum, das Weltenschicksal, näher darzulegen, differenziert Leibniz seine Ideen über den Grund der Welt genauer aus. In ihrem Briefwechsel taucht um 1671 zum ersten Mal eine mit dem Satz vom Grund nah verwandte Annahme auf: Gott begründet die Welt und deren Schicksal mit seinem Willen, der selbst wiederum in der universalen Harmonie aller Dinge begründet ist. Der Wille selbst jedoch ist nicht vom Verstand unterschieden58. In den Pariser Jahren 1672–76 wendet sich Leibniz mehrfach gegen diejenigen, die Gott rein abstrakt denken, also als eine metaphysische Entität, die des Denkens und Wollens unfähig sei. Gott ist nach Leibniz und im Einklang zum oben skizzierten christlichen Gottesbild jedoch vielmehr als eine Person oder intelligente Substanz zu denken, die über einen Intellekt verfügt und einen eigenen Willen besitzt. Andreas Blank macht darauf aufmerksam, dass in der Schrift Elementa verae pietatis (1677–78) die Konsequenzen daraus gezogen werden: Weil Gott Kenntnis von dem hat, was gut ist und besser als anderes, ist Gottes Wille auf das Gute ausgerichtet. Jede Handlung, die ihren Grund im Denken hat, geschieht willentlich.59 Hier ist eine Definition des Willens impliziert, die den Willen als den Übergang zu einer begründeten Handlung begreift. Zu dieser Zeit meint Leibniz, so wie er bereits in De incarnatione Dei (1669–71 [?]) betont, dass die Seele ununterbrochen 55 56 57 58

59

Vgl. Specimen Certitudinis seu Demonstrationum in Iure (1669), A VI, 1, 370 ff. Vgl. Piro: Spontaneitá e Ragion Sufficiente, a. a. O., 45 f. Brief an Thomasius, 19./29. Dezember 1670, A II, 1 (2. Auflage), 119. Von der Allmacht und Allwissenheit Gottes und der Freiheit des Menschen (1670–71), A VI,1 541. A VI, 1, 45. An anderer Stelle heißt es: Der Wille ist die bestimmende Vernunft (ratio determinans), A VI, 1, 60. Später, etwa im § 2 des DM (A VI, 4, 1532 f.) wird die Vernunft gleichwohl als Grund des Willens ausgewiesen, doch scheint dies kein Widerspruch zu sein, denn sie sind schließlich keine de facto getrennten Dinge, sondern nur de notione voneinander unterschieden. Wären Wille und Vernunft als eigene Entitäten strikt voneinander getrennt, wäre Gott selbst ein Zusammengesetztes, was für Leibniz eine absurde Vorstellung ist. Elementa Verae Pietatis (1677–1678 [?]), A VI, 4, 1360. Vgl. Blank, Andreas: Metaphysics and Metaphilosophy, München 2005, 151.

Gott will nichts ohne Grund

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handelt. Die leibnizsche Willensmetaphysik der siebziger Jahre wurde von Willy Kabitz auf den Punkt gebracht: In keines Wesens Macht steht es zu wollen, was es will. […] Es gibt keinen absoluten Willen, der nicht von der Güte der Dinge abhinge; es gibt keinen zulassenden Willen in dem Allwissenden, es sei denn sofern Gott sich selbst der Idealität oder der Vollkommenheit der Dinge anpasst.60

Dies sind die Vorbereitungen für einen der zentralen Sätze der Philosophie von Leibniz, der jedoch in seiner expliziten Form Ende der 1670er Jahre auftaucht: Gott will nichts ohne Grund61. Dabei ist entscheidend, dass die Entscheidung Gottes, sich stets nach dem Vollkommensten zu richten, frei und nicht aus logischer Notwendigkeit heraus erfolgt. Leibniz nimmt also eine gewissermaßen ‚erste‘ Entscheidung Gottes an, von welcher der Satz vom Grunde abhängt: sich selbst zur Vernunft zu verpflichten62. Es ist jedoch unplausibel, diese erste Entscheidung Gottes als eine zeitlich erste Entscheidung zu denken – dies hieße, Gottes Ewigkeit aufzuheben und ihn in eine zeitliche Ordnung hineinzudenken, die seine Existenz transzendiert. Es ist für Leibniz wie auch für seine scholastische und neuplatonische Tradition völlig klar, dass die ontologische Fülle Gottes nicht mit einer temporalen Existenz einhergehen kann, da es sonst einen Teil Gottes geben müsste, dessen Sein noch aussteht. Vielmehr handelt es sich hier um eine allem zugrunde liegende Entscheidung, die alle anderen bestimmt und ermöglicht – also gewissermaßen um eine transzendentale Entscheidung, eine Bedingung der Möglichkeit anderer Entscheidungen, die dem Wesen der göttlichen Vernunft selbst entspringt. Deshalb folgt aus dem Willen Gottes auch nichts unmittelbar, der Wille bestimmt die Welt nicht mit Notwendigkeit: Was Gott will, das wird wirklich. Aber das bedeutet nicht, dass das, was Gott will, auch notwendigerweise wirklich wird. In der Leibnizforschung finden sich Positionen, die den Satz Deus nihil vult sine ratione als eine Variante des Satzes vom Grund identifizieren.63 Es sollten aber zwei Differenzierungen erfolgen: Erstens identifiziert Leibniz zumindest in den siebziger Jahren den Willen Gottes mit der universalen Harmonie selbst64, die streng genommen Gottes Geist im Einklang mit den logischen Grundprinzipien wie dem Satz der Identität entspricht. Jedes Wesen handelt im Einklang mit seiner eigenen Natur und nicht im Einklang mit einem ihm externen, es transzendierenden Prinzips. Die Tatsache, dass Gott nichts ohne Grund will, liegt demnach nicht außerhalb des Willens selbst in einem ihm externen Prinzip begründet, sondern ist vielmehr nichts anderes als dessen Form. Zweitens hat keine der vier oben aufge60 61 62 63 64

Kabitz, Willi: Die Philosophie des jungen Leibniz, Heidelberg 1909 (Nachdruck Hildesheim 1997), 122. Deus Nihil vult sine Ratione, 1678 bis 1681 [?], A VI, 4, 1388 f. Ebenso in: Elementa Verae Pietatis, 1677 bis 1678 [?], A VI, 4, 1363; Scientia Media (1677), A VI, 4, 1373; TD § 35 f., GP VI, 122 f.; De Libertate (1689 [?]), A VI, 4, 1656; u. ö. DM § 13, A VI, 4, 1546 f. Bspw. Mercer, Christia / Sleigh Jr., Robert C.: „The early period to the Discourse on Metaphysics“, in: Jolley, Nicolas (Hrsg.): The Cambridge Companion to Leibniz, Cambridge 1995, 67–123, hier: 85. Kabitz: Die Philosophie des jungen Leibniz, a. a. O., 122.

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Teil I: Grundlegende Prinzipien

führten Varianten die Form einer apodiktischen Begründung. Es kann aber eine Begründung für die Prinzipien angegeben werden, dass nichts ohne Grund existiert und dass alle Wahrheiten a priori eingesehen werden können: Weil Gott die Welt und mit ihr alle Wahrheiten nicht anders schaffen konnte – zwar wäre er als allmächtiges Wesen dazu in der Lage gewesen, aber er konnte es nicht anders wollen. Ein anderer Willensentscheid hätte seinem eigenen Wesen widersprochen. Der Satz vom Grund nimmt aufgrund des Wesens Gottes auch die Form des Prinzips des Besten an: „Die wahre Ursache, warum bestimmte Dinge existieren statt anderer, wird aus den freien Entscheidungen des göttlichen Willens hergeleitet, deren erste es ist, alle Dinge in der bestmöglichen Weise tun zu wollen, wie es sich dem Weisesten ziemt.“65 Das Bestmögliche ist das entscheidende Kriterium für die Entscheidungen Gottes – eine Idee, die Leibniz vor allem in den 1680er Jahren ausarbeitet und die man auch als Effizienzmaximierung der weltlichen Prinzipien bei größtmöglicher Harmonie spezifizieren kann. Gottes Wille wird also in Gottes eigenem Wesen begründet und ist so als unreduzierbarer, autosuffizienter, d. i. unbedingter Grund (causa sui) zugleich der letzte Grund allen Denkens und Seins und damit keiner weiteren Begründung fähig66. In einer späten Notiz macht Leibniz deutlich, dass der Satz vom Grund uns stets in die Theologie führt und dort keiner weiteren philosophischen Begründung fähig ist: Ich beginne [das Denken] als Philosoph, aber ich beende es als Theologe; eines meiner großen Prinzipien ist, dass nichts ohne Grund geschieht; dies ist ein Prinzip der Philosophie. Im Grunde jedoch ist dies nichts anderes als das Bekenntnis (aveu) der göttlichen Weisheit, weshalb ich nicht weitergehend darüber rede.67

Die Formulierung, dass der Satz vom Grund nur als Bekenntnis (aveu) angegeben werden kann, ist bemerkenswert. Die unaufhörliche Rationalität erfordert also einen – freilich moderaten – Sprung in den Glauben, von dem dann aber gleichwohl alle weitere weltliche Vernunft abhängig ist. Von unserer endlichen epistemischen Warte aus gesehen bedeutet dies: Der Grund des Satzes vom Grund ist ein Glaubensgrund, er ist damit kein rational einsehbarer Grund mehr und deshalb im engeren Sinne gar kein Grund. Im Discours de Métaphysique unterscheidet Leibniz in thomistischer Tradition zwischen einem allgemeinen und einem speziellen Willen Gottes. Diese begriffliche Unterscheidung des Willens in Willensakte (volitiones) und einen übergeordneten allgemeinen Willen (voluntas) ist an Augustinus angelehnt, der diese als

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„Vera causa cur haec optius quam illa existant, aumenda est a liberis divinae voluntatis decretis, quorum primarium est, velle omnia agere quam optime, ut sapientissimum decet.“ Randnotiz zum Specimen Inventorum (1688 [?]), A VI, 4, 1616. Zu der Besonderheit eines im Wesen selbst gegründeten Willensentscheides und dessen Dimension der Freiheit siehe den vierten und letzten Teil dieser Untersuchung. „Je commence en philosophe, mais je finis en théologien; un de mes grands principes est que rien ne se fait sans raison; c’est un principe de philosophie. Cependant, dans le fond, ce n’est autre chose que l’aveu de la sagesse divine, quoique je n’en parle pas d’abord.“ Die Leibnizhandschriften der Königlichen öffentlichen Bibliothek zu Hannover, hrsg. von Eduard Bodemann, Hannover 1895, Nachdruck Hildesheim 1966, 58.

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Erster unterschied68. Dazu kommt eine weitere Unterscheidung: Der allgemeine, auch vorhergehende (antecedens) Wille genannt, umfasst den speziellen69, der auch als nachfolgender (consequens) bezeichnet wird. Der allgemeine Wille umfasst die gesamte Welt und zielt auf das Beste ab, während der spezielle das konkrete Gut als Gegenstand hat, dessen Verwirklichung ein Schritt auf der Entwicklung zum Besten hin ist70. Das Entscheidende dabei ist, dass nur einzelne Willensakte als Handlungen zu verstehen sind. Der allgemeine Wille folgt seinem eigenen Wesen und wird nicht wieder durch einen anderen Willensakt bestimmt – er ist der Grund der einzelnen Willensakte. Wie aber ist die Endlichkeit der Welt als Gegenstand des göttlichen Willens zu verstehen? Das Endliche geht als Privation des Unendlichen stets in irgendeiner Form mit einem Übel einher, sei es moralischer, physischer oder metaphysischer Natur. Jedes Übel ist insoweit ein Mittel zum Guten, als es entweder einer Verbesserung der Welt dienlich ist oder als es insgesamt ein Erfordernis für die Existenz der Welt selbst und die menschliche Freiheit ist. Eine perfekte Welt kann es nicht geben, sie würde alle Perfektionen in sich vereinen und wäre damit nichts anderes als Gott selbst. Im Discours heißt es: „Außerdem scheint es, dass jeder Willensakt einen Grund (raison) des Wollens voraussetzt und dass dieser Grund dem Wollen natürlicherweise vorhergeht“71. Ein jeder spezifischer Willensakt hat als Grund den Willen im Allgemeinen, der dabei der durch den Geist vorgegebenen und allgemeinen Ordnung folgt: „Aber es ist gut zu bedenken, dass Gott nichts außerhalb der [allgemeinen] Ordnung unternimmt“72. Diesem allgemeinen Willen Gottes entspringt demnach das Prinzip des Besten, sich in den konkreten Entscheidungen nach dem Vollkommensten auszurichten73, das als Kriterium für weitere Willensakte dient. Der einzelne Wille zielt auf die konkreten Handlungen der Lebewesen und auf die einzelnen physischen Ereignisse ab und richtet diese nach moralischen Prinzipien aus. Er hat seinen Grund im allgemeinen Willen, der das absolute Kriterium vor68

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„Die Neuartigkeit der Auffassung Augustinus liegt darin, dass er diesen voluntates nochmals eine voluntas überordnet. Die voluntas bestimmt über die voluntates, indem sie diese approbiert oder verwirft, sie sich zu eigen macht oder abweist. Das liberum arbitrium voluntatis ist eine Manifestation dieser voluntas als Entscheidungsvermögen. Als Kraft Entscheidungen zu fällen, bestimmt die voluntas darüber, welche Willensstrebungen ein Mensch hat, d. h. welche Anreize er handlungswirksam werden lässt.“ Brachtendorfer: Augustinus ‚Confessiones‘, a. a. O., 165. Augustinus kennt dementsprechend zwei Arten der Freiheit, einmal die Bestimmung der Willensakte durch den Willen, einmal die moralische Qualität des übergeordneten Willens. Ebd., 170 f. „Il faut considerer en Dieu une certaine volonté plus generale et plus comprehensive, qu’il a à l’esgard de tout l’ordre de l’Univers, puisque l’Univers est comme un tout que Dieu penetre d’une seule veue, car cette volonté comprend virtuellement les autres volontés“, Brief an den Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels, 12. April 1686, A I, 4, 18. Vgl. den DM § 7, A VI, 4, 1538 f.; vgl. auch die Einleitung zum Briefwechsel mit Bayle, 1687, GP III, 31. „Outre qu’il semble que toute volonté suppose quelque raison de vouloir et que cette raison est naturellement anterieure à la volonté.“ DM § 3, A VI, 4, 1534. „Mais il est bon de considerer que Dieu ne fait rien hors d’ordre.“ DM § 6, A VI, 4, 1537. Vgl. DM § 13, A VI, 4, 1546 f.

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Teil I: Grundlegende Prinzipien

gibt, nach dem das relativ Gute und das relativ Schlechte ausgewählt werden können. Damit wird die Welt entsprechend eines objektiven Maximums an Ökonomie ausgewählt – das Schlechte ist minimiert gegenüber dem maximierten Guten. Alle kontingenten Fakten sind damit auf die Vorstellung einer idealen Harmonie zu beziehen und da dies auch das Kriterium ist, an dem sich ihre Existenz oder Nichtexistenz entscheidet, haben sie auch ihren Ursprung im Prinzip des Besten74. Allerdings ist kein einzelnes Ding durch dieses Prinzip bestimmt worden und kein Individuum hat für sich genommen Anspruch auf Existenz – denn dann wäre seine Existenz wieder notwendig und nicht kontingent. Es ist vor allem die Gesamtheit der miteinander kompossiblen Dinge, die durch dieses Prinzip bestimmt wird, und zwar nach dem Kriterium, dass die größtmögliche Perfektion mit den geringsten Mitteln erzeugt werden soll und das hier „Minimax-Kriterium“ genannt werden soll. Dieses ist gleichwohl nur auf ein einzelnes Ding nicht anwendbar, sondern nur auf ein System, in dem alles mit allem zusammenhängt, mittelbar oder unmittelbar. Gäbe es zusammenhangslose Entitäten, dann wären sie entweder nicht Teil dieser Welt oder könnten nicht nach dem Minimax-Kriterium bestimmt werden; sie hätten demnach keinen Existenzgrund. Davon abgesehen ist das Fehlen von Verhältnissen selbst schon als ein Mangel an Harmonie und damit an Perfektion anzusehen. Leibniz nimmt an, dass es Vollkommenheiten, Perfektionen gibt, also Prädikate, die nicht nur einer höchsten Vollkommenheit fähig sind75, sondern auch selbst moralisch gut sind. Im Rahmen der in der Einleitung skizzierten Grundidee einer moralischen Weltordnung bzw. einer deontischen Ontologie haben alle positiven Prädikate also bereits einen moralischen Wert dahingehend, dass sie wünschenswerter sind als ihre jeweilige Negation und so die Grundlage für jede Willensentscheidung intrinsisch als Wert vorgeben – etwas ist nicht deshalb gut, weil Gott es so will, sondern Gott will das, was per se gut ist76. Diese Qualitäten nennt Leibniz auch „absolute Qualitäten“ und definiert sie als diejenigen Qualitäten, die für sich und unabhängig von allem anderen gedacht werden können, die also keine Negation enthalten und nicht relational verstanden werden müssen77. Sie müssen auch absolut sein, denn nur so kann durch sie das Bedingte und mithin Endliche bestimmt werden. Die „Nicht-Relativität“ der absoluten Qualitäten78 ist für die Einheit und Unbedingtheit Gottes verantwortlich. Die einfachen, ersten und absoluten Begriffe haben weiterhin keine Begründung, es sind keine existierenden Dinge oder Propositionen, auf die der Satz vom Grund angewandt werden könnte. Da sie grundlos sind, gehören sie dem göttlichen Verstand an, da nur Gott causa sui sein kann. Was sollte es auch heißen, einen einfachen Begriff zu begründen? Es hieße, die in ihm eingeschlossenen Voraussetzungen und Teilbegriffe durch Ausgliederung und Benennung zu explizieren, was der Annahme widerspricht, es wären wirklich einfache Begriffe. Der Satz vom Grund gilt nicht für die einfachen, absoluten Begriffe, wohl 74 75 76 77 78

Vgl. De Libertate et Necessitate (1680–84 [?]), A VI, 4, 1445 ff. Vgl. die Auseinandersetzung mit Spinoza über das Ens perfectissimum, ebenso DM § 1. Vgl. z. B. Causa Dei, GP VI, 443. A VI, 2, 489. So der Ausdruck („Non-relativity“) von Adams, Robert M.: Leibniz. Theist, Determinist, Idealist, Oxford 1994, 115.

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aber für diejenigen Kombinationen von einfachen Begriffen, insofern sie ein Seiendes bezeichnen; die einfachen Begriffe gehören zwar zum Reich der Ideen und damit zum göttlichen Geiste, aber sie unterliegen nicht mehr dem Willen Gottes. Der Wille Gottes ist folglich notwendig, aber nicht hinreichend, um die Existenz dieser Welt zu erklären. Das in Leibniz’ mittleren Jahren entwickelte Verständnis der Schöpfung – die Auswahl der Welt aus allen möglichen Welten, das Streben der bloßen Möglichkeiten (possibilia) zur Existenz (existiturire), das Zulassen des Bösen und Schlechten als Bedingung der Welt, usw. – kann hier nicht genauer untersucht werden. Dennoch können hier einige für den Fortgang der Untersuchung relevante Konsequenzen gezogen werden. Der Wille Gottes ist der Grund für den göttlichen Schöpfungsakt, das göttliche fiat. Da Gott die Schöpfung in ihrer Gesamtheit erkannt und bestimmt hat, hat die Welt insgesamt ihren Grund in Gottes Willen. Da dieser göttliche Wille selbst durch seine eigene Natur begründet ist, gibt es einen letzten Grund für die Welt außerhalb ihrer selbst: in Gottes Entscheidung für diese Welt, die seinem ersten Willensentscheid zum Besten hin folgt. Da der göttliche Wille die Welt als eine kausal geordnete bestimmt, gilt in ihr der Satz, dass nichts ohne Ursache ist. Da der göttliche Wille aber selbst wieder bestimmt sein muss, liegt die Idee, dass Gott nichts ohne Grund will, diesem zugrunde. Daran wird Leibniz stets festhalten und diese Idee mündet später in die Feststellung, dass alle Wirkursachen von Finalursachen abhängen, weil alles, was kausal geschieht, letztendlich auf Gottes finalen Willen zur Schöpfung zurückgeht79. Freilich wird diese einfache Feststellung mit der Einführung der Substanzen noch deutlich kompliziert, weil diese selbst wiederum wirkursächliche und finale Momente in sich vereinbaren und so wiederum ein Mittleres zwischen Gott und dem zum bloß phänomenalen Geschehen deklassierten Kausalnexus ausmachen. Der allgemeine Wille Gottes ist also auch Leibniz’ Antwort auf die Frage, warum die Welt so existiert, wie sie existiert, mithin auf die Frage, warum Gott die einzelnen Dinge und Ereignisse der Welt gewollt hat. In späteren Schriften formuliert Leibniz die Schöpfung als ein Streben der Möglichkeiten zu ihrer Verwirklichung: Gott wählt aus den verschiedenen möglichen Welten, die alle im gleichen Maße zur Existenz drängen, die beste Welt aus und lässt ihre Existenz zu80. Das göttliche fiat! wird damit ein Akt des Zulassens. In der Theodizee wird Leibniz hieraus ganz deutliche Schlüsse ziehen: Man kann sagen, dass, sobald Gott etwas zu schaffen beschlossen hat, ein Streit zwischen all den Möglichkeiten entsteht, die allesamt nach Dasein verlangen, und dass dabei diejenigen, die in ihrer Verbindung miteinander die meiste Realität, die meiste Vollkommenheit, die meiste Begrifflichkeit erzeugen, den Sieg davon tragen.81 79 80 81

Siehe Brief an Bierling, 12. August 1711, GP VII, 501. Leibniz geht erst seit dem auf 1686 bis 89 datierten Text De Veritatibus Primis auf die zur Existenz drängenden Welten ein. „L’on peut dire qu’aussitost que Dieu a decerné de créer quelque chose, il y a un combat entre tous les possibles, tous pretendans à l’existence; et que ceux qui joints ensemble produisent le plus de realité, le plus de perfection, le plus d’intelligibilité, l’emportent.“ Theodizee § 201, GP VI, 236.

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Teil I: Grundlegende Prinzipien

Also ist auch Begrifflichkeit im Sinne von Intelligibilität sowohl ein Grund als auch ein Ziel der Welt. Leibniz stimmt in einer Hinsicht auch den Cartesianern zu: Gott ist die einzige Grundursache der reinen und absoluten Realitäten oder der Vollkommenheiten: Die sekundären Ursachen handeln nach der ersten Tugend (causae secundae agunt in virtute primae). Wenn man aber unter den Realitäten die Begrenzungen und Unvollkommenheiten versteht, so kann man sagen, dass die zweiten Ursachen zur Hervorbringung dessen mitwirken, was beschränkt ist. Anderenfalls würde Gott die Ursache der Sünde, ja deren alleinige Ursache sein.82

Hierin ist auch Leibniz’ Kritik an Descartes angedeutet, dessen Korpuskularphilosophie Leibniz zwar nicht gänzlich ablehnt, sondern insoweit für unvollständig erklärt, als sie auf Gott verweisen muss. Zwar sollte Gott nicht zur Erklärung einzelner Ereignisse herangezogen werden, im Theoriedesign einer umfassenden Metaphysik muss er aber jeder Naturphilosophie vorangestellt werden83. In einem Text von 1686 wird Leibniz diese Idee überschwänglich hervorheben84, mit der Konsequenz, dass nur die Endlichkeit des menschlichen Geistes diesen von der wahren Erkenntnis abhält und wir, wenn wir vollständigen intellektuellen Zugang zur letzten Ursache hätten, keinerlei Offenbarung benötigten. In Gott liegt schließlich jedes apriorische Wissen, aus dem jedes aposteriorische Wissen herleitbar ist; und wenn wir über ein vollständiges apriorisches Wissen verfügen könnten, dann würden wir Gott selbst sehen, da er die Ursache aller Ursachen (causa causarum) ist. Damit wären alle Hypothesen oder Experimente überflüssig, derer wir uns bedienen, um die erfahrbaren Wahrheiten bzw. die zusammengesetzten Ideen zu erkennen, denn in Gott selbst könnten die einfachen Ideen als Ursprung aller zusammengesetzten Wahrheiten direkt erkannt werden. Doch ohne einen solchen Zugang zur Ursache aller Ursachen, den wir intellektuell nur ex hypothesi und im Glauben erkennen können, sind wir auf Naturforschung und Spekulation angewiesen. Wir werden sehen, dass Gott als solcherart letzter Grund aller Ursachen als genuine Finalursache zu verstehen ist. Leibniz steht damit im Einklang mit der Tradition, die letzte Ursache als Finalursache zu verstehen85. In den folgenden Kapiteln gilt es noch zu klären, wie die Tatsache, dass die Welt ihren Grund in Gott hat, selbst wieder die vier Varianten des Satzes vom Grund begründet. 82

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„Dieu est la seule cause principale des realités pures et absolues, ou des perfections. Causae secundae agunt in virtute primae. Mais lorsqu’on comprend les limitations et les privations sous les realités, l’on peut dire que les causes secondes concourent à la production de ce qui est limité. Sans cela, Dieu seroit la cause du peché, et même la cause unique.“ Theodizee § 392, GP VI, 348 ff. Siehe dazu ausführlicher Teil II. „Tum demum vero cum distincta nostra notitia erit, potabimus fontem rerum ac Deum a facie ad faciem intuebimur. Cum enim Deus sit ultima rerum ratio, ideo tunc utique videbimus Deum cum cognitio erit a priori, per causam causarum, quatenus demonstrationes nostrae neque hypothesibus indigebunt neque experimentis, et rationes rationum reddere poterimus usque ad primitivas veritates.“ Examen Religionis Christianae (Systema Theologicum), 1686 (?), A VI, 4, 2452. Siehe dazu bspw. Carlin, Laurence: „Leibniz on Final Causes“, in: Journal of the History of Philosophy, 44.2 (2006), 217–233.

Der Grund der Dinge

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3. DER GRUND DER DINGE Der Satz vom Grund wird von Leibniz auch so ausgedrückt, dass die Welt ihren Grund in Gott habe. Christia Mercer macht darauf aufmerksam, dass Leibniz bereits seit 1668 eine Variante des Satzes vom Grund kennt, die hier in Einklang mit Mercers eigener Abkürzung mit „PSR“ für „principle of sufficient reason“ bezeichnet werden soll. Es handelt sich dabei um ein epistemisches Prinzip, das ein Kriterium für wirkliche Erkenntnis angibt, nämlich dass die Erkenntnis eines Dinges dieses stets in seiner Bedingtheit erfassen muss. Mercer fasst vier Eigenschaften des vollständigen Grundes (ratio completa) zusammen, den Leibniz bereits zu diesem Zeitpunkt von einem unvollständigen Grund unterscheidet: 1. „It constitutes the necessary and sufficient condition for [some feature or state of affairs] f; 2. it is perspicuous in that when one understands or apprehends it, one sees exactly how it is ‚the because‘ of the f, that is, why f follows; 3. it is such that in those cases when a full account of it can be given, that account consitutes a complete explanation of f; and 4. the ratio itself does not require a ratio of the same type. In this sense, to present the ratio of f is to explain it fully.“86 Der zweite und dritte Punkt weisen das PSR als ein epistemisches Prinzip aus. Hier wird der Satz vom Grund in Anlehnung an die aristotelische Konzeption des Ursachenbegriffs verstanden, nämlich als Antwort auf die Frage nach dem Warum. Zentral scheint mir hier die Annahme zu sein, dass die Ursache die Wirkung vollständig erklärt, eine Idee, die Leibniz zum ersten Mal in der Catena Mirabilium Demonstrationum de Summa Rerum (1676) vertritt; sowie die, dass der Grund selbst wieder durch einen ganz anders gearteten Grund erklärt werden kann. Als Beispiele für letzteres sei eine physische Ursache genannt, die als Grund für ein beobachtbares Ereignis gelten kann, selbst aber ihre ratio wieder in den übergeordneten Prinzipien der Natur hat. Diese Prinzipien haben ihre ratio wiederum in den obersten Grundsätzen, die nicht weiter begründungsfähig sind (außer durch den Verweis auf den göttlichen Willen als Glaubensakt, s. o.). Analog dazu, einige Ideen aus dem zweiten Teil dieser Untersuchung vorwegnehmend, kann die Substanz als Grund für die physischen Geschehnisse dieser Welt gelten, auch wenn sie ebenso wieder in ihrer Existenz auf Gott zurückgeht, der sie begründet, d. i. geschaffen hat und im Sein erhält. Doch dieses Verständnis der ratio als Antwort auf die Frage nach dem Warum deckt nicht alle Facetten dessen ab, was Leibniz später als Prinzip des Verstandes (principium rationis) bezeichnet – beispielsweise eben die eingangs genannte PCT („predicate containment thesis“). Das PCT behauptet gerade die Implikation des Explanandums im Explanans und damit konstatiert einen jeden wahren, d. h. nichtleeren, und vollständigen Begriff als ein selbstgenügsames Explanandum, das sich 86

Mercer: Leibniz’s Metaphysics, a. a. O., 78.

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Teil I: Grundlegende Prinzipien

in der begrifflichen Analyse als sein eigenes Explanans erweist. Hierbei handelt es sich also um einen internen Grund, womit sich die PCT auf entscheidende Weise vom PSR unterscheidet, weil letzteres gerade einen externen Grund postuliert, der sich vom Begründeten durchaus prinzipiell unterscheiden kann; hier in Mercers viertem Punkt genannt. Leibniz wird allerdings erst in den achtziger Jahren auch den Bezug zwischen Erkenntnis des nominalen Grundes und Erkenntnis der physischen Ursache herstellen. Wichtig ist hierbei, dass diese Variante des Satzes vom Grund nur für bereits existierende Dinge gilt, während der Satz vom Grund als PCT sich auf Begriffe und damit auf alle möglichen Entitäten bezieht. Zudem verwendet Leibniz einen ganz eigenen Begriff für das, was Mercer mit „condition“ bezeichnet: nämlich den Begriff des requisitum87, der in den folgenden Untersuchungen diese Beziehung zwischen beiden Varianten des Satzes vom Grund noch erhellen wird. Diesem ungewöhnlichen Terminus kommt eine zentrale Bedeutung sowohl für die leibnizsche Theorie des Kausalnexus als auch für die begriffslogische Inklusionsrelation oder „in-esse“-Relation der PCT zu. Er wird gewöhnlich mit „Erfordernis“, „Voraussetzung“ oder „Bedingung“ übersetzt, allerdings ist diese Übersetzung problematisch, weil Leibniz sich mit dem requisitum gerade von der in diesen Begriffen angelegten Logik absetzen will. Hier soll dieser Ausdruck deswegen ebenfalls als terminus technicus unübersetzt bleiben. Er wird in Teil II dieser Untersuchung ausgiebig diskutiert. Christia Mercer schreibt andernorts in einem gemeinsamen Text mit Robert C. Sleigh, Jr.: „The PSR implies that God as the cause of the world is its sufficient reason.“88 Damit beziehen sie sich auf eben dieses Verständnis: Gott ist die Summe aller erfüllten Bedingungen der Gesamtheit der Welt. Dies entspricht auch einer Formulierung von Leibniz, nur dass dieser eben den Begriff des requisitum anstelle des Begriffs der „Bedingung“ benutzt89 – eine, wie wir sehen werden, entscheidende Differenz. Sleigh und Mercer leiten aus ihrer Variante des PSR – dass es zu allem einen zureichenden und vollständigen Grund geben muss, der gegebenenfalls auch ein externer Grund sein kann – her, dass Gott als Ursache der Welt deren erfüllte Bedingung ist. Das geht mit der oben aufgestellten und an der Unterredung mit Steno illustrierten These einher, dass der Satz vom Grund für den Beweis Gottes als des unbewegten Bewegers notwendig ist. Die Interpretation von Mercer und Sleigh könnte so paraphrasiert werden: ‚Das PSR impliziert, dass es bewiesen werden kann, dass Gott als die Ursache aller Ursachen auch der zureichende Grund der Welt ist.‘ Doch diese Bemerkung hält einer genaueren Betrachtung nicht stand. Es wurde schon skizziert, dass und wie Gott zugleich Ursache, Erkenntnisgrund und 87

88 89

Dieser hat erst in der jüngsten Zeit vermehrt die Aufmerksamkeit der Interpreten erfahren. Die meisten älteren Leibniz-Ausgaben führen den Begriff noch nicht einmal in ihrem Index, auch wenn er in einigen enthaltenen Texten eine bemerkenswerte Rolle spielt (z. B. G. W. Leibniz. Philosophical Papers and Letters, hrsg. von Leroy E. Loemker, Chicago 1956). Mercer/Sleigh Jr.: „The early period to the Discourse on Metaphysics“, a. a. O., 85. Über Spinozas Ethik (1675–76 [?]), A VI, 3, 385: „Tertius infiniti isque summus gradus est ipsum Omnia, quale infinitum est in DEO, is enim est unus omnia: in eo enim caeterorum omnium ad existendum requisita continentur.“

Der Grund der Dinge

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Bedingung der Welt ist, insofern er ihre Existenz, ihre Intelligibilität und ihre Möglichkeit begründet. Dabei wurde noch nicht gezeigt, wie die verschiedenen Formen des Satzes vom Grund mit diesem Aspekt zusammenhängen. Es ist aber nicht einsichtig, wieso das Prinzip des zureichenden Grundes in dieser Minimalfassung implizieren soll, dass Gott der Grund der Welt ist. Denn in einigen Texten scheint Leibniz diese von Sleigh und Mercer vorgeschlagene Argumentation genau umzukehren. In der Confessio Philosophi heißt es beispielsweise: „Da Gott der letzte Grund der Dinge ist, oder der zureichende Grund des Universums, folgt, dass das Universum einen Grund, sogar den größtmöglichen [d. i. rationalsten] Grund hat.“90 Das Verhältnis zwischen der Schöpfungsfunktion Gottes und dem Satz vom Grund ist also keineswegs unproblematisch. Es gilt deshalb, zu sehen, wie und warum die Einsehbarkeit der ratio der Schöpfung mit der causa in Gott zusammenhängt. Dieses letzte Zitat aus der Confessio Philosophi ist eine Begründung der maximalen Rationalität der Welt bzw. deren vollständiger Durchdringung durch den göttlichen Verstand, was man auch als Panlogismus bezeichnen kann. Ebenso kann man die Bedeutung des Satzes auch mit der folgenden Formulierung hervorheben: Da Gott der letzte Grund jedes einzelnen Dinges ist, folgt, dass das Universum als Ganzes einen einzigen Grund außerhalb seiner selbst hat. In erster Linie aber scheint dieser Satz die oben vertretene These zu belegen, dass die Annahme Deus nihil vult sine ratione der Totalität der rationalen Geltungsansprüche zugrunde liegt. Doch Mercer und Sleigh drehen diese Position genau um: Weil das PSR gilt, muss die Welt ihren Grund in Gott haben. Die Differenz zwischen beiden Positionen ist nicht zu entscheiden, solange nicht klar ist, was genau mit Gott als ratio der Welt gemeint ist und welchen Stellenwert diese These innerhalb des Leibnizschen Systems einnimmt. Wir müssen also einen längeren Umweg wagen, die bislang nur skizzierten verschiedenen Hinsichten näher zu ermitteln, in denen Gott die ratio der Welt ist. 3.1. Ratio als Existenzgrund Leibniz nimmt schon in seinen frühesten Schriften an, dass es keine Bewegung ohne ein sie steuerndes, lenkendes Prinzip geben kann und bindet den Substanzbegriff daran91; eine solche ungelenkte Handlung ohne Prinzip wäre nur ziellose Zufälligkeit und für uns weder intelligibel noch für den Schöpfer der Welt wünschenswert. Damit stellt er sich in eine lange Tradition des Platonismus und trifft eine der Vorentscheidungen, die seine Ablehnung des Atomismus begründen kann. Auf die Frage nach dem Warum einer Bewegung kann also, anders als etwa im Epikureismus, immer eine Antwort angegeben werden, die auf etwas verweist, das außerhalb des Körperlichen selbst liegt.

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„Cum Deus sit ultima ratio rerum, seu ratio sufficiens Universi, rationem autem Universi quippe rationalissimam consequatur.“ Confessio Philosophi (1672–73), A VI, 3, 126. „Substantia est ens per se subsistens. Ens per se subsistens est, quod habet principium actionis in se.“ A VI, 1, 508.

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Dies wurde bereits in der allerersten Verwendung des Ausdrucks rationem reddere in der Confessio naturae contra atheistas (1668) festgelegt92. Dort, wie auch des Öfteren zu dieser Zeit, wendet sich Leibniz gegen zwei Positionen. Erstens wendet er sich gegen Descartes und die Cartesianer, die annehmen, man könne den Grund einer Bewegung in der Form, Größe und Bewegung eines anderen Körpers finden: Wenn beispielsweise ein Körper mit einer bestimmten Geschwindigkeit auf einen anderen Körper trifft, dann verursacht er bei diesem gestoßenen Körper eine Geschwindigkeit, die in einer bestimmten Proportion zu seinen Eigenschaften steht. Leibniz stimmt zwar mit der Vorstellung überein, dass die mechanistische Philosophie die Gründe für die Dinge auf plausible Weise auf die Erklärungen von Form (figura) und Bewegung (motio) zurückführen kann, aber er erhebt gegen diese Vorstellung den Einwand, dass der Ursprung eben dieser beiden primären Qualitäten nicht auf die Körper zurückgeführt und nicht in diesen gefunden werden kann.93 Diese Kritik richtet sich gegen die Erklärungskapazität der Mechanik. Wenn der bestimmende Grund einer Bewegung in einem je anderen bewegten Körper liegt, dann bedeutet dies einen prinzipiell unendlichen Regress an Bewegungsgründen – oder aber eine Transzendenz dieses Prinzip hin zu einem ersten, selbst unbewegten Beweger, der aber kein physischer Körper sein kann. Leibniz folgt der aristotelischen Tradition, das Wissen als Wissen um den wirklichen, vollständigen Grund eines Dinges zu verstehen. Ein wirklicher, d. i. vollständiger Grund erfordert keinen weiteren Grund94. Ein unendlicher Begründungsregress würde es aber unmöglich machen, zu einem vollständigen Grund zu gelangen. Damit wäre auch Wissen um den Grund eines Ereignisses oder Dinges selbst unmöglich. Da aber aus theologischen Gründen an der Intelligibilität der Welt festzuhalten ist, muss der vollständige Grund also außerhalb der Abfolge von aufeinanderprallenden Körpern gesucht werden – Gott wird als jenseitiger Ursprung der Welt begriffen, als externe Ursache. Dies ist keinesfalls so zu verstehen, dass die Welt aus ihm in einem zeitlichen Akt hervorgeht, sondern vielmehr durch einen neuplatonisch konzipierten Prozess der Emanation95: Gott erschafft in einem außerzeitlichen Akt die gesamt Abfolge von Dingen bzw. Ereignissen, die Leibniz als catena rerum bzw. series rerum bezeichnet und für die auch hier weiterhin der lateinische Begriff als terminus technicus verwendet werden soll. An verschiedenen Stellen verwendet Leibniz dazu auch die ebenso neuplatonischen Konzepte der hypostatischen Einheit von Körper und Seele96 und später auch die Metapher der „Quelle“, aus der Gott sich ergießt – dies 92 93 94 95

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Confessio Naturae contra Atheistas (1668), A VI, 1, 492 ff. Ibid., 490. Siehe: „Omnem in Corporibus Cohaerentiæ causam esse naturaliter figuras quasdam implicatorias, nempe: hamos, uncos, annulos, eminentias, breviter […]. Sed in istis ultimis corpusculis nulla apparet ratio cohærentiæ et insecabilitatis.“ Ibid., 492. Wie genau Leibniz diesen unbewegten Beweger denkt, das hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Spricht er bereits 1668 von einer creatio continua (bspw. A VI, 1, 494), so spricht er später zudem auch von Emanation und (wenn auch nur selten) von „Ausblitzung“, fulguratio. Damit erweitert er die Begrifflichkeit der Schöpfung von einer ontologischen Determination durch Gott hin zu einer Ausfaltung im neuplatonischen Sinne. Vgl. z. B. De Incarnatione Dei seu de Unione Hypostatica, A VI, 1, 532.

Der Grund der Dinge

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entspricht strukturell und sprachlich der Metaphysik als „Quelle“ der Mechanik, von der im zweiten Teil die Rede sein wird. Dazu kommt, dass Leibniz nicht mit Descartes übereinstimmt, wie und in welchem Maße Geschwindigkeiten durch Beschleunigung verursacht werden. Er kann nachweisen, dass die cartesianische Mechanik ein Perpetuum mobile erlauben würde und er sucht lange nach einer geeigneten Formel, um das Verhältnis zwischen stoßendem und gestoßenem Körper in Bezug auf die übertragene Geschwindigkeit zu untersuchen97. Im Zuge dieser Auseinandersetzung entwickelt Leibniz seinen Kraftbegriff, auf den in späteren Kapiteln noch näher einzugehen ist. Zudem wendet er sich, wenn auch nicht ausdrücklich, gegen den Atomismus, der vor allem in Form des Epikureismus wieder an Bedeutung gewinnt und etwa von Gassendi vertreten wird. Der Atomismus spielt in seinen frühen Schriften zur abstrakten und konkreten Bewegung der Körper (TMA und TMC) eine große Rolle; man kann sogar sagen, dass Leibniz in diesen frühen Schriften eine mit dem Atomismus durchaus verwandte Korpuskularphilosophie vertritt. Diese muss jedoch durch die Annahme erweitert werden, dass den Körpern eine gewisse Beseeltheit und damit Substanzialität zukommt. Zudem lehnt Leibniz den atomistischen Prinzipiendualismus ab, der auf den zwei unreduzierbaren Prinzipien des Seienden und der Leere basiert und der damit keine ontologisch kontinuierliche, sondern nur eine radikal disjunkte Natur zulässt. Es ist auffällig, dass Leibniz in der Confessio naturae contra atheistas, ebenso wie in anderen frühen Texten, nicht zwischen der Ursache der Existenz eines Dinges und der einer Bewegung differenziert, sondern beides miteinander identifiziert. Leibniz übernimmt die cartesische Idee, dass die geometrische Form (figura) eines spezifischen Dinges nur durch entsprechende Bewegungen entstanden sei und so das individuelle Äußere (forma) der Körper ausmacht98. Im Rahmen des mechanistischen Weltbildes gilt, dass alle Erscheinungsformen des Körpers dem Zusammenwirken von Bewegungen entstammen99. Die Ursache der Veränderungen ist somit auch die Ursache der Gestalt und damit der Identität physischer Dinge. Leibniz wird diese Position nie ganz aufgeben, auch wenn er sie mit einer aristotelischen Position zu vereinen sucht, dass nämlich jede Körperform (figura) eines Lebewesens immer auf die artspezifische Körperform (species) zurückzuführen ist. Da Leibniz eben auch die gesamte physisch-materielle Natur in Anlehnung an Platon und Aristoteles als beseelt konzipiert und ab den späten 1670er Jahren deren Zusammensetzung aus nichts als aggregierten Lebewesen betonen wird, kann er so eine Brücke zwischen aristotelischen und cartesischen Formgebungsprinzipien spannen. Durch diese eben skizzierte Kritik an Descartes bekommt der Satz vom Grund eine Doppelbedeutung: Erstens soll er die theoretischen Grundlegung der Berechtigung der Mechanik als Wissenschaft liefern und damit eine metaphysische Begründung der grundlegenden Wissenschafts- und Erkenntnisprinzipien ermöglichen. Zweitens handelt es sich um ein ontologisches Prinzip, da der wirkliche erste 97 98 99

Für die entsprechende Kritik siehe beispielsweise DM § 15, A VI, 4, 1553 f.; Eine ausführlichere Diskussion der Erörterung im SD erfolgt in Teil II dieser Untersuchung. A VI, 2, 436. Ebd., 443.

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und vollständige Grund (hier: die erste Ursache der Veränderungen, der weltlichen Formen und der Identität der Dinge) außerhalb des Weltgeschehens und so jenem selbst zugrunde liegen muss. Damit werden die Grenzen der Mechanik aufgezeigt, die sich nicht selbst begründen kann und einer äußeren Grundlegung bedarf. Dies gilt es im Folgenden zu erläutern. Zur Funktion des Satzes vom Grund als Begründung der Mechanik als Wissenschaft schreibt Leibniz: „Ich war, soweit ich weiß, der erste, der bewiesen hat, dass Nichts ist ohne Grund das Fundament der Wissenschaft des Geistes und der Bewegung ist.“100 Hier wird die Bedeutung und der Nutzen des Satzes vom Grund für die „Wissenschaft des Geistes“, die Leibniz damals als Scientia generalis konzipiert, wie auch für die Naturwissenschaft klar ausgewiesen. Leibniz hat zwar Ansätze zu einer Theorie des Geistes als Analysevermögen geliefert, wie er auch in seinen Überlegungen zur Substanz bereits die Grundsteine für die Vergeistigung der Substanz legte. Marcelo Dascal weist zu Recht darauf hin, dass Leibniz zu dieser Zeit, den frühen 1670er Jahren, bereits seine Theorie der Bewegung ausgearbeitet und veröffentlicht hatte und dass diese Wissenschaft des Geistes nichts als ein vages Projekt war101. Es scheint also, als ob der gezielte Versuch unternommen wird, die Prinzipien der materiellen Welt mit den Prinzipien des Erkennens zusammenzuführen. Dies ist insoweit plausibel, als er schon in vielen frühen Schriften den Körper durch den Geist bewegt konzipiert – und die Hauptaktivität des Geistes ist das Denken (cogitatio). Diese Parallelstellung zwischen geistiger und körperlicher Aktivität wird in den 1680er Jahren endgültig ausgearbeitet. Leibniz’ Vokabular der Mechanik ist zu dieser Zeit bereits wesentlich elaborierter als in den frühen 1670ern, denn nun verfügt er über den Begriff der series rerum, er hat sich von seinen frühen korpuskulartheoretischen Positionen der Theoria motus, Hypothesis phyisca nova und Specimina physica abgewandt, er hat sich entschieden gegen die cartesianische Physik gewandt und in De summa rerum und dem Pacidius Philalethi die Kraft als Begründung und Ursprung der essentiellen körperlichen Merkmale, der Undurchdringlichkeit (in Leibniz’ Terminologie Antitypie genannt) und der Masseträgheit (Inertia), ausgewiesen und seit 1678 eine Dynamik entwickelt, die ihn zu seiner späteren Substanzmetaphysik führt. Dabei ist es bemerkenswert, dass der Satz vom Grund, den Leibniz mit der Absicht einführt, die Mechanik und die Begriffsanalyse zu begründen, noch weitreichende Konsequenzen für ganz verschiedene Bereiche des Denkens hat. Der Satz vom Grund wird auf die Problematik der Willensfreiheit ausgeweitet und als Fundament der menschlichen Erkenntnisleistung konzipiert102. Die auf 100 „Nihil esse sine ratione, ego quod sciam primus demonstravi fundamentum scientiarum de mente et motu.“ Demonstratio propositionum primarum (1671–72 [?]), A VI, 2, 480. 101 Dascal, Marcelo: Leibniz: Language, Signs and Thought, Amsterdam 1987, 156. Vgl. auch den weiter unten zitierten Aufsatz De Affectibus und die zugehörigen Kommentare. 102 „Und [der Satz] nichts ist ohne Grund wird von denen abgelehnt, die den Willen von dieser Regel ausnehmen, wie alle diejenigen, die die Scientia Media gegen die Prädeterministen verteidigen. Und dennoch, wenn die absolute und rigorose Universalität dieser Propositionen in Frage steht, ist es um die Gewissheit aller Propositionen geschehen, die der menschliche Geist erdenkt (invenit).“ – „Et nihil esse sine ratione negant quicunque ab hac regula excipiunt voluntatem, ut Scientia mediae patroni omnes contra Praedeterminatores. Et tamen labente harum

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den Jesuiten Luis de Molina zurückgehende Lehre der Scientia media impliziert, dass das Wissen Gottes selbst konditionale Elemente enthält. Damit ist gemeint, dass sich das Wissen Gottes um das Weltgeschehen erst herausbildet, wenn die Menschen ihre gottgegebene Freiheit auch benutzen. Für diese Idee ist eine Unterscheidung zwischen dem Wissen von in sich möglichen, aktualen und konditionalen Ereignissen notwendig, wobei konditional hier bedeutet, dass die konditionalen Ereignisse eine Konsequenz vorheriger Setzungen sind103. Leibniz scheint hier einen Zusammenhang zwischen der Prädetermination des Menschen und dem Satz vom Grund zu sehen. Der Satz vom Grund kann jedenfalls nicht aufgegeben werden, um die Willensfreiheit der Menschen zu retten – nicht, weil dies unlogisch oder unmöglich wäre, sondern weil es eine Konsequenz hätte, die zu akzeptieren auch den Befürwortern der Willensfreiheit schwer fallen würde: Ohne den Satz vom Grund als PSR wird auch die Möglichkeit sicheren Wissens im Allgemeinen aufgegeben. Das PSR garantiert, dass jeder Wissensinhalt prinzipiell einer Begründung fähig ist – zwar nicht unbedingt durch das konkrete menschliche Individuum, aber durch einen unendlichen Verstand, was wiederum die prinzipielle Möglichkeit einer Erkenntnis durch den begrenzten Verstand garantiert. Diese Verknüpfung des Wissensbegriffs an den Satz vom Grund geht wieder auf die aristotelische Idee zurück, dass Wissen um etwas zugleich das Wissen um die Ursache von etwas bedeutet. Wer also die Dinge der Welt verstehen will, muss ihre Ursache kennen. Doch die Ursache einer Bewegung zu kennen bedeutet noch nicht, die vollständige Ursache eines Dinges zu kennen: Jede Wirkung drückt ihre Ursache aus und die Ursache für jede Substanz ist die Entscheidung, die Gott, sie zu erschaffen, gefällt hat. Diese Entscheidung schließt aber die Beziehungen zum ganzen Universum ein, da Gott das Ganze im Blick hatte, als er über jeden Teil entschied, denn je weiser einer ist, desto mehr miteinander verbundene Pläne hat er.104

Deshalb ist es notwendig, die Begründung der Welt in Gott mitzudenken: In diesem Sinne hat der Satz vom Grund die Funktion, für einen kosmologischen Gottesbeweis unverzichtbar zu sein und ist schon allein deshalb äußerst wünschenswert: Wir sollten den Satz vom Grund als PSR schon deshalb annehmen, weil er uns Gewissheit wie Zuwachs an Erkenntnis garantiert. Darauf weist Leibniz in den 70er Jahren mehrmals explizit hin, erstmals hat er ihn im Jahre 1676 in der Conversatio cum Steno formuliert105 und es ist lohnend, sich diesen Beweis einmal näher anzusehen. propositionum absoluta et rigorosa universalitate actum est de certitudine omnium propositionum quascunque mens humana invenit.“ Demonstratio Propositionum Primarum (1671–72 [?]), A VI, 2, 480. 103 Man vergleiche dies mit den Kommentaren von Dascal: Leibniz: Language, Signs and Thought, a. a. O., 156 f., sowie dem Fragment zur Sciencia Media (1677), A VI, 4, 1373 ff.; Vgl. auch: Parkinson, George H. R.: Leibniz on Human Freedom, Wiesbaden 1970. 104 „Tout effect exprime sa cause et la cause de chaque substance, c’est la resolution que Dieu a prise de la créer; mais cette resolution enveloppe des rapports à tout l’univers, Dieu ayant le tout en veue en prenant resolution sur chaque partie, car plus on est sage et plus on a des desseins liés.“ Brief an Foucher (1686): GP I, 383; vgl. DM § 28. 105 Ähnliche Argumente finden sich u. a. in den Demonstrationes Catholicae (1668–69), A VI, 1, 494, sowie in De Principiis Praecipue Contradictionis et Rationis Sufficientis (1686/87 [?]), A VI, 4, 806. Siehe auch: TD § 44, GP VI, 75.

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In diesem Text, einer Notiz zu einem Gespräch mit Nicolaus Steno, weist Leibniz dem Satz vom Grund eine doppelte Funktion zu. Dieser ist, so schreibt Leibniz nun ganz explizit, nämlich erstens notwendig für den Beweis Gottes und zweitens ein Prinzip mit doppelter Anwendung in Mechanik und allgemeiner Vernunft. Dass beide Funktionen in letzter Instanz zusammen gedacht werden müssen, zeigt das folgende Zitat aus dem Jahr 1678: Ich behaupte, dass die Existenz Gottes nicht ohne dieses Prinzip bewiesen werden kann: Nichts ist ohne Grund. Dieses Prinzip gilt nicht nur in der Mechanik, […] sondern auch in den Gründen, deren Notwendigkeit keine mechanische ist, wie ich wie folgt zeige. Die Serie der Dinge könnte, absolut gesprochen, auch anders gewesen sein, denn anders zu sein impliziert keine Kontradiktion. […] Wie weit wir auch immer voranschreiten, es stellt verbleibt stets eine neue Frage und ein zureichender Grund kann in der Serie nicht gefunden werden. Also muss dieser außerhalb der Serie liegen. Dieser Grund kann nicht körperlich sein, ansonsten wäre er zwischen den Körpern selbst bereits in der Serie enthalten. Also muss dieses Prinzip auch außerhalb der Mechanik angewandt werden.106

Mit der durch den Satz vom Grund bezeichneten ratio ist dann ein Prinzip gemeint, das einerseits ein Verkettungsprinzip innerhalb des Kausalnexus ist, andererseits der transitive Grund außerhalb dessen. Der Satz vom Grund hat damit die Doppelfunktion, die Mechanik zu begründen und zugleich als Prinzip theologischer Grundlegungsfragen bezüglich des Verhältnisses der Schöpfung zu Gott zu dienen. Die Mechanik begründet er, indem er die Verkettung bzw. konkrete und unabweichliche Abfolge der Dinge von außen, d. i. in Gott begründet und somit als vorab festgelegt ausweist. Diese series rerum bedeutet für Leibniz immer die Welt, d. i. eine Aufeinanderfolge verknüpfter Ereignisse. Es wird deutlich, dass der Satz vom Grund eine kausal geschlossene physische Welt impliziert, aber zugleich ebenso bedeutet, dass diese physische Welt nur derivativ ist gegenüber ihrem metaphysischen Fundament, das selbst wiederum in einen absoluten Grund mündet. Für die theologischen Aspekte verweist der Satz vom Grund auf das Prinzip des Besten, den göttlichen Willen und die Bestimmung des Willens durch Gottes Geist – auf all dies wird noch einzugehen sein. In den Jahren nach 1676 wendet sich Leibniz der Analyse solcher kausalen Abfolgen zu. Die universelle Forderung nach der Begründung eines Dinges in seinem Grund legt eine universelle Determination nahe, die aber in erster Linie aus der Herleitbarkeit des Dinges bzw. Ereignisses folgt. Determiniert sein, so heißt es etwa in De Affectibus (1679), bedeutet aus etwas zu folgen107, also durch etwas bedingt sein. Dies mündet dann in die Behauptung der Bestimmung der Serie insgesamt: 106 „Ajo Dei existentiam non posse demonstrari, sine hoc principio, nihil esse sine ratione. Id principium non locum habet tantum in mechanicis, […] sed etiam in rationibus, quas necesse est mechanicas non esse, quod sic ostendo. Series rerum potuit aliter esse, absolute loquendo, seu non implicat contradictionem ipsam esse aliter, […] semper utcunque progrediamur nova manet quaestio, nec uspiam in serie reperitur ratio sufficiens. Ergo ea debet esse extram seriem. Haec ratio non est corporea, alioqui intra corpora ista seu in serie fuisset jam comprehensa. Ergo necessarius est usus hujus principii etiam extra mechanica.“ Conversatio cum Steno (1677), A VI, 4, 1375. 107 „Derivation is finally expressed by a pure inferential scheme: ‚B can be derived from A means that: if A obtains, B also does.‘ (A VI, 4, p. 1439)“ Di Bella, Stefano: „Leibniz’s Theory of

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Diejenige Wahrheit ist kontingent, die unendlich viele Gründe einschließt, aber so, dass stets etwas übrig bleibt, für das wiederum der Grund zu ermitteln ist (indem aber die Zergliederung fortgesetzt wird, entsteht eine unendliche Reihe, die jedoch nur Gott in vollkommener Weise erkennt).108

Auf den Zusammenhang zwischen der begrifflichen und faktischen Ereignisabfolge wird noch eingegangen. Entscheidend ist hier, dass die series rerum, die Abfolge der Dinge, selbst als bestimmt, aber kontingent gilt, denn sie ist nicht durch absolute Notwendigkeit begründet, sondern in Gottes Entscheidung, seiner Erkenntnis des Besten zu folgen. Deshalb gilt für die series rerum der Satz vom Grund sowohl als internes wie externes Prinzip. Er begründet die einzelnen kontingenten Wahrheiten wie auch die Kontingenz an sich und liefert damit Leibniz ein Argument, die Scientia media abzulehnen und zugleich die Freiheit des Menschen zu vertreten (siehe dazu Teil VII). Die notwendigen Wahrheiten werden durch den Satz der Identität bestimmt. Es gibt für sie keine Ursachen, auch wenn es durchaus einen Grund für sie geben kann109, denn Wirkursachen werden vor allem in Bezug auf die Existenz und auf mathematische Gegenstände (s. u.) gedacht, nicht aber in Bezug auf die existenzsetzenden Prinzipien selbst. Es finden sich Ursachen, die transitiv in der Ereigniskette wirken, aber es lässt sich auch eine einzelne externe Ursache für die gesamte Kette aufzeigen, nämlich Gott, der deswegen keine immanente Ursache sein kann, weil er sonst selbst ein Teil der Schöpfung wäre. Erst der Discours wird die Position, dass alle Ereignisse, Handlungen und Perzeptionen ihre Ursache immanent in der zugrunde liegenden Substanz haben, auf ein solides metaphysisches Fundament gestellt (siehe Teil III). Wirkliche und zureichende Gründe dagegen finden sich nicht in der Serie der Dinge, sondern nur außerhalb ihrer, vor allem im Willen Gottes und der universellen Harmonie; im Bereich der weltlichen Dinge finden sich dagegen nur unvollständige Gründe. Dies ist die Basis für den Gottesbeweis und gleichzeitig das Prinzip der kontingenten Dinge und Veränderungen. Damit denkt Leibniz Gott zudem als unbedingte Bedingung der Welt, als das schlechthin Unbedingte. Somit ist Gott der letzte Grund allen Seins und zugleich allen Wissens und die Unterscheidung zwischen den kontingenten Wahrheiten und den notwendigen wird auf die unterschiedliche Begründbarkeit dieser Wissensgegenstände zurückgeführt. Hier geht es also nicht um einen Grund, der eine einzelne Kausalursache innerhalb der Serie von Ursachen und Wirkungen ist, sondern um einen externen Grund, der jenseits dieser Serie steht – eben weil er als vollständiger Grund nicht Teil einer Abfolge von unvollständigen Gründen sein kann. Innerhalb der series rerum findet sich nur Bedingtes, dort ist der Satz vom Grund zugleich das Prinzip aller immanenten Gründe, die die Ereignisabfolge konkret bestimmen. In diesem Sinne kann man Conditions: A Framework for Ontological Dependence“, in: The Leibniz Review 15 (2005), 67–93, hier: 70. 108 „Veritas est contingens quae infinitas involvit rationes, ita tamen ut semper aliquod sit residuum, cujus iterum reddenda sit ratio continuata autem analysi prodit series infinita quae tamen a DEO perfecte cognoscitur.“ Origo Veritatum Contingentium, (1689 [?]) A VI, 4, 1662. 109 De Rerum Originatione Radicali, GP VII, 302.

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auch nur bedingt von einer kausalen Selbstgenügsamkeit der Körper sprechen110, da Leibniz deren kausale Abhängigkeit von Gott ja gerade betont, zumal dieser sie als bestimmtes Wesen in die Existenz setzt und dort erhält. Für uns als zeitliche Wesen ist die Existenz der Körper nur so zu denken, dass sie in einem Prozess der creatio continua geschaffen bzw. erhalten werden111, den Leibniz andernorts auch im neuplatonischen Sinne als göttliche „Ausblitzung“ (fulguratio) bezeichnet112. Man muss sich hier vor Augen führen, dass Leibniz nicht nur nach der ratio von Wahrheiten sucht, sondern ebenso nach einer ratio von mechanisch beschreibbaren Begebenheiten, die aber selbst keine innerweltliche Wahrheit ist. Übertragen gesprochen: Das Prinzip des zureichenden Grundes überschreitet hier die Schöpfung, deren Grund es in Gott sucht113, um aber zugleich das oberste Prinzip allen Weltgeschehens zu sein. Leibniz wird diesen Aspekt immer wieder aufgreifen, wenn er die Schöpfung als ein großes Wunder bezeichnet und so von der normalen physischen Kausalität unterscheidet. Dennoch muss auch sie als letzter Grund der Dinge stets mitbedacht werden, weil sonst die irdischen Gründe der Dinge nicht als letztes und vollständiges Wissen gelten können. 3.2. Ratio als Finalursache Leibniz ist klar, dass es nicht ausreicht, Gott lediglich als Wirkursache der Welt zu verstehen. Dies würde zwar mit der Theorie eines ersten Bewegers in aristotelischen Sinne im Einklang stehen, die Leibniz zwar in den frühen mechanistischen Schriften gelegen kommt, gegen die er sich aber dann wenden muss, wenn er um 1676 die Substanzen als spontan bzw. autoaktiv begreift, also wenn er das Prinzip der Bewegung in die Substanzen hineinverlagert und die Kraft als das Wesensmerkmal der Substanzen ausweist. Er wendet sich gegen Descartes, der die Position vertreten hat, dass die Beschaffenheit der Dinge letztlich nur von Gottes Willen abhängt. Leibniz versteht Descartes offenbar so, als ob Gott die Welt aus einem Akte bloßer Willkür heraus erschaffen habe, was in der Descartes-Forschung freilich umstritten ist. Leibniz behauptet dagegen, dass es einen rationalen Grund geben muss, so dass der göttliche Wille also gerade nicht als bloße Willkür zu verstehen ist, sondern selbst einen Grund außerhalb des Willens benötigt. Der Wille wird vom Intellekt bestimmt, insoweit dieser Gründe einsehen kann, und demnach ist auch 110 Mercer benennt ein „Principle of Causal Self-Sufficiency“, das sich auf die Immanenz des Bewegungsprinzips der Substanz bezieht: „The Principle of Causal Self-Sufficiency assumes that for any being S, strictly speaking, S can be said to have a feature f and f can be said to exist in S just in case the complete ratio for f can be found in the nature of S.“ Mercer: Leibniz’s Metaphysics, a. a. O., 94. Dagegen ließe sich einwenden, dass gerade die Existenz der Substanz von Außen gegeben werden, durch Gott, und die Substanz gerade in Bezug auf ihre Identität eben nicht selbstgenügsam sein kann – sonst wäre sie gänzlich eine causa sui. Deswegen sind weder Existenz noch Identität in abstracto echte Prädikate: Das Individuum kann auch ohne sie vollständig gedacht werden. 111 Brief an Thomasius, 20./30. April 1669, A II, 1 (2. Auflage), 36. 112 Mo § 47, GP VI, 614. 113 Vgl. auch ganz ähnlich: Deus Nihil vult Sine Ratione (1678 bis 1681 [?]), A VI, 4, 1388 f.

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der Intellekt als Formalgrund der Welt auszuweisen. Dies wird bereits in dem Brief an Wedderkopf aus dem Jahre 1671 deutlich: Was also ist der letzte Grund des göttlichen Willens? Der göttliche Verstand. Gott will nämlich das, was er als die größte Harmonie erkennt und dieses wählt er aus einer großen Zahl an unendlichen Möglichkeiten aus. Was also ist der Grund des göttlichen Verstandes? Die Harmonie der Dinge. Was ist der Grund der Harmonie der Dinge? Nichts weiter. Was zum Beispiel ist der Grund dafür, dass sich zwei zu vier so verhält wie vier zu acht? Dieser Grund kann nicht weiter angegeben werden, nicht einmal aus dem göttlichen Willen. […] Da aber Gott der vollkommenste Geist ist, ist es unmöglich, dass dieser nicht durch die vollkommenste Harmonie betroffen ist (affici), und so von dieser Idealität der Dinge (rerum idealitate) sogar zum Besten bedingt wird. […] Daraus folgt, wie gesagt wurde, dass das geschehen ist, was geschieht oder geschehen wird, das Beste und daher notwendig ist […].114

Auffällig ist hierbei, dass Leibniz die Notwendigkeit dieses konkreten Weltgeschehens nicht unmittelbar in dem göttlichen Geist, sondern in der Harmonie der Dinge selbst gegeben sieht. Weil es sich bei der Welt um die beste Welt handelt, ist alles in ihr auf gewisse Weise notwendig, weil es ein eindeutiges Kriterium gibt, das nur auf diese eine Welt zutrifft. Würde davon auch nur ein einzelnes Ereignis abweichen, würde es sich nicht mehr um diese Welt handeln. So ist das Weltgeschehen in dem notwendigen Wesen der Dinge selbst verankert, wobei mit Harmonie hier sicher einerseits die in der Begriffslogik bereits entwickelte Widerspruchsfreiheit gemeint ist und andererseits die Ordnung des Naturgeschehens. Einen Grund für etwas angeben (als Prinzip: reddere rationem) bedeutet dann in diesem Kontext, den Willen Gottes zur optimalen Ordnung als letzten Grund der Dinge anzugeben, um damit zur Harmonie der Dinge als letzten Grund des Wissens zu gelangen. Dies wird später als Prinzip des Besten formuliert, erfordert aber noch eine Ausarbeitung der Idee, dass die möglichen Welten durch bestimmte Kriterien konstituiert werden und dass Gott über verschiedene Möglichkeiten verfügt, die er gegeneinander abwägt und zwischen denen er sich entscheidet. Bis dahin gilt die Harmonie der Dinge für Leibniz als letzter Grund der göttlichen Entscheidung für diese Welt und sie kann über diesen hinaus nicht weiter begründet werden. In diesem Brief werden gleichwohl bereits die wichtigsten Voraussetzungen angedeutet, in deren Rahmen sich die Leibnizsche Theorie entfaltet: Die Welt ist in Gottes Geist als unendlich komplexe Kombination einfacher Begriffe repräsentiert, er wählt genau diese Kombination aus den anderen, unendlich vielen möglichen Kombinationen aus, dann erschafft er diejenige, die relational zu allen anderen am besten und harmonischsten ist – Gott hat im Rahmen aller logischen Möglichkeiten keine andere Wahl, als genau diese Welt auszuwählen. Alles in der Welt ist zudem determiniert durch Gottes Geist, insbesondere durch die Relationen zwischen 114 „Quae ergo ultima ratio voluntatis diviniae? Intellectus divinus. Deus enim vult quae optima item harmonicata intelligit eaque velut seligit ex numero omnium possibilium infinito. Quae ergo intellectus divini? Harmonia rerum. Quae harmonia rerum? Nihil. Per exemplum quod ea ratio est 2 ad 4 quae 4 ad 8, eius reddi ratio nulla potest, ne ex voluntate quidem divina. […] Cum autem Deus sit mens perfectissima, impossibile est ipsum non affici harmonia perfectissima, atque ita ab ipsa rerum idealitate ad optimum necessitari. […] Hinc sequitur, quicquid factum est, fit aut fiet, optimum ac proinde necessarium esse […].“ Brief an Magnus Wedderkopf, Mai 1671, A II, 1 (2. Auflage), 186.

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den Begriffen im göttlichen Geist115. Die dafür entscheidenden Prädikate Gottes, die perfectiones, sind für Leibniz also der Intellekt und die Allmacht116. Erst nach 1678 wird er neben diesen beiden noch den Willen hinzufügen. Der Intellekt sucht nach einem Kriterium für die beste aller möglichen Welten und findet diesen in der nach dem Minimax-Kriterium bestimmten Harmonie, die so eine eineindeutige Grundlage für die rationale Entscheidung ist117. Die Allmacht übersetzt diese bloß gedachte Welt dann in die Wirklichkeit. Es ist anzunehmen, dass Leibniz hier noch in neuplatonischer Tradition Wille und Verstand in der absoluten Einheit Gottes zusammenfallen lässt, auch wenn er sie später in der Auseinandersetzung mit Spinoza unterscheiden wird. Hier hört das menschliche Wissen um Gründe auf und der Sprung in den Glauben beginnt: An oberster Stelle der Hierarchie der Gründe steht ein Identitätsverhältnis von Wille und Verstand, das in sich selbst begründet ist und das deshalb nicht mehr in Begründungsverhältnissen zu etwas anderem steht. Diese Besonderheit hat gravierende Konsequenzen für die ontologisch-moralische Weltordnung. So ist Leibniz nicht nur eine im göttlichen Willen begründete, panlogistische Position zuzuschreiben118, d. h. die Annahme, dass die Gesamtheit der Welt wie auch alle ihre Teile nach logischen Prinzipien strukturiert sind, sondern eben auch eine normative oder deontische Ontologie, in der jedes Ding seinen Grund in den normativen Forderungen des sekundären Willen Gottes hat. Dies wird später von Leibniz weiter ausgearbeitet, etwa in der Substanzenontologie (siehe Teil III– V) und in der Annahme, die Welt strebt zum Besten: Die Dinge sind so, wie sie sein dürfen, sie streben danach, so zu sein, wie sie sein sollen, usw. Was allerdings mit der These der Begründung der Harmonie im göttlichem Willen und Verstand gemeint ist, das wandelt sich im Laufe der Jahre. Anfangs nutzt Leibniz seine Ideen zur Ars characteristica, die er bereits 1666 entworfen hat. Darin hat er Methoden entwickelt, komplexe Begriffe auf interne Widersprüche hin zu untersuchen. In diesem Harmoniebegriff steckt bereits im Prinzip die Annahme, dass die bestmögliche Welt auf absolute Weise bestmöglich ist und nicht relativ zu etwas anderem. Dies ist der rein logische Grund für die Entscheidung Gottes, genau diese Welt zu schaffen. Damit aber ist das Wofür der Welt noch nicht geklärt, das in 115 Vgl. Adams: Leibniz. Theist, Determinist, Idealist, a. a. O., 29; vgl. auch G VII, 302 ff. 116 Vgl. auch Von der Allmacht und Allwissenheit Gottes (1670–71 [?]), A VI, 1, 537. 117 Tatsächlich verfügt Leibniz schon 1663 in Anlehnung an seinen Lehrer Thomasius über einige dieser zentralen Ideen: die Harmonie der Welt, die Welt als Schöpfung eines ihr externen Gottes, sowie die durchgängige Intelligibilität der Welt, die in der Ars combinatoria in ersten Ansätzen auf formaler Ebene entwickelt wird und der Harmonie der Welt formal entspricht. Dies wird darin deutlich, dass es sich hier eben nicht um eine bloße Ars analytica handelt, sondern vor allem um ein Mittel der Neuschöpfung von sinnvollen Begriffen vor dem Hintergrund der gegebenen Möglichkeiten – und so soll eine Methode der Erkenntnisgewinnung a priori entwickelt werden, die natürlich voraussetzt, dass alle in ihr verwandten, kohärenten und sinnvollen Begriffe eine Entsprechung in der Welt haben können. Damit muss angenommen werden, dass die Struktur der Logik der Struktur der Welt analog ist. Vgl. Kabitz: Die Philosophie des jungen Leibniz, a. a. O., 4 ff. Explizit aber führt Leibniz diesen Begriff erst 1668 ein. Siehe dazu Gaston Grua: „Einleitung“ zu: Liberté et Optimum, Grua, Bd. I, 258. 118 Wie dies etwa von Aron Gurwitsch unternommen wird, siehe ders.: Leibniz. Philosophie des Panlogismus, Berlin 1974.

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Leibniz’ mehr theologisch orientierten Schriften eine große Rolle spielt. Doch dies tangiert die Frage nach der menschlichen und göttlichen Freiheit und ist deshalb erst im siebten Teil zu diskutieren. Dennoch gibt es einen hier schon erwähnenswerten, spätestens mit dem Discours de Métaphysique vollständig ausgearbeiteten Zusammenhang zwischen der Ordnung der Welt, dem Glück der Geschöpfe, das in der rationalen Betrachtung dieser Ordnung besteht, und dem Grad der Perfektion, welcher der Grund für die Form dieser Welt ist. Diesen herauszuarbeiten hat Donald Rutherford grundlegende Arbeit geleistet und hier prägnant zusammengefasst: Order is intrinsically pleasing to reason. In creating the best of all possible worlds, therefore, God will want to multiply as many times as possible the best types of order, and for this purpose will be forced to create as large a variety of things as possible to be ordered.119

Es ist schließlich das per se wertvolle Glück der einsichtsfähigen Geschöpfe, das es zu maximieren gilt, was allerdings nur vermittels einer optimalen Weltordnung geschehen kann: „In maximizing perfection, God ipso facto maximizes the objective conditions for the happiness of rational minds, for no other possible world contains as much of the perfection from whose perception minds derive their pleasure.“120 Es wird der komplexen Argumentation Rutherfords natürlich nicht gerecht, sie derart zu verkürzen. Es soll hier also vorerst nur festgehalten werden, dass dem Faktischen, wie in der Einleitung dargelegt wurde, eine heilsbringende Komponente zukommt und damit auch ein moralischer Wert. Den rationalen Geschöpfen wird durch die Einsicht in den Grund des Seins ein Weg zur Einsicht in den kosmischen Sinn und damit zum Glück ermöglicht. Auf diese Weise können sie der Vermehrung des Ruhmes Gottes dienen – und dies ist nichts anderes als der Finalgrund der Welt. Ontologische und moralische Perfektion sind in der intellektuell einsehbaren Beschaffenheit der Welt begründet. So heißt es bei Hans Poser bezüglich des durch Vielfalt definierten Ordnungsbegriffes: „Leibniz gibt also ein ontologisches Kriterium für einen normativen Begriff an.“121 Und ebenso: „Die weltschaffende Vernunft kann nicht in eine logische und eine moralische aufgeteilt werden“122, sondern sie ist alles zugleich. Die Differenz zwischen ontologischen und normativen Kriterien entsteht erst in der menschlichen Perspektive, die die grundlegende Einheit Gottes in Begriffe fasst, dadurch aber de dicto auf eine Weise zergliedert, die de re nicht gegeben sein kann. Das bedeutet, dass die ratio, die der Welt zugrunde liegt, nicht nur eine logische Bedingung der bloßen Möglichkeit oder eine moralische Bedingung eines abstrakten Sollens ist, sondern dass das eine nicht ohne das andere gedacht werden kann. Es scheint, als ob anhand dieses Zusammenfallens der göttlichen Fakultäten auch das Prinzip des Besten aus dem Satz vom Grund abgeleitet werden kann: Der Grund der Welt als ihr externer Grund geht einher mit

119 Rutherford, Donald: Leibniz and the Rational Order of Nature, Cambridge 1995, 33. 120 Ebd, 51. 121 Poser, Hans: „Die beste der möglichen Welten? Ein Topos Leibnizscher Metaphysik im Lichte der Gegenwart“, in: Heinekamp, Albert / Robinet, André (Hrsg.): Leibniz, le Meilleur des Mondes, Studia Leibnitiana, Sonderheft 21, Stuttgart 1991, 22–36, hier: 24. 122 Poser: Leibniz, a. a. O., 25.

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der finalen Ausrichtung der Welt – ohne eine derartige, der Welt innewohnende Teleologie würde es überhaupt keine Welt geben. Leibniz zieht dabei aber zumindest um 1671 eine Konsequenz, von der er sich später distanzieren wird: Wenn es einen eineindeutigen Bestimmungsgrund für den göttlichen Intellekt gibt, der durch diesen nicht selbst wieder eingeholt werden kann, dann ist die Welt vollständig durch die in diesem Grund gegebene Notwendigkeit bestimmt und Gottes Entscheidung ist nicht mehr frei. In einer Welt reiner Notwendigkeit aber gibt es keinen Platz für die menschliche Freiheit. Auch das Zusammenfallen von normativen, logischen und ontologischen Gründen und der entsprechenden Fakultäten in Gott verhindert es, menschliche Freiheit zuzulassen. Solange Leibniz zu dieser Zeit um 1671 noch seine spätere Ausdifferenzierung zwischen logischer, metaphysischer und moralischer Notwendigkeit fehlt, muss er annehmen, dass alles in der Welt durch die logische Struktur des göttlichen Geistes determiniert ist, insbesondere durch die Relationen zwischen den Begriffen im göttlichen Geist123, die der weltlichen Struktur entsprechen und damit innerweltlich mit Notwendigkeit wirken. Tatsächlich gibt es genug Belege, dass Leibniz’ Position zu dieser Zeit deterministische Züge trägt, auch wenn er dies aufgrund seiner theologischen Prämissen eigentlich nicht akzeptieren kann, denn für einen Deterministen ist Gott nicht nur der Urheber der Welt, sondern auch allen Übels und aller Sünden. Dies ist aber für Leibniz völlig inakzeptabel und er notiert später zu diesem Brief: „Ich habe dies korrigiert, denn es ist eine Sache, wenn Sünden unausweichlich geschehen, und eine andere Sache, wenn sie notwendig geschehen.“124 Es gilt also zu unterscheiden, ob die Menschen kausal unabweichlich zur Sünde getrieben werden oder ob sie mit logischer Notwendigkeit sündigen. Um den Freiheitsbegriff zu retten, bedarf es also einer Ausdifferenzierung des Notwendigkeitsbegriffs – die Freiheit der Menschen und die Gottes kann es nur dann geben, wenn die Entscheidungen nicht mit rein logischer Notwendigkeit erfolgen. In den Schriften nach 1678 betont Leibniz dazu die Bedeutung des göttlichen Willens, der nicht auf den Verstand zurückgeht, sondern nunmehr eine evaluative Mittlerrolle zwischen der reinen logischen Notwendigkeit und faktischer Existenz einnimmt. Gottes Wille hat also ein komplexes Verhältnis zum Satz vom Grund. Der allgemeine Wille Gottes begründet das Prinzip des Besten, das wiederum der Grund für alle folgenden Entscheidungen über einzelne Aspekte der Welt ist. Diese Einzelentscheidungen sind wiederum die jeweiligen Gründe für die einzelnen Ereignisse und Dinge der Welt, die dem übergeordneten Zweck der Welt, der universalen Harmonie, zugeordnet sind. Diese ist letztendlich identisch mit dem Zusammenfallen von göttlichem Verstand und Willen, weil dies die logische Struktur der Welt immanent mit ihrer moralischen Ordnung verbindet. Die Tatsache, dass alle Dinge kausal determiniert sind, ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen: Andernfalls wäre die Gesetzmäßigkeit der Welt und damit deren Wert unterlaufen. Aus menschlicher Sicht müssen wir den Satz vom Grund voraussetzen, um überhaupt 123 Vgl. Adams: Leibniz. Theist, Determinist, Idealist, a. a. O., 29; vgl. auch G VII, 302 ff. 124 „Haec postea correxi. Aliud enim infallibiliter eventura esse peccata, aliud necessario.“ Undatierte Notiz auf der Abschrift des Briefes an Wedderkopf, A VI, 12, 187. Vgl. Adams: Leibniz. Theist, Determinist, Idealist, a. a. O., 11.

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etwas zu erkennen, was uns schließlich stets auf der Suche nach einem vollständigen Grund zu Gott führen wird; aus Gottes Sicht ist der Satz vom Grund durch Gottes transzendentale Entscheidung bedingt, den Willen dem Verstand und damit der Harmonie unterzuordnen. Die verschiedenen Varianten des Satzes vom Grund sind damit unterschiedliche Facetten der normativ-intentionalen Weltgestaltung, welche dafür sorgt, dass die Welt intelligibel, geordnet und lebenswert ist. Leibniz konzipiert den Willen so, dass dieser – der Willkür (arbitre) gegenübergestellt – stets einer ratio oder wenigstens einer Veranlagung (dispositio) folge125, welche als Grund des Willensaktes fungiert. Selbst wenn Gott eine Neigung ohne Grund haben könnte, würde sie nicht mit „Wille“ bzw. „Willensakt“ bezeichnet werden, sondern eben als „Willkür“ ausgewiesen werden. Tatsächlich identifiziert Leibniz in den siebziger Jahren den Willen mit dem Denken und dem Streben (conatus, plural ebenfalls conatus) zum Gedachten126. Ein bloßes, unbedachtes und damit unbegründetes Streben eines Intellektes wäre eben kein Wille. Dies betrifft auch den göttlichen Willen. Wenn Gott aus absoluter Notwendigkeit heraus handeln würde, wäre dies weder Gott selbst würdig, noch reichte es für eine Erklärung der Schöpfung aus, anzunehmen, dass Gott die Welt bloß erkennt – denn aus einer Erkenntnis lässt sich nicht die diese Erkenntnis umsetzende Handlung folgern, vielmehr muss man noch den Willen annehmen, dies auch zu tun. Dabei hat Leibniz eine entscheidend andere Prämisse als Spinoza: Die Welt besteht nicht aus allem nur Möglichen, sondern es gibt auch vieles Mögliche, das unrealisiert geblieben ist. Dies hat Leibniz schon in seinen frühesten Schriften zur Kombinatorik festgestellt: Wenn es bestimmte Dinge gibt, dann lassen sich die Begriffe dieser Dinge in ihre Teilbegriffe zergliedern und diese Teilbegriffe lassen sich in verschiedener Weise neu zusammensetzen. Dabei kann nicht alles Mögliche realisiert worden sein, denn erstens gäbe es dann alle nur erdenklichen Monstrositäten, also Lebewesen, die keiner Harmonie folgen, und zweitens gäbe es dann, und das ist hier das tragende Argument, Sünder, die ihrer gerechten Strafe entkämen und gute Menschen, die eine fürchterliche Strafe über sich ergehen ließen. Aus moralischen Gründen ist es also unmöglich, dass bestimmte begrifflich mögliche Zustände realisiert würden. Leibniz hat nach der Auseinandersetzung mit Spinoza in 1676 die Unterscheidung zwischen metaphysischer und hypothetischer Notwendigkeit eingeführt, die eine wichtige Rolle spielen wird bezüglich der Entwicklung des Prinzip des Grundes: Erstens wird das Prinzip so von einem mechanischen Prinzip in eines der Moral verwandelt, zweitens wird es vom Prinzip der Notwendigkeit unterschieden. Im Bereich der Mathematik mögen hinreichende und notwendige Gründe zusammenfallen, doch im Bereich der materiellen, kontingenten Dinge und Fakten ist dies nicht der Fall. Diese Einführung des Willensbegriffs verändert auch das Verständnis der obersten Prinzipien. Das Prinzip des Besten, mit der obersten Entscheidung Gottes 125 Dies wird später in einer berühmten Formulierung besonders deutlich: Der Wille ‚inkliniert‘, ohne dass er gezwungen wird. Siehe: „La volonté est tousjours inclinée par quelque raison ou disposition, quoyqu’elle ne soit jamais necessitée par ces raisons.“ Brief an Hartsoeker, 6. Februar 1711. GP III, 518. 126 De cognitionum analysi (1678 [?]), A VI, 4, 2768.

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quasi identisch, macht dann die Form der göttlichen Willensakte aus, der einzelne Willensakt ist durch den allgemeinen Willen geregelt und ausgerichtet und erhält seine einzelnen Inhalte kraft der ihm durch das Prinzip des Besten gegebenen Form. Selbst wenn wir nicht bei allen Dingen immer einen besonderen Zweck erkennen können, so gibt es doch, zumindest für den späten Leibniz, keinen Zweifel daran, dass die einzelnen Ziele dem Allgemeinziel, der allgemeinen Harmonie der Dinge, dienen127. Wie noch dargelegt werden wird, erstreckt sich die Harmonie nicht nur auf die effektive Koordination der Individuen und damit auf die Ordnung in der Welt, sondern auch auf die Erkennbarkeit der Welt selbst. In der Theodizee heißt es: Man kann sagen, dass, sobald Gott etwas zu schaffen beschlossen hat, ein Streit zwischen all den Möglichkeiten entsteht, die allesamt nach Dasein verlangen, und dass dabei diejenigen, die in ihrer Verbindung miteinander die meiste Realität, die meiste Vollkommenheit, die meiste Begrifflichkeit erzeugen, den Sieg davon tragen.128

Neben der Harmonie ist auch Intelligibilität eine der entscheidenden Perfektionen und damit Grund und Ziel der Welt. Wie genau dabei die ratio als Finalgrund die Welt und deren Ablauf bestimmt, das wird noch zu klären sein. Doch zuerst soll der doppelte Begriff der Bedingungen wieder aufgegriffen werden. 4. NOTWENDIGE UND HINREICHENDE GRÜNDE Dass die Welt mit Notwendigkeit geschaffen wurde, das ist für Leibniz im Jahre 1671 unumgänglich. Dennoch widerstrebt diese Position seinem Glauben, dass die Sünder auch verantwortlich seien für ihre Sünden – denn nur der kann auch für seine Handlungen bestraft werden, der sie selbst ausgewählt und hervorgebracht hat. Von dieser Möglichkeit der Bestrafung und Belohnung hängt aber für Leibniz die Gerechtigkeit der Welt ab und dass die Welt eine gerechte Welt ist oder wenigstens die Möglichkeit für Schuld und Gnade bietet, das ist eine der Perfektionen, die ihr nicht fehlen dürfen. Dabei ist ein Problem offenkundig: Der Mensch bringt nicht seinen eigenen Willen hervor, sein Wille ist vielmehr durch Gott bestimmt129, ganz analog zu der Bestimmtheit der Abfolge der Kausalursachen. Leibniz behauptet, eine Handlung oder ein Willensakt ohne Grund wären letztlich irrational und

127 „Licet autem praeter Machinas naturae multa videamus corpora, quae rudia sunt et ruderibus similia, in quibus non apparent fines speciales: dubium tamen nullum esse debet, deum autorem spectantibus, ipsa quoque ad fines speciales (etsi nobis ignotos) exquisitissime ordinata esse, et omnia concurrere ad finem generalem, qui est Harmonia rerum.“ Animadversiones (1710) in: Carvallo, 74. 128 „L’on peut dire qu’aussitost que Dieu a decerné de créer quelque chose, il y a un combat entre tous les possibles, tous pretendans à l’existence; et que ceux qui joints ensemble produisent le plus de realité, le plus de perfection, le plus d’intelligibilité, l’emportent.“ TD § 201, GP VI, 236. 129 Brief an Wedderkopf, 1671, A II, 1 (2. Auflage), 186. Vgl. Adams: Leibniz. Theist, Determinist, Idealist, a. a. O., 42. Ebenso A VI, 3, 124; A VI, 4, 1516 f.; Grua, 345.

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somit nicht von einer geistig gesunden Person wünschbar130. Der Wille kann auch nicht auf einen unendlichen Begründungsregress verweisen, denn gäbe es mit einem völlig unbegründeten Willen weder die Wissenschaften noch den freien Willen, sondern stattdessen eine besonders irrationale, monströse Kraft131. Auch kann der Grund nicht im Menschen selbst liegen, denn dieser ist nicht causa sui. Es ist absurd, so Leibniz132, anzunehmen, dass der freie Wille selbst ein letzter Grund sei, da der freie Wille selbst seine Bedingungen hat, es handelt sich bei ihm schließlich nicht um ein Ding an sich, ein unabhängiges Wesen133. Dass dies nicht der Fall sein kann, das hat Leibniz bereits in seinen frühen Arbeiten zur Theorie der Jurisprudenz dargelegt und seit 1669134 gehört dies zu den Grundannahmen Leibnizscher Willenstheorie. Auch für den menschlichen Willen gilt, dass der Grund außerhalb des Begründeten liegt. Die reine Selbstbestimmung ist nur für Gott als autosuffizientes Wesen möglich. Dabei scheint es sich auf den ersten Blick nur um die Wahl zu handeln zwischen einer Skylla eines undeterminierten Willens, der schließlich bloße Willkür wäre, und der Charybdis eines durch logische Notwendigkeit determinierten Willens, der dann nicht mehr als frei gelten könnte. Den Ausweg aus diesem Dilemma entwickelt Leibniz in seiner Auseinandersetzung mit der Position Spinozas um 1676, in der er erstmals explizit zwischen logischer und moralischer Notwendigkeit unterscheidet135. Er wendet sich gegen den starken Nezessitarismus Spinozas, von dem er nun sieht, wie nah dieser seiner eigenen Position kommt136 und dessen politische, theologische und epistemische Konsequenzen Leibniz fürchtet. Ein solcher starker Nezessitarismus kennt nur eine einzige Notwendigkeit: Die, dass das Gegenteil einer Handlung in sich widersprüchlich wäre. Diese Art der Notwendigkeit soll, nach Spinoza, auch die Abfolge der Ereignisse und Dinge bestimmen, was Leibniz entschieden ablehnt. Zwar sympathisiert er mit verschiedenen Aspekten der Philosophie Spinozas, aber er erhebt bloß den Anspruch eines schwachen Nezessitarismus, der eine physische Notwendigkeit aus kausaler Determination heraus postuliert. Dieser Nexus ist in moralischer Notwendigkeit begründet, die durch den Willen Gottes bestimmt ist, welcher aber sich selbst nicht anders hätte bestimmen können.

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Siehe Confessio Philosophi, A VI, 3, 133. Ebd. Siehe auch TD § 349, GP VI, 321. Confessio Philosophi, A VI, 3, 120. Es handelt sich hierbei also um eine Form des Beweises ad absurdum, der allerdings darauf beruht, dass er die Konsequenz eines verneinten Antezedenz nicht als unmöglich, sondern nur als unwünschbar hinstellt. Er müsste also darlegen, dass eine Welt, in der die Menschen das Irrationale wollen und demnach den Satz vom Grund aufgeben, nicht möglich ist – ein Argument, das letztlich erst durch die These der Besten aller möglichen Welten zustande kommen kann. 134 Demonstrationes Catholicae (1669) A VI, 1, 508 ff. bzw.; Vgl. Cristia Mercer: Leibniz’s Metaphysics, a. a. O., 89. Vgl. Piro: Spontaneitá e ragion sufficiente, a. a. O., 5. Siehe auch Ebd, 67. 135 Auch wenn Leibniz den Begriff vom zureichenden Grund schon vorher besitzt! 136 So zum Beispiel in Von der Allmacht und Allwissenheit Gottes (1670–71 [?]), A VI, 1, 539. Dort nimmt Leibniz entsprechend auch an, dass Gott prinzipiell eine sündenfreie Welt hätte schaffen können. Ebenso A VI, 1, 543.

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Die Bestimmung der Welt wird damit zu einer moralischen Angelegenheit, da es sich hier um einen Willensentscheid handelt: Alle weltlichen Fakten haben auch eine normative Dimension, sie sind nicht einfach nur der Fall, sondern sie dürfen auch sein, weil sie einem bestimmten Zweck dienen – sie sollen auf eine bestimmte Weise sein. Die Abfolge der Weltserie ist also nur ex hypothesi notwendig und bestimmt. Sie gilt selbst nur dann notwendigerweise, wenn eine andere Tatsache als gesetzt angenommen werden kann – nämlich die der Existenz der Welt als Schöpfung durch die rationale Wahl der Welt. Die moralische Notwendigkeit bezieht sich also auf die Annahmen, dass jeder Fakt durch einen Willensentscheid bestimmt ist und dass dieser Willensentscheid nicht aus rein logischer Notwendigkeit folgt, sondern der Einsicht in das, was das Beste ist. Diese verweist damit direkt auf die Finalität der göttlichen Entscheidung, die ihr zugrunde liegt! Dies ist der Grund, warum jeder kausalen Erklärung eine finale Erklärung zugrunde liegen muss und warum die Bestimmung der Welt vermittels der ihr zugrunde liegenden Prinzipien letzten Endes immer eine teleologische Erklärung ist, die in jeder vollständigen Begründung anzugeben ist (principium reddendae rationis). Gott hätte bei der Schöpfung der Welt auch anders handeln oder entscheiden können, weil nicht alle anderen Welten per se widersprüchlich sind; aber er kann nicht gegen seinen eigenen Willen handeln, der durch den Intellekt dazu bestimmt ist, die beste Entscheidung zu treffen. Erst so ist der Wille überhaupt möglich: Nach Spinozas System würde sich der Wille Gottes nicht von logischer Inferenz unterscheiden und jeder Grund wäre nicht zureichend, sondern notwendig. Diese hier vor allem in Bezug auf existenzsetzende Ursachen diskutierte Problematik wird Leibniz später auch auf die Erkenntnistheorie übertragen: Jede Wahrheit, deren Gegenteil nicht logisch unmöglich ist, ist kontingent und beruht somit auf einem vorhergehenden Grund, der inkliniert, ohne zu nezessitieren.137 Als Negativfolie solcher Überlegungen dient Spinozas Metaphysik. Leibniz weist auf einen Widerspruch in Spinozas Ethik hin: Einerseits behauptet dieser in den Scholarien der Proposition 17, dass der von Gott geschaffene menschliche Geist nichts mit Gott gemein habe außer dem Namen, so wie auch das Sternbild des Hundes nicht gemein habe mit einem wirklichen, bellenden Hunde; andererseits heißt es in der Proposition 3, dass Ursache und Effekt etwas miteinander gemein haben müssen. Damit unterscheidet Leibniz zumindest außerhalb des mathematischen Bereichs zwischen der Folgerung nach Art der Geometrie (more geometrico) und der Beziehung, die durch die causa oder die ratio ausgedrückt wird. Diese muss gewollt sein, denn Gott schafft die Dinge so, wie er sie gewählt hat – deswegen ist die Folgerungsbeziehung, die zwischen Gottes Geist und seinen Gedanken besteht, eine andere, als die, die zwischen einem Dreieck und seinen Eigenschaften besteht: Ein Dreieck kann nichts auswählen, der Geist schon. Leibniz und Spinoza nehmen gleichermaßen an, dass die Ursache und der Effekt etwas miteinander gemein haben, woraus folgt, dass der menschliche Geist insoweit ad analogiam zu dem göttlichen Geist begriffen werden kann, als sie beide willentlich ihre Gedanken selbst und in einem Akt immanenter Kausalität hervorbringen. Deshalb schreibt Leibniz 137 Siehe bspw. TD, Remarques sur le Livre de l’origine du mal, GP VI, 413.

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im zweiten Teil seines Ethikkommentars, dass nicht die Ideen handeln, sondern der Geist. Dies wird er später auch ausführlicher wiederholen: „Der Geist ist selbst keine Idee, aber die Quelle zahlloser Ideen; er hat, außer der gegenwärtigen Idee, etwas Aktives in sich oder die Produktion neuer Ideen.“138 Diesem Satz kommt eine grundlegende Bedeutung für das System der leibnizschen Philosophie zu. Zuerst zeigt er auf, wie Leibniz von dem spinozistischen Konzept der Idee abweicht, dann macht er die Rolle des Geistes für das Denkens deutlicher, die er bislang zumeist nur durch die etwas umständliche Formulierung ausgedrückt hat, dass Denken bzw. Urteilen auf sich selbst bezogenes Handeln sei139 – eine Formulierung, die keinen Definitionscharakter beanspruchen kann, da es eben auch selbstbezogene Handlungen sind, die nicht unter den Begriff des Denkens fallen. Es ist zu vermuten, dass Leibniz seit seiner Begegnung mit Spinoza daran gearbeitet hat, das Prinzip des Hervorbringens der Bewegung eben mit dem Prinzip des Hervorbringens von Gedanken zu verbinden. Zudem steht nun fest, dass die geometrische Notwendigkeit sich nicht auf alle anderen ontologischen Bereiche jenseits von Logik und Mathematik übertragen lässt. Durch Aktivität hervorgebrachte Ereignisse erfordern andere Erklärungsprinzipien als logisch hergeleitete Propositionen. Damit wird eine Ausdifferenzierung des Notwendigkeitsbegriffs erforderlich. Ein Dreieck kann nicht sinnvoll als Urheber seiner Eigenschaften gelten, während Menschen gleichwohl als Urheber ihrer Handlungen gelten können. Bei Leibniz, anders als bei Spinoza, bringen die Individuen selbst ihre eigenen Gedanken, ihren eigenen Willen hervor – ansonsten wären Sünde und Freiheit wiederum unmöglich140. Streng genommen ist es also der von Gott an die Welt gestellte, moralische Anspruch, der einen reinen, ubiquitären Logizismus verhindert und diesen durch eine normative Dimension des Wirklichen ergänzt. In einer spinozistischen Welt, in der kein Individuum über eine Einheit oder über eigenes, irreduzibles Sein verfügt, bestehen die Lebewesen nur aus einer durch Assoziation verbundenen Menge an körperlichen und geistigen Modifikationen der einen Substanz. Eine Entscheidung folgt so auf ein Motiv wie eine Wirkung auf eine Ursache folgt. Da die verschiedenen Modifikationen aber nicht einem durch metaphysische Einheit definiertem Subjekt zukommen, kann der von Leibniz angestrebte Handlungsbegriff nicht innerhalb des spinozistischen Systems vertreten 138 „Anima non est idea, sed fons innumerabilem idearum. Habet enim praeter ideam praesentem activum aliquid seu productionem novarum idearum.“ Réfutation Inédite de Spinoza par Leibniz, hrsg. von Louis A. Foucher de Careil, Paris 1854, 46. Hier taucht auch wieder der neuplatonische Begriff der Quelle auf. Die Seele kann keine Idee sein, denn die Ideen sind etwas Abstraktes, wie Zahlen, und sie können nicht handeln (ibid., 44). Die Idee z. B. eines Tieres ist in erster Linie nichts als eine Möglichkeit, die erst durch eine Kraft in die Wirklichkeit überführt wird. Vgl. auch: „Ideae non agunt. Mens agit“ Bemerkungen zu Spinozas Ethik (1678), GP I, 150.“ 139 „Nimirum ut finiam, quemadmodum essentia Mentis in actione in se ipsum, ita et anima sapientiae, atque id quod vulgo judicium vocant, consistit in illo: Dic Cur Hic, seu in Reflexione.“ Demonstratio Propositionum Primarum (1671–72 [?]), A VI, 2, 482. 140 Dieser Aspekt einer immanenten Kausalität, mit der die Substanz bzw. die Seele ihre eigenen Perzeptionen hervorbringt, wird im zweiten Teil dieser Untersuchung eine große Rolle spielen.

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werden. Deshalb bindet Leibniz seinen Handlungsbegriff in der Auseinandersetzung mit Spinoza an seine Substanztheorie: „Die Ideen handeln nicht. Der Geist handelt.“141 Zwar hatte er schon vorher in der Korpuskeltheorie der TMC den Körper als einen durch seinen Geist bewegten Körper konzipiert, als momentanen Geist (mens momentanea), aber es scheint, als ob hier vor allem die individuelle Kontrolle eines Lebewesen über seinen Körper angesprochen wird142. Es ist umstritten, inwieweit Leibniz von Spinoza beeinflusst wurde143. Es liegt aber nahe, anzunehmen, dass seine Unterscheidung zwischen hinreichender und logischer Notwendigkeit in der Auseinandersetzung mit dem spinozistischen Nezessitarismus entstanden ist.144 Außerdem taucht der Begriff der individuellen Substanz zum ersten Mal in den entsprechenden Notizen auf. Es ist zu vermuten, dass Leibniz sich vor allem deshalb von dem spinozistischen System abwandte, weil er dessen politische und moralische Konsequenzen nicht gutheißen wollte, zumal er wissenschafts- und gesellschaftsbezogene Nützlichkeit sowie die politischen Dimensionen von Philosophie und Theologie für nicht minder wichtig hielt wie deren Wahrheit und Kohärenz. Das spinozistische System jedenfalls steht Leibniz’ in theologischer und politischer Hinsicht konservativem Weltbild geradezu antithetisch gegenüber und erschien ihm als bedrohlich, weil er ein soziopolitisches Erstarken des Fatalismus fürchtete145. Doch Leibniz wendet sich vor allem aus theoretisch-spekulativen Gründen gegen Spinoza. Schon in seinen frühen Schriften zur Kombinatorik hat er festgestellt: Die Begriffe der Dinge lassen sich in ihre Teilbegriffe zergliedern und diese Teilbegriffe lassen sich wiederum in verschiedener Weise neu zusammensetzen. In erster Linie bedeutet Möglichkeit nichts anderes als logische Widerspruchsfreiheit, erst im Kontrast dazu werden dann die Begriffe der metaphysischen, physischen oder moralischen Möglichkeit entwickelt. Es gilt also zwischen den logischen Wahrheiten, die aus Notwendigkeit folgen und damit nur dem Prinzip des Widerspruchs Rechnung tragen, und den kontingenten Wahrheiten zu unterscheiden. Letztere drücken die Tatsachen der Welt aus und basieren nicht auf reiner logischer Widerspruchsfreiheit, sondern in letzter Instanz auf dem Willen Gottes und der Univer-

141 „Idea non agunt. Mens agit.“ GP I, 150. 142 TMA: Körper sind „momentane Geister“: „Kein Conatus überdauert ohne Bewegung mehr als einen Moment, außer in den Geistern […]. Denn jeder Körper ist ein momentaner Geist, also ein Geist ohne Erinnerung, denn er erhält seinen eigenen Conatus und den ihm entgegengesetzten […] nicht zusammen für mehr als einen Moment.“ – „Nullus conatus sine motu durat ultra momentum praeterquam in mentibus. […] Omne enim corpus est mens momentanea, seu carens recordatione, quia conatum simul suum et alienum contrarium […] non retinet ultra momentum.“ A VI, 2, 266. 143 Siehe dazu die ausführliche Untersuchung von Lærke, Mogens: Leibniz Lecteur de Spinoza. La Genése d’une Opposition Complexe, Paris 2008. 144 Siehe dazu Mondadori, Fabrizio: „Necessitas ex hypothesi“, in: Centro Fiorentino di Storia e Filosofia (Hrsg.): The Leibniz-Renaissance, Florenz 1989, 191–222. 145 Dazu lassen sich eine Menge Beispiele nennen: An erster Stelle stehen sicher die Reunionsbemühungen, nach denen der Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten auf Grund der Vernunft beigelegt werden sollte.

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salharmonie der Welt. Für erstere gilt der Satz vom Grund als PCT, für letztere im Sinne des PSR146. Diese Überlegungen wendet Leibniz gegen Spinozas Annahme, die Welt würde aus Gott mit logischer Notwendigkeit folgen.147 Leibniz betont, dass durch einen solchen stark nezessitaristischen Ansatz die Erklärung unmöglich würde, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts. Nach Leibniz’ Grundprinzip, dass alles intelligibel ist bzw. dass es für alles einen Grund gibt, muss es auch einen Grund dafür geben, warum es überhaupt etwas gibt. Leibniz stimmt darin mit Spinoza überein, dass dieser Grund aber nicht in der Welt, d. h. nicht innerhalb der Kette des Kausalgeschehens selbst liegen kann, sondern in Gott zu verorten ist. Die Existenz der Welt kann aber aus diesem göttlichen Grund nicht mit rein logischer Notwendigkeit folgen: Es ist das Kriterium für die logische Notwendigkeit einer Proposition bzw. Tatsache, dass ihre Negation in sich widersprüchlich ist. Der Begriff einer unrealisierten, bloß möglichen Welt enthält aber keinen Widerspruch. Die Welt selbst ist also kontingent und damit eine bloß mögliche Welt zu einer wirklichen Welt wird, bedarf es also eines Schöpfungsaktes, einer Kraft, welche die bloße Möglichkeit in die Wirklichkeit transponiert. Denn bloße Möglichkeiten streben zwar zur Existenz, aber sie gelangen nicht von sich aus dahin. Für Spinoza ist alles bloß Mögliche auch realisiert und der Unterschied zwischen Möglichem und Unmöglichem wird aufgehoben. Doch dagegen wendet sich Leibniz strikt: Es gibt auch vieles Mögliche, das unrealisiert geblieben ist. Um einen Grund der Welt zu denken, müssen wir die Kontingenz der Welt in Betracht ziehen, die stets von einer anderen, außerhalb ihr liegenden Wahrheit abhängig ist: Selbst wenn jemand die gesamte Serie des Universums kennen würde, selbst dann könnte er keinen Grund für diese angeben, solange er sie nicht mit anderen Möglichkeiten vergleicht. Daraus ist evident, warum keine Demonstration eines kontingenten Satzes gefunden werden kann, wie weit auch die Auflösung der Begriffe durchgeführt wird.148

Ein spinozistisches Universum wäre aber nach Leibniz in letzter Konsequenz unintelligibel, da kein letzter Seinsgrund angegeben werden kann. Dadurch wird wirkliches Wissen unmöglich, weil das Wissen um eine Sache darin besteht, deren Grund angeben zu können; ein solches Universum würde jedoch dem Glauben widersprechen. Leibniz formuliert dies so: Wenn alle Möglichkeiten realisiert wären, wäre es unnütz, einen Grund der Existenz anzudenken: Die bloße Möglichkeit wäre ausreichend [um die Existenz zu erklären]. Auch Gott selbst wäre nur in so weit wirklich, als er möglich wäre. Aber wenn wir die Meinung derer für

146 Daran hält Leibniz auch später fest, vgl. z. B. TD, Remarques sur le Livre de l’origine du mal, GP VI, 413. Die logischen Wahrheiten werden vor allem durch den Satz vom Widerspruch bestimmt. 147 Siehe bspw. Ad Ethicam Benedicti de Spinoza (1678 [?]), A VI, 4, 1774. Vgl. auch TD, Causa Dei, GP VI, 440 148 „Imo etsi quis cognoscere posset totam seriem universi necdum ejus rationem reddere posset, nisi ejus cum aliis omnibus possibilibus comparatione instituta. Unde patet cur nullius propositionis contingentis demonstratio inveniri possit, utcunque resolutio notionum continuetur.“ De Natura Veritatis (1685–86 [?]), A VI, 4, 1518. Vgl. auch GP VII, 309.

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Notwendige und hinreichende Gründe wahr halten, für die alles Mögliche zur Existenz käme, dann wäre ein solcher Gott, wie ihn die Frommen verstehen, nicht möglich.149

Wenn Leibniz also in der Auseinandersetzung mit Spinoza die Unterscheidung zwischen metaphysischer und hypothetischer Notwendigkeit einführt, so spielt diese in Bezug auf die Entwicklung des Satzes des Grundes eine wichtige Rolle: Erstens wird das principium reddendae rationis so in ein Prinzip der Moral verwandelt, nach dem alles insoweit notwendig ist, als es dem Besten der Welt zugute kommt, ohne aber deswegen logisch notwendig zu sein. Zweitens wird es vom Prinzip der Identität, welches das Prinzip der Notwendigkeit ist, more geometrico unterschieden. Im Bereich der Mathematik mögen hinreichende und notwendige Gründe zusammenfallen, doch im Bereich der materiellen, kontingenten Dinge und Fakten ist dies nicht der Fall. Drittens sichert Leibniz so nicht nur die Möglichkeit eines göttlichen, sondern auch eines menschlichen Willens, der in einer vollständig durch reine logische Notwendigkeit determinierten Welt keinen Platz hätte. Wendet man das Prinzip des zureichenden Grundes auf den Bereich der weltlichen Handlung an, dann hat man auf der einen Seite zwar festgestellt, dass keine Handlung unvorhersehbar oder unvermeidlich ist, doch auf der anderen Seite ist sie nicht im selben Maße notwendig wie eine logische Konsequenz – die Sünde folgt nicht mit logischer Notwendigkeit, aber dennoch unausweichlich. Ist ein mathematischer oder logischer Gegenstand erst einmal gegeben, dann folgen seine Implikationen unmittelbar. Wenn z. B. der Begriff „Körper“ den Begriff der Ausdehnung impliziert, dann ist mit dem ersten zugleich der zweite gegeben. Wir können diese Beziehung zwar unabhängig von ihrer Realisierung denken, dann aber als ein bloß begriffliches Verhältnis. Die moralische Notwendigkeit scheint sich dagegen nun von dieser logischformalen Notwendigkeit zu unterscheiden: Sie führt Gottes Willen als ein drittes Element ein, der die Folgerungsrelation zwischen A und B überhaupt erst in Kraft setzt und damit dem Geschehen neben der formalen Notwendigkeit auch eine Wirklichkeit verleiht. Während in der Logik gilt: Aus Proposition A folgt unmittelbar und notwendigerweise Proposition B, so gilt im Bereich der Wirklichkeit: Auf Ereignis A folgt das Ereignis B, weil Gott es so will. Im Gegensatz zu Malebranche, der eine direkte Einwirkung Gottes auf die einzelnen Ereignisse postuliert, etabliert Leibniz in Ergänzung zu obigem Satz noch die Naturgesetze und übergeordneten Prinzipien als Mittler: Auf Ereignis A folgt Ereignis B, weil es ein übergeordnetes Prinzip gibt, das diese Folgerungsrelation etabliert und das selbst wieder vom Willen Gottes abhängig ist. In letzter Instanz sind es die individuellen Begriffe, die als Prinzipien für alle Ereignisse und Handlungen dienen. Dies wird im Kontext der Substanzmetaphysik diskutiert (siehe Teil III). Diese Folgerungsrelation etabliert sich selbst erst im Kontext einer komplexen Willensentscheidung, in der verschiedene Alternativen beurteilt werden. Sie 149 „Si omnia possibilia existerent, nulla opus esset existendi ratione, et sufficeret sola possibilitas. Quare nec Deus foret nisi in quantum est possibilis. Sed talis Deus qualis apud pios habetur non foret possibilis, si eorum opinio vera est, qui omnia possibilia putant existere.“ Principium Meum (1676), A VI, 3, 582.

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muss zudem erst noch in Kraft treten – eine Beziehung, die man einen „natürlichen Grund“ (causa naturalis) nennen kann. Im Bereich der Ideen gibt es keine moralische Notwendigkeit, jedenfalls spricht Leibniz nie davon und es wäre unplausibel, sie dort anzunehmen. Der natürliche Grund, der den Übergang von A nach B hervorruft, ist in diesem Falle die Kraft, die eine Realisierung faktischer Ereignisse bewirkt – im Falle der Welt der Emanationsprozess bzw. das göttliche fiat; im Falle der menschlichen Handlungen ist es die seelische Kraft, die physische Veränderungen hervorruft, die aber selbst wiederum stets auf die göttliche Entscheidung zurückzuführen ist (siehe Teil VII). Nichtsdestotrotz kann man nicht davon sprechen, dass im Bereich moralischer Handlungen und Entscheidungen der Zustand A notwendigerweise zum Zustand B führt – eine solche Notwendigkeit würde jede Willensfreiheit unmöglich machen, was Leibniz strikt ablehnt. Damit sich die moralische Notwendigkeit von der metaphysischen unterscheidet, muss also zuerst noch eine weitere Variable gegeben sein, nämlich ein Kriterium, das vorausgesetzt werden muss, um den Übergang von einem Zustande zu einem anderen zu einem notwendigen Übergang zu machen. Dieses Kriterium, das auch die bloß hypothetische Notwendigkeit von einer metaphysischen Notwendigkeit unterscheidet, ist eben der göttliche Akt des fiat, in dem Gott die Welt erschafft. Das Prinzip des Besten gewinnt so durch die göttliche Willensmetaphysik die Funktion eines quasi mathematisch operierenden Kalküls des moralisch Optimalen. Sowohl Existenz als auch Gestalt der Welt, das wie und das ob der Welt, sind von Gottes rationaler Entscheidung bestimmt. Da Gott letztlich in seiner rationalen Entscheidung die eineindeutig beste Möglichkeit wählt, fällt die maximale Rationalität der Welt, also die Tatsache, dass alles einen Grund hat, letztlich mit der maximal möglichen moralischen Perfektion der Welt zusammen150. Dabei ist allerdings noch nicht geklärt, wie das göttliche, begriffliche Denken die Welt genau bestimmt. Dazu muss die Theorie der vollständigen Begriffe in Betracht gezogen werden, die Leibniz ab der Zeit des Discours entwickelt, um 1686. In diesem Text, wie auch im Briefwechsel mit Arnauld, wird die hier vorgestellte Interpretation des principium reddendae rationis mit der PCT in Verbindung gebracht. So heißt es dann, dass alle wahren Aussagen einen apriorischen Beweis haben, der durch Analyse des zur Debatte stehenden Begriffs durchgeführt werden kann151, vorausgesetzt, es ist einsehbar, dass der Begriff einen nicht-leeren Umfang hat. Nichts darf einem Ding bzw. einem Begriff ohne Grund zugesprochen werden, da jeder Prädikation eine absolute, unbeweisbare Wahrheit zugrunde liegen muss. „Nichts 150 Vgl. De Libertate, Contingentia et Serie Causarum, Providentia (1689), A VI, 4, 1653. Dort wird wie folgt argumentiert: Wenn einiges Mögliche nie existiert, dann kann das Existierende nicht immer notwendig sein, ansonsten wäre es unmöglich, dass an ihrer Stelle andere Dinge existierten und also wären alle Dinge, die nicht existierten unmöglich. Dies sieht Leibniz nun also anders als im Brief an Magnus Wedderkopf, in dem es noch hieß, alles Existierende sei notwendig. 151 So zum Beispiel hier: „Omnis veritas aut demonstrari potest ex absolute primis (quas indemonstrabiles esse demonstrabile est) aut ipsa est absolute prima. Et hoc est quod dici solet, nihil debet asseri sine ratione, imo nihil fieri sine ratione.“ De Veritatibus Primis (ca. 1680), A VI, 4, 1443. Vgl. auch z. B. GP II, 62; A VI, 4, 804 f.; 910 f.; 1616.

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ist ohne Grund“ bedeutet hier: Jede zugesprochene Eigenschaft folgt metaphysisch oder logisch aus unbeweisbaren Grundsätzen. Dem entspricht auch ein früherer Kommentar zu einem Text von Marius Nizolius (1670), in dem Leibniz noch ohne seinen späteren Kontingenzbegriff die obersten Prinzipien des Denkens als logische Prinzipien herausstellt, während er sie an anderen Stellen auch als metaphysische Prinzipien bezeichnet: Die wahre Logik ist nicht nur ein Instrument, sondern enthält gewissermaßen die Prinzipien und den Grund des wahren Philosophierens, denn sie behandelt die allgemeinen Regeln, nach denen man das Wahre vom Falschen unterscheidet und alle Schlüsse beweisen kann [wenn man nur noch Definitionen und Experimente hinzunimmt]. Aber sie sind doch nicht die Prinzipien der Philosophie oder der Propositionen selbst und sie machen nicht die Wahrheit der Dinge, sondern zeigen diese nur auf; nichtsdestotrotz machen sie den Philosophen aus und sind die Prinzipien der richtigen Weise, Philosophie zu betreiben, was – wie Nizolius bemerkt hat – genug ist.152

Die Logik ist hier ein System, das die Form des Denkens festlegt und selbst axiomatisch durch ihre eigenen obersten Prinzipien bestimmt wird. Diese Prinzipien zeigen die Wahrheit, d. h. sie machen sie sichtbar – das bedeutet aber nicht, dass sie die Möglichkeit der Wahrheit auch konstituieren. Es geht vielmehr darum, dass für uns Menschen die Wahrheit erst durch diese Prinzipien erkennbar wird und dass die Philosophie als der definitive, allgemeingültige und rein intellektuelle Weltzugang erst durch diese Prinzipien ermöglicht wird. Im § 8 des Discours heißt es: „Nun steht es fest, dass jede wahre Aussage eine Grundlage in der Natur der Sache hat, und wenn ein Satz nicht identisch ist, das heißt, wenn das Prädikat nicht ausdrücklich im Subjekt enthalten ist, so muss es darin virtuell enthalten sein, und das nennen die Philosophen In-Sein (in-esse), indem sie sagen, dass das Prädikat im Subjekt ist. So muss der Subjektsbegriff immer den des Prädikats in sich schließen, derart, dass derjenige, der den Begriff des Subjekts vollkommen verstünde, auch urteilen würde, dass das Prädikat ihm zugehört.“153 Dieser Abschnitt spielt eine zentrale Rolle im Discours, wenn es darum geht, den Begriff der individuellen Substanz zu definieren. Tatsächlich schließt Leibniz direkt nach diesem Zitat unmittelbar von der Feststellung der Möglichkeit einer apriorischen Einsicht in die Prädikate eines Subjektes auf die Tatsache, dass die 152 „Logicam veram non tantum instrumentum esse, sed et quodammodo principia ac veram philosophandi rationem continere, quia generales illas regulas tradit, ex quibus vera falsaque demonstrari possunt [in GP IV, 137, endet dieser Satz so: falsaque demonstrari possunt adhibitisque solis definitionibus et experimentis omnes conclusiones demonstrari]. Sed sunto etiam non Philosophiae, non ipsarum propositionum principia, veritatemque rerum non faciant, sed ostendant; attamen Philosophum facient, recte philosophandi principia erunt, quod Nizolio tuendo satis est.“ Kommentar zu Marius Nizolius (1670), A VI, 2, 408. 153 „Or il est constant que toute predication veritable a quelque fondement dans la nature des choses, et lors qu’une proposition n’est pas identique, c’est à dire lors que le predicat n’est pas compris expressement das le sujet, il faut qu’il y soit compris virtuellement, et c’est ce que les Philosophes appellent in-esse, en disant que le predicat est dans le sujet. Ainsi il faut que le terme du sujet enferme tousjours celuy du predicat, en sorte que celuy qui entendroit parfaitement la notion du sujet, jugeroit aussi que le predicat luit appartient.“ DM § 8, A VI, 4, 1540. Vgl. auch DM § 13, A VI, 4, 1545 f.

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Seele des entsprechenden Lebewesens nicht nur Überreste (restes) und Zeichen (marques) all seiner vergangenen oder zukünftigen Widerfahrnisse enthält, sondern sogar Spuren von allem, was sich im Weltall ereignet („traces de tout ce qui se passe dans l’univers“154). Diese in früheren Schriften schon angelegte Position wird im Discours de Métaphysique (1686) vollständig und systematisch entfaltet, weil Leibniz hier erstmals ausdrücklich den Einheitscharakter der Substanz und das ihr immanente geistige Bewegungsprinzip mit ihrer das Universum repräsentierenden und spontanen Seele verbindet. Leibniz geht zwar bereits 1669 davon aus, dass es verschiedene Prinzipien für die Bewegungen der Körper geben muss155, wobei er die Seele mit diesem unkörperlichen Prinzip des Körpers identifiziert. Doch er begreift im Discours die Seele als den Aspekt der Substanz, der die gesamte Welt repräsentiert, aber hier sind es viele einzelne Seelen, die das Universum perspektivisch perzipieren. Es wird noch dargelegt, wie dieses post-spinozistische Substanzkonzept es zusammen mit der leibnizschen Begriffstheorie und dem principium reddendae rationis erlaubt, die panlogistische Rationalität der Welt mit der begriffslogischen Wahrheitstheorie zu verbinden. Wie genau die Seele das Prinzip der Körperbewegungen ist, wird im zweiten Teil dieser Untersuchung dargelegt. Der folgende Teil ist dem Begriff der requisita gewidmet, der eine Grundlage darstellt, die verschiedenen Formen der Konstitutions- und Hervorbringungsprozesse auf ein gemeinsames und zentrales Konzept zurückzuführen.

154 DM § 8, A VI, 4, 1541. 155 Vgl. Mercer: Leibniz’s Metaphysics, a. a. O., 143.

TEIL II: THEORIE DER REQUISITA Und in metaphysischer Strenge sind das, was wir Ursachen nennen, nur begleitende requisita. G. W. Leibniz1

1. REQUISITA 1.1. Requisita als Teile Eines der Kernprobleme der leibnizschen Kausalitätstheorie ist, dass die Struktur der physischen Verursachung innerhalb der Kette der Dinge und Ereignisse nicht für die Schöpfung insgesamt gelten kann. Für letztere muss eine andere Art von Antwort auf die Frage nach dem Warum und damit ein eigener Kausalbegriff gesucht werden, der sich von physischen Wirkursachen unterscheidet. Es muss aber dennoch ein Konzept der ontologischen Begründung gefunden werden, das für beide Erklärungsformen eine gemeinsame Grundlage darstellt, denn andernfalls würde es zwei disjunkte Formen von Begründung geben: Eine, die für die Welt insgesamt gilt, und eine, die nur auf die konkreten Objekte anwendbar ist. Wären diese Formen der Erklärung nun aber radikal voneinander getrennt, dann wäre die Rationalität selbst in zwei heterogene Bereiche aufgespalten. Dies würde Leibniz’ Konzept der Einheit von Gottes Verstand widersprechen und er unterscheidet folgerichtig nicht zwei getrennte Arten von Gründen, sondern lediglich vollständige und unvollständige Gründe. Demnach benötigt er einen Begriff, der die Struktur der emanativen kausalen Hervorbringung bezeichnet und der mit dem der Bewegung, der bislang als Grund für physische Formen dient, so zusammenhängt, dass man den einen als vollständig, den anderen als unvollständig bezeichnen kann. Leibniz unterscheidet seit dem Ende der sechziger Jahre vollständige von unvollständigen Gründen. Doch dies reicht nicht aus, um die notwendigen Rahmenbedingungen der Produktion eines Dinges von den tatsächlichen Ursachen des entstandenen Dinges zu unterscheiden. Schließlich müssen beide gegeben sein, damit es zu einer Hervorbringung kommen kann, sie unterscheiden sich jedoch im Hinblick auf ihre Wirksamkeit. Im Rahmen seiner Synthese von Welt- und Erkenntnisstrukturen strebt er nach einem Konzept, das alle Formen von Gründen vereint (vollständige und unvollständige, physisch wirkende und begrifflich-inferentielle) und Rahmenbedingungen von Wirkursachen trennt. Die allen Formen der ratio gemeinsame Grundlage findet er in dem Begriff des requisitum, der zumindest in 1

„Et quae causas dicimus esse tantum requisita comitantia in Metaphysico rigore.“ Principia Logico-Metaphysica (1689 [?]), A VI, 4, 1647.

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Teil II: Theorie der requisita

einigen Schriften eine etwas andere Funktion hat als der Begriff einer Bedingung (conditio). Mit diesem Begriff entwirft Leibniz eine formale Ontologie, die eine formale Beschreibung und Klassifizierung der Bedingungen der Existenz von etwas darstellt2. Der Begriff des requisitum wird bereits von Hobbes als philosophischer Terminus entwickelt. Leibniz greift dessen Versuch auf, den gesamten Grund (causa integra) mit einer Menge an einzeln bestimmbaren, kausal notwendigen Bedingungen zu identifizieren3 – causa integra steht bei Hobbes als Wirkursache der causa partialis als Materialursache gegenüber. Der Begriff findet sich bereits in den stoischen Kausalitätsbegriffen, man denke etwa an Cicero, der im Zusammenhang mit der Selbstbewegung der Seele von der Voraussetzung (requirenda) externer Ursachen spricht4. Die Rolle des Begriffs der requisita bei Leibniz hat in der jüngsten Forschung verstärkte Aufmerksamkeit erfahren5. Es findet sich für diesen Begriff eine problematische, weil besonders interpretationsbedürftige und fragmentarische Textgrundlage. Er taucht bereits in den frühen 1670er Jahren auf und wird bis in die letzten Schriften von Leibniz verwendet6; vor allem in den Jahren um 1685–90 findet sich eine intensive Arbeit an dem Begriff, der besonders in Leibniz’ Texten 2

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5

6

Der Begriff der formalen Ontologie stammt aus Di Bella: „Leibniz’s Theory of Conditions“, a. a. O., 67. Damit ist vor allem eine formale Struktur gemeint, deren Begriffe nicht leer bleiben wie die Termini der Prädikatenlogik, sondern durch konkrete Mengen an Entitäten (bspw. die Menge an einfachen Ideen, einfachen Substanzen etc.) gefüllt sind und sich so auf diese beziehen. Äquivalent dazu könnte man die Theorie der körperlichen Substanz einschließlich des Entelechiekonzeptes und der Fundierung der Substanz in der Kraft (Teil II) als materiale bzw. dynamische Ontologie bezeichnen. Piro, Francesco: „For a History of Leibniz’ Principle of Sufficient Reason“, a. a. O., 466. „In ähnlicher Weise braucht man für die willentlichen Seelenvorgänge nicht nach einer außerhalb der Seele liegenden Ursache suchen; denn ‚willentliche Bewegung‘ schließt natürlich in sich, dass sie in unserer Verfügungsgewalt liegt und uns gehorcht, und zwar nicht ‚ohne Ursache‘; denn die Ursache dafür ist die Natur selbst.“ – „Similiter ad animorum motus voluntarios non est requirenda [!] externa causa; motus enim voluntarius eam naturam in se ipse continet, ut sit in nostra potestate nobisque pareat; Nec id ‚sine causa‘: eius rei enim causa ipsa natura est.“ Cicero, Marcus Tullius: De Fato, München 1963, 50. Vgl. Adams, Robert M.: Leibniz. Theist, Determinist, Idealist, Oxford 1994. Carraud: Causa sive ratio, a. a. O. Di Bella, Stefano: „Requisitum“ in: Lexicon Philosophicum 5 (1991), 129– 152. Ders.: „,Nihil esse sine ratione, sed non ideo nihil esse sine causa.‘ Conceptual involvement and causal dependence“, in: Poser, Hans et al. (Hrgs.): Nihil sine ratione. VII. Internationaler Leibniz-Kongress, Berlin 2001, 297–304. Ders.: „Leibniz on causation: efficiency, explanation and conceptual dependence“, in: Quaestio 2 (2002), 411–447. Ders.: „Leibniz’s Theory of Conditions: A Framework for Ontological Dependence“, in: The Leibniz Review 2005, 67– 93. Ders.: „Causa Sive Ratio. Univocity of Reason and Plurality of Causes in Leibniz“, in: Dascal, Marcelo (Hrsg.): Leibniz: What Kind of Rationalist?, Dordrecht 2009, 495–509. Okrent, Nicholas E.: „Leibniz on Substance and God in ‚That a Most Perfect Being is Possible‘“, in: Philosophy and Theology 12.1 (2000), 79–93. Piro: Spontaneitá e Ragion Sufficiente, a. a. O. Ders.: „For a History of Leibniz’ Principle of Sufficient Reason. First Formulations and Their Historical Background“, in Dascal, Marcelo (Hrsg.): Leibniz: What Kind of Rationalist?, Dordrecht 2009, 463–478. Beispielsweise: Fünfter Brief an Clarke, 1716, GP VII, 392 f.

Requisita

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zu den Begriffsdefinitionen und den Kategorientafeln auftaucht, in denen er die philosophischen Grundbegriffe zu definieren sucht. Dieser Begriff nimmt in verschiedenen Kontexten eine zentrale Rolle ein. Zuerst sei seine Ausarbeitung im Begriffsfeld der Relationen genannt, womit hier vor allem formale Relationen wie cum, sine, pars, totus, illatione, inferens, conferens, inesse, inexistire und involvere gemeint sind. Leibniz versucht mit dem Rückgriff auf solche Begrifflichkeiten sowohl Kausalbeziehungen als auch ontologische Abhängigkeiten zu formalisieren. Bereits um 1671 wird der Begriff des requisitum im Kontext der Mereologie der Körper verwendet. Leibniz betont, dass die ausgedehnten Körper etwas erfordern, das nicht ausgedehnt ist7. Dies wird er noch in einem Brief an Des Bosses, vom 16. Juni 1712 wieder aufgreifen und direkt in die Monadentheorie münden lassen: „Gewiss werden also die Monaden nicht im eigentlichen Sinne an einem absoluten Ort sein, weil sie keine wirklichen Bestandteile (ingredientia), sondern nur requisita der Materie sind.“8 Und gleich danach, unter direktem Rückgriff auf die im Folgenden noch zu diskutierende Punkt-LinieAnalogie für die Materie: „Teile möchte ich nur insofern aktual darin [in einer Linie] begreifen, als sie durch eine aktuale Teilung entstehen, und Unteilbares nur als Begrenzungspunkte (extrema).“9 Hier findet sich also eine bemerkenswerte Kontinuität der Thematik und der Begrifflichkeit, auch wenn sich die Konzeptionen des Körpers und der Substanzen selbst erheblich ändern. Es wird noch zu zeigen sein, dass und wie die Formalisierung der Kausalrelation in engem Verhältnis zu mereologischen Überlegungen steht. Dann wird ersichtlich, dass der Begriff sowohl für das Projekt der Scientia generalis als auch für die Monadenlehre bedeutsam ist, etwa wenn Leibniz die in Monaden fundierten Phänomene mit der in Punkten fundierten Ausdehnung vergleicht10.

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Über Spinozas Ethik, A VI, 3, 385: „In eo enim caeterorum omnium ad existendum requisita continentur.“ Siehe auch: Leibniz an Heinrich Oldenburg, 15./25. Okt. 1671; A II, 1, 167: „Hinc infero, ad essentiam corporis requiri aliud aliquid quam extensionem (id est magnitudinem et figuram), alioquin à spatio non differet.“ Dies wird in einem späteren Text fast wörtlich wieder aufgegriffen: Principia Logico-Metaphysica (1689 [?]), A VI, 4, 1648: „Ad corporis substantiam requiritur aliquid extensionis expers, alioqui nullum erit principium realitatis phaenomenorum, aut verae unitatis; semper habentur plura corpora nunquam unum, ergo revera nec plura.“ „Certe Monades non ideo proprie erunt in loco absoluto, cum revera non sint ingredientia sed tantum requisita materiae.“ Brief an Des Bosses, 16. Juni 1712, GP II, 451. Bereits Erich Hochstetter bemerkt, dass Leibniz mit dem ihm schon „von seiner Jugend her vertrauten“ Begriff des requisitum die Substanz als eine conditio sine qua non in Beziehung zum empirisch wahrnehmbaren Körper setzt. Hochstetter, Erich: „Von der wahren Wirklichkeit bei Leibniz“, in: Hochstetter, Erich / Schischkoff, Georgi (Hg.) Zum Gedenken an den 250. Todestag von Gottfried Wilhelm Leibniz. Sonderausgabe der Zeitschrift für Philosophische Forschung, XX.3/4 (1966), 421–446, hier 437. Doch wie hier noch dargelegt wird, greift diese Definition zu kurz. „Sed in quo nolim concipere partes actu, nisi quae actuali divisione fiunt, nec indivisbilia, nisi ut extrema.“ Brief an Des Bosses, 16. Juni 1712, GP II, 451. Siehe bspw. Brief an Des Bosses, ohne Datum (1712), GP II, 436.

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Teil II: Theorie der requisita

Ab 1685 etwa wird der Begriff in Leibniz’ Notizen zur Scientia generalis in tentativer Weise benutzt, um andere Begriffe wie natura prius, causa, conferens, conditio und inferens zu definieren11. In den Jahren nach 1690 lässt Leibniz diese noch darzulegende formale Ontologie der Verursachungsrelationen zugunsten einer auf dem Begriff der Kraft und der prästabilierten Harmonie begründeten, dynamischen Relation zwischen den Substanzen in den Hintergrund treten, ohne dass sie dabei aufgegeben wird12. Letztere Theorie der Kausalität entsteht ebenfalls in dieser Zeit zwischen der Schrift De corpore concursu (1678), dem Discours und dem Specimen Dynamicum und wird im zweiten Teil dieser Arbeit untersucht. Leibniz unterscheidet zwei Gruppen von requisita: Die einen sind vermittelte (mediata), die außerhalb eines Dinges liegen und diesem nicht unmittelbar zukommen, aber dessen Existenz bestimmen. Die anderen sind unvermittelt (immediata) und gehören zu der Essenz dieses Dinges. Ein requisitum ist die von Natur einfachere Bedingung oder, wie man gewöhnlich sagt, das von Natur aus Frühere (natura prius). Bedingung (conditio) ist dasjenige, durch dessen Entfernung etwas aufgehoben wird. Die requisita der Dinge sind teils vermittelt, welche nämlich durch die Vernunft (ratiocinationem) zu erforschen sind, wie die Ursache; teils unvermittelt wie die Teile, das Äußerste, und allgemein das, was in den Dingen ist.13

In diesem Zitat sind requisita konstitutive Momente einer möglichen Existenz oder einer möglichen Essenz. Im ersten Fall ermöglichen sie eine Existenz, wenn sie dieser als dessen Ursache vorhergehen. Im zweiten Fall konstituieren sie den Gegenstand in seiner individuellen Spezifizierung, und zwar auf die Weise, wie ein Ganzes durch seine Teile konstituiert wird, die in einer bestimmten Form arrangiert sind. Requisita sind Ursachen sine qua non14. Sie sind also mehr als bloße Bedingungen, denn diese können für sich bestehen oder existieren, ohne dass aus ihnen etwas anderes folgt. Doch es handelt sich auch nicht um ein gleichrangiges Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung, so wie etwa die Bewegung einer Kugel die Ursache der Bewegung einer anderen Kugel sein kann, denn Leibniz bezeichnet

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Siehe A VI, 4, 546; 563; 641; Auch später bezeichnet er die Monaden noch als requisita, siehe bspw. GP VII, 503. „Requisitum est conditio natura simplicior, seu ut vulgo vocant natura prius. Conditio est, quo remoto aliquid tollitur. Requisita rerum alia sunt mediata, quae per ratiocinationem investiganda sunt, ut causa; alia sunt immediata ut partes, extrema et generaliter quae rei insunt.“ Definitiones Notionum Metaphysicarum atque Logicarum (1685 [?]), A VI, 4, 627. Der entscheidende Text Leibnizens findet sich in der Table de Définitions (1702–04 [?]), C, 471, wo Leibniz behauptet: „Requisitum est suspendens natura prius“ – um später hinzuzufügen: „vulgo causa sine qua non.“ Vgl. auch: „Requisitum est aliquid re natura prius, quo non posito ipsa existere non potest.“ A VI, 4, 308. Francesco Piro behauptet, dass es sich bei dem Begriff des requisitum insgesamt um eine Anverwandlung der hobbesschen conditione sine qua non sei, selbst eine Notwendigkeit ex hypothesi. Piro: Spontaneitá e ragion sufficiente, a. a. O., 9 f. Dabei beruft er sich auf die Forschungen von Zarka, Y. C.: La Décision Métaphysique de Hobbes, Paris, 1987. Allerdings stellt sich die Frage, ob hier nicht vielmehr die bereits in der Scholastik verbreitete Vorstellung des vollständigen Grundes (causa plena) verallgemeinert wird, zumal dieser bereits den bedingten Effekt (effectus integer) enthält.

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vor allem diejenigen Bedingungen als requisita, die „von Natur aus früher“ (natura prius) sind15. Was aber bedeutet dies? In der Schrift De iis quae per se concipiuntur (1677) macht Leibniz deutlich, dass das, was in zwei verschiedenen Dingen enthalten ist, als deren grundlegende Realität begriffen werden muss16. In diesem Zusammenhang ist klar, dass nur der Punkt, der als Ausgangs- oder Endpunkt vieler Linien dienen kann und so in ihnen enthalten ist, als Grundlage der Linie gelten kann und nicht etwa ein Linienabschnitt. In ontologischer Hinsicht konstituieren solche grundlegenden Naturen eine asymmetrische Beziehung zu allem, was aus ihnen folgt. Sie gehen diesen derivativen Entitäten konstitutiv vorher und sind in diesem Sinne außerhalb dieser. Damit will Leibniz die Idee des externen Grundes (ratio extra rem) auf eine präzise ausformulierte Grundlage stellen. Aus dem Wissen über das Setzen der requisita aber können wir auf die Existenz und auf die Essenz des Dinges schließen. Zuerst sollen hier nun die vermittelten requisita dargestellt werden, die in erster Annäherung als Existenzbedingungen und als determinierende Essenzen begriffen werden können. Erst danach werden diejenigen diskutiert, die besser als Denkbedingungen zu bezeichnen sind. Da Leibniz in den frühen Schriften eine Trennung von Essenz und Existenz17 ablehnt, handelt es sich hierbei keinesfalls um der Sache nach verschiedene Bedingungen (requisita), sondern die Differenz zwischen beiden liegt bloß im Denken, so wie die Differenz zwischen Begriff und Substanz vor allem in modaler Hinsicht, d. h. der Existenz nach besteht18. Jean-Baptiste Rauzy erarbeitet die Definition der vorhergehenden Gründe bzw. der natura prius: „A ist von seiner Natur her B vorhergehend, wenn die A zusammensetzenden einfachen Teile weniger zahlreich sind als die von B.“19 Dies schließt an die mereologische Konzeption des Verhältnisses vom Teil zum Ganzen an und passt auch zu dem Beispiel der aus zwei Punkten resultierenden Linie: Die Punkte enthalten je weniger Teile als die Linie. Dabei ist es, wie umgehend gezeigt wird, wichtig, dies nicht als bloße Zusammensetzung zu verstehen, weil Punkte keine aggregierenden Teile sind. Sie sind nicht homogen zum Ganzen sondern von diesem prinzipiell verschieden. Die requisita müssen also ontologisch einfacher sein als das Bedingte20. Jedes Bedingte, jedes wirkliche Ding hat stets mehrere 15 16 17 18

19 20

„Si conditio sit natura prior conditionato dicetur requisitum, et conditionatum dicetur requirens.“ A VI, 4, 563. Siehe auch: „Requisitum est Conditio simplicior, seu ut vulgo vocant natura prior. Conditio est, quo remoto aliquid tollitur.“ A VI, 4, 627. Ebenso A VI, 4, 303. A VI, 4, 25 f. Vgl. A VI, 1, 15; vgl. dazu Busche: Der Weg ins perspektivische Universum, a. a. O., 40 f. Quod Ens perfectissimum sit possibile (1676 [?]), A VI, 3, 573. Siehe auch: Hoffmann, Thomas Sören: Bei Leibniz ist „die Sphäre von Sein und Begriff nicht nur koextensiv, sondern sie ist eine und dieselbe in allenfalls modaler Differenz.“ Ders.: Philosophische Physiologie. Eine Systematik des Begriffs der Natur im Spiegel der Geschichte der Philosophie, Stuttgart, Bad Cannstatt 2003, 186, vgl. ebd., 89. „A est antérieur par nature à B si les composants simples de A sont moins nombreux que ceux de B.“ Rauzy, Jean-Baptiste: „Quid sit natura prius? La conception Leibnizienne de l’ordre“, in: Revue de Métaphysique et de Morale 1 (1995), 31–48, 37. Aus diesem Grund bin ich skeptisch gegenüber einer Deutung von Leibniz’ Ursachenkonzeption in den Begriffen von INUS- und SUNI-Bedingungen, wie sie John Leslie Mackie in seiner

124

Teil II: Theorie der requisita

(bzw. unendlich viele) Voraussetzungen. Dies entspricht einer Zunahme der Komplexität der Welt, da aus jeder natura prius etwas Komplexeres entsteht. Für die Erkenntnis gilt, dass das Vorhergehende einfacher zu erkennen ist: „Und demnach ist etwas von Natur aus vorhergehend, dessen Möglichkeit leichter bewiesen wird; und das leichter verstanden wird.“21 Entscheidend ist also nicht allein ein durch die requisita markiertes ontologisches Dependenzverhältnis, sondern die Tatsache, dass damit zugleich ein epistemologisches Verhältnis etabliert wird: Das ontologisch Vorhergehende ist auch das, was leichter zu erkennen ist. „Der Natur nach vorhergehend“ bedeutet, dass es, verglichen mit anderen Dingen, mit größerer Klarheit und Verschiedenheit gedacht werden kann oder leichter zu verstehen ist.22 Neben die ontologische Dependenz tritt eine epistemische. Diese Klarstellung erlaubt es, das Prinzip der Konstitution eines Dinges aus seinen Bedingungen besser zu verstehen. Leibniz verwendet den Begriff des requisitum an mehreren Stellen im Rahmen der Diskussion um die Konstruktion mathematischer Körper, beispielsweise hier mit Bezug auf die Entstehungsbedingungen einer Linie23: So wie der Punkt nicht als zusammensetzender Teil (pars compositiva) der Linie gelten kann, sondern etwas [von dieser] Heterogenes ist, so wird er dennoch notwendig erforderlich (necessario requiritur) sein, damit eine Linie wird und gedacht werden kann.24

21 22 23 24

einflussreichen Studie The Cement of the Universe, Oxford 1980, entworfen hat. Dies mag zwar methodisch und systematisch erhellend sein, aber es mutet auch etwas anachronistisch an, denn Leibniz’ konkreter Problemkontext ist ein ganz anderer, viel eher ontologisch zu denkender, was mit dem Kapitel zum historischen Hintergrund skizziert werden sollte. Eine solche Studie findet sich in Futch, Michael J.: „Leibnizian Causation“, in: British Journal for the Philosophy of Science 56.3 (2005), 451–467. Ein weiterer Vorbehalt gegenüber diesem Ansatz ergibt sich daraus, dass die formalisierte Kausalitätstheorie von Leibniz umgewandelt wurde in eine dynamische (siehe Teil III und IV dieser Untersuchung). „Et proinde Natura prius est, cujus possibilitas facilius demonstratur; seu quod facilius intelligitur.“ Quid sit natura prius (1679 [?]), A VI, 4, 181. Quid sit natura prius (1679 [?]), A VI, 4, 180. Vgl. dazu Piro: „For a History of Leibniz’ Principle of Sufficient Reason“, a. a. O., 470. Bei der Diskussion um die Linie muss bedacht werden, dass Leibniz keinen Begriff einer aktual unendlichen Linie hat. Für ihn ist jede Linie endlich, aber potenziell unendlich, weil sie immer weiter gezeichnet werden kann. Communicata ex disputationibus cum Fardella (1690), A VI, 4, S. 1699: „Sicut punctum licet non sit pars compositiva lineae sed heterogeneum quiddam, tamen necessario requiritur ut linea sit et intelligatur.“ Siehe dazu Garber, Daniel: „Leibniz and Fardella: Body, Substance, and Idealism“, in: Lodge (Hrsg.): Leibniz and His Correspondents, a. a. O., 123–140. Diese und die folgenden Zitate widerlegen direkt Pauline Phemisters These, dass mathematische Linien gerade nicht von Punkten abhängig wären, sondern dass Punkte der Linien bedürften. Dieser Aspekt ist sowohl bei ihr als auch hier entscheidend für die Konzeption des Verhältnisses von einfacher zu körperlicher Substanz. Siehe Phemister, Pauline: Leibniz and the Natural World: Activity, Passivity and Corporeal Substances in Leibniz’ Philosophy, Dordrecht 2005, 106 f. Das ist ebenso entscheidend für Glenn Hartz’ Annahme eines Theorienpluralismus, die auf der Annahme einer Inkonsistenz zwischen der Monadenlehre mit der folgenden These aufbaut: „Matter ultimately decomposes into individual non-material objects.“ Hartz, Glenn: Leibniz’

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Der Punkt ist die Grenze der Linie und auch ihr Grund, weil man ihre Existenz und Beschaffenheit anhand der sie konstituierenden Punktbewegung erklären kann. Da dieses Beispiel und seine folgende Übertragung auf den Substanzbegriff in dem zweiten Teil der Arbeit eine große Rolle spielen wird, sollen hier nur zwei Punkte herausgegriffen werden. Zuerst besteht eine Linie nicht in dem Sinne aus Punkten, dass man einfach nur genug Punkte aggregieren muss, um eine Linie zu erhalten: „Wir ziehen die Schlussfolgerung, dass das Kontinuum weder in Punkte aufgelöst werden kann noch aus ihnen besteht“25. Hubertus Busche erläutert, dass Leibniz dies bereits 1671 in der TMA so gesehen hat: „Die Bestimmung als ‚das, dessen Teil unbeträchtlich ist [cujus pars non consideratur]‘ (Euklid), raubt dem Punkt jedes Verhältnis zum Ausgedehnten“26. Ein Punkt besitzt keine quantifizierbare Ausdehnung und wird deshalb auch in der Addition keine endliche Summe bilden; er ist gleichwohl nicht Nichts, sondern vielmehr ein Ding, dessen Teile nicht getrennt werden können27. Im Pacidius Philalethi (1676) leitet Leibniz die prinzipielle Differenz zwischen Punkt und Linie mit der Hilfe eines Gedankenexperimentes her: Man denke sich ein Rechteck und eine seiner Diagonalen. Wären Linien aus Punkten zusammengesetzt, so könnte mit der Hilfe von seitenparallelen Linien durch dieses Rechteck jedem Punkt einer Seite eineindeutig ein Punkt auf der Diagonale zugewiesen werden.

25 26 27

Final System, New York 2007, 57. Die Komponenten der Materie sind stets immer wieder teilbar, so wie auch die Komponenten der Linie nicht Punkte, sondern kürzere Linien bzw. Liniensegmente sind. „Scilicet conclusimus continuum neque in puncta dissolvi posse, neque ex ipsis constare“, Pacidius Philalethi (1676), A VI, 3, 555. Der Weg ins perspektivische Universum, a. a. O., 478. Busche bezieht sich dabei auf TMA, A VI, 2, 265. „Es gibt Teile des Punktes, die aber keinen Abstand haben“ – „esse partes puncti, sed indistantes“, Brief an Arnauld, November 1671, A II 1, 172. Zu Leibniz’ Konzeption des Punktes siehe Beeley, Philip: Kontinuität und Mechanismus: Zur Philosophie des jungen Leibniz in ihrem ideengeschichtlichen Kontext, Studia Leibnitiana, Supplementa XXX, Stuttgart 1996; sowie in einer gänzlich anderen Interpretation Busche, Hubertus: „Einleitung“, in: ders. (Hrsg.): Klassiker Auslegen: Monadologie, Berlin 2009, 1–34; sowie ders.: Der Weg ins perspektivische Universum, a. a. O.

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Teil II: Theorie der requisita

L

N a’

a b

deutig

b’

M

O

be Anzahl an Punkte gegeben.

Gegeben sei das Rechteck LMNO mit seiner Diagonale MN. Jedem Punkt a an der Seite LM kann mittels einer Seitenparallele eineindeutig ein Punkt a’ auf der Diagonale MN zugewiesen werden. Wäre die Seite LM aus einer bestimmten an Punkten zusammengesetzt, so wäre dort trotz Damit würde die Anzahl längere Diagonale aus ebenso der unterschiedlichen Längen von LM und MN dieselbe 29 Anzahl an Punkten wie in der Linie MN ren Seiten, was absurd ist . gegeben.

Dies soll jedoch nicht so interpretiert zusammengesetzt sei, denn ganz bestehen im Gegenteil Damit würdePunkten die längere Diagonale aus ebenso vielen Punkten wie die kürzeren Seiten, ist28 . dasswas dieabsurd Linie schlichtweg gar nicht aus Punkten besteht – Dies solldern jedochnur nicht so interpretiert werden, dass Linie30aus unendlich vieEndpunkte (extrema) derdie Linie

len Punkten zusammengesetzt sei, denn ganz im Gegenteil zieht Leibniz die Konsequenz, dass die Linie schlichtweg gar nicht aus Punkten besteht – Punkte sind keine Teile, sondern nur Endpunkte (extrema) der Linie29. Leibniz scheint dieses Problem vielmehr mit der Annahme zu lösen, dass die Linie aus der Aufstellung von nur zwei Punkten26eineindeutig resultiert bzw. hergestellt werden kann30. Die Linie LM A VI, 3, 555. besteht aus einer(1676), Anzahl an ausgedehnten Liniensegmenten, in die man die Linie 27 Der Weg La, ins perspektivische a. O., 478.eineindeutig Busche bezieht sich dabei auf beliebig zerteilen kann: ab, bM. Diese Universum, lassen sicha.aber nicht den 28 „Es gibt Teile des Punktes, die aber keinen Abstand haben“ – Punkten der Diagonale MN zuordnen: Deren Teile Mb’, b’a’ und a’N entsprechen Arnauld, November 1671, A II 1, 172. Zu Leibniz’ Konzeption des Punktes siehe zwar proportional den Teilen der LM, haben Mechanismus: ZurSeite Philosophie des aber jun nicht dieselbe Größe. Diese Differenz zwischen Punkt und Ausgedehntem immer wieder Supplementa XXX, Stuttgart 1996; sowie inwird einerspäter gänzlich anderen Interpretation von Leibniz aufgegriffen und qua Analogie direkt auf die Metaphysik der Substanz in: ders. (Hrsg.): Klassiker Auslegen: Monadologie, Berlin 2009, 1-34; sowie ders.: Universum, a. a. O. übertragen:

29 Pacidius Philalethi (1676), A VI, 3, 550. Ebenso De Minimo et Maximo (1672), A VI, 2

Obzwar eine einfache Substanz in sich keine Ausdehnung besitzt, hat sie doch eine Position, 30 Pacidius Philalethi, A VI, 3 welche das Fundament von Ausdehnung ist, da die Ausdehnung die simultane, kontinuierliche

sed semper extrema tantu

28 29

30

104

Pacidius Philalethi (1676), A VI, 3, 550. Ebenso De Minimo et Maximo (1672), A VI, 2, 97. Pacidius Philalethi, A VI, 3, 554 f., besonders 555: „Semper extensa sunt corpora, et puncta nunquam partes fiunt, sed semper extrema tantum manent. […] Scilicet conclusimus continuum neque in puncta dissolvi posse, neque ex ipsis constare, neque certum ac determinatum esse numerum assignabilium in eo punctorum.“ „Linea recta est, quae ad punctum extremum similiter se habet utcunque producatur, seu quae a suo extremo uniformiter procedit seu quae ex extremo aliquo similiter percipitur, utcunque producatur.“ A VI, 4, 167.

Requisita

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Wiederholung einer Position ist – so wie wir auch sagen, eine Linie entsteht aus dem Fließen eines Punktes, weil in dieser Spur des Punktes verschiedene Positionen verbunden werden.31

Dieses „Fließen“ eines Punktes ist eben die Bewegung, durch welche die Linie aus dem Punkt entspringt. Leibniz führt hier, wie auch an anderen Stellen, die kausale Genese der Körper mit der kausal zu denkenden Konstruktion der geometrischen Körper parallel, die er vermutlich von Hobbes übernimmt32: Wenn wir diesen [geometrischen] Sachverhalt genauer untersuchen, dann wird man sehen, dass hier die Beweise über Ursachen geführt werden. Denn so wird die Figur aus der Bewegung hergeleitet: Aus der Bewegung eines Punktes entspringt eine Linie, aus der Bewegung der Linie eine Ebene, aus der Bewegung dieser Ebene ein Körper. Durch die Bewegung einer Geraden über eine Gerade entsteht etwas Geradliniges. Der Kreis entsteht durch die Bewegung einer geraden Linie um einen unbewegten Punkt, usw. Also sind die Konstruktionen der Figuren Bewegungen; nun werden aber aus den Konstruktionen die Beschaffenheiten der Figuren bewiesen. Also entspringen die Figuren aus der Bewegung und folglich a priori und aus Ursachen. Geometrie ist also eine wahrhafte Wissenschaft.33

Diese Analogien wird Leibniz immer wieder anführen, wenn es darum geht, dass das Ausgedehnte durch das Unausgedehnte begrenzt wird und so erst zum Ausgedehnten wird.34 Die Geometrie fungiert hier als eine Wissenschaft der Körper, ebenso wie die Mechanik und die Physik. Leibniz unterscheidet in den 1670ern drei wissenschaftliche Methoden: die Geometrie als exakte Wissenschaft der imaginären Körper, die Mechanik als Wissenschaft der realen Körper ohne vergleichbaren Anspruch auf Exaktheit, die Physik als die exakte Wissenschaft der realen Körper35. Diese werden allesamt aus den obersten Vernunftprinzipien abgeleitet: Denn die Wissenschaft der allgemeinen Vernunftprinzipien erzeugt die Geometrie, wenn sie den mittleren Naturen, wie die Alten sagten, d. h. den Figuren (die für sich unzerstörbar und ewig sind) als einem angenommenen Körper aufgeprägt wird. Dieselbe begründet, wenn sie

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34 35

„Substantia nempe simplex, etsi non habeat in se extensionem, habet tamen positionem, quae est fundamentum extensionem, cum extensio sit positionis repetitio simultanea continua, ut linea fluxu puncti fieri dicimus, quoniam in hoc puncti vestigio diversae positiones conjuguntur.“ Brief an Des Bosses, 21. Juli 1707, GP II, 339. Vgl. dazu Hobbes’ Computatio sive Logica: „Nomia autem rerum quae causam habere posse intelliguntur, in definitione habere debent ipsam causam sive modum generationis, veluti cum circulum definimus esse figuram natam ex circumlatione lineae rectae in plano“, OL I, 72. Siehe dazu und zum Folgenden: Di Bella, Stefano: „Causa Sive Ratio. Univocity of Reason and Plurality of Causes in Leibniz“, in: Dascal, Marcelo (Hrsg.): Leibniz: What Kind of Rationalist?, Dordrecht 2009, 495–509. „Sed si rem cogitemus accuratius, apparebit demonstrare eam ex causis. Demonstrat enim figuras ex motu: ex motu puncti fit linea, ex motu lineae superficies, ex motu superficiei corpus. Ex motu rectae super recta oritur rectilineum. Ex motu rectae circa punctum immotum oritur circulus, etc. Constructiones igitur figurarum sunt motus; jam ex constructionibus affectiones de figuris demonstrantur. Ergo ex motu, et per consequens a priori, et ex causa. Geometria igitur vera scientia est.“ Brief an Thomasius, 20./30. April 1669, A II, 1 (2. Auflage), 31. Bspw. NE II, Kapitel 13, § 5, A VI, 6, 147 f. „Geometria, id est imaginaria sed exacta, mechanica, id est realis sed non exacta, et physica, id est realis et exacta.“ TMA, A VI, 2, 184.

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Teil II: Theorie der requisita mit dem Vergänglichen und Zerstörbaren verbunden wird, die Wissenschaft der Veränderungen oder Bewegungen, von der Zeit, der Kraft und der Wirkung.36

Demnach lässt sich die Mathematik auf die Physik übertragen, da sie beide auf die Bewegung als einen gemeinsamen Grundbegriff zurückgreifen: Die Bewegung ist in mathematischer Strenge gesprochen nichts anderes als die Veränderung des Ortes der Körper gegen einander (inter se) und nichts absolutes, denn sie besteht [rein] in Relationen.37

Die Analyse der Bewegung ist insoweit nichts anderes als eine Verhältnisbestimmung, die vor allem mit den Mitteln der Mathematik durchgeführt werden kann, zumal diese selbst wiederum nichts anderes ist als die Wissenschaft der Verhältnisse. Betrachten wir die Bewegung als etwas anderes, z. B. als etwas wirkliches, oder als ein den Körpern zugehöriges Attribut, dann verlassen wir den Bereich der exakten, also am Vorbild der Mathematik i. e. der euklidischen Geometrie ausgerichteten Wissenschaften. Geometrie und Mechanik können sich also gegenseitig ergänzen: Die eine liefert die „reine“ Wissenschaft der Bewegung und damit das Grundgerüst für jede Theorie der Ursachen, die andere den empirischen Gehalt dazu. An dieser „Arbeitsteilung“ scheint Leibniz festzuhalten, bis er in den 1690er Jahren in dem Essay de Dynamique und dem Specimen Dynamicum einen qualitativen Ansatz zur Theorie der Körper bereitstellt und fortan die Dynamik der Mechanik gegenüberstellt. Doch davon wird im nächsten Teil die Rede sein. Leibniz greift bei der Konstruktion der Körper anscheinend auch deshalb auf diese geometrischen Methoden zurück, um auf diese Weise das Zenonsche Problem zu lösen, nach dem ein Ding nicht unendlich viele reale Teile besitzen kann, denn unendlich viele ausgedehnte Teile würden einen Körper unendlich groß machen. Mit unendlich vielen unausgedehnten Teilen wäre dieser Körper gleichwohl immer noch unausgedehnt. Dies ist ein Argument, das Leibniz sicher über Epikur oder Sextus Empiricus kannte. Sein Ansatz liegt darin begründet, dass er die Konstruktion der Körper durch Aggregation gleichartiger Teile ablehnt. Er unterscheidet stattdessen zwei Arten von Teilen, gleichartige und ungleichartige: Im Falle einer ausgedehnten Linie, die Leibniz als einfachsten Fall eines Körpers zu verstehen scheint, wären dies Linienabschnitte und Punkte. Leibniz spricht hier ganz explizit von „heterogenen Teilen“38, womit Teile gemeint sind, die von dem Ganzen dem Wesen nach verschieden sind. Zwar aggregiert sich die Linie schon durch die Linienabschnitte, zu einer konkreten Linie (d. h.: Strecke) wird sie aber erst durch die sie begrenzenden und somit konstitutiven Punkte (extrema). Ein Punkt ist demnach radikal von einem Linienabschnitt zu unterscheiden und die ausgedehnten Körper können demnach nicht auf ausgedehnte geometrische Elemente zurückgehen: „Die 36 37 38

„Nam Scientia rationum generalium, immersa naturis mediis, ut veteres vocabunt, id est figuris (quae per se incorruptibiles atque aeternae sunt) velut corpore assumto, Geometriam facit. Eadem cadumotuum de tempore, vi, actione.“ Pacidius Philalethi, A VI, 3, 532 f. „Motus in rigore Mathematico nihil aliud est, quam mutation situs corporum inter se, neque adeó absolutum quiddam est, sed in relatione consistit.“ Phoranomus (1689), C, 590. „Sicut punctum licet non sit pars compositiva lineae sed heterogeneum quiddam, tamen necessario requiritur ut linea sit et intelligitur“, Communicata cum Fardella (1690) A VI, 4, 1669.

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Linie, wie unendlich klein sie sein mag, ist nicht die wahre Grundlage (initium) des Körpers.“39 Ein Teil kann das Ganze nicht konstituieren und die für die Linie konstitutiven Punkte sind demnach keine Teile derselben, sondern Grenzmarkierungen: Wenn zwei Kugeln sich in einem Punkt berühren, dieser Punkt aber ein Teil der Kugel wäre, dann wären die zwei Kugeln ein einziger Körper, weil sie ja einen gemeinsamen Teil hätten. Jede Vorstellung der Stoßgesetze würde damit unmöglich werden. Jede Veränderung der Linie kann nur von einer Veränderung der sie begrenzenden und damit zugleich konstituierenden Punkte ausgehen, ebenso ist jede Veränderung des Ausgedehnten auf eine Veränderung der Modifikation des zugrunde liegenden Substrats zurückzuführen. Die Punkte machen die Strecke möglich, für ihre Aktualität bedarf sie aber auch aller ihrer Teile, d. h. Linienabschnitte oder einer entsprechenden Konstruktionsbewegung: Es bedarf einer nicht quantitativen oder räumlichen, sondern einer logischen Addition, für die Leibniz das Zeichen „⊕“ verwendet40. Die begrenzenden Punkte sind deshalb in letzter Instanz immer die unteilbaren Bestandteile eines Ganzen oder eines Teiles desselben41. Sind die requisita allerdings logisch identisch mit einem beliebigen Teil des Dinges, in das sie eingehen, dann sind sie nicht erst vermittels dieses Teils, sondern kraft der logischen Identität unmittelbare requisita. Leibniz konzipiert die requisita auf formaler Ebene als konstitutive Teile, die auch nur als logische Voraussetzungen und nicht als reale Teile in einem Ding enthalten sind. Dabei unterscheidet Leibniz ausdrücklich eine derart konstitutiv fungierende logische Addition von der aggregierenden mathematischen Addition42. Die requisita sind in diesem Falle zwar logische Voraussetzungen, aber nicht unbedingt begriffliche. Dies und der Unterschied zur bloßen Aggregation gleicher Teile in einem gleichen Ganzen lässt sich am Beispiel geometrischer Körper zeigen. Leibniz zieht diese Verbindung zwar nicht explizit selbst, doch er illustriert dies mit dem Problem, dass ähnliche Körper sich nicht gegenseitig enthalten können: Eine Linie kann eine andere Linie nicht enthalten, ohne mit ihr identisch zu sein; eine Ebene dagegen kann eine Linie insoweit enthalten, weil und indem sie sie voraussetzt43. In einer Notiz zur Mereologie, die auf das Jahr 1689/90 datiert wird, illustriert Leibniz eine daraus entstehende Schwierigkeit folgendermaßen: Die Punkte A und B konstituieren die Linie C. Diese Linie C und der Punkt D konstituieren eine Ebene E. Sowohl die Punkte A, B und D als auch die Linie C sind unvermittelte requisita von E, sie sind in E enthalten und werden von ihr vorausgesetzt. Die Linie C aber geht auf eine andere Weise in E ein, denn sie kann durch eine andere, durch 39 40 41 42 43

„Nam nec linea ista utcunque infinite parva erit verum corporis initium.“ De Minimo et Maximo, de Corporibus et Mentibus, A VI, 3, 100. Leibniz bezeichnet mit dem Zeichen an anderer Stelle die Bestimmung überhaupt, siehe Plura Similiter Posita Simul Aequivalent Uni (1687 [?]), A VI, 4, 859. Pacidius Philalethi (1676), A VI, 3, 566. „∞“ ist dabei das Zeichen für logische Identität, „⊕“ für logische Addition, im Gegensatz zur mathematischen Addition. Fragmenta quinque de Contento et Continuo (1689/90 [?]), A VI, 4, 1001.

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Teil II: Theorie der requisita

B und D konstituierte Linie F ersetzt werden, die dann mit dem Punkt A die Ebene E konstituiert.44 Es gibt also für die requisita als logische Teile eines Körpers oder eines Begriffs keine spezielle Weise der Zusammensetzung und Analyse, die allein auf die requisita schließen lässt. Solange die Analyse nicht bis an ihr Ende geführt wird, gibt es einen im interpretierenden Subjekt gelegenen Grund der Bestimmung, der die Zergliederung des Konzepts E wahlweise über die „Zwischenglieder“ C und F zu den in diesem Beispiel unreduzierbaren requisita A, B und D führt. Dies mag analog zu den mathematischen Beispielen gelten, in denen Leibniz darlegt, dass eine Zahl, beispielsweise die 10, sich zwar letztlich auf zehnmal die Zahl 1 zurückführen lässt, es dabei aber durch praktische Gründe bestimmt wird, ob diese Zerlegung über 6 + 4 oder 6 + 3 + 1 oder über beliebige andere Summierungen der Teile zur 10 führt45. Diese Überlegungen sind für das mereologische Verhältnis vom Teil zum Ganzen und in Bezug auf Substanzialität und Materie relevant, auf das ich in späteren Kapiteln noch eingehen möchte. Ebenso kann hier nicht auf die zahlreichen Verzweigungen dieser Diskussion eingegangen werden, wie z. B. auf die Struktur der ‚inexistenten‘ Teile oder auf die Anwendungen solcher Definitionen auf die Geometrie. An dieser Stelle soll erneut angemerkt werden, dass Leibniz hier nicht „bloß“ logische Definitionen anstellt, sondern dass er deren realitätskonstituierende Funktion in der Welt gleich mitbedenkt und diese Definitionen so zu einer mereologischen Grundlage seiner Metaphysik macht. Aber keines dieser Elemente kann als echter Teil der Ebene gelten, weil sie anders dimensioniert sind als diese. Leibniz bezeichnet Punkt, Linie, Ebene und Körper gerade nicht (nur) als Gegenstände, sondern in diesem Sinne und wörtlich als „Dimensionen“46. Der jeweils höher dimensionierte Körper ist der Ort (locus) der zugrunde liegenden: Die Linie ist der Ort des Punktes, die Ebene ist der Ort der Linie, usw.47 Dieses mathematische Verhältnis zwischen den Dimensionen wird 44

45

46 47

„Sit A ⊕ B ∞ C et C ⊕ D ∞ E ajo A, B, C, D esse requisita immediata ipsius E, nam etsi dici posset A concurrere ad constituendum E, per C quod constituit, tamen non est opus adhibere C, cum possit fieri A ⊕ B ⊕ D ∞ E, nec in rei natura ratio detur cur unum alteri praeferatur, et quo jure junximus A ⊕ B in C, eo jure possemus jungere B ⊕ D in F, et fieret A ⊕ F ∞ E.“ Ebd., A VI, 4, 1001. Das „Frühere“ muss nicht notwendigerweise auch zuerst verstanden worden sein, damit das „Spätere“ verständlich ist. So gibt es folgende Hierarchie von Definienda der Zahl 10: 1+1+1+1+1+1+1+1+1+1=10; 6+3+1=10; 6+4=10 (Ad Ethicam Benedicti de Spinoza (1678 [?]), A VI, 4, 1767). Jede dieser Definitionen kann aber ganz unabhängig voneinander verstanden und bewiesen werden. Wir können kraft der symbolischen Erkenntnis zusammengesetzte Begriffe auch in unanalysierter Form verstehen, auch wenn es sich dann eben nicht um vollständige Erkenntnis handelt. Die logische Hierarchie der Begriffe ist nicht unmittelbar damit zu identifizieren, dass wir Begriffe in Abhängigkeit von anderen Begriffen verstehen. Zum Verständnis eines Begriffs ist es nicht notwendig, ihn zu analysieren; wohl aber ist es eine Verständnisbedingung, dass der Begriff analysierbar ist. Vgl. ganz ähnlich: De Origine Rerum ex Formis (April 1676), A VI, 3, 518. „Sequuntur Accidentia, quae sunt Quantitas, Qualitas, Actio et Relatio. Quantitas illi continet, Extensionem, ubi dimensiones (punctum, linea, superficies, corpus), relativa (ut Centrum, Tangens, Parallelum), linearum et figurae.“ De Rerum Classibus (1677–80 [?]), A VI, 4, 1010. Vgl. z. B. Demonstratio axiomatum Euclidis (1679), A VI, 4, 178.

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von Leibniz anscheinend als Analogie für die ontologischen Abhängigkeitsverhältnisse gedacht und so mag diese mathematische Formulierung der Hintergrund sein für eine im zweiten Teil entwickelte Deutung der Monadenlehre, nach der die Monade einem Körper zugeordnet bzw. zugeschrieben wird, in dem sie wirkt, so dass der Körper als Ort der Monade gelten kann. Die requisita sind keine Teile des Ganzen, da der Teil dem Ganzen gegenüber gleichartig sein muss48, sie sind allerdings ihrer Natur nach dem Ganzen, das durch sie bedingt wird, vorhergehend: Die requisita sind ontologisch verschieden von dem durch sie bedingten Ganzen. Damit erfüllt Leibniz seine eigene Forderung nach einer Differenz zwischen Grund und Begründetem. Requisitum und Ganzes können im konkreten Falle de re identitätsstiftend zusammenfallen, so wie etwa die Rationalität ein requisitum des einzelnen Menschen ist und von diesem nur begrifflich, nicht aber im konkreten Falle faktisch von diesem als ein selbständiger Teil unterschieden werden kann49. In anderen Fällen gelten die requisita als Grund für die Identität des Dinges, etwa in der Linie. Die Linie erhält ihre Identität nur durch die sie begrenzenden Punkte, ohne die sie unendlich ausgedehnt und damit von anderen Linien nicht zu unterscheiden wäre50. Nichtsdestotrotz wird auch hier deutlich, dass die Rationalität qua ihrer Begründung in dem göttlichen Geist jeder menschlichen Natur und Existenz vorhergeht. Requisita können also je nach Gegenstandsbereich ganz unterschiedlich sein: Nach Leibniz kann man auch Punkte „in“ einer Linie wie auch abstrakte Allgemeinbegriffe (generalia) in einem Begriff als requisita bezeichnen. Die Begriffe der mittelbaren und unmittelbaren requisita werden immer wieder unter den Begriff der Bedingung (conditio) subsumiert und beide werden gelegentlich auch synonym verwendet51, was die Auslegung der Textgrundlage bisweilen erschwert. Gleichwohl ist nicht jede Bedingung auch ein requisitum: Eine conditio wird nur ex negativo als eine notwendige Bedingung definiert, d. h., sie spielt nur dann eine Rolle, wenn sie fehlt. Das Setzen einer einzelnen Bedingung besagt noch nichts über Existenz oder Nichtexistenz des Bedingten. Hier wird schon deutlich, wieso die beiden Endpunkte sowohl die Existenz- als auch Denkbedingungen sind: Sie setzen die Linie ins Sein und wer die Linie denken will, der muss auch ihre Endpunkte mitdenken – und zwar nicht als zufälliges Beiwerk, sondern als das, was dem Denken dieser einen Linie vorhergehen muss. Es scheint also, dass Leibniz requisita nicht als bloße Bedingungen begreift. Sie sind zwar in gewissem Maße als Teile eines Dinges zu denken, aber sie sind keine räumlichen Teile, als ob das Ganze etwa bloß durch Zusammenfügung un48 49 50

51

So ausdrücklich: „Pars et totum similia sunt“, Calculus Ratiocinator (1679 [?]), A VI, 4, 278. „Rationalis est requisitum hominis, sed quia homo est rationalis, ideo rationalis (qui hominis requisitum est) et homo idem est, etsi enim expressione differant, re tamen conveniunt.“ Characteristica Geometrica (1679), GM V, 151. Vgl.: „Videntur enim inde oriri lineae rectae infinitae utrinque terminatae, ut alias ostendam; quod absurdum est. Praeterea cum infinité parvae quoque aliae aliis minores assumi possint in infinitum, rursus non potest ratio reddi cur aliae prae aliis assumantur; nihil autem fit sine ratione.“ Pacidius Philalethi, A VI, 3, 564 f. Vgl. Di Bella: „Requisitum“, a. a. O., 147.

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Teil II: Theorie der requisita

abhängig voneinander und bereits für sich selbst existierender materieller Dinge entstünde, so wie man zum Beispiel einen Tisch aus Teilen zusammensetzen kann. Diese Theorie soll anhand eines Beispiels für solcherart requisita dargestellt werden, etwa im Falle eines Hauses: Erstens wäre der Bauplan als Prinzip des Hauses zu nennen, das ja auf immaterielle Weise auch nach dem Bau des Hauses noch ein Teil desselben ist. Zweitens scheint auch der Bauprozess selbst ein requisitum oder vielmehr ein Komplex derselben zu sein, da es vor allem eine Aktivität ist, die als Wirkursache verstanden wird. Es wurde bereits dargelegt, dass der Punkt erst vermittels der Bewegung (des „Fließens“) eine Linie konstituieren kann. Drittens müsste man sagen, dass auch die Substanzen als requisita gelten können, die den physischen Baumaterialien zugrunde liegen und somit indirekt in das Haus mit eingehen, d. h. diesem gegenüber ontologisch basal sind. Alle drei Aspekte – immaterielle Form, hervorbringende Aktivität, substanzielle Teile – liegen dem physischen Ding ontologisch zugrunde und sind keine homogenen Teile desselben in dem Sinne, dass sie nicht durch Teilung herausgefunden werden können. 1.2 Requisita als Ursachen Vor diesem Hintergrund lässt sich Leibniz’ Versuch rekonstruieren, Ursachen und Gründe auf einer begrifflichen Grundlage zusammenzufassen. Sämtliche Kausalund Bedingungsverhältnisse können direkt auf die Ausfaltung der Dinge aus Gott zurückgeführt werden52, die Leibniz im neuplatonischen Sinne als Emanation bezeichnet: Requisitum. Conferens. Causa. Effectus. Wie ich im Allgemeinen annehme, dass sie durch die Ursache durch Emanation begriffen werden können, solange kein Wechsel, keine Zeit interferiert.53

Leibniz arbeitet dies in eine universelle, formalontologische Grundlegung aus, bei der verschiedene Ursachen- und Bedingungstypen auf die Emanation der Welt aus Gott zurückgehen. Man kann also sagen, dass die Welt nicht nur durch die menschliche Vernunft als begründet gedacht wird, sondern dass sie auch tatsächlich begründet ist: Sie ist ontologisch abhängig von einem Grund außerhalb ihrer selbst, der sie in ihrer Existenz wie auch in ihrem Wesen bestimmt. Die ratio der Essenz ist mit der causa der Existenz gemeinsam gegeben, wenn auch auf andere Weise – Stefano di Bella spricht diesbezüglich von einer ratio/causa-Isomorphie54. Das 52

53 54

Die Substanzen hängen von Gott ab, „der sie erhält und der sie sogar dauernd in einer Art Ausstrahlung (par une maniere d’emanation) hervorbringt, so wie wir unsere Gedanken hervorbringen.“ – „Qui les conserve, et même qui les produit continuellement par une maniere d’emanation, comme nous produisons nos pensées.“ DM § 14, A VI, 4, 1549. „Requisitum. Conferens. Causa. Effectus. Haec generaliter sumo, ut etiam intelligi possint de causa per emanationem, ubi nulla intercedit mutatio, neque tempus.“ Catalogus Notionum Primariarum (1685–88 [?]), A VI, 4, 637. Di Bella, Stefano: „Causa Sive Ratio. Univocity of Reason and Plurality of Causes in Leibniz“, in: Dascal, Marcelo (Hrsg.): Leibniz: What Kind of Rationalist?, Dordrecht 2009, 495–509, hier 505. Siehe dazu auch NE IV, Kapitel 17, § 3, A VI, 6, 475 f.

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scheint einer der Gründe für die in späteren Texten häufiger auftretende Verwendungsweise des Ausdrucks „causa sive ratio“ zu sein: Was auch immer existiert, das hat sowohl Ursache als auch Grund und beide fallen in der Konstitution des Dinges aus seinen requisita zusammen. Wie sind nun physischen Ursache im Ereigniszusammenhang als requisita zu denken und welches Verhältnis haben sie zu bloß intelligiblen Gründen? Aus der schon früh festgelegten Theorie der universellen Harmonie folgt: Kein Ding kann ein anderes Ding beeinflussen, ihm Wirksamkeit, kontingente Eigenschaften oder gar Wesensmerkmale verleihen, die es nicht von sich aus hat. So heißt es in endgültiger Abwendung von der früheren Korpuskulartheorie hin zu einer komplexeren Substanzenmetaphysik: „in metaphysischer Strenge kann man sagen: keine geschaffene Substanz kann auf eine andere in metaphysischer Weise einwirken oder auf sie Einfluss üben“55 – Gott selbstverständlich ausgenommen. Die Begründung dazu lautet, dass es nicht vorstellbar ist, dass eine Eigenschaft von einem Ding auf ein anderes wechseln und dann dieses bestimmen könnte. Jede Eigenschaft muss dem Ding also schon vor jeder kausalen Wechselwirkung wenigstens virtuell zukommen. Dabei schließt er dieses Fragment mit der Bemerkung ab: „Und es lässt sich in metaphysischer Strenge sagen, dass die Dinge, die wir Ursachen nennen, nur begleitende requisita sind.“56 Neben den Wirkursachen gibt es noch weitere konstitutive Bedingungen. So wird deutlich, dass der Ereigniszusammenhang nur eine derivative Folge des dargestellten ursprünglichen Dependenzverhältnisses ist. Hier zeigen sich bereits einige entscheidende Konsequenzen der requisita-Theorie. Der Satzes vom Grund gilt, wie bereits gezeigt wurde, sowohl für transitive, als auch für immanente Ursachen; sowohl für die Existenz einzelner Dinge innerhalb der allgemeinen Ereignisabfolge (series rerum), als auch für die Existenz der Welt insgesamt. Die einzelnen Dinge, wie auch die Welt als Ganze genommen, haben requisita unterschiedlicher Natur. Die weltlichen Dinge benötigen für ihre Existenz erfüllte Verursachungsbedingungen; die Welt selbst basiert auf den Ideen Gottes, seinem auswählenden Willensakt und dem realisierenden Schöpfungsakt. Die requisita, die als Existenzbedingungen gelten können, sind auch für den Satz vom Grund von zentraler Bedeutung. Dies wird besonders an einem von Leibniz angebrachten Beweis für den Satz vom Grund deutlich, der aus dem Jahre 1671 stammt, aber auch in späteren Schriften wieder aufgegriffen wird57. Die Argumentation ist dabei die folgende: Proposition: Nichts ist ohne Grund oder was auch immer ist, hat einen zureichenden Grund (ratio). Def. 1. Ein zureichender Grund ist das, was, wenn es einmal gesetzt ist, gibt, dass ein bestimmtes Ding ist. 55 56 57

„In rigore Metaphysico dici potest, nullam substantiam creatam in aliam exercere actionem metaphysicam seu influxum.“ Principia Logico-Metaphysica (1689 [?]), A VI, 4, 1647. „Et [dici potest] quae causas dicimus esse tantum requisita comitantia in Metaphysico rigore.“ Ebd. Informal auch in der Confessio Philosophi, A VI, 3, 118. Siehe ebenso: 5. Brief an Clarke, GP VII, 393.

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Teil II: Theorie der requisita Def. 2. Ein requisitum ist das, was, wenn es einmal nicht gesetzt ist, gibt, dass das Ding nicht ist. Beweis: Was ist, hat alle requisita. Denn wenn eine dieser nicht gesetzt ist, dann ist das Ding nicht kraft Def. 2. Wenn alle requisita gesetzt sind, dann ist das Ding. Denn wenn es nicht ist, wird es durch ein Fehlen eines requisitum daran gehindert, zu sein. Deshalb sind alle requisita ein zureichender Grund kraft Def. 1. Deshalb hat, was auch immer ist, einen zureichenden Grund. Q. E. D.58

Etwas kann nur dann existieren, wenn alle notwendigen Seinsbedingungen erfüllt sind. Der zureichende Grund wird von dem requisitum insoweit unterschieden, wie sich hinreichende und notwendige Bedingungen unterscheiden: Ist der zureichende Grund gesetzt, so ist auch das Ding; fehlt aber das requisitum, gibt es auch das Ding nicht. In diesem Sinne können alle requisita auch als Bedingungen gelten, doch sie sind dadurch gekennzeichnet, dass erst die Gesamtheit aller requisita einen nicht nur notwendigen, sondern auch hinreichenden Grund ausmacht, der tatsächlich die Existenz des Dinges setzt. Dieser Beweis des Satzes vom Grund ist aber auch aus anderen Gründen bemerkenswert. Erstens geht es hier vor allem um eine essentialistisch-ontologische Variante des Satzes vom Grund, nicht um die PCT, welche die Wahrheit einer Aussage in der Inklusion des Prädikats im Subjekt begründet sieht – und auch nicht um des Satz vom Grund als Postulat der Verkettung von Ursache und Wirkung. Vielmehr geht es um Folgendes: Weiß man, ob ein bestimmtes Ding existiert, dann kann man sicher sein, dass alle notwendigen und hinreichenden Bedingungen (requisita) erfüllt sind. Gleichermaßen gilt, dass die Kenntnis um die Gegebenheit aller requisita ausreicht, um davon die Existenz eines Dinges zu folgern. Dieser Satz vom Grund bezieht sich also vor allem auf die Verknüpfung des Dinges mit seiner externen ratio. So wird eine logische „Grammatik“ der inferentiellen Schlüsse konzipiert, die Logik des ‚illatio‘, nach der die notwendigen Bedingung eines Sachverhaltes aus diesem selbst hergeleitet werden können. Das requisitum bezeichnet gleichwohl die Bedingungen mit ontologisch vorgängiger Natur, die unabhängig 58

„Propositio: Nihil est sine ratione, seu quicquid est habet rationem sufficientem. Definitio 1. Ratio sufficiens est qua posita res est. Definitio 2. Requisitum est quo non posito res non est. Demonstratio: Quicquid est, habet omnia requisita. Uno enim non posito non est per def. 2. Positis omnibus requisitis res est. Nam si non est, deerit aliquid quo minus sit, id est requisitum. Ergo omnia Requisita sunt ratio sufficiens per def. 1. Igitur quicquid est habet rationem sufficientem. Q.E.D.“ Demonstratio Propositionum Primarum (1671–72 [?]), A VI, 2, 483. Vgl. die Darstellung und Argumentation bei Adams: Leibniz. Theist, Determinist, Idealist, a. a. O., 68. Dort weist er auch darauf hin, dass die predicate-containment-thesis von diesem Prinzip des zureichenden Grundes deutlich verschieden ist: „Thus Leibniz would have believed in the Principle of Sufficient Reason even if he had never thought of the conceptual containment theory of truth.“ Ebd., 68 f.

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sind von unserer inferentiellen Praxis59. Dennoch sind die Existenzbedingungen eines Dinges noch nicht unmittelbar mit der Begründung der Wahrheit einer Aussage über dasselbe Ding in Verbindung zu bringen. Dies wird besonders bei den abstrakten und notwendigen Wahrheiten wie denen der Mathematik und der Logik deutlich, denen keine existierenden Dinge im engeren Sinne entsprechen. Aber auch in Bezug auf die kontingenten Wahrheiten gilt, dass die ontologische Kette der Verursachungen, die zur Produktion eines Dinges führt und die durch den obigen Beweis eine formale Struktur erhält, noch eine Verbindung zu der Struktur der Analyse des entsprechenden Begriffs erhalten muss. Erst dann kann die PCT mit dieser Variante des Satzes vom Grund identifiziert werden. Leibniz gibt den oben zitierten Beweis des Satzes vom Grund aus der Setzung der requisita aus verschiedenen Gründen später wieder auf. Robert C. Sleigh Jr. schreibt dazu, dass ein erfolgreicher Beweis es ermöglicht hätte, den Satz vom Grund auf eine ursprünglichere Identität zurückzuführen. Aber dies ist Leibniz nicht gelungen: A difficulty with the argument stares one in the face. Note that the reason given for the second step – i. e., the collection of all the requisites of a thing constitutes a sufficient condition of it – is not a consequence of either definition. Indeed, when applied in the present case, the aroma of question begging fills the air.60

Tatsächlich geht aus beiden Definitionen nicht unmittelbar hervor, dass alle requisita einen zureichenden und nicht bloß notwendigen Grund bilden. Doch dies wird vor dem Hintergrund der obigen Unterscheidung zwischen conditio und requisitum wieder plausibler, da Leibniz eben mit dem Begriff des requisitum die Teile eines nicht nur notwendigen, sondern auch zureichenden Grundes bezeichnet. Man kann vermuten, dass die Unterscheidung zwischen conditiones und requisita zu dem Zweck eingeführt wurde, um ein Mittel zu haben, aus einer logischen Analyse der Bedingungen eines Gegenstandes direkt auf dessen Existenz zu schließen. Doch dazu bedarf es einiger bislang unerwähnter Voraussetzungen, die in den folgenden Abschnitten erarbeitet werden. Die requisita einer Idee sind mit dieser auf eine andere Weise verbunden als die der physischen Dinge: Sie werden durch die Notwendigkeit der logischen Gesetze erfordert und mit der Analysemethode erforscht, welche Leibniz vor allem in seiner Ars combinatoria darlegt. Dabei ist festzuhalten, dass der Satz vom Grund nicht nach geometrischer Methode begründet, also axiomatisch hergeleitet werden kann: Sonst würde er selbst zu den absolut notwendigen Wahrheiten gehören, einschließlich allem, was aus ihm folgt: sämtliche Naturgesetze bis hin zu der series rerum selbst. Dies würde sowohl die menschliche Willensfreiheit als auch die gesamte Theodizee-Problematik unmöglich machen. Leibniz insistiert zwar immer wieder, etwa ausführlich im Briefwechsel mit Samuel Clarke, dass Gott die Naturgesetze so geschaffen hat, dass sie durch den menschlichen Verstand kraft der ihnen übergeordneten Prinzipien 59 60

Siehe Di Bella: „Leibniz’s Theory of Conditions“, a. a. O., 73. Sleigh, Robert C. Jr.: „Leibniz on the Two Great Principles of all our Reasonings.“ In: Woolhouse, R. S. (Hrsg.): Gottfried Wilhelm Leibniz. Critical Assessments. Volume 1: Metaphysiscs and its Foundations 1: Sufficient Reason, Truth, and Necessity, London 1994, 31–57, hier: 43.

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Teil II: Theorie der requisita

hergeleitet und nachvollzogen werden können – immerhin bedeutet Intelligibilität für Leibniz gerade die Rückführbarkeit auf allgemeinere Prinzipien –, aber entscheidend ist hier, dass die Begründung der Naturgesetze im Satz vom Grund in letzter Instanz immer auch den Sprung in den Glauben erfordert (siehe Teil I, Kapitel 2.) und damit das Vertrauen auf den unbedingten, göttlichen Willen zum Guten voraussetzt. Ansonsten würden sowohl Wesen als auch Existenz der Welt mit geometrischer, also logischer Notwendigkeit aus Gott folgen, statt mit der von Leibniz postulierten hypothetischen Notwendigkeit. Der Satz vom Grund ist dennoch nicht unbegründet, aber er muss auf einen Willensentscheid Gottes zurückgeführt werden und gilt demnach nur mit moralischer Notwendigkeit. Er ist also durch einen hinreichenden Grund, nicht aber durch einen notwendigen Grund begründet; er wurde inkliniert, nicht nezessitiert. Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, dass die Theorie der requisita zwei Funktionen erfüllt. Zum Einen formalisiert sie die Begründung der Welt auf eine andere Weise in Gott, als bloß auf seinen Willen und sein fiat zu verweisen, allerdings mit problematischen Konsequenzen; zum Anderen begründet sie die Gleichmächtigkeit von Ursachen und Wirkungen. Zum ersten Punkt: Das Konzept der requisita spielt eine wichtige Rolle für den Gedanken einer für die Welt angebbaren ratio in Gott. Leibniz denkt Gott als das schlechthin Unbedingte, als die causa sui, was hier also heißt, dass Gott selbst keiner weiteren requisita bedarf und von keiner weiteren Bedingung abhängig ist. Alle requisita aller Dinge sind in Gott gesetzt und Gott enthält selbst seine eigenen requisita61. Er ist also Bedingung seiner selbst oder eben das absolut Unbedingte. Als letzter Grund aller Bedingungen enthält Gott alle diese, er ist das aggregatum requisitorum62. Der letzte Grund der Welt ist die Setzung des Aggregats aller ersten requisita, mithin der für alle Dinge63. Das bedeutet nichts anderes, als dass jede Ursache letztendlich auf die Attribute Gottes zurückgeführt werden kann, weil dieser schlichtweg alle requisita enthält64. Soweit diese aber in ihrer Kombination die Besonderheit eines jeden Dinges ausmachen, sind sie als Attribute zur Essenz zu denken65. Dies wird auch dazu führen, dass deshalb die Existenz eines jeden Dinges a priori erkennbar ist: Weil man von der Erkenntnis, ob die requisita gegeben sind oder nicht, direkt sowohl auf die Existenz als auch Essenz des Dinges schließen kann66. Da dies aber nach obiger Definition auch für die Welt insgesamt gilt, führt dies dann zu dem Problem, das 61 62 63

64 65 66

Über Spinozas Ethik (1675–76 [?]), A VI, 3, 385. Siehe Teil I, FN 88. Specimen Inventorum (1688 [?]), A VI, 4, 1618. „At vero hoc ipsum non est in rebus, quia enim Ultima ratio rerum unica est, quae sola continet aggregatum omnium rerum, manifestum est, omnium rerum requisita esse eadem; adeoque et essentiam, posito essentiam esse aggregatum omnium requisitorum primorum, omnium ergo essentia rerum eadem […].“ Quod Ens Perfectissimum sit Possibile (1676[?]), A VI, 3, 573. „Et cum ratio rei plena sit aggregatum omnium requisitorum primitivorum (quae aliis requisitis non indigent) patet omnium causas resolvi in ipsa attributa DEI.“ Specimen Inventorum (1688 [?]), A VI, 4, 1618. Vgl. A VI, 3, 573. Vgl. Di Bella: „Leibniz’s Theory of Conditions“, a. a. O. Vgl. Brief an Th. Burnett, 1699 (?), GP III, 257.

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Stefano Di Bella einen monistischen Kollaps nennt67 und das Leibniz in den bereits angeschnittenen Determinismus führt: Nicht nur die Existenz, sondern auch die Essenz der Welt ist durch den Geist Gottes unweigerlich vorgegeben. Alle Dinge hängen vom ontologisch Einfacheren ab und folgen nahtlos aus diesem. Aus diesem Grund, so Leibniz ausdrücklich, ist die Essenz aller Dinge dieselbe und die Dinge unterscheiden sich nur in Hinsicht auf ihren modalen Status voneinander68. Versteht man also diese Begründungsstrategie als eine Fundierung über verschiedene ontologische Ebenen hinweg bis hin zum Einfachsten, dann wird deutlich, dass Leibniz hier eine neuplatonische Theorie der Ausfaltung vertritt. Wenn nun alle physischen Ursachen direkt in letzter Instanz aus der Abhängigkeit von Gott resultieren, dann vertritt Leibniz wohl ungewollt eine deterministische Position, in der die Welt gerade notwendigerweise aus Gott folgt, ja von diesem nur als Ausfaltung Gottes unterschieden ist. Das christliche Weltbild einer echten Schöpfung wird damit unterlaufen, ebenso wie die Freiheit der Lebewesen und damit die Möglichkeit von Sünde, Schuld und Gerechtigkeit. Dies ist jedoch völlig unakzeptabel für Leibniz. Es liegt also nahe, Leibniz’ Entwicklung wie folgt zu beschreiben: Er wendet sich von dem oben dargelegten, formal-ontologischen Konzept verschiedener Folgerungsrelationen hin zu einer dynamischen Begründung der Kausalität. Dabei wird er den Kausalitätsbegriff in die in den 1680er Jahren entwickelte Theorie der Kräfte einbinden. In diesem Rahmen wird mit dem Konzept der Entelechie zudem eine immanente Zielgerichtetheit in die Substanzen eingebunden. So kann Leibniz der Bedeutung des Prinzips des Besten selbst und der moralischen Notwendigkeit der Schöpfung und des Weltgeschehens auf Ebene der Substanzontologie Rechnung tragen. Diese Abwendung von der Theorie der requisita bedeutet keinesfalls, dass Leibniz diese verworfen hat. Aber es wird ihm klar geworden sein, dass sie keine Antwort anbietet auf die Frage, der sich jede Schöpfungstheorie stellen muss: Wie kann die Schöpfung in dem Maße von dem Schöpfer unabhängig sein, dass Freiheit möglich ist? Es scheint, als ob der Kraftbegriff diese Antwort liefern kann. Dieser hat gegenüber dem formalontologischen Konzept der requisita auch den Vorteil, die Substanzontologie mit Leibniz’ naturphilosophischen Überlegungen zum Wesen der Materie und der Bewegung zu verbinden, mithin mit der Prozessualität des Geschehens selbst. Leibniz begründet die ratio als Existenzgrund durch die Setzung der requisita. In anderen Texten aber wird nicht die ratio, sondern das Prinzip nihil est sine causa auf die Erfülltheit bzw. Existenz der requisita bezogen. So heißt es bspw.: „Nichts ist ohne Ursache, da nichts ohne die Existenz aller requisita ist.“69 Der Begriff des requisitum wird hier zur Begründung der kausalen Bedingtheit aller Dinge in dem ihnen ontologisch Vorhergehenden herangezogen. Damit wird auch der normale 67 68 69

Di Bella: „Leibniz’s Theory of Conditions“, a. a. O., 69. Quod Ens perfectissimum sit possibile (1676 [?]), A VI, 3, 573. „Nihil est sine causa, quia nihil est sine omnibus ad existendum requisitis.“ Catena Mirabilium Demonstrationum de Summa Rerum (1676), A VI, 3, 584. Vgl. Carraud: Causa sive Ratio, a. a. O., 406.

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Teil II: Theorie der requisita

physische Kausalzusammenhang in dem ontologischen Dependenzverhältnis des Zusammengesetzten vom logisch zugrunde liegenden Einfachen begründet – und diese Dependenz ist, aus der Sicht der Geschöpfe, nichts anderes als die Emanation der Welt aus Gott heraus. Jenseits dieser Begründung der Welt in Gott erfüllen die requisita noch eine zweite Funktion, auch wenn Leibniz dies nach der bislang vorliegenden Quellenlage so nie ausdrücklich ausführt: Sie begründen die Äquipollenz, also Gleichmächtigkeit von Ursache und Wirkung: Alles, was in die Wirkung eingeht, bleibt in ihr gesetzt, und nicht mehr als dieses. Damit scheint Leibniz eine eineindeutige Zuordnungsbeziehung zwischen Konstituenda und Konstituens70 etablieren zu wollen, die nicht in einer Identitätsrelation aufgeht und gleichzeitig nicht auf einen Kraftbegriff zurückgeht, den Leibniz zu dieser Zeit noch gar nicht als quantitativen Maßstab für Ursachen und Wirkungen entwickelt hat. Bei der durch die requisita etablierten Relation handelt es sich deshalb nicht um eine Identitätsrelation, weil das Konstituens den Konstituenda nicht ontologisch gleichwertig gegenübergestellt ist. Die Menge aller requisita als vollständiger Grund eines Dinges ist sowohl konstitutiv dafür, dass dieses ist, wie es ist und warum und woraus es ist. Dabei geht die bedingungslogische Ursache dieses Dinges vollständig in diesem auf, ohne dass es ein redundantes Zuviel oder ein mangelndes Zuwenig geben könnte. Zugleich wendet sich Leibniz gegen die mechanistische Philosophie, die alle aristotelischen Ursachentypen auf die physische Bewegung im Raum als Wirkursache reduzieren wollte. Die Wirkursachen jedoch gehen auf ontologische Dependenz zurück. Damit ist die Theorie der requisita auch als Leibniz’ Versuch zu verstehen, ein Modell der Kausalität zu entwerfen, das mechanistische Verursachung inkorporiert und diese zugleich mit anderen Formen der Begründung und Hervorbringung versöhnt, statt gegeneinander auszuspielen oder reduzieren zu wollen. Eine andere Begründung für dieses zentrale Prinzip wird auch in De arcanus motus (1676) angegeben. Dort bezeichnet Leibniz die Idee, dass die gesamte Ursache und der ganze Effekt dieselbe Kraft (potentia) haben, als das „erste mechanische Axiom“. Er vergleicht dies mit der Annahme, dass das Ganze der Summe aller Teile entspricht, welche das erste Axiom der Geometrie ausmacht71. Dennoch sind diese Axiome nicht generell unbegründbar, sie sind nur aus der Physik bzw. Geometrie heraus unbegründbar, für die sie Axiomata sind. Sie müssen vielmehr aus den Begriffen der Ursache und des Effektes hergeleitet werden. Gleichwohl ist es interessant, zu sehen, wie Leibniz Mechanik und Geometrie parallel konzipiert,

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Es handelt sich nicht um eine Konstitutionsbeziehung im modernen Sinne, weil Leibniz keine alternativen Realisierungen desselben Dinges durch unterschiedliche Bedingungen zulässt. De Arcanis Motus (1676), in: Hess, Heinz-Jürgen: „Die unveröffentlichten naturwissenschaftlichen und technischen Arbeiten von G. W. Leibniz aus der Zeit seines Parisaufenthaltes“, in: G. W. Leibniz-Gesellschaft (Hrsg.): Leibniz á Paris (1672–1676), Studia Leibnitiana, Supplementa XVII, Wiesbaden 1978, 183–218, hier 202–205, speziell 203. Daniel Garber macht auf die Bedeutung dieses Textes aufmerksam, siehe Garber, Daniel: Leibniz: Body, Substance, Monad, Oxford 2009, v. a. 237 ff.

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denn er betont explizit den kausalen Charakter der Geometrie72. Dieser Aspekt soll nun kurz näher betrachtet werden. Für die mathematischen Wahrheiten gilt, dass für sie Ursachen und Gründe zusammenfallen. Ein Kreis etwa kann auf eine bestimmte Weise, durch eine Rotation einer endlichen Linie um einen Punkt, erzeugt werden. Dies ist wörtlich zu nehmen, da die Idee eines Kreises in einem konkreten Geist durch eine bestimmte Operation hervorgebracht wird: Aber wenn man sagt, der Kreis sei eine Figur, beschrieben durch eine Gerade, die sich auf einer Fläche so bewegt, dass ein Endpunkt in Ruhe verharrt, so kennt man die Ursache oder Realität des Kreises73.

Hier fallen Herleitungsgrund und Ursache zusammen; im Bereich der Ideen lassen sich Realität, Ursache und Definition einer Idee nicht auseinander halten. In der Geometrie gibt es zwei Möglichkeiten für eine Realdefinition: Entweder man führt die zur Debatte stehende Wahrheit auf eine Identität zurück oder man gibt eine Methode an, nach der das Ding produziert werden kann. Die Analyse des Kreisbegriffs löst diesen in die eingehenden logischen Voraussetzungen und die Konstruktionsmethode auf: Die ratio als Ursache des Kreises ist das Kreisen der Linie um den Mittelpunkt. Beides, Objekte (Punkt und Linie) und Konstruktionsprozess können als requisitum gelten – ebenso ist der Punkt zwar Grund und Ursprung der Linie, nicht jedoch deren Ursache74. Stefano di Bella bringt dies auf den Punkt: „Mit einer solchen Intention durchgeführt, nimmt die Analyse den Wert einer Rekonstruktion der Objektgenese ein: Die Realdefinition wird als eine genetischen Definition bestätigt (si qualifica).“75 Sehen wir uns einen Brief von Leibniz an de Volder aus dem Jahre 1701 als Beispiel dazu an: Um das Wesen dessen [dieses Dinges] zu verstehen, muss der Begriff ihrer möglichen Ursache untersucht werden. Um die Existenz dieses Dinges zu verstehen, ist der Begriff der aktualen Ursache notwendig. Ich untersuche [dies] von einem geometrischen Beispiel ausgehend. Das Wesen der Ellipse (dem Begriff nach) hängt nicht von einer [speziellen] Ursache ab, da verschiedene Ursachen je die gleiche Ellipse ergeben können, ein Kegelabschnitt, ein Zylinderschnitt, eine Bewegung einer Linie. Aber man kann die Existenz dieser Ellipse nicht denken, wenn nicht irgendeine bestimmte Ursache gesetzt wird.76

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„Constructiones igitur figurarum sunt motus; jam ex constructionibus affectiones de figuris demonstrantur. Ergo ex motu, et per consequens a priori, et ex causa. Geometria igitur vera scientia est.“ Brief an Thomasius, 20./30. April 1669, A VI, 12, 31; siehe Fn. 79. „Mais quand on dit que le cercle est une figure decrite par une droite qui se meut dans un plan, en sorte qu’une extremité demeure en repos, on connoist la cause ou realité du cercle.“ Brief an Foucher, 1686, GP I 384 f. Ad Ethicam Benedicti de Spinoza (1678 [?]), A VI, 4, 1774. „Perseguita con questo intento, l’analisi assume il valore di una riconstruzione della genesi dell’oggetto: la definizione reale si qualifica come definizione genetica.“ Di Bella: „Requisitum“, a. a. O., 133 Fn. „Ad concipiendam ejus essentiam requiri conceptum causae possibilis, ad concipiendam ejus existentiam requiri conceptum causae actualis. Praevideo aliquam tuam triplicationem elegantem ab exemplo Geometrico. Ellipseos (verbi gratia) essentia non dependet a causa cum diversae causae possint dare eandem Ellipsin, sectio coni, sectio cylindri, motus fili. Sed existentia

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In einem anderen, ähnlich gelagerten Beispiel unterscheidet Leibniz ganz klar zwischen Generation, d. h. genetischer Konstruktion eines faktischen Dinges, und Konstitution, also der Ermöglichung eines Dinges, ohne dass dessen Existenz gesetzt wird: So ist es nützlich, über Definitionen zu verfügen, die die generative Erzeugung (generatio) eines Dinges involvieren, oder wenigstens, wenn es an solchen mangelt, ihre Konstitution, also eine [Herstellungs-]Weise, durch die das Ding [faktisch] produzierbar oder wenigstens möglich zu sein scheint. […] Eine Hypothese aufzustellen oder die Produktionsweise zu erklären ist nichts anderes als die Möglichkeit des Dinges aufzuzeigen, was nützlich ist, auch wenn das benannte Ding nicht auf diese Weise produziert wurde. Dieselbe Ellipse kann nämlich entweder in einer Ebene mit der Hilfe eines an zwei Punkten angeknüpften Fadens beschrieben werden oder aus dem Schnitt durch einen Konus oder einen Zylinder gedacht werden. Und hat man eine Hypothese oder eine Produktionsweise gefunden, dann verfügt man über eine Realdefinition, aus der andere auch abgeleitet werden können. Aus diesen können die ausgewählt werden, welche am Besten mit den übrigen Dingen übereinstimmen, wenn eine Weise gesucht wird, mit der das Ding tatsächlich produziert wurde.77

Dies gilt auch für die nicht-mathematischen Wahrheiten: Die Existenzbedingungen eines Dinges sind zugleich die für die vollständige Erkenntnis notwendigen Elemente der Definition, also die verschiedenen Bestandteile des Definiens. Auch hier gilt wieder, dass der Grund außerhalb des Dinges selbst liegt: Der Kegel und der Prozess, mit dem der Kegel geschnitten wird, sind beides keine eigentlichen Teile der durch sie konstituierten Schnittfläche, der nun entstandenen Ellipse. Dabei muss Leibniz zwei Aspekte zugeben, in denen sich mathematische Objekte von physischen Objekten unterscheiden: Erstens kann ein Quadrat auf verschiedene Weise konstruiert werden. Wenn aber das Axiom gilt, dass die Ursache die Wirkung vollständig enthält, dann ist auch die Wirkung vollständig auf eine einzige Ursache zurückzuführen. Dies ist vor allem bei physischen Dingen der Fall, die aufgrund ihrer notwendigerweise stets unterschiedlichen materiellen Beschaffenheit eine Individualität aufweisen, die den mathematischen Dingen fehlt und die es eben ermöglicht, ihre Existenz als Wirkung eineindeutig auf eine einzelne Ursache oder einen entsprechend zusammengesetzten Ursachenkomplex78 zurückzuführen. Das Axiom der Entsprechung von Ursache und Wirkung gilt so nur für

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Ellipseos non potest concipi, quin aliqua determinata ponatur causa.“ Leibniz an de Volder, 6. Juli 1701, GP II, 225. „Hinc utile est habere definitiones involventes rei generationem vel saltem, si ea caret, constitutionem hoc est modum quo vel producibilem vel saltem possibilem esse apparet. […] Hypothesin porro condere seu modum producendi explicare, nihil aliud est quam demonstrare rei possibilitatem, quod utile est, etsi saepe res oblata tali modo generata non sit; eadem enim ellipsis vel in plano ope duorum focorum et fili circumligati descripta, vel ex cono, vel ex cylindro secta intelligi potest; et una reperta hypothesi seu modo generandi habetur aliqua definitio realis, unde etiam aliae duci possunt, ex quibus deligantur quae caeteris rebus magis consentaneae sint, quando modus quo res actu producta est quaeritur.“ De Synthesi et Analysi Universali seu Arte Inveniendi et Judicandi (1683–85[?]), A VI, 4, 541 ff. Siehe dazu und zum folgenden Absatz Di Bella, Stefano: The Science of the Individual: Leibniz’s Ontology of Individual Substance, Dordrecht 2005, 83 f. So wie sich im Kräfteparallelogramm verschiedene Kräfte zu einer einzelnen Kraft zusammensetzen.

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Dinge, die mittels des Prinzips der Identität eineindeutig von anderen Dingen unterschieden werden können, also für faktisch existierende Gegenstände, nicht aber für rein ideelle Dinge79. Zweitens behandelt die Mathematik ideelle Dinge, im Bereich des unendlich Kleinen ebenso wie im Endlichen: Wenn einer auch keinesfalls unendliche oder endlich kleine Linien in metaphysischer Strenge als reelle Dinge zulässt, er [kann] sich dennoch ihrer sicher als ideale Begriffe bedienen, die die Schlussweise abkürzen […].80

Die mathematischen Verhältnisse dienen dementsprechend zur abstrakten Modellierung von mereologischen Verhältnisse. Punkte sind dann als Voraussetzungen erst mit der Linie gegeben und auch wenn sie demnach natura prius sind, so sind sie keinesfalls ontologisch eigenständige Entitäten. Sie entstehen in der Teilung einer Linie als neue Begrenzungen der neu entstandenen Linienabschnitte81. Es ist offenkundig, dass Artefakte durch einen solchen Konstruktionsprozess entstehen. Doch wie verhält es sich mit den natürlichen Gegenständen, einem Stein etwa oder einem Baum? Ein Stein wirft keine besonderen Probleme auf, da er seine spezifische Essenz durch rein quantitative Veränderungen hindurch erhält. Bleiben noch die Lebewesen, die paradigmatische Beispiele für Entelechien sind und genuin qualitativen Veränderungen unterliegen – beispielsweise das Krank-sein oder das Vater-sein sind keinesfalls durch quantitative Veränderungen herstellbare Qualitäten. Es wird in dem Teil über die Lehre von den Organismen gezeigt (Teil VI), dass die Lebewesen von Leibniz als unendliche Maschinen gedacht werden. Als solche benötigen sie einen unendlich komplexen Herstellungsprozess, der zugleich als requisita die gesamte Welt umfassen würde – also einen auf formeller Ebene vollständigen Begriff, der für Menschen nicht konstruierbar und nicht erfassbar ist. Dies geht mit Leibniz’ Theorie der Individuen einher, die nur durch eben solche vollständigen Begriffe denkbar sind. Leibniz unternimmt einen beträchtlichen Aufwand, diese Konstitutionsbedingungen auszudifferenzieren und konstruiert dazu ein umfassendes Behelfsvokabular. Die requisita „gehen“ dann auf unterschiedliche Weise in das Ding „ein“, werden in dieses „hineingetragen“ oder „tragen zu diesem bei“: Leibniz nennt dies „inferens“, „importans“, „conferens“, „coinferens“, „requisitum“. In einem Text zu diesem Thema hält Leibniz kurz inne, sich offenbar dieses problematischen Gebrauchs von Kunstwörtern bewusst und schreibt in einem etwas resignierten Tonfall: „Die Mangelhaftigkeit der Sprachen ist erstaunlich, die lateinischen Beispiele

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Vgl. Brief an de Volder, 6. Juli 1701, GP II, 226. „Si quelcun n’admet point des lignes infinies et infiniment petites à la rigueur metaphysique et comme des choses reelles, il peut s’en servir seurement comme des notions ideales qui abregent le raisonnement commune […].“ Brief an Varignon, 2. Februar 1702, GM IV, 92. „Puncta ista non praeexistere ante divisionem actualem, sed nasci divisione.“ Pacidius Philalethi, A VI, 3, 564; siehe auch: „Dans l’ideal ou continu le tout est anterieur aux parties, comme l’unité Arithmetique est anterieure aux fractions qui la partagent, et qu’on y peut assigner arbitrairement, les parties ne sont que potenzielles“, Brief an Remond, Beilage vom Juli 1714, GP III, 622.

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für Ursache haben [im Deutschen] keine hinreichend gebräuchlichen und angemessenen Namen, die inferens, conferens, importans bedeuten.“82 Betrachten wir nun einen von den zahlreichen Versuchen, vor diesem Hintergrund einer Konstitution durch ontologische Dependenz und mit Hilfe dieses Vokabulars den Begriff der Ursache zu definieren: Die Ursachen folgen dem Wesen der Dinge [rerum genera, wörtl.: den Arten der Dinge]. Jede Ursache trägt etwas zu dem Effekt bei (confert). Dieses jedoch ist nicht ausreichend, denn es kann auch anderes zu dem Effekt beitragen, der jedoch aus diesem nicht folgt; es ist leicht zu sehen, dass andere requisita verschwinden (desint) oder vielmehr diesen Effekt behindern und so wird daher erforderlich (requiritur), dass der Effekt auch folgt. Daher ist die Ursache ein erfolgreiches Zusammenbringen (conferens cum successu). Dieses Zusammenbringen ist das, was nicht absolut von diesem Ding erfordert wird, jedoch wird dieses nach gewissen Modi des Hervorbringens erfordert. Die Ursache also ist das requisitum des Dinges nach dem Modus des Hervorbringens, nach dem es tatsächlich produziert worden ist.83

Es gehen also auch Momente in den Effekt oder in das Ding mit ein, die nur für dessen Hervorbringung, nicht aber für dessen Wesen selbst notwendig sind – damit mag beispielsweise die Strecke gemeint sein, deren Rotation den Kreis zwar hervorbringt, die aber danach nicht in diesem als gegenständlicher Teil aufzufinden ist. Die Ursache ist dann ein erfolgreiches Zusammentragen aller in die Wirkung eingehenden Teile (causa est conferens cum successu), gegenständlich wie auch formal, womit das Zusammengehen aller vier aristotelischen Ursachentypen gemeint sein mag. Das conferens wird nicht auf absolute Weise von dem Ding vorausgesetzt, sondern nur als eine Art des Hervorbringens (modus producendi). Es ist so ein vermitteltes, also selbst wieder zusammengesetztes requisitum, das kein direkter Teil des Dinges ist, dieses aber hervorbringt bzw. „zu diesem zusammenträgt“ (conferens), während die nichtursächlichen requisita unvermittelt in das Ding eingehen – als dessen unmittelbar im zusammengesetzten Begriff als dessen Teile gegebenen Denkbedingungen. Es sind also diejenigen requisita, die bloß von Natur her dem Ding vorhergehen, von solchen zu unterscheiden, die auch in der Zeit vorhergehen84. Mittelbare requisita dagegen sind selbst wieder zusammengesetzt und kontextualisiert, d. h. sie sind interdependent von anderen requisita abhängig: Das Zusammentragen (conferens) ist: Das Hineinführen (importans) von requisita. Jedes unmittelbare requisitum ist [ebenfalls] ein Zusammentragen (conferens), denn es führt andere 82 83

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„Mirus est defectus linguarum, exempli causa Latini non habent nomina usitata satis et apta quae significent inferens, conferens, importans.“ Potest Aliqua Notio esse Alia Generalior ut Tamen non sit Simplicior (1679 [?]), A VI, 4, 304 f. „Rerum Genera sequuntur Causae. Omnis causa confert aliquid ad Effectum. Hoc tamen non sufficit, nam potest aliquid conferre ad effectum, qui tamen non sequitur; quod scilicet alia requisita desint, aut quaedam impediant, itaque requiritur, ut Effectus etiam sequatur. Proinde causa est conferens cum successu. Conferens est quod non quidem absolute ad rem requiritur, requiritur tamen ad eam secundum certum producendi modum. Causa igitur est requisitum rei secundum eum producendi modum quo reapse producta est.“ Definitiones: Aliquid, nihil (1679 [?]), A VI, 4, 308. vgl. die fast wortwörtlich identische Formulierung: Ebd., 303 ff. Siehe dazu Piro, Francesco: „For a History of Leibniz’s Principle of Sufficient Reason. First Formulations and Their Historical Background“, in Dascal, Marcelo (Hrsg.): Leibniz: What Kind of Rationalist?, Dordrecht 2009, 463–478, hier 470.

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requisita hinein. Ich denke, man kann zeigen, dass jedes requisitum darin besteht, andere requisita hineinzuführen […].85

Leibniz betont die Notwendigkeit der Aktivität, die aus einem unvermittelten requisitum in das Ding eingehen muss, um dieses requisitum zu der eigentlichen Ursache des Geschehens zu machen, etwa im Unterschied zu den bloßen Rahmenbedingungen. Eine Ursache ist derjenige Teil eines Komplexes an requisita, der die identitätsstiftenden requisita in das Ding „hineinträgt“86. Leibniz hebt auch die Bedeutung eines aktiven Momentes in der Hervorbringung einer Sache vor, die sich von den sonst bloß mit diesem zusammengetragenen Bedingungen (den „begleitenden requisita“) unterscheidet: „Die Ursache ist die erfolgreich zusammentragende Tat (agendo). […] Das Handelnde (agens) ist das, aus dessen Zustand eine weitere Veränderung folgt“87. Es ist genau dieses Moment aus allen Bedingungen, dessen Aktivität wir als Ursache bezeichnen, denn es folgt der Satz: „Der zusammentragende Akt oder die erfolgreiche Zusammentragung müsste einen speziellen Namen haben.“88 Es reicht also nicht, bloß die beiden Endpunkte einer Linie zu erfassen, die Linie muss auch ursächlich in einer aktiven Handlung aus diesen Punkten konstruiert werden. Auch wenn der Punkt der Linie zugrunde liegt, kann er doch erst ex post facto als Ursache der Linie gelten, denn die Linie muss als Wirkung verstanden werden, als konstruiertes Ganzes, das auf seine ursächlich wirkenden Bedingungen hin erschlossen wird89. In demselben Text folgert Leibniz auch eine temporale Dimension der ontologischen Abhängigkeiten: Dem Späteren kommt ein höherer Grad an Perfektion zu als dem Früheren. In diesem Sinne wechselt Leibniz hier (und auch in anderen verwandten Texten) von der ontologischen Ebene unmittelbar auf die physische. Die schließlich entscheidende Definition der Ursache als requisitum bezieht die Aktivität der Produktion ein: „Die Ursache ist das requisitum, nach dessen Weise 85

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„Conferens est: Importans Requisiti. Omne requisitum non immediatum est conferens, est enim importans alterius requisiti. Imo potest demonstrari omne requisitum esse importans alterius requisiti […].“ Potest Aliqua Notio, A VI, 4, 304 f. Erinnern wir uns auch an die oben bereits angeführte Definition der vermittelten und unvermittelten requisita: „Requisitum est conditio natura simplicior, seu ut vulgo vocant natura prius. Conditio est, quo remoto aliquid tollitur. Requisita rerum alia sunt mediata, quae per ratiocinationem investiganda sunt, ut causa; alia sunt immediata ut partes, extrema et generaliter quae rei insunt.“ Definitiones Notionum Metaphysicarum atque Logicarum (1685 [?]), A VI, 4, 627. Siehe auch: „Requiriturne ad causam ut conferat agendo tempore ipsius productionis. Nam alioqui multa longissime remota dici possunt agendo contulisse. Et tamen dici quodammodo potest Adamum esse causam eorum quae a nobis fiunt. Videtur causa definiri posse conferens agendo secundum eum producendi modum quo res actu producitur, seu actu conferens agendo. Hinc quod est requisitum activum secundum omnem producendi modum, utique secundum hunc quoque erit, ergo erit causa. Hinc Requisitum activum absolute, est causa; posito quod res existat.“ Potest Aliqua Notio, A VI, 4, 305. „Causa est agendo conferens cum successu. […] Agens est ex cujus statu sequitur mutatio alterius“, ebd. „Actu conferens seu conferens cum successu, deberet habere nomen peculiare“, ebd. Auch substanzontologische Herleitungen folgen einem analogen Argumentationsprinzip. Siehe bspw. den ersten Paragraphen der Monadologie: Weil es Zusammengesetztes gibt, muss es auch Einfaches geben.

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das Ding produziert wurde. Es ist besser als Wirkursache zu bezeichnen.“90 Hier werden Prinzipien, die als formale Handlungsanleitung fungieren, als Ursache begriffen, aber sie müssen mit echter Aktivität verbunden werden. Dies bereitet schon den Wechsel von einer statischen Theorie der Kausalität als formal-ontologische Bedingungsrelation zu einer dynamischen Theorie der Kräfte vor. Die hier genannte Produktion, d. i. Aktivität bezieht sich unzweifelhaft auf die Kraft, die Leibniz schon um 1678 als grundlegenden Begriff der Mechanik ausgemacht hat. In den mathematischen und notwendigen Wahrheiten dagegen ist die ratio in ihnen selbst enthalten und demnach ist ihre Existenz bzw. Gültigkeit unmittelbar gegeben. So kann man einige Textstellen als Indiz dafür lesen, dass Leibniz seit den späten 1670er Jahren zwischen Grund und Ursache ausdifferenziert. Die Ursache eines physisch bzw. phänomenal gegebenen Dinges liegt außerhalb diesem und in dem zeitlich vorhergehenden Herstellungsprozess; Substanzen aber haben jenseits aller physischen Kausalverkettungen einen Seinsgrund, der in ihnen selbst liegt, und einen wahren, d. h. metaphysisch letzten, irreduziblen Seinsgrund, der in Gott liegt. Leibniz antwortet auf die Überlegung, ob der Satz „nichts ist ohne Grund“ die allumfassende kausale Determination bedeuten könnte: Zu antworten ist, dass freilich nichts ohne Grund ist, aber deshalb ist nicht nichts ohne Ursache. Denn die Ursache ist der Grund des Dinges außerhalb des Dinges, oder der Grund der Produktion des Dinges: Es kann aber der wahre Grund des Dinges im Ding selbst sein. Und diesen Ort hat er [der Grund] in all jenen [Dingen], die notwendig sind, wie mathematische Wahrheiten, welche den Grund in sich selbst enthalten; ebenso Gott, der als einziger von den aktualen Dingen sich selbst ein Existenzgrund ist.91

Hier wird deutlich, dass der Satz vom Grund verschiedene Arten von Gründen gleichermaßen betrifft und damit einen Geltungsbereich besitzt, der weit über die physische Welt hinausgeht. Die Ideen und Gott sind die zwei Seinsbereiche, deren Gegenstände über keine externe Ursache mehr verfügen, ohne deswegen aber als unbegründet oder ursachenlos gelten zu können – ihr Grund liegt in ihnen selbst. Für die konkreten, existierenden Dinge jedoch gilt: „Die Wahrheit der Ursache ist der Grund der Wahrheit des Effektes.“92 Dies kann auch auf die Definition des Grundes als Summe der gesetzten requisita übertragen werden. Dabei sind es wir Menschen, die dem aktiven requisitum, dem aktiven conferens cum successu, den Namen „Ursache“ geben: 90

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„Causa est requisitum secundum eum modum quo res producta est. Malim efficiens appellare.“ Definitiones Notionum Metaphysicarum (1687[?]), A VI, 4, 629. Siehe auch: „Conferens est producens relevantis. Sed revera omnis causa vel conditio relevantis, est relevans; non tamen omne relevans est causa relevantis, ideo non omne relevans est conferens. Causa est conferens cum successu, hoc est producens requisiti in ea hypothesi seu secundum eum existendi modum quo res revera extitit.“ Ebd., 872. Vgl. ebd., 940. „Respondendum est, nihil quidem esse sine ratione, sed non ideo nihil esse sine causa. Nam causa est ratio rei extra rem, seu ratio productionis rei: potest vero ratio rei esse intra rem ipsam. Idque locum habet in illis omnibus quae sunt necessaria, quemadmodum Veritates mathematicae quae rationem in se ipsis continent; item Deus, qui solus rerum actualium sibi ipsi ratio est existendi.“ Elementa Verae Pietatis, sive de amore Dei Super Omnia (1677–78 [?]), A VI, 4, 1360. „Veritas causae est ratio veritatis effectus.“ Potest Aliqua Notio, A VI, 4, 305.

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Ein Prinzip ist das requisitum, das auf irgendeine Weise das erste unter vielen ist, die zu einer Handlung zusammengeführt wurden. Eine Ursache nennen die Menschen das, was etwas im Handeln zusammengeführt hat.93

Ein Prinzip ist also dasjenige requisitum, das die untergeordneten requisita organisiert, die dann die Ursache des Dinges ausmachen, so wie der Bauplan eines Hauses als dessen Prinzip gelten kann und bestimmt, wie die das Haus bauenden Aktivitäten koordiniert sein müssen. Die Ausdifferenzierung der verschiedenen Aspekte des Hervorbringens in Material-, Formal-, Final- und Wirkursachen wird durch den menschlichen Verstand unternommen. Demnach liegt es an uns, zu definieren, was wir als Effekt und was als Ursache begreifen. Die requisita weisen sich nicht selbst als Ursache oder Prinzip aus, aber wir benennen nur diejenigen requisita als Wirkursache, die auch aktiv wirken. Dies bestätigt die oben bloß in einem Beispiel postulierte Vielfalt der requisita (Prinzip, Substanzen und Konstruktionsprozess). Dies mag auch erklären, warum Leibniz in manchen Texten das moralische Streben intelligenter Wesen, was man eigentlich als finale Kausalität bezeichnen würde, unter die Wirkursachen subsumiert94: Die Ausrichtung auf ein Ziel ist das besondere Merkmal von Finalursachen, während prinzipiengeleitete Aktivität je nach Kontext sowohl wirkursächlich als auch final beschrieben werden kann. Je nach ontologischer Bezugnahme und Beschreibungsebene kann man beide Aspekte mal mehr, mal weniger voneinander trennen. Im Bereich des Physischen können wir Aktivität von Zielgerichtetheit begrifflich voneinander trennen, während wir bspw. bei Lebewesen die Funktionalität von Organen durchaus als ‚statische’ Form der Finalität (Zweckhaftigkeit, nicht Zweckmäßigkeit im kantischen Sinne) verstehen können. Vor diesem Hintergrund können wir zu einem Zitat zurückkehren, das oben nur verkürzt wiedergegeben wurde: Nichts ist ohne Ursache, da nichts ohne die Existenz aller requisita ist. Die ungeschmälerte Wirkung ist ebenso stark (aequipollet) wie die vollständige Ursache, weil ein gewisser Ausgleich (aequatio) zwischen Ursache und Wirkung bestehen muss, da man von der einen zur anderen übergeht (transiens). Dort besteht freilich dieselbe Stärke wie hier und es kann kein anderes Maß gefunden werden.95

Von Gleichmächtigkeit kann nur in Bezug auf transitive Ursachen die Rede sein. Es scheint so, als ob Leibniz hier die transitive Kausalität des Kausalnexus mit dem dargelegten ontologischen Dependenzverhältnis in Beziehung setzen will. Nichts kann ohne die Totalität seiner requisita existieren, weil diese (als Ursache) eben in Gänze in die Bestimmung eines Dinges (als Effekt) eingehen. Diese Idee ist 93 94

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„Principium est requisitum aliquo modo primum inter plura quae ad aliquam actionem contulerunt. Causam vocant homines, id quod contulit agendo.“ Ebd., A VI, 4, 304 f. Bspw. im Specimen Demonstrationum Catholicarum (1685 [?]), A VI, 4, 2325. Siehe dazu ausführlicher Rozemond, Marleen: „Leibniz on final causation“, in: Samuel Newlands / Larry M. Jorgensen (Hrsg.): Metaphysics and the Good: Themes From the Philosophy of Robert Merrihew Adams, Oxford 2009, 272–294. „Nihil est sine causa, quia nihil est sine omnibus ad existendum requisitis. Effectus integer æquipollet causæ plenæ, quia æquatio quædam debet esse inter causam et effectum, transiens ex uno in aliud. Ea vero consistit in hac æquipollentia, nec alia mensura reperiri posset.“ Catena Mirabilium Demonstrationum de Summa Rerum (1676), A VI, 3, 584.

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hier noch unvollständig ausgedrückt und wird durch die Kräftelehre entschieden erweitert. Aber diese Idee, Ursache und Effekt wenigstens auf formaler Ebene miteinander vergleichbar zu machen, erlaubt es Leibniz, zu betonen, dass man eben auch sagen kann, dass der vollständige Effekt die vollständige Ursache ausdrückt96. Alle Dinge und Ereignisse verweisen aufeinander, oder konkreter ausgedrückt: Sie enthalten Spuren aller vorangehenden und nachfolgenden Dinge und Ereignisse. Diese Grundidee wird Leibniz immer wieder hervorheben und sie spielt eine große Rolle, wenn er die Vorstellung des Kontinuums des Raumes auf die große Kette der Wesen und den Kausalnexus selbst ausdehnt. Sie erlaubt die metaphysisch begründeten Annahmen einer umfassenden Naturgesetzlichkeit und Rationalität allen Geschehens und ist die metaphysische Vorbedingung, Kausalität in physikalisch präzisen, formalisierbaren Begriffen ausdrücken zu können. Da die Ursache auf nominaler Ebene die ratio des Effektes ist, ist auch die Verbindung zwischen beiden rational. Die Vollständigkeit der Bedingungen und das Fehlen jeder Redundanz sichern sozusagen eine eineindeutige Zuordnung, die sich gleichwohl nicht messen lässt („es kann kein Maß gefunden werden“): Die Ursache „drückt“ den Effekt aus, jeder Effekt enthält die erkennbaren „Spuren“ seiner Ursache. Die Expressionsbeziehung wird schließlich von Leibniz als eine eineindeutige Zuordnungsbeziehung verstanden. Das wiederum bedeutet, dass es im Prinzip keiner anderen Mittel bedürfte als des Verstandes, um die Beziehungen zwischen Ursache und Effekt oder zwischen einem Ding und seinen Produktions- bzw. Entstehungsbedingungen zu identifizieren, vor allem, indem man von den requisita absieht, die als Materialursachen und als anleitende Prinzipien in das Ding eingehen. Wenn man von B auf A inferentiell schließen kann und A zudem B zeitlich vorhergeht, A eine in B übergehende Aktivität mitbringt und B in der ontologischen Ordnung gleichwertig ist, dann bedeutet dies, dass man A als die Ursache von B benennen kann97. Nehmen wir Vincent Carraud beim Wort: Der Effekt ist (vollständig) erklärt, wenn man zeigt, dass er vollständig und ohne Rest der gesamten Ursache gleich ist, künftig mit der Gesamtheit der requisita identifiziert wird. Der Effekt entspricht dem Aggregat all seiner requisita, die Leibniz Ursache nennt, evidentermaßen ohne jede Referenz auf die Wirksamkeit. Das Prinzip der Äquipollenz lässt sich also wie die Gleichung der Existenz und der Gesamtheit der Bedingungen dieser Existenz denken. Diese, gelenkt von dem Prinzip des hinreichenden Grundes, führen uns zum Prinzip des Besten.98

Akzeptiert man also das Aggregat der requisita als ratio und die dargelegte Fundierung der Äquipollenz von Ursache und Wirkung in der Totalität der erfüllten 96 97 98

„Omnis effectus integer repraesentat causam plenam“, Quid sit Idea (1677[?]), GP VII, 264. Vgl. Rauzy: „Quit sit natura prius?“, a.a.O., 44. Dort wird auch darauf hingewiesen, dass wir in den Texten der Akademieausgabe VI, 4 erkennen können, dass Leibniz causa und ratio nicht einfach verwechselt hat, wie Russell und Mates behaupten. „L’effet est (parfaitement) expliqué quand on montre qu’il égale la cause entière, absolument sans rest, désormais identifiée à la totalité des réquisits. L’effet égale l’agrégat de tous ses réquisits, que Leibniz apelle cause, évidemment sans référence aucune à l’efficience. Le principe d’equipollence se laisse donc penser comme équation de l’existence et de la totalité des conditions de cette existence. Celles-ci, gouvernées par le principe de raison suffisante, conduiront au principe du meilleur.“ Carraud: Causa sive Ratio, a. a. O., 409.

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requisita, dann kann man sagen, dass die Äquipollenz selbst rational, d. h. in rationes begründet ist. Da die Rationalität eines der Perfektionskriterien ist, nach denen die requisita der Welt ausgewählt und angeordnet wurden, ist die Perfektion der Welt entlang des Prinzips des Besten begründet. Da dies zugleich die Durchrationalisierung der Welt bedeutet, ist auch das panlogistische Moment im Denken von Leibniz von der deontischen Ontologie der Welt nicht zu trennen. Es liegt auf der Hand, dass die ratio dieser Äquipollenz letztlich wieder im Schöpfungsgedanken und -willen Gottes zu finden ist. Leibniz kann so behaupten, dass die weltlichen Dinge in letzter Instanz durch nichts anderes bestimmt werden können als durch den Willen Gottes: „Nichts anderes sind die Bewegungsgesetze als Gründe des göttlichen Willens, der den Effekt der Ursache angleicht (assimilat), so sehr wie der Grund der Dinge offenbar ist.“99 Wenn man nun aber die Wirkursache als diejenigen requisita versteht, die aktivisch in das Ding eingehen, dann muss Leibniz diese formale Ontologie durch eine umfassende Theorie der Aktivität erweitern. Dies scheint der Grund zu sein, warum er sich von diesen formalen Überlegungen ab- und der Dynamik zuwendet. Leibniz wird dann einen derart vorbereiteten Kausalitätsbegriff im Rahmen seiner Theorie der Kräfte und der substanziellen Aktivität ausarbeiten (siehe Teil IV). Während in diesem frühen Stadium der leibnizschen Metaphysik die Substanz vor allem über den Einheitsbegriff gedacht wird, so sind in den späteren Schriften Aktivität und Substanzialität austauschbar100. 1.3. Requisita als Denk- und Beweisbedingungen In der Demonstratio propositionum primarum101, einem Text von 1671–72, argumentiert Leibniz für die Beweisbarkeit der grundlegenden Propositionen und fügt dann einige seiner eigenen Beweise hinzu, unter anderem dafür, dass nichts ohne Grund ist. Hier wird der Satz vom Grund wiederum als ein epistemologisches Prinzip verstanden: Ich bin der Meinung, dass keine Proposition ohne Beweis akzeptiert werden sollte und kein Wort ohne Erklärung; aber nur insofern, als die Verzögerung der Untersuchung des Gegenstandes toleriert werden kann.102 99

„Nihil aliud esse leges motus, quam rationes divinae voluntatis, qui effectus causis assimilat, quantum patitur ratio rerum.“ De Corporum Concursu, in: Fichant, Michel: La Reforme de la Dynamique, a. a. O., 134. 100 „Il n’y a que les substances qui agissent et il n’y a point de substances qui n’agissent.“ Brief an Le Long, 14. März 1713. Zitiert nach Fichant, Michel: „L’Invention Métaphysique“, in: Leibniz: Discours de Métaphysique, suivi de Monadologie et Autres Textes, hrsg. von ders., Paris 2004, 7–140, hier 44. 101 Demonstratio Propositionum Primarum (1671–72 [?]), A VI, 2, 479–486. (Für diese Stelle findet sich eine englische Übersetzung mit Kommentar in: Dascal: Leibniz: Language, Signs and Thought, a. a. O., 149.) 102 „Ego ita sentio, nullam propositionem accipiendam esse nisi probatam, nec vocem nisi explicatam; quantum scilicet res moram fert inquirendi.“ Demonstratio Propositionum Primarum, A VI, 2, 479.

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Teil II: Theorie der requisita

Wir sehen, dass hier die oben angegebene diskursive Funktion des principium reddendae rationis gemeint ist. Im Rahmen der äußeren, beispielsweise zeitlichen Restriktionen einer Argumentation ist es notwendig und sinnvoll, Symbole oder Termini zu verwenden, die komplexe Argumentationen enthalten und so abkürzen. Theoreme sind insofern nützlich, als sie mehrere Dinge gleichzeitig ausdrücken können. Eine rationale Erörterung (ratiocinatio) dagegen verbessert unsere Gedanken nur insoweit, als sie diese ordnet. Die den Menschen zugänglichen Termini werden durch Definitionen klar und deutlich erfassbar gemacht103, ansonsten durch Symbole oder Worte in abkürzender Weise bezeichnet. Axiomata werden nicht durch sich selbst verstanden (per se notum), sondern sie sind eindeutig definierbar – eine Definition liefert gleichsam die analysis der Proposition und macht sie erst einsichtig. Die cartesianische Vorstellung einer intuitiv und in toto gegebenen, klaren und distinkten Idee wird von Leibniz abgelehnt – diese klare und distinkte Idee muss erst in der Analyse erarbeitet werden. Erst dann kann eine Proposition die grundlegende Definition einer ganzen Wissenschaft sein. Nur in den seltensten Fällen haben wir eine klare Einsicht in eine grundlegende Idee, doch eine Proposition ist nur dann ohne Analyse bzw. Definition klar einsehbar, wenn sie aus identischen Begriffen, also tautologisch, aufgebaut ist104. Eine Definition ist, dies betont Leibniz mehrfach, mithin nichts anderes als eine Auflistung der requisita eines Dinges105. Hier scheint wieder der aristotelische Wissensbegriff durch, der Wissen als das Wissen um den Grund der Sache begreift – Leibniz versteht den Grund hier eben auch als Summe der erfüllten requisita: Um eine Sache zu kennen, muss man die requisita dieser Sache bedenken, das heißt alles das, was erforderlich ist, diese von jeder anderen Sache zu unterscheiden. Und das ist das, was man wechselseitig Definition, Natur, Eigenschaft (proprieté) nennt.106

Diese Verbindung ist gleichwohl bloß eine Nominaldefinition, welche die Möglichkeit der Sache nicht umfasst. Die Analyse aber erreicht ein Ende, sobald alle requisita erfasst sind: Wenn man die Analyse bis zum Ende vorantreibt, also wenn man die requisita erwogen hat, die in die Erwägung der Naturen eingehen und die man nicht versteht als durch sie selbst, die ohne requisita sind und die nichts benötigen außer sich selbst, um verstanden zu werden, dann ist man bis zu einer perfekten Erkenntnis der vorgestellten (proposée) Sache vorgestoßen.107 103 „Definitio enim nihil aliud est, quam significatio verbis expressa, sive brevius, significatio significata.“ Vorrede zur Ausgabe des Marius Nizolius (1670), GP IV, 140. 104 Diese Punkte hat Marcelo Dascal ausführlicher dargestellt, vgl. ders.: Leibniz: Language, Signs and Thought, a. a. O., 61–80. 105 Confessio Philosophi, A VI, 3, 133, vgl. auch: Vgl. auch: Brief an Malebranche, zwischen 1674 und 1711 (?), GP I, 326. Ebenso GP VII, 293. Ebenso: „Requisitum est quod definitionem ingredi potest.“ Elementa de Calculum (1678–79 [?]), A VI, 4, 153. 106 „Pour connoistre une chose, il faut considerer tous les requisits de cette chose, c’est à dire tout ce qui suffit à la distinguer de toute autre chose. Et c’est ce qu’on appelle Definition, Nature, Proprieté reciproque.“ De la Sagesse, GP VII, 83. 107 „Quand on poussé l’analyse à bout, c’est à dire quand on a consideré les requisits qui entrent dans la consideration de quelques natures qu’on n’entend que par elles mêmes qui sont sans

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Eine adäquate Erkenntnis bedarf also einer Erkenntnis aller requisita108, bis hin zu denen, die selbst keine weiteren requisita erfordern – so wie es einen vollständigen Grund geben muss, der keinen weiteren Grund erfordert. Letztlich müsste der Mensch mit diesem für ihn freilich unmöglichen Erkenntnisakt alle in Gott gesetzten requisita erkennen – und damit Gott selbst. Deswegen sind die vollständigen Begriffe für den Menschen nicht erkennbar. Hier tritt wieder ein Aspekt in die Debatte, der bereits angesprochen wurde: die Bestimmung der Identität eines Dinges. Im Rahmen der Mechanik, so hatten wir oben festgestellt, ist die physische Identität auf die Bewegungen zurückzuführen, welche dem Gegenstand seine Form gegeben haben. Im Rahmen dieser Epistemologie aber ist die Identität des Gegenstandes als eben dieses bestimmten Gegenstandes darauf zurückzuführen, dass er sich von anderen folgendermaßen unterscheidet: Haben wir einmal ein Mittel gefunden, um etwas von allen anderen Dingen zu unterscheiden, müssen wir diese erste Regel auf die Überlegung zu jeder Bedingung oder [jedem] requisitum anwenden, das in dieses Mittel eingeht, und wir müssen alle requisita von jedem requisitum bedenken. Und das ist es, was ich die wahre Analyse oder Zergliederung der Schwierigkeiten in mehrere Teile nenne, die noch nicht erklärt wurde.109

Die in einen Begriff eingehenden Unterbegriffe werden hier als requisita dieses Begriffs verstanden, wobei die Verschiedenheit der requisita die Grundlage für die Verschiedenheit der durch sie bedingten Dinge ist110. Dabei stellt sich die Frage – und sie wurde auch tatsächlich von Malebranche in einem Brief an Leibniz gestellt – ob denn bei verschiedenen Dingen ausschließlich verschiedene requisita verstanden würden. In seiner Antwort verneint Leibniz dies: Es ist unmöglich, dass man die Denkbedingungen einer Sache kennt, ohne zugleich die einer anderen Sache zu verstehen111. Dies entspricht wiederum der Deutung, dass requisita von konkreten Begriffen keine nur auf Individuen zutreffenden Namen sind, sondern individuelle Zusammensetzungen von anderen Unterbegriffen.

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requists et qui n’ont besoin de rien hors d’elles, pour estre conceues, on est parvenu à une connoissance parfaite de la chose proposée.“ Ebd. vgl. Brief an Thomas Burnett, 1699 (?), GP III, 257. „Ayant une fois trouvé un moyen de la distinguer de toute autre chose, il faut appliquer cette même regle premiere à la consideration de chaque condition ou requisit qui entre dans ce moyen, et considerer tous les requisits de chaque requisit. Et c’est ce que j’appelle la vraye analyse ou distribution de la difficulté en plusieurs parties qui n’a pas encor esté expliquée.“ De la Sagesse, GP VII, 83. Vgl. Elementa Calculi (1679), A IV, 4, 196: „Caeterum regula artic. 4. tradita sufficit ad omnes res totius mundi calculo nostro comprehendendas, quatenus de iis notiones distinctas habemus, id est quatenus earum requisita quaedam cognoscimus, quibus per partes examinatis, eas a quibuslibet aliis possumus distinguere, sive quatenus earum assignare possumus definitionem. Haec enim requisita nihil aliud sunt quam termini quorum notiones componunt notionem quam de re habemus. Possumus autem plerasque res ab aliis discernere per requisita, et si quae sunt quarum requisita assignare difficile sit, iis interim ascribemus numerum aliquem primitivum, eoque utemur ad alias res hujus rei ope designandas.“ „Mais ainsi je n’accorde pas la premiere proposition de ce prosyllogisme, sçavoir, que deux choses estant reellement distinctes, tous les requisits de l’une peuvent estre tousjours entendus, sans entendre les requisits de l’autre.“ Brief an Malebranche, undatiert, GP I, 323.

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Teil II: Theorie der requisita

Gemäß dem Identitätsprinzip werden die ursprünglichen requisita als von der physischen Ursache verschieden begriffen, zumal diese nur „begleitende“ requisita sind (s. o.), aber sie begründen diese und gehen in sie ein. Es ist unmöglich, die spezifische Identität eines Dinges oder dessen Existenz zu denken, ohne die Beziehungen oder Verknüpfungen zwischen seinen requisita, die auch andere Dinge begründen, zugleich mitzudenken112. So können wir nun die Frage, wie begriffliche und kausale Relationen zusammenhängen, erneut angehen. Sofern die requisita der Ideen und Begriffe nichts anderes als Allgemeinbegriffe sind, so umfassen sie auch die möglichen Weisen und die benötigten Mittel zur Produktion der Dinge. Sie gehen, soweit sie untereinander kompatibel sind, in die Kausaldefinition eines Begriffs ein: Wir erkennen die Möglichkeit einer Sache aber entweder a priori oder a posteriori; und zwar a priori, wenn wir den Begriff in seine requisita oder in andere Begriff auflösen, deren Möglichkeit bekannt ist, und wenn wir wissen, dass nichts in ihnen inkompatibel ist; und das geschieht unter anderem, wenn wir die Art und Weise erkennen, auf welche die Sache erzeugt werden kann, weshalb vor anderen die Kausaldefinitionen nützlich sind.113

Die Widerspruchsfreiheit der in einen Begriff eingehenden Begriffe wird unter anderem dadurch erkannt, dass wir die Möglichkeit einsehen, das entsprechende Ding herzustellen. Leibniz hatte schließlich schon sehr früh der cartesianischen These zugestimmt, dass ein weltliches Ding durch seine Herstellungsursachen bestimmt ist, weil seine Form auf die Bewegungen der eben diese Form verursachenden Dinge zurückgeht, wobei der aristotelische Begriff der Formursache als eine Kombination von Bewegungen bzw. als eine mechanische Produktionsweise umgedeutet wurde. Dieser Aspekt scheint auf eine begriffslogische Dimension ausgeweitet worden zu sein: Die Begriffe, die den Prozess des Herstellens bezeichnen, gehen in den Begriff des Dinges ein. Wir werden noch sehen, dass Leibniz diese Art des „Eingehens“, die hier in sprachlicher Unzulänglichkeit nur metaphorisch formuliert werden kann, auch präziser fasst und von dem Eingehen der tatsächlichen Hervorbringungsaktivität in das Ding unterscheidet. Dementsprechend liegt die in der Vernunftüberlegung (ratiocinatur) angegebene Wahrheit in den Körpern und in dem die Wahrheit denkenden Geist zugleich: „So hat die Angabe des Grundes nicht weniger im Geiste ihren Ort 112 Wenn wir dies in der Sprache einer dialektischen Leibnizinterpretation als Verknüpfung zwischen Einem und seinem Anderen reformulierten, dann könnten wir einer Formulierung von Hans Heinz Holz zustimmen: „Diese Relation ist apriorisch, weil ohne das Andere die Identität des Einen gar nicht zu bestimmen wäre. Denken heißt: Beziehungen und Verknüpfungen denken. Wenn Eines definiert ist durch seine Beziehung zu Anderem, dann ist die Gesamtheit der in dieser Beziehung eingehenden Elemente der Grund dieses Einen (und wechselseitig gilt dies für alle).“ Holz, Hans Heinz: Gottfried Wilhelm Leibniz, Frankfurt a. M. 1992, 69. Vgl. De Cogitationum Analisi (1678–80 [?]), A VI, 4, 2767 ff. 113 „Possibilitatem autem rei vel a priori cognoscimus, vel a posteriori. Et quidem a priori, cum notionem resolvimus in sua requisita, seu in alias notiones cognitae possibilitatis, nihilque in illis incompatibilie esse scimus; idque fit inter alia, cum intelligimus modum, quo res possit produci, unde prae caeteris utiles sunt Definitiones causales.“ Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis (1684), GP IV, 425.

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als in den Handlungen der Körper.“114 Hier findet sich auch der Grund für die eingangs erwähnte These, dass die Beweisbarkeit eines jeden Urteils umgangssprachlich auch als die Tatsache bezeichnet wird, dass nichts ohne Grund ist115. In dem bereits erwähnten frühen Text Quid sit natura prius sehen wir, dass das inferentielle Schließen einem Kausalnexus entspricht. Leibniz widmet sich hier der Frage nach dem ontologischen Status der Bedingungen und kommt zu dem Schluss, dass der Grund, den Leibniz hier „das von Natur aus Frühere“ (natura prius) nennt, die Folgerung „einbindet“ (involvere)116. Zwischen beiden besteht auf logischer Ebene eine symmetrische Folgerungsbeziehung, da man vom Früheren ebenso auf das Spätere schließen kann wie umgekehrt. Gleichwohl hängt das Spätere ontologisch vom Früheren ab, es herrscht also ein asymmetrisches Dependenzverhältnis. Dies beruht darauf, dass der Grund als dasjenige, was weniger requisita einschließt, auch einfacher zu erkennen ist als die Folgerung.117 Es wird in diesem Zusammenhang noch gezeigt, dass diese Überlegung eine zentrale Rolle in Leibniz’ Definition der Substanz anhand des Kraftbegriffs spielt: Die Substanz ist der kausale Ursprung des physischen Dinges, weil diese der Natur nach allem anderen (Zuständen, Ereignisse, physischen Dingen und Eigenschaften) vorgängig ist. Sie ist gleichwohl nicht als Wirkursache, sondern als ontologischer Konstitutionsgrund zu verstehen. Ein weiterer Punkt ist noch anzumerken. Die requisita bestimmen in einer Nominaldefinition die Wahrscheinlichkeit der Existenz eines Dinges, denn je weniger zu erfüllende Bedingungen ein Ding hat, umso wahrscheinlicher ist es, dass es auch existiert118. Dieser Begriff der Wahrscheinlichkeit ist an die Komplexität des Dinges gebunden oder an das, was besonders leicht hervorzubringen ist – nämlich das, was wenig requisita besitzt119. So könnte man die entscheidenden Konstruktionsbedingungen einer einfachen Maschine denken und daraus schließen, dass es wahrscheinlicher ist, dass jemand sie bereits gebaut hat. Aus diesem Ansatz erschließen sich die Parallelen zwischen seiner Epistemologie und Ontologie. Die Klarheit eines Begriffs wird mit der Komplexität des Dinges in Verbindung gebracht und damit wird das Schema deutlich, nach dem die ursprünglichen Ideen Gottes auf seine rational-ökonomische Herangehensweise bei der Kriterienwahl der Weltenschöpfung bezogen werden: Leicht hervorzubringen ist das, was weniger Gesetzen folgt. Dies gilt auch für die requisita eines Begriffs: Klarheit und Adäquatheit eines Begriffs hängen davon ab, ob er in angemessener Weise seine eigenen requisita bezeichnet und damit seine eigenen Voraussetzungen ersichtlich sind. Die Zergliede-

114 „Itaque rationum redditio non minus in mentium quam corporum actionibus locum habet.“ De Libertate (1689 [?]), A VI, 4, 1657. 115 „Reddendae rationis, quod scilicet omnis propositio vera quae per se nota non est, probationem recipit a priori, sive quod omnis veritatis reddi ratio potest, vel ut vulgo ajunt, quod nihil fit sine causa.“ A VI, 4, 1616. 116 Vgl. A VI, 4, 180. 117 Siehe auch Di Bella: Science of the Individual, a. a. O., 246 f. 118 „Probabilius est quod pauciora habet requisita, seu quod est facilius.“ Introductio ad Encyclopediam Arcanam (1683–85 [?]), A VI, 4, 530. 119 A VI, 4, 2771: „Facilis est habens pauca requisita.“ Ebenso Ebd, 2790.

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rung des Begriffs in seine wesentlichen Merkmale ist mithin Ziel und Wesen jeder Analyse und jedes Verstehens von Begriffen120. Die Perfektion der Begriffe, die in der Welt realisiert werden, ist eines der entscheidenden Kriterien für die Weltenwahl Gottes. Die Kompatibilität eines Begriffs mit anderen Begriffen ist dadurch gesichert, dass, wie oben bereits dargelegt, kein komplexer Begriff ausschließlich seine eigenen requisita enthält, sondern durch solche konstituiert wird, die auch andere Begriffe konstituieren. Vor diesem Hintergrund können wir die predicate containment thesis (PCT) erneut betrachten. Dabei soll hier eine These von Robert M. Adams aufgegriffen werden, da es diese uns erlaubt, über die bisherige Darstellung der requisita hinauszugehen und sie in den Kontext der leibnizschen Wahrheitstheorie zu integrieren: Die letzten requisita eines Begriffs sind die absoluten oder einfachen Begriffe121. Dies wird an verschiedenen Stellen von Leibniz angedeutet, von denen hier eine exemplarisch genannt wird: Das requisitum ist ein Attribut, das nicht wechselseitig gilt (non reciprocum). Ein einfacher Begriff oder ein einfaches requisitum ist das, was durch sich selbst gedacht wird, oder das, was keine anderen requisita erfordert.122

Das, was durch sich gedacht wird, ist ein einfacher Begriff. Dies wird schließlich das letzte fehlende Puzzlestück sein, um zu verstehen, wieso der Satz vom Grund ebenso den Kausalnexus (nihil est sine causa) wie auch die Einschließung der Prädikate in den Begriff (= PCT) umfasst. 2. PRAEDICATUM INEST SUBJECTO – BEWEISBARKEIT UND WAHRHEIT 2.1. Requisita als einfache Begriffe Was sind einfache Begriffe? Begriffe sind dann einfach, wenn sie durch sich selbst gedacht werden können, d. i. nicht weiter in andere Begriffe zerlegt werden können. Während es für Spinoza nur einen einzigen Begriff gibt, der für sich gedacht werden kann, so ist es für Leibniz vor dem Hintergrund seiner Begriffslehre und der Ars combinatoria notwendig, dass jeder empirisch-faktische Begriff sich in un120 „Sed cum quis conceptum clarum et distinctum habet tunc habet definitionem Nominalem, quae nihil aliud est quam aggregatum notarum, quibus rem unam ab alia discernimus. Conceptus distinctus est vel adaequatus vel inadaequatus. Conceptus distinctus adaequatus est definitio realis, seu definitio talis ex qua statim patet rem de qua agitur esse possibilem, seu qui constat omnibus rei requisitis, seu natura prioribus sufficientibus. Conceptus autem inadaequatus tanto proprior est adaequato, quanto pauciora requisita desunt. Denique conceptus perfectus est, si de omnibus rei requisitis iterum conceptus adaequatus habeatur.“ Paraenesis de Scientia Generalis (1688 [?]), A VI, 4, 973. Ebenso: A VI, 4, 1396. 121 Siehe Adams, Robert M.: Leibniz. Theist, Determinist, Idealist, a. a. O. 122 „Requisitum est attributum non reciprocum. Terminus primitivus seu requisitum simplex est, quod per se concipitur, seu quod alio requisito caret.“ Calculus ratiocinator (1679 [?]), A VI, 4, 274.

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endlich viele selbst unzergliederbare, also einfache Begriffe zerteilen lässt. Absolute Begriffe sind dabei solche, die gedacht werden können, ohne dass zugleich etwas anderes gedacht wird und die nicht relativ zu etwas anderem stehen123. Sie sind zudem positiv und unbegrenzt124. Dies entspricht auf begrifflicher Ebene der formalen Struktur des requirire, das in der Verknüpfung der Begriffe und der durch sie vermittelten requisita jene schließlich auf die selbst bedingungslosen „ersten“ requisita zurückführt. Die absoluten Begriffe sind in letzter Instanz identisch mit den ursprünglichen Begriffen (notiones primitives) und somit auch mit den requisita der Gedanken und Ideen125. Angesichts der Tatsache, dass die Analyse eines komplexen Begriffs zuerst auf komplexe und voraussetzungsreiche Prädikate stößt, ist festzustellen, dass die Prädikate selbst wiederum als Begriffe anzusehen sind und je eigene requisita besitzen. Diese, nennen wir sie die Bedingungen der Eigenschaften, sind gleichwohl in der Menge der requisita des Subjektbegriffs enthalten, ebenso wie die requisita, welche die Produktionsbedingungen des Subjektes sind: Denn in jeder Wahrheit sind alle requisita der Prädikate in den requisita der Subjekte enthalten, und die requisita des betrachteten (quaeritur) Effektes enthalten die notwendigen Mittel, diesen zu erzeugen.126

Die durch das inesse ausgedrückte Interioritätsbeziehung ist dabei eine Konstitutionsbeziehung: „Wir sagen, dass A in B ist, die Sache in einer anderen Sache, wenn alle Konstituentien von besagtem A die Konstituentien von besagtem B sind.“127 Leibniz hat sich vor allem in den achtziger Jahren um eine Definition des inesse und anderer logischer Beziehungen bemüht. In manchen Texten ist zu sehen, dass die inesse-Beziehung begrifflich direkt an das requisitum gebunden wird: Wenn A in L ist und B in L ist, dann sagen wir, dass A mit B L ist. Wenn A L ist, und es nicht wahr ist, dass B L ist, dann sagen wir, dass A ohne B L ist. Wenn A ein unmittelbares requisitum von B selbst ist, dann sagen wir, dass A in B ist, so dass A nicht der Natur nach später ist (non natura posterius), und, gegeben dass A nicht existiert, dass daraus folgen muss, dass auch B nicht existiert, welches eine unmittelbare Konsequenz davon sein muss, unabhängig von jedem Wechsel, sei er Handlung oder Leiden; dies gegeben sagen wir, A ist in B.128

123 Vgl. Vorarbeiten zur Characteristica Universalis (1671–72 [?]), A VI, 2, 489; ähnlich: Table de Définitions (1702–04), C, 475. Diese Textstellen werden auch von Adams angegeben, siehe sein Leibniz. Theist, Determinist, Idealist, a. a. O., 115. Die hier vorgetragene Argumentation weist einige Ähnlichkeiten mit der von Adams auf. 124 Vgl. Numeri Inifiniti (1676), A VI, 3, 502; ähnlich ebd., 518; 520. 125 So ausdrücklich in: De Synthesi et Analysi universali seu Arte inveniendi et judicandi (1679 [?]), GP VII, 293. 126 „Jam in omni veritate omnia requisita praedicati continentur in requisitis subjecti, et requisita effectus qui quaeritur continent artificia necessaria ad eum producendum.“ Introductio ad Scientiam Generalem (1679 [?]), A VI, 4, 372. 127 „Dicamus A esse in B, rem in re diversa, si omnia constituentia ipsius A sint constituentia ipsius B.“ De Abstracto et Conreto (1688 [?]), A VI, 4, 990. 128 „Si A sit L, et B sit L, dicetur A cum B esse L. Si A sit L, non vero B sit L, dicetur A sine B esse L. Si A sit requisitum immediatum ipsius B, dicitur A esse in B, hoc est A debet esse non posterius natura ipso B, et, posito A non existere, debet sequi etiam B non existere, eaque consequen-

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Das dritte Axiom, welches die Inklusionsrelation definiert, ist kein rein logisches Axiom im modernen Sinne mehr, weil es auf den Begriff der Existenz zurückgreift. Leibniz entwickelt seine bereits angeführte Vorstellung weiter, dass die requisita erstens dem Ding zeitlich vorhergehen und dieses zweitens als zureichende Bedingungen zur Existenz bringen. Damit kann er den Bezug Gottes zur Schöpfung auf die gleiche begriffliche Grundlage stellen wie das konstitutive Verhältnis der Produktionsbedingungen der Dinge und das logische Verhältnis der Prädikate zu den Begriffen. Entscheidend ist hier, und dies werden wir gerade in der Diskussion um die Kräfte und die einfachen Substanzen „in“ den Körpern sehen, dass das A, welches „in“ B ist, diesem nicht gleichrangig zur Seite gestellt wird, so wie sich eine Schublade, die in einem Tisch ist, nicht prinzipiell von dem Tisch unterscheidet, sondern diesem vorgängig und damit ontologisch konstitutiv ist, so wie der Bauplan oder der Produktionsprozess dem Haus vorhergehen. Diese Ungleichartigkeit der Elemente einer solchen Interioritätsrelation soll im Folgenden stets durch Anführungszeichen verdeutlicht werden: Die Ursache ist auf eine andere Weise „in“ der Wirkung oder, wie wir noch sehen werden, die Monade ist anders in der Materie als etwa ein Auto in einer Garage steht. Denn Leibniz’ Konzeption der durch den Begriff der requisita eröffneten Interioritätsrelation deutet darauf hin, dass die Ungleichartigkeit der Dinge durch einen Wechsel in der Beschreibungsebene eingeholt werden muss: Während die Körper empirischer oder phänomenaler Natur sind (s. u.), so sind die in ihnen wirkenden Kräfte vor allem unter Rückgriff auf ihre metaphysische Quelle zu beschreiben, was ebenso auch für die Monaden gilt. Dies scheint mir auch die Pointe der Konstruktion der geometrischen Objekte zu sein: Der Punkt ist „in“ der Linie, in dem Sinne, als seine Differenz zu allem Ausgedehnten betont werden muss; der Linienabschnitt ist ein homogener Teil der Linie, der Punkt ein heterogener Teil. Leibniz betont in einer anderen Definition der Interioritätsrelation, dass es sich um eine asymmetrische Beziehung handelt, die nicht reziprok gefasst werden kann: Wenn A das unmittelbare requisitum von B ist, [dann] sagt man, A ist in B, oder vielmehr: wenn A gesetzt ist, ist B gesetzt, dann wird A in B sein; [dies gilt] aber nicht auf reziproke Weise, dass die Setzung von B gleichermaßen die Setzung von A ist, [denn] dieses A geht prinzipiell voraus.129

Die requisita mediata sind nicht unmittelbar in B, sondern nur insofern in B, als sie eben vorhergehende requisita für A sind, welches selbst erst in B ist, insoweit es diesem vorhergeht. Leibniz definiert hier gerade die mereologische Interioritätsrelation mittels des Begriffs des requisitum. Überträgt man diese fundamentalen Überlegungen der ontologischen Konstitution eines Dinges durch Inklusion (im Sinne des „in-esse“) seiner ontologisch einfacheren Bedingungen auf die Substanzen, so wird deutlich, warum etwa die Seelen tia debet esse immediata, independens ab ulla mutatione sive actione et passione; his positis dicetur A esse in B.“ Analysis Particularum (1685–86 [?]), A VI, 4, 650. 129 „Si A sit immediatum requisitum ipsius B, dicetur A esse in B, vel potius si positio ipsius A sit positio ipsius B, A erit in B; licet non reciproce positio ipsius B quaevis sit positio ipsius A, hoc generalius priore.“ Definitiones Praepositionum et Adverbiorum (1680–1684 [?]), A VI, 4, 411.

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oder Geister streng genommen nicht in der Materie sein können, zumindest dann nicht, wenn man das in als räumliche Interiorität versteht. In der Materie befindet sich nämlich nur das, was der Materie homogen ist, d. i.: weitere Materie. Das Verhältnis zweier nicht homogener Entitäten, wie materielle Körper und Seelen, kann gar nicht als ein räumliches Verhältnis gedacht werden, sondern, wie in diesem Zitat deutlich wird, als Kausalrelation im weiteren Sinne. Wir werden im zweiten Teil dies wieder aufgreifen, wenn es heißt, dass die Monaden nur insoweit „in“ den Körpern sind, als sie dort wirken und soweit sie deren Realität begründen. Das Ganze des Dinges bzw. Effektes existiert nicht als etwas Eigenständiges, das von den requisita erst hervorgebracht werden muss. Es ist vielmehr etwas, dessen Teile zugleich gedacht werden können. Leibniz schreibt in einem Text, in dem er verschiedene mereologische Definitionen ausprobiert, zuerst: „Der Teil ist das unmittelbare requisitum des Ganzen“130. Er fügt dort hinzu: „Alle Bestandteile (compartes) des Ganzen sind hinreichende requisita und alle Teile (partes) zugleich konstituieren das Ganze unmittelbar.“131 Dann streicht er diesen Satz und ersetzt ihn durch folgenden Text: „Wenn Viele gesetzt sind, so dass aus diesen selbst unmittelbar ein gesetztes Eines gedacht wird, dann sind die Vielen die Teile und das Eine das Ganze.“132 Teile gibt es also im engeren Sinne erst, wenn es ein Ganzes gibt und nur in Abhängigkeit zu diesem. Dies bezieht sich offenkundig auch auf Begriffe. Die Teile ergeben sich also daraus, dass ein Ganzes (die verschiedenen Teile zugleich) als Einheit gedacht werden kann. Alle Arten von Oberbegriffen (genus, totus, species) entstehen aus dieser parallelen Abhängigkeit. Wenn die requisita nicht gesetzt sind, kann der Oberbegriff weder nominal, noch real bewiesen werden133. Im Rahmen unserer Erkenntnis aber wird aus dem Inklusionsverhältnis ein Identitäts- bzw. Zuschreibungsverhältnis, das wir bei tatsächlich existierenden Begriffen auf Subjekte und ihre Eigenschaften zurückführen, womit dann individuelle Substanzen denotiert werden. Wenn man das In-esse-Prinzip (von Leibniz gelegentlich als „A = AB“ bezeichnet) behauptet, dann folgt daraus, dass dann und nur dann, wenn A gesetzt ist, auch AB gesetzt ist. Dies gilt allerdings nur für die epistemologische Ebene – um die ontologische Priorität der requisita, also mithin 130 „Pars est requisitum totius immediatum.“ Definitiones: Ens, Pssibile, Existens (1686/87 [?]), A VI, 4, 868. 131 „Omnes compartes ejusdem totius sunt requisitum sufficiens, et omnes partes simul constituunt totum immediate.“ Ebd. 132 „Si pluribus positis eo ipse immediate intelligatur poni unum, plura erunt partes, unum erit totum.“ Ebd. 133 „Requisitum immediatum est, A ipsius B, si propositio haec: Si A non est, B non est, demonstrari non potest [seu per se nota est] […] Itaque Requisitum immediatum sive Contentum, et Requirens immediatum, sive Continens, considerabimus ut genus, partem autem et totum, ut species.“ Undatiertes Fragment, C, 547. Siehe auch: „Videtur aliquis tollendi modus posse excogitari, quo tolletur simul pars, punctum et figura, si scilicet tollatur omnis realitas est pars realitatis ipsius subjecti […]. Et proinde videtur illud inesse in subjecto, cujus realitas est pars realitatis ipsius corporis. Seu, ut loquar, more magis apto ad propositiones formandas, demonstrandasque, A est in B, si omnis res quae ad A immediate requiritur, etiam immediate requiritur ad B. Id autem quod immediate requiritur ad aliquid, ita ut ad ipsum nihil amplius requiratur immediate, adeoque nec mediate, dici poterit realitas.“ A VI, 4, 990.

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des beliebigen Teiles B, der in dem Begriff A enthalten ist, auszudrücken, müsste die Formulierung allerdings lauten: Dann und nur dann wenn AB gesetzt ist, ist auch (AB = A) gesetzt134. So ergibt sich auch ein verhältnismäßig klares Bild, nachdem ein Begriff eben insoweit von den Prädikaten (bzw. requisita) herleitbar ist, als er sich aus diesen ergibt und keinesfalls selbst das Primat gegenüber den Prädikaten hat135. Die einfachen Begriffe enthalten selbst keine Prädikate mehr, sondern liegen als requisita den komplexen Begriffen zugrunde, die sie eben auch konstituieren. 2.2. Analytische Wahrheit Nehmen wir beispielsweise die Proposition: „Ein Pferd ist ein Tier“. Es handelt sich dabei um eine analytische Proposition, denn das Prädikat „Tier“ ist im Subjekt „Pferd“ enthalten. Allerdings gilt dasselbe auch für Leibniz’ prominentes Beispiel „Caesar überquert den Rubicon“: Hätte Caesar den Rubicon nicht überquert, wäre er nicht Caesar, weil ihm dann eine Verkettung von anderen Attributen zukäme. Diese Position, dass Wahrheit auf Analytizität aufbaut, muss im Folgenden näher erläutert werden, da sie in der Forschung auf Kritik gestoßen ist. So schreibt Oswald Hanfling: We can say this on condition that we have distinct notions of the explicandum and the explicans, in this case truth and analyticity. But Leibniz cannot say it because for him these notions are not distinct. According to Leibniz, truth is nothing other than the predicate’s being in the subject. ‚A true proposition‘, he says, ‚is one whose predicate is contained in the subject‘ and in another passage, ‚this constitutes the nature of truth in general‘ On this view, to say that a proposition is true because the predicate is in the subject […] is merely to say that it is true because it is true.136

Doch auch für Leibniz sind Erklärendes und Erklärtes verschieden: Erstens, weil wir unterschiedliche Symbole benutzen müssen, um beide zu denken; zweitens, weil die einfachen Begriffe als requisita (als Erklärende) den zusammengesetzten Begriffen (als Erklärtes) vorgängig sind. Zwar finden wir zusammengesetzte Begriffe bereits in unserem Alltag vor – wir verfügen schließlich bereits über einen auf Begriffe gestützten Weltzugang, bevor wir eine philosophische Analyse durchführen können –, doch liegen diesen uns unbekannte, aber erkennbare Abhängigkeitsbeziehungen der oben erläuterten Struktur zugrunde. Mit der Scientia generalis und der Ars combinatoria hat Leibniz Analysemethoden entwickelt, die für unsere durch Symbole bezeichneten Begriffe gelten – wir können nur einfache Begriffe unmittelbar denken, für zusammengesetzte Begriffe hingegen benötigen wir Sym134 „Praedicatum a parte rei verum semper continetur in natura subjecti; ut A est B, id est ipsi A inest B. Itaque si perfecte intelligatur A, intelligetur ei inesse B, seu conceptus existentiae ipsius A involvit conceptum hunc quod existit A est B.“ De Affectibus (1679), A VI, 4, 1441. 135 So die Kritik von Ishiguro: Leibniz’s Philosophy of logic and language, a. a. O. an Russell, Bertrand: A Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz, a. a. O. 136 Hanfling, Oswald: „Leibniz’s Principle of Reason“, in: Woolhouse, Roger S. (Hrsg.): Gottfried Wilhelm Leibniz. Critical Assessments. Volume 1: Metaphysics and its Foundations 1: Sufficient Reason, Truth, and Necessity, London 1994, 74–81, hier: 75.

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bole oder Zeichen. Durch die Philosophie können wir wissen, dass diese Methoden auch für die wirklichen, einfachen, nur von Gott gedachten Begriffe gelten müssen, denn diese wirklichen und einfachen Begriffe werden durch unsere zusammengesetzten Begriffe bezeichnet, wenn sie wahr sind und richtig verwendet werden137. Wie stehen nun bei Leibniz Begriffe und Worte zueinander? Definitionen sind Erläuterungen von Worten, nicht von Dingen. Diese Wörter beziehen sich auf komplexe Begriffe, die kein eigenes Sein haben außer in der Kombination einfacher Begriffe. Wörter bzw. Symbole sind, wenn sie wahr sind, in einem einfachen, „elementaren“ Begriff begründet, den sie bezeichnen. Die Ars combinatoria ist schließlich auch eine Ars characteristica, eine Kunst der Zeichen und Bezeichnungen, einschließlich der natürlichen Sprachen und ihrer Zeichensysteme. Ebenso wird oft darauf hingewiesen, dass der Satz vom Grund vornehmlich für die bloß kontingenten Wahrheiten gilt, während die notwendigen Wahrheiten eher dem Prinzip der Identität gehorchen. Das ist aber zu kurz gedacht. Der zureichende Grund findet sich auch in den kontingenten Wahrheiten138 – das heißt, dass es selbstverständlich auch für die notwendigen Wahrheiten einen zureichenden Grund gibt. Was bedeutet es aber, dass es in den durch das Prinzip der Identität bestimmten notwendigen Wahrheiten ebenso einen zureichenden Grund gibt? Eine notwendige Wahrheit gilt in jeder möglichen Welt, während dies für eine kontingente Wahrheit nicht der Fall ist – auch wenn sie aus einer necessitas ex hypothesi heraus gleichwohl in dieser Welt wahr ist. Der Satz vom Grund ließe sich dann für die Unterscheidung beider Wahrheitstypen so anwenden: In den bloß möglichen, nicht aber wirklichen Welten fehlen dem Ding bzw. seinem Begriff zum Zustandekommen einige der für ihn erforderlichen requisita. Die Wahrheitstheorie, die Leibniz vorschlägt, ist also zugleich eine Wahrheitstheorie der Korrespondenz, der Kohärenz, des Konsensus sowie eine evidentistische Wahrheitstheorie. Ein wahres Urteil, in Worten gefällt oder durch andere Zeichen ausgedrückt, muss einer kontextuell möglichen und von der Perfektion her wünschenswerten Zusammensetzung von einfachen Begriffen korrespondieren, wodurch das Urteil in letzter Analyse aus sich selbst heraus wahr ist. Dabei muss es in sich und mit anderen Wahrheiten kohärent sein, um die Möglichkeit der Wahrheit überhaupt zu gewährleisten. Zugleich ist für das denkende Individuum die Möglichkeit des Konsensus entscheidend, denn alles, was wahr ist, kann auch mit verschiedenen Zeichen und von verschiedenen Individuen ausgedrückt werden – es kann keine Wahrheit ohne intersubjektive Gültigkeit geben. Die Wahrheit der einfachen Begriffe aber zeigt sich gleichsam in der Analyse, da diese Begriffe keiner weiteren Zerlegung mehr fähig sind und durch sich selbst begriffen werden. Wahrheit wird, wenn sie erkannt wird, auch klar und deutlich erkannt. Eine Aus137 Zwar gibt es aus einer metaphysischen Perspektive gesehen nichts als vollständige Begriffe, die selbst alle Propositionen enthalten – aber diese können nicht mit anderen vollständigen Begriffen zusammen eine Proposition ausmachen. 138 Dazu schreibt Leibniz in einer oft zitierten Passage in der Monadologie: „Aber der zureichende Grund muss sich auch bei den kontingenten Wahrheiten oder Faktenwahrheiten auffinden lassen.“ – „Mais la raison suffisante se doit aussi trouver dans les verités contingentes ou de fait.“ Mo § 36, GP VI, 612.

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sage ist genau dann und nur dann unmöglich, wenn sie eine inkompossible Zusammenstellung der einfachen Begriffe bezeichnet. Falsch ist sie dagegen dann, wenn sie auf eine Zusammenstellung von Begriffen zurückgeht, die im Kontext einer moralischen Evaluation der möglichen Welten nicht wünschenswert ist und sich damit auf eine Welt bezieht, die nicht realisiert worden ist. Die weltbegründende und nur von Gottes Willen abhängige Teleologie des Prinzips des Besten ist demnach auch Grund der Wahrheit aller Urteile, deren Wahrheit nicht bereits durch das Prinzip der Identität bestimmt wird. Die PCT ist keineswegs, wie Otto Saame noch behauptet hat, der Ursprung aller Prinzipien139, sondern eher als eines von mehreren Prinzipien zu verstehen, die zwar unter dem Oberbegriff „Satz vom Grund“ zusammengefasst werden, die aber nur in einem umfassenden metaphysischen und theologischen Kontext ineinander überführbar sind und erst mit der metaphysischen Entwicklung des leibnizschen Systems plausibel aufeinander bezogen werden können. Im Jahr 1680 heißt es: Nichts darf etwas ohne Grund zugesprochen werden, da jeder Prädikation eine absolute, unbeweisbare Wahrheit zugrunde liegen muss140. Nichts ist ohne Grund bedeutet hier: Jede Eigenschaft eines Dinges, mithin jedes konkrete Ding selbst folgt metaphysisch oder logisch aus unbeweisbaren Grundbegriffen. Damit ist der Satz vom Grund hier in eine epistemologische Perspektive gerückt worden, die Leibniz’ idealistischer Tendenz zu dieser Zeit entspricht. Damit ist es nicht mehr weit bis zu den späteren Formulierungen der predicate containment thesis: „Nichts ist ohne Grund, oder es gibt keine Proposition, in der es keinerlei Verbindung zwischen Prädikat und Subjekt gibt, die man nicht a priori beweisen kann.“141 Die Verbindung (connexio) zwischen Prädikat und Subjekt ist intrinsischer Natur: Das Prädikat „folgt“ in epistemischer Hinsicht aus dem Subjekt, sofern es in der Analyse als dessen Teil erwiesen werden kann. Die Summe der Prädikate gibt den Begriff selbst, sie ist als zureichendes Bedingungsgefüge zu verstehen, also als Summe der vollständigen und konstituierenden Teile eines komplexen Begriffs. Wer demnach über einen Begriff verfügt, der kennt alle Eigenschaften eines Gegenstandes und kann jede Behauptung über diesen Gegenstand a priori beweisen. Hier wird Prädikation mit Beweisbarkeit notwendig verknüpft. Diese Variante des Satzes vom Grund heißt hier demnach: Es ist immer beweisbar, dass etwas so und so ist. Durch das Prinzip reddendae rationis sind wir uns also gewiss, dass es eine Antwort auf die Frage gibt, warum etwas eine bestimmte Identität hat. Jedes Ding, jedes Prinzip lässt sich teleologisch aus höheren Prinzipien nachvollziehen. Durch das Prinzip der ratio extra rem, gelesen unter Berücksichtigung der konstitutiven Funktion der requisita, wissen wir, dass es immer prinzipiell entscheidbar ist, ob et139 Saame, Otto: Der Satz vom Grund bei Leibniz, a. a. O. 140 450 „Omnis veritas aut demonstrari potest ex absolute primis (quas indemonstrabiles esse demonstrabile est) aut ipsa est absolute prima. Et hoc est quod dici solet, nihil debet asseri sine ratione, imo nihil fieri sine ratione.“ De Veritatibus Primis (ca. 1680), A VI, 4, 1443. 141 „Nihil est sine ratione, seu nullam esse propositionem, in qua non sit aliqua connexio praedicati cum subjecto, seu quae non probari possit a priori.“ De Libertate et Necessitate (1680–84), A VI, 4, 1445. Im Original kursiv.

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was existiert. Die PCT schließlich lehrt uns, dass die spezifischen Eigenheiten eines Wesens stets vollständig bestimmt sind: Die Frage, wie ein bestimmter Gegenstand ist, ist für einen unendlichen Geist stets beantwortbar. Das Prinzip des Besten bestimmt, dass jede Frage nach dem Zweck eines Gegenstandes beantwortet werden kann – und sei es nur durch Rückführung auf das Prinzip des Besten und den Willen Gottes zur Schöpfung der besten aller möglichen Welten. Dabei sichert die erste Entscheidung Gottes, dass diese Strukturen nicht nur im Geiste der Menschen zu finden sind, sondern dass die Serie der Dinge und die Konstitution der Dinge durch requisita tatsächlich diese von Gott bestimmten Zwecke und Gründe enthält, nämlich maximale Harmonie, Streben zur Perfektion, etc. Wenn all diese Prinzipien unter dem Oberbegriff des Satzes vom Grund bzw. nihil sine ratione zusammengefasst wird, dann bedeutet dies: Es ist prinzipiell immer beweisbar, 1.) ob etwas ist; 2.) dass etwas so und so ist (bzw. wie etwas ist); und 3.) warum es so und so ist – selbst wenn die Menschen aufgrund der Endlichkeit ihres Geistes nie in der Lage dazu sein werden, diese Beweise auch tatsächlich durchzuführen. 2.3. Vollständige Begriffe Gott hat die Welt zum Zwecke größtmöglicher Ordnung und Harmonie geschaffen und damit ermöglicht, dass die Geschöpfe seinen Ruhm mehren können. Diese Intention wird durch das Prinzip des Besten ausgedrückt und damit wird die Form der Welt vorgegeben. Doch zu dieser Form muss auch der passende, optimale Inhalt gefunden werden, damit auch ontologisch maximale Perfektion realisiert ist. Dieser Inhalt muss intelligibel und vollständig bestimmt sein, um von Gottes Intellekt erfasst werden zu können – dies gilt auch umgekehrt: weil er von Gottes Intellekt erfasst wurde, ist er intelligibel und vollständig bestimmt. Das, was als letztes, unreduzierbares Seiendes die Welt ausmacht, wird Substanz genannt. Es stellt sich aber die Frage, wie viele dieser Substanzen es in der Welt geben muss, oder, anders formuliert, welche Gründe Leibniz dazu bewogen haben, den spinozistischen Monismus und den cartesischen Dualismus abzulehnen. Zwischen 1676 und 1678 nimmt Leibniz an, dass die Dinge ihre Existenz als Modifikationen einer Substanz haben – der Gedanke der individuellen Substanzen taucht erst im Kontext der Auseinandersetzung mit Spinozas Ethik auf142. Bei Spinoza trifft Leibniz auf den Substanzenmonismus und erkennt in diesem die Probleme seiner früheren deterministischen Position: In letzter Instanz sind die Handlungen der Lebewesen nicht von denen Gottes unterschieden und die Möglichkeit von Freiheit und Sünde ist damit nicht gegeben. Es bedarf also einer Unterscheidung von Gottes Handlungen und denen der Lebewesen, was Leibniz direkt am Beginn der Substanzenlehre im Discours aufgreift. Die notwendige Imperfektion der Welt, besonders die Sünde als eine moralische Imperfektion, kann nicht einfach einer einzigen Substanz zugeschrieben werden. Es muss schließlich ein Individuum 142 Vgl. Adams: Leibniz. Theist, Determinist, Idealist, a. a. O., 130 f.

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der Urheber der Sünde sein und damit über Aktivität und Passivität verfügen. So wie jede Bewegung einem Prinzip folgen muss und dieses Prinzip in einer Substanz begründet sein muss, so muss auch jede moralische Handlung in einem aktiven, wollenden, bewussten Individuum begründet sein. Eine bloße Modifikation kann nicht Urheber einer Sünde sein. Diese kann, konzipiert man sie als Modifikation einer nach spinozistischem Vorbild gedachten Substanz, bloß aus ihr folgen; aber die Frage nach der Verantwortung und nach der Schuld stellt sich bei einer solcherart notwendigen Relation nicht. Da also die Möglichkeit einer allgemeinen Substanz als Träger des Handlungsprinzips für alle Lebewesen abgelehnt werden muss, konzipiert Leibniz einen Substanzenpluralismus, bei dem jedes Individuum als Substanz zu denken ist. Der cartesische Dualismus greift für Leibniz’ Ansprüche an die Begründung von Individualität gleichermaßen zu kurz. Leibniz’ Prinzip der Identität gibt zudem vor, dass sich diese Substanzen unterscheiden müssen, um wirklich zu sein, und zwar dahingehend, dass sie nicht die selben Eigenschaften haben bzw. ihnen andere Prädikate zukommen. Dazu müssen die Substanzen durch einen vollständig bestimmten und sie ausdrückenden Begriff selbst vollständig bestimmt sein, wobei dieser Begriff ihre spezifische Diesheit, ihre haecceitas bezeichnet143. Der Begriff notio completa taucht zwar schon sehr früh in Leibniz’ Schriften auf, doch bis in die späten 1670er bleibt der Begriff von sehr allgemeiner Bedeutung: Ein ens completum enthält schlichtweg alles (omnia) oder die gesamte Natur der Dinge (naturam rerum totam)144. Wir haben bereits gesehen, dass ein wirkliches Ding im Prinzip unendlich viele requisita voraussetzt, nämlich schlichtweg alle. Doch erst später, z. B. im Discours § 8 oder im Briefwechsel mit Arnauld, wird der Begriff so verwendet, dass von ihm alle seine Prädikate abgeleitet werden können. Er geht aber, anders als die vorherigen, auf rein formale Vollständigkeit abzielenden Begriffe, unmittelbar mit dem Konzept der individuellen Substanz ein143 Leibniz lehnt in seinen frühen Schriften, etwa in seiner Dissertation De principio individui oder im späteren Vorwort zu Nizolius den Begriff der haecceitas zwar ab, hat zu diesem Zeitpunkt aber noch einen sehr schwach ausgeprägten Begriff von Individualität. Im Discours de Métaphysique kann Leibniz den Begriff mit dem individuellen Begriff und der damit begründeten Perspektivität verbinden. Siehe für diesen Zusammenhang zwischen notio completa und haecceitas McGuire, James E.: „‚Labyrinthus Continui‘: Leibniz on Substance, Activity, and Matter“, in: Turnbull, Robert G. / Machamer, Peter K.: Motion and Time, Space and Matter, Ohio 1976, 290–326; wieder abgedruckt in: Woolhouse, Roger (Hrsg.): Gottfried Wilhelm Leibniz. Critical Assessments, Bd. III, London, New York 1994, 289–320. Eine umfangreiche Studie zu dieser Problematik ist auch das Kapitel „Haecceitism and anti-haecceitism“ in Cover, Jan A. / O’Leary-Hawthorne, John: Substance and Individuation in Leibniz, Cambridge 1999, 143– 184. Der interessante Aspekt scheint mir darin zu liegen, dass Leibniz auf der einen Seite den Substanzen eine haecceitas zuspricht, weil sie über genuine Subjektivität und irreduzible Individualität verfügen; andererseits aber gehen die Begriffe, mit denen die Substanzen vor ihrer Schöpfung von Gott gedacht wurden, allesamt auf dasselbe Set an einfachen Begriffen zurück. Die haecceitas kommt also nur durch das göttliche fiat zustande, mit dem die untereinander isomorphen Begriffskombinationen in einer Welt aus echten Entitäten realisiert werden – haecceitas ist also nicht nur mit der Essenz der Lebewesen verbunden, sondern auch und vor allem mit deren Existenz. 144 Vgl. Rutherford, Donald: Leibniz and the Rational Order of Nature, Cambridge 1995, 132.

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her. Das Konzept eines vollständigen Begriffs wird im Discours durch folgende Besonderheiten ausgemacht: 1.) Der Begriff bezeichnet eine einzige individuelle Substanz, ein Individuum, und er beschreibt es vollständig und ohne Redundanz und in allen seinen Relationen zu allem anderen. 2.) Der Begriff drückt damit zugleich auch die gesamte Welt aus, vollständig und ohne Redundanz. 3.) Er ist auf individuelle Weise aus den einfachen Begriffen zusammengesetzt, so dass er eine Perspektive auf die gesamte Welt bezeichnet, innerhalb derer sich das Individuum erst als solches identifiziert und die sich von den Perspektiven der anderen Individuen unaufhebbar unterscheidet. 4.) Er ist der Grund aller Wahrheiten, die das Individuum betreffen und aller Relationen, in denen das Individuum zu der Welt steht. Die Welt, das Individuum und die individuelle Perspektive auf die Welt sind in dem Begriff nicht voneinander zu trennen. Gott wählt also vor der Schöpfung eine Matrix an Begriffen aus, die in seinem Verstand ein Ergebnis der logischen Kombination einfacher Begriffe sind. Die logischen Prinzipien, vor allem der Satz vom Widerspruch und das Prinzip der Identität, geben vor, welche Begriffsmatrix eine mögliche Welt formt; die Güte Gottes bestimmt nach dem Minimax-Prinzip, welche als die beste aller möglichen Welten ausgewählt wird. Streng genommen könnte man sogar von dem Begriff der Substanz als ihrem Formalgrund reden, wohingegen dann das göttliche fiat ihr Realgrund ist. Mehrere Texte ab 1677 bereiten dies in unmissverständlicher Weise schon vor. Die Grundlage wird vielleicht in dem Text Elementa calculi von 1677 gelegt, in dem Leibniz feststellt, dass es, modern ausgedrückt, für die Zuweisung eines Wahrheitswertes nicht hinreicht, dass das Prädikat in dem Subjekt enthalten ist, sondern das Prädikat muss noch in einer bestimmten Weise im Subjekt enthalten sein. Nicht alles Metall ist Gold, sondern einiges Metall ist Gold, zumal der Begriff des Metalls noch mehr Begriffe bzw. Prädikate unter sich enthält als nur Gold, nämlich auch Kupfer, Bronze etc. Mit dem Begriff der individuellen Substanz ist ein Gegenstand gegeben, dessen Begriff alle einfachen Begriffe in einer bestimmten Weise, d. h. entsprechend einer eigenen Perspektive, unter sich enthält. Durch die perspektivische und allumfassende Individualität kann Leibniz das wirkliche Seiende namens Julius Caesar von dem bloß phänomenalen Gold unterscheiden, welches eben selbst nichts als ein Prädikat ist. Diese untergeordneten Begriffe können sich in propositionaler Struktur zergliedern lassen, so wie etwa der Begriff Caesars den propositionalen Fakt enthält, dass Caesar den Rubicon überquert145. Dies ist für die Monadenlehre von entscheidender Bedeutung, denn so kann den einzelnen Be-

145 Siehe dazu und zum Folgenden ausführlicher Parkinson, George H. R.: Logic and reality in Leibniz’s metaphysics, Oxford 1965, v. a. 5–35.

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griffsbestandteilen sogar ein je einzelnes Phänomen zugeordnet werden, das in der Erfahrungswirklichkeit der Substanz gegeben ist146. Es ist offensichtlich, dass Leibniz den Begriff der notio completa vor allem deshalb einführt, weil er aufgrund seines principium identitatis indiscernibilium vollständig bestimmte, logisch unteilbare Subjekte benötigt, die seinen eigenen Kriterien für Existenz entsprechen. Es kann keine Existenz ohne Individualität geben. Allerdings ist dabei zu beachten, dass Leibniz hier noch keine genuine Subjektivität konzipiert, die in den späten 1680ern, etwa im Discours oder im Briefwechsel mit Arnauld, ein zentraler Begriff in seiner Theorie der Substanzen sein wird, sondern dass es vor allem um logische Subjekte in Verbindung mit ontologischer Individualität geht – Lebendigkeit im Sinne von Beseeltheit wird zwar als Bedingung der Materie bereits in der TMC gefordert, doch ist sie im umfassenden späteren Sinne noch nicht als zentrales Merkmal der Substanzen in diesen Kontext eingebunden. Der vollständige Begriff muss nicht nur einige mögliche, sondern ebenso alle faktischen Prädikate unter sich enthalten. Begriffe und Prädikate müssen einen entsprechenden Umfang behalten, wenn sie in einer Argumentation verwendet werden. Leibniz diskutiert dies an diesem Beispiel: Der Satz „Jeder Lachende ist ein Mensch“ ist unabhängig von der Existenz Lachender wahr. Der Umkehrsatz jedoch, „Irgendein Mensch ist Lachender“, ist nur dann wahr, wenn es auch tatsächlich einen lachenden Menschen gibt147. Er erfordert also andere Bedingungen, nämlich dass es tatsächlich mindestens einen lachenden Menschen gibt. Dies ist eine direkte Bedrohung für Leibniz’ PCT, die er mit der lapidaren Bemerkung in den Difficultates quaedam Logicae ablehnt, dieses Divergieren der Wahrheitsbedingungen beider Beispielssätze sei auf eine Sprachverwirrung zurückzuführen148. Im Discours findet dieser Aspekt des Satzes vom Grund seine endgültige Form: Die Tatsachenwahrheiten aber haben keine Beweise ihrer Notwendigkeit, weil diese Gründe nur auf das Prinzip der Kontingenz oder der Existenz der Dinge gegründet sind, das heißt auf das, was unter mehreren gleich möglichen Dingen das beste ist oder zu sein scheint, während die notwendigen Wahrheiten auf dem Prinzip des Widerspruchs oder der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Wesenheiten selbst beruhen, ohne darin auf den freien Willen Gottes oder der Geschöpfe Bezug zu nehmen.149 146 „Phaenomena sunt propositiones […]“, Consilium de encyclopaedia nova conscribenda a methodo inventoria (1679), A VI, 4, 341. Damit sind vor allem Phänomene empirischer Natur gemeint. 147 Vgl. unbetitelte Vorarbeiten zur allgemeinen Charateristik, undatiert, GP VII, 214. 148 Leibniz macht dabei in seiner Logik stets eine Existenzvoraussetzung. Darin unterscheidet sich seine Logik etwa von der von Frege und Russell entwickelten Logik, die es erfordert, dass ein eigener Existenzquantor in die Logik eingeführt wird. Für Leibniz würde sich die Nichtexistenz eines Zentauren kontextuell aus der moralischen Notwendigkeit ergeben, mit der die Welt ausgeschlossen werden kann, in der Zentauren vorkommen. Insoweit impliziert der Begriff des Zentauren, würde man ihn bis ans Ende analysieren, bereits seine Nichtexistenz, ohne deswegen ein widersprüchlicher Begriff zu sein. 149 „N’ont pas des demonstrations de necessitè, puisque ces raisons ne sont fondées que sur le principe de la contingence ou de l’existence des choses, c’est à dire sur ce qui est ou qui paroist le meilleur parmy plusieurs choses également possibles, au lieu que les verités necessaires sont fondées sur le principe de contradiction et sur la possibilité ou impossibilité des essences mê-

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Die Wahrheit, die man aus dem Satz vom Grund als PCT herleiten kann, setzt also voraus, dass der entsprechende Begriff auch einen nicht-leeren Umfang hat – der Gegenstand muss auch von Gott geschaffen sein. Ebenfalls wird im Discours § 13 zum ersten Mal die Geschichte des gesamten Individuums aus dem Begriff abgeleitet. „Da der individuelle Begriff jeder Person ein für allemal das einschließt, was ihr jemals zustoßen wird, ersieht man daraus die apriorischen Beweise oder Gründe für die Wahrheit jedes Ereignisses, oder warum eines eher als das andere ist.“150 Hier im Discours wird auch die Position wieder aufgenommen, nach der es für jede spezifische Tatsache einen Grund gibt. Der individuelle Begriff liefert den Grund für jeden apriorischen Beweis, der sich auf diese Tatsache bezieht. Aus ihm kann man die Gesamtheit aller Eigenschaften herleiten, „so wie wir im Wesen des Kreises alle Eigenschaften erkennen können, die man daraus ableiten kann.“151 Da die Produktionsbedingungen eben eine direkte Beziehung zu Existenz und Essenz eines Dinges haben, ist es verständlich, dass Leibniz an dieser Stelle außerdem die mathematischen, sozusagen analytischen Urteile nicht von den empirisch-kontingenten, sozusagen synthetischen Urteilen unterscheidet. Da die logischen und mathematischen Dinge in jeder möglichen Welt gelten, kann man ihre Existenz von der Existenz der physischen Dinge unterscheiden – man könnte hier von einem Reich der Logik und dem der Körper sprechen. Das Argument basiert hier auf dem Prinzip der Identität: Ein Kreis wäre nicht ein Kreis, wenn er nicht die Eigenschaften a, b und c hätte; Julius Caesar wäre nicht Julius Caesar, wenn er nicht irgendwann x, y und z getan hätte oder tun würde. Leibniz nimmt hier wieder die Perspektive der Dritten Person ein, in der die Person transtemporal betrachtet wird und die nicht einen bestimmten Zeitpunkt als perspektivischen Fixpunkt benötigt: Die Identität Julius Caesars ist über die Zeit hinweg stets dieselbe, unabhängig davon, ob er in der Vergangenheit die Handlung x getan hat oder in Zukunft y tun wird – ebenso wie die Identität des Kreises nicht davon abhängt, ob wir Menschen alle aus seinem Begriffe herleitbaren Eigenschaften kennen. Sobald ein Gegenstand, existierend oder nicht, durch einen vollständigen Begriff bezeichnet werden kann, ist interne Inkompossibilität bereits ausgeschlossen und der Gegenstand ist seinem Wesen nach wenigstens möglich. So kann Gott auch die Welt in ihrer Vollständigkeit erschauen und selbst auf Kompossibilität hin überprüfen: Weil er die Kompossibilität der Begriffe der Dinge in dieser Welt erkennen kann. Die Dinge enthalten dann ihre eigenen Ereignisse auf intrinsische Weise. Leibniz muss dennoch nicht die Freiheit des Menschen bzw. Gottes aufgeben, weil er zu diesem Zeitpunkt (um 1686) auf die Unterscheidung zwischen hypothetischer und logischer Notwendigkeit zurückgreifen kann. Anders als der Kreis, der seine mes, sans avoir égard en cela à la volonté libre de Dieu ou des creatures.“ DM § 13, A VI, 4, 1549. 150 „Comme la notion individuelle de chaque personne enferme une fois pour toutes ce qui luy arrivera jamais on y voit les preuves à priori ou raisons de la verité de chaque evenement, ou pourquoy l’un arrivé plustost que l’autre.“ DM § 13, A VI, 4, 1546. 151 „Comme nous pouvons voir dans la nature du cercle toutes les proprietés qu’on en peut deduire.“ Ebd.

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Eigenschaften mit logischer Notwendigkeit besitzt und die nicht in der Verneinung gedacht werden können, kommen Caesar seine Eigenschaften nur auf eine gewissermaßen epistemisch ‚sichere‘, nicht aber logische Weise zu: Es ist nicht logisch unmöglich, dass Caesar den Rubicon doch nicht überquert hat, denn der Begriff ‚Caesar‘ könnte einen leeren Umfang haben. Man kann von ihm nur dann aussagen, dass er den Rubicon überquert, wenn er auch existiert. Doch wenn der Mensch frei ist, wieso ist es dann gewiss, dass Caesar die Handlung z in der Zukunft durchführen wird? Widerspricht das nicht dem Konzept der Freiheit, dass sie der Vorhersehung widerspricht? Nicht, wenn man so subtil argumentiert wie Leibniz. Wir haben bereits gesehen, dass Leibniz den Willen nicht als bloße Willkür konzipiert, sondern als einen Willen, der stets einen Grund hat. Wenn der Grund entsprechend gegeben ist, dann wird auch eine freie und rationale Willensentscheidung getroffen: schließlich hat Gott es so gewünscht – bzw. er wurde durch sein Bestreben, die Welt nach dem Prinzip des Besten zu schaffen, veranlasst – dass der Mensch dazu tendiert, hauptsächlich aus rationalen Gründen zu handeln152. Der Geist bringt seine Ideen hervor und er kann selbst einsehen, was rational ist. Leibniz zufolge gründet die Freiheit des Menschen auf dieser Fähigkeit zur spontanen, also selbstbestimmten Einsicht in das Gute im Rahmen einer kontingenten Welt (siehe Teil VII.). Demnach werden auch diese Problemkomplexe zusammengeführt, wenn Leibniz schreibt: Denn man würde finden, dass jener Beweis des Prädikats von Cäsar nicht ebenso unbedingt ist wie die Beweise der Zahlen oder der Geometrie, sondern dass er die Abfolge der Dinge voraussetzt, die Gott frei gewählt hat und dass er auf dem Entschluss, den Gott (als Folge des ersten) hinsichtlich der menschlichen Natur gefasst hat und der dahingeht, dass der Mensch immer (obgleich freiwillig) das tun wird, was das Beste scheint.153

Hier wird bereits wieder von der Abfolge der Dinge (suite des choses) gesprochen – der vollständige Begriff enthält keineswegs „nur“ das, was dem Individuum zustoßen wird, sondern die gesamte Kette der Ereignisse, die die Welt insgesamt bestimmen, aus der Perspektive eben dieses Individuums. Einem Kreis kommen seine Eigenschaften in notwendiger Weise zu, aber er existiert auch nur als mathematische Fiktion. Dem Menschen dagegen kommen seine Eigenschaften nur kontingenterweise zu. Der Begriff des Individuums umfasst die gesamte Welt, denn das Individuum steht schließlich zu jedem Ereignis in irgendeiner Relation, und sei es nur dadurch, dass es sich in einer bestimmten Entfernung oder zeitlichen Distanz zu einem Objekt oder Ereignis befindet. Zudem enthält der vollständige Begriff die Gesamtheit der Gesetze, die das weltliche Geschehen bestimmen154. Hier führt Leibniz den 152 Vgl. den Text De Contingentia (1689 [?]), A VI, 4, 1651. 153 „Car on trouveroit que cette demonstration de ce predicat de Caesar n’est pas aussi absolue que celles des nombres ou de la Geometrie, mais qu’elle suppose la suite des choses que Dieu a choisie librement, et qui est fondée sur le premier decret libre de Dieu, qui porte faire tousjours ce qui est le plus parfait, et sur le decret que Dieu a fait (en suite du premier) à l’égard de la nature humaine, qui est que l’homme fera tousjours (quoyque librement) ce qui paroistra le meilleur.“ DM § 13, A VI, 4, 1548. 154 Vgl. Brief an Arnauld, 14. Juli 1686, A II, 2, 73.

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Satz von der ratio extra rem mit der predicate containment thesis zusammen: Jede Handlung, jedes Ereignis hat deswegen einen rationalen Grund, weil das Individuum sich immer frei dazu entscheiden wird, das zu tun, was in seiner Natur liegt. Was aber in der Natur des Lebewesens liegt, das wird durch den vollständigen Begriff bestimmt, der alle Prädikate enthält, die nicht nur alle seine Eigenschaften ausdrücken, sondern auch alle seine zukünftigen, gegenwärtigen oder vergangenen Handlungen. Die einfachen Begriffe sind wie genuine Ideen jenseits aller hypothetischen Notwendigkeiten stets gegeben und wahr und damit außerhalb aller zusammengesetzten Begriffe, denen eine Geltung nur im Falle ihrer Aktualisierung im Kontext der wirklich existierenden Welt zukommt. Die Analyse unserer menschlichen, kontingenten Begriffe wird uns stets zu den ewigen, unveränderlichen Wahrheiten führen. In diesem Sinne kann man auch hier sagen, dass der Grund eines Dinges außerhalb dessen liegt. Damit hat der Satz vom Grund die Form erhalten, dass nur dasjenige Urteil als eine Wahrheit gilt, das nicht bloß eine Möglichkeit postuliert, sondern auf eine Eigenschaft abzielt, die in einem wirklichen, individuellen und bestimmten Begriff fundiert ist. Wenn man Gott als den Schöpfer dieser Welt begreift und annimmt, dass die in Gottes Geist gedachten Begriffe kraft des göttlichen Willens und des Schöpfungsaktes tatsächlich einen nicht-leeren Umfang haben, dann folgen die kontingenten Wahrheiten direkt aus dem Willen Gottes. So setzt sich die necessitas ex hypothesi in die einzelnen Begriffe fort. 2.4. Rationale Prinzipien des Weltgeschehens Leibniz hat mit seiner Annahme, dass es stets einen Grund für Gottes Entscheidungen gibt (Deus nihil vult sine ratione), dafür gesorgt, dass die Welt insgesamt und zudem alle Einzeldinge für sich betrachtet als rational begründet angenommen werden können. Das heißt, dass die Welt eine rationale Ordnung besitzt und durch Prinzipien bestimmt ist, die selbst rational sind und also durch den Intellekt eingesehen werden können. Diese ordnungsgebenden rationes der Dinge können von Gott unmittelbar gedacht werden. Sie stehen über den Naturgesetzen und sind damit auch abstrakter als die einzelnen Naturereignisse. Vom Menschen können sie durch Nachvollzug der göttlichen Entscheidung in dem Maße hergeleitet werden, wie es dem endlichen Verstand möglich ist. Sie können aber auch a posteriori erforscht und durch Hypothesenbildung induktiv erschlossen werden. Angesichts der Endlichkeit des Menschen gelangen solche induktiven Urteile aber nie zu den letzten Wahrheiten oder zu endgültiger Gewissheit, denn weder kann Gottes Entscheidung von Menschenseite aus vollständig nachvollzogen, noch kann die Untersuchung der unterschiedlichen Phänomene auf ihre konstitutiven Prinzipien hin je abgeschlossen werden. Neben dem ontologischen Grund der Dinge im Willen Gottes etabliert der Satz vom Grund auch die prinzipielle und generelle Möglichkeit eines Beweises a priori und gibt zudem die Prinzipien vor, durch die der Weltablauf bestimmt ist. Die Prin-

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zipien der Natur sind allgegenwärtig, determinierend und keineswegs bloße Fiktionen der Menschen, in ihnen ist die Welt faktisch begründet. Was bedeutet dies? Leibniz nimmt eine Reihe von „Unterprinzipien“ an, für die es dreierlei Kriterien gibt. Diese Unterprinzipien müssen optimal sein, also auf so wenig Voraussetzungen beruhen wie möglich, sie müssen miteinander kompatibel und rational einsehbar sein. Sie sind Derivationen der universalen Harmonie, mithin die Instanzen, in der sich die größtmögliche Harmonie in der Welt ausdrückt. Es gibt fünf Prinzipien: 1.) Die Welt hat den größtmöglichen Reichtum an Formen und wird von der kleinstmöglichen Zahl an Gesetzen bestimmt (Prinzip des Besten in seiner Anwendung auf die Natur). 2.) Die Verkettung der Ereignisse ist vollständig bestimmt (Satz vom Grund als Kausalprinzip). 3.) Jeder Wirkung entspricht eine Gegenwirkung (Satz vom Grund als Prinzip der Äquipollenz von causa plena und effectus integer, Prinzip der Gleichheit von actio und reactio). 4.) Die Natur macht keine Sprünge (Prinzip der Kontinuität der Erscheinungen)155. 5.) Es gibt eine allumfassende Verknüpfung aller Dinge mit allen anderen (suvmpnoia pavnta)156. Das erste Prinzip greift einerseits auf die Vorstellung zurück, dass die Quantität des Guten selbst wieder gut ist, und andererseits auf Leibniz’ Entdeckung des infinitesimal Kleinen, durch das er mathematisch zeigen konnte, dass in jedem gegebenen, endlichen Raum unendlich viele Formen Platz finden. Die maximierte Quantität an Lebewesen trägt selbst zur erhöhten Perfektion der Welt bei, ebenso die Existenz intelligenter, frommer Lebewesen, die den Schöpfer für seine Schöpfung loben und rühmen können. Das zweite Prinzip ist der ontologisch verstandene Satz vom Grund (PSR). Durch ihn wird nicht nur die Möglichkeit einer Schöpfung aus dem Nichts ebenso ausgeschlossen wie ein Perpetuum Mobile, sondern er ermöglicht überhaupt eine Ursachenerklärung und manifestiert die Ordnung der Natur in ihrer allgemeinsten Form. Leibniz nimmt das dritte Prinzip an, um die theoretische Notwendigkeit eines Eingriffs Gottes in die Schöpfung zu eliminieren. Das wiederum bedeutet, dass jede Ursache ihren Effekt vollständig bestimmt, es also keine „metaphysischen“, völlig grundlosen Zufälle geben kann, sondern nur solche, die diesen Namen un155 Siehe dazu Poser, Hans: „Apriorismus der Prinzipien und Kontingenz der Naturgesetze. Das Leibniz-Paradigma der Naturwissenschaft“, in: Studia Leibnitiana, Sonderheft 13 (1984), 164– 179, v. a. 175 f. Poser unterscheidet freilich das Prinzip der Gleichheit von actio und reactio von der Äquipollenz von causa plena und effectus integer, was ich aber angesichts der hier vorgetragenen Rückführung aller Formen der Kausalität auf die Theorie der requisita nicht für notwendig halte. Zu den Textnachweisen siehe SD, GM VI, 241 f., Dynamica, GM VI, 287, sowie GM VI, 104; ähnlich auch GM II, 308. 156 DM § 33, A VI, 4, 1581 f.

Beweisbarkeit und Wahrheit

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serer unvollständigen Einsicht in die komplexe Kausalstruktur verdanken. Wären die Wirkungen unterdeterminiert, dann wäre Gott ein unvollkommener Schöpfer, der es nötig hat, seine eigenen Werke zu korrigieren. Wären die Wirkungen überdeterminiert, dann gäbe es Redundanzen in der Welt und diese wäre abermals unvollkommen. Der Kraftbegriff, den Leibniz in den 1680er Jahren in Anlehnung an Descartes und Galilei entwickelt, ermöglicht eine Quantifizierung von Veränderungen und damit einen Vergleich von Ursachen und Wirkungen. In letzter Instanz ist damit auch eine Vorform des Satzes der Energieerhaltung gemeint: Die Summe der Energie im Universum bleibt gleich. Das vierte Prinzip besagt, dass sich die Konsequenzen eines Ereignisses stets in der gesamten Welt bemerkbar machen. Jeder Körper kann in sich die Effekte aller Ereignisse im Universum spüren und daraus kann alles das hergeleitet werden, was jemals irgendwo passiert ist oder passieren wird. Der Ereigniskontext ist immer unendlich groß und umfasst stets alle anderen Dinge und Ereignisse. In den Schriften der sog. mittleren Jahre wird Leibniz dies dann als die prästabilierte Harmonie ausarbeiten. Die auf Hippocrates zurückgehende Formel des Allzusammenhanges (suvmpnoia pavnta) verwendet er gleichwohl bis in die späteren Schriften hinein157. Alle vier Prinzipien folgen nach Leibniz in letzter Instanz aus der Annahme, dass Gott nichts ohne Grund will, aus dem Satz vom Grund und aus dem Leibnizschen Begriff der perfectiones. Dabei sind diese Prinzipien kontingent, da sie von der Existenz einer Welt abhängen und nicht logisch notwendig sind. Die Prinzipien der universalen Ordnung und der Äquipollenz von Ursache und Wirkung sind kontingent158, aber zumindest in der besten aller möglichen Welten ist das Prinzip der Kontinuität notwendig159. Diesen Unterprinzipien kommen zudem verschiedene Funktionen zu: 1.) Sie begründen die Besonderheit einzelner Existenzen/Substanzen in einem durch Gesetzmäßigkeiten geordneten Kontext. 2.) Sie dienen als „regulative Ideen“ für die Naturwissenschaft. 3.) Sie sind die ordnungsmaximierenden Kriterien, nach denen Gott die Welt ausgesucht hat. 4.) Sie ermöglichen menschliche Erkenntnis. Sie vermitteln also den ursprünglichen Grund Gottes, sich für diese Welt zu entscheiden, in die Substanzen. Sie sind die Prinzipien, durch welche ein Gegenstand mit seinen Entstehungsbedingungen verbunden ist – und sie sind zugleich, in der von Leibniz begründeten Wissenschaft, die Erkenntnisgesetze, durch welche die Erkenntnisbedingungen mit dem entsprechenden erkannten Gegenstand zusam157 Vgl. Mo, § 61. 158 Lettre de M. L. sur un principe general utile à l’explication des loix de la nature, undatiert, GP III, 52. Vgl. Sleigh Jr., Robert C.: „Leibniz on the Two Great Principles of All Our Reasonings“, in: Woolhouse, Roger (Hrsg.): Gottfried Wilhelm Leibniz. Critical Assessments I, a. a. O., 31– 57, hier: 49. 159 Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum (1692), GP IV, 360.

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Teil II: Theorie der requisita

menhängen. Vermittels der Substanzen wird die lenkende Gesetzmäßigkeit der Prinzipien in ein für die materielle Welt formgebendes Naturwalten transponiert. Die Notwendigkeit der gesetzmäßigen Beziehung der Dinge untereinander aber ist im Willen Gottes, d. h. im Prinzip des Besten begründet. Damit liegt jeder Gesetzmäßigkeit ein moralisches Prinzip zugrunde, da Gott die Naturgesetze überhaupt erst im Rahmen der Weltenwahl selektiert und als relevant legitimiert. Die Naturgesetze sind somit selbst kontingent; sie sind paradigmatische Systemstrukturen in der Verkettung der Ereignisse. Für Leibniz ist es klar, dass eine apriorische Herleitung von konkreten Einzelgesetzen und Theorien wie etwa die der Erdentstehung oder des Blutkreislaufes praktisch nicht möglich ist. Solcherart Theorien und die in ihnen relevanten Gesetze werden von den Menschen durch Abstraktion, Idealisierung und Generalisierung von den konkreten Ereignissen her erforscht160. Der Grund der Bestimmung der Welt – und damit der Grund der Naturgesetze und des Kausalnexus im Allgemeinen wie im Besonderen – liegt also in letzter Instanz immer in Gottes freier Entscheidung zum Guten. Die Substanz ist dabei die vermittelnde Instanz, durch welche die ursprüngliche Entscheidung Gottes, die beste Welt auszusuchen, realisiert wird. Durch sie wird ein bestimmter Ideenkomplex, der unsere Welt bezeichnet, realisiert und um Zeitlichkeit und Perspektivität von Individuen sowie um eine physische Dynamik erweitert, die ein reales Streben zum Besten bedeutet. Die Ursachen sind dann nichts anderes als die prinzipiengesteuerten Manifestationen der ursprünglichen aktiven Kraft der Substanz, die sich in die physische Kraft übersetzt. Wird diese aktive Kraft mit einer Überlegung verknüpft und so konzipiert, dass sie bewusst auf ein ebenso kognitiv erkanntes und als positiv evaluiertes Ziel ausgerichtet ist, so wird diese Kraft als intentionales Streben gedacht. Doch auch ohne eine solche Intentionalität ist die ursprüngliche Aktivität der Substanz das Moment, welches die Ordnung der Welt überhaupt erst realisiert. Wenn Daniel Garber schreibt: „Leibniz wants to hold that even though everything is necessary, there are still final causes in the world“161, dann könnte man gleichwohl darauf antworten: Alles in der Welt ist deshalb kausal determiniert, weil es Finalursachen gibt. Dabei kann die Substanz ihrer von Gott vorhergesehenen Bestimmung nicht entkommen: Sie handelt gemäß ihrem Wesen. Dieses Wesen ist durch seinen Begriff jenseits aller Zeitlichkeit ideell vorgegeben und ist die formale Begründung der Substanz. Jeder Willensakt wird dabei ebenso von der Substanz aktiv hervorgebracht wie auch eine jede ihrer Handlungen. Das begriffliche Prinzip, welches die Realisierung der substanziellen Kraft steuert, fungiert in letzter Instanz als formaler Einheitsgrund des Lebewesens und ist durch das göttliche fiat erst instanziiert worden. Wie der Begriff auch für eine faktisch-ontologische Einheit von einem Individuum mit seinem Körper bestimmend ist, das wird im fünften Teil dieser Arbeit noch zu sehen sein. Da jede Kraft also durch ein begriffliches Prinzip 160 Siehe dazu Okruhlik, Kathleen: „The Status of Scientific Laws“, in: dies. / Brown, James B. (Hrsg.): The Natural Philosophy of Leibniz, Dordrecht 1985, 183–206; Poser, Hans: „Apriorismus der Prinzipien und Kontingenz der Naturgesetze. Das Leibniz-Paradigma der Naturwissenschaft“, in: Studia Leibnitiana, Sonderheft 13 (1984), 164–179. 161 Garber: Leibniz: Body, Substance, Monad, a. a. O., 232, Hervorhebung im Original.

Requisita

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vollständig bestimmt ist, könnte auch jede Ursache prinzipiell auch intellektuell eingesehen werden – von einem Geist, der in der Lage ist, eine unendlich lange Beweiskette durchzuführen. Für einen derart unendlichen Verstand geben begriffliche Gründe und physische Ursachen im gleichen Maße Auskunft zur Erklärung eines weltlichen Ereignisses: Ratio und causa fallen in der letzten Instanz zusammen, weil begriffsanalytische und kausal-nomologische Erklärungen gleichermaßen auf die Dependenz der Welt von Gottes Willen und Wissen, die in Gott ihre Einheit finden, zurückgehen. Dann bezeichnet der Ausdruck nihil sine ratione tatsächlich insgesamt die Tatsache, „wie man umgangssprachlich sagt, dass nichts ohne Grund ist.“162

162 „Ut vulgo aiunt, quod nihil fit sine causa.“ Specimen Inventorum (1688 [?]), A VI, 4, 1616. Vgl. ähnliche Formulierungen in GP VII, 301; GP II, 56; A VI, 4, 1645.

TEIL III: EINFACHE SUBSTANZEN Substantz ist das letzte Subiect der Realitaet. Ihr Verhaltnis zum Daseyn dieser heißt Kraft, und diese ist es allein, wodurch die Existentz der Substanz bezeichnet wird und worin ihre Existenz auch selbst besteht. Immanuel Kant1.

1. GRUNDPROBLEME DER SUBSTANZENLEHRE BEI LEIBNIZ In den folgenden Teilen soll die monadische Kausalität der einfachen Substanz zuerst für sich genommen untersucht und dann mit der physischen Kausalität in Zusammenhang gebracht werden. Das Aufzeigen einer physischen Wechselwirkung ist eine unvollständige Erklärung für ein Ding, denn für dessen vollständige Erkenntnis muss ebenso berücksichtigt werden, dass die Körper sowie deren Bewegung wiederum von den ihnen zugrunde liegenden Substanzen und ihrem Appetitus hervorgebracht werden. Zum Kraftbegriff bei Leibniz und zu seiner Konzeption der Kausalität selbst gibt es bereits mehrere einschlägige Arbeiten2. Der bescheidene Beitrag der vorliegenden Arbeit soll darin liegen, einen Vorschlag zu machen, wie es zu verstehen ist, dass die phänomenalen Körper und Kräfte aus den ihnen zugrunde liegenden Substanzen resultieren – wie also der transitive Kausalnexus aus einer immanenten Ursache entspringt. Leibniz’ Physik selbst, etwa die Theorie der Kraftübertragung beim Stoß und die Konzeption und Formalisierung der verschiedenen Kräfte, soll im folgenden Kapitel nur kurz angerissen werden. Dies dient der Vorbereitung auf die folgenden Überlegungen, in denen die viel diskutierte Problematik der Phänomenalität der Körper gegenüber der Theorie zugrunde liegender körperlicher Substanzen aufgegriffen wird. Vor dem Hintergrund der kausalen Konstitution der Materie durch die Monaden soll ein Vorschlag präsentiert werden, wie der Zusammenhang zwischen der Phänomenalität materieller Körper und der zugrunde liegenden Substanzen gedacht werden kann. Der Kausalitätsbegriff ist ab den 1680er Jahren in der Theorie der Kräfte eingebettet und diese wiederum nicht von der Theorie der 1 2

Kant, Immanuel: Handschriftlicher Nachlass, hrsg. von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Leipzig 1928, Bd. XVIII, 298. Bspw. Gale, George: „Leibniz’s Force: Where Physics and Metaphysics Collide“, in: Leibniz’ Dynamica, Studia Leibnitiana, Sonderheft 13 (1984), 62–70; Gueroult, Martial: Leibniz, Dynamique et Métaphysique, Paris 1967 (2. Auflage); Phemister, Pauline: Leibniz and the Natural World: Activity, Passivity and Corporeal Substances in Leibniz’ Philosophy, Dordrecht 2005; Stammel: Der Kraftbegriff in Leibniz’ Physik, a. a. O.

172

Teil III: Einfache Substanzen

Materie und der Substanzen zu trennen. Deshalb wird hier eine relativ umfassende Rekonstruktion der zentralen Momente des metaphysisch-naturphilosophischen Denkens von Leibniz angestrebt. Entscheidend für das Beibehalten der im vorigen Teil dargelegten formalen Ontologie ist Leibniz’ 1678 erfolgter Durchbruch in der Konzeption der physikalischen Kräfte, zusammen mit dem zeitgleich stattfindenden Ausarbeitung einer idealistischen Position, die hier als Phänomenalismus bezeichnet werden soll und die vor allem darin besteht, die Materie und die materiellen Dinge auf den Status des bloß phänomenal Gegebenen zu reduzieren. In den 1680er Jahren und später wird er diese neuen Ansätze in eine Theorie der einfachen und der körperlichen Substanzen integrieren. Erst im Rahmen eines derart umfassenden Theoriedesigns wird man verstehen, wie Leibniz an der aristotelischen Entelechie als Grund allen Werdens festhalten kann, diese mit der platonischen Allbeseeltheit der Körper und zugleich mit der mechanistischen Reduktion der Körper auf quantifizierbare Qualitäten verbindet. Dieser Theorie stellt Leibniz die neuplatonisch-augustinische Idee eines emanativen Hervorgehens der Körperwelt aus der Seele zur Seite, alles im Einklang mit einer mechanistischen Philosophie, die dem ontologischen Bereich des Physischen zugeordnet ist. Während man die Theorie der requisita als eine formalistische Kausalitätstheorie bezeichnen kann, so kann man die Monadenlehre selbst als eine ontologische Theorie der Kausalität lesen. 1.1. Phänomenalismus und Theorie der körperlichen Substanzen In diesem Teil soll die Begründung des physischen Kausalnexus betrachtet werden und die Frage, wie dieser mit der gottgegebenen Teleologie und dem göttlichen Plan für die Welt zusammenhängt. Dazu muss zuerst verstanden werden, wie Leibniz die Realität der physischen Dinge konzipiert. Es gilt, einen umfassenden Zusammenhang verschiedener Probleme zu reflektieren, der über den Begriff der Kraft zu den Substanzen und deren Perzeptionen zu der Konstitution der Materie führt. Das Denken der körperlichen Interaktion wird schließlich davon mitbestimmt, wie die Materialität der Körper konzipiert wird. Nun ist aber der Begriff der Materie ein abstrakter Begriff und zudem kein einfacher Begriff, sondern auflösbar in andere, einfachere Begriffe3 – und damit kann die Materie nicht als Grundbegriff bzw. als Primärqualität dienen, in der die sekundären Qualitäten der Körper begründet werden. Dazu kommt eine phänomenale Differenz: Körper sind erfahrbar, nicht aber Materie selbst. Es ist anzunehmen, dass es keinen philosophischen Zugang zum Materiebegriff gibt, der nicht über den Körperbegriff führt. Materie wird als das allen erfahrbaren Körpern gemeinsame Wirklichkeitsmoment gedacht. Die Körper der Geometrie sind nicht materiell, da sie rein intelligibel sind und nicht erfahrbar. Die wirklichen Körper sind durch die

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Brief an de Volder, 1699, GP II, 169 f.

Grundprobleme der Substanzenlehre bei Leibniz

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haptischen Qualitäten der Festigkeit und der Masseträgheit von unwirklichen, bloß visuellen Körpern wie dem Regenbogen verschieden (s. u.). Kein Punkt des leibnizschen Denkens ist so umstritten wie das Verhältnis zwischen Substanzen, Körpern und Erscheinungen. Dies beruht auf verschiedenen Problemen, die miteinander in Zusammenhang stehen. Zunächst ist der phänomenale Status der Körper zu konstatieren. In den frühen Schriften (TMA, TMC) konzipiert Leibniz eine Korpuskularphilosophie, in den späteren Schriften seine Monadenlehre, in der die Substanz als perzipierende Seele begriffen wird. Diese Positionen sind auf den ersten Blick zwar inkompatibel, aber dennoch widerruft Leibniz seine frühen Schriften nicht. So erklärt er in einigen Texten wortwörtlich, dass die materiellen Körper bloß kohärente Erscheinungen seien4. In anderen Texten ist dagegen die Rede davon, dass es körperliche Substanzen gibt und dass die Körper sich aus Substanzen zusammensetzen bzw. aggregieren5. Für beide Thesen werden noch mehr Belege angegeben und sie werden ausführlich erörtert, für die Problemexposition hier soll diese kurze Skizze hinreichend sein. Wie ist Leibniz’ Position zu bestimmen? Zunächst scheint es plausibel, zwei Positionen zu isolieren, die beide in Leibniz’ Schriften umfassend belegt werden können. Diese beiden Positionen sollen hier als Phänomenalismus und Theorie der körperlichen Substanzen bezeichnet werden. Zwar sollte gegenüber allen Arten von „-ismen“ der Verdacht der Vereinfachung gehegt werden, gerade wenn sie anachronistisch in eine Vergangenheit rückprojiziert werden, in der diese Begriffe ungeläufig waren. Hier sollen sie benutzt werden, um zwei aufeinander verweisende Bereiche des leibnizschen Systems klarer voneinander abzugrenzen und ihre Systematik offenzulegen. Die naheliegende und in der Forschung umfassend diskutierte Frage, ob Leibniz eine realistische oder idealistische Philosophie vertritt, soll so neu durchdacht werden. Erst dann kann die Logik der kausalen Veränderungen betrachtet werden. Als Phänomenalismus wird die Position bezeichnet, nach der die Körper auf harmonisierte Perzeptionen von einfachen Substanzen reduziert sind. Damit ist kein esse-est-percipii-Idealismus gemeint, den etwa Berkeley vertritt und den Leibniz entschieden ablehnt – Berkeley bezeichnet sich selbst als Immaterialist, was Leibniz völlig fern liegt. Sondern es handelt sich hier vor allem um eine Position, die am detailliertesten in den mittleren und späten Schriften entfaltet wird, deren Vorbedingungen aber gleichwohl schon deutlich früher gegeben sind. Leibniz macht diese Position mehrfach ganz unmißverständlich klar, beispielsweise in einem Brief an de Volder: Bedenkt man also diese Sache sorgfältig, so ist zu sagen, dass nichts in den Dingen ist denn einfache Substanzen und in diesen Perzeptionen und Appetitus; Materie jedoch und Bewegung sind nichts Substanzielles oder Dinge sondern Phänomene von Perzipierenden, ihre Realität liegt in den Perzeptionen selbst und (zu verschiedenen Zeiten) des Weiteren in der Harmonie der Perzipierenden.6 4 5 6

Z. B. „Corpora sunt apparitiones cohaerentes“, Calculus Ratiocinator (1679 [?]), A VI, 4, 279. „Sed materia est aggregatum Substantiarum, quia in materia sunt partes actu“, Communicata cum Fardella (1690), A VI, 4, 1671. „Imo rem accurate considerando dicendum est nihil in rebus esse nisi substantia simplices et in

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Teil III: Einfache Substanzen

Hier wird deutlich, dass der zusammengesetzten und ausgedehnten Materie keine eigene, d. i. letzte Realität zukommt, sondern dies nur bei einfachen Monaden der Fall ist. Diese sind vor allem als aus zwei Komponenten bestehend zu denken: Aus Perzeptionen, mit denen sie die körperlichen Dinge in ihrer Einheit repräsentieren; sowie aus dem Appetitus, der das innere Prinzip ausmacht, nach dem die Perzeptionen aufeinander folgen7. Aufgrund der prästabilierten Harmonie entsprechen sich die Perzeptionen der einfachen Substanzen, hier synonym mit Monaden, und die Welt wird isomorph perzipiert: Sie ist zwar den verschiedenen Perspektiven der einzelnen Monaden entsprechend gegeben, doch diese Perspektiven lassen sich der Struktur nach aufeinander abbilden. Wenn es heißt, dass einfache Substanzen der letzte Grund der Realität sind, dann bedeutet das: Es gibt außer Monaden keine weiteren Entitäten in der Welt, denen im gleichen Maße die Realität zukommt, die den Monaden innewohnt. Das bedeutet wiederum nicht, dass es sich hier um eine idealistische Interpretation Leibnizens handelt, denn die Monaden haben ja geradezu die Funktion, ein realistisches Verständnis der physischen Welt zu begründen – dazu später mehr. Kurz gesagt erfüllt der Phänomenalismus folgende Kriterien: – – – –

Körper sind nur Phänomene, keine Substanzen und nur perspektivisch gegeben, Subjekten kommt eine höhere – bzw. grundlegendere – Realität zu als Körpern, Subjekte sind Monaden, Es gibt in der Welt keine irreduzible Realität außer Monaden und deren Appetitus und Perzeptionen.

Die Theorie der körperlichen Substanzen dagegen besagt, dass die Körper aus Substanzen bzw. körperlichen Substanzen zusammengesetzt sind und deshalb über eigenständige Realität verfügen, auch wenn sie nicht selbst wieder als eine Substanz gelten können8. Dieser Aspekt der leibnizschen Philosophie wurde maßgeblich zuerst von Daniel Garber hervorgehoben9. Die Monaden sind demnach fundie-

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8 9

his perceptionem atque appetitum; materiam autem et motum non tam substantias aut res quam percipientium phaenomena esse, quorum realitas sita est in percipientium secum ipsis (pro diversis temporibus) et cum caeteris percipientibus harmonia.“ Brief an De Volder, 30 Juni 1704, GP II, 270. Siehe Mo §§ 1–15, GP V, 607 ff. Diese Position wird an prominenter Stelle vertreten von Volp, Wilhelm: Die Phaenomenalität der Materie bei Leibniz, Giessen 1903; Furth, Montgomery: „Monadology“, in: Philosophical Review 76 (1967), 169–200, wieder abgedruckt in: Woolhouse, Roger (Hrsg.): Gottfried Wilhelm Leibniz. Critical Assessments, Bd. IV, London, New York 1994, 2–28; Gurwitsch, Aron: Leibniz. Philosophie des Panlogismus, Berlin 1974; Broad, Charlie D.: Leibniz: An Introduction, Cambridge 1975; Ross, George MacDonald: „Leibniz’ Phenomenalism and the Construction of Matter“, in: Studia Leibnitiana, Sonderheft 13 (1984), 26–36; Mates, Benson: The philosophy of Leibniz. Metaphysics and language, Oxford 1986; Rutherford, Donald P.: „Phenomenalism and the Reality of Body“, in: Studia Leibnitiana 22.1 (1990), 11–28; Adams, Robert M.: Leibniz. Theist, Determinist, Idealist, Oxford 1994; u. a. Siehe dazu ausführlich Hartz, Glenn: Leibniz’ Final System, New York 2007, 103. Garber, Daniel: „Leibniz and the Foundation of Physics: The Middle Years“, in: Okruhlik,

Grundprobleme der Substanzenlehre bei Leibniz

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rende Elemente in einer umfassenden Substanzentheorie, die den Körpern eigenständige Realität zuspricht10. Ebenfalls sollen die Merkmale dieser Theorie kurz zusammengefasst werden: – – – –

Den Körpern kommt eine echte Einheit zu, Kraft dieser Einheit verfügen die Körper über eine irreduzible Realität, Diese Körper sind in ihrer Einheit eine körperliche Substanz, Aus ihnen setzen sich qua Aggregation die anderen Körper zusammen, die selbst keine irreduziblen Einheiten sind.

Jede dieser Theorien aber widerspricht jeweils anderen Aspekten des leibnizschen Denkens: So widerspricht der Phänomenalismus dem Vorhaben der Begründung der Physik in der Metaphysik, denn wenn Körper bloße Phänomene sind11, dann sind auch die Objekte der Physik, Masse und Bewegung etwa, bloße Erscheinungen, die nicht fundiert, d. h. real sind. Die Physik würde damit zu einem bloßen Gedankenspiel degradiert, das nur Illusionen, nicht aber die Dinge selbst betrifft12 und der Kraftbegriff würde nichts bezeichnen außer der Bewegung der Körper und wäre eine rein fiktionale Heuristik ohne Anspruch auf weitergehende Geltung. Eine Welt, in der die Körper aber bloße Illusionen sind, entspräche nicht dem Prinzip des Besten13 und wäre demnach gar nicht erst geschaffen worden. Da die Welt aber existiert, muss sie dem Prinzip des Besten entsprechen und demnach müssen auch die Körper in einem gewissen Maße wirklich sein. Die Aggregate-Theorie widerspricht wiederum der von Leibniz seit seinen frühen Schriften mehrfach vorgetragenen Annahme, dass jedes Individuum durch seine ganze Entität individuiert wird14. Dies ist eine ursprünglich von Suarez stammende Theorie, der die Notwendigkeit eines individuierenden und externen Prinzips jenseits der jeweiligen Entität ablehnt. Wenn das identitätsstiftende Prinzip aber nicht außerhalb des seienden Dings anzutreffen ist, dann kann dieses streng genommen keine Teile haben – weil es sonst Teile des Dinges gäbe, die entweder über ein eigenes Prinzip verfügen oder deren Seinsprinzip wiederum außerhalb ihrer verortet ist, im Ganzen oder in anderen Teilen. Entsprechend betont Leibniz auch später

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Kathleen / Brown, James B. (Hrsg.): The natural philosophy of Leibniz, Dordrecht 1985, 27– 130. Später dann ausführlicher in ders.: Leibniz: Body, Substance, Monad, Oxford 2009. Diese Position wird außer von Garber auch vertreten von in Hartz: Leibniz’ Final System, a. a. O.; Phemister: Leibniz and the Natural World, a. a. O.; u. a. Zu einer ausführlichen Analyse des Phänomenbegriffs bei Leibniz siehe Poser, Hans: „Phaenomenon bene fundatum. Leibnizens Monadologie als Phänomenologie“, in: Cristin, Renato / Sakai, Kiyoshi (Hrsg.): Phänomenologie und Leibniz, Freiburg, München 2000, 19–41. In einem Brief an de Volder vom 19. Januar 1706 heißt es: „tanquam extra percipientia non rem sed phaenomenon esse censeo, quemadmodum et ipsam Extensionem Molemque et Motum, quae non magis res sunt quam imago speculi aut iris in nube […].“ GP II, 281. Zu den logischen und modaltheoretischen Grundlagen des leibnizschen Denkens vgl. Poser, Hans: Zur Theorie der Modalbegriffe bei G. W. Leibniz, Studia Leibnitiana, Supplementa VI, Stuttgart 1969. Bspw. „Omne individuum sua tota entitate individuatur“, Disputationes Metaphysica (1663), A VI, 1, 11.

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Teil III: Einfache Substanzen

immer wieder, dass nur das ein Sein hat, was Eines (unum) ist, d. h. etwas Unteilbares – nämlich eine Substanz15: „Das Sein und das Eine fallen zusammen“16. Ein Aggregat, das zusammengesetzt ist aus anderen Substanzen, oder dem nur eine derivative Realität zukommt, kann selbst keine Substanz sein und dementsprechend keine Realität haben. Dennoch scheint Leibniz beides zu behaupten. Er spricht sowohl von zusammengesetzten Substanzen, welche sich aus Körper und Seele zusammensetzen, wie auch von körperlichen Substanzen, d. h. einem als substanziell anzunehmendem Körper. Ein entscheidendes Zitat findet sich in der Unterredung mit Fardella: Ich sage nicht, dass der Körper aus den Seelen zusammengesetzt ist, auch nicht, dass der Körper sich aus dem Aggregat von Seelen konstituiert, sondern aus dem Aggregat von Substanzen. Ferner ist die Seele, um es richtig und exakt zu sagen, keine Substanz, sondern die substanzielle Form oder die ursprüngliche Form, die den Substanzen innewohnt, das erste Wirken, das erste aktive Vermögen. Auch besteht die Kraft des Arguments darin, dass der Körper keine Substanz ist, sondern Substanzen oder ein Aggregat von Substanzen.17

Ähnliches wird auch in einem Brief an Biering betont: „Der Körper aber ist entweder eine körperliche Substanz oder eine aus den körperlichen Substanzen zusammengedrängte Masse.“18 Es lassen sich zahlreiche ähnliche Textbelege dafür finden, dass Leibniz die Körper gerade auf den Status einer bloßen Illusion degradiert, einige werden in Teil V. in der Untersuchung der Theorie der körperlichen Substanzen auch diskutiert. Wer also versucht, die verschiedenen Teile von Leibniz’ Philosophie miteinander in Einklang zu bringen, der hat drei interpretative Möglichkeiten. Erstens kann man Leibniz vorwerfen, das gleichzeitige Vertreten beider Theorien sei inkonsistent und er würde mehrere Positionen parallel oder je nur in Bezug auf je eine bestimmte Fragestellung entwickeln19. Zweitens kann man annehmen, Leibniz habe seine Philosophie geändert und sei zumindest in der Spätphilosophie, zu der die Monadenlehre zählt, von seiner in früheren Schriften entwickelten Philosophie der körperlichen Substanz abgewichen20. Drittens kann man versuchen, beide Ansätze 15

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„Ce qui n’est pas veritablement un estre, n’est pas non plus veritablement un estre“, Brief an Arnauld, 30. April 1687, A II, 2, 186. Vgl. ganz ähnlich: De Ipsa Natura § 9, GP IV, 509: „ita ut non tantum omne quod agit sit substantia singularis, sed etiam ut omnis singularis substantia agat sine intermissione.“ „Ens et unum convertuntur […]“, Brief an Des Bosses, 11./ 17. März 1706, GP II, 304. Communicata ex Disputationibus cum Fardella, A VI, 4, 1670: „Non dico corpus componi ex animabus, neque animarum aggregato corpus constitui; sed substantiarum. Anima autem proprie et accurate loquendo non est substantia, sed est forma substantialis seu forma primitiva inexistens substantiae, primus actus, prima facultas activa. Vis autem argumenti in hoc consistit, quod corpus non est substantia sed substantiae, seu substantiarum aggregatum.“ Leibniz an Bierling, 12. 8. 1711; GP VII, 501: „Corpus autem est vel substantia corporea, vel massa ex substantiis corporeis collecta.“ Den Vorwurf der Inkonsistenz und die verschiedenen Reaktionen der Leibniz-Interpreten legt Glenn Hartz dar: „Inconsistency in Leibniz’s Metaphysics of Body is consistent with his Strategy“, in: Poser, Hans (Hrsg.): Nihil sine Ratione. VII. Internationaler Leibniz- Kongress, Berlin 2001, 470–477. Bspw. Garber: Leibniz: Body, Substance, Monad a. a. O.

Grundprobleme der Substanzenlehre bei Leibniz

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miteinander kohärent in Verbindung zu bringen. Dafür wurde gelegentlich auch die Lösung gewählt, beide Ansätze als unterschiedliche Perspektiven auf dieselbe Sache zu deuten21. In Bezug auf die Frage, ob die Körper rein ideal oder auch real seien, wird die Realität der Körper gelegentlich als Korrelat der Perzeptionen begriffen, z. B. von Bertrand Russell22. Die Annahme von Objekten außerhalb der Perzeptionen widerspricht aber der wiederholten Behauptung Leibniz’, dass die Körper nur phänomenal gegeben sind und es nichts außer einfachen Substanzen und ihren Modifikationen gibt. Dazu kommt, dass Leibniz immer wieder die unendliche Teilbarkeit der Körper betont und dass die Substanzen, die der Materie zugrunde liegen, keine realen Teile der Materie sein können23. Ebenso aber behauptet er die Rückführbarkeit der Materie auf letzte, unteilbare Einheiten, auf substanzielle Atome, da jeder Teil der Materie unteilbare Einheit, Monaden, enthält24. Die unendliche Teilbarkeit sieht Leibniz darin gegeben, dass die Körper bloße Erscheinungen sind: Diese selbst sind unendlich teilbar und man wird nie Teile finden, die selbst nicht mehr teilbar sind. Alles Ausgedehnte ist ein Kontinuum, das keine Brüche oder gar Leerräume kennt. Den Gedanken, dass die Materie unendlich geteilt werden kann, weil die Atome der Materie unendlich klein sind, lehnt Leibniz explizit ab. Dies wird deutlich in einer von Leibniz häufig aufgestellten Behauptung, dass es keine realen, infinitesimalen Bestandteile in der Materie gibt: Um die Wahrheit zu sagen, ich bin selbst nicht besonders überzeugt, dass man unser Unendliches und unser unendlich Kleines für nichts anderes als ideale Dinge halten muss, oder als wohlfundierte Fiktionen […]. Ich glaube nicht, dass es sie gibt, nicht einmal, dass es unendlich Kleines gibt, und das ist das, was ich zu beweisen können glaube.25 21 22

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Z. B. Mahnke, Dietrich: Leibnizens Sythese von Universalmathematik und Individualmetaphysik, Halle 1925, 305–612; Robinet, André: Architectonique Disjonctive, Automates Systèmiques et Idéalité Transcendentale dans l’Œuvre de G. W. Leibniz, Paris 1986. Bertrand Russell macht immer wieder auf diese Entsprechung zwischen Phänomen und gegebener Welt aufmerksam, siehe bspw. Russell, Bertrand: A Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz, London 1937 (2. Auflage) u. ö., z. B. 107: „We assume, as Leibniz always does, that our perceptions of matter correspond to a real world outside us.“ Die Welt liegt nicht außerhalb der Phänomene und eine Fundierung ihrer Wirklichkeit durch andere Substanzen ist nicht dasselbe wie eine Korrespondenzbeziehung. Nicht die Substanzen entsprechen den Phänomenen, sondern die Perzeptionen jeder Substanz entsprechen einander mittels der prästabilierten Harmonie. „Quemadmodum non punctum est pars lineae, sed lineae in que est punctum, ita quoque anima non est pars materiae, sed corpus cui inest.“ Communicata ex Disputationibus cum Fardella, März 1690 (?), A VI, 4, 1671. „Da es überall Monaden oder Prinzipien einer substanziellen Einheit in der Materie gibt, folgt daraus ebenfalls, dass es ein aktual Unendliches gibt, denn es gibt keinen Teil oder Teil eines Teils, der nicht Monaden enthält.“ – „Cum ubique Monades seu principia unitatis substantialis sint in materia, consequitur hinc quoque infinitum actu dari, nam nulla pars est aut pars partis quae non monades contineat.“ Brief an Des Bosses, 14. Februar 1706, GP II, 301; vgl. „Imo nullam habent aliam realitatem quam eam quae est Unitatem quae insunt.“ Brief an de Volder, 21. Januar 1704, GP II, 261. „Pour dire le vray, je ne suis pas trop persuadé moi même, qu’il faut considerer nos infinis et inifinimet petits autrement que comme des choses ideales ou comme des fictions bien fondées […]. Je ne crois point qu’il y en ait, ny même qu’il y en puisse avoir d’infiniment petites et c’est

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Teil III: Einfache Substanzen

Hier klingt die Position von Galilei, Digby und Hobbes nach, denen zufolge die Materie nicht aus bereits präexistenten Teilen als ein Zusammengesetztes besteht, sondern sich als Ganzes präsentiert, und dass die bislang nur potenziell existierenden Teile im Prozess der Teilung erst entstehen26. Die unendlich kleinen Bestandteile werden in die Dinge hineingedacht. So sei als Beispiel Thomas Hobbes zitiert: Demnach heißt Teile bilden oder teilen […] nichts anderes, als innerhalb ein und desselben etwas und dann etwas anderes und so fort zu betrachten. […] Denn die erste Vorstellung, von der man ausgeht, ist die Vorstellung dessen, das geteilt werden soll; sodann erst gelangt man zu der eines Teiles von ihm und sodann eines weiteren und so fort, solange man im Teilen fortschreitet.27

Das heißt, dass die Teilung des konkreten, in der Erfahrung real Ausgedehnten nicht im Teilungsprozess selbst zu den letzten Einheiten führt, sondern dass die Teilung und mithin das Ausgedehnte schlechthin nur aufgrund der Annahme von Unausgedehntem gedacht werden kann. Dies leitet sich aus theologischen Prinzipien her: Die Welt wäre nicht die Beste aller Welten, wenn die Phänomene nur unfundierte Erscheinungen wären. Deswegen muss die Materie fundiert sein in und durch letzte, unteilbare Atome. Da das Unteilbare stets als Substanz zu denken ist, muss die Materie in Substanzen fundiert sein. Diese apriorische (Be-)Gründung der materiellen Welt in Substanzen, welche je Eines (unum) sind, darf nicht verwechselt werden mit dem Auffinden von wahren Einheiten (unitates) in der Materie. Problematisch ist hierbei die von Leibniz selbst getroffene Unterscheidung zwischen seinen veröffentlichten und den nicht zur Veröffentlichung bestimmten Schriften sowie die Bereitschaft, seine Philosophie auf den Adressaten hin anzupassen und manche Aspekte mal mehr, mal weniger deutlich auszusprechen. Dies hat ihm die Kritik von Bertrand Russell eingetragen, einige in diesem Zusammenhang wichtige Aspekte seien „rather the confession[s] of a diplomat than the creed of a philosopher“28. Da viele der phänomenalistischen Texte bis in die späteren Jahre oft weitgehend unpubliziert geblieben sind, kann man vermuten, dass er hier vielleicht eine negative Reaktion von Seiten der Cartesianer aus gefürchtet haben mag, etwa von seinem langjährigen Briefpartner Arnauld: It is true that he tended to keep quiet about his phenomenalism in his published writings and in his correspondence with relative strangers; but in his more intimate letters and private notes he was quite outspoken.29

26 27

28 29

ce que je crois pouvoir demonstrer.“ Brief an Varignon vom 20. Juni 1702, GM IV, 110; vgl. auch GM V, 350; GP II, 305. Vgl. dazu: Holden, Thomas: The Architecture of Matter, Oxford 2006, 18 f. u. 98. „Partes ergo facere, seu partiri, […] nihil aliud est, quam in ipso aliud atque aliud considerare. […] [N]am primus conceptus erit ipsius dividendi, deinde partis ejus, et deinde partis alterius, et sic perpetuo quoad dividere ulterius perget.“ Hobbes: De Corpore 7, 5, OL I, 96 f. Die Übersetzung folgt der von Max Frischeisen-Köhler, siehe Hobbes, Thomas: Grundzüge der Philosophie: Lehre vom Körper, Hamburg 1980, 80. Russell: A critical exposition, a. a. O., 152. Auch Russell betont die Disjunktion zwischen zwei inkonsistenten Theorien, vgl. 147 ff. Ross, George MacDonald: „Leibniz’ Phenomenalism and the Construction of Matter“, in: Heinekamp, Albert (Hrsg.): Leibniz’ Dynamica, Studia Leibnitiana, Sonderheft 13, Stuttgart 1984, 26–36, hier 27.

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An manchen Textstellen scheint es wiederum ganz unklar zu sein, welche Position Leibniz einnimmt. So heißt es z. B. wie folgt: Es folgt also, dass es keine körperlichen Substanzen gibt, und dass Körper bloß wahre Phänomene sind, die untereinander konsistent sind, wie der Regenbogen oder wie ein perfekt kohärenter Traum; oder dass es in allen körperlichen Substanzen etwas gibt, das der Seele analog ist, das die Alten Form oder Gattung nannten.30

Dazu schreibt George MacDonald Ross: Some commentators have interpreted this passage as making a contrast between the following two possible theories: firstly, the phenomenalist theory that there exist only human minds and their perceptions; and secondly the realist theory that physical objects do exist outside human minds, but with the Leibnizian qualifications that they are animated by soul-like substances.31

Es gilt, präzise zwischen einer in verschiedenen Hypothesen und mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten beschriebenen Ontologie und der Annahme verschiedener Ontologien insgesamt zu unterscheiden. George Gale verweist diesbezüglich auf eine typische Undeutlichkeit, die Missverständnisse hervorbringt: Many, if not most of, these apparent inconsistencies can be clarified and eliminated by carefully determining whether Leibniz in a given passage is discussing observable phenomena, or the theoretical entities of physics, or, finally, the entities of metaphysics.32

Das scheint hier der entscheidende Aspekt zu sein, wie die Texte Leibnizens zu verstehen sind und dient im Folgenden als methodologischer Leitgedanke. Auffällig und Verwirrung stiftend sind Leibniz’ verschiedene Ansätze und Herleitungen des Substanzbegriffs: In der Monadologie z. B. leitet er die Existenz der einfachen Substanzen aus der Empirie her, vor allem aus dem Grund, weil in der Empirie Zusammengesetztes unbezweifelbar erfahren wird: „Und es ist notwendig, dass es einfache Substanzen gibt, denn es gibt zusammengesetzte.“33 Aus der postulierten Existenz der Monaden leitet er daraufhin die prästabilierte Harmonie her. In der Theodizee jedoch folgert er umgekehrt aus der prästabilierten Harmonie, die ein Postulat der Metaphysik ist, auf die Existenz der einfachen Substanzen34. Daraus allein sollte man jedoch nicht schließen, dass Leibniz’ Philosophie inkonsistent ist. Vielmehr erneuert dieses Beispiel die Zweifel, ob Leibniz’ Philosophie wirklich axiomatisch aufgebaut ist; und es wirft erneut die Frage auf, wie die Beziehung zwischen den verschiedenen Hypothesen der Metaphysik, Physik und Phänomenologie, zwischen Materie und Phänomen und schließlich zwischen Körpern und Wahrnehmungen zu denken ist.

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„Sequitur etiam, aut nullas esse substantias corporeas et corpora esse tantum phaenomena vera sive inter se consistentia, ut iris, imo ut somnium perfecte cohaerens, aut in omnibus substantiis corporeis inesse aliquid analogum Animae, quod veteres formam aut speciem appellarunt.“ Specimen Inventorum (1688 [?]), A VI, 4, 1622. Ross: „Leibniz’ Phenomenalism“, a. a. O., 26. Gale, George: „The Physical Theory of Leibniz“, in: Studia Leibnitiana 2.2 (1970), 114–127, hier 126. „Et il faut qu’il y ait des Substances Simples, puis qu’il y a des composés“, Mo § 2, GP VI, 607. TD § 10, GP VI, 56.

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Teil III: Einfache Substanzen

Beide Perspektiven – die Aggregate-Theorie und dem Phänomenalismus – eröffnen eine je eigene Erklärungsstrategie, die ihren eigenen Explananda angemessen ist, und in ihnen wird eine eigene ontologische Architektonik postuliert. Dietrich Mahnke, der als Erster den Perspektivenpluralismus bei Leibniz untersucht hat, formuliert eine ähnliche, aber methodologische Verschiedenheit zweier Perspektiven: Die Monade ist zwar einerseits ein selbstgenügsamer Mikrokosmos, der alle Lebensinhalte aus dem eigenen Wesen schöpft, aber zugleich auf der anderen Seite nur ein Element der harmonischen Weltgesetzmäßigkeit; das erstere gilt vom Standpunkt der begriffsanalytischen Inhaltslogik, das letztere vom Standpunkt der gesetzessynthetischen Umfangslogik, also nach Leibniz von zwei gleichberechtigten, wenn auch entgegengesetzten Standpunkten betrachtet.35

Die begriffsanalytische Inhaltslogik analysiert das Enthalten-sein (inesse) der Prädikate im Subjekt – als Korrelat zu der Immanenz der Welt in der Monade. Die Umfangslogik bezieht sich dagegen auf die Extension des Monadenbegriffs, d. h. auf die Pluralität der Monaden. Die „einseitige Bevorzugung“ der Inhaltslogik, so Mahnke, entspricht auf ontologischer Ebene der hier beschriebenen Grundlegung der Theorie der einfachen Substanzen, welche der Ontologie der Körper vorausgeht. Die These, dass beide Perspektiven einander entgegengesetzt sind, mag in Bezug auf deren Methodik berechtigt sein, sie beschreiben aber dieselbe Ontologie, gleichwohl methodisch wie begrifflich unterschiedlich. Dies ist keineswegs ungewöhnlich, wie man an einem modernen Beispiel verdeutlichen kann: Ein einfaches Pendel kann mit einfacher Mechanik, d. h. mit Differenzialgleichungen beschrieben werden, die auf Newtons Bewegungsgesetzen basieren. Diese Beschreibung greift jedoch nicht mehr, sobald das einfache Pendel durch ein Doppelpendel ersetzt wird, das chaotischen, nicht-linearen Bewegungsabläufen unterliegt. Die klassische Mechanik scheitert bei dieser Beschreibung, da man sich für eine Formalisierung der Bewegungsabläufe durch nicht-lineare Differentialgleichungen bedienen muss. Dabei ist es jedoch nicht vonnöten, zusätzlich zu dem Wechsel der Beschreibungsebene auch eine neue Ontologie anzunehmen. Doch es gibt Indizien dafür, dass der Widerspruch zwischen beiden Theorien sich als ein nur scheinbarer Widerspruch entpuppen wird, wenn man beide zueinander in einen entsprechenden systematischen Kontext setzt. Ein solches Indiz ist die Tatsache, dass sich die wichtigen Konzepte von Leibniz’ Substanzenmetaphysik seit dem Discours und dem Specimen Dynamicum nicht fundamental geändert haben, wohl aber, dass sie erweitert, verbessert und ergänzt worden sind. Dabei hat Leibniz stets einen hohen Anspruch an die systematische Kohärenz seiner Postulate und Hypothesen erhoben. Es scheint eher unplausibel, dass Leibniz die eigenen Ansprüche an Kohärenz und Systematik durch einen so offensichtlichen Theoriedualismus hintergeht, während nichts gegen einen Perspektivenpluralismus spricht. Dies sei nun näher ausgeführt. Leibniz hat, wie eingangs dargelegt, seine Philosophie nie als ein geschlossenes System entwickelt, sondern er differenziert 35

Mahnke, Dietrich: Leibnizens Sythese von Universalmathematik und Individualmetaphysik, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Halle 1925, 305–612, hier 340 f.

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zwischen den verschiedenen Methoden, Disziplinen und Wissenschaften, welchen jeweils verschiedene Inhalte, verschiedene Ausdrucksweisen und verschiedene Erklärungen zugesprochen werden. Das Alltagsleben und dessen Sprache werden ebenso in ihrer Berechtigung und Eigenständigkeit berücksichtigt36 wie die Wissenschaft von der Natur und ihren Erscheinungen. Auch hat sich Leibniz wiederholt zugunsten methodischer und wissenschaftlicher Vielseitigkeit ausgesprochen37. Es wird so ein methodischer Pluralismus eröffnet, in dem eine Hierarchie von Ordnungen aufgebaut wird38. Dadurch können verschiedene Theorien oder TheorieAspekte im leibnizschen System in Beziehung miteinander stehen, sich ergänzen und andere Aufgaben erfüllen; jeder Interpret befindet sich schon immer in einem Verweisungsgeflecht begrifflicher Strukturen, in dem sich verschiedene Begriffe stets auf andere beziehen, diese voraussetzen oder als Ergänzung benötigen, um verständlich zu sein. Dieser methodischen Vielfalt steht eine Konziliatorik gegenüber, welche die verschiedenen Momente der Methoden und der Problemstellungen vereint, aufeinander bezieht und als voneinander abhängig betrachtet. Mehrfach betont Leibniz, dass er seine philosophischen Vorgänger nicht so sehr als falsch kritisiert, als er ihnen vielmehr anlastet, nicht weit und umfassend genug gedacht zu haben. Dabei behauptet er auch, dass er immer wieder Wege findet, die Ideen seiner Vorgänger zu rechtfertigen39. Dieser Selbstdarstellung aber stehen die Polemiken gegen z. B. Descartes und Clarke gegenüber, die durchaus scharf und abwertend geführt werden. Der hier vorgetragene Ansatz versucht, Leibniz’ entworfene Ontologie zu rekonstruieren und die scheinbaren Differenzen zwischen Phänomenalismus und Aggregate-Theorie aufzuheben. Wir werden dabei sehen, dass sowohl körperliche Substanzen als auch Monaden wirklich sind, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Die körperlichen Substanzen hängen ontologisch von den Monaden ab, verlieren deswegen dennoch nicht ihren Charakter als ontologischer Grund, im aristotelischen Sinne als uJpoceivmenon verstanden. So finden sich verschiedene Indizien, die zur Rechtfertigung dieser kompatibilistischen Interpretation herangezogen werden können. Leibniz’ Rede von einer „höchsten Wirklichkeit“, die er der monadischen Einheit zuspricht, deutet darauf hin, dass es auch eine oder mehrere „niedrigere“, also derivative Wirklichkeitsstufen gibt40. Donald Rutherford hat Recht, wenn er schreibt, dass Leibniz’ Realitätsbegriff in Bezug auf die Realität der Körper zwei verschiedene Bedeutungen hat: 36 37 38 39 40

Vgl. DM § 16, A VI, 4, 1554 f. Vgl. bspw. Brief an Nicaise, 5. Juni 1692, GP II, 534 f.; ähnlich GP VII, 494. Vgl. Serres, Michel: Le système de Leibniz et ses Modéles Mathematiques, Paris 1968, 14; vgl. auch 33. Vgl. bspw. Brief an Coste, 4. Juli 1706, GP III, 384. Ähnlich auch GP III, 562, sowie ebd., 620. Dass Leibniz nicht nur einen Wirklichkeitsbegriff hat, deutet u. a. die folgende Stelle an: „Substantia autem credo Ens est reale et maxime quidem.“ Brief an de Volder, 23. Juni 1699, GP II, 182. Wenn von einem höchsten Sein (Ens) die Rede ist, impliziert dieses auch andere, niedrigere Formen der Realität. So spricht Leibniz an zahlreichen Stellen auch den physischen Dingen und Kräften Wirklichkeit zu, macht dabei aber immer wieder deutlich, dass diese Realität sich nur auf den Bereich der Phänomene erstreckt.

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Teil III: Einfache Substanzen If it can be shown that Leibniz recognizes no inconsistency in asserting both that the phenomena of bodies are ‚real‘ by virtue of being grounded in the primary reality of monads, and that the ‚reality‘ of these phenomena is located in the harmony of monadic perceivers, we can only conclude that he is using the expressions ‚real‘ and ‚reality‘ in different senses in the two cases.41

Dafür sollte man beachten, dass Leibniz neben seiner philosophisch-wissenschaftlichen Perspektive noch eine Redeweise zulässt, die unserem alltäglichen Weltbild entspricht und so die Phänomene rechtfertigt, auch wenn diese Beschreibungen einer strengen wissenschaftlichen Analyse nicht standhalten können. Diese Differenz zwischen eigentlichem und hypothetischem Vokabular, die vor allem seit den 1680er Jahren zutage tritt, soll kurz in einem eigenen Kapitel besprochen werden. 1.2. Phänomenale und metaphysische Beschreibung Leibniz betont bereits in seinem Vorwort zum Nizolius (1670), dass philosophisch präzise Termini verwendet werden müssen, um die wirklichen Strukturen unter der Oberfläche verschwommener Alltagsbegriffe und ihrer Anwendungen herauszuarbeiten. Der Philosoph hat mit seiner Wahrheitssuche einen anderen Anspruch als der, der sich des Alltagsvokabulars bedient42. Dabei ist das Alltagsvokabular nicht unnütz oder falsch, es dient jedoch einem anderen Erklärungsanspruch als die metaphysische Terminologie und muss prinzipiell mit dem philosophisch präzisen Vokabular kompatibel sein. Die alltägliche Sprechweise ist „gut und haltbar“43, wir sagen nicht prinzipiell etwas Falsches, wenn wir uns in ihr ausdrücken44. Diese terminologische und perspektivische Disjunktion, durch welche diese ‚Rettung der Phänomene‘ von dem Unterfangen einer echten Metaphysik getrennt wird, macht Leibniz in folgendem Zitat deutlich: Ich scheue mich sogar nicht zu sagen, daß die Seele den Körper bewegt. Und ebenso wie ein Kopernikaner wahrhaft vom Aufgang der Sonne spricht, ein Platoniker von der Wirklichkeit der Materie, ein Cartesianer von der der sinnlichen Eigenschaften, unter der Voraussetzung, daß man ihn richtig verstehe, so glaube ich gleicherweise, daß es durchaus wahr ist zu sagen, daß die Substanzen aufeinander wirken […].45 41 42 43 44 45

Rutherford, Donald P.: „Phenomenalism and the Reality of Body“, in: Studia Leibnitiana 22.1 (1990), 23. A VI, 4, 306 f. Siehe dazu auch Blank, Andreas: Metaphysics and Metaphilosophy, München 2005, 26 f. NE I, Kapitel I, § 1, A VI, 6, 74. DM § 27, A VI, 4, 1573 f. „Je ne fuiray pas même de dire que l’ame remue le corps, et comme un Copernicien parle veritablement du lever du soleil […], pourveu qu’on l’entende sainement, je crois de même qu’il est tres vray de dire que les substances agissent les unes sur les autres, pourveu qu’on entende que l’une est cause des changemens dans l’autre en consequence des loix de l’Harmonie.“ Erläuterungen zum Neuen System, GP IV, 495. Siehe dazu TD § 65: „Im gewöhnlichen Sinn jedoch und dem Anschein entsprechend zu reden, müssen wir sagen, dass die Seele in gewisser Weise vom Körper und den sinnlichen Eindrücken abhängig ist, etwa wie wir mit Ptolemäus und Tycho de Brahe im alltäglichen Sprachgebrauch reden und mit Copernicus denken, wenn es sich um den Aufgang oder Niedergang der Sonne handelt.“ – „Cependant, dans le sens po-

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Der kopernikanische Entwurf eines heliozentrischen Weltbildes macht die Redeweise von einem Sonnenaufgang im wörtlichen Sinne verstanden obsolet. Eine der modernen Kosmologie angemessene Redeweise würde allerdings unserem alltäglichen Empfinden widersprechen, da wir statt der Erdbewegung nur die Sonnenbewegung wahrnehmen können. Wie in obigem Zitat bereits angedeutet wird, ist dieser terminologische Unterschied auch für die Konzeption der Kausalität relevant: Zwar gibt es Formen der Kausalität zwischen den Substanzen, aber nicht im metaphysischen Sinne, sondern nur im Bereich unserer Phänomene. Es kann uns gelegentlich so erscheinen, als ob ein Teil der Prinzipien unserer Handlungen außerhalb von uns lägen: Ich räume ein, dass man sich so ausdrücken muss, wenn man sich dem gewöhnlichen Sprachgebrauch anbequemt, was in einem gewissen Sinne ohne Verletzung der Wahrheit geschehen kann. Handelt es sich aber um eine genaue Ausdrucksweise, so behaupte ich, dass unsere Spontaneität keine Ausnahme duldet, und dass die äußeren Dinge, streng philosophisch gesprochen, keinen physischen Einfluss auf uns haben.46

Dies bezieht sich auch auf die prästabilierte Harmonie, die bewirkt, dass die Substanzen im Einklang miteinander ihre eigenen Veränderungen hervorbringen, ohne dass es zu einem Einfluss untereinander kommen kann oder ohne dass Gott regulierend eingreift. Die Alltagssprache trägt also unserer Erlebniswirklichkeit Rechnung und kann auch in gewissem Maße wahrheitsgemäße Formulierungen erlauben, auch wenn diese keiner philosophisch strengen Betrachtung standhalten. Dies gilt im gleichen Maße auch für die beobachtete Relativbewegung, nach der die Kausalrelationen von der Betrachterperspektive abhängig sind. Wir begreifen einen Körper dann ist als bewegt, wenn er die nächste Effizienzursache für Veränderungen in anderen Körper ist. Dies bedeutet auch, dass im Falle einer Bewegung von A an B vorbei, ohne dass eine kausale Interaktion beider Körper stattfindet, diese zumindest in rein mathematischer Hinsicht als ruhend oder bewegt betrachtet werden können47. Leibniz hatte bereits in seiner Pariser Zeit die Relativität der Bewegung konzipiert und festgestellt, dass jede Bewegungszuschreibung an unser Erklärungsinteresse und die Kohärenz unseres Weltbildes gebunden ist, so dass verschiedene Erklärungen gleichberechtigt sein können. So schreibt er etwa in seinem Entwurf Principia Mechanica (1673–76 [?]): Also sagen wir, dass ein Stein zur Erde hinabfällt, anstelle zu sagen, dass der Erdglobus, zusammen mit dem gesamten Universum, zu ihm hinaufspringt. Aber selbst wenn vielleicht ent-

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pulaire, en parlant suivant les apparences, nous devons dire que l’àme dépend en quelque manière du corps et des impressions des sens: à peu près comme nous parlons avec Ptolémée et Tycho dans l’usage ordinaire, et pensons avec Copernic, quand il s’agit du lever ou du coucher du soleil.“ GP VI, 87. TD § 290: „J’avoue qu’on est obligé de parler ainsi, en s’accomodant au langage populaire, ce qu’on peut faire dans un certain sens, sans blesser la verité: mais quand il s’agit de s’expliquer exactement, je maintiens que nostre spontanéite ne souffre point d’exception, et que les choses extérieures n’ont point d’influence physiques sur nous, à parler dans la rigueur philosophique.“ GP VI, 289. Siehe Specimina de motu causa (1678–81 [?]), A VI, 4, 2011; ähnlich ebd., 2017 f.

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Teil III: Einfache Substanzen weder das Hinabfallen des Steines oder das Hinaufspringen der Erde gleicherweise der Natur fremd wäre, so passiert nichts wirklich als ein gewisser, relativer Wechsel der Lage (situs) oder eine Übersetzung von einem fernen Platz in einen benachbarten.48

Eine Lageveränderung aber ist kein absoluter Ortswechsel, sondern geschieht nur relativ zu anderen Körpern. Demnach beruhen Bewegungen ausschließlich auf unserer im Betrachter begründeten Perspektive, ohne dass wir eine absolute Bewegung feststellen könnten. Die Bewegung ist also rein durch Relationen zu definieren, ohne dass sie deswegen gänzlich negiert werden müsste, denn als Hypothese hat die Annahme einer echten Geschwindigkeit große Erklärungskapazität und damit Berechtigung: Und was die absolute Bewegung anbetrifft, so kann nichts sie mathematisch bestimmen, weil alles sich durch Beziehungen definiert. Das bewirkt, dass immer eine vollkommene Gleichgewichtigkeit der Hypothesen besteht, wie in der Astronomie, so dass es, welche Zahl von Körpern man auch nehmen mag, willkürlich ist, welchem man die Ruhe oder auch einen Geschwindigkeitsgrad zuschreiben (assigner) will […]. Indessen ist es vernünftig, gemäß der Annahme, die auf die verständlichste Weise die Phänomene begründet, den Körpern wirkliche Bewegungen zuzuschreiben (attribuer), da diese Bezeichnung dem Begriff der Wirksamkeit entspricht, den ich festgesetzt habe.49

Eine absolute Bewegung würde auch eine absolute Zuschreibung von Ursachen möglich machen. Da aber keine mathematische, also endgültige Bestimmung durch präzise Begriffe möglich ist, verbleibt die Bewegung eine bloße Zuschreibung, d. h. es handelt sich nicht um ein wahres Prädikat, das objektiv einer Substanz zukommt, sondern um ein Prädikat, das einem Körper durch einen Beobachter zugeschrieben werden muss und keineswegs in dem Begriff des Körpers inbegriffen ist. Nichtsdestotrotz muss ein Mindestmaß an Bewegung postuliert werden, denn kein noch so kleiner Körper kann als stillstehend begriffen werden. Diese Minimalbewegung ist als requisitum für die beobachtbare Festigkeit und die Lebendigkeit der Körper zu begreifen, nicht aber als ein absolutes Faktum und wird nicht als Ursache einer real beobachtbaren Veränderung begriffen, wohl aber als Beginn einer relativen Bewegung (siehe Teil IV, 2.1 und 2.2). 48

49

„Sic lapidem potius in terram descendere dicemus, quam globum telluris cum toto universo versus ipsum subsultare. Tametis forte vel descensus lapidis vel subsultatio telluris aeque a natura aliena sint, neque aliud quam respectiva quaedam situs mutatio, sive translatio ex dissito loco in viciniam revera contingat.“ A VI, 3, 111. Siehe ebenso: „Ein Körper ist in Bewegung, wenn er die nächste Effizienzursache ist, warum der eine oder andere Teil von ihm sich in Bezug auf andere Körper sich verändert; ansonsten sagt man, er würde ruhen.“ – „Corpus in Motu est, quod est causa efficiens proxima cur pars quaelibet ipsius situm cum aliis corporibus mutet; alioqui dicitur Quiescere.“ Specimina de motu causa, A VI, 4, 2011. „Et quant au mouvement absolu, rien ne peut le determiner mathematiquement, puisque tout se termine en rapports: ce qui fait qu’il y a tousjours une parfaite equivalence des Hypotheses, comme dans l’Astronomie, en sorte que quelque nombre de corps qu’on prenne, il est arbitraire d’assigner le repos ou bien un tel degré de vitesse à celuy qu’on en voudra choisir […]. Cependant il est raisonnable d’attribuer aux corps des veritables mouvemens, suivant la supposition qui rend raison des phenomenes, de la maniere la plus intelligible, cette denomination estant conforme à la notion de l’Action, que nous venuns d’établir.“ SN § 18, GP IV, 486 f. Siehe ebenso GP VI, 247.

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Man sollte jedoch festhalten, dass wir die Bewegung nicht formal betrachten wie sie in sich selbst ist, sondern mit Blick auf (considerando) ihre Ursache, so kann man dem Körper dieses Dinges dasjenige zuschreiben (attribui), wessen Kontakt den Wechsel mit sich gebracht hat.50

Die Tatsache, dass wir einem Körper eine Bewegung zuschreiben, ist an den Kausalitätsbegriff einerseits und an die Beobachterperspektive andererseits gekoppelt. Eine Erklärung mit dem Bewegungsbegriff kann zwar keinen Anspruch auf metaphysische Wahrheit erheben, ist aber keineswegs wertlos, da sie gemäß den Ansprüchen der menschlichen Vernunft postuliert werden kann. In dem leibnizschen System dienen Erklärungen qua Bewegung der Praxis und der Wissenschaft, aber ihnen kommt kein philosophisch relevanter Gehalt zu, da mit ihnen nicht einmal die Interaktion der Körper erklärt werden kann – sie sind von der Erklärung dieser Interaktion vielmehr selbst wieder abhängig. Dies erklärt auch, warum Leibniz der Phoronomik gegenüber der Dynamik oder der Physik einen so geringen Stellenwert zuspricht: Weil in ihr nicht nach den wahren Ursachen der Bewegung geforscht wird. Transitive, physische Verursachung, so, wie sie in Erklärungen angegeben wird, ist nun aber keinesfalls ein objektives Geschehen, sondern wird der beobachteten Ereignisfolge vom menschlichen Geiste nach bestimmten Kriterien attribuiert. Was als Ursache physischen Geschehens gelten kann, das wird nicht durch ein real-absolutes Geschehen bestimmt, etwa durch einen sogenannten Influxus, in dem Partikel einer Substanz in die andere übergehen, sondern indem man die einfachste Erklärung für dieses Geschehen angibt, die in diesem Falle eine formale, mechanische Erklärung ist. Es gibt zwar eine grundlegende metaphysische Kausalität, die jedoch immanent-finaler Natur ist und sich darin von der transitiv-physischen unterscheidet, aber auf diese greifen wir in ganz anderen Erklärungen zurück, nämlich vor allem dann, wenn es um die metaphysische Begründung von physikalischen Zusammenhängen geht oder um Dinge, die sich gerade nicht mit der Physik erklären lassen, beispielsweise Wunder wie die Transsubstantiation. Ursachen lassen sich mittels des Satzes begreifen, dass man zu jedem Geschehen einen Grund angeben kann und soll (reddenda ratione)51. Dies ist, wie noch genauer dargelegt wird, keinesfalls als eine Hume antizipierende Relativierung eines vormaligen Zentralbegriffs der Metaphysik zu verstehen, der durch einen bloß auf Gewöhnung und Erklärungsabsicht basierenden Begriff ersetzt werden soll. Vielmehr wird hier die transitive Kausalität selbst in das Reich der Phänomene verwiesen, in der es keine distinkten Ereignisse gibt, sondern vielmehr einen stetigen Ereignisstrom, in den der menschliche Geist nach seinen Bedürfnissen einer stringenten, effizienten Erklärung distinkter Ereignisse qua der Begriffe „Ursache“ und „Wirkung“ hineindenkt – was Leibniz mit dem Ausdruck der Zuschreibung (attribution) bezeichnet. Die Erklärungen selbst werden unter stets implizitem Verweis 50

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„Notandum tamen motum non in se formaliter, sed ratione causae considerando, posse attribui ejus corpori a cujus contactu provenit mutatio.“ A VI, 4, 1970. Vgl. dazu Lodge, Paul: „Leibniz on Relativity and the Motion of Bodies“, in: Philosophical Topics 31 (2003), 277–308, hier: 285 ff. „Causae non a reali influxu, sed a reddenda ratione sumuntur.“ Specimen Inventorum (1688 [?]), A VI, 4, 1620.

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auf die göttliche Weltökonomie, unter Berücksichtigung des Minimax-Prinzips gebildet. Nun lautet eine der seit Leibniz’ frühesten Schriften tradierten Grundannahmen, dass in der Natur alles mit allem zusammenhängt (in der antiken Tradition: suvmpnoia pavnta). Da es kein Vakuum geben kann und da eine Abnahme der Kraft im Universum unmöglich ist, überträgt sich der Effekt jedes Ereignisses auf das gesamte Universum, ohne dass es davon ausgenommene Bereiche gäbe. In komplexen Zusammenhängen zeigt sich die Wirkung von minimalen mechanischen Bewegungen, vor allem in solchen, die wir heute als chaotische Systeme bezeichnen würden und die so direkt von Leibniz antizipiert werden – etwa das Wetter oder, in gewissem Maße, der Krieg. So lautet ein Beispiel von Leibniz, dass auch ein besonders kleines Ereignis gravierende Folgen haben kann: Ein kleines Steinchen in einer Kanone kann die Flugbahn der Kanonenkugel so verändern, dass der gegnerische König oder General getötet wird, was einen ganzen Krieg entscheiden kann52. Dennoch benutzen wir solche möglichen mechanischen Erklärungen nicht, um faktische Ereignisse zu erfassen. Eine umfassende Passage dazu soll hier in Gänze zitiert werden: Denn die Wirkung muss ihrer Ursache entsprechen, und sie wird sogar am besten durch die Erkenntnis der Ursache erkannt, und es ist unvernünftig, eine höchste die Dinge ordnende Intelligenz einzuführen und sich dann, statt von ihrer Weisheit Gebrauch zu machen, nur der Eigenschaften der Materie zu bedienen, um die Erscheinungen zu erklären. Das ist so, als wollte ein Historiker sagen, um den Grund für eine Eroberung, die ein großer Fürst durch die Einnahme irgendeines wichtigen Ortes gemacht hat, anzugeben, das sei geschehen, weil die kleinen Teilchen des Kanonenpulvers der Berührung durch einen Funken davongeflogen, die geeignet war, einen harten und schweren Körper gegen die Mauern des Ortes zu werfen […]. Statt dass man zeigte, wie die Voraussicht des Eroberers ihn die geeignete Zeit und die geeigneten Mittel wählen ließ und wie seine Macht alle Widerstände überstieg.53

Wir bedienen uns also der unserem Verstande gemäßen und unserer Erklärungsabsicht am meisten entgegenkommenden Erklärung. Zwar kann theoretisch alles Naturgeschehen mechanistisch erklärt werden, dennoch sind in vielen Fällen teleologische Erklärungen zu bevorzugen, weil in ihnen die Ereignisse anders individuiert werden: Die Tatsache, dass die Stadt eingenommen wurde, ist die Wirkung – aber je nach Betrachtung kann die Ursache unterschiedlich bestimmt werden. Natürlich hat jede Wirkung eine mechanische Ursache, die ihr gleichwertig ist. Allerdings ist 52 53

Leibnitii Replicatio ad Stahlianas Observationes (1711), in: La Controverse entre Stahl et Leibniz, hrsg. von Sarah Carvallo, Paris 2004, 102. „Car l’effect doit repondre à sa cause, et même se connoist le mieux par la connoissance de la cause; et il est deraisonnable d’introduire une intelligence souveraine ordonnatrice des choses, et puis au lieu d’employer sa sagesse, ne se servir que des proprieté s de la matiere pour expliquer les phenomenes. Comme si pour rendre raison d’une conqueste qu’un grand Prince a fait, en prenant quelque place d’importance, un Historien vouloit dire, que c’est par ce que les petits corps de la poudre à canon estant delivré s à l’attouchement d’une étincelle, se sont echappé s avec une vistesse capable de pousser un corps dur et pesant contre les murailles de la place […]; au lieu de faire voir comment la prevoyance du conquerant luy a fait choisir le temps et les moyens convenables, et comment sa puissance a surmonte´ tous les obstacles.“ DM § 19, A VI, 4, 1561.

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diese nicht als vollständige Ursache anzugeben, sondern gilt, wie wir im letzten Teil gesehen haben, als ein bedingtes requisitum. Gibt man nun aber die Aufstellung der Kanonen als Grund für das Kriegsende an, so würde dies wiederum die Frage aufwerfen, warum denn die Kanonen so aufgestellt wurden. Eine teleologische Erklärung würde sich dagegen auf die allgemeine Taktik beziehen, innerhalb derer die Kanonenaufstellung zweckhaft ist und vor deren Hintergrund sie erst verstanden werden kann. Dies kann als ein Beispiel dafür dienen, warum teleologischen Erklärungen in der Hierarchie aller konkreten Erklärungen ein höherer Stellenwert zugemessen werden muss als kausalen Erklärungen. Leibniz erkennt hier ganz zu Recht: Gerade im Bereich menschlichen Handelns kommt Erklärungen aus Wirkursachen eine nur untergeordnete Bedeutung zu. Ein weiteres Zitat zu diesem Thema stammt aus einer aus dem Discours gestrichenen, aber dennoch bedeutsamen Passage. Dort wird die Problematik aufgegriffen, dass aufgrund der leibnizschen Annahme der Fülle des Universums jedes Ereignis eine Auswirkung auf alles andere haben muss, wenn auch nur auf schwächste Weise: Um unseren Ausdrücken einen Sinn zu geben, der den praktischen mit dem metaphysischen Sprachgebrauch versöhnt (qui concilie la metaphysique à la pratique), wenn mehrere Kräfte durch ein und dieselbe Veränderung betroffen werden (wie in der Tat jede Veränderung ja alle berührt), kann man im Allgemeinen sagen, daß derjenige handelt, der dadurch zu einem größeren Vollkommenheitsgrad fortschreitet […].54

Die Uneigentlichkeit des Sprachgebrauchs der kausalen Ausdrucksweise erlaubt es, der perzipierten Welt zutiefst widersprechende Annahmen zu machen, wie gerade die Unbegrenztheit jeder Wirkung: Der sprichwörtliche Flügelschlag des Schmetterling trägt zwar dazu bei, das Wetter auf einem anderen Kontinent zu verändern. Doch es würde unseren alltagssprachlichen Gewohnheiten und unserer allgemeinen Vernunft widersprechen, einen Schmetterling in Brasilien für das schlechte Wetter des deutschen Sommers verantwortlich zu machen. Leibniz gibt hier ein Kriterium an, nach dem wir die Begriffe der Ursache und Wirkung benutzen: Ursache ist diejenige Substanz, die ihre Perfektion durch ihr Handeln steigern konnte55. Passivität im Allgemeinen ist eine Verminderung der Aktivität und damit weniger real und weniger perfekt: „Jedes Erleiden eines Körpers ist spontan oder entsteht aus einer internen Kraft, wenn auch durch eine äußere Gelegenheit [verursacht].“56 Doch was genau dies bedeuten wird, werden wir erst sehen, wenn der Begriff der Substanz klarer gefasst werden konnte. In obigem Kriegsbeispiel ist der dem siegrei54

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„En general pour donner à nos termes un sense qui concilie la metaphysique à la pratique, lorsque plusieurs puissances sont affectées par un même changement (comme en effect tout changement les touches toutes) on peut dire, que celle qui par là passe à un plus grand degré de perfection ou continue dans la même agit.“ DM § 14, A VI, 4, 1552. Perfektion und Vollkommenheit sind bei Leibniz qualitativ-relationale Begriffe, die den Grad an Sein eines Individuums oder einer Modifikation desselben anzeigen, sich aber immer im Bereich einer Skala der kreatürlichen Perfektion lokalisieren, der als Kontrast die jenseitige und unendliche Perfektion Gottes gegenübersteht. „Omnis corporis passio sit spontanea seu oriatur a vi interna licet occasione externi.“ SD, GM VI, 251. Im Original kursiv.

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Teil III: Einfache Substanzen

chen Feldherrn zugehörige Perfektionszuwachs größer als der der Kanonen, aus denen die Schüsse abgefeuert wurden, und deshalb sind der Feldherr und dessen Strategie als eigentliche Ursachen des Sieges zu benennen, auch wenn eine solche Erklärung auf metaphysischer Ebene unpräzise und wenig befriedigend ist. Für eine Darlegung der Begründung der Kausalität in der metaphysischen Perfektionsstruktur sind jedoch noch weitere Vorüberlegungen notwendig. 2. DIE THEORIE DER EINFACHEN SUBSTANZEN 2.1. Einfache Substanzen und die Repräsentation der Welt Der Discours nimmt eine Schlüsselstellung in Leibniz’ Denken und Arbeiten ein, bekennt Leibniz doch selbst, dass er erst zu dieser Zeit seine spätere und vollständige Theorie entwickelt hat. Im Discours findet nun eine systematische Synthese statt, die die vielen verschiedenen bislang konzipierten Theorieaspekte in eine umfassende Substanztheorie einbettet, die in einer Begriffstheorie fundiert ist. Diese soll dezidiert theologische Probleme lösen und zugleich eine Begründung der Dynamik vorbereiten. Das Leibnizsche System wurde im Laufe der folgenden Jahre noch ausgearbeitet, doch es scheint, dass die Theorie der einfachen Substanzen vom Discours bis zur Monadologie zwar erweitert, aber nicht fundamental umgeändert wurde. Aus diesem Grund werden die Termini „einfache Substanz“ und „Monade“ an manchen der folgenden Stellen synonym verwendet57 – immerhin betont Leibniz selbst: „Die Monade, von der wir hier sprechen werden, ist nichts anderes als eine einfache Substanz, die in die zusammengesetzten eingeht.“58 Ein Grund dafür liegt vermutlich in der durchgängigen Bedeutung der Grundannahme, dass das Sein und Eines zusammenfallen (ens et unum convertuntur). Aus dieser Annahme, dass grundlegende Realität stets durch Einheit und damit durch Unteilbarkeit ausgemacht wird, leitet Leibniz in verschiedenen Texten zur Substanzenlehre die anderen Merkmale ab, die für Leibniz’ Theorie der einfachen Substanzen zentral sind, vor allem Immaterialität und Grundlegungsfunktion (d. i. Prinzipiencharakter). Entscheidend ist hier, dass sowohl die Begriffe der einfachen Substanz und der Monade im Rahmen der oben bereits angeschnittenen Mereologie der Körper eine ähnliche, noch zu erörternde Funktion haben.

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Michel Fichant hat dafür argumentiert, dass der Monadenbegriff nicht nur in unterschiedlichen Kontexten verwendet wird und eine andere Funktion erfüllt als der Begriff der einfachen Substanz, sondern auch eine andere Bedeutung hat. Siehe dazu Fichant, Michel: „L’Invention Métaphysique“, in: Leibniz: Discours de Métaphysique, suivi de Monadologie et Autres Textes, hrsg. von ders., Paris 2004, 7–140. Leider ist mir die Bedeutung dieses wichtigen Beitrages zur Leibnizforschung erst nach Fertigstellung dieses Textes aufgefallen, so dass er hier nicht in angemessenem Maße berücksichtigt wurde. „La Monade, dont nous parlerons icy, n’est autre chose, qu’une substance simple qui entre dans les composés,“ Mo § 1, GP VI, 607.

Die Theorie der einfachen Substanzen

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Doch so wie sich Leibniz’ Philosophie entwickelt, so wird auch der Substanzbegriff neu kontextualisiert. Einer der Unterschiede zwischen „einfacher Substanz“ und „Monade“ besteht darin, dass im Discours die Substanzen noch nicht in Bezug auf den Kraftbegriff verstanden werden. Dieser Kraftbegriff wird im Specimen Dynamicum (1695) in Gänze entfaltet und mit ihm erfährt die Theorie der körperlichen Substanzen eine besondere Ausarbeitung, in deren Kontext die Monade neu durchdacht wird. In einem viel beachteten Brief an de Volder heißt es: Ich unterscheide also erstens die ursprüngliche Entelechie oder die Seele, zweitens die Materie – nämlich die erste Materie oder die ursprüngliche passive Kraft, drittens die vollständige Monade, in der beide Momente vereint sind, viertens die Masse oder die zweite Materie, d. h. die organische Maschine, zu welcher unzählige untergeordnete Monaden zusammenwirken, fünftens das Lebewesen oder die körperliche Substanz, welche durch die in dem Mechanismus herrschende Monade ihre Einheit erhält.59

Dieses Zitat führt deutlich vor Augen, dass die Monade im Rahmen einer viel umfassenderen Ontologie konzipiert wird als dies für die individuellen Substanzen im Discours der Fall ist. Eine weitere Veränderung liegt in der Fokussierung auf zusammengesetzten und körperlichen Substanzen und dem substanziellen Band. Hier wird dafür argumentiert, dass dieser Ansatz von Leibniz unter anderen deswegen entwickelt wurde, weil die Theorie der einfachen Substanzen zu bestimmten Problemen führt (s. u.). Eine detaillierte Darlegung der Kraft- und Substanzentheorie würde jedoch den hier vorliegenden Rahmen sprengen und deswegen soll hier lediglich eine Darlegung der für die Kausalitätsproblematik entscheidenden Punkte erfolgen. Die folgende Grundidee findet sich schon in den frühen Schriften von Leibniz: In Bezug auf die Materie muss es ein Prinzip der wahrhaften Einheit geben, das die Vielfalt der materiellen Körper begründen kann. Diesem Problem liegt die Annahme zugrunde, dass nur das wirklich sein kann, was ein einzelnes Sein ist, das mithin sein realitätskonstituierendes Prinzip in sich trägt und somit nicht wieder von einem anderen Sein abhängig ist. Die Forderung nach Unteilbarkeit ist also eine Forderung nach der Substanzialität der Individuen60, die ein unum per se sein müssen und nicht ohne Weiteres sinnvoll als bloße Anhäufungen elementarer Teilchen zu denken sind. Dies ist auch ein Kernaspekt der Argumentation am Beginn der Monadologie, mit der die Existenz der einfachen Substanzen aus der in der Erfahrung gegebenen Tatsache des Ausgedehnten hergeleitet wird61. Dabei wird gerade vorausgesetzt, dass dem ausgedehnten Körper kein eigenes Sein zu59

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„Distinguo ergo (1) Entelechiam primitivam seu Animam, (2) Materiam nempe primam seu potentiam passivam primitivam, (3) Monada his duabas completam, (4) Massam seu materiam secundam, sive Machinam organicam, ad quam innumerae concurrunt Monades subordinatae, (5) Animal seu substantiam corpoream, quam Unam facit Monas dominans in Machinam.“ Brief an de Volder vom 20. Juni 1703, GP II, 252. Der Ausdruck „Individuum“ bzw. „individuell“ wird in dieser Untersuchung in zwei verschiedenen Weisen gebraucht. Gelegentlich bedeutet er die Unteilbarkeit eines Lebewesens, gelegentlich auch nur dessen Einzigartigkeit, die es identifizierbar macht, d. i. unterscheidbar von allen anderen Individuen. Im Zusammenhang sollte die jeweilige Bedeutung deutlich werden. Mo §§ 1–2, GP VI, 607.

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Teil III: Einfache Substanzen

kommt, da er nur derivatives Resultat einer Aggregation von Substanzen ist – was das bedeutet, wird noch zu klären sein. Diese Argumentation aber widerspricht einer jeden Interpretation, die der körperlichen, mithin ausgedehnten Substanz, eine eigene, unreduzierbare Wirklichkeit zusprechen will. Die andere Herangehensweise, mit der die einfache Substanz begründet wird, geht nicht von der Materie aus, sondern von Gott: Bevor die Theorie der Substanzen angedacht werden kann, wird die Bestimmung des göttlichen Willens durch einen Grund und das Prinzip des Besten dargelegt und in Zusammenhang gebracht62. Ebenso bezieht Leibniz die moralische Qualität des Universums sowie die universelle Harmonie63 auf die göttliche Entscheidung, nach der Gott alles zum Besten lenkt, um doch im Sinne allgemeiner Harmonie das Übel zuzulassen64. Aus dieser Harmonie und dem Satz vom zureichenden Grund folgen die untergeordneten Prinzipien des Weltgeschehens65. Leibniz begründet diesbezüglich den Substanzbegriff mit der Notwendigkeit, dass es Individuen bzw. individuelle Substanzen sind, denen „Handlungen und Leiden im eigentlichen Sinne“66 zukommen. Dazu lehnt er die aristotelische Definition der Substanz ab, nach der nur derjenige Begriff eine Substanz bezeichnet, der nicht weiter prädiziert werden kann, aber Gegenstand aller Prädikation ist. Die Substanz muss vielmehr vollständig sein und mithin vollständig definiert und damit individuiert sein, was bedeutet, dass alle gegenwärtigen, vergangenen oder zukünftigen Zustände als unterschiedlich klare und deutliche Perzeptionen in der Substanz enthalten sind67. Dem entspricht auf formaler Ebene 62

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DM § 2, A VI, 4, 1533: Es scheint, „dass jeder Wille irgendeinen Grund zu wollen voraussetzt oder dass der Grund natürlicherweise dem Willen vorhergängig ist“ – „Toute volonté suppose aliquam rationem volendi ou que la raison est naturellement prieure à la volonté.“ § 3: „Stattdessen halte ich dafür, dass Gott nichts tut, dessen er nicht gerühmt zu werden verdient.“ – „Au lieu que je tiens que Dieu ne fait rien dont il ne merite d’estre glorifié.“ Vgl. Ebd., 1533 ff. DM § 2, A VI, 4, 1532: Die Regeln der Güte, der Gerechtigkeit und Vollkommenheit sind Wirkungen des Willen Gottes. DM § 5, A VI, 4, 1536: Wir müssen Gott vertrauen, „dass er alles zum Besten lenkt“ – „Il suffit donc d’avoir cette confiance en Dieu, qu’il fait tout pour le mieux“ – auch wenn dies einen leap of faith bedeutet, denn die Gründe zu kennen übersteigt unseren Verstand. Ebd., 1537: „Darum darf man nicht zweifeln, dass die Glückseligkeit der Geister das Hauptziel Gottes ist, und dass er sie, soweit es ihm die allgemeine Harmonie gestattet, verwirklicht.“ – „il ne faut point douter que la felicité des esprits ne soit le principal but de Dieu, et qu’il ne la mette en execution autant que l’harmonie generale le permet.“ DM § 7, A VI, 4, 1539: Gott hat den Ablauf der Dinge so geschaffen, dass „sich im Gesamtablauf schließlich mehr Vollkommenheit findet, als wenn all das Übel nicht eingetreten wäre“ – „Il se trouve plus de perfection dans toute la suite, que si tout ce mal n’estoit pas arrivé.“ DM § 6, A VI, 4, 1537: „Dass Gott nichts außer der Ordnung tut, und dass es nicht einmal möglich ist, Ereignisse zu ersinnen, die nicht der Regel gemäß sind.“ – „Dieu ne fait rien hors d’ordre et il n’est pas mêmes possible de feindre des evenemens qui ne soyent point reguliers.“ DM § 8, A VI, 4, 1539 f. Zum ersten Mal in den Notationes Generales (1683–85 [?]), A VI, 4, 556: „Res eadem manere potest, licet mutetur si ex ipsa ejus natura sequitur idem debere successive diversos status habere. Nimirum idem dicor esse qui ante, quia substantia mea omnes status meos praeteritos praesentes futurosque involvit, nec obstat quod ita de me contradictoria dicantur; haec ipsa enim natura est temporis, ut secundum diversum tempus possint contradictoria esse vera de eodem.“

Die Theorie der einfachen Substanzen

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ein unendlich komplexer und daher unendlich umfassender Begriff, der sämtliche Prädikate bereits enthält. Dieser wird als „vollständiger Begriff“ bezeichnet und er kommt jedem echten Individuum (und nur solchen) zu68. Jeder Begriff bezeichnet das gesamte reale Subjekt vollständig. Deswegen kann man etwa über Alexander den Großen sagen, „dass es zu jeder Zeit in der Seele Alexanders Überreste dessen gab, was ihm zugestoßen ist und Zeichen dessen, was ihm zustoßen würde und sogar Spuren von allem, was sich im Weltall ereignet“69 – wenn auch auf unklare Weise. Der vollständige Begriff eines Individuums enthält und bestimmt mithin bereits das gesamte Weltgeschehen, so wie die Seele eines Individuums allen physischen Aktionen bereits vorhergeht. Dies ist eine grobe Zusammenfassung der zentralen Ideen einer begriffslogischen Ontologie, die Leibniz bis dahin entwickelt hat und die er jetzt um eine entscheidende Neuerung ergänzt: Die Theorie der individuellen Substanzen. Die individuellen Substanzen werden explizit deshalb eingeführt, um eine Differenz zwischen Gott und der Welt zu ermöglichen: „Um die Handlungen Gottes und der Geschöpfe zu unterscheiden, wird erklärt, worin der Begriff einer individuellen Substanz besteht.“70 Insoweit könnte dies eine Reaktion auf den drohenden „monistischen Kollaps“ sein, der im letzten Teil dargelegt wurde und der in einem neuplatonischen Zusammenfallen Gottes mit der Welt bzw. des Grundes mit dem Begründeten besteht. In gewissem Maß ist der Substanzbegriff im Discours also eine Reaktion auf bestimmte Anforderungen, die einerseits aus den dort in den §§ 1–7 hergeleiteten Prinzipien der Ereignisabfolge bestehen, andererseits aus der Problematik, das Begründete vom Grund insoweit abzulösen, dass es nicht mit diesem zusammenfällt. Durch die Eröffnung dieses neuen Fokus auf dem Begriff der Handlung (action) wird die Kausalitätstheorie der requisita von einer Theorie notwendiger Implikationen zu einer Theorie aktiver Substanzen transformiert. Dies geht einher mit einer Transformation der bisherigen Theorie der Mechanik als Korpuskularphilosophie in den hier nur wenig beachteten Frühschriften zu einer Theorie der Kräfte und Handlungen, der Dynamik. Dynamik und Substanzenlehre werden von Leibniz in verschiedenen Schriften aufeinander bezogen und miteinander in Einklang gebracht. Dies zu rekonstruieren soll die Aufgabe dieses und der folgenden zwei Teile dieser Untersuchung sein. Eine weitere Begründung der einfachen Substanzen resultiert aus dem Problem der Unterscheidung von bewussten Individuen. Um die Identität eines individuellen „Ichs“ zu erfassen, muss begriffen werden, was dieses Ich von allen anderen unterscheidet. Gemäß dem Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren ist nur das identisch, was alle Prädikate gemein hat. Um alle Individuen voneinander zu unter68 69 70

„Sola enim substantia singularis completum habet conceptum.“ Definitiones Notionum Metaphysicarum atque Logicarum (1685 [?]), A VI, 4, 626. DM § 8, A VI, 4, 1541: „On peut dire qu’il y a de tout temps dans l’ame d’Alexandre des restes de tout ce qui luy est arrivé, et les marques de tout ce qui luy arrivera, et même des traces de tout ce qui [se] passe dans l’univers.“ „Pour distinguer les actions de Dieu et des creatures, on explique en quoy consiste la notion d’une substance individuelle.“ DM § 8, A VI, 4, 1539. Siehe dazu auch De ipsa natura, GP IV, 504.

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scheiden, muss es einen apriorischen Grund geben: „so muss der Begriff des Ich die verschiedenen Zustände zusammenhalten oder umfassen.“71 Diese Zustände sind Ereignisse und Erlebnisse des Individuums selbst. Sie können aber keine Teile eines zusammengesetzten Bewusstseins sein, sonst wäre dies mangels Einheit weder Bewusstsein noch Individuum. Sie müssen vielmehr Modifikationen eines echten und unteilbaren Seienden sein, einer Substanz. Eine metaphysisch gültige Begründung für die Existenz eines empirisch gegebenen, materiellen Dinges kann nicht ausschließlich auf empirisch-materielles Geschehen zurückgehen, sondern auf etwas, das sich gerade davon unterscheidet. Physische Körper sind teilbar, sie müssen in etwas Unteilbarem begründet sein: Wäre eine Monade teilbar, so wäre sie selbst ein Körper. Die Pluralität der Monaden wird bewiesen durch das Prinzip des Besten, welches bestimmt, dass größere Vielfalt besser ist als mindere Vielfalt. Die Welt bzw. das Universum selbst ist keine Substanz, weil sie kein unteilbares Ganzes ist72. Die Monaden sind alle Individuen und damit alle in zumindest je einer Hinsicht voneinander verschieden. Damit haben sie zwar je mindestens ein unterschiedliches Prädikat, aber keine identischen Teile, denn sie sind unteilbar; sie sind das für die empirische Existenz von Zusammengesetztem notwendige Einfache. Weil sie alle verschieden sind, gibt es keine zwei identischen Körper in der Welt: „Denn es gibt niemals in der Natur zwei Seiende, die einander vollkommen gleich wären“73. Die Monaden sind selbst auch nicht materiell, denn: „Materieatome widersprechen der Vernunft“74. Monaden sind substanzielle Atome75. Die Unteilbarkeit bringt mit sich, dass es keine direkte kausale Einwirkung auf die Substanz geben kann: Die Substanzen haben keine Fenster, durch die etwas in sie hineingelangen könnte. Die Verschiedenheit der Monaden wird garantiert durch die Modifikationen, welche die Qualitäten des Individuums ausmachen und auf nominaler Ebene den Prädikaten im Subjekt entsprechen. Die Ordnung der Modifikationen, die als Gesamtheit und in ihrer Besonderheit gegenüber anderen Substanzen in den Monaden immer schon angelegt sind, ist das Gesetz der Serie (lex seriei), das in seiner Realisierung, dem Abfolgen der Perzeptionen und der damit verbundenen Verzeitlichung, „Appetitus“ genannt wird. Der Appetitus ist die ursprüngliche und unreduzierbare Aktivität jeder Substanz, die stets prinzipiengeleitet ist. Er begründet den Fluss der Erfahrungen ebenso wie den der Gedanken. Entscheidend ist: Das Hervorbringen von Perzeptionen ist nicht kausal bestimmt, sondern final, weil der einzige ihn bestimmende Faktor ein anleitendes Prinzip ist. Dieses Prinzip umfasst nicht nur vergangene, sondern auch zukünftige Zustände und ist individuell und deshalb gerade nicht gesetzesförmig.

71 72 73 74 75

„Il faut que la notion de moy lie ou comprenne les differens estats.“ Brief an Arnauld vom 14. Juli 1686, A II, 2, 76. Vgl. Brief an Des Bosses, 11./17. März, 1706, GP II, 304–305. „Car il n’y a jamais dans la Nature deux Etres qui soyent parfaitement l’un comme l’autre“, Mo § 9, GP VI, 608. „Atomes de matiere sont contraires à la raison“ SN § 11, GP IV, 482; ebenso wie die Materie bzw. die Masse keine Substanz ist, vgl. SN § 17, GP IV, 486. SN § 11, GP IV, 482.

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Dieser Aspekt wurde bereits viel diskutiert76. Dabei wird oft als zentrales Argument ins Feld geführt, dass es zahlreiche Passagen gibt, in denen Leibniz vorhergehende Perzeptionen als Ursache für nachfolgende Perzeptionen bezeichnet77. Die Perzeptionen wirken aufeinander als transiente Ursachen: So, wie ein ins Wasser geworfener Stein als Ursache für die Wellen im See gelten kann, so kann die Perzeption, die einen ins Wasser geworfenen Stein repräsentiert, als Ursache für die Perzeption gelten, die die Wellen im See repräsentiert. Doch in beiden Fällen ist dies nicht die letzte Ursache und als Kausalnexus nur verständlich, wenn man die Gründe bzw. Ursachen erkennt, die gerade nicht auf derselben ontologischen Ebene liegen sondern ratio extra rem sind: In beiden Fällen handelt es sich um die wirkenden Kräfte. Im Falle des physischen Steines ist es der Impetus, der selbst wiederum auf den Conatus zurückgeht, der die eigentliche Ursache für das Geschehen ist; im Falle der Perzeptionen ist es der Appetitus bzw. die ursprüngliche Spontaneität, mit der die Perzeptionen überhaupt erst hervorgebracht werden. In beiden Fällen handelt es sich nur scheinbar um transiente, tatsächlich aber letztendlich um immanente Ursachen. Die Monaden verändern sich also selbst, sie folgen ihren verschiedenen Neigungen (Appetitus) und damit ist die Abfolge der Perzeptionen genuin teleologisch bestimmt, ohne dabei der kausalen Verknüpfung der Dinge, die in diesen Perzeptionen repräsentiert sind, zu widersprechen: Die Monaden (von denen die, die uns bekannt sind, als Seelen bezeichnet werden) verändern ihren eigenen Zustand selbst gemäß den Gesetzen der Finalursachen oder der Appetitus [Plural], jedoch bringt sich das Reich der Finalursachen in Übereinstimmung mit dem Reich der Wirkursachen, das das der Phänomene ist.78

Da die Monaden vollständig bestimmt sind, unterscheiden sie sich vor allem in Bezug auf die Weise, wie sie die Welt repräsentieren. Dies macht den „Standpunkt“ der Substanz aus: Der point de vue, von dem aus die Monaden die Welt repräsentieren, ist einerseits die Situation des menschlichen Körpers in der Welt, den sich die Monade zuschreibt79; andererseits ist er im weiteren Sinne das individuelle Gesetz, das die Abfolge der Perzeptionen regelt, durch welche die Welt ausgedrückt wird. 76

77 78

79

Siehe bspw. Clatterbaugh, Kenneth: „Unpacking the Monad: Leibniz’s Theory of Causality“, in: The Monist 79 (1996), 409–426, ebenso: ders.: The Causation Debate in Modern Philosophy 1637–1739, New York 1999, v. a. 142–155; Kulstad, Mark A.: „Causation and Preestablished Harmony in the Early Development of Leibniz’s Philosophy“, in: Nadler, Steven (Hrsg.): Causation in Early Modern Philosophy, Pennsylvania 1993, 93–118; Lee, Sukjae: „Leibniz on Spontaneity: A Sketch of Formal and Final Causation“, in: Breger, Herbert / Herbst, Jürgen / Erdner, Sven (Hrsg.): Einheit in der Vielheit. VIII Internationaler Leibniz-Kongress, Bd. I, Hannover 2006, 440–447. Siehe bspw. DM § 14, A VI, 4, 1550 f. oder GP II, 47. „Les monades (dont celles qui nous sont connues sont appelées ames) changent leur état d’elles-même selon les loix des causes finales ou des appétits, et cependant le régne des causes finales s’accorde avec le régne des causes efficientes qui est celui des phénomènes.“ Auszug aus einem Brief an Dangicourt, 1716, Erdmann 746. Es handelt sich beim point de vue nicht um einen realen Raum-Punkt in einem absoluten, gegebenen Raum-Zeit-Gefüge, sondern um das einzelne Gesetz der Serie, das die Veränderungen der monadischen Modifikationen vorgibt und das in der Erlebniskomponente der Monade eine

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Dieses Gesetz wird durch den vollständigen Begriff dieser Substanz bezeichnet. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine realistische Abbildungsrelation zwischen dem Bewusstsein und einer von diesem unabhängig vorhandenen äußeren Welt: Die Dinge der Welt sind nur in den und durch die Perzeptionen gegeben, die als Zustände der perzipierenden Monade begriffen werden: „Die Perzeption ist nichts anderes als eine interne Repräsentation der äußeren Verschiedenheiten.“80 Alle Monaden perzipieren dieselbe Welt und sie repräsentieren die ganze Welt, nur aus jeweils einer anderen Perspektive81. Soweit die Perzeptionen der Welt den Prädikaten der Substanz entsprechen, ist ihre Identität und Individualität durch das Principium identitatis indiscernibilium bestimmt: Keine Substanz kann alle Prädikate einer anderen haben. Damit entspricht jeder Monade exakt eine Perspektive auf die Welt. Dies mündet in die berühmte Spiegel-Metapher, nach der die Substanz „wie ein Spiegel Gottes oder vielmehr des ganzen Alls“82 ist. Die Substanz perzipiert das gesamte Universum, wenn auch auf verworrene Weise. Man kann sagen, dass „das All auf gewisse Weise ebenso oft vervielfältigt [wird], wie es Substanzen gibt.“83 Leibniz schreibt hier nicht, dass ein in irgendeiner Weise präexistentes Universum abgebildet wird, sondern es wird auf eine gewisse Weise vervielfältigt, nämlich „gemäß der verschiedenen Standorte“ der Substanzen84. Nichts hier spricht dafür, dass der Welt eine von den Substanzen unabhängige, physische Existenz zukäme außerhalb der Perzeptionen – im Gegenteil: Der Gegenstand der Perzeptionen ist in letzter Instanz Gott, da er ihre Ursache ist85. Dafür stellt sich an dieser Stelle die Frage, inwieweit das Handeln und Leiden, das der Substanz zwecks ihrer Unterscheidung von Gott zugeschrieben werden muss, mit der Spiegelanalogie zusammenhängt. Um dies zu erklären, wendet sich Leibniz der Rehabilitierung der substanziellen Formen zu. Auch hier gilt, dass die Monade keine Teile hat und dass demnach die substanzielle Form und die Seele nur dem Begriff nach, nicht aber der Sache nach getrennt sind. Die substanzielle Form hat „Beziehung zu den Seelen“86 und soll neben Größe, Gestalt und Bewegung der entscheidende Teil des Wesens der Körper sein, „obwohl diese nichts an den Erscheinungen ändert“87. Leibniz ist hier konsequent, wenn es darum geht, dass der Grund der Körper nicht in diesen selbst zu finden ist (wie dargelegt, siehe Teil I,

80 81 82 83 84 85 86 87

Entsprechung findet, d. h. in der Eigenheit der Anordnung der Perzeptionen um ein Zentrum, das sich die Seele als ihren Raum-Punkt in der Welt zuschreibt. „Perceptio nihil aliud est, quam illa ipsa repraesentatio variationis externae in interna.“ Ohne Titel, in Betreff der Seele der Thiere, GP VII, 329 f. Vgl. bspw. DM § 14, A VI, 4, 1550 f. oder Beilage zu einem Brief an Remond, Juli 1714, GP III, 623. DM § 9, A VI, 4, 1541 f. Zu der Spiegel-Metapher siehe meinen Aufsatz „Monaden als lebendige Spiegel der Welt“, in: Busche, Hubertus (Hrsg.): Klassiker Auslegen: Monadologie, Berlin 2009, 145–160. DM § 8, A VI, 4, 1539 f. Ebd. DM § 28, A VI, 4, 1573. DM § 12, A VI, 4, 1545. DM § 12, A VI, 4, 1545.

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Kapitel 3; Teil II, Kapitel 1). Diese substanzielle Form entspricht dem Begriff der Substanz88, sie begründet deren Einheit und diachrone Persistenz. Im Gegensatz dazu manifestiert die dieser Substanz zukommende Materie die Momente der Vielheit und des Wandels dieser substanziellen Einheit89. Diese substanzielle Form ist zudem auch die Grundlage von Leibniz’ Theorie der Handlungen und der Freiheit, die im vierten Teil dieser Arbeit untersucht wird. Was ist nun eine substanzielle Form? Es handelt sich hierbei um ein abstraktes, aber reales Moment einer Substanz: Sie ist insoweit abstrakt, als es sich hierbei um etwas handelt, das von der Substanz nur de dicto verschieden ist, nicht aber de re und demnach kein selbständiger Teil der Substanz ist. Wir unterscheiden begrifflich die Form von der Materie, ohne dass es dort eine reale Differenz zweier unabhängig voneinander existierender Entitäten gäbe. Die Form ist gleichwohl real, insoweit sie der Realitätsgrund der konkreten Individuation einer Substanz ist und damit dem Körper-Geist-Gebilde, das ein Lebewesen ausmacht, zugrunde liegt. Vielleicht kann man sich die substanzielle Form am Besten an einem Beispiel vorstellen: Ein Tier etwa hat zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Form, vielmehr eine Gestalt, die seine Materie einnimmt. Diese ist jedoch nur als die Form einer kontingenten Materieansammlung gegeben und noch keine Form einer Substanz, denn diese erstreckt sich über alle zeitlichen Momente hinweg und erfasst das Lebewesen als Ganzes: Den Samen, das heranwachsende Tier, das ausgewachsene Tier, etc., inklusive aller körperlichen Gestalten, die dasselbe Lebewesen zu unterschiedlichen Zeiten einnimmt. Diese abstrakte und substanzielle Form ist der Grund dafür, dass das Lebewesen zu einem bestimmten Zeitpunkt auch eine bestimmte und materielle Form (d. i. Gestalt) hat. Wie genau die substanzielle Form die Gestalt des Körpers bestimmt, das wird noch zu sehen sein. Die substanzielle Form ist abstrakt, da sie atemporaler Natur ist. Alle zeitlichen Realisierungsmomente eines Lebewesens werden durch diese atemporale Natur bestimmt. In dieser Hinsicht ist die substanzielle Form ein Prinzip und als solches ist sie eine Seele. Erst wenn zu dieser Seele noch das Selbstbewusstsein hinzutritt und sich das Lebewesen als ein Ich konzipiert und sich als zeitlich ausgedehntes, identisches Wesen versteht, kann diese Seele auch als Geist bezeichnet werden. Der Geist ist zu kraft seines Verstandes mit besonderen geistigen Fähigkeiten ausgestattet, kann Perzeptionen reflektierend auf sich selbst beziehen und verfügt so über Apperzeptionen, d. h. bewusste gewordene Perzeptionen. Da sich die konkreten materiellen Ausbildungen der Körpergestalt erst entlang des vorgegebenen Entwicklungsprinzips ausbilden, ist die substanzielle Form auch das Prinzip der Bewegung: Sie bestimmt, wann welche Teile des Tieres in welche Richtung wachsen. Inwieweit kommt dieser substanziellen Form nun das Vermögen zu, etwas zu perzipieren? Auch das lässt sich am Beispiel des Tieres illustrieren. Die konkreten Reaktionen der Tieres stehen in ebenso konkreter Reaktion zu seiner Umwelt: Sein Wachstum ist durch seine Nahrung bestimmt, sein Verhalten durch seine Wahrnehmungen. Diese primitive Form von Reaktion kann hier in erster Annäherung als 88 89

DM § 13, A VI, 4, 1546. Definitiones Cogitationesque Metaphysicae (1678–81 [?]), A VI, 4, 1398 f.

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ein Aspekt der Perzeptionen begriffen werden. Leibniz versteht die Perzeptionen als Einheit in einer Vielheit und identifiziert sie mit Expressionen. Der Baum etwa perzipiert auf seine Weise die gesamte Umwelt, das Licht, den Boden usw., als eine Einheit, insofern er in seinem Wesen, das als substanzielle Form ebenfalls eine Einheit ist, darauf reagiert. Eine Katze verfügt über andere Perzeptionen, als sie über Wahrnehmungsorgane verfügt und eine Vielzahl von Eindrücken (Farben, Gerüchen, Geräuschen, Veränderungsmustern etc.) als Maus erfasst. Diese Perzeptionen sind je für sich genommen unteilbare Einheiten, weil die Katze ja auf die Maus selbst reagiert, aber nicht auf die vielen einzelnen Merkmale, die in der Mauswahrnehmung gegeben sind, wie Farbe, Gestalt, Geruch etc. Sie gehören der substanziellen Form zu, die wiederum selbst eine Einheit darstellt – aber sie gehen nicht als Teile in die Form ein, sondern als Modifikationen. Auch das lässt sich mit einem Beispiel darstellen: Die Falte im Teppich ist kein Teil des Teppichs oder seiner Form, sie ist eine Modifikation. Sie kann nicht isoliert vom Ganzen betrachtet werden, geschweige denn für sich genommen existieren. Die Form des Teppichs besteht darin, dass er an einer Stelle eine Falte hat und an einer anderen Stelle glatt ist, aber das ist eine Form und nicht eine aus zwei Elementen zusammengesetzte Form. Auf diese Weise gehören auch die Perzeptionen dem Lebewesen zu: sie sind keine getrennten Teile desselben, aber sie können in einer abstrakten Betrachtungsweise isoliert werden – etwa dann, wenn sie als Ursachen oder gar als Gründe für Eigenschaften oder Verhalten begriffen werden. Wichtig ist hierbei, dass das Lebewesen nicht als ein Materiegebilde begriffen wird, das per se existieren kann und sich erst in zweiter Linie entlang bestimmter Prinzipien organisiert. Dies wäre die materialistisch-atomistische Sichtweise, die Leibniz gerade ablehnt und deren Reihenfolge er umkehrt: Bevor es irgendeine materielle Realität geben kann, muss es ein abstraktes, formgebendes Prinzip geben, das diese materielle Realität bestimmt. Es ist gerade nicht die Materie, die sich im Wachstumsprozess eines Lebewesens von selbst so akkumuliert, dass der Samen zum Tier heranwächst, sondern im Samen liegt schon der Plan, die Form, ja auch das Ziel der Bewegung, d. i. der Materieanordnung inbegriffen und das Lebewesen strebt von sich aus darauf hin, die Materie in eben dieser Weise anzuordnen, zu wachsen, sich zu organisieren, sich physisch zu bewegen, sich in einer Umwelt in Übereinstimmung mit dieser und in Ausgestaltung seiner angelegten Form zu realisieren. Bekannt ist, dass Leibniz die Substanzen nicht nur die unmittelbare, sinnlich wahrnehmbare Umwelt perzipieren lässt, sondern die gesamte Welt. Dies hängt eng mit seiner Theorie des Kontinuums zusammen, nach der die Konsequenzen eines Ereignisses keine Grenzen haben, sondern früher oder später das gesamte Universum erfassen, wenn auch nur in zumeist unvorstellbar geringer Weise. Da es sich aber eben auch immer um dasselbe Universum handelt, entsprechen sich die Perzeptionen der Substanzen gegenseitig. Sie stimmen gemäß dem jeweiligen Standpunkt und dem Grad der substanziellen Perfektion miteinander überein – sie sind nicht miteinander identisch, können einander aber eineindeutig zugeordnet werden, sie sind, in mathematischer Begrifflichkeit ausgedrückt, isomorph. Passend dazu

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heißt es auch, wenn von der geschaffenen Welt bzw. dem Weltall die Rede ist, dass es sich dabei um „das allgemeine System der Erscheinungen“90 handelt. Die Modifikationen der Substanz werden auch Perzeptionen genannt und es gibt in den Monaden nichts außer ihnen und ihren Veränderungen91. Durch diese Perzeptionen wird die Welt repräsentiert. So ist die Welt für die Monade; weil es aber die Natur der Monade ausmacht, die Welt zu repräsentieren, ist auch die Monade für die Welt. Diese Weltbezogenheit der Monade ist rein phänomenaler Natur, die Monaden sind weder Teile der Welt, noch sind sie im Raum92. Sie sind keine homogenen Teile des Raumes oder auch nur der erfahrbaren Welt. Die Erfahrung der Monade ist perspektivisch gegeben, das heißt, dass jede Monade manches klarer, manches weniger klar perzipiert als andere Monaden. Also entspricht ihr auch ein Standpunkt in der Welt – die Orte der Monaden können relativ zueinander definiert werden, ohne dass auf ein zentrales, starres Koordinatensystem oder gar eine absolute Entität rekurriert wird93. Die Tatsachen der Welt sind dabei kontingente Wahrheiten. Da für Leibniz alles Veränderliche auf ein zugrunde liegendes Ewiges angewiesen ist, gibt es überindividuelle und ewig geltende Gesetze und Wahrheiten. Diese sind notwendig bedingt durch die Ewigkeit der Substanzen selbst: „Wenn es keine ewigen Substanzen gäbe, so wären die ewigen Wahrheiten annulliert.“94 Eine einfache Substanz ist auf nomineller Ebene das, was als Subjekt durch die ihm zugehörigen Prädikate bestimmt ist und was selbst nicht wiederum ein Prädikat eines anderen Subjekts ist. Dies entspricht auf phänomenaler Ebene der Weltbezogenheit der Substanz. Diese aristotelische Definition wird bei Leibniz um die Vollständigkeit der Bestimmung der Substanz durch alle ihr zugehörigen Prädikate ergänzt, was schließlich in die These mündet, dass die Substanz die gesamte Welt perzipiert. Schließlich bedeutet dies auch, dass jede Substanz durch ihren eigenen Begriff beschrieben werden kann, der nicht auf die Begriffe anderer Substanzen reduzierbar ist. Der Unterschied zwischen dem bloßen Begriff des Individuums und dessen ontologischer Realisierung liegt in der Aktivität der Substanz, durch die sie ihre aktuellen Modifikationen hervorbringt, die im Begriff nur virtuell enthalten sind. Jedes Mögliche strebt von sich aus zur Existenz (dafür verwendet Leibniz den Neologismus „existiturire“95), doch es bedarf eines äußeren Anstoßes, weil etwas bloß Mögliches sich nicht selbst verwirklichen kann96. Diese Realisierung einer bloß 90 91 92

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DM § 14, A VI, 4, 1549 f. Mo §§ 1–3 u. 13–15, GP VI, 607 ff. „Monaden haben nämlich von sich aus keine Lage zueinander, sicherlich aber eine reale [Vereinigung], die über die Ordnung der Phänomene hinausreicht.“ – „Monades enim per se ne situm inter se habent, nempe realem, qui ultra phaenomenorum ordinem porrigatur.“ Brief an Des Bosses, 26. Mai 1712, GP II, 444. Vgl. Ishiguro, Hide: Leibniz’s Philosophy of Logic and Language, Ithaca 1972, 144 f. „Si nulla esset substantia aeterna nullae forent aeternae veritates.“ Specimen inventorum (1688 [?]), A VI, 4, 1618. „Itaque dici potest Omne possibile Existiturire“, unbetiteltes Fragment, undatiert, GP VII, 289. Vgl. auch Poser: Zur Theorie der Modalbegriffe, a. a. O., 66 f. Das reale Individuum ist seinen Prädikaten gegenüber grundlegend und nicht, wie Russell behauptet, die Summe aller Prädikate: Die Substanz muss unabhängig von ihren Prädikaten numerisch als Eines bestimmt sein

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möglichen Welt ist der göttliche Schöpfungsakt, die Emanation der Welt aus Gott. Wird dieser zugrunde liegende Begriff analysiert, so ist er zurückführbar auf eine Unendlichkeit von einfachen, nicht weiter reduzierbaren und analysierbaren Begriffen, welche ebenfalls das Resultat der Analyse der anderen Begriffe der Substanzen ausmachen. Die Prädikate der Substanz beschreiben zwar deren Eigenschaften, können aber nicht wie die einfachen Ideen unabhängig von allen Substanzen im Reich der Ideen existieren97. Es gibt zwar Ideen, die unabhängig vom Menschen sind, weil sie von Gott gedacht werden, aber es existieren keine Körper oder Substanzen jenseits der Monaden. Die Identität der Welt, von verschiedenen Standpunkten aus perzipiert, besteht in der eindeutigen Zuordnung der Perzeptionen einer Monade zu den entsprechenden Perzeptionen anderer Monaden, was oben bereits als Isomorphie bezeichnet wurde. Der Begriff der Perzeption ist ein mentalistischer Terminus, der vor allem in der eng gefassten Lehre der einfachen Substanzen eine Bedeutung hat, also vor allem in der interpretativen Perspektive, dass es mit metaphysischer Strenge gesprochen, nichts anderes als Monaden gibt98. Jede Monade hat entsprechend ihrer Perspektive nur undeutliche Perzeptionen von den meisten, nicht unmittelbar benachbarten Dinge in der Welt, am klarsten noch von dem eigenen Körper und von allem, was direkt mit diesem zusammenhängt oder auf ihn einwirkt. Jede Idee dagegen wird von Gott in ihrer unendlichen Komplexion absolut klar gedacht; die Repräsentation einer Perzeption ist nur insoweit eine Re-Präsentation eines externen Seins, als die in Gott perzipierte, vollständig klare Idee der Idee entspricht, die das Subjekt unvollständig und unklar perzipiert. Aron Gurwitsch macht deutlich, dass der Begriff der Repräsentation oder Expression also den Sinn einer mathematischen Zuordnung und Entsprechung von zwei oder mehr Elementen hat99 – und so, laut Gurwitsch, den leibnizschen Panlogismus begründet100. Die Idee eines Panlogismus folgt der von Russell und Couturat angestoßenen Interpretation, nach der Leibniz’ Philosophie vor allem durch die logischen Axiome begründet ist – und ignoriert dabei die deontische Dimension, die im Begriff der Perfektion und in der Dependenz der Welt von Gottes moralischen Vorstellungen des Besten impliziert ist. In diesem Sinne darf nicht vergessen werden, dass Perzeptionen nicht nur Gegenstände repräsentieren, sondern auch als Maßstab der Perfektion eines Lebewesens dienen, auf dessen Grundlage auch die Aktivität einer Substanz gegenüber anderen Substanzen ansteigt oder abnimmt. und eine Substanz verfügt über Prädikate, die selbst nicht unabhängig existieren können. Vgl. Ishiguro: Leibniz’s Philosophy of Logic and Language, a. a. O., 38 f. 97 Zu der Einschließung der Prädikate in den Begriff und zu der Voranlage der Möglichkeit der Veränderungen, die in der Erfahrung stattfinden, in den statischen Begriff siehe Poser: Zur Theorie der Modalbegriffe, a. a. O., besonders 42 ff. und 76 ff. 98 Vgl. dazu Garber: Leibniz: Body, Substance, Monad a. a. O., 221. 99 Dies wird bestätigt durch folgende Textstelle: „Il est vray que la même chose peut être representée differemment; mais il doit toujours y avoir un rapport exact entre la representation et la chose, et par consequent entre les differentes representationes d’une même chose.“ TD § 357, GP VI, 327. Vgl. ebenso das darauffolgende Beispiel der geometrischen Abbildungsrelationen. 100 Vgl. Gurwitsch: Leibniz. Philosophie des Panlogismus, a. a. O., 6, vgl. ebenso 307.

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Durch die Repräsentation der unendlichen Vielfalt der Welt wird die Individualität der Substanz bestimmt und umgekehrt: Die Vielfalt der Welt besteht aus dem, was im Perspektivenpluralismus unendlich vieler Substanzen isomorph perzipiert wird. Es besteht eine Analogie zwischen den Expressionen, d. i. der Repräsentation von Eigenschaften, und den Eigenschaften selbst101. Die Vielfalt der Welt ist der Monade in Gänze durch die Unendlichkeit der Perzeptionen der Weltgegenstände gegeben, die zwar je nach Reichweite der jeweiligen Wahrnehmung immer unklarer werden, aber nie verschwinden. Die unendliche Teilbarkeit der Erscheinungen sorgt dafür, dass auf phänomenaler Ebene nichts eine absolute, endgültig Form hat102 und es also keine letzten Einheiten in den Erscheinungen gibt – die Vielfalt der Welt ist durch das Kontinuum unendlich groß, weil so auch im kleinsten Abschnitt einer Welt eine unendliche Vielfalt herrschen kann. Das Individuum ist durch seine einmalige Perspektive auf die Vielheit der Welt eindeutig bestimmt. Jedes bewusste oder deutliche Phänomen setzt besonders „kleine Phänomene“ (petits perceptions) voraus, die in jeder Monade in jedem Moment in unendlicher Anzahl gegeben sind und die undeutlich und gewissermaßen ‚unbewusst‘ sind103. Diese sind nicht nur grundlegend für komplexe Phänomene, wie z. B. das Meeresrauschen, das Leibniz als aus zahllosen kleinsten, je nicht bewussten Perzeptionen zusammengesetzt denkt104, sondern sie dominieren auch das Seelenleben einer schlafenden bzw. bewusstlosen Seele oder entsprechend die Wahrnehmungen von Kleinstlebewesen, denen kein Bewusstsein und keine Seele im engeren Sinne zugesprochen werden kann. Die Erwähnung, dass die Unendlichkeit der unbewussten Perzeptionen in jedem Moment gegeben ist, deutet an, dass die Erklärungskapazität der unbewussten Perzeptionen sich nicht nur auf die unbewussten Momente unseres Seelenlebens beschränkt. Mit der Konzeption der petites perceptions sorgt Leibniz dafür, dass die Vollständigkeit des Begriffs der Vollständigkeit der Erfahrung entspricht. Dies geschieht auf zweierlei Weise. Erstens räumlich: Jede klare Perzeption geht in andere weniger klare über und kann, entsprechend der Kontinuität der Materie, als unendlich oft ‚geteilt‘ gedacht werden, d. h. als ob sie aus unendlich vielen, undeutlicheren Perzeptionen bestünde; zweitens zeitlich, da die Erfahrung eines Lebewesens nie aufhört: Selbst der Tod des dem Lebewesen zugeordneten Körpers unterbricht nicht den Fluss der Perzeptionen, zumal die Substanz selbst unsterblich ist, lediglich die Perzeptionen werden extrem undeutlich. 101 Vgl. Quid sit Idea (1677 [?]), A VI, 4, 1370; vgl. Brief an Arnauld vom 9. Oktober 1687, A II, 2, 243. 102 „On peut memes dire qu’il n’y a point de figure arrestée et precise dans les corps à cause de la subdivision actuelle des parties.“ Brief an Arnauld 28. November / 8. Dezember 1686, A II, 2, 122. 103 „Il y a mille marques qui font juger qu’il y a à tout moment une infinité de perceptions en nous, mais sans apperception et sans reflexion, c’est à dire des changements dans l’ame même dont nous ne nous appercevons pas, parce que les impressions sont ou trop petites et en trop grand nombre ou trop unies, en sorte qu’elles n’ont rien d’assez distinguant à part, mais jointes à d’autres, elles ne laissent pas de faire leur effect et de se faire sentir au moins confusement dans l’assemblage.“ NE, Vorwort, A VI, 6, 53. 104 Ebda.

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Die einfachen Substanzen haben einen so erfüllten Begriff, dass aus ihm alle Prädikate abgeleitet werden können105 – dies entspricht der Vollständigkeit der durch diese Prädikate ausgedrückten Welt. Die Prädikate eines Subjektes sind miteinander verkettet auf zwei mögliche Weisen: Im vollständigen Begriff finden sich nominale Verkettungen, etwa wenn ein Begriff einen anderen impliziert, und solche der Abfolge, wenn ein Ereignis zu einem anderen in einem zeitlichen, z. B. kausalen Verhältnis steht. Diese Dichotomie entspricht den Vernunft- und Tatsachenwahrheiten106. Die nominale Verkettung offenbart sich in der Begriffsanalyse: Komplexere Prädikate implizieren einfachere, entweder auch komplexe oder ganz einfache Prädikate. Das menschliche Erkenntnisvermögen erkennt Ideen entweder a priori oder a posteriori; die einen werden Vernunftwahrheiten genannt, die anderen Tatsachenwahrheiten. Vernunftwahrheiten sind notwendig und gelten zu aller Zeit; Tatsachenwahrheiten sind kontingent und setzen Vernunftwahrheiten voraus. Die Abfolge der Perzeptionen findet innerhalb der Substanz statt und ist durch diese bedingt, nichts beeinflusst sie von außen. Der Appetitus ist das Prinzip der realen Veränderung aller Modifikationen der Substanz, er folgt darin der im Begriff bezeichneten Voranlage der Gesamtheit der Prädikate, die das Wesen der Substanz ausmacht107. Die Prädikate sind alle in einer Abfolge, einer Aufeinanderfolge (suite) bestimmt, in Vergangenheit wie in Zukunft unendlich ausgedehnt: Die Gegenwart geht schwanger mit der Zukunft und enthält die Vergangenheit bereits in voller Konkretion, nur nicht in aktualer Modalität, sondern bloß virtuell. Dieser Aufeinanderfolge von Prädikaten in einer Verkettung als Ganzes liegt das von Leibniz so genannte Gesetz der Serie (lex seriei) zugrunde, das die konsekutiv verketteten Prädikate des vollständigen Begriffs bezeichnet, welche nicht die logischen Implikationen, sondern die zeitliche Abfolge der Welt bedeuten. Durch dieses Gesetz wird der zusammengesetzte vollständige Begriff der Substanz individualisiert und identifiziert, es drückt die Kombination der in diesen eingehenden, unendlich vielen einfachen Begriffen aus. Dieses Gesetz legt damit auch fest, welche Erlebnisse einem Individuum widerfahren und wie sich die Welt verändert, die von dem Individuum perzipiert wird. Die Serie ist in Gottes Perspektive auf statischer Weise gegeben, zumal Gott den ganzen Begriff der Monade kennt; die zeitlich-perspektivische Entfaltung der in der Substanz bereits vorab angelegten Perzeptionen entspricht der Prozessualität der Erfahrung selbst. Die Substanz ist durch die eigene Spontaneität108 gekennzeichnet, nach der die vorangelegte Serie sich dynamisiert und die die Zeitlichkeit der Erlebnisse als phänomenale Struktur konstituiert. 105 DM § 8, A VI, 4, 1539 f. 106 Vgl. Mo §§ 33–36, GP VI, 612 f.; vgl. DM § 8, A VI, 4, 1539 f. Dies gilt auch, wenn die entsprechende Verkettung nicht angegeben werden kann. 107 Yvon Belaval hat dafür eine treffende Formulierung gefunden: „Eine Essenz ist nichts anderes als eine Ansammlung von Prädikaten, in denen die Form das Ganze erhält (maintient), sie ist eine Reihe von Prädikaten, erschaffen in einer Anordnung, damit das Ganze sein Gesetz konstituiert. Die Statik dynamisiert sich.“ – „Une essence n’est plus une collection de prédicats dont la forme maintient le tout, elle est une série de prédicats produits en ordre par le tout que constitue sa loi. La statique se dinamise.“ Ders.: Leibniz, Critique de Descartes, Paris 1960, 395. 108 Spontaneität bedeutet aber nicht, dass es sich um willkürliche Freiheit handelt: Der vollstän-

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Jede Substanz drückt aufgrund der Unendlichkeit der Serie und der entsprechenden vollständigen Bestimmtheit aller einfachen Substanzen das Universum in seiner Gesamtheit aus, was alle möglichen Relationen zu allen anderen irgendwann existierenden Dingen und Substanzen mit einschließt. Die Perspektiven entstehen durch die der jeweiligen Substanz eigenen Ausfaltungen der Welt, d. h. aus von der Monade virtuell oder explizit ausgedrückten Prädikaten. Solche Standpunkte (points de vue) unterscheiden sich nur graduell, weil zwischen jeden zwei Punkten unendlich viele andere angenommen werden können. Alle Materie ist kontinuierlich gegeben und dementsprechend kann kein Punkt der Materie zugeordnet werden, dem nicht auch ein solcher von einer Monade faktisch eingenommener Standpunkt entspricht. So unterscheiden sich auch die Begriffe der Monade nur graduell, zumal, analog zum mathematischen Konvergenzkriterium immer Begriffe gefunden werden können, die zwei beliebigen verschiedenen Begriffen ähnlicher sind als allen anderen109. Die innere Übereinstimmung der Substanzen untereinander konstituiert die Welt als Struktur110, als Ordnung der Tatsachen, in der die Dinge alle aufeinander bezogen sind. Durch das Prinzip des zureichenden Grundes ist gesichert, dass jedem Ereignis, also jeder Änderung der aktualen Prädikate des passiven Subjektes, ein entsprechender Grund zugesprochen werden kann. Die Prädikate der Subjekte sind also so vorfiguriert, dass sie nicht nur gegenwärtig bestimmt sind, sondern auch direkt im Einklang stehen mit noch zu geschehenden und bereits geschehenen Ereignissen, deren Ablauf in den Prädikaten a priori111 beinhaltet bzw. eingefaltet ist. Damit haben sich vier notwendige und essentielle Merkmale der einfachen Substanz hervorgetan. Die Substanzen sind 1.) 2.) 3.) 4.)

vollständig bestimmt, unteilbar und damit unveränderlich und ewig, aktiv und perzipierend112.

Die Vollständigkeit des Begriffs und die Unteilbarkeit der Substanz bringen mit sich, dass jede Substanz genau ein Individuum ausmacht. Aktivität wird in unter-

109 110

111 112

dige Begriff der einzelnen Substanz „ist zur Erfüllung der Kompossibilitätsbedingungen an andere notiones completae angepaßt, also abhängig. Freiheit kann deshalb für menschliche Individuen nur graduell verwirklicht sein.“ Poser, Hans: „Die Freiheit der Monade“, in: Centro Fiorentino di Storia e Filosofia della Scienza (Hrsg.): The Leibniz Renaissance, Florenz 1989, 235–256, hier: 245. Vgl. Ishiguro: Leibniz’s Philosophy of Logic and Language, a. a. O., 90 ff. Die „Welt ist für Leibniz die relatio realis alles je und jemals Seienden, das schlechthin fundamentale und prästabilierte Ordnungsgefüge, das Raum und Zeit […] als wechselseitig aufeinander bezogene innerweltliche Ordnungssysteme um- und übergreift.“ Herring, Herbert: „Über den Weltbegriff bei Leibniz“, in: Kant-Studien 57 (1966), 142–154, hier: 154. TD § 47, GP VI, 129. Zur Diskussion und Kritik der Definition der Substanz durch solcherart Kriterien siehe Palkoska, Jan: Substance and intelligibility in Leibniz’s metaphysics, Stuttgart 2010 (Studia Leibnitiana, Supplementa XXXV).

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schiedlichen Argumentationskontexten mit Perzeptivität oder Wirkursächlichkeit gleichgesetzt. Aktivität und Perzeptivität bedeuten, dass es sich bei jeder Substanz um ein wahrnehmendes Lebewesen handelt. Die Ewigkeit macht die Unsterblichkeit jeder Seele aus. Deswegen also bezeichnen die Begriffe „Monade“, „einfache Substanz“, „Geist“ und „Seele“ jeweils dieselbe ontologische Entität. Begrifflich unterscheidet Leibniz eine einfache von einer individuellen Substanz, aber es ist nicht anzunehmen, dass es sich hierbei um unterschiedliche Substanzen handelt. Bevor nun die Untersuchung auf die Begründung der körperlichen Substanz gerichtet werden soll, gilt es, die in der Forschung umstrittene, hier aber bejahte These der Phänomenalität der Körper zu untermauern. 2.2 Die Phänomenalität der Körper Leibniz betont, dass die Körper nichts als bloße Phänomene sind, da er nur so das unendlich teilbare Kontinuum der Körper rechtfertigen kann und zugleich die Materie als Resultat der Aggregation einfacher Substanzen behaupten kann. Dies lässt sich quellenkritisch von recht frühen bis in die spätesten Schriften belegen. So etwa heißt es in einem Fragment, das vielleicht aus den späten 1670er Jahren stammt: Dass Materie und Bewegung nur Phänomene sind oder in sich etwas Imaginäres enthalten, kann aus dem Fakt verstanden werden, dass verschiedene und kontradiktorische Hypothesen über sie gebildet werden können, von denen keine nichtsdestoweniger den Phänomenen perfekt gerecht wird, so dass kein Grund erdacht werden kann, um zu entscheiden, welche von ihnen bevorzugt werden sollte.113

Eine Passage aus dem Discours de Métaphysique: Jede Substanz ist gleichsam eine Welt für sich, die von jeder anderen Sache mit Ausnahme Gottes unabhängig ist. So sind alle unsere Erscheinungen, das heißt alles, was uns jemals zustoßen kann, nur die Folgen unseres Seins. Und da diese Erscheinungen eine gewisse Ordnung bewahren, in Übereinstimmung mit unserer Natur und sozusagen (pour ainsi dire) mit der Welt, die in uns ist […]; dies genügt, um zu sagen, dass diese Erscheinungen wahr sind, ohne uns in Unbill darüber zu stürzen, ob sie außer uns sind und ob andere sie wahrnehmen.114

Ein Beispiel aus einem Brief an Arnauld aus dem Jahre 1687:

113 „Materiam et Motum esse phaenomena tantum, seu continerein se aliquid imaginarii, ex eo intelligi potest, quod de iis diversae hypotheses contradictoriae fieri possunt, quae tamen omnes perfecte satisfaciunt phaenomenis, ita ut nulla possit ratio excogitari definiendi utra sit praeferenda.“ A VI, 4, 1463. 114 „Chaque substance est comme un Monde à part, independant de tout autre chose hors de Dieu, ainsi tous nos phenomenes, c’est à dire tout ce qui nous peut jamais arriver, ne sont que des suites de nostre estre, et comme ces phenomenes gardent un certain ordre conforme à nostre nature, ou pour ainsi dire au monde qui est en nous […]; cela suffiroit pour dire que ces phenomenes sont veritables sans nous mettre en peine s’ils sont hors de nous, et si d’autres s’en apperçoivent aussi.“ DM § 14, A VI, 4, 1550.

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Genau genommen (à la rigueur) ist im Hinblick auf das Ausgedehnte alles unbestimmt, und das, was wir dem Körper zusprechen, sind nur Phänomene und Abstraktionen, was zeigt, wie sehr man sich in diesen Dingen täuscht […].115

Ein Brief an de Volder: Denn ein Aggregat ist nichts anderes denn all die Dinge zugleich zusammengenommen, aus denen es resultiert, die sicherlich ihre Einheit nur vom Geist alleine erhalten in Entsprechung dessen, was sie miteinander gemein haben, wie eine Herde Schafe.116

Hierbei ist die Betonung zu beachten, dass es sich bei der Übereinstimmung der Phänomene mit der Welt um eine Redeweise handelt (pour ainsi dire), da die Körper streng genommen (à la rigueur) selbst ebenso nur als Phänomene gelten können. Passenderweise greift Leibniz in diesem Kontext eine im Barock gängige Metapher auf: Die Welt der Körper ist ein Theater (theatrum mundi corporei)117. Diese an das platonische Höhlengleichnis erinnernde Metapher spricht die bloße Phänomenalität der Körper deutlich aus; wir werden aber sehen, dass die Ideen keinesfalls realitätsgarantierende Urbilder sind, die sich in den betrachteten Objekten instanziieren. Die phänomenal gegebene Realität der perzipierten Dinge ist stattdessen in Aggregaten von unperzipierbaren Substanzen fundiert: Die Welt ist ein Theater, aber kein Traum. Leibniz gibt mancherorts einen Hinweis darauf, wie die Frage nach dem Verhältnis zwischen Phänomenalismus und Aggregate-Theorie zu entscheiden ist, indem er die Erscheinung der Materie mit dem Regenbogen vergleicht: „Die Masse ist nichts anderes als ein Phänomen wie der Regenbogen.“118 Dies scheint zu bedeuten, dass die Masse nur in den Perzeptionen gegeben ist. Die Materie ist, als metaphysisches Korrelat zur Form verstanden, keinesfalls ein bloßes Phänomen; die Materie aber, die in den Perzeptionen konstituiert ist, ist nichts als ein bloßes Phänomen. Was ist damit gemeint? Descartes hatte in La Dioptrique und Les Météores eine Theorie des Regenbogens entworfen, nach der die Himmelserscheinung auf Brechung und Reflektion des Lichtes innerhalb der Regentropfen zurückzuführen ist. Descartes wusste demnach auch, dass der Bogen keine feste Position in der Welt 115 „Tout est indefini à la rigueur à l’égard de l’étendue et ce que nous en attribuons aux corps, ne sont que des phenomenes et des abstractions, ce qui fait voir combien se ces matieres […]“, Brief an Arnauld, 30. April 1687, A II, 2, 188. 116 „Aggregatum enim nihil aliud est quam ea omnia simul sumta ex quibus resultat, quae sane Unitatem suam habent a mente tantum ob ea quae habent communia, ut ovium grex“, Brief an de Volder, 10. November 1703, GP II, 256. Glenn Hartz, der sonst der idealistischen Lesart durchaus kritisch gegenübersteht, zitiert diese Texte ebenfalls und bemerkt dazu: „These texts are impeccable, their picture unmistakable. Aggregats are extended beings and so exist only as phenomena in perceiving minds.“ Hartz, Glenn: Leibniz’ Final System, a. a. O., 77. Ähnlich Garber: Leibniz, a. a. O., 279. 117 TD, Causa Dei, GP VI, 460. 118 „Massa nihil aliud est quam Phaenomenon ut Iris.“ Brief an Des Bosses vom 8. September 1709, GP II, 309. Die Körper dagegen sind mehr als dieses, weil ihnen aufgrund der körperlichen Substanz und dem substanziellen Band eine weitergehende Wirklichkeit zukommt (s. u.). Zur Diskussion um die Interpretation des Regenbogens siehe etwa Phemister: Leibniz and the Natural World, a. a. O., 175 ff.

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hat, sondern stets relativ zum Beobachter steht, wobei die konstanten Elemente die Form, die Farbabfolge und der gleich bleibende Winkel zwischen Regenbogen, Betrachter und Erdboden sind. Für Descartes ist der Regenbogen nur ein Beispiel für seine Methode des richtigen Vernunftgebrauchs, die es ihm ermöglicht, vorher unbekannte Dinge durch methodische Analyse systematisch zu erschließen119. Doch für Leibniz hat die Diskussion über den Regenbogen eine ganz andere Funktion. Wie auch die Nebensonne wird er als Beispiel benutzt, um ein wahrnehmbares, ausgedehntes Objekt zu beschreiben, dem dennoch keine Realität entspricht, weil er kein physisch existentes Objekt ist: Ihm liegen keine in ihm wirkenden physischen Kräfte zugrunde, d. h. er ist nicht materiell. Seine Position ist von der individuellen Perspektive abhängig, aber nur in begrenztem Maße isomorph in anderen Perspektiven lokalisierbar. Der Regenbogen scheint ein Beispiel dafür zu sein, dass Phänomene in Relation zu unserer Disposition als Perzipienten und zugleich aus zugrunde liegenden Objekten, den Regentropfen, resultieren. Sie sind dabei weder auf die Wirklichkeit der perzipierenden Subjekte, noch auf die Realität der zugrundeliegenden Substanzen reduzierbar. In dieser Hinsicht ist es vergleichbar mit einem weiteren, meist passend dazu gebrachten Beispiel eines Stapels oder Haufens. Auch dieser resultiert aus den zugrunde liegenden Objekten, die gleichwohl selbst unvermindert erhalten und wahrnehmbar bleiben, anders als es beim Regenbogen der Fall ist. Betrachtet man den Haufen oder Stapel dagegen als eigenständiges Objekt, so wird ein weiteres Problem deutlich, das für alle materiellen Dinge gilt: Existenz und Identität eines aggregierten Dinges sind unabhängig von jedem einzelnen Bestandteil. In diesem Sinne entspricht der Steinhaufen dem Schiff des Theseus – eine Aporie, mit der Leibniz gut vertraut ist. Es ist anzunehmen, dass diese Problematik ihn dazu bewegt, den Status der materiellen Dinge als bloße entia successiva zu bestimmen, also als Dinge, die im Laufe der Zeit Teile verlieren und neue erhalten, denen aber kein permanenter Seinsstatus zukommt. Da den materiellen Dingen jenseits ihrer Bestandteile weder eigenes, kontinuierliches Sein, noch eigene Identität zukommt, sind auch sie für sich genommen nichts als Phänomene, wenn auch, so wie der Regenbogen, wohl begründete Phänomene. Wir werden zwar später sehen, dass die Körper dank der körperlichen Substanz und des substanziellen Bandes auch mehr sind als bloße Phänomene, aber zuerst müssen wir verstehen, wie diese Analogie zum Regenbogen gemeint ist. Leibniz schreibt dazu: Um jedoch präzise zu sprechen, setzt sich die Materie nicht aus konstitutiven Einheiten zusammen, sondern resultiert aus diesen, denn die Materie oder ausgedehnte Masse ist nichts als ein in den Dingen begründetes Phänomen, so wie der Regenbogen oder die Nebensonnen, und die ganze Realität ist nichts als Einheit. Die Phänomene jedoch kann man immer in kleinere Phänomene teilen, die feineren Tieren erscheinen können, man wird nie zu den kleinsten Phäno-

119 Vgl. Gaukroger, Stephen: Descartes’ System of Natural Philosophy, Cambridge 2002, 26 f. Leibniz scheint jedoch nicht Newtons Theorie der Lichtbrechung einzubeziehen, von der er augenscheinlich nicht viel hielt – in einer Notiz von 1673 spricht er von „Newtons ungelösten Problemen“, was sich wohl auf Newtons Vorlesungen zur Optik bezieht, die 1670–72 gehalten wurden. Siehe: „Neutonii difficultas soluta hactenus non est“, A VIII, 1, p. 6.

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menen durchstoßen. Die wahren substantialen Einheiten sind nicht Teile, sondern Fundamente der Phänomene.120

Hier ist Leibniz so deutlich wie nur wünschenswert. Die Erscheinung des Regenbogens entspricht keinem „Regenbogen-Ding“, sondern hat ihren Grund in der Brechung und Reflektion des Lichtes in den Regentropfen. Es gibt streng genommen keine echte Entität namens Regenbogen in dieser Welt, auch wenn wir ihn wahrnehmen und ihm eine gewisse Realität zusprechen müssen, weil er, anders als ein Traum oder eine Wunschvorstellung, in realen Prozessen begründet ist und einen phänomenalen Effekt auf uns hat. Ebenso zeigen die Nebensonnen nicht die Existenz mehrerer Sonnen an, sondern resultieren ebenso aus Lichtbrechungen in Eiskristallen, die sich in der Luft befinden. Leibniz wiederholt also die noch näher zu erörternde Differenz zwischen wirklichem Sein und phänomenalem Schein in Analogie zur perzipierten Welt, in der zwar Regenbogen und Regentropfen beide für sich perzipierbar sind, auch wenn sie gleichwohl in einem einseitigen ontologischen Dependenzverhältnis stehen: Der Regenbogen ist in seinem Wesen und in seiner Existenz von den Regentropfen und dem durch sie wirkenden Licht abhängig. So lässt sich die Genese des Regenbogens zwar auf der physikalischen Ebene erklären, doch Leibniz’ Punkt hier scheint völlig klar zu sein: Es gibt einen radikalen Bruch zwischen dem Ursprung der Erscheinung und den in dieser Erscheinung gegebenen Dingen. Die Regenbogen-Analogie dient dazu, dieses Kausalmodell als Begründungsform anzuzeigen. Der Ursprung der materiellen Dinge liegt nicht in einer Ansammlung anderer materieller Dinge, sondern in etwas, das radikal von den Dingen verschieden ist – so wie der Regenbogen sich auch nicht wirklich aus selbständigen RegenbogenTeilabschnitten zusammensetzt, sondern nur auf phänomenaler Ebene in solche unterteilt werden kann, ohne dass man so den wahren Ursprung erreichen würde, in diesem Falle weder das Licht noch die Regentropfen. So sind die Substanzen gewissermaßen hinter den wahrnehmbaren Dingen verborgen und haben mit den Erscheinungen nichts außer bestimmten strukturellen Gegebenheiten gemein. Der Gegenstand bzw. Inhalt der Perzeptionen ist vom Wesen der wahren Dinge radikal verschieden, da er gerade nur die materiellen Dinge erfasst. Leibniz greift hier seine alte Unterscheidung zwischen den erscheinenden und realen Attributen (attributum reale oder apparens) wieder auf, um so die Frage nach der Realität zu stellen, die ihn seit den späten 1670er Jahren wieder intensiv beschäftigt. Doch Leibniz formuliert seine Thesen nicht immer so radikal wie an diesen Stellen. In manchen Texten weicht er vor den Konsequenzen zurück, die auf eine solche Aufweichung des Realitätsbegriffs folgen würden. Er bedient sich dabei der körperlichen Substanzen, die den materiellen Körpern doch eine gewisse Realität 120 „Accurate autem loquendo materia non componitur ex unitatibus constitutivis, sed ex iis resultat, cum materia seu massa extensa non sit nisi phaenomenon fundatum in rebus, ut iris aut parhelion, realitasque omnis non sit nisi unitatum. Phaenomena igitur semper dividi possunt in phaenomena minora quae aliis subtilitoribus animalibus apparere possent, nec unquam pervenietur ad minima phaenomena. Unitates vero substantiales non sunt partes, sed fundamenta phaenomenorum.“ Brief an de Volder, 30. Juni 1704, GP II, 268.

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verleihen, die sie gerade vom Regenbogen unterscheidet, dessen Realität ja gerade nur im Auge des Betrachters liegt: Wenn die Körper Substanzen sind, haben sie notwendigerweise etwas in sich, das der Seele entspricht, und was die Philosophen gerne substanzielle Form nannten. Denn nach dem [Substanz-]Begriff, den ich soeben darlegte, können die Ausdehnung und ihre Modifikationen keine Substanz bilden, und wenn es nur dies in den Körpern gibt, kann man zeigen, dass sie keine Substanzen, sondern wahre Phänomene sind, wie der Regenbogen. Im Falle jedoch, dass die Körper Substanzen sind, muss man notwendigerweise die substanziellen Formen wieder einsetzen, ungeachtet dessen, was die Cartesianer dazu sagen.121

Damit wird die Analogie des Regenbogens um ein strukturelles Moment erweitert, das die Realität der Erscheinung und ihre bloß kontingente Bindung an ihre Ursache metaphysisch fixieren soll. Erst durch die Begründung der phänomenalen, temporalen Gestalt der Körper in der abstrakten, substanziellen Form kommt den Körpern ein höherer Realitätsgrad zu, der sie von den bloßen Phänomenen wie Träumen abhebt. Die einzelnen Merkmale der Dinge wie Materie, Masse, Raum, Gestalt (figura) und Bewegung bleiben gleichwohl bloße Phänomene, auch wenn der Körper über eine substanzielle Form verfügt122. Leibniz unterscheidet den Regenbogen vom Traum, denn bei einer Wahrnehmung denken wir den Gegenstand zugleich als existierend, während eine solche Setzung im Traum nicht erfolgt123. Der Punkt scheint dabei gerade diese durch das Subjekt initiierte Setzung zu sein, denn dem Regenbogen kommt ja gerade kein eigenes, wirkliches Sein zu. Er ist trotz seiner Fundierung in den Substanzen von bloß imaginärer Natur: „Die Phänomene selbst wie der Regenbogen oder ein Steinhaufen sind gänzlich imaginär, wenn sie nicht zusammengesetzt sind aus Seienden, die eine echte Einheit besitzen.“124 Gegenüber diesen bloß resultierenden, perzipierten Phänomenen gibt es also auch Phänomene, die eine weitergehende Form von Realität für sich beanspruchen können. Dies sind die körperlichen Substanzen, denen ein späteres Kapitel gewidmet ist. An dieser Stelle ist es lediglich wichtig, dass es der Geist ist, der den Phänomenen eine Einheit zuschreibt, wenn sie nicht von sich 121 „Si les corps sont des substances, ils ont necessairement en eux quelque chose qui responde à l’ame, et que les philosophes ont bien voulu appeller forme substantielle. Car l’etendue et ses modifications ne sçauroient faire une substance suivant la notion que je viens de donner, et s’il n’y a que cela dans les corps, on peut demonstrer qu’il ne sont pas des substances, mais des phenomenes veritables comme l’arc en ciel. En cas donc que les corps sont des substances il faut necessairement rétablir les formes substantielles, quoyqu’en disent Messieurs les Cartesiens.“ Brief an Arnauld, 14. Juli 1686, A II, 2, 59. 122 Brief an Arnauld, September 1687, A II, 2, 233 ff. Vgl. Bolton, Martha B.: „Leibniz to Arnauld: Platonic and Aristotelian Themes on Matter and Corporeal Substance“, in: Lodge (Hrsg.): Leibniz and His Correspondents, a. a. O., 97–122, hier 111. 123 „Quando aliquid percipimus, simul id cogitamus existere, nisi simul aliquidaliud percipiamus, quod existentiam ejus tollit. Hinc in somnis de veritate eorum quae somniamus non dubitamus, nisi quid superveniat, ut cum somniamus nos somniare.“ Ad Ethicam Benedicti de Spinoza (1678 [?]), A VI, 4, 1721. 124 Siehe auch Leibniz an Arnauld, 30. April 1687, A II, 2, 186: „Les phenomenes memes comme l’arc en ciel, ou comme un tas de pierres seroient tout à fait imginaires s’ils n’estoient composés d’estres qui ont une veritable unité.“

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aus über eine solche verfügen125. Was jedoch nicht von sich aus eine Einheit ist, das ist auch nicht wirklich: Schließlich stimme ich zu, dass man den Namen ein einer Ansammlung unbeseelter Körper geben kann, obgleich keine substanzielle Form sie verbindet, so wie ich sagen kann: hier [ist] ein Regenbogen, hier [ist] eine Herde; aber dies ist eine phänomenale oder gedankliche Einheit, die nicht für das genügt, was es an Wirklichem in den Phänomenen gibt.126

Die Einheit des Regenbogens also lässt keine Rückschlüsse zu auf eventuelle wirkliche Einheiten. Die Setzung einer Einheit in unserer Wahrnehmung und in unserem Denken ist bloß nominell. Die wahre Einheit der Dinge liegt in den Substanzen begründet, die Einheit einer Erscheinung im Konkreten liegt in der ihr zugrunde liegenden substanziellen Form. Die Erscheinungen sind zwar als „bloße“ Erscheinungen dem wahren Sein gegenübergestellt, aber sie sind nicht ein bloßes Nichts. Mit der neuplatonischen These der ohne ihren Ursprung einheitslosen und damit seinslosen Erscheinungen wird auch transitive Kausalität zu einem Merkmal der derivativen Erscheinungen degradiert. Bewegungen und kausale Verkettungen sind nicht an sich wirklich, es genügt, dass die Phänomene es so erscheinen lassen, und diese Erscheinung hat insofern Wahrheit, als diese Phänomene wohlgegründet sind, d. h. übereinstimmen. Die Bewegung und das Zusammenstoßen sind nur Erscheinung, aber wohlgegründete und sich niemals widersprechende Erscheinung wie exakte und dauerhafte Träume. Die Bewegung ist das Phänomen der Veränderung gemäß von Ort und Zeit, der Körper ist das Phänomen, das sich ändert. Die Gesetze der Bewegung sind in den Perzeptionen der einfachen Substanzen begründet und entstehen aus den Zweckursachen oder der Angemessenheit, die immateriell und in jeder Monade enthalten sind; aber wenn die Materie [eine] Substanz wäre, dann entstünden sie aus zwingenden Gründen (raisons brutes) oder aus einer geometrischen Notwendigkeit und wären ganz anders als sie es sind.127

Die Phänomene stimmen miteinander überein, insofern sie erstens immer wieder betrachtet werden können und sich nicht ändern, als sie auch aus verschiedenen Perspektiven gleichermaßen betrachtet werden können, so, wie eine Stadt auch aus verschiedenen Perspektiven anders aussehen kann und dennoch dieselbe Stadt ist:

125 „L’entendement les prend ensemble quelques dispersèe qu’elles soyent“, NE II, Kapitel 12, § 3, A VI, vi, 145. 126 „Au reste j’accorde qu’on peut donner le nom d’un à un assemblage de corps inanimé s, quoyqu’aucune forme substantielle ne les lie, comme je puis dire: voilà un arc en ciel, voilà un troppeau; mais c’est une unité de phenomene ou de pensée, qui ne suffit pas pour ce qu’il y a de reel dans les phenomenes […].“ Brief an Arnauld, 9. Oktober 1687, A II, 2, 250. 127 Leibniz an Remond, Juli 1714, GP III, 623: „Il suffit que les phenomenes le font ainsi paroitre, et cette apparence a de la verité en tant que ces phenomenes sont fondés, c’est à dire consentans. Les mouvemens et les concours ne sont qu’apparence, mais apparence bien fondée et qui ne se demente jamais, et comme des songes exactes et perseverans. Le mouvement est le phenomene du changement suivant le lieu et le temps, le corps est le phenomene qui change. Les loix du mouvement, etant fondées dans les perceptions des substances simples, viennent des causes finales ou de convenance, qui sont immaterielles et en chaque monade; mais si la matiere estoit substance, elles viendroient de raisons brutes ou d’une necessité geometrique, et seroient tout autres qu’elles ne sont.“

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Teil III: Einfache Substanzen Denn alle Körper und alles, was man ihm zuschreibt (attribue [!]), sind keine Substanzen, sondern wohlfundierte Phänomene, oder die Fundamente von Erscheinungen, die bei verschiedenen Betrachtern selbst verschieden sind, aber die in Verbindung zueinander stehen und auf demselben Fundament stehen, wie die unterschiedlichen Erscheinungen derselben Stadt, die von mehreren Seiten gesehen wird.128

Die Erscheinungen sind jedoch nicht traumhaft, denn dem Traum kommt eine noch geringere Realität zu als den bloßen Erscheinungen129. Leibniz unternimmt zwei Versuche, diese Unterscheidung zwischen wahren Erscheinungen und dem Traum zu begründen und benennt zwei Kriterien: Erstens kommt den Phänomenen ein höherer Wirklichkeitsgrad zu, da sie kohärent sind mit anderen oder, wie Leibniz es auch formuliert, „sich im Konsens befinden“130. Zweitens weisen die wahren Phänomene eine Kongruenz auf, welche eine rationale Erklärung zulässt131. Aber ein wirkliches Phänomen (phénomène réel) ist also noch kein wirkliches Sein; dementsprechend unterscheidet sich die Wirklichkeit, die einem solchen Phänomen im Gegensatz zu einem phénomène imaginaire zukommt, von der zugrunde liegenden Wirklichkeit einer Substanz. Die Phänomene müssen in der substanziellen Wirklichkeit gründen: Es wäre nicht im Sinne Gottes und stimmte nicht mit seinem Prinzip des Besten überein, wenn allen Körpern der ontologische Status einer bloßen Illusion zukäme. Wir werden noch sehen, dass die Erfahrungswelt zwar perspektivisch nur für eine Monade gegeben und in ihrem Realitätsgehalt von der Monade abhängig ist, ihr aber insoweit ein eigener Realitätsstatus zukommt, als ihr in begründender Weise körperliche Substanzen entsprechen. Aber wir können festhalten, dass mit dem Phänomenalismus auch die Ablehnung des Mechanismus als alleingültiges Erklärungsprinzip neu in ihrem philosophischen Kontext verstanden wird: Die Welt selbst ist nur in Repräsentationen gegeben. Die repräsentierenden Wesen sind ihrem Wesen nach nicht etwa Massepartikel, wie es der Mechanismus fordert, sondern sie sind sich selbst als repräsentierende Wesen und jedem anderen in erster Linie als Repräsentationen zugänglich; sie können sich und andere aber nicht in ihrer vollständigen Wirklichkeit erfahren, da wir diese nur begrifflich und allgemein formulieren können. Die Existenz von Massepartikeln muss vor diesem Hintergrund einer Repräsentationstheorie verstanden werden, nicht umgekehrt.

128 „Cependant tous ces corps et tout ce qu’on attribue, ne sont point des substances, mais seulement des phenomenes bien fondés, ou le fondement des apparences, qui sont differentes en differens observateurs, mais qui ont du rapport et viennent d’une même fondement, comme les apparences differentes d’une même ville vue des plusieurs cotés.“ Ebd., 622. Siehe zur Stadtmetapher auch DM § 9, A VI, 4, 1541 f.; A VI, 3, 524; Mo § 57, GP VI, 616. 129 Leibniz unterscheidet in den Schriften De Mundo Praesenti und De Modo Distinguendi Phaenomena Realia ab Imaginariis zwischen Schein, Traum und wirklicher Wahrnehmung. 130 „Omne Ens vel est Reale vel Imaginarium. Ens reale, quod est ditra mentis operationem ut sol de quo judicamus ex consensu plurium perceptionum. Ens imaginarium quod secundum unum percipiendi modum percipitur ad instar Entis realis, ut iris, parhelius […].“ De Mundo Praesenti (1684–85 [?]), A VI, 4, 1506. 131 „Congruum erit phaenomenon, cum ex pluribus phaenomenis constat quorum ratio reddi potest ex se invicem, aut ex hypothesi aliua communi satis simplice.“ De Modo Distinguendi Phaenomena Realia ab Imaginariis (1683–86 [?]), A VI, 4, 1501.

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In der Phänomenalität der Masse und Materialität zeigt sich, dass den Körpern eine aktive Substanz zugrunde liegt, die Körper selbst aber nur passiv sind. Da alle Aktivität und kausale Wirkung stets mit Substanzialität verknüpft ist, sind die Körper zugleich mit einer Substanz verbunden, die in ihnen oder durch sie wirkt. Jeder scheinbar unbelebte Körper besteht aus zahllosen organischen Körpern, die kraft ihrer Entelechie über eine eigene Aktivität verfügen. Der Körper selbst aber ist gegenüber der Entelechie nur ein Instrument und damit passiv. Darin aber offenbaren sich die Körper in ihrer Phänomenalität: „Es scheint mir, als wären alle Körper nur Modi, denn es gibt kein Argument, durch welches bewiesen werden kann, dass sie handeln und dass sie Gegenstand einer Handlung sind; denn sie sind nichts als unsere Empfindungen.“132 Hier wird natürlich vorausgesetzt, dass die Modi der Substanz gleichzeitig ihre Perzeptionen sind. Es scheint, als ob Leibniz in den 1680er Jahren eine Theorie entworfen hat, deren Plausibilität und Begründung er erst Jahre später mit dem Kraftbegriff und der Theorie der körperlichen Substanzen nachliefert133. Es finden sich zudem einige späte Texte, in denen Leibniz nicht die substanzielle Form, sondern das substanzielle Band (vinculum substantiale) als Grund der Realität ausweist, welche dann den phänomenalen Körpern zugesprochen werden kann: Wenn jenes substanzielle Band der Monaden fehlen würde, dann wären alle Körper mit all ihren Qualitäten nur wohlbegründete Phänomene, so wie der Regenbogen oder ein Spiegelbild, also mit einem Wort, nur kontinuierliche Träume in vollkommener Kongruenz mit sich selbst; und einzig darin bestände die Realität dieser Phänomene. Denn dass die Monaden Teile von Körpern seien, sich gegenseitig berührten, die Körper zusammensetzten, darf nur in dem Maße behauptet werden, als das von Punkten und Seelen zu sagen erlaubt ist.134

Hier werden zahlreiche der genannten Punkte zusammengeführt. Wir nehmen die Körper in ihren Qualitäten wahr, denen allesamt keine Realität jenseits der Erscheinung zukommt. Auch wenn die Erscheinungen wohlbegründet sind, so unterscheiden sie sich von einem individuellen Traum darin, dass sie alle miteinander übereinstimmen. Wir werden sehen, dass die Übereinstimmung der Phänomene letztendlich die Realität der physischen Kräfte ausmacht und damit den kollektiven Erscheinungen ein anderes Maß an Realität verleiht als ein individueller Traum, in dem es keine wirklichen Kräfte geben kann. Auf dieser phänomenalen Ebene finden sich jedoch keine individuellen Substanzen, denn diese sind von den Körpern so verschieden wie die Punkte von der Ausdehnung oder die Seele von ihrem Körper.

132 „Videtur mihi Corpora omnia non nisi modos esse, neque enim ullum argumentum est, quo ostendi possit ea agere et pati, nihil aliud sunt quam sensiones nostrae.“ Absurdum, Falsum, Difficile Cartesii (1683–85 [?]), A VI, 4, 1467. 133 Vgl. dazu Hochstätter: „Von der wahren Wirklichkeit bei Leibniz“, a. a. O., 426. 134 „Si abesset illud monadum substantiale vinculum, corpora omnia cum omnibus suis qualitatibus nihil aliud forent quam phaenomena bene fundata, ut iris aut imago in speculo, verbo, somnia continuata perfecte congruentia sibi ipsis; et in hoc uno consisteret horum phaenomenorum realitas. Monades enim esse partes corporum, tangere sese, componere corpora, non magis dici debet, quam hoc de punctis et animabus dicere licet.“ Brief an Des Bosses, 15. Februar 1712, GP II, 435 f.

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Insgesamt scheint Leibniz also drei Arten von Seins- und Erscheinungskategorien zu unterscheiden: Erstens echte Substanzen; zweitens aggregierte Objekte, die alle scheinbar unbelebten Objekte umfassen und die nichts als kohärente Erscheinungen sind, denen aber gleichwohl ein echtes Wesen zugrunde liegt; drittens individuelle Träume und Sinnestäuschungen, denen schlussendlich gar keine Realität zukommt. So kann man mit einem Vorschlag von Pauline Phemister drei Arten des Phänomenalismus unterscheiden, die alle in seinen Werken zu finden sind: Spiritueller Phänomenalismus, dem zufolge Körper bloße Phänomene sind und es keine substanzielle Komponente in den Körpern gibt (evtl. vertreten in Calculus Ratiocinatur); Phänomenalismus der körperlichen Substanz (corporeal substance phenomenalism), nach dem es eine substanzielle Realität in den wahren Phänomenen gibt (wie etwa im Discours); und den monadischen Phänomenalismus, in dem sich individuelle Substanzen zu einem Ding zusammensetzen.135 Ich bin jedoch, anders als Phemister, der Meinung, dass diese drei Arten auf die idealistische Grundlage der Monadenlehre bzw. der Theorie der einfachen Substanzen zurückzuführen sind, aus denen sich die körperlichen Substanzen derivativ mittels komplexer Aggregate von Körpern, Substanzen und Kräften ergeben. Leibniz weist in diesen Überlegungen den Geist als den eigentlichen Realitätsgrund der Körper auf, da er die Ursache aller körperlichen Phänomene ist: „Wenn man sagt, die Ursache der Phänomene liegt in dem Wesen unseres Geistes, in dem die Phänomene enthalten sind (insunt), so ist das nichts, was man als falsch ausweisen kann […].“136 Doch er fügt hinzu: „was man aber dennoch nicht als die ganze Wahrheit bezeichnen kann.“137 Denn erstens müssen wir auf den Grund zurückgehen, warum wir überhaupt sind, d. h. wir müssen uns Gott zuwenden138; und zweitens müssen wir, wenn wir aufgrund des Prinzips des Besten die Körper doch für real halten, deren Ursprung in aktivischen und passivischen Kräften erweisen, die die Materie und Form der körperlichen Substanz ausmachen139. Dies wird in den folgenden Kapiteln in einzelnen Schritten vorbereitet und erläutert. 2.3 Einfache Substanzen und ihre Körper Entscheidend für die Realität der Körper und der körperlichen Substanzen ist das Verhältnis der individuellen Substanz zu ihrem Körper. Wie sowohl im Discours als auch in der Monadologie unmissverständlich klar gemacht wird, besteht die einfache Substanz aus nichts mehr als den Modifikationen, die auch mit Perzeptionen 135 Phemister, Pauline: „Corporeal Substances and the ‚Discourse on Metaphysics‘“, in: Studia Leibnitiana 33.1 (2001), 66–83, hier: 72 f. 136 „Quod si quis dicat causam phaenomenorum esse in natura Mentis nostrae cui phaenomena insunt, is nihil quidem falsi affirmabit […].“ De Modo Distinguendi (1683–85 [?]), A VI, 4, 1503. 137 „Sed tamen nec dicet totam veritatem“, ebd. 138 „Primum enim necesse est rationem esse cur nos ipsi simus potius quam non simus […]“, ebd. 139 „Et si quid est reale, id solum esse vim agendi et patiendi adeoque in hoc (tanquam materia et forma) substantiam corporis consistere, quae corpora autem formam substantialem non habent, ea tantum phaenomena esse, aut saltem verorum aggregata.“ Ebd., 1504.

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zu identifizieren sind, und dem Appetitus, der die Abfolge der Perzeptionen aufeinander bestimmt. Wie also kann die Monade, hier als Synonym für die einfache Substanz stehend, einen Körper besitzen? Sie wählt eine Menge an Perzeptionen aus und schreibt sich diese als ihren Körper zu. Die individuelle Substanz verfügt bereits über eine Sammlung von ausgezeichneten Perzeptionen, die sie sich als ihren Körper attribuiert. Leibniz schreibt im Discours folgendes: „Da wir aber das, was wir auf eine gewisse Weise wahrnehmen, anderen Dingen gleichsam als auf uns wirkende Ursachen zuschreiben [!], so muss man die Grundlagen dieses Urteils und das, was daran wahr ist, erwägen.“140 Damit deutet er bereits an: Auch wenn ich es bin, der alles perzipiert, so bin ich doch gezwungen, mich nicht als Ursprung und Ursache aller Perzeptionen zu begreifen, sondern ich muss eine mir gegenüber externe Ursache setzen, um zu begreifen, wie Dinge auf mich einwirken können. Im Manuskript folgt auf diesen Paragraphen eine unpublizierte Stelle, bei der die Annahme nahe liegt, dass es sich keinesfalls um ein verworfenes Gedankenexperiment oder ein übermütiges Spekulieren handelt, sondern um eine wahrscheinlich aus diplomatischen Gründen zurückgehaltene These: Auch gibt es einige ausgedehnte Erscheinungen, die wir uns ganz besonders zuschreiben und deren Grundlage a parte rei unser Körper genannt wird, und da alles das, was ihm Bemerkenswertes zustößt […], sich wenigstens gewöhnlicherweise stark bemerkbar macht, schreiben wir uns alle Leiden dieses Körpers zu, und zwar mit gutem Recht, denn sogar dann, wenn wir nichts davon wahrgenommen haben, nehmen wir doch die Folgen sehr wohl wahr, wie wenn man uns zum Beispiel im Schlaf von einem Ort zu einem anderen bringt. Wir schreiben uns auch die Handlungen dieses Körpers zu, wie wenn wir laufen, schlagen, fallen, und sagen, dass unser Körper, der eine begonnene Bewegung fortsetzt, eine Wirkung erzeugt. Was anderen Körpern zustößt, schreibe ich mir aber nicht zu, weil ich wahrnehme, dass ihnen große Veränderungen geschehen können, die mir nicht spürbar werden, wenn mein Körper ihnen nicht auf eine bestimmte Weise ausgesetzt ist, die ich als angemessen erkenne.141

Leibniz behauptet hier nichts weniger, als dass das perzipierende Subjekt selbst in der ungeheuren Menge an gegebenen Perzeptionen eine Grenze zwischen Innen und Außen zieht, somit zwischen Eigen- und Fremdkörper, entsprechend den verschiedenen Graden an Klarheit. Man kann sagen, die einfache Substanz zieht in ihren je gegenwärtigen Modifikationen eine Binnendifferenz. Damit etabliert sie 140 „Mais comme nous attribuons à d’autres choses comme à des causes agissantes sur nous, ce que nous appercevons d’une certaine maniere, il faut considerer le fondement de ce jugement, et ce qu’il y a de veritable.“ DM § 14, A VI, 4, 1551. 141 „Il y a aussi quelques phenomenes d’é tendue, que nous nous attribuons plus particulierement, et dont le fondement a parte rei est appellé nostre corps et comme tout ce qui luy arrive de considerable […], se font sentir fortement au moins à l’ordinaire, nous nous attribuons toutes les passions de ce corps, et cela avec grande raison, car quand même nous ne nous en sommes pas apperceus alors, nous ne laissons pas de nous bien appercevoir des suites, comme lorsqu’on nous a transporté d’un lieu à un autre en dormant. Nous nous attribuons aussi les actions de ce corps, comme lorsque nous courons, frappons, tombons, et que nostre corps continuant le mouvement commencé fait quelque effect. Mais je ne m’attribue point ce qui arrive aux autres corps, puisque je m’apperçois, qu’il y peut arriver des grands changemens qui ne me sont point sensibles; si ce n’est que mon corps s’y trouve exposé d’une certaine maniere que je conçois y estre propre.“ DM § 14, A VI, 4, 1552. Mit „nous“ ist das Individuum gemeint. Der Körper selbst kann sich nichts zuschreiben.

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eine perspektivische Unterscheidung zwischen den Perzeptionen, die die Körperwelt ausmachen, und solchen Modifikationen, die sich auf erstere Perzeptionen beziehen und diese je als Wahrnehmung oder mentalen Zustand qualifizieren. Die am deutlichsten wahrgenommenen Veränderungen sind die des eigenen Körpers, die nicht einmal aktiv herbeigeführt werden müssen, sondern die, unserer Wahrnehmung gemäß, passiv erzeugt werden; aber die Veränderung ist so deutlich, dass sie, wie im Beispiele des transportierten Schlafenden, sogar eine Veränderung der gesamten Perspektive insgesamt bedeuten können, die für uns gar nicht intelligibel wäre, wenn das betroffene Individuum den transportierten Körper nicht als seinen Körper begreifen würde. Dagegen erscheinen alle beobachteten Veränderungen als geringfügig. Wir schreiben uns auch die körperlichen Veränderungen zu, die wir begonnen haben, deren Effekt aber nicht aktivisch herbeigeführt wurde; ich kann zum Beispiel von etwas herabspringen, habe dann aber den Aufprall nicht unmittelbar herbeigeführt, da dieser vielmehr eine notwendige Konsequenz des Sprunges ist und dennoch als Ereignis meinem Körper bzw. meinen körperlichen Aktivitäten zugehört. Dass diese These der Zuschreibung des eigenen Körpers nicht wirklich verworfen wurde, kann man daran ersehen, dass vergleichbare Annahmen auch in verschiedenen anderen Texten auftauchen, wenn auch mit meist vorsichtigeren Formulierungen. Warum Leibniz diese Stelle gestrichen haben mag, das ist nicht eindeutig zu entscheiden. Vielleicht hat er das Unverständnis des Cartesianers Arnauld antizipiert oder den Vorwurf des Solipsismus gefürchtet. Jedenfalls hat er die Ablehnung des Discours durch einflussreiche Materialisten befürchtet, denen dieser sehr auf den reinen Verstand (l’intellection pure) gestützte, also rationalistische Denkansatz zuwiderlaufen könnte142. Immerhin war es gerade der Inhalt dieses Paragraphen 13 des Discours, der von Arnauld vehement abgelehnt wurde, weil Leibniz dort die gesamte Geschichte des Individuums in seinem Begriff begründet sieht, was von Arnauld als fatalistisch abgelehnt wird. Es scheint, als ob diese Position in Leibniz’ Notizen in abgeschwächter Weise vorbereitet wurde, etwa wenn er schreibt: „Wir schreiben den Körperregungen Schmerzen zu, weil wir auf diese Weise zu etwas Klarem gelangen. Dies dient uns dazu, die Erscheinungen hervorzurufen oder sie zu verhindern.“143 Es ist also ein pragmatisches Nutzenkalkül, das uns dazu bewegt, die Schmerzen unserem eigenen Körper zuzuschreiben. Durch die deutlichere Wahrnehmung des eigenen Körpers und die Perzeptionen der anderen Körper in Relation zu unserem können wir uns (als Individuen) die Ereignisse unseres Körpers zuschreiben. Dies geschieht alltäglich aus praktischem Nutzen heraus, in der Theorie im Rahmen des Versuches, die

142 „Comme il y est traité de matieres eloignées des sens exterieurs et dependantes de l’intellection pure, qui ne sont pas agreables et le plus souvent sont méprisées par les personnes les plus vives et les plus excellentes dans les affaires du monde.“ Brief an den Landgrafen Ernst von HessenRheinfels, 28. November / 8. Dezember 1686, A II, 2, 128. 143 „C’est donc par la même raison qu’on attribue les douleurs aux mouvements des corps, parce qu’on peut par là venir à quelque chose de distinct.“ Vorstudie zum Brief an den Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels vom 28. November/ 8. Dezember 1686, GP II, 70.

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Sprache der Metaphysik mit der der Alltagspraxis zu versöhnen.144 In der Monadologie heißt es entsprechend: Man sagt von dem Geschöpf, dass es nach außen handele, insoweit es Vollkommenheit besitzt, und von einem anderen etwas erleidet, insoweit es unvollkommen ist. So schreibt man (l’on attribue) Handlung der Monade zu, insoweit sie deutliche [Perzeptionen hat], und Leiden, insoweit sie verworrene Perzeptionen hat.145

Der Körper eines Individuums, seine organische Maschine, ist nur phänomenal gegeben qua attribution. Dies passt zu der im vorangegangenen Teil dargelegten Zuschreibung der Ursache zu denjenigen requisita, die zur Perfektion eines Dinges beitragen. Wenn die Perfektion eines Dinges gemindert wird, wird dies als Wirkung aufgefasst; kann sie sich dagegen ausweiten, wird dies als ursächliche Handlung begriffen. In dem allgemeinen Kontinuum an Veränderungen sind es wir perzipierende Wesen, die nach diesem Kriterium die Unterscheidung zwischen Grund und Ursache treffen – und damit, was den Bereich des physischen Körper angeht, auch zwischen eigenem und fremden Körper. Die derart im Discours angedachte Selbstzuschreibung des Körpers wird in den Erläuterungen zum Système Nouveau entscheidend erweitert: Es scheint auch, daß es genauer ist zu sagen, daß die Geister da sind, wo sie unmittelbar wirken, als zu sagen, […] daß sie nirgends sind. Ich habe andernorts erklärt, wie ich es verstehe, wenn ich sage, daß die Geister auf die Körper einwirken.146

Die Geister wirken qua ihrer Entelechie auf die Körper ein (s. u.). Man kann den einzelnen Punkten, die in dem ausgedehnten Körper gedacht werden können, jeweils eine andere Monade zuordnen147. Doch hier ist entscheidend, dass die Selbstattribution des Körpers durch den Geist erweitert wird: Jedem phänomenal gegebenen Körperteil wird eine untergeordnete Seele und damit eine Perspektive zugeordnet, 144 „Il suffit à present, pour concilier le langage metaphysique avec la practique, de remarquer que nous nous attribuons d’avantage et avec raison les phenomenes que nous exprimons plus parfaitement, et que nous attribuons aux autres substances ce que chacune exprime le mieux.“ DM § 15, A VI, 4, 1553. Siehe auch: „Et ce langage est fort raisonnable, car il est propre à s’exprimer nettement dans la pratique ordinaire.“ Aus dem gestrichenen Abschnitt des DM, A VI, 4, 1552. 145 Mo § 49, GP VI, 615: „La Creature est dite agir au dehors en tant qu’elle a de la perfection, et patir d’une autre en tant qu’elle est imparfaite. Ainsi l’on attribue l’Action à la Monade en tant qu’elle a des perceptions distinctes, et la Passion en tant qu’elle a de confuses.“ 146 „Il paroist aussi qu’il est plus exact de dire que les esprits sont là où ils operent immediatement, que de dire, […] qu’ils sont nulle part. J’ay expliqué ailleurs, comment je l’entends, quand je dis que les Esprits operent sur les corps.“ Zusatz zu der Erklärung des Neuen Systems, GP IV, 574. Siehe auch: „Vielleicht würde jemand sagen, dass sie nur durch Operationen lokalisiert sind, nämlich gemäß dem alten System des Einflusses (influxus) gesprochen, oder besser (gemäß dem neuen System der prästabilierten Harmonie), dass sie lokalisiert sind durch Entsprechung und somit im ganzen organischen Körper sind, den sie beseelen.“ – „Fortasse aliquis diceret, eas [= Substanzen] non esse in loco nisi per operationem, nempe loquendo secundum vetus systema influxus, vel potius (secundum novum systema harmoniae praestabilitae) esse in loco per operationem, atque ita esse in toto corpore organico quod animant.“ Leibniz an Des Bosses, 16. März 1709, GP II, 368. 147 Robinet hat das Denken der Monade als Seelen-Punkt seit der Frühphilosophie Leibniz’ verfolgt, vgl. Robinet: Architectonique Disjonctive, a. a. O., siehe vor allem 160 ff.

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da alle Teile des Körpers belebt sind. Die Seele herrscht über den ihr zugeordneten Körperpunkt, der von Leibniz in den frühen Schriften als „Kern“ der Substanz und damit des Lebewesens bezeichnet wird: „Dieser Kern der Substanz, bestehend aus einem physischen Punkt (der das naheliegendste Instrument ist und als solcher das Vehikel der Seele, welche in einem mathematischen Punkt lokalisiert ist), dauert ewig an.“148 Da Punkte keine echten, homogenen Teile der ausgedehnten Körper sind, ist es entscheidend, dass sie den Körpern attribuiert bzw. zugeschrieben werden. Es werden also im Erkenntnisakt heterogene Elemente einander gemäß der tatsächlich vorhandenen Beziehung zwischen beiden zugeordnet, wobei diese Relation gleichwohl keine bloß mereologische, sondern vor allem eine konstitutive ist. Systematisch gesehen greift Leibniz hier seine frühe Theorie der beseelten Materieteilchen auf, während er aber Körper und Seele radikal in Phänomen und perzipierendes Subjekt trennt. Dem perzipierten Körper wird eine übergeordnete Seele zugesprochen, die der den gesamten Körper lenkt und mit dessen personaler Identität (bspw. „Peter“) wir den perzipierten Körper identifizieren (mit Verweis auf einen Körper: „das hier ist Peter“). Wir können in dem Körper des Gegenübers keine Monaden oder Substanzen erkennen, aber wird müssen annehmen, dass der Körper in den ihm zugehörigen Monaden begründet ist. Die Menge der Monaden, die dem perzipierten Körper zugesprochen werden und die von einer übergeordneten Monade (selbst ein Teil dieser Menge) gelenkt werden, wird Monadenaggregat genannt. Wenn wir also einen Körper perzipieren, dann bezieht sich diese Wahrnehmung nicht direkt auf ein Monadenaggregat, denn Monaden sind als unausgedehnte, seelenhafte Entitäten, die nur aus Perzeptionen und Appetitus bestehen, nicht wahrnehmbar, auch wenn wir gleichwohl ihren kausalen Effekt in den physischen Körpern wahrnehmen, etwa in Form von Masse und Materialität (siehe dazu Teil IV). Aber in unseren Perzeptionen zeigen sich uns die Strukturen, die zwischen den Monaden bestehen, als materielle Konsistenz, Form und Bewegung. Leibniz bezeichnet diese Strukturähnlichkeit als Ausdruck (expressio), d. h. wir drücken in unseren Perzeptionen die Strukturen der monadischen Welt aus: Die Ausdrucksweise muss Beschaffenheiten enthalten, die den Beschaffenheiten des auszudrückenden Dinges entsprechen. Diese Ausdrucksweisen aber sind unterschiedlich; so drückt z. B. das Modell einer Maschine die Maschine selbst aus, eine perspektivische Umrisszeichnung drückt einen Körper aus, eine Rede drückt Gedanken und Wahrheiten aus, Zeichen drücken Zahlen aus, eine algebraische Gleichung drückt einen Kreis oder eine andere Figur aus: und weil diese Ausdrucksweisen etwas gemein haben mit der Beschaffenheit des ausgedrückten Dinges, können wir zum Wissen um die Eigenschaften des ausgedrückten Dinges gelangen. Woraus folgt, dass das, was etwas ausdrückt, nicht notwendig von gleicher Art wie das Ausgedrückte sein muss, sofern nur eine gewisse Ähnlichkeit zwischen beiden gegeben ist.149 148 So heißt es in einem Brief an den Herzog Johann Friedrich, 21. Mai 1671, dass der Kern der Substanz, aus einem physischen Punkt bestehend (welcher das nächstliegende Instrument und gewissermaßen das Vehikel der Seele ist, welche in einem mathematischen Punkt verortet ist), für immer besteht: „Wann nun dieser Kern der substantz in puncto physico consistens (proximum instrumentum et velut vehiculum Animae in puncto mathematico constitutae) allezeit bleibt […]“, A II, 1 (2. Auflage), 176. 149 „Exprimere aliquam rem dicitur illud in quo habentur habitudines, quae habitudinibus rei ex-

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Wenn unsere Wahrnehmungen also die Körper ausdrücken, dann kann es durchaus sein, dass die Körper, wie sie tatsächlich sind, nämlich Monadenaggregate, nur strukturelle Ähnlichkeiten zu den Körpern, wie wir sie perzipieren, aufweisen. Die sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten kommen weder den Monaden noch dem Monadenaggregat zu, sondern konstituieren sich kausal aus körperlichen Interaktionen auf phänomenaler Ebene und sind so in den Wissenschaften erklärbar. Strukturell spielen dabei die Dependenzrelationen und determinierenden Hierarchien der Monaden eine Rolle. Wenn sich etwa bei Körpern die Bewegung im Stoß überträgt, dann bestimmen die relevanten körperlichen Teile die physische Bewegung in exakt derselben Weise, in der auch die Monaden in der Form als ursächlich gelten können, als sie den anderen Monaden gegenüber aktiv sind, die diese Perzeptionen der Bewegung hervorbringen. So gewinnen wir einen Eindruck davon, warum die gängige Debatte um Leibniz als Realisten oder Idealisten verhältnismäßig fruchtlos ist150. Wir sollten vielmehr zwei Begriffe des Körpers unterscheiden sowie mehrere Materiebegriffe (siehe Teil IV, Kapitel 3): Der von der Monade perzipierte Körper, den sie sich selbst als den je ihrigen zuschreibt, ist von dem Monadenaggregat zu unterscheiden, von dem wir noch sehen werden, dass es den Grund und Ursprung für die Wirklichkeit jenseits der phänomenalen Erscheinung des Körpers ausmacht. Wenn der Realismus als das Postulat verstanden wird, dass eine Existenz von körperlich-materiellen Dingen außerhalb unserer Perzeptionen anzunehmen ist, dann ist dieser ganz klar zu verneinen, denn ohne die Seele gäbe es keine Kraft, damit keine Materialität und somit keine physischen Dinge. Gleichwohl spielen realistische Grundannahmen eine wichtige Rolle in der Wissenschaft und in unserem Alltagsleben, wo bestimmte metaphysische Betrachtungen nicht hilfreich sind. Pauline Phemister entwirft ein Argument für eine realistische Lesart der Substanzontologie bei Leibniz, der zufolge ohne die körperliche Substanz ein monadischer Solipsismus folgen würde: The idealist story then runs as follows: since bodies require that a plurality of substances be aggregated together, a single substance in a solipsistic universe would not have a body.151

Die Monade hätte zwar in ihrer eigenen Perspektive einen Körper, aber diesem käme keine metaphysische Wirklichkeit zu, er wäre gleichwohl kein wohlfundiertes Phänomen, sondern seine Realität wäre der eines Traumes vergleichbar. Würde dem Körper kein Substanzenaggregat zukommen, würde es sich nicht um ein wohlprimendae respondent. Sed eae expressiones variae sunt; exempli causa modulus Machinae exprimit machinam ipsam, scenographica rei in plano delineatio exprimit solidum, oratio exprimit cogitationes et veritates; characteres exprimunt numeros, aequatio Algebraica exprimit circulum aliamve figuram: et, quod expressionibus istis commune est, ex sola contemplatione habitudinum exprimentis, possumus venire in cognitionem proprietatum respondentium rei exprimendae. Unde patet non esse necessarium ut id quod exprimit simile sit rei expressae, modo habitudinum quaedam analogia servetur.“ Quid sit Idea (1677 [?]), A VI, 4, 1370. Ebenso Brief an Arnauld, 9. Oktober 1687, A II, 2, 240. 150 Für eine Darstellung verschiedener interpretativer Ansätze, Leibniz als Realisten oder Idealisten auszuweisen, siehe Hartz, Glenn: Leibniz’ Final System, New York 2007, 13. 151 Phemister: Leibniz and the Natural World, a. a. O., 34.

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fundiertes Phänomen handeln, sondern um eine unbegründete Erscheinung wie der Traum, was gleichwohl für alle Repräsentationen von solipsistischen Monaden gelten würde. Mehrere Monaden konstituieren zwar auch keinen materiellen Körper jenseits der Phänomene, wie dies ein strenger Realist einfordern könnte, aber es entspricht dem perzipierten Körper ein Aggregat an Substanzen, so dass es sich nicht um eine bloß traumhafte, illusionäre Erscheinung handelt. Wie genau solch ein Monadenaggregat die Realität der Körper garantiert, das wird noch zu zeigen sein (siehe Teil V). Leibniz ist in metaphysischer Hinsicht und streng gesprochen ein Idealist; aus unserer individuellen, endlichen und lebenspraktischen Perspektive heraus sind wir auch zugleich alle und unweigerlich Realisten, denn die Erfahrung materieller Körper ist keine Illusion, sondern unser epistemischer Ausgangspunkt. Dem Realismus kommt eine gewisse Geltung und Berechtigung innerhalb der Systematik möglicher und aufeinander verweisender Wissensgehalte und Erklärungen zu, aber er ist kein apodiktischer Realismus. Die Differenz zwischen Sein und Erscheinung, die Leibniz auch oft innerhalb seiner einzelnen Texte und Argumentationen mit einem Perspektivenwechsel nur indirekt zur Geltung bringt, wird von ihm gerade mitreflektiert, wenn er die Begründung der Erscheinungen in ihrem Sein ausformuliert: Die Phänomene resultieren aus den Monaden, der Mechanismus hat seine Quelle in der Metaphysik, usw. Dabei soll nicht gesagt werden, der Realismus könnte auf den Idealismus reduziert werden, denn dann würde es zu den genannten Schwierigkeiten kommen, die Ausdehnung der Körper plausibel zu begründen zu müssen. Man mag nun argumentieren, dass ein solcher Ansatz direkt in eine skeptische oder solipsistische Position führt, in der die einzelne Seele radikal von einer für sie unerkennbaren Wirklichkeit abgeschnitten ist. Doch dies gesteht Leibniz sogar zu! Für die Monade selbst macht dies gleichwohl keinen Unterschied aus, denn sie kann von ihrer Position aus gar nicht unmittelbar entscheiden, ob außerhalb ihrer noch weitere Seelen existieren. Nur der Sprung in den Glauben, nach dem Gott die Welt als eine Vielheit von Geschöpfen geschaffen hat, bringt uns von solch einer solipsistischen Position ab152. Im Prinzip argumentiert Leibniz hier ähnlich wie Augustinus, da er für seine Metaphysik eigentlich gar keine Existenz wirklicher Körper benötigte, würde er nicht aufgrund seiner theologischen Prämissen eine Vielfalt von Existenzen annehmen. Eine umfassende Täuschung, bei der unsere Erfahrungen in der wirklichen Welt keine Entsprechungen haben, ist durchaus denkbar und würde uns dennoch nicht in die Irre führen153. Wissenschaft, Mathematik, praktische Lebensgestaltung wären genauso möglich wie in der jetzigen Situation; 152 Ein Solipsist oder ein radikaler Phänomenalist, der die Existenz der Körper bloß auf Phänomene reduziert, kann nicht a priori widerlegt werden: „Ac si quis Platonicus diceret vitam praesentem totam somnium esse bene cohaerens, animamque morte evigilaturam; is fortasse nonnisi a priori refutari potest ex cognita ratione universi quae nulla hujusmodi interludia patitur, omnia enim ad tempus locumque generalem revocantur, et ex caeteris secundum certas quasdam leges exurgunt.“ Definitiones Cogitationesque Metaphysicae (1678–81 [?]), A VI, 4, 1396. 153 Vgl. Brief an Des Bosses, 29. April 1715, GP II, 496.

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aber es sprechen gravierende theologisch-metaphysische Gründe gegen eine solche Annahme einer illusorischen Welt. Wir verfügen streng genommen nicht über wirkliches Wissen über die Außenwelt, aber die Kohärenz und Gesetzmäßigkeit der Phänomene reicht aus, dass unsere praktischen Bedürfnisse an die Verlässlichkeit der Sinneswahrnehmungen befriedigt werden: Wir können nichts anderes über die sinnlichen Dinge wissen, noch sollten wir mehr zu wissen erstreben, als dass sie miteinander übereinstimmen wie auch mit den unbezweifelbaren rationalen Prinzipien, und dass somit die Zukunft in gewissem Maße aus der Vergangenheit vorhergesehen werden kann. Jenseits dessen nach Wahrheit oder Realität zu suchen ist vergebens, und die Skeptiker sollten nicht mehr einfordern, noch die Dogmatiker mehr versprechen.154

Und: Es gibt daher kein Argument, durch das sich mit absoluter Sicherheit beweisen ließe, dass Körper existieren, und nichts hindert, dass bestimmte, wohlgeordnete Träume sich unserm Geist darbieten, die von uns für wahr gehalten werden und es vom Standpunkt der Praxis [!] wegen ihrer durchgängigen Übereinstimmung auch sind.155

Mit metaphysischer Strenge aber lässt sich die Wahrheit der Phänomene nicht belegen. Der im leibnizschen Sinne metaphysisch-apodiktisch orientierte Philosoph muss die Differenz zwischen Sinneswahrnehmungen und wirklicher Welt stets mitbedenken. Dieser Aspekt wird später von zentraler Bedeutung sein, weil so erst die Differenz zwischen phänomenalem Körper und Monadenaggregat zu voller Geltung gelangt. Angesichts solcher Thesen scheint es mir nicht möglich zu sein, eine realistische Lesart des Gesamtsystems von Leibniz’ Metaphysik und Naturphilosophie in Gänze zu rechtfertigen und so stellt sich die Notwendigkeit, Leibniz’ Rede von der Existenz körperlicher Substanzen vor diesem Hintergrund der bloß phänomenal gegebenen Körper zu verstehen. Damit werden wir zugleich ein besseres Verständnis davon erlangen, wie Leibniz Kausalprozesse konzipiert. Doch zuvor müssen weitere Grundlagen dargelegt werden, die für das Verständnis der Konstitution körperlicher Phänomene notwendig sind. 2.4. Die prästabilierte Harmonie der Substanzen Diese dargelegte Differenz zwischen Sein und Erscheinung, von phänomenaler Beschreibung und metaphysischer Wirklichkeit spielt auch in zahlreichen anderen Bereichen des Denkens eine zentrale Rolle. So betont Leibniz in der Theodizee:

154 „Nihil aliud de rebus sensibilibus aut scire possumus, aut desiderare debemus, quam ut tam inter se, quam cum indubitatis rationibus consentiant, atque adeo ut ex praeteritis praevideri aliquatenus futura possunt. Alia in illis veritas aut realitas frustra expetitur, quam quae hoc praestat, nee aliud vel postulare debent Sceptici, vel dogmatici polliceri.“ Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum (1692), GP IV, 356. 155 „Itaque nullo argumento absolute demonstrari potest, dari corpora, nec quicquam prohibet somnia quaedam bene ordinata Menti nostrae objecta esse, quae a nobis vera judicentur et ob consensum inter se quoad usum veris aequivaleant.“ De Modo Distinguendi, A VI, 4, 1502.

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Teil III: Einfache Substanzen Im gewöhnlichen Sinn jedoch und dem Anschein entsprechend zu reden, müssen wir sagen, dass die Seele in gewisser Weise vom Körper und den sinnlichen Eindrücken abhängig ist, etwa wie wir mit Ptolemäus und Tycho de Brahe im alltäglichen Sprachgebrauch reden und mit Copernicus denken, wenn es sich um den Aufgang oder Niedergang der Sonne handelt.156

Präzises Denken muss sich also von den Phänomenen und der Alltagssprache lösen. Entgegen dem Anschein unserer alltäglichen Erfahrungen ist die Seele metaphysisch gesprochen keinesfalls von äußeren Eindrücken abhängig. Es gilt, die phänomenale Deutung der Körper hinten anzustellen und sich der Metaphysik der Monaden zu widmen. Daran anschließend kann das Verhältnis phänomenal gegebener Körper zur perzipierenden Seele erarbeitet werden. Da die Monade aufgrund ihrer vollständigen Bestimmtheit nicht in direkter kausaler Wechselwirkung mit anderen Monaden steht, ist die einzige externe Einflussnahme ihre Schöpfung und Vernichtung durch Gott; auch die Abfolge der Perzeptionen kann nicht „von außen“ beeinflusst werden. Selbst Gott übt keinen beständigen Einfluss auf die Schöpfung aus. Der Okkasionalismus ist für Leibniz philosophisch unbefriedigend, weil er eine unvollkommene Schöpfung bedeutet und Gottes unwürdig wäre157. Dank des ihr zugeordneten vollständigen Begriffs umschließt die Substanz auf phänomenaler Ebene das Universum. Das bedeutet auch, dass sie in ihrem Handeln dem Begriff folgt, entsprechend der göttlichen Voraussicht, gleichzeitig aber auch aus sich selbst heraus: Jede einzelne Substanz ist so beschaffen, dass sie das gesamte Universum in ihrem vollständigen Begriff einschließt, und in einer gewissen Weise [!] kann von ihr gesagt werden, dass sie von selbst handelt, als ob es spontan geschehe.158

Wie wir gesehen haben, kommt den Körpern in erster Linie eine phänomenale Wirklichkeit zu, deren Ursprung die Seele ist. Doch auch hier droht wieder der Solipsismus: Wie kann die intersubstanzielle Kohärenz der Phänomene, die ja Maßstab und Kriterium für ihre Wahrheitsfähigkeit ist, gerechtfertigt oder bewiesen werden? Welcher Zusammenhang besteht zwischen diesem Phänomenalismus und der bereits 1676 aufgestellten Behauptung, der Geist selbst würde handeln, indem er seine Gedanken hervorbringt? Im Système Nouveau (1695) und den anschließenden Erläuterungen führt Leibniz ein Konzept ein, das die solipsistische Vereinsamung der Monaden ausschließt und das im Folgenden dargelegt werden soll. Die Grundannahme ist dabei diese: Die Identität der repräsentierten Welt ist in einer isomorphen Übereinstimmung der Perzeptionen aller Monaden begründet. Deren immanente Abfolge ist „parallelgeschaltet“ mit denen der anderen Monaden, analog zu zwei Pendeluhren, die unabhängig voneinander dieselbe Zeit anzeigen – nicht, weil sie 156 TD § 65, GP VI, 87. 157 Vgl. Réponse aux Objections, GP IV, 590. 158 „Unaquaeque singularis substantia ita comparata sit, ut in notione sua completa totum Universum involvat, et secundum certos considerandi modos omnia per se ac velut sponte facere dici possit.“ Dynamica, GM VI, 507. Vgl. ebenso: DM § IX, A VI, 4, 154: „Ainsi l’univers est en quelque fac ̧on multiplié autant de fois, qu’il y a de substances, et la gloire de Dieu est redoubleée de même par autant de representations toutes differentes de son ouvrage. On peut même dire [!] que toute substance porte en quelque façon le caractere de la sagesse infinie et de la toute puissance de Dieu, et l’imite autant qu’elle en est susceptible.“

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sich kausal beeinflussen, sondern weil sie von ihrem Uhrmacher (d. h. Gott) so eingestellt worden sind. Diese ‚Parallelschaltung‘ wird prästabilierte Harmonie (harmonie préétablie) genannt. Damit präsentiert Leibniz ein Kausalitätsmodell, das den Theorien des Influxus und des Okkasionalismus entgegengesetzt ist. Die Perzeptionen der Monaden entsprechen sich zwar gegenseitig je nach Perspektive, sind aber nicht identisch. Jedem von einer Monade perzipierten Körper entsprechen andere Perzeptionen in anderen Monaden, nur verschieden durch einen anderen Blickwinkel, d. h. durch eine individuell verschiedene Klarheit; jede Veränderung eines Körpers wird von allen Monaden mehr oder weniger klar erfasst. Der Unterschied zwischen den jeweiligen Standpunkten (points de vue) macht die Individualität aus, verändert aber nicht die Welt als identischen Bezugsrahmen der Einzelrepräsentationen der Substanzen. Die intermonadische Harmonie ist damit Bedingung für wahre, intersubjektiv zustimmungsfähige Repräsentationen und ist zugleich die Bedingung für die ihnen spezifische ‚Pseudo-Interaktion‘ (s. u.) und Aggregation. In einem Brief an Arnauld heißt es: Denn da alle geschaffenen Substanzen eine beständige Schöpfung desselben souveränen Wesens gemäß denselben Plänen sind und dasselbe Universum oder dieselben Phänomene ausdrücken, stimmen sie untereinander völlig überein, und dies lässt uns sagen [!], dass die eine auf die andere einwirkt, weil die eine die Ursache oder den Grund der Veränderungen deutlicher ausdrückt als die anderen, ungefähr wie wir die Bewegung eher dem Schiff als dem ganzen Meer zusprechen, und dies mit Grund, obgleich man, wenn man abstrakt spricht [!], eine andere Hypothese der Bewegung aufstellen könnte […].159

Hier wird dargelegt, dass die gemeinsame Erschaffung aller Substanzen die Identität der Welt in den Perzeptionen der verschiedenen Substanzen garantiert; dabei wird vorausgesetzt, dass die Substanzen nicht durch andere Ursachen neu entstehen können. Die Rede von einer Wechselwirkung der Substanzen ist abstrahierend-vereinfachend und kann erklären, dass eine Veränderung einer Substanz einhergeht mit einer Veränderung einer anderen, hat aber keine ontologische Entsprechung zu einer „wirklichen“ Beeinflussung. Dies soll im Folgenden ‚Pseudo-Interaktion‘ oder ‚Pseudo-Kausalität‘ genannt werden. Die prästabilierte Harmonie ist soweit keine Eigenschaft der Welt, sondern nichts anderes als die strukturell-perspektivische Identität (d. i. Isomorphie) der Welt in der Pluralität der Substanzen. Den Monaden bzw. einfachen Substanzen wird von Leibniz eine Entelechie zugesprochen, an manchen Stellen werden Monade und Entelechie sogar synonym verwendet. Der Terminus der Entelechie fungiert zudem immer wieder als Synonym für die substanzielle Form160. Er bezeichnet die Struktur einer Substanz und bildet mit einem Körper ein Lebewesen, eine Einheit (unitas, aber kein unum nach 159 „Car comme toutes les substances crées sont une production continuelle du même souverain estre selon les mêmes desseins, et experiment le même univers ou les mêmes phenomenes, elles s’entraccordent exactement, et cela nous fait dire que l’une agit sur l’autre, parce que l’une exprime plus distinctement que l’autre la cause ou raison des changemens, à peu pres comme nous attribuons le mouvement plustot au vaisseau qu’à toute le mer, et cela avec raison, bien que parlant abstraitement, on pourroit soutenir une autre hypothese du mouvement […].“ Brief an Arnauld vom 14. Juli 1686, A II, 2, 81. 160 Brief an Johann Bernoulli, 18. November 1698, GM III, 552.

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Art der Monade) nach der Art einer Maschine, die Leibniz in den späteren Jahren genauer als Organismus beschreiben wird. Die Maschinenanalogie dient zur Verdeutlichung der Zweckmäßigkeit der Lebewesen und deren Teile, die alle funktional ineinandergreifen. Die Lebewesen sind unendlich funktional strukturiert, d. h. in ihnen gibt es keine Teile, die nicht auf den Gesamtorganismus bezogen sind (siehe Teil VI). Dabei sollte nicht vergessen werden, dass der Terminus „Maschine“ im 17. Jahrhundert vor allem das bezeichnet, was kraft der Prinzipien der Mechanik agiert; anders als in der heutigen Verwendung schließt der Begriff zu Leibniz’ Zeit die Möglichkeit von Leben und Fühlen nicht aus. Jeder als in der Materie befindlich gedachte Punkt (Körper-Punkt) ist einem point de vue zugeordnet, also einer perzipierenden Monade, ohne dass die Monade deswegen selbst in der Materie zu finden ist: Wie wir bereits gesehen haben, besteht die Materie nicht aus einer Aggregation von Monaden und das Verhältnis der Monade zu den ihr zugehörigen Körpern ist in erster Linie analog zu dem Verhältnis von Punkt und Linie zu denken. Da im Kontinuum jeder Materiepartikel mit allen anderen in Verbindung steht, drückt er auch alle anderen materiellen Körper aus, zumal es ohnehin keine prinzipiellen Einheiten und damit auch keine prinzipiellen Grenzen im Kontinuum gibt. Durch diese Zuordnung kann jeder noch so kleine Körperteil das gesamte Universum repräsentieren161; jede Monade ist der Spiegel der Welt. Kraft der Ähnlichkeit zwischen dem Menschen und den Tieren wird von der eigenen Selbsterfahrung als ein beseeltes Wesen darauf geschlossen, dass andere Substanzen ebenfalls ähnlich über eine Seele verfügen. Zwar zweifelt Leibniz immer wieder an, ob Pflanzen und Tiere eine Seele besitzen, die über höhere Formen von Perzeptionen verfügt wie bspw. über Gedächtnis und Empfindungen, nicht aber, ob ihnen eine zentrale Monade oder Entelechie innewohnt, deren Wesen darin besteht, einfachste Perzeptionen zu besitzen und sich aktiv danach auszurichten. Damit sichert Leibniz, wie noch näher auszuarbeiten sein wird, die Materialität der Körper ebenso wie das Streben der Welt nach Perfektion. Man kann also sagen, dass Leibniz’ Konzept der Harmonie durch die Einheit in der Vielheit definiert ist162. Die Vielheit der Monaden perzipiert dieselbe Welt und die Definition der Perzeption besagt, dass diese die Einheit einer Vielheit ist. Dieses reziproke Verhältnis entspricht der Doppelrelation zwischen Monade und Welt: Die Welt ist für die Monade und die Monade für die Welt. Die von Gott bewirkte prästabilierte Harmonie sorgt dafür, dass jede Veränderung sich auch in allen anderen Monaden widerspiegelt. Zwar wirken die Monaden nicht direkt aufeinander ein, aber wenn eine Veränderung in einer Monade auftritt, so bringen die anderen Monaden entsprechende Veränderungen hervor. Die Veränderungen verlaufen perspektivisch analog, auch wenn keine direkte Beziehung zwischen ihnen besteht, so wie es bei zwei gleichgeschalteten Uhren der Fall ist. Betrachten wir dazu ein konkretes Beispiel. Wenn Peter etwa von sich aus einen Schritt auf Paul zumacht, dann bringt Paul von sich aus die Perzeptionen her161 „Parce que chaque portion de la matiere n’est pas seulement divisible à l’infini […], mais encor sous-divisée actuellement sans fin […], chaque portion de la matiere pût exprimer tout l’univers.“ Mo § 65, GP VI, 618. 162 Siehe bspw. Belaval: Leibniz, Critique de Descartes, a. a. O., 396.

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vor, in denen ihm Peter einen Schritt näher gekommen ist. Im strengen Sinne sind die Monaden nur gegenüber Gott passiv, denn sie sind von vornherein vollständig bestimmt, ergo kausal gegenüber anderen Monaden geschlossen. Es kommt also strenggenommen nie zu einer Übertragung irgendwelcher Kräfte oder Entitäten. Dennoch hat jede Handlung bzw. Wechselwirkung zwischen Monaden einen aktiven und einen passiven Charakter: Die Monade ist aktiv, sofern der Grund für die Veränderung mehr in einer Monade verortet ist als in einer anderen; sie ist passiv, sofern eine Veränderung hervorgebracht wird, deren Grund nicht unmittelbar in ihr ist163. Dies entspricht der oben dargelegten Zuschreibung einer Ursache zu demjenigen requisitum, dessen Perfektion am weitesten fortschreitet. Die Einwirkung einer endlichen Substanz auf eine andere besteht lediglich in der Erweiterung ihres Ausdrucksgrades, verbunden mit der Verminderung des Ausdrucksgrades der anderen, insofern Gott sie im voraus so geschaffen hat, dass sie untereinander zusammenpassen.164

Die Wirkung einer Substanz auf eine andere besteht also nur in einer Steigerung des Ausdrucksgrades bei der einen und, parallel dazu, der Verminderung bei einer anderen. Beides wird je in einem Akt immanenter Kausalität von der Substanz selbst hervorgebracht und ersetzt, in metaphysisch strenger Beschreibung, jede transitive Kausalität. Da Leibniz mechanische Kausalität vom Stoß fester Körper her denkt, nehmen wir nun an, Peter verpasst Paul einen Schlag. Als Handelndem kommt Peter aufgrund seiner Aktivität ein relativer Perfektionszuwachs zu (die moralische Qualität seiner Handlung sei hier außen vor gelassen), während der in dieser Situation passive Paul an Perfektion verliert. Der Geist von Peter perzipiert aus seiner Perspektive den Schlag und schreibt sich die Bewegung des Schlagarmes ursächlich zu, während Paul sich nur seinen geschlagenen Körper zuschreibt und die Bewegungen, die aufgrund des Schlages in ihm vorgehen. Wie wir noch sehen werden, entspricht diesem phänomenal gegebenen Vorgang ein Kräfteprozess, der in dem Hervorbringen der Perzeptionen begründet ist. Die logische Grundlage dieses Prozesses erschließt sich anhand der Theorie der vollständigen Begriffe: Die Prädikate eines jeden Subjektes sind mit denen der anderen Subjekte im Einklang, weil sie je dieselbe Welt widerspiegeln, und so spiegelt sich jede Veränderung in jeder Monade wider – unabhängig davon, ob das entsprechende Individuum diese Veränderung bewusst bemerkt. So gibt es keine strenge dichotomische Entgegensetzung von aktiver und passiver Monade: Alle Monaden sind in unterschiedlichem Grade aktiv, entsprechend ihrer Perfektion in der natürlichen Ordnung. Vermindert die eine ihre Aktivität, während die andere sie um dasselbe Maß erhöht165, so kann man von einer Einwirkung sprechen und davon, dass das Subjekt dieser Einwirkung als passiv zu bezeichnen ist. Wir haben 163 Vgl. Mo § 52, GP VI, 615. 164 „L’action d’une substance finie sur l’autre ne consiste que dans l’accroissement du degré de son expression jointe à la diminution de celle de l’autre, en tant que Dieu les a formé par avance en sorte qu’elles s’accomodent ensemble.“ Beilage eines Briefes an den Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels, 1./11. Februar 1686, A II, 2, 6. Passend dazu auch DM § 14, A VI, 4, 1549 f. und Mo §§ 12–15, GP VI, 607 f. 165 Die Äquivalenz beider Veränderungen beruht auf der Gleichheit (Äquipollenz) von Wirkung

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bereits gesehen, dass das als Ursache einer Veränderung gelten kann, das gegenüber allen anderen beteiligten Bedingungen an Realitätsgehalt bzw. -grad gewinnt. Der Einfluss der Monaden aufeinander ist „idealer Natur“166, es ist kein realer, kein physikalisch wirkender Influxus167. Aber man kann dieses Verhältnis in gegenseitiger Abstimmung in gewissem Maße als okkasionalistisch bezeichnen: Das System der okkasionalistischen Ursachen sollte zum Teil zugestanden, zum Teil abgelehnt werden. Jede einzelne Substanz ist die wahre und reale Ursache ihrer immanenten Handlungen und verfügt über eine Kraft zu handeln (vis agendi) und auch wenn zugestanden wird, dass diese durch das göttliche Zusammenspiel (divino concursu) erhalten wird, so ist es dennoch nicht der Fall, dass sie rein passiv ist; dies trifft auf die körperlichen und unkörperlichen Substanzen zu. Aber auf der anderen Seite ist jede einzelne Substanz (außer Gott selbst) nur die okkasionale Ursache ihrer transienten Handlungen auf andere Substanzen. Dies ist wahrlich der Grund für die Einheit zwischen Körper und Seele und es gibt keine andere Ursache, warum ein Körper sich an den Zustand eines anderen anpasst, als dass die verschiedenen Substanzen dieses Weltsystems von Beginn an so geschaffen sind, dass sie aus dem eigenen natürlichen Gesetz unter sich übereinstimmen.168

Hier wird ganz klar die prästabilierte Harmonie als doppelter Grund für die Übereinstimmung zwischen Seele und Körper wie auch für die Wechselwirkung zwischen den Körpern angegeben. Anders als im Rahmen einer okkasionalistischen Theorie sind die Geschöpfe aufgrund ihrer Abhängigkeit von der göttlichen Emanation und durch die Konzeption des Weltgeschehens auf begrifflicher Ebene bereits vor ihrer Existenz aufeinander ‚eingestellt‘. Der Einfluss der Monaden aufeinander kann nur aufgrund des Wirkens Gottes wirklich sein, der auch der Grund und Garant ist für die prästabilierte Harmonie zwischen den Monaden: Die materiellen Dinge und ihre Bewegungen sind nichts als Phänomene. Ihre Realität ist nichts als die Übereinstimmung der Erscheinungen der Monaden. Wenn die Träume einer einzelnen Person genau so wären und wenn die Träume aller anderen Seelen dem übereinstimmten, man würde nichts weiter benötigen, um daraus Körper und Materie zu machen.169

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und Ursache bzw. der Erhaltung der actio motrice bzw. der absoluten Kraft. Vgl. dazu besonders den Essay de Dynamique sur les Loix du Mouvement (1692), GM VI, 215–234. Mo § 51, GP VI, 615. Dementsprechend sind die Substanzen als Atome der Materie auch nicht elastisch, wie Max Jammer behauptet (Jammer, Max: Concepts of Force, Cambridge 1957, 167); jedenfalls nicht, wenn Elastizität im herkömmlichen Sinne als Eigenschaft räumlich-materieller Objekte verstanden wird. Den Monaden kommt keine räumliche Ausdehnung zu und sie sind immateriell. Materie ist als Aggregat elastisch, auch wenn sie in ungenauer Betrachtung auch unelastisch erscheinen kann: Elastisch sind ihre immer kleiner zu denkenden Korpuskel, bis hin zu der Anordnung der Körper-Punkte, die jedoch eine bloße Fiktion bleiben. „Systema causarum occasionalium partim admitti, partim rejici debet. Unaquaeque substantia est causa vera et realis suarum actionum immanentium, et vim habet agendi, ac licet divino concursu sustentetur, fieri tamen non potest, ut tantum passive se habeat, idque verum est tam in substantiis corporalibus quam incorporalibus. Sed rursus unaquaeque substantia (Deo solo excepto) non est nisi causa occasionalis suarum Actionum transeuntium in aliam substantiam. Vera igitur Ratio unionis inter anima et corpus, et causa cur unum corpus sese accommodet ad statum alterius corporis non alia est, quam quod diversae substantiae ejusdem systematis mundani ab initio ita creatae sunt, ut ex propriae naturae Legibus conspirent inter se.“ De Systemate Causarum Occasionalium (1689–90 [?]), A VI, 4, 1640 f. „Les choses matérielles et leur mouvements ne sont que des phénomènes. Leur réalité n’est que

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Selbst wenn es keine körperlichen Substanzen gäbe, so würde die prästabilierte Harmonie die Realität der Körper garantieren. Gegeben ist nun erstens die ‚Parallelschaltung’ aller Monaden, zweitens die intermonadisch isomorphe Strukturidentität der Welt in den Perzeptionen, drittens die eindeutige Zuordnung jedes Körperpunktes im Raum zu einem Standpunkt einer Monade, und viertens die eindeutige, wenn auch aufgrund der Komplexität nicht für endliche Geister einsichtige Verknüpfung der zukünftigen Perzeptionen mit den gegenwärtigen und vergangenen. Aufgrund dessen könnte ein mit dem vollständigen Wissen um die Zustände einer Monade versehener perfekter Geist auf alle Zustände aller anderen Monaden zu jedem Zeitpunkt schließen170. Wir wissen bereits, dass jede Monade bereits in ihrer Struktur die aller anderen antizipiert und auf diese verweist. Insgesamt kann man sagen, im Rahmen der prästabilierten Harmonie zwischen den Substanzen ‚verweist’ jede Substanz auf andere in drei Aspekten, d. i. in formaler, phänomenaler und dynamischer Hinsicht: 1. Jeder vollständige Begriff ist Teil einer formalen Totalität: Er steht in Übereinstimmung mit allen anderen Begriffen und jeder individuelle Begriff ist nichts anderes als eine bestimmte Kombination der absolut einfachen Begriffe. Die Individualität der Substanz ist also nur gegenüber allen anderen Substanzen denkbar, was Leibniz mit dem Begriff der „Kompossibilität“ bezeichnet. Da jeder individuelle Begriff das gesamte Universum ausdrückt, so könnte ein allwissender Geist prinzipiell aus ihm die anderen Perspektiven und anderen individuellen Begriffe herleiten. 2. Die Intensität der Repräsentation nimmt zu oder ab in Entsprechung zu der Zu- oder Abnahme des Perfektionsgrades der Monaden. Dies verbindet die Perspektivität der Substanzen mit ihrer relativen Pseudo-Kausalität: Eine Substanz wird dann als ursächlich wirkend gegenüber einer anderen gedacht, wenn die eine in ihrer Aktivität relativ gegenüber einer anderen zunimmt – freilich nur in Bezug auf denselben Gegenstand oder dasselbe Ereignis. 3. Wir erfahren diese Pseudo-Interaktion als physikalische Aktivität und Passivität, konkret: als Bewegung, Beschleunigung, Trägheit und Undurchdringlichkeit. Diesen Phänomenen liegen Kräfte zugrunde, die wiederum eine Vielzahl von Substanzen voraussetzen – oder konkreter: Diese Kräftekonzeption erlaubt uns ein Kausalitätsverständnis, mithilfe dessen wir den phänomenal gegebenen Körpern eine Einheit zuschreiben. Aufgrund dieser Einheit wiederum können wir die Substanzen in die Körper ‚hineindenken‘, insoweit wir sie als eben dort wirksam verstehen, auch wenn sie nicht in räumlichem Sinne in den Körpern gegeben sind.

dans le consentement des apparences des Monades. Si les songes d’une même persone étaient exactement suivis et si les songes de toutes les Âmes s’accordaient, on n’aurait point besoin d’autre chose pour en faire corps et matière“ Aus einem nicht abgeschickten Brief an Bourguet, 22. März 1714, GP III, 567. 170 Vgl. Mates: The Philosophy of Leibniz, a. a. O., 38.

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Die Substanzen verweisen aufeinander, sind aber nicht von im engeren Sinne voneinander abhängig – für Leibniz ist der Solipsismus nur durch die Theologie, d. h. durch Verweis auf letztlich nur theologisch zu rechtfertigende Prinzipien widerlegbar. Die Substanzen stehen also nicht in einem echten Interdependenzverhältnis zueinander, sondern nur in einem Verhältnis, das hier als ‚Pseudo-Interdependenz‘ bezeichnet werden soll. Sie drückt sich in Textpassagen wie etwa der folgenden aus: Man kann jedoch dieser wechselseitigen Abhängigkeit, die wir uns zwischen Körper und Seele vorstellen, auch einen wirklichen und philosophischen Sinn beilegen. Danach hängt dann die eine dieser Substanzen ideal von der anderen ab, insofern der Grund für das, was in der einen geschieht, durch das ausgedrückt werden kann, was in der anderen ist, was schon damals bei den Beschlüssen Gottes stattfand, als Gott im voraus die Harmonie regelte, die zwischen ihnen bestehen sollte; wie ja auch jener Automat, der die Tätigkeit des Dieners verrichten sollte, ideal von mir abhängig sein würde vermöge des Willens dessen, der, da er meine zukünftigen Befehle voraussah, ihn in den Stand gesetzt haben würde, mich am nächsten Tag rechtzeitig zu bedienen. Die Kenntnis meines zukünftigen Willens würde jenen großen Künstler angetrieben haben, der dann den Automaten verfertigt hätte: mein Einfluss würde objektiv, der seine physisch sein.171

Im Rahmen unserer Erklärungen erstellen wir einen Zusammenhang zwischen Intention und Handlung, der nur „ideal“ ist, bzw. ein vermittelter: Auch wenn einzelne Handlungen von den Substanzen hervorgebracht werden und einzelne Intentionen von der jeweiligen Seele, so sind doch sowohl die Struktur der physischen Aktivität als auch die Struktur der Intentionen letztendlich in Gott begründet. Die prästabilierte Harmonie zwischen Seele und Körper, d. h. zwischen Intentionen und Aktionen erlaubt es uns, in alltäglicher, metaphysisch unpräziser Redeweise einen Kausalzusammenhang zwischen beiden zu postulieren. Diese Pseudo-Interdependenz hat eine wichtige Funktion für die Systemarchitektur des Leibnizschen Gedankenguts, denn sie verbürgt die Identität eines Gegenstandes oder Körpers über die verschiedenen Perspektiven hinweg. Die Harmonie der Substanzen bewirkt eine Einheit in der Vielheit der Perzeptionen:172 Peter und Paul bringen zwar ihre ganz eigenen Perzeptionen hervor, aber wir können dennoch sinnvollerweise davon reden, dass in diesen Perzeptionen derselbe Körper gegeben ist. Dies gilt auch dann, wenn es sich bei dem Körper nicht um ein Lebewesen oder einen Organismus handelt, dem eine echte Einheit und damit Realität zugesprochen werden muss, sondern um ein Aggregat: Auch in Aggregaten wird der durch die prästabilierte Harmonie hergestellte Repräsentations- und Kausalitätszusammen171 „On peut pourtant donner un sens véritable et philosophique à cette dépendance mutuelle, que nous concevons entre l’âme et le corps. C’est que l’une de ces substances dépend de l’autre idealement, en tant que la raison de ce qui se fait dans l’une, peut être rendue par ce qui est dans l’autre; ce qui a déjà eu lieu dans les decrets de Dieu, dès-lors que Dieu a reglé par avance l’harmonie qu’il y aurait entre elles. Comme cet Automate qui ferait les fonctions de valet dependroit de moy idealement, en vertu de la science de celui qui, prévoyant mes ordres futurs, l’aurait rendu capable de me servir à point nommé pour tout le lendemain. La connaissance de mes volontés futures aurait mu ce grand artisan, qui aurait formé ensuite l’automate: mon influence serait objective et la sienne physique.“ TD § 66, GP VI, 138. 172 Dies scheint mir eine der impliziten Bedeutungen des bekannten Ausdrucks „Harmonia est unitas in varietate“, bspw. A VI, 4, 1358, zu sein.

Die Grenzen der Monadenlehre

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hang bewahrt. Diese Konzeption spielt in der Debatte um die Transsubstantiation eine große Rolle, auf die hier gleichwohl nicht näher eingegangen werden kann. Zusammengefasst kann man sagen: Da sich die verschiedenen Expressionen isomorph entsprechen und wenigstens prinzipiell auseinander ableitbar sind, handelt es sich auch über alle Perspektiven hinweg um denselben Gegenstand. Die Variationen zwischen den verschiedenen Expressionen der Monaden sind schließlich keine Variationen des Inhalts, sondern der graduellen Perfektion und damit repräsentieren sie nur unterschiedliche Grade kausaler Einflussnahme. Die prästabilierte Harmonie bedingt die perspektivisch-relative Realität und Identität der Welt. 3. DIE GRENZEN DER MONADENLEHRE Die Theorie der einfachen Substanzen und der bloß phänomenal gegebenen Körper hat aber nicht die von Leibniz gewünschte umfassende Erklärungskapazität. Sie kann weder die Genese der phänomenal gegebenen Materialität der Körper erklären, noch das Begründungsverhältnis der Metaphysik zur Physik, weil es keine Begriffe gibt, die zwischen Monade und Erscheinung vermitteln. Zu diesem Zweck führt Leibniz die Begriffe der Kraft und der körperlichen Substanz ein, die ihm die Möglichkeit geben, die haptisch gegebene Materialität und Widerständigkeit der Körper zu denken. Diese sieht er mit Undurchdringlichkeit (antitypia, ein Körper-Punkt173 kann nicht zugleich von zwei Körpern eingenommen werden) und Masseträgheit (inertia, Widerstand gegen Beschleunigung entsprechend der eigenen Masse) gegeben. Beide Konzepte sind auch für die Begründung der Mechanik notwendig. Eine vollständige Erklärung der Körper kann diese aber gerade nicht als eine Sammlung undurchdringlicher Materie-Punkten begreifen. Die Körper sind doch in unserer Erfahrung offenkundig entsprechend den ihnen zukommenden Einheiten (unitates) ungleichmäßig im Raum verteilt und es ist nicht an allen Raum-Punkten der gleiche Widerstand gegen Beschleunigung anzutreffen. Folglich müssen unterschiedlich verteilte Körper-Einheiten im Raume gedacht werden, die diese Widerständigkeit begründen und bestimmen. Auch die Begriffe der Masseträgheit und der Undurchdringlichkeit reichen nicht aus, um die konkreten Bewegungsabläufe in der Übereinstimmung zwischen Metaphysik und Erfahrung zu begründen. Wenn es nur Monaden gäbe und den Körpern keine substanzielle Einheit zukäme, dann wäre die Ausdehnung nicht real, sondern bloß phänomenal, wie auch die gesamte physische Wirklichkeit eine bloße Ansammlung von Phänomenen wäre, ohne dass ihr eine Wirklichkeit entspräche174. Wenn man annimmt, dass die physische Welt 173 Leibniz spricht zwar von der Monade als Punkt, aber er lehnt es ab, die Seele als einen Punkt zu bezeichnen: vgl. Brief an Masson, 1702, GP VI, 625. Aber hier, wie auch von Leibniz an zahlreichen Stellen, wurde auch immer nur betont, dass Punkte die Voraussetzungen des Ausgedehnten sind und diesem in der Abstraktion zugeordnet werden. Schließlich spricht Leibniz auch von der Substanz als „point reel et animé“ (SN § 3, GP IV, 478) und dort führt er die mathematischen, physischen und metaphysischen Punkte auf: den point de vue, der physische Punkt, dem eine als metaphysischer Punkt (=Atom) verstandene Substanz zugeschrieben wird. 174 Siehe Brief an Des Bosses, 26. Mai 1712, GP II, 444.

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eben gerade aus wohlfundierten Phänomenen besteht und nicht ein umfassender, solipsistischer Traum ist, dann muss die Theorie der einfachen Substanzen erweitert werden durch andere Begriffe, welche es erlauben, 1. eine von den Perzeptionen unabhängige Teleologie der Lebewesen zu begründen – dies wird durch den Begriff der Entelechie im Zusammenhang mit einer Dominanz über einen Körper geschehen; 2. auf der Ebene der Körper den Übergang von bloßer Potenzialität in die Wirklichkeit zu vermitteln, also einen substanzbezogenen Kraftbegriff zu entwickeln, der die physische Bewegung begründen kann; 3. die Materialität der Körper durch die Begriffe der Undurchdringlichkeit und Trägheit in Bezug auf die ungleichmäßige Verteilung von Körper-Einheiten im Raum zu denken; 4. die wirkliche Einheit eines Lebewesens so zu konzipieren, dass ihm die Heterogeneität von Körper und Seele nicht abgesprochen wird – das Lebewesen muss zugleich als Einheit und als zusammengesetzte Substanz gelten; 5. zudem bedarf es einer ontologischen Fundierung der Zusammenhänge zwischen Körper und Seele. Diese Fundierung soll die Identität des Lebewesens über die Zeit garantieren, da ohne eine solche Fundierung die Körper „nichts wären als bloß wahre Phänomene, wie der Regenbogen“175, was durch die Begriffe der körperlichen Substanz und des vinculum substantiale geschieht. All dies wird in der Ontologie der körperlichen Substanz erreicht, die nun vorgestellt werden soll. Die körperliche Substanz und ihre Bedeutung für Leibniz’ Philosophie ist erst in den letzten Jahren verstärkt in die Aufmerksamkeit der Interpreten gerückt. Daniel Garber hat in seinem bedeutendem Aufsatz „Leibniz and the Foundation of Physics: The Middle Years“176 die Fragen aufgeworfen, ob die in der Monadologie so prominent ausgearbeitete Theorie der einfachen, also seelenähnlichen Substanzen auch in der Philosophie der sogenannten „mittleren Jahre“ zwischen 1686 und 1704 zu finden sei; wie sich die körperliche Substanz zu der einfachen Substanz verhält; und ob Leibniz diesbezüglich seine Meinung geändert hat oder ob seine Philosophie heterogen, ja gar inkohärent sein könnte177. Wichtige Interpretationen der körperlichen Substanz wurden in den letzten Jahren u. a. von Daniel Garber, Glenn A. Hartz, Justin E. Smith und Pauline Phemister vorgelegt178. Alle drei sehen darin einen Begriff, der den Körpern selbst eine substanzielle, also unreduzierbare Wirklichkeit zuspricht. Catherine Wilson geht hier von einer unge175 „Que les corps ne seront que des phenomenes veritables, comme l’arc en ciel.“ Brief an Arnauld, 28. November / 8. Dezember 1686, GP II, 77. 176 Garber, Daniel: „Leibniz and the Foundation of Physics: The Middle Years“, in: Okruhlik, Kathleen / Brown, James B.: The natural philosophy of Leibniz, Dordrecht 1985, 27–130. 177 Ebd. Siehe auch: Garber, Daniel: „Leibniz and Idealism“, in: Poser, Hans et al. (Hrgs.): Nihil sine ratione. VII. Internationaler Leibniz- Kongress, Ergänzungsband, Berlin 2001, 19–28. 178 Vgl. Fn. 56: Leibniz: Body, Substance, Monad a. a. O.; Hartz: Leibniz’ Final System, a. a. O.; Smith, Justin E. H.: Divine Machines: Leibniz and the Sciences of Life, Princeton 2011; Phemister: Leibniz and the Natural World, a. a. O.

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lösten Spannung in Leibniz’ Philosophie aus, weil Leibniz’ Theorie der Lebewesen als individuelle Substanzen nicht mit der Theorie der seelenähnlichen Monaden vereinbar sei179. Dagegen wenden sich Interpreten wie Donald Rutherford oder Diogenes A. Anapolitanos, die eine körperliche Interpretation der Monade strikt ablehnen180 oder Robert M. Adams, der eine dezidiert idealistische Interpretation der Monadenlehre vorschlägt181. Phemister wirft den Vertretern einer idealistischen Lesart vor182, die Theorie der Lebewesen bloß metaphorisch zu verstehen. Hartz wiederum hält ihnen eine selektive Lesart vor und sieht selbst bei Leibniz einen Theorien-Pluralismus gegeben, der gleichermaßen idealistische wie realistische Positionen miteinander konfrontiert183. Gegenüber dieser interpretativen Vielfalt wird es der hier vorgeschlagene Weg erlauben, das Konzept der körperlichen Substanz wörtlich zu nehmen, sie aber im Kontext des umfassenden Systems als ein Theorieelement zu verstehen, das aus der Theorie der durch Perzeption und Appetitus konstituierten, einfachen Substanzen folgt. Ein Aspekt dieses Problemkomplexes besteht darin, dass Leibniz einerseits betont, die Materie würde aus nichts als Lebewesen bestehen und seit den 1680er Jahren die Materie als ein Aggregat konzipiert, das einem Teich voller Fische oder einer Schafsherde ähnelt, also einer bloß scheinbaren, mentalen Einheit184; er betont, etwa in einem Brief an Arnauld, dass die Materie endlos weit teilbar sei, ohne dass ein wirkliches Sein, ein unum, gefunden würde, woraufhin er aber einräumt: „es sei denn man findet belebte Maschinen, deren Seele oder substanzielle Form die substanzielle Einheit unabhängig von der äußeren Verbindung durch die Annäherung [ihrer Teile] hervorbringt.“185 Doch wie kann die Einheit eines individuellen Lebewesens in der unendlichen Teilbarkeit des materiellen Kontinuums aufgefunden werden? Diese Frage wird im Verlaufe der folgenden Untersuchung beantwortet. Ein wichtiger Ausgangspunkt ist wiederum Leibniz’ Kritik an Descartes Körperbegriff186, besonders an dessen Behauptung, die Körper würden rein durch Ausdehnung konstituiert. Descartes hatte die Ausdehnung als das hinreichende und notwendige Prinzip der Körper verstanden, doch Leibniz bestreitet, dass der Begriff der Ausdehnung voraussetzungslos sei: Er beruht selbst auf dem Prinzip der 179 Wilson, Catherine: Leibniz’s Metaphysics: a historical and comparative study, Manchester 1989. 180 Rutherford, Donald: Leibniz and the Rational Order of Nature, Cambridge 1995; Anapolitanos, Diogenes Allen: Leibniz: Representation, Continuity and the Spatio-Temporal, Dordrecht 1999. 181 Adams: Leibniz, a. a. O. 182 Phemister: Leibniz and the Natural World, a. a. O., 89 ff. 183 Hartz, Glenn: Leibniz’ Final System, a. a. O. 184 Bspw. Communicata cum Fardella (1690), A VI, 4, 1671. 185 „Lors qu’on trouve des machines animées dont l’ame ou forme substantielle fait l’unité substantielle independante de l’union exterieure de l’attouchement.“ Brief an Arnauld vom 8. November / 8. Dezember 1686, A II, 2, 122. 186 Eine bedeutende Wiedergabe und Interpretation der gesamten Bezugnahme Leibniz’ auf Descartes findet sich bei Belaval: Leibniz, Critique de Descartes, a. a. O. Die folgende Argumentation orientiert sich auch zum Teil an Hartz, Glenn: „Leibniz on why Descartes’ metaphysics of body is necessarily false“, in: Rescher, Nicholas (Hrsg.): Leibnizian Inquiries, Pittsburgh 1989, 23–36, hier: 26 f.

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Gleichzeitigkeit – damit ein Körper ausgedehnt ist, muss etwas an zwei verschiedenen Stellen im Raum zugleich existieren. Während oben die Notwendigkeit der Begründung der Vielheit – zumal jede Ausdehnung auch eine Vielheit von simultan Existierendem ist – durch die Einheit der Substanz diskutiert wurde, soll nun auf die Einheit als Begründung der Realität des Ausgedehnten rekurriert werden. Leibniz weist wiederholt darauf hin, dass Ausdehnung als das cartesianische Kriterium für Körper nicht den Unterschied zwischen realen und imaginären Phänomenen markieren und deshalb nicht zur Begründung materieller Körper dienen kann187. So lehnt Leibniz ebenso den cartesianischen Ansatz ab, dem zufolge Ausgedehntes und Denkendes als zwei Substanzen zu begreifen sind: „Das Denken und die Ausdehnung so zu begreifen, dass es sich hierbei um denkende oder ausgedehnte Substanzen handelt, das erscheint mir weder richtig noch möglich.“188 Er verortet die Einheit des Ausgedehnten in der perzipierenden Substanz. Damit wird erneut und auf eine andere Weise festgehalten, wie ein Ding seinen Grund außerhalb seiner selbst hat. Seit der Confessio philosophi (1668) steht für Leibniz fest: Die ratio einer Figur und Größe eines Körpers kann nicht in der Natur der Körper gefunden werden.189 Diese Idee wird in dem Text De transsubstantiatione (1668) zeitnah so erweitert, dass der Körper seine Substanzialität durch seine Seele erhält190. Die Bewegung verliert so die nach Leibniz von den Materialisten angenommene ontologische Ursprünglichkeit, sie ist kein ens reale mehr. Vielmehr muss die Seele bzw. das Bewegungsprinzip als ein solches wirkliches Ding und damit als der wahre Ursprung der Bewegung gelten. Ebenso wird der Umstand, dass man zur Erklärung der Bewegung von Körpern teleologische Momente heranziehen muss, gegen Descartes verwandt: Die Geometrie kennt keine Finalursachen191. Schlussendlich konzipiert Descartes die Stoßgesetze falsch, da ihm zufolge jeder noch so kleine Körper beim Stoß seine gesamte Bewegung auf einen viel größeren und schwereren übergeben würde, was unserer Erfahrung widerspricht192. Dabei kommt es zu folgendem Problem: Der Körperbegriff ist nicht auf Ausdehnung und Form zu reduzieren, sondern wird dadurch begriffen, dass Körper einem Gesetz unterliegen, das Aktion und Reaktion im Zusammenstoß mit anderen Körpern bestimmt. Dies aber bedeutet, dass allen materiell perzipierten Körpern Aktivität zukommt und dass sie demnach 187 Vgl. z. B. Brief an Arnauld vom 14. Juli 1686, A II, 2, 59. Dort wird auch die Notwendigkeit der Annahme von körperlichen Substanzen betont. 188 „Cogitationem et extensionem concipere ut ipsam substantiam cogitantem aut extensam, mihi nec rectum videtur nec possibile.“ Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum (1692), GP IV, 365. 189 Confessio Philosophi, A VI, 1, 490; ebenso ebd., 492. Es gibt keine Quelle der Bewegung in den Körpern: ebd., 494. 190 A VI, 1, 439 f. 191 „Geometria enim caret causa finali.“ Brief an Thomasius vom 19./29. Dezember 1670, A, II, I, 73; vgl. Duchesneau: La dynamique de Leibniz, a. a. O., 34. Was aber nicht bedeutet, dass die weltlichen, räumlich ausgedehnten Dinge nicht rein geometrisch zu begreifen seien – vielmehr sind die räumlichen und ausgedehnten Körper nicht allein durch sich selbst zu begreifen, sondern vor dem Hintergrund metaphysischer Prinzipien und Entitäten. 192 Vgl. z. B. DM § 21, A VI, 4, 1563 f.; SD, GM VI, 240 f.

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selbst Substanzen wären, zumal Leibniz immer wieder betont, dass nur den Substanzen Aktivität zukommen kann193. Erinnern wir uns, dass es in gewisser Weise sinnvoll ist, die Seelen in den Körpern zu verorten, weil sie dort wirken (Kapitel Teil III, Kapitel 2.2). Dieser Aspekt wird nun umfassender erarbeitet. Leibniz stellt die Notwendigkeit der Annahme substanzieller Formen zur Begründung von Dynamik und Mechanik, d. h. zum Verstehen von Ursachen und Prinzipien von Bewegungen, explizit dar. Im Phänomenalismus gelten physikalische Kräfte als bloße hypothetische Einheiten, die nur dazu dienen, Bewegungen zu erklären. Aber erst der Begriff der substanziellen Form kann die physikalischen, also derivativen Kräfte als wirkliche Kräfte jenseits der Erscheinungen fundieren und diese so erst als allgemeine Ursache des innerweltlichen Geschehens konzipierbar machen194 Ein so in der Metaphysik gegründeter Kraftbegriff kann erst auch wirkliches Wissen produzieren. Leibniz setzt sich bereits zu Beginn seines Studiums 1660 mit der mechanistischen Philosophie auseinander. Dabei ist diese für ihn insoweit entscheidend, als die physischen Qualitäten eines Dinges auf dessen Ausdehnung, Form und Bewegung zurückgehen. Er geht aber zu Unrecht auch davon aus, dass die mechanistische Philosophie keine unkörperlichen Prinzipien zur Erklärung dieser primären Qualitäten annehmen würde, obwohl sowohl Gassendi als auch Descartes zur Erklärung der Bewegungen auf Gott rekurrieren195. Doch das genügt Leibniz nicht. Er fordert schon in seinen ersten metaphysischen Schriften, dass jedem Körper ein je eigenes Bewegungsprinzip innewohnen müsse. Dabei erklärt er in seinen frühen Schriften zur Dynamik je nach Kontext den momentanen Geist (mens momentanea) zum Prinzip der Bewegungen, die Gedanken selbst (cogitati)196, oder die substanziellen Formen, deren Begriff zu rehabilitieren Leibniz sich vornimmt197. Bereits in einem frühen Brief an Thomasius erläutert Leibniz seine Ziele, an denen er sein Leben lang festhalten wird: Die Begriffe der aristotelischen Physik sollen rekonstruiert und in Einklang gebracht werden mit der modernen Erklärung der Körper durch Größe, Figur und Bewegung198. Damit wird ein besonderer, nur a posteriori denkbarer Zug in der Substanzontologie deutlich, der in einer auf den Phänomenalismus reduzierten Metaphysik nicht gegeben sein kann: Die Gesetze 193 194 195 196

Vgl. für ein späteres Beispiel De Ipsa Natura, GP IV, 510 ff. Vgl. SD, GM VI, 236 f. Vgl. Mercer: Leibniz’s Metaphysics, a. a. O., 72. Vgl. Mercer, Christia / Sleigh Jr., Robert C.: „The early period to the Discourse on Metaphysics“, in: Jolley, Nicolas (Hrsg.): The Cambridge Companion to Leibniz, Cambridge 1995, 67–123, hier: 78 f. 197 „Nihil agit si formas et facultates crepabit, sed si pressionem quandam rectilineam fieri […] tum demum me doctiorem reddiderit, cum scilicet mathematicam in physica aget.“ Brief an Hermann Conrig, 19/ 29. März 1678, A II, 1 400. Er bekennt sich später dazu, bereits mit 15 eine Rechtfertigung für die substanziellen Formen geplant zu haben. In einer unbetitelten und verloren gegangenen autobiographischen Notiz aus den 1660er Jahren schreibt er, dass er sich von den Scholastikern abgewandt und an einer „Reform“ der substanziellen, unkörperlichen Substanzen versucht habe. Siehe dazu Foucher de Careil, Alexandre: Mémoire sur la Philosophie de Leibniz, Paris 1905, 6 f. 198 Vgl. Brief an Thomasius, 20./30. April 1669, A II, 1 (2. Auflage), 27, vgl. 34.

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der Bewegungen, mithin die Wissenschaft der Dynamik, lassen sich nicht nur aus der Metaphysik herleiten, sondern auch mit den methodischen Mitteln des Materialismus und der Korpuskularphilosophie in der Erfahrung feststellen. Zwar gibt Leibniz auch einige Gründe a priori für die Kraft und die actio motrix an, doch bleibt es letztlich sein Ziel, eine empirisch überprüfbare Theorie der Naturgesetze darzulegen. Diese Bezugnahme der Substanzenlehre auf die Erfahrung liegt damit in den Begriffen der Dynamik begründet, die als Vermittler zwischen Substanz und wahrnehmbarem Körper dienen199. Die Substanzenlehre ist nicht nur aufgrund ihres Wahrheitsanspruches relevant, sondern auch aufgrund ihres praktischen, theologischen und wissenschaftstheoretischen Nutzens: Sie sichert uns die Wirklichkeit unserer Wahrnehmungen gegen den Skeptizismus, sie liefert die Möglichkeit für eine plausible Erklärung der Transsubstantiation und sie erlaubt uns ein Verständnis von Kraft und Materie, das über die von Descartes’ und Spinoza vorgeschlagene Konzeption hinausgeht. So dient die Ontologie der körperlichen Substanzen auch der Begründung der Wirklichkeit der Erscheinungen. Wäre keine ontologische Fundierung jenseits der Kohärenz gegeben, dann wäre die Realität der Körper die eines kohärenten Traumes200. Diesbezüglich hat Leibniz seinen früheren Anspruch an die Realität der Körperlichen, der auf ein kohärentes, aber bloß intra-subjektives Sich-Bewähren der Erscheinungen innerhalb der Erfahrungen abzielte, durch einen Anspruch vertieft, der eine die Erfahrungen transzendierende Begründung in einem substanziellen Begriff einfordert. Schließlich dient die Ontologie der körperlichen Substanzen auch der Rekonzilierung der Naturphilosophie mit den christlichen Mysterien. Leibniz akzeptiert die Herleitung der Wissenschaft und des Körperbegriffs aus der Substanzmetaphysik und integriert umfassende theologische Vorannahmen (etwa die Transsubstantiation) in die Wissenschaft. Das substanzielle Band (vinculum substantiale) ermöglicht es, die Identität des Körpers zu wahren, auch wenn die in einem Körper gegebenen Substanzen durch ein göttliches Wunder ausgetauscht werden. In der Transsubstantiation nehmen die Substanzen des Körpers Christi einen Platz in der Oblate ein, ohne dass deren Charakter wirklich verändert würde. Dabei ist es als Wunder zu verstehen, dass sich bei gleichbleibender Form und unveränderten sekundären Attributen die Materie der Oblate ändert. Leibniz lehnt auch das cartesianische Argument ab, dass es unmöglich sei, einen böswilligen Geist (spiritus malignus) anzunehmen, welcher die Seelen im Zustand eines Traumes belässt und über die Natur der Wirklichkeit täuscht: Descartes begründet mit diesem einflussreichen Gedankenexperiment zwar die Begriffsnotwendigkeit eines aufrichtigen Gottes als Garant für die Wahrheit unserer Erkenntnis, nicht aber die Möglichkeit eines sinnvollen Gottesbegriffs selbst. Leibniz stellt diesem das Prinzip des Besten gegenüber, durch das Gott gemäß dem MinimaxKriterium die maximale Reichhaltigkeit der Erscheinungen bei minimaler Regelkomplexität gewährleistet. Ein Traum sei weniger reich in seinen Erscheinungen 199 Vgl. die wichtige Darstellung der Dynamik bei Gueroult, Martial: Leibniz, Dynamique et Métaphysique, Paris 1967. 200 „Comme seroit un songe reglé“, Brief an Arnauld, 30. April 1687, A II, 2, 186.

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als eine wirkliche Wahrnehmung, weshalb eine bloß illusionäre Wirklichkeit dem Prinzip des Besten widersprechen würde. Außerdem ist es im Sinne Gottes, so viele Substanzen zu schaffen wie möglich und dafür zu sorgen, dass ihren Empfindungen (Modifikationen) etwas „Äußeres“ entspricht201. Doch darüber hinaus muss auch die substanzielle Einheit von Lebewesen erklärt werden. Ein Kadaver mag nur eine bloße Anhäufung von mehreren Substanzen sein, er selbst ist aber keinesfalls als Substanz zu begreifen202, schon allein deshalb, weil ihm als toter Materie die umfassende Einheit fehlt. Nicht die Organisation eines Körpers ist Kriterium für dessen Substanzialität, sondern die organisierende Aktivität des Ganzen – nur ein lebendiges Wesen ist eine Substanz. Ihm kommt eine andere Einheit zu als die einer Anhäufung, in der die Teile nur dadurch verbunden sind, dass sie sich berühren. Lebewesen können sich regenerieren und die Teile wirken auf eine Art zusammen, welche das Ganze immer in Beziehung setzt zu jedem einzelnen Teil und jedes einzelne Teil zu dem Ganzen – ihre Einheit ist also funktioneller Art. Die Vielheit des Körpers wird auf das einheitsstiftende Moment der Entelechie zurückbezogen, wodurch diese sich als Seele und Bewegungsprinzip des Körpers konstituiert. Leibniz ist es wichtig, dass die Körper deshalb nicht nur bloße Phänomene sind, sondern hebt immerzu ihre Begründung in den Substanzen hervor. In einem Brief an Arnauld betont er, direkt nachdem er die Phänomenalität der Aggregate behauptet hat: Ich sage nicht, dass es nichts Substanzielles oder [dass es] nur Scheinhaftes in den Dingen gibt, die keine wahre Einheit haben, denn ich stimme zu, dass sie stets so viel Realität haben, wie es wahre Einheit in dem gibt, was in ihre Zusammensetzung eingeht.203

Es muss also geklärt werden, wie andere Substanzen in die phänomenal gegebenen Körper „eingehen“. Die Ontologie der körperlichen Substanz führt Entitäten ein, die nicht in der skizzierten Theorie des monadischen Phänomenalismus gedacht werden, aber auf dessen Entitäten, also Monaden, Modifikationen bzw. Perzeptionen, sowie auf den Appetitus zurückgeführt werden können. Um dies angemessen darstellen zu können, soll zuerst auf den Kraftbegriff eingegangen werden, der hier eine wichtige Rolle spielt. Er dient erstens als Zwischenglied zwischen den ewigen und unausgedehnten Substanzen auf der einen Seite und dem Kontinuum der Körper auf der anderen und erlaubt so eine tatsächliche Fundierung der Physik in der Metaphysik der Monaden; zweitens ermöglicht er den Materiebegriff, wie 201 „On me demande encor, d’où vient que Dieu ne se contente point de produire toutes les pensées et modifications de l’ame, sans ces corps inutiles que l’ame ne sçauroit (dit-on) ny remuer ny connoistre. La réponse est aiseé. C’est que Dieu a voulu qu’il y eust plustost plus que moins de substances, et qu’il a trouvé bon que ces modifications respondissent à quelque chose de dehors.“ Eclaircissement du nouveau système de la communication des substances (1696), GP IV, 495. 202 Brief an Arnauld vom 28. November / 8. Dezember 1686, A II, 2, 115. 203 „Je ne dis pas qu’il n’y a rien de substantiel, ou rien que d’apparent das les choses qui n’ont pas une veritable unité, car j’accorde qu’ils ont tousjours autant de realité ou de substantialité, qu’il y a de veritable unité dans ce qui entre dans leur composition.“ Brief an Arnauld, 30. April 1687, A II, 2, 186.

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Teil III: Einfache Substanzen

noch auszuführen ist. Die folgenden Kapitel werden die von Leibniz entworfenen Materiebegriffe ausdifferenzieren und zueinander in Beziehung setzen sowie deren Fundierung in der ontologischen Architektonik untersuchen, welche die Kraft- und Materiebegriffe mit denen der körperlichen Substanz vereint. Dort ist vor allem das Verhältnis der Monade zur substanziellen Form von Bedeutung, vor dem Hintergrund der Frage, wie die Form in dem Kontinuum der Materie eine Einheit substanzieller Natur herausbilden kann. Daraufhin soll das Problem der unendlichen Teilbarkeit der Materie vor dem Hintergrund der substanziellen Atome erörtert werden und das besondere Verhältnis dieser zu der Einheit des Lebewesens, das aus ihnen gebildet wird.

TEIL IV: KRAFT UND MATERIE Wenn die Erscheinungen nicht miteinander verkettet sind, dann gibt keine Philosophie. Denis Diderot1

1. EINIGE GRUNDPROBLEME DER BEWEGUNGSLEHRE Wie wir im letzten Teil gesehen haben, versucht Leibniz die Entstehung der ausgedehnten Körper in Analogie zur Konstruktion mathematischer Körper aus dem Unausgedehnten zu denken. Dabei hat er allerdings noch nicht die Frage beantwortet, wie die Bewegung der Körper zu denken ist, die schließlich ein fundamentaler Aspekt nicht nur der Wissenschaft ist, sondern auch in unseren alltäglichen Beobachtungen festgestellt und vorausgesetzt wird. Diese Differenz zwischen Beobachtung und wissenschaftlicher Hypothese spielt eine besondere Rolle bei der Entstehung des Leibnizschen Kraftbegriffs. Bewegung wird hier im Anschluss an die mechanistische Philosophie rein quantitativ verstanden. Die ursprünglich an die aristotelische Substanz gebundenen Elemente der Bewegung: Entstehen, Vergehen und qualitative Veränderung sollen, wie die Atomisten, Descartes und Hobbes vorgezeichnet haben, durch die Bewegung von Partikeln konzipiert werden2. Leibniz vertritt in seinen frühen Jahren, etwa in der TMA, eine Theorie der Stoßübertragung, in der er von der Position der Korpuskularphilosophie und Descartes’ Reduktion der Kraft auf die Bewegung inspiriert ist. Dabei setzt Leibniz sich mit Huygens’ Theorie der Stoßgesetze auseinander3. Jedoch gibt Leibniz diese gleichwohl in dem kurzen Text De rationibus motus (1669) auf4 und widerspricht dort Huygens folgendermaßen: Er betont, dass eine Geschwindigkeitsübertragung zweier Körper im Stoß entsprechend ihres Geschwindigkeitsverhältnisses stattfindet, ohne dass dabei die unterschiedlichen Masseverhältnisse berücksichtigt werden. Dabei dient das Postulat der kohäsionsbasierten Elastizität der Körper als Voraussetzung, für deren Konzeption er sich in den frühen 1670er Jahren noch des 1 2

3 4

„Si les phénomènes ne sont pas enchaînes les uns aux autres, il n’y a point de philosophie.“ Diderot, Denis: De l’Interpretation de la Nature, Paris 1754, 57 (§ 58). Leibniz sieht in Hookes Micrographia die Möglichkeit, Aristoteles bzw. dessen Arten der Bewegung (Generation, Korruption, Wachstum, Verringerung und Veränderung) als lokale Bewegungen der kleinen und noch kleineren Teile eines Dinges zu erklären. Siehe dazu Wilson, Catherine: The Invisible World, Princeton 1995, 58 f. Zum Einfluss von Huygens siehe Gueroult: Leibniz, a. a. O., 82–109. A VI, 2, 159–165. Vgl. dazu Fichant, Michel: „Introduction“, in: ders.: La Réforme de la Dynamique, Paris 1994, 9–68, hier 35 ff.

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Teil IV: Kraft und Materie

von Hobbes entlehnten Begriffs des Conatus bedient5, der gleichwohl noch nicht die Rolle der Kraft erfüllt, die er nach der Schrift De corpore concursu (1678) einnehmen wird. Ebenso postuliert Leibniz eine alldurchdringende Flüssigkeit, den Lichtäther, der die verschiedenen Materiedivisionen durchdringt und die Stoßübertragung ermöglicht. Diese an den aristotelischen Äther angelehnte Konzeption einer grundlegenden und allumfassenden Materie wird in den späteren Schriften keine entscheidende Rolle mehr spielen und durch den Kraftbegriff ersetzt. Von dieser frühen Position kehrt er gleichwohl ab, wenn er sich in mehreren Schriften gegen die Cartesianer wendet: In der Brevis demonstratio erroris memorabilis Cartesii (1686) und den Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum (1692) kritisiert er mit einem Gedankenexperiment die Identifikation der Kraft mit dem Produkt aus Masse und Geschwindigkeit. Dazu kommen bald einige zentrale Schriften zur Dynamik, der Phoranomus seu de potentia et legibus naturae (1689), die Dynamica de potentia et legibus naturae corporeae (1689–90), und vor allem das Specimen Dynamicum (1690), in denen Leibniz seine eigene Theorie der Kräfte entwirft. In diesem Zusammenhang sind drei Aspekte von besonderer Bedeutung. Erstens ersetzt Leibniz nach 1678 den frühen Kraftbegriff, der rein quantitativ entlang des von Descartes entlehnten Bewegungsbegriffs konzipiert ist, durch einen ausdifferenzierten und qualitativ begründeten Kraftbegriff. Während Descartes noch den Erhalt der Bewegungsquantität in jeder Veränderung postuliert hatte, so verlagert sich dieses Konservationsprinzip nun bei Leibniz hin zur Quantität der physischen Kraft6. Zweitens beschränken sich diese späteren Schriften nicht auf die reine Dynamik, sondern reflektieren sorgfältig die Notwendigkeit einer metaphysischen Grundlegung. Besonders deutlich wird dies im Specimen Dynamicum und in einer Schrift, die diese Grundlegung sogar im Titel trägt: Principia Mechanica ex Metaphysicis dependere (1678–81[?]). Drittens ist die Feststellung hervorzuheben, dass nicht nur der Bewegung, sondern auch dem Widerstand gegen Bewegung eine Form von Aktivität zugrunde liegt und Passivität wie Aktivität gleichursprünglich sind: Widerstand ist ebenso wie Festigkeit und Bewegung das Anzeichen ursprünglicher Aktivität. Die aktive Kraft konstituiert die Elastizität der Materie, die passive dagegen die Trägheit und damit die Masse. Passivität wird als eine Verminderung der substanziellen Aktivität verstanden. Dabei geht die Verwendung der Begriffe der aktiven und passiven Kraft im Specimen Dynamicum auf eine Übernahme der aristotelisch-scholastischen Dichotomie von Form und Materie zurück, wobei der Form die aktive Kraft, der Materie dagegen die passive Kraft zugeordnet wird. Die passive Kraft begründet die Materialität der Körper, da sie der Grund der Undurchdringlichkeit und Trägheit der Körper ist. Die aktive Kraft ermöglicht die Veränderungen der Körper und steht für Beschleunigung und Bewegung. Eben dies ist entscheidend für die Konzeption des Verhältnisses von Seele und Körper, Form und Materie. Diese naturphilosophische Grundlegung wird u. a. im Système Nouveau entfaltet und vor allem im Specimen Dynamicum ausgearbeitet, in dem Leibniz die 5 6

Zu Leibniz’ Rezeption des Hobbesschen Conatusbegriffs siehe Duchesneau, François: La Dynamique de Leibniz, Paris 1994, 40–50. Vgl. Fichant, Michel: „L’Invention Métaphysique“, a. a. O., 35 f.

Einige Grundprobleme der Bewegungslehre

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Unterscheidung zwischen primitiven, also ursprünglichen und derivativen Kräften einführt, die er zudem je in aktive und passive Kräfte unterscheidet. Seit 1678 geht Leibniz davon aus, dass nicht nur die Trägheit selbst einer Begründung bedarf, sondern ebenso die Undurchdringlichkeit des Körpers, wofür er einen Kraftbegriff benötigt, den er in aktive und passive Kräfte unterscheiden kann. Dabei kann er nicht zwei völlig heterogene Kräfte annehmen, denn dadurch müsste er das Universum selbst als heterogene Natur denken, was u. a. seinem Prinzip des Kontinuums widerspricht. Nur durch die Annahme einer ursprünglichen und einer daraus hervorgehenden, abgeleiteten Kraft kann er eine Korrelation herstellen zwischen der Kraft, die den Ansatz zu einer Bewegung liefert, und der ihr zugehörigen Erstmaterie, wie auch zwischen der Kraft der Bewegung und dem ausgedehnten Körper7. Der Kraftbegriff wird dann nicht mehr wie in den Frühschriften aus der Bewegung hergeleitet, sondern er wird hingegen dazu benutzt, die Bewegung zu erklären und zu begründen. Ebenso dient er als ontologische Grundlage für die mechanische Theorie der Bewegungsübertragung im Stoß fester Körper, der seit Galilei als Modell für Bewegungsübertragung gilt. Dabei ist aber nicht Galileis deskriptives Modell der Bewegung8 die entscheidende Referenz. Vielmehr wendet er sich gegen Descartes, der eine Formalisierung der Stoßgesetze vorgeschlagen hatte, die die im Stoß übertragene Kraft als das Produkt der Geschwindigkeit und dem Volumen des Körpers begreift. Da Leibniz selbst in Einklang mit Descartes die Ausdehnung direkt mit dem Gewicht des Körpers, d. h. dessen Masse identifiziert, ist es nicht falsch, diese Formel mit dem modernen Massebegriff als mv zu formalisieren9. Kraft zeigt sich mithin stets und ausschließlich als Bewegung oder quantifizierbarer Effekt einer Bewegung. Diesbezüglich stimmt Leibniz der mechanistischen Philosophie zu. Doch während die Physik Kräfte bloß als Bewegungsursachen kennt, kann die Metaphysik Kräfte als wirklichkeitskonstituierende Aspekte der Substanzen verstehen – Kräfte sind nicht nur heuristische Ursachen von Bewegungen, sondern tragen maßgeblich dazu bei, dass es überhaupt so etwas wie Materialität, Veränderung und Interaktion geben kann. Der Kraftbegriff ist bei Leibniz sowohl ein physikalischer, als auch ein metaphysischer Begriff. Leibniz wendet sich jedoch gegen die metaphysische Interpretation und Ausarbeitung dieses Kraftbegriffs durch Descartes. Dieser reduziert die Masse auf das Volumen und die Geschwindigkeit auf die Lageänderung im Raum, konzipiert sie also erstens als unmittelbar sinnlich erfahrbar und zweitens als bloße Quantität. Nach Descartes sind Ausdehnung und Masse nichts anderes als das Wesen der Körper selbst, wodurch die Kraft nicht als transzendente Entität zu denken ist, sondern lediglich als ein menschlicher Begriff für körperliche Veränderungen. Die Wissenschaft benötigt keinen Begriff, der auf Entitäten jenseits der Körper und des direkt Beobachtbaren verweist. Dies ist der Grund für Descartes’ Ablehnung der aristotelischen Teleologie und Leibniz’ Versuch, dieselbe wieder einzuführen, 7 8 9

SD, GM VI, 236 f. Zum Einfluss Galileis auf Leibniz siehe bspw. Gueroult: Leibniz, Dynamique et Métaphysique, a. a. O., 76–82. Siehe dazu Descartes, René: Principia Philosophiae, hrsg. von Arthur Buchenau, Hamburg 1992, 53 ff. (Buch II, §§ 43 ff.)

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Teil IV: Kraft und Materie

wird an exakt dieser Stelle ansetzen. Der Kraftbegriff soll die kausale Ordnung der Welt etablieren, physische Kausalität mit substanzieller Teleologie verbinden und die Erfahrung mit der Theorie versöhnen10. Hier soll zuerst vor allem die physikalische und explanatorische Dimension des Kraftbegriffs hervorgehoben werden, die Versöhnung von Kausalität und Teleologie wird in Teil V. dieser Untersuchung besprochen. Leibniz’ Kritik an der cartesianischen Physik lautet wie folgt: Würde man eine bloß auf der Geometrie basierte Physik vertreten, dann würde jeder bewegte Körper im Stoß dem ruhenden Körper stets und unausweichlich seine Bewegung gänzlich oder nur im Teil aufzwingen und die Welt würde im Chaos versinken, weil damit die Kohäsion der Körper und die transitive Kausalität bzw. die Übertragung von Bewegung im Stoß gefährdet wäre. Außerdem sieht Leibniz, dass Descartes’ Identifikation der Kraft mit der Bewegungsquantität in ein Paradox führt, das er mehrfach in seinen Schriften darlegt. Zuerst findet sich dieses Argument in einer unpublizierten Schrift von 1678, De corpore concursu, dann publiziert er es im Jahre 1686 mit fast identischem Text in der Acta Eruditorum als Brevis demonstratio erroris memorabilis Cartesii und in dem Discours de Métaphysique. Dort entwickelt er folgendes Gedankenexperiment: Man benötigt dieselbe Kraft, um einen Körper A (m(A) = 1 Pfund) auf eine Höhe von 4 Metern zu heben, wie für das Heben eines Körpers B (m(B) = 4 Pfund) auf eine Höhe von 1 Meter. Nach Galilei wird die Fallgeschwindigkeit des Körpers A bei vierfacher Höhe doppelt so hoch sein wie die von B (v(A) = 2; v(B) = 1). Demnach erhält man nach Descartes Formel der Kraft f = mv bei Körper A einen Wert von 2, bei Körper B jedoch einen Wert von 4. Leibniz nimmt es jedoch als Voraussetzung an11, dass die beim Emporheben aufgewandte Kraft der beim Fallen freigesetzten Kraft entsprechen muss – ansonsten würde die Kraft in der Welt zu- oder abnehmen12. Denn würde man Körper A nach dem Fall wieder emporheben, dann müsste weniger Kraft aufgewandt werden, als im Fall frei wird; so wäre ein Perpetuum Mobile möglich, was aber den theologischen Grundannahmen Leibniz’ zutiefst widerspricht, da es einer irdischen creatio ex nihilo gleichkommt. Er kritisiert Descartes und die Cartesianer: Denn Descartes hat sich, mit einem Fehler, der bei großen Männern häufig ist, schließlich allzuviel zugetraut, die Cartesianer aber tun es, wie ich fürchte, oft schon den Peripatetikern gleich, die sie verspotten, indem sie Gewohnheit annehmen, statt der Vernunft und der Natur der Dinge die Bücher des Meisters zu befragen.13

10 11 12

13

Vgl. SN § 2, GP IV, 478. A VI, 4, 2028. Für eine detailliertere Analyse siehe Stammel: Der Kraftbegriff in Leibniz’ Physik, a. a. O., v. a. 124 ff. Dort zeigt Stammel auch auf, dass die Formel mv2 eigentlich von Huygens stammt. Eine genaue Herleitung der Formel mv2 findet sich z. B. bei Robinet, André: „Dynamique et fondements métaphysique“, in: Studia Leibnitiana, Sonderheft 13, 1984. Ähnlich bei Gueroult: Leibniz, a. a. O. „Nam Cartesius, solito magnis viris vitio, postremo factus est paulo praesidentior. Cartesiani autem non pauci vereor ne paulatim Peripateticos complures imitari incipiant, quos irrident, hoc est, ne pro recta ratione et natura rerum, consulendis magistri libris assuefiant.“ A VI, 4, 2029.

Einige Grundprobleme der Bewegungslehre

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Die Cartesianer sind also in Leibniz’ Augen nicht besser als die von ihnen verachteten Peripatetiker, weil sie mit dem Festhalten an einem bloß durch Autorität begründeten Paradigma der Naturwissenschaft (bzw. der Naturphilosophie) das Wesen der Dinge aus den Augen verloren haben. Das Kriterium zur Erfassung der Kraft kann also nur die Quantität der durch einen Körper in seiner Bewegung verursachten Wirkung sein, die allerdings nicht mv entspricht, sondern mv2. Leibniz muss allerdings in dem Essay de Dynamique (1692) zugeben, dass nicht nur für die Kraft als mv2 ein Erhaltungssatz begründet werden kann, sondern dass dies auch bei einem vektoriell verstandenen mv möglich ist. Der Kraftbegriff kann also je nach Kontext als mv wie auch als mv2 formalisiert werden14. Dementsprechend wird Leibniz später den Impetus erneut als mv konzipieren, weil er ansonsten die Bewegungsausrichtung im Kräfteparallelogramm nicht sinnvoll konzipieren könnte. Diese Überlegungen zur Bewegungsübertragung bleiben in Bezug auf die Konzeption der Substanz nicht folgenlos. Während wir die Bewegung noch auf der Ebene der Körper begreifen können, so ist uns dies mit der Beschleunigung nicht mehr möglich, die als Veränderungsmaßstab der Geschwindigkeit jede Bewegung und damit jede direkte empirische Wahrnehmung transzendiert. Eine Bewegung kann, wenn sie erfahrbar ist, auch gemessen werden, sie ist also prinzipiell quantifizierbar. Auch der Beschleunigung, dem Maß der Geschwindigkeitsveränderung, kann mit der von Leibniz entwickelten Mathematik ein Wert beigemessen werden15. Dieser allerdings ist zu jedem Zeitpunkt infinitesimal klein, also für sich genommen weder quantifizierbar noch direkt wahrnehmbar: Die Beschleunigung – begriffen als dv/dt ohnehin nur als momentanes Merkmal einer Bewegung denkbar – hat keine unmittelbare phänomenale Entsprechung in der Erfahrung. Wir müssen daher eine Kraft als grundlegende Ursache zu den beobachtbaren Effekten hinzudenken, ohne die manch ein physikalischer Effekt nicht verständlich wäre. Leibniz wendet sich in dieser Zeit völlig von der in der Hypothesis physica nova vertretenen Theorie der Bewegung ab, nach der die Stoßgesetze lediglich von den Bewegungen abhängen, nicht aber von den Eigenschaften des Körpers. Er stützt sich dabei auf das empirisch einfach belegbare Phänomen, dass ein leichter Körper einen großen und schweren Körper nicht mit seiner ursprünglichen Geschwindigkeit weiterbewegen kann, was aber aus Descartes’ Theorie der Stoßübertragung folgen würde16. Die von Leibniz früher für natürlich gehaltene Elastizität 14 15 16

Vgl. Essay de Dynamique, in: Costabel, Pierre: Leibniz et la Dynamique, Paris, 1960, 97–106, hier 93 u. 105; vgl. Stammel: Der Kraftbegriff, a. a. O., 192; Gueroult, Martial: Leibniz, a. a. O., 41 f. Hierbei wird berücksichtigt, dass es auch negative Beschleunigung, d. h. Bremsvorgänge geben kann. „Cogitabam autem etsi in statu corporum extra systema posito, et ut ita dicam rudi contingerent, quae concluseram, ita, ut corpus maximum quiescens a minimo impingente eadem qua minimum celeritate abriperetur, in systemate tamen seu in corporibus circa nos tale quid fore perabsurdum, ita enim minimo negotio maxima turbarentur, et proinde variis artificiis hunc effectum impediri.“ Principia Mechanica ex Metaphysicis Dependere (1678–81[?]), A VI, 4, 1980.

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Teil IV: Kraft und Materie

der Körper muss zwangsläufig aufgegeben werden, sie wird als eine durch die Kraft bedingte Verschiebung der Körperteile zueinander neu konzipiert. Dabei stellt sich aber die Frage, wie ein Körper überhaupt Bewegung auf einen anderen Körper übertragen kann und wie dieser sie aufnimmt. Um die Möglichkeit einer Kraftübertragung beim Stoß sicherzustellen, muss in den Körpern also etwas enthalten sein, das die Aufnahme einer anderen Geschwindigkeit ermöglicht, ohne dabei auf Ausdehnung, Form und Geschwindigkeit reduzibel zu sein. Die Beschleunigung ist nicht wie die Bewegung auf der Erfahrungsebene konzipierbar, auch wenn ihr in den Körpern etwas entsprechen muss, das ihr widerstrebt. Dies ist die Trägheit (inertia), also der direkte Widerstand zur Beschleunigung: Ein Körper verliert in dem Maße Kraft, wie er Kraft aufwenden muss, um einen anderen Körper zu beschleunigen. Bewegt sich ein Körper bereits, muss eine entsprechende Kraft dessen Bewegung entgegenwirken, ansonsten kann dieser Körper seine Bewegung widerstandslos fortsetzen. Dies aber wird auf einer theoretischen Ebene konzipiert, die nicht mehr direkt auf die empirische Ebene der Ausdehnung und Geschwindigkeit reduziert werden kann. Leibniz betont: Die Trägheit der Körper [kann] nicht aus dem ursprünglich angenommenen Begriff der Materie und der Bewegung hergeleitet werden, in dem man die Materie als das versteht, was ausgedehnt ist oder den Raum ausfüllt, und Bewegung wird als Veränderung des Raumes oder des Platzes [verstanden].17

Der cartesische Körperbegriff kann nicht nur die, wie man heute sagen könnte, ‚Bewegungsenergie‘ nicht richtig konzipieren, sondern scheitert auch an der Formalisierung des Widerstandes der Körper gegen jede Beschleunigung, den wir jedoch zu jeder Zeit beobachten können. Es gilt also, in den Körpern gewisse Begriffe oder Formen [!] hinzuzufügen und anzunehmen, die sozusagen immateriell oder unabhängig von der Ausdehnung sind; diese kann man Kraft (potentia) nennen, durch die die Geschwindigkeit an die Größe angepasst wird; diese Kräfte bestehen nicht aus der Bewegung, auch nicht aus dem Conatus oder dem Bewegungsbeginn, sondern in der Ursache oder dem inneren [!] Grund der Bewegung, welcher das Gesetz ist, das für die Weiterführung [der Bewegung] erforderlich [ist].18

Wir müssen also nicht nur nach dem transitiven Grund für eine Bewegung fragen, sondern auch nach dem immanenten Grund, der in der substanziellen Form zu verorten ist. Deswegen muss der cartesische Bewegungsbegriff aufgegeben werden, der Bewegung als einen Modus von Körpern begreift. Da diese nicht von selbst entstehen kann, sondern von Gott den Körpern beigelegt wird, degradiert diese Vorstellung Gott selbst: Nur ein unperfekter Gott würde eine derart unvollkommene 17 18

„Inertiam corporum, ex sola illa initio posita materiae et motus notione, qua materia quidem intelligitur id quod extensum est seu spatium replet; motus autem spatii seu loci mutatio […].“ Ebd. „Adjiciendas atque agnoscendas esse in corporibus notiones sive formas quasdam ut ita dicam immateriales sive ab extensione independentes; quas appellare possis potentias, quibus celeritas magnitudini attemperatur, quae potentiae [n]on in motu, imo nec in [co]natu seu motus [initi]o, sed in causa sive ratione intrinseca [motus] ea qua opus est lege continuandi consistunt.“ Ebd. Siehe zu diesen Überlegungen Garber, Daniel: Leibniz: Body, Substance, Monad Oxford 2009, 116 ff.

Die Grundbegriffe der Dynamik

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Welt erschaffen, dass er beständig in sie eingreifen muss oder ihr nachträglich noch etwas hinzufügen muss. Für Leibniz ist klar: Die Schöpfung muss also aus Substanzen bestehen, die selbst aktiv sind, sich auf ursprüngliche Weise selbst bewegen und damit ihr eigenes Bewegungsprinzip in sich enthalten. Wir sehen, dass der Stoß als transitive Ursache in Abhängigkeit von der immanenten Ursache zu denken ist, was auch der Lehre von den requisita entspricht, die im letzten Teil untersucht wurde. Die substanzielle Form besteht in nichts anderem als dem Prinzip der immanenten Aktivität oder Ursache der beobachteten Bewegung und in dem Gesetz der Kontinuität, d. i. dem Gesetz, durch welches die Weiterführung der Bewegung bestimmt wird. Damit greift Leibniz seine frühe, in Auseinandersetzung mit Thomasius entwickelte These wieder auf, dass die Form die Ursache und das Prinzip der Bewegung sei19. Allerdings erörtert er diese Idee nun in einem konzeptuell erweitertem Kontext der Dynamik, in dem er sich vor allem gegen die Naturphilosophie Descartes’ richtet und nicht mehr, wie in seiner frühen Phase, gegen Hobbes. Mechanik und Dynamik verweisen also auf die Metaphysik zurück, denn sie fordern eine Begründung der Bewegung in Kräften ein, die den Dingen zuzuschreiben sind und zugleich die im vorigen Teil ausgearbeitete Forderung nach einer ratio extra rem erfüllen: Die Begründung der Körper ist nicht im Reich der Körper zu finden, sondern im Reich der Kräfte, die wiederum in den Substanzen begründet sind. Dabei handelt es sich gleichwohl um immanente Ursachen, weil sie nicht im räumlichen Sinne außerhalb des Dinges liegen wie dies bspw. bei der Übertragung von Bewegung im Stoß der Fall ist. Der eigentlich entscheidende Grund eines jeden Dinges ist auf dieselbe Weise dem Ding immanent, wie der Punkt „in“ der Linie ist. Er ist insoweit eine ratio extra rem, als er einen anderen ontologischen Status als das begründete Ding beanspruchen kann. Es handelt sich bei der immanenten Ursache um eine metaphysische Grundlegung der Dinge, in der ontologisch derivative, zusammengesetzte oder ausgedehnte Dinge auf ihren Grund verweisen: Auf die Substanzen. Deswegen ist nun ein ausführlicher Rückgriff auf Leibniz’ Substanzenlehre von Nöten, damit diese Form der Grundlegung begriffen werden kann. 2. DIE GRUNDBEGRIFFE DER DYNAMIK Die Fundierung der mechanistischen Philosophie im Substanzbegriff ist ein unübersichtliches Feld, das eine ausgiebige Rekonstruktion abverlangt. Dies hat dazu geführt, dass auch der Kraftbegriff umstritten ist. Um ein paar Beispiele zu geben: Russell hält das Verhältnis der Substanzenlehre zur Dynamik für „obskur“20; Cassirer behauptet, hier wäre Leibniz sogar noch deterministischer als die Cartesianer selbst21; Gueroult zufolge ist die Substanzenlehre in die Dynamik eingebettet22; 19 20 21 22

Brief an Thomasius, 1669, A VI, 2, 435. Russell: A Critical Exposition, a. a. O., Kapitel. 4.7. Cassirer, Ernst: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Berlin 1902, Nachdruck Hamburg 1998. Gueroult, Martial: Leibniz, Dynamique et Métaphysique, Paris 21967.

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Teil IV: Kraft und Materie

Garber dagegen fragt mit „great perplexity“, nachdem er die Argumente für die Phänomenalität der Körper dargelegt hat: „[Leibniz’] metaphysics is intended to ground the true physics! What possible connection could there be between Leibniz’s metaphysical conception of what there really is in the world, and his physics?“23 Wir werden sehen, dass eine Untersuchung des monadischen Appetitus hier einen Ausweg eröffnet, da in ihm nicht nur die Kraft begründet ist, sondern weil er auch die Perzeptionen aus dem Wesen der Monade hervorbringt. Der Kraftbegriff dient dazu, die Pseudo-Interaktion der Substanzen in eine transitive Kausalität im physischen Raum zu überführen und so zwischen der sich selbst entfaltenden Substanz und dem Fluss der Erfahrung zu vermitteln. Die Welt ist statisch-virtuell in der Monade eingefaltet, solange diese virtuellen Momente nicht durch substanzielle Kraft aktualisiert werden. Kraft wird als die ursprüngliche Aktivität der einfachen Substanz verstanden, aber sie hat auch immer eine Erfahrungskomponente. Sie zeigt sich in ihren Wirkungen und kann deswegen Wirksamkeit (virtutem24) genannt werden. Sie ist der Anstoß, durch den eine Möglichkeit, die sich nicht selbst realisieren kann, in die Wirklichkeit überführt wird. Die Kraft überführt die Zustände der Monade in die Erfahrung. Dabei ist die Kraft rein intelligibel und nicht anschaulich25. Allein dadurch ist sie nicht „in“ den physischen Körpern gelagert als wäre sie ein Teil derselben, vielmehr kann man lediglich sagen, sie würde in den Körpern wirken. Da sie aber gegenüber den Körpern intelligibel und nicht nur anschaulich ist, liegt ihr Begriff auch dem des Begriffs der Körper zugrunde26. 2.1. Conatus und Impetus, lebendige und tote Kraft Die für die physischen Körper entscheidende Veränderung ist die Bewegung. Jede Veränderung bedarf eines verbleibenden Elementes, der Substanz. Die direkte Ursache für jede Veränderung ist in den Körpern selbst zu suchen; das Reich der Körper ist kausal bestimmt, das Reich der Seelen teleologisch. So stellt sich ein doppeltes Problem für den Kraftbegriff: Einerseits müssen die ursprüngliche Aktivität der Seele und die substanzielle Form angenommen werden, um die Bewegungen 23 24 25 26

Garber: „Leibniz and the Foundation of Physics“, a. a. O., 27 f. Vgl. SD, GM VI, 236. Siehe De ipsa natura, GP IV, 507: „Est enim Vis ex numero, quae non imaginatione, sed intellectu attingitur.“ „Das Konzept der Kraft oder des Vermögens, […] das zu erklären ich eine eigene Wissenschaft, die Dynamik, bestimmt habe, wirft das klarste Licht auf das Verständnis des wahren Begriffs der Substanz.“ – „Cujus rei ut aliquem gustum dem, dicam interim, notionem virium seu virtutis […] cui ego explicandae peculiarem Dynamices scientiam destinavi, plurimum lucis afferre ad veram notionem substantiae intelligendam.“ De prima philosophiae emendatione (1694), GP IV, 469. Vgl. auch: Brief an Pellison, 18. Januar 1692: „une des raisons qui me fait employer ce terme de force, pour expliquer la nature, la forme substantielle, l’essence des corps, est qu’il est plus intelligible et donne une idée plus distincte.“ A I, 7, 248 f. Vgl. dazu Carraud, Vincent: Causa sive Ratio: la Raison de la Cause, de Suarez à Leibniz, Paris 2002, 415; Robinet: Architectonique Disjonctive, a. a. O., 65. Siehe auch GP II, 169 f., u. ö.

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der Körper zu erklären, ohne selbst gleichartig mit der Materie zu sein. Andererseits kann es keinen direkten kausalen Einfluss von der Seele auf den Körper geben: Die Welt der Seelen und die der Körper sind je kausal abgeschlossen, so wie Punkte und Linien unterschiedlich ‚dimensioniert‘ sind und sich nicht gegenseitig enthalten, wenn auch der Punkt der Linie vorhergeht. Leibniz unterscheidet die ursprüngliche, nicht ausgedehnte (nicht quantifizierbare) Kraft, die das Wesen jeder Substanz ausmacht, von der abgeleiteten Kraft, die sich erst aus der Aggregation ergibt. Gott hat den Monaden die ursprünglichen Kräfte eingepflanzt und erhält sie in ihnen27. Die Monaden sind nur mittelbar Urheber der Kräfte, was aber ausreicht, um sie ihnen zuzuschreiben. Neben der aktiven Kraft konzipiert Leibniz auch eine passive Kraft, die nicht per se existiert, sondern im Widerstand gegen eine andere aktive Kraft zutage tritt. Passivität ist also kein eigenständiger Zustand der Substanz, sondern ergibt sich nur aus der Begrenzung der aktiven Kraft. Dies kann sich Leibniz in verschiedener Weise nutzbar machen, wenn er die Mechanik der Körper begründen will. Soweit die Kraft als Ursache der Bewegung verstanden wird, steht ihr die Masseträgheit entgegen: Diese wirkt gegen die Bewegung und muss ihr gleichartig sein; Trägheit ist das passive Moment, das dem Impetus als aktives Moment gleichartig ist. Leibniz löst die doppelte Aufgabe des Kraft-Begriffs, indem er den physikalischen Kraftbegriff in der Aktivität der Substanz fundiert und die sich in den Bewegungen zeigende, quantifizierbare Kraft als eine aus der ersten Kraft hergeleitete begreift. Die ursprüngliche Spontaneität der Monade, die den Veränderungen der Perzeptionen zugrunde liegt, wird auch als Appetitus bezeichnet. Die Kraft, die allen Veränderungen der perzipierten Dinge innewohnt, wird lebendige Kraft (vis viva) genannt. Zwischen beiden vermittelt der Conatus, der der Beginn der physischen Aktivität ist, das Moment, in dem eine bloß mögliche physische Aktivität wirklich wird. Wenn aber die materiellen Dinge, wie oben dargelegt, nur phänomenal gegeben sind, dann kann die Kraft, die den subjektiven Erlebnisstrom ausmacht, auch zugleich die Kraft sein, die alle physischen Veränderungen initiiert und damit bestimmt. Dies wird alles noch näher auszuführen sein. Entscheidend ist dabei, dass sich Conatus und Appetitus ontologisch entsprechen, auch wenn sie als Termini in unterschiedlichen Wissenschaften oder Disziplinen eine Rolle spielen: Der Conatus gehört der Dynamik, der Appetitus der Seelenlehre zu. Der Begriff des Conatus wird in einem Brief vom 28. September 1670 an Heinrich Oldenburg in Leibniz’ eigene Philosophie integriert, wobei Leibniz auf Hobbes zurückgreift, der diesen Ausdruck wiederum wahrscheinlich von Galileo Galilei übernommen hat. Leibniz entwirft mit Hilfe dieser Begriffe ein Modell, in dem die Konstitution einer quantifizierbaren Kraft aus einer grundlegenderen und unquantifizierbaren Kraft mit dem Modell des mathematischen Resultierens verdeutlicht wird: „Der Conatus nämlich, wie Hobbes richtig bemerkt hat, ist der Beginn der Bewegung, aber er ist auf die Weise in der Bewegung, wie der Punkt in der Linie ist.“28 In diesem Sinne ist der Conatus selbst noch keine Bewegung, sondern ein 27 28

Siehe z. B. Brief an Arnauld, 30. April 1687, A II, 2, 179. „Conatus enim, rectimssimé obserante Hobbio, est initium motus, seu id in motu, quod in linea

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Teil IV: Kraft und Materie

Zustand, der, sofern er in seiner Entfaltung nicht behindert wird, Ursache für eine Veränderung ist29. Diese Definition wird zwar hier noch im Kontext eines korpuskulartheoretischen Ansatzes gegeben, aber es macht nicht den Anschein, dass Leibniz dies später widerrufen würde. Leibniz bezieht den Conatus in einem Brief von 1671 auf den Geist, nicht auf den vernünftigen, denkenden und erkennenden Geist, sondern er wird mit einem momentanen Geist identifiziert30. Damit wird deutlich gemacht, dass das augenblickliche geistige Streben im selben Maße Bedingung ist für wirkliche, komplexe Gedankengänge, wie auch der Bewegungsansatz Bedingung ist für die Bewegung. Er will dabei die aus der antiken Philosophie stammende Prinzipiennatur der Seele in die Körper der mechanistischen Philosophie übertragen. Leibniz macht nach 1678 immer wieder darauf aufmerksam, dass die beobachtbare bzw. in die bewegten Körper hineingedachte Kraft auf metaphysischer Ebene als eine Tendenz zu denken ist, die einem Gesetz entspricht (tendance reglée). Er identifiziert diese Tendenz mit der aristotelischen Entelechie31, die ihm zufolge auch die substanzielle Form des Körpers ist. Leibniz gelangt in dem Text De corpore concursu zu einer erneuten Begründung des Satzes von der Krafterhaltung: Wenn Kraft als Quantität eines Effektes, d. h. einer Bewegung von Körpern gemessen wird, dann bleibt die Kraft immer erhalten, weil die Geschwindigkeit stets in Proportion weitergegeben wird, nie aber von selbst oder endgültig aufhört, sondern sich von Körper zu Körper im Stoß weitergibt. Dies gilt vor allem für die lebendige Kraft. Das Axiom der Krafterhaltung wird per reductio ad absurdum bewiesen: Würde es nicht gelten, käme es entweder im Stoß zu einer Beschleunigung aus dem Nichts und damit zu einem Perpetuum Mobile, oder die Bewegung würde sich reduzieren und alle Bewegung käme irgendwann zum Stillstand. Dann droht, modern ausgedrückt, der Kältetod des Universums. Doch da dies beides, so Leibniz, „absurd“ ist, gilt das Axiom der Krafterhaltung32. Mit seiner Grundlegung der Infinitesimalrechnung – der Schrift Nova Methodus pro Maximis et Minimis, die Leibniz 1684 in den Acta Eruditorum veröffentlicht – kann er dieses neu ausgearbeitete Kraftverhältnis später auch als ein Argument gegen den Cartesianischen Bewegungsbegriff benutzen. Diese mathematischen Grundlagen werden dann 1695 im Specimen Dynamicum in eine physikalische Theorie der Kräfte ausgearbeitet. Der Conatus wird dabei als ein infinitesimal kleiner Teil der lebendigen Kraft33 verstanden. Das Verhältnis von lebendiger Kraft zur toten Kraft ist dasselbe wie das von Impetus zum Conatus,

29 30 31 32 33

punctum.“ A II, 1 (2. Auflage), 103. Ebenso: „Conatus est ad motum, ut punctum ad spatium, seu ut unum ad infinitum, est enim initium finisque motus.“ TMA, A VI, 2, 265. „Conatus est status, ex quo oritur alius status (qui nempe dicitur actus) nisi aliquid impediat.“ Table de Définitions (1702–04 [?]), C, 474. Ebd., 147. Brief an Bayle, ohne Datum, vermutlich 1702, GP III, 66. Siehe De Corpore Concursu, in: La Réforme de la Dynamique, hrsg. von Michel Fichant, Paris 1994, 69–173, hier: 63 ff. „Conatus pars infinitesimalis vis vivae“, SD, GM VI, 237. So Gueroult: Leibniz, a. a. O., 35.

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die beide analog zum Verhältnis von der Linie zum Punkt zu denken sind. Der Conatus ist kein homogener Teil des Impetus, sondern ein heterogener Teil, insoweit er dessen Voraussetzung oder Bedingung ist. Dies erkennen wir daran, dass Leibniz auch bei den Kräften erneut auf den Vergleich mit den geometrischen Entitäten zurückgreift: „Und außerdem verhält sich die lebendige Kraft (potentia viva) zu der toten Kraft […] wie die Linie zum Punkt oder wie die Ebene zur Linie“34. In demselben Sinne gilt: „Die lebendige Kraft verhält sich zu der Kraft, die ich tote Kraft nenne, wie das Unendliche zum Endlichen“35. Hier bezieht sich Leibniz indirekt auf Galilei, der argumentierte, die Kraft im Stoß sei unendlich größer als der Drang (nisus) der Schwerkraft36. Man kann auch sagen, dass sich in jeder Fallkurve der Impetus als momentaner Vektor darstellen ließe, der Conatus dagegen als Differenz zwischen den momentan aufeinander folgenden Fallvektoren oder als der Anfangspunkt eines Vektors. Es kann in jedem Ding auch verschiedene entgegengesetzte Conatus geben, die sich bei gleicher Stärke ggf. gegenseitig aufheben37 oder addieren38. Leibniz konzipiert dies in Form einer Anlehnung an das Kräfteparallelogramm39, das er auf infinitesimale Kräfte überträgt. Der Conatus ist demnach die momentane Geschwindigkeit einer Masse, formalisiert als m(dv/dt)40. Er wird im Specimen Dynamicum als gerichtete Geschwindigkeit definiert, was aber besser als Momentangeschwindigkeit oder Differential der Geschwindigkeit verstanden werden sollte. Leibniz betont später, dass alle Geschwindigkeit stets als Momentangeschwindigkeit zu verstehen ist41. Auch als Momentangeschwindigkeit verliert der Conatus nicht seine Ausrichtung, er wird im Prinzip auch als infinitesimal kleiner Vektor gedacht42. An anderer Stelle formuliert Leibniz den Impetus als das Integral des Conatus gemäß der tatsächlichen Geschwindigkeit, formalisierbar als ∫vdv43. Der Conatus ist als Kraft weder beobachtbar44, noch für sich genommen quantifizierbar; als Übergangsmoment aber, als Übergang eines Zustandes zum Nächs34 35 36

37 38 39 40 41 42 43 44

„Est autem potentia viva ad mortuam vel impetus ad conatum ut linea ad punctum vel ut planum ad lineam“, Brevis Demonstratio (1686), GM VI, 121. „La force vive est à la force que j’appelle morte, comme l’infini au fini“, Brief an Antonio Alberti, undatiert, GP VII, 445. Vgl. SD, GM VI, 251; siehe dazu auch Duchesneau, François: „Rule of Continuity and Infinitesimals in Leibniz’s Physics“, in: Goldenbaum, Ursula / Jesseph, Douglas (Hrsg.): Infinitesimal Differences. Controversies between Leibniz and his Contemporaries, Berlin 2008, 235– 254, hier 247. TMA, A VI, 2, 265. Ebd., 267 f. Zur Addition der Kräfte im Parallelogramm siehe die ausführliche Darstellung und historische Rekonstruktion bei Costabel, Pierre: Leibniz et la Dynamique, Paris, 1960. Siehe bspw. Rutherford: Leibniz and the Rational Order, a. a. O., 246. Siehe bspw.: „Toute vitesse est instantanée“, Brief an Varignon, 12. August 1707, GM IV, 159. „Velocitas sumta cum directione Conatus appellatur“, SD, GM VI, 237; siehe Capecchi, Danilo: History of Virtual Work Laws: A History of Mechanics Prospective, Heidelberg/New York 2012, 197 f. Brief an de Volder, 21. November 1698, GP II, 156. Siehe dazu ausführlicher Gueroult: Leibniz, a. a. O., 34. Siehe SD, § 1.

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Teil IV: Kraft und Materie

ten, ist er eindeutig real, mehr noch als der Impetus. Dieser kann mathematisch als m(ds/dt) formalisiert werden, also als mv. Damit entspricht er der Quantität des Conatus gemäß der Geschwindigkeit45. Es ist wichtig, hier hervorzuheben, dass der Impetus sich nicht aus einer Addition von Conatus-Momenten ergibt – ebenso wie die Linie nicht aus einer Addition von Punkten entsteht. Vielmehr wird ein Ganzes durch seine heterogenen Teile definiert und konstituiert. Dem Impetus liegt der Conatus zugrunde, er wird dem Körper hinzugedacht (intelligitur)46. Der Impetus macht die im Stoß erfahrbare Kraft aus, während der Conatus als Geschwindigkeitsdifferenz unerfahrbar ist. Im Specimen Dynamicum definiert Leibniz den Impetus als Produkt von Geschwindigkeit und Masse (mv)47. Der Conatus kann nur durch andere Conatus begrenzt werden, der Impetus nur durch einen oder mehrere weitere Impetus. Die Beschleunigung kann durch eine entgegengesetzt ausgerichtete Bewegung zwar verringert, aber nicht begrenzt werden. Leibniz verwendet sogar zwei unterschiedliche Termini für die Bewegung: motio für die momentane Bewegung, motus für die Bewegung in der Zeit48. Die Ausübung der Kraft in der Zeit ist das „In-Bewegung-Setzen“ (actio motrix), welches der wirkliche, verzeitlichte Effekt des Impetus in Form konkreter Körperbewegungen ist. Der Stoß ist dabei das paradigmatische Element der Kraftübertragung. Zwar wird die im Stoß übertragene lebendige Kraft als mv2 formalisiert, was auch die Formel für die Kraft ist, die sich im Universum erhält. Dies entspricht Leibniz’ Forderung, die Kraft solle nach ihrer Wirkung gemessen werden. Gleichwohl kennt Leibniz auch eine Bewegungskraft mv, die er für die Berechnung einer Kraftübertragung im Kräfteparallelogramm benötigt. Mit mv wird die Kraft berechnet, die sich nicht in einer Wirkung zeigt, die aber als Teilkraft in eine Wirkung eingeht. Es hat den Anschein, dass Leibniz die ontologische Dependenz, das Resultieren einer Entität aus einer anderen, mit der Integralrechnung modellieren möchte. Beispielsweise kann eine phänomenal gegebene Bewegung als die Ausübung des Impetus über die Zeit verstanden werden. Dies ist die actio motrix, ihr entspricht als physikalische Formel die lebendige Kraft (mv2). Dies ist dann eine abstrakte Theoretisierung des Verhältnisses von Bewegung, Masse und Strecke und ist rein intelligibel, weil der Formel mv2 keine Phänomene mehr entsprechen. Der Impetus wäre dann m(ds/dt) oder mv und bezieht sich auf die konkret erlebbare Bewegung der Körper zu einem gegebenen Zeitpunkt. Der Conatus ist als Ableitung dessen 45

46

47 48

„Impetum esse quantitatem motus sed non nisi momentanei, et aptius dici quantitatem conatus; ac proprie loquendo, cum motus tempore indigeat, id potius quantitatem motus fore, quod oritur ex conatuum toto tempore existentium aggregato, et a nobis infra dicitur quantitas translationis.“ Dynamica de Potentia, GM VI, 399. Bspw. GP IV, 397: „Hinc autem intelligitur, etsi admittatur vis illa primitiva seu Forma substantiae (quae revera etiam figuras in materia determinat, dum motum efficit), tamen in vi elastica aliisque phaenomenis explicandis semper procedendum esse mechanice, nempe per figuras quae sunt modificationes materiae, et per impetus, qui sunt modificationes formae.“ Siehe ebenso den Brief an De Volder, 30 Juni 1704, GP II, 269, den Brief an Joh. Bernoulli, 20 Juni 1703, GM III, 720; u. ö. Vgl. SD, GM VI, 237. SD, GM VI, 237. Vgl. Gueroult: Leibniz, Dynamique et Métaphysique, a. a. O., 35; Rutherford: Leibniz and the rational order, a. a. O., 262.

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als m(dv/dt) formalisierbar49, was mathematisch äquivalent ist mit der Masse multipliziert mit der Beschleunigung (ma). Damit vollzieht Leibniz die Schritte vom bloß ideal Denkbaren über das phänomenal Gegebene zum substanziell Realen hin und findet dafür eine mathematische Interpretation. Der Verweis auf die Punkt-Linie-Analogie soll hier als mereologisches Muster dienen, wie sich die kausal wirksamen Momente der phänomenalen Wirklichkeit zur grundlegenden substanziellen Realität verhalten. Die mathematischen Formalisierungen der Kräfte sind nichts als menschengemachte Abstraktionen, die uns helfen sollen, die Kräfte und ihre Verhältnisse auf systematische und präzise Weise zu durchdenken50 – und damit eben auch die hier diskutierten Konstitutionsverhältnisse. Bei dieser Interpretation stößt man gleichwohl auf ein Problem. Es finden sich Passagen bei Leibniz, in denen er gerade behauptet, der Impetus könne durch die Wiederholung des Conatus gegeben werden: Woraus offenkundig ist, dass das Streben ein doppeltes ist, und zwar sowohl elementar, das heißt unendlich klein, welchen ich auch Anregung (solicitatio) nenne, als auch durch die Weiterführung (continuatione) oder Wiederholung des elementaren Strebens gebildet, das heißt der Impetus selbst. […] Daher ist auch die Kraft zweifach: die eine elementar, die ich auch tot nenne, denn in ihr existiert noch keine Bewegung, sondern lediglich die Anregung zur Bewegung […]; die andere aber ist die gewöhnliche Kraft, mit wirklicher Bewegung verbunden, die ich lebendig nenne.51

Dies scheint der Idee zu widersprechen, dass der Conatus sich zum Impetus verhält wie der Punkt zur Linie, denn Leibniz hat ausgiebig dargelegt, dass die Linie sich nicht aus Punkten zusammensetzt und demnach keine bloße Aneinanderreihung der Punkte sein kann (siehe Teil II, Kapitel 1.1). Im Specimen Dynamicum folgt auf obiges Zitat dann die Beschwichtigung, dass diese Aneinanderreihung keineswegs wörtlich zu verstehen ist: „Doch möchte ich deswegen nicht behaupten, dass diese mathematischen Wesenheiten tatsächlich so in der Natur gefunden werden, sondern lediglich, dass sie zur Anstellung genauer Schätzungen durch Abstraktion des Geistes nützlich sind.“52 Hier geraten Sprache und Mathematik an ihre Grenzen, wenn es darum geht, die Bedingungsverhältnisse quantifizierbarer Kräfte gegenüber ihrem nicht-quantifizierbaren Ursprung zu erfassen. Die infinitesimal kleinen Kräfte sind nicht dazu nutzbar, um die Ursache physischer Veränderungen konkret zu erfassen. Vielmehr sind sie dazu dienlich, die Ursache als eine sich selbst erneuernde Ursache zu verstehen: In einem Briefwechsel mit Hermann diskutiert Leibniz die Frage ob man m(dv/dt) oder m(ds/dt) als Ursache einer Bewegung ansehen soll. Er 49 50 51

52

Siehe bspw. Rutherford: Leibniz and the Rational Order, a. a. O., 246. Siehe dazu bspw. Garber, Daniel: „Dead Force, Infinitesimals, and the Mathematicization of Nature“, in: Goldenbaum, Ursula / Jesseph, Douglas (Hrsg.): Infinitesimal Differences. Controversies between Leibniz and his Contemporaries, Berlin 2008, 281–306. „Hinc patet duplicem esse Nisum, nempe elementarem seu infinite parvum, quem et solicitationem appello, et formatum continuatione seu repetitione Nisuum elementarium, id es impetum ipsum. […] Hinc Vis quoque duplex: alia elementaris, quam et mortuam appello, quia in ea nondum existit motus, sed tantum solicitatio ad motum […], alia vero vis ordinaria est, cum motu actuali conjuncta, quam voco vivam.“ SD, GM VI, 238. „Quanquam non ideo velim haec Entia Mathematica reapse sic reperiri in natura, sed tantum ad accuratas aestimationes abstractione animi faciendas prodesse.“ SD, GM VI, 238.

246

Teil IV: Kraft und Materie

kommt zu dem Schluss, dass man beide mit den gleichen Argumenten als Ursache bezeichnen kann. Alle wirklichen Ursachen aber liegen in den Körpern selbst bzw. in den ihnen ontologisch zugrunde liegenden Entitäten und sind keinesfalls in den transitiven Ursachen zu suchen: „Dann, in den einfachsten Elementen, wie sie hier zur Debatte stehen, fragt man sich nicht, was die wirkende Ursache in einem anderen Ding bewirkt, sondern was sie in sich, also in der Ursache selbst bewirkt.“53 Es wurde bereits festgestellt, dass Körper zu ihrer Materialität selbst eine Kraft benötigen, die in ihnen wirkt. Doch obige Formeln binden die Kraft an die Bewegung. Würde ein ruhender Körper dann sämtliche Kräfte und damit auch alle Materialität verlieren? Dazu findet sich folgende Überlegung in De Ipsa Natura (1698): Würde man die Bewegung als unausgedehnt, d. h. ohne zurückgelegte Strecke denken, dann könnte ein bewegter Körper zu einem bestimmten Zeitpunkt t nicht unterschieden werden von einem unbewegten Körper zum selben Zeitpunkt t. Stattdessen muss selbst bei momentaner Betrachtung des Körpers Bewegung gegeben sein – wenigstens ansatzweise als Beschleunigung, bzw. als Bewegungstendenz von einer in momentaner Betrachtung konstruierten fiktiven Ruheposition aus. Damit wirkt in den Körpern stets und unaufhörlich ein infinitesimal kleiner Conatus als die Ursache der lebendigen Kraft, die dem als Substanz verstandenen Körper innewohnt. Mit der Annahme des Conatus als einer infinitesimal kleinen, unentwegt und überall wirkenden Kraft verhindert Leibniz auch, dass sich im Stoß zweier Körper die Geschwindigkeit des einen im Moment des Zusammenpralls auf Null reduziert, um dann im Moment der Abstoßung wieder anzuwachsen – ein Problem, das durch den Atomismus aufgeworfen wird. Da Leibniz aber annimmt, dass jedem Körper zu jeder Zeit ein Conatus innewohnt, so steckt auch in jedem Körper ein Streben nach Bewegung, das sich nur unter den richtigen Umständen realisiert. Für die Bewegungslehre bedeutet dies, dass die Körper sich jederzeit im Zustande einer infinitesimal kleinen Bewegung befinden, die je als möglicher Anfang einer noch nicht realisierten Bewegung dienen. Der Conatus begründet ebenfalls die körperliche Widerständigkeit der Körper, da sich zwei derartige Bewegungsansätze abstoßen können, ohne dass sich die Körper selbst durchdringen54; dies kann das Abstoßungsphänomen im Stoß erklären. Dabei handelt es sich beim Conatus nicht 53

54

„Deinde in simplicissimis Elementis, ut hic, non quaeritur, quid causa agens in alio producat, sed quid in ipsa, nempe causa.“ Brief an Hermann, 1. Februar 1713, GM VI, 388; vgl. Duchesneau: „Rule of Continuity and Infinitesimals in Leibniz’s Physics“, a. a. O., 251 f. Für eine ganz andere Deutung dieser Stelle, in der diese Debatte mit Hermann vor dem Hintergrund der Rezeption Newtons diskutiert wird, siehe Stammel: Der Kraftbegriff in Leibniz’ Physik, a. a. O., 47 ff. „Si igitur unum conatur intrare in locum alterius, alterumque (ne detur penetratio dimensionum) ex eo expellere, sequitur ut primo momento temporis jam sit in primo puncto loci, quem intrat, extremo puncto suo ingressum; sed eodem primo momento alterum, expellendum, nondum est egressum; duo igitur puncta seu extremitates corporis, expellentis et impulsi, se penetrant (datur enim punctorum, non corporum, penetratio) et proinde unum sunt.“ Ebd. Entscheidend ist hierbei, dass es nicht die materiellen Körper selbst sind, die sich im Stoß durchdringen und abstoßen, sondern der Ansatz zur Bewegung, also die Minimalkraft, die je einem den äußersten Rand des Körpers markierenden Raumpunkt zugeordnet ist.

Die Grundbegriffe der Dynamik

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um einen echten Teil von Körpern oder Bewegungen, sondern um einen Extrempunkt, bzw. eben den Anfang einer Bewegung55. Wieder einmal konzipiert Leibniz kausale Einwirkung und geometrische Konstruktionen strukturanalog zueinander. Die infinitesimal kleine Kraft ist auch für die Erklärung der stetigen Bewegungsänderung notwendig. Leibniz wirft Descartes vor, die infinitesimale, ‚tendenzielle‘ Bewegung nicht mathematisch erfassen zu können und dadurch den Übergang zwischen unbewegten und bewegten Körpern als radikalen Sprung konzipieren zu müssen – doch die Natur macht gerade keine Sprünge, was schon aus Leibniz’ Prinzip des Kontinuums folgt. Demnach wird die Idee einer absoluten Ruhe verworfen und durch einen mit den Mitteln der Infinitesimalrechnung berechenbaren Bewegungsbegriff ersetzt. Ein weiterer Grund für die Einführung des Kraftbegriffs wird am Anfang des Discours genannt: Durch ihn wird das Verständnis des Kausalnexus gegenüber einer bloß formalen Ontologie erheblich erweitert und so wird eine Fundierung der Bewegungen in der Substanz ermöglicht und die Begründung der Beschleunigungen jenseits der Erscheinungen erreicht. Dieser Kraftbegriff verhindert auch den oben dargelegten „monistischen Kollaps“, der Welt und Gott mangels Differenz zwischen Grund und Begründetem zusammenfallen ließe. Durch die ursprüngliche Kraft werden die Geschöpfe vom Schöpfer unterschieden56 und dies legitimiert es, die Ursache einer Handlung in den Geschöpfen und nicht mehr bei Gott zu suchen. Die primitive Kraft ist dabei in Bezug auf die physischen Dinge dennoch ratio extra rem, denn sie ist nicht in den Körpern, sondern in den als Geister zu denkenden Substanzen verortet, auch wenn sie vermittels der derivativen Kraft in den Körpern wirkt. Die aktiven Kräfte, die wir als Bewegungsursachen denken, nennt Leibniz auch tote und lebendige Kräfte, die mit den Begriffen von Conatus und Impetus verknüpft sind und die Leibniz an manchen Stellen miteinander assoziiert. Es findet sich nirgends in Leibniz’ Schriften ein Versuch, auch die toten und lebendigen Kräfte zu formalisieren und diese scheinen im Rahmen der gesamten Theoriearchitektur der Dynamik weniger sorgfältig ausgearbeitet zu sein. Der Begriff der vis viva, erstmals verwendet in De corpore concursu (1678), wird benutzt, um die Eigenbewegung der Körper im Stoß zu beschreiben57. Die Kraft wird dabei vor allem ex post facto vom Effekt her verstanden. Später, im Specimen Dynamicum, betont Leibniz, dass die lebendige Kraft stets mit dem Impetus verbunden ist58, was wohl der Grund dafür sein mag, dass er beide Begriffe nicht immer voneinander abgrenzt. Sie unterscheiden sich gleichwohl darin, dass die lebendige Kraft als mv2 verstanden wird und damit die im Stoß übertragene Kraft ist, während der Impetus als mv begriffen ist und damit der Kraftbegriff ist, der für die Zusammensetzung der Kräfte im Kräfteparallelogramm benötigt wird. 55 56 57 58

Brief an Oldenburg, 11. März 1671, A II, 1 (2. Auflage), 146 f. DM § 1, A VI, 4, 1531. Vgl. dazu auch Blank, Andreas: Der logische Aufbau von Leibniz’ Metaphysik, Berlin 2001, 105. „Impetus cum vis viva semper sit conjunctus“, SD, GM VI, 238.

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Teil IV: Kraft und Materie

Als Beispiel für eine tote Kraft, die eine bloße ‚Neigung‘, eine Tendenz zur Bewegung ist und die (noch) nicht in eine echte Bewegung mündet, nennt er im Specimen Dynamicum die Schwerkraft59, die Spannkraft einer gespannten elastischen Feder sowie die Zentrifugalkraft eines rotierenden Körpers60. Diese Beispiele sagen viel darüber aus, wie Leibniz die Bewegungsursache in den Körpern selbst sieht. Diese Beispielen können allesamt nicht mit dem mechanischen Paradigma der Kraftübertragung im Stoß modelliert werden. Es scheint sich hierbei um nichts anderes als immanente Ursachen zu handeln, die in der Materie des Körpers selbst verortet und durch dessen Masse bedingt sind. Dies wird allein schon daran deutlich, dass Leibniz diese Formen der Verursachung im selben Absatz noch vom transitiv wirkenden Stoß abgrenzt: Aber beim Stoß […] ist die Kraft lebendig, aus unendlich vielen fortgesetzten Einprägungen der toten Kraft entstanden. Und dies ist es, was Galilei wollte, als er mit rätselhafter Redeweise die Kraft des Stoßes unendlich nannte, nämlich wenn sie mit dem einfachen Drang der Schwerkraft verglichen würde.61

Die lebendige Kraft, die sich im Stoß überträgt, ist unendlich größer als die infinitesimal geringe tote Kraft, die im Körper anhand von Elastizität, Gravitation oder Fliehkraft zu einer Bewegung Anlass gibt. Dieser Aspekt scheint mir von höchster Bedeutung zu sein: Die tote Kraft ist eine Kraft, die vor allem aus der Materialität der Körper resultiert, nicht aber durch äußere Einwirkung erzeugt wird.62 Die Elastizität der gespannten Feder ist dafür ein Beispiel: Die Materialität des Körpers selbst führt dazu, dass dieser zu einem bestimmten Zustand neigt. Hier wird impli59

60 61 62

In seinen frühen Schriften sieht Leibniz die Schwerkraft als Ergebnis der Kreisdrehung der Erde durch den Äther, wodurch Wirbel erzeugt werden, welche die Körper zum Erdzentrum hinabdrücken, vgl. HPN, GP IV, 186; siehe auch A II, 1 (2. Auflage), 104 f.; 120 f., u. ö. Der Äther ist dabei eine allgemeine und omnipräsente Ursache, die ein Teil der göttlichen Weltökonomie ist, vgl. bspw. A VI, 2, 238. Diese Deutung der Schwerkraft ist noch sehr mechanistisch gedacht; die hier genannte Parallelisierung der Schwerkraft mit der Elastizität aber scheint mehr in eine andere Richtung zu führen, in der die Gravitation als dynamische, körperimmanente Kraft zu denken ist. Allerdings gibt es Indizien, dass Leibniz auch später noch an der Äthertheorie festgehalten hat, diesen dann aber als die ubiquitäre Dispersion des Conatus durch die Körper konzipiert und so wiederum auch die Elastizität der Körper begreift, siehe SD, GM VI, 251. Zur Bedeutung der Äthertheorie in Leibniz’ frühen Schriften siehe Busche, Hubertus: „Präetablierte Harmonie und Monadenlehre“, in: Reydon, Thomas A. C. / Heit, Helmut / Hoyningen Huene, Paul (Hrsg.): Der universale Leibniz, Stuttgart 2009, 63–84. Dabei sollte allerdings die Umdeutung des Conatus als mechanistischer Bewegungsbegriff hin zu einem dynamischen Kraftbegriff nicht außer Acht gelassen werden. „Et vis mortuae quidem exemplum est ipsa vis centrifuga, itemque vis gravitatis […], vis etiam qua Elastrum tensum se restituere incipit“, SD, GM VI, 238; vgl. dazu Stammel: Der Kraftbegriff, a. a. O., 252 ff. „Sed in percussione […] vis est viva, ex infinitis vis mortuae impressionibus continuatis nata. Et hoc est quod Galilaeus voluit, cum aenigmatica loquendi ratione percussiones vim infinitam dixit, scilicet, si cum simplice gravitatis nisu comparetur.“ SD, GM VI, 238. Michael Wolff schreibt dazu, dass Leibniz an den Sprachgebrauch der Mühlenbauer anlehnt, „die von ‚toter Kraft‘ in Bezug auf das in ‚toten‘ Gewässern enthaltene Bewegungspotential reden.“ Ders.: Geschichte der Impetustheorie. Untersuchungen zum Ursprung der klassischen Mechanik, Frankfurt a. M. 1978, 309–310.

Die Grundbegriffe der Dynamik

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zit deutlich, wie die Kräfte auch mit der Masse zusammenhängen und die Bewegung entsprechend der Masse realisiert wird. Die Körper streben von sich aus dazu, sich in eine bestimmte Richtung zu bewegen und sie bewegen sich auch von selbst, wenn sie nicht gehindert werden. Dabei scheint die tote Kraft sowohl mit der materiellen Spannung, resultierend aus dem der Materie selbst innewohnenden Drang zur Bewegung, dem Conatus, als auch mit dem modernen Begriff der potenziellen Energie übereinzustimmen63. Das Beispiel kann gleichwohl in die Irre führen, weil Leibniz Gravitation nicht im Sinne Newtons als fernwirkende Kraft versteht, sondern in seinen frühen Schriften als Effekt der Rotation der Körper im Äther konzipiert, woran er auch später noch festhalten wird. Dies erlaubt es, in gewissem Maße zumindest das obige Beispiel des fallenden Steines doch im Sinne transitiver Ursachen zu begreifen. Doch auch auf dieses Argument geht Leibniz an anderer Stelle ein: Sondern die aktive Kraft enthält einen gewissen Akt selbst oder die Entelechie und ist zwischen der Möglichkeit (facultas) der Handlung und der Handlungen selbst ein Mittler(es) und enthält einen Conatus. So bringt sie sich selbst in das Wirken [des Körpers] ein. Sie bedarf keiner Hilfe, sondern nur der Aufhebung der Hindernisse. Dies kann am Beispiel des schweren Körpers gezeigt werden, der die Schnur belastet, an der er hängt, oder anhand eines gespannten Bogens. Denn wenngleich Schwerkraft oder Elastizität mechanisch durch die Bewegung des Äthers erklärt werden können und sollen, so liegt dennoch die letzte Ursache der Bewegung in der Materie in der Kraft, die durch die Schöpfung der Materie eingegeben wurde, und die jedem Körper innewohnt, auch wenn sie auf verschiedene Weise durch den Zusammenstoß der Körper untereinander limitiert und begrenzt wird.64

Entscheidend ist, dass hier die Elastizität und Schwerkraft zwar auch durch die Übertragung eines Impetus erklärt werden können, der aus dem Äther in den Körper vermittelt wird, die eigentliche Erklärung aber liegt in der sich selbst erneuernden Ursache, die konstitutiv für den Körper ist und durch den Begriff des Conatus bezeichnet wird. Die in den Erklärungen der Mechanik verwendeten Entitäten verbleiben stets auf demselben ontologischen Niveau wie die zu erklärenden; will man aber zu den eigentlichen Erklärungen und den letzten Ursachen vordringen, dann verlässt man den Bereich der Körper und bezieht sich auf das ureigene Wesen der Schöpfung und damit des Seins selbst, in dem Bewegungen und quantifizierbare Kräfte keine Rolle mehr spielen. Ähnliches gilt auch für die Zentrifugalkraft, die man im Vergleich zum transitiv übertragenen Impetus als „Pseudo-Kraft“ bezeichnen kann, denn es handelt sich vor allem um ein Trägheitsphänomen, also um eine Neigung zur Bewegung, die daraus folgt, dass es sich hier überhaupt um einen materiellen Körper handelt65. 63 64

65

Siehe Broad, Charlie D.: Leibniz: An Introduction, Cambridge 1975, 66. „Sed vis activa actum quendam sive ejntelevceia continet, atque inter facultatem agendi actionemque ipsam media est, et conatum involvit; atque ita per se ipsam in operationem fertur; nec auxiliis indiget, sed sola sublatione impedimenti. Quod exemplis gravis suspensi funem sustinentem intendentis, aut arcus tensi illustrari potest. Etsi enim gravitas aut vis elastica mechanice explicari possint debeantque ex aetheris motu, ultima tamen ratio motus in materia est vis in creatione impressa, quae in unoquoque corpore inest, sed ipso conflictu corporum varie in natura limitatur et coërcetur.“ De prima philosophiae emendatione (1694), GP IV, 469. Siehe bspw. Hacking, Ian: „Why Motion is Only Well-Founded“, in: Okruhlik, Kathleen /

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Teil IV: Kraft und Materie

In den rein geometrisch zu denkenden Körpern der Mechanik – oder den Körpern, deren Realität nach Descartes rein durch die Ausdehnung konstituiert wird – findet sich weder der wahre Grund der Elastizität, noch der Schwere oder Fliehkraft. Hier bricht Leibniz mit seiner frühen Theorie der Körper: Die Geometrie ist zwar noch die mit Quantitäten operierende Leitwissenschaft der einfachen Mechanik, kann aber die qualitativ zu fundierende Wissenschaft der Dynamik nicht erfassen. Die Elastizität aber ist die notwendige Bedingung für die Krafterhaltung im Stoß ist und kann nicht durch die Mechanik modelliert werden, sondern erfordert den Rückgriff auf körpereigene Kräfte. Die Theorie der Konstitution körperlicher Wirklichkeit durch Kräfte muss also gegenüber der geometrischen Konstruktionsmethode primär sein. Die quantitative Wissenschaft der Körper muss in einer auf Qualitäten gestützten Theorie der Kräfte begründet sein. Die primitive Kraft ist die absolute (!) Grundlage der stets nur relativen Bewegung. Die mathematische Konstruktion der Körper verliert dennoch nicht ihre Berechtigung als Wissenschaft der Körper, da Leibniz an der Position festhält, dass die jeweilige Gestalt (figura) eines konkreten Körpers durch eine Abfolge von Bewegungen begründet ist. Doch Leibniz kann das Wesen der Bewegung und ihrer Übertragung in einer Metaphysik der Körper begründen, die ihn dann zu seinem Substanzbegriff führt. Deswegen wird es immer wieder heißen, die Quelle der Mechanik liegt in der Metaphysik (s. u.). Gegenüber de Volder betont Leibniz sogar, die Bewegungslehre als substantielle Aktivität verstanden sei „die Pforte, durch die man von den Dingen zur wahren Metaphysik schreiten kann“66. Diese Neigung oder Tendenz, die von Leibniz als Conatus bezeichnet wird, zeigt sich nicht in der Bewegung, sondern im Übergang von der Ruhe zur Bewegung. Damit handelt es sich um eine Potenzialität, die am Anfang jeder Veränderung steht. Diese wiederum ist einerseits im Sinne Galileis als eine infinitesimale Geschwindigkeit zu denken, andererseits ist sie bloß potenzieller Natur, weil sie jederzeit in wirkliche, d. i. quantitativ messbare Bewegung wechseln kann, etwa wenn Hindernisse beiseite geräumt werden. Wird beispielsweise das tragende Element unter einem empor gehobenen Körper ruckartig entfernt, so wird dieser herabfallen: So geht eine Fallbewegung, konzipierbar als endlicher Kraftvektor, aus dem Ruhezustand hervor, bzw. eine Linie (die Fallbewegungsbahn) resultiert aus einem Punkt (dem zugrunde liegenden und die Bewegung begründenden Ruhezustand). Der Conatus stammt aus den Körpern selbst und bewirkt immanent ursächlich, dass die Körper sich ihrem Wesen gemäß bewegen, etwa zu Boden fallen. Wenn sich diese aktive Kraft in eine Bewegung realisiert, also in wirkliche Veränderung resultiert, dann sieht Leibniz dort auch das Wirken einer Entelechie gegeben, womit ein fortwährendes Gesetz für die anhaltende Abfolge von Veränderungen gemeint ist67.

66 67

Brown, James B.: The Natural Philosophy of Leibniz, Dordrecht 1985, 131–150, hier 135. „Hanc esse portam, per quam transire e re sit ad Metaphysicam veram“, Brief an de Volder, 1699, GP II, 195. Siehe entsprechend dazu TD § 349, GP VI, 321. „In vi Activa varie sese per motus exercente Entelechiam primitivam et ut verbo dicam aliquid Animae analogum agnosco, cujus natura in perpetua quadam ejusdem seriei mutationum lege

Die Grundbegriffe der Dynamik

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Dies ist gleichwohl, wie wir sehen werden, nicht die einzige Funktion des Entelechiebegriffs, der für Leibniz an entscheidender Schnittstelle zwischen der Theorie der Körper und der Theorie der Individuen sitzt. Die Entelechie ist zudem, wie noch genauer erläutert wird, die substanzielle Form des jeweiligen Individuums und begründet so die Selbstverwirklichung desselben in der Zeit, etwa in Form von gezieltem Wachstum, von willentlicher Selbstbestimmung, usw. Die neue Rolle der Kraft als Grund für potenzielle und faktische Bewegung macht auch verständlich, warum Leibniz den Conatus mit der toten, den Impetus mit der lebendigen Kraft assoziiert: Der Impetus impliziert ganze Organismen als sich selbst bewegende oder bewegte Entitäten, die auf lebendige Weise in das ‚tote‘ Naturgeschehen eingreifen. Der Conatus dagegen ist die in jedem einzelnen Materiepunkt wirkende Kraft, die aber für sich genommen über keine übergeordnete Organisation verfügt, sondern gewissermaßen ‚automatisch‘ oder von selbst der natürlichen Ordnung folgt, um zum Zustand größter Harmonie zurückzukehren. Dies ist auch und besonders dann der Fall, wenn ein Körper gegen sein natürliches Wesen verformt wurde oder ihm eine Ortsänderung aufgezwungen wurde: Ähnlich wie der hochgehobene Stein zur Erde zurückstrebt, so strebt die Feder danach, wieder in ihren entspannten Zustand zurückzukehren68. Dies ist die metaphysische Voraussetzung der Physik: „Ich gestehe, dass jedes einzelne Ding in seinem Zustand verharrt, bis es einen Grund für die Veränderung gibt; dies ist ein Prinzip metaphysischer Notwendigkeit.“69 Erst in der intentionalen Ausrichtung der in einem Körper wirkenden, primitiven Kräfte durch eine Entelechie wird aus diesem Folgen der natürlichen Ordnung echtes Verhalten. Der momentan zu denkende Conatus70 wird so zur Voraussetzung des Impetus. Während der Impetus als f=mv formalisiert werden kann, so ist dem Conatus dagegen lediglich in derselben Formel eine infinitesimal kleine Masse m und eine infinitesimal kleine Geschwindigkeit v zuzugestehen, da er ja erst als Anfang einer Bewegung gedacht wird und lediglich einem Körperpunkt zugeschrieben werden kann. Nur so ist es verständlich, warum allen Körpern eine tote Kraft innewohnt: Diese wird erst dann zur lebendigen Kraft, wenn sich der Conatus über eine hinreichende Zeit entfalten konnte und der Ansatz zur Bewegung sich zu einer echten Bewegung entfaltet hat. Leibniz nennt dies „unendlich viele Einprägungen“: Beim Stoß, der sich aus einem schon eine Weile lang fallenden Gewicht ergibt, oder aus einem sich eine Weile lang wiederherstellenden Bogen, oder aus einer ähnlichen Ursache, ist die Kraft lebendig, entstanden aus unendlich vielen fortgesetzten Einprägungen der toten Kraft.71

68 69 70 71

consistit, quam inoffenso pede decurrit.“ Brief an de Volder, 24. März / 3. April 1699, GP II, 171. Siehe dazu Stammel: Der Kraftbegriff, a. a. O., 256. Brief an de Volder, 24. März / 3. April 1699, GP II, 170. Hier lehnt sich Leibniz an seine frühere Konzeption des momentanen Geistes (mens momentanea) als Grund der Bewegung an. „In percussione, quae nascitur a gravi jam aliquamdiu cadente, aut ab arcu se aliquamdiu restituente, aut a simili causa, vis est viva, ex infinitis vis mortuae impressionibus continuatis nata.“ SD, GM VI, 252 f.

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Teil IV: Kraft und Materie

Diese „Einprägungen“ bezeichnen nichts anderes als das Verhältnis eines ausgedehnten, massehaltigen und bewegten Körpers zu den ihn ausmachenden Körperund Massepunkten und den ihnen je zugeschriebenen, infinitesimal kleinen Bewegungsmomenten – zu einem Zeitpunkt. Leibniz bezeichnet die über einen bestimmten Zeitraum ausgedrückte Kraft als Ganzes als „Handlung“ (actio, s. u.), d. h. die gesamte Fallkurve eines Gegenstandes (oder Abschnitte derselben) mitsamt allen vektoriell zu denkenden Kraftmomenten. An dieser Unterscheidung zwischen lebendigen und toten Kräften kann man auch die Differenz zwischen Leibniz’ Dynamik und der antiken Mechanik festmachen. Letztere hat vor allem das Verhalten der Körper entsprechend ihrer geometrischen Verhältnisse untersucht, die Raumstrecken, Fallhöhen, Neigungen usw., darstellen. Die frühneuzeitliche Dynamik dagegen betrachtet vor allem die den Körpern zugeschriebenen, quantifizierbaren Kräfte, etwa die Masse oder die Beschleunigung. Ein entscheidender Faktor, in dem Galilei die Abkehr der modernen von der antiken Mechanik vorangetrieben hat, besteht in der Ablehnung der aristotelischen Fallgesetze: Nach Aristoteles fallen die Körper unterschiedlich schnell, nach Galilei aber würden sie im Vakuum, also ohne Widerstand, mit gleicher Geschwindigkeit fallen. Dies ist eine der Grundlagen der modernen Fallgesetze, die neben der geometrischen Mechanik die Musterbeispiele der neuzeitlichen Physik sind. Tote und lebendige Kräfte werden zwar in der antiken Bewegungslehre in der Unterscheidung zwischen menschengemachter und natürlicher Bewegung bzw. Bewegungsgründe vorgedacht, aber Leibniz kann die lebendige Kraft als Resultat der toten Kraft begreifen und damit den Kraftbegriff vereinheitlichen bzw. auf eine substanzielle Grundlage stellen, ohne dabei beide Kräfte einander anzugleichen. Er kann so unterschiedliche Beschreibungs- und Erklärungsweisen akzeptieren, ohne eine Differenz in der zugrunde liegenden Ontologie postulieren zu müssen. Die von Galilei initiierte Ablehnung der antiken Unterscheidung zwischen natürlichen und künstlichen Bewegungen behält Leibniz gleichwohl bei, beide können gleichermaßen zutreffend nach den Methoden der modernen Wissenschaft untersucht werden. Die durch ihre Wirkungen erfahrbare Kraft muss als Quantität begriffen werden. Für Leibniz ist das Paradigma der Quantität eine endliche Linie: So wie der Punkt die mitzudenkende Voraussetzung der Linie ist, so ist auch die messbare Kraft nur vermittels unmessbar (d. i. infinitesimal) kleiner Kraftansätze, d. h. Ansätze zur Bewegung, denkbar. Um unter der Voraussetzung, dass die Natur keine Sprünge macht, eine kontinuierliche Veränderung der Geschwindigkeit oder der Richtung beim Stoß zu erklären, muss die Kraft (und mithin die Veränderung selbst) an einem bestimmten einzelnen Raum- und Zeit-Punkt minimal, also infinitesimal klein sein72: Nicht Nichts, aber auch noch keine messbare Größe. 72

Leibniz ist sich des Modellcharakters dieser mathematischen Überlegungen bewusst. Er bezeichnet die infinitesimal kleinen Einheiten analog zu den imaginären Zahlen als überzeugende theoretische Einheiten (Fiktionen). Es gibt keine aktualen infinitesimalen Größen (vgl. einen Brief an Joh. Bernoulli, 7. Juni 1698, GM III, 499 f.). Die Rechtfertigung der Fiktionalität dieser Einheit des Infinitesimalen findet statt in Bezug auf die Wirklichkeit der Erfahrung, die immer nur Messbares enthält, und in Bezug auf die Wirklichkeit der Substanz: Die Sprache, d. h. die Sätze, in der die infinitesimal kleinen Einheiten verwendet werden, ist nicht fiktional,

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Michael-Thomas Liske weist darauf hin, dass Leibniz diese punktuelle Elementarbewegung nicht nur aus mathematischen Gründen einführt, sondern auch deshalb, um auf Körperebene den Potenz-Akt-Gegensatz zu überwinden. Sie ist noch keine aktuelle Bewegung, die Erstreckung verlangt, aber auch keine bloße Potenz, weil ein solcher Bewegungsansatz von sich aus ohne äußere Hindernisse in den Akt übergeht. Leibniz denkt den Begriff des Conatus aber weiter, transformiert ihn von der Minimalbewegung zum Streben73.

Der Conatus hat in Bezug auf die Körper dieselbe Funktion wie die aktive primitive Kraft in Bezug auf die Modifikationen der Substanz: Die kontinuierliche Verwirklichung des bloß Virtuellen zu vermitteln. Beide müssen als im gleichen Maße fundamental, unreduzierbar und konstant gedacht werden. Streng genommen unterscheiden sie sich aber nur de dicto, nicht de re, weil die Körper, wie wir gesehen haben, auf die Perzeptionen der Substanz zurückgeführt werden können und weil die Annahme zweier gänzlich verschiedener Kraftarten auch zu einem Substanzendualismus führen würde, den Leibniz gerade ablehnt. Dementsprechend gibt es eine methodische Differenz zwischen dem Begriff des Impetus und dem des Conatus: Es handelt sich zwar um zwei Kraftbegriffe, von denen der eine der Metaphysik, der andere der Physik angehört; aber es handelt sich nicht um prinzipiell ontologisch verschiedene, voneinander unabhängige Kräfte bzw. Entitäten, sondern um einzelne Kräfte oder unendlich viele derselben, die dann eine neue Qualität erreichen – analog zum Verhältnis zwischen Differential und Integral, zwischen Punkt und Linie, Endlichem und Unendlichem. Sie ergeben sich aus der ursprünglichen substanziellen Aktivität, sie sind Modifikationen derselben74. Die aktive Kraft ist als Ursache der Handlungen zu begreifen, aber zugleich in der Metaphysik der Möglichkeiten begründet, die in der Substanz virtuell angelegt sind: Die aktive Kraft enthält den Akt selbst oder die Entelechie und sie ist zwischen der Handlungsfakultät und der Handlungen selbst ein Mittler(es); und so bringt sie sich selbst in die Operationen [des Körpers] ein; sie bedarf keiner Hilfe, sondern nur der Aufhebung der Hindernisse.75

Das beobachtbare Handeln aber lässt sich nur in den Begriffen der derivativen Kraft feststellen. Doch welcher Widerstand kann der Kraft entgegenwirken? Soweit sich der Impetus nur aus mess- und erfahrbaren Quantitäten zusammensetzt, gehört er damit zu den kontinuierlichen, erfahrbaren Entitäten. Er drückt sich als lebendige bzw. abgeleitete Kraft in der Zeit aus und gehört daher nicht derselben Größenordnung an wie die primitiven, toten Kräfte bzw. Entelechien. Diese sind elementar

73 74 75

sondern erklärt effektiv aktuale Entitäten (vgl. Brief an Varignon, 2. Februar 1702, GM IV, 93. Vgl. dazu: Ishiguro: Leibniz’s Philosophy of logic and language, a. a. O., 79–100). Liske, Michael-Thomas: Gottfried Wilhelm Leibniz, München 2000, 84. Siehe LXI. Brief an Wolff, 1710–11, BLW, 130. „Vis activa actum quendam sive ejntelevceia continet, atque inter facultatem agendi actionemque ipsam media est, et conatum involvit; atque ita per se ipsam in operationem fertur; nec auxiliis indiget, sed sola sublatione impedimenti.“ De prima philosophiae emendatione (1694), GP IV, 469.

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und einfach und können nicht als Erklärung für Bewegungen selbst dienen, sondern nur als Anregung (solicitatio76) zur Bewegung gedacht werden. 2.2. Die ursprüngliche Kraft (vis primitiva) Die ursprüngliche Aktivität der Substanz wird die ursprüngliche Kraft genannt (vis primitiva). Sie kann zugleich als aktiv und passiv gedacht werden. Grundlegend ist dabei die Aktivität, durch welche die Veränderungen (von Modifikationen) hervorgebracht werden. Diese unterscheidet sich insoweit vom scholastischen Begriff der vis activa, als dass sie einen Stimulus enthält, welcher den Übergang von der bloßen Potenzialität zur Aktualität bewirkt. Die aktive Kraft ist ein Mittleres zwischen der Fähigkeit zur Handlung und der Handlung selbst und darin auch als Entelechie zu begreifen77. Damit dynamisiert sich die Statik des Begriffs der Monade: Die virtuellen, im Begriff der Monade bereits enthaltenen Prädikate realisieren sich nach und nach: Der Begriff „Cäsar“ impliziert das Überschreiten des Rubikons, was auch zu jeder Zeit vor, während oder nach dieser Überschreitung gilt. Cäsar ist jederzeit dadurch identifizierbar, dass er den Rubikon überschreiten wird, überschreitet oder überschritten hat. Dieses Verwirklichen der Eigenschaften macht die Individualität des Lebewesens aus. Leibniz aktualisiert hier den aristotelischen Begriff der Entelechie, nur dass er ihm eine formale Grundlage im vollständigen Begriff verleiht. Diese Entelechie ist als primitive aktive Kraft dieses Individuums auch gleichzeitig die substanzielle Form: Die aktive primitive Kraft, die Aristoteles erste Entelechie nennt, umgangssprachlich auch substanzielle Form genannt, ist ein weiteres natürliches Prinzip, das mit der Materie oder der passiven Kraft die körperliche Substanz vervollständigt (absolvit), die natürlich per se Eines ist (unum per se) und kein bloßes Aggregat mehrerer Substanzen, denn es gibt einen großen Unterschied zwischen einem Tier und einer Herde.78

Hier wird die Identifikation der Entelechie mit der substanziellen Form aufgegriffen. Im Briefwechsel mit De Volder weist Leibniz die Entelechie und erste Materie zusammengenommen und streng gesprochen auch als die vollständige Monade aus79. Da die individuelle Substanz keine Fenster hat, kann auch die Entelechie 76 77 78

79

Vgl. SD, GM VI, 238. Vgl. De Prima Philosophiae Emendatione, et de Notione Substantiae (1694), GP IV, 469. Ähnlich GP II, 306, wo er die aktive primitive Potenz mit der Entelechie identifiziert. Es ist anzunehmen, dass Leibniz „aktive Potenz“ hier synonym zum Kraftbegriff verwendet. „Vis activa primitiva quae Aristoteli dicitur ἐντελέχεια ἡ προώτη, vulgo forma substantiae, est alterum naturale principium quod cum materia seu vi passiva substantiam corpoream absolvit, quae scilicet unum per se est, non nudum aggregatum plurum substantiarum, multum enim interest verbi gratia inter animal et gregem.“ Abhandlung zur Philosophie Descartes (1702), GP IV, 395. „Proprie et rigorose loquendo forte non dicetur Entelechiam primitivam impellere massam sui corporis, sed tantum conjungitur cum passiva potentia primitiva quam complet, seu cum qua Monadem constituit.“ Brief an De Volder, 20. Juni 1703, GP II, 250. Siehe außerdem ebd., GP II, 252; GP IV, 395.

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über keine Außenwirkung verfügen. Ihre Aktivität ist doppelt ausgewiesen als prinzipienhafte Quelle aller physischen Bewegungen und als Moment des Werdens des Individuums, sofern dieses das realisiert, was in ihm ursprünglich angelegt ist80. Dabei gilt: Die Entelechie bzw. „Die substanzielle Form ist das Handlungsprinzip oder die primitive handelnde (aktive) Kraft.“81 Leibniz selbst verwendet in diesem Zusammenhang immer wieder auch den aus neuplatonischer Philosophietradition stammenden Begriff der Quelle, aus der sich etwas ergießt82. Damit ist aber vor allem eine Quelle gemeint, die Grund und Ursprung eines ontologisch von ihr verschiedenen ist – so wie bei Plotin etwa das Eine (d. i. Gott) die Quelle der Seele ist. Die Kraft unterliegt stets einem Prinzip, das sie ausrichtet und anleitet: In einem Text definiert Leibniz die aktive Kraft als das Prinzip der Bewegung83, in einem anderen begreift er die primitive Entelechie als Lebensprinzip84. An wiederum anderer Stelle wird das principium substantiale mit der Seele bzw. der substanziellen Form identifiziert85. Wichtig ist hier, dass es sich um eine begriffliche Unterscheidung bei Identität de rerum handelt. Die aktive Kraft macht die Lebendigkeit der Substanz aus und kann deswegen zugleich das Prinzip der Perzeptionen wie das der Bewegungen sein, weil die Veränderung (d. h. Aktualisierung) von Perzeptionen die Bewegungen als Veränderungen der Dinge und deren Anordnungen ausdrückt. So können zahlreiche Problemkomplexe zusammengeführt werden. Die Identifikation des Handlungsprinzips mit der jeder physischen Veränderung zugrunde liegenden Kraft und einem entsprechend erweiterten Seelenbegriff – die Seele ist die substanzielle Form und Entelechie des gesamten Lebewesens – ermöglicht es Leibniz zu behaupten, dass die Entelechie bzw. die ursprüngliche aktive Kraft der Substanz das natürliche Prinzip ist, mit dem zusammen die Materie, auch passive Kraft genannt, 80

81 82

83 84 85

Siehe dazu einen anderen Brief an De Volder, vom 24. März / 3. April 1699: „Entelechiam primitivam et ut verbo dicam aliquid Animae analogum agnosco, cujus natura in perpetua quadam ejusdem seriei mutationum lege consistit, quam inoffenso pede decurrit. Nec careri hoc activo principio seu activitatum fundo potest, nam vires actrices accidentariae sive mutabiles, ipsique motus sunt modificationes quaedam alicujus substantialis rei, sed vires et actiones non possunt esse modificationes rei merae passivae, qualis materia est. Consequens ergo est dari Activum primum seu sustantiale, quod materiae seu passivi dispositione accedente sit modificatum.“ GP II, 168 ff. Vgl. einen LXVII. Brief an Wolff, 1711, LBW 139. „Forma substantialis est principium actionis seu vis agendi primitiva“, A VI, 4, 1507. Siehe Brief an Nicolas Remond, 10. Januar 1714, GP III, 606, wo es heißt, die Quelle des Mechanismus liegt in der Metaphysik: „la source de la Mecanique est dans la Metaphysique“; siehe LXVII. Brief an Wolff, Juli 1711, LBW 139, wo die primitive Kraft in der Entelechie als Quelle der Mechanismen und der Repräsentationen der Mechanik (!) gilt: „vis (perinde ac vis reagendi) est […] in ipsa Entelechia […] concentratur dynamice et monadice, in qua mechanismi fons et mechanicorum repraesentatio est“, vgl. sinngemäß auch den Brief an Bierling, 7. Juli 1711, GP VII, 501; ähnlich in einem unbetitelten Fragment (1676 [?]), in dem die Aktivität der Substanz als Quelle aller Veränderungen ausgewiesen wird: „Quia autem modificationes variant et quicquid fons variationum est, id revera est activum, ideo dicendum est substantias simplices esse activas seu actionum fontes, et in se ipsis parere seriem quandam variationum internarum.“ C, 14. Abhandlung zur Philosophie Descartes, 1702, GP IV, 393. „Hanc Entelechiam primam esse revera principium vitale, etiam percipiendi facultate praeditum“ Brief an Rud. Chr. Wagner, 4. Juni 1698, GP VII, 529. De Ipsa Natura, 1698, GP IV, 511.

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Teil IV: Kraft und Materie

eine körperliche Substanz erschafft. Diese ist, anders als der phänomenal gegebene Körper, ein unum per se86 und nicht eine bloße Anhäufung mehrerer Substanzen. Entscheidend ist, dass die Form nicht selbst bloß statisch ist, sondern auf ein aktives Moment bezogen ist – hier wird deshalb immer wieder auch auf den formgebenden Charakter der Form hingewiesen, um dieses aktive Herbeiführen einer sinnlich wahrnehmbaren Gestalt als perzipierbares Korrelat eines rein intelligiblen Gehalts zu betonen. Das Prinzip der Bewegungen ist zugleich das Lebensprinzip der Substanz und mithin auch das Prinzip der Perzeptionen87, zumal die Perzeptionen die Körper erst ausdrücken und jede Veränderung der Körper einer Veränderung der Perzeptionen entspricht. Folgendes Zitat aus einem Brief an de Volder macht dies deutlich: In der aktiven Kraft wirkt sich die ursprüngliche Entelechie durch Bewegung aus, und ich pflege zu sagen, dass ich etwas der Seele analoges zugestehe, dessen Natur in der kontinuierlichen Veränderung des Gesetzes der Serie besteht, solange ihm nichts entgegensteht.88

Die erste Entelechie, und mit ihr identisch die aktive ursprüngliche Kraft, ist unveränderlich, konstant und ewig, auch wenn sie sich in verschieden starken Kräften verwirklicht; das selbst gleichbleibende „Durchlaufen“ (decurrere) der verschiedenen physischen Zustände ist die kontinuierliche Aktivität, die erforderliches Kriterium für die Substanz ist und gleichzeitig die Lebendigkeit derselben bedeutet. Sie wird dabei formal durch den vollständigen Begriff als Gesetz der Serie bestimmt. Die aktive primitive Kraft, welche die kontinuierliche Veränderung der Modifikationen ausdrückt (d. h. den Ansatz zu einer Bewegung der Körper markiert) ist unbedingt, weil das „Durchlaufen“ der Reihe „unangestoßen“ (inoffenso) ist, d. h. nicht wieder auf einen äußeren, „unbewegten Beweger“ zurückzuführen ist. Die aktive Kraft folgt der statischen und permanenten Abfolge der Modifikationen der Substanz. Diese Abfolge ist bereits im Begriff der Substanz angelegt, das Hinzutreten der Kraft bedeutet nur, dass Ereignisse aus der Virtualität in die Aktualität überführt werden: So, wie die bloßen Möglichkeiten zur Existenz streben, so strebt auch die Kraft als Potenzialität zu ihrer Verwirklichung in den Körpern. Die Geschöpfe verwirklichen sich selbst in ihrer Kraft: Wenn man einmal anerkennt, dass die ihnen innewohnende Natur nicht verschieden ist von dem Vermögen zu handeln und zu leiden, so fällt sie mit der ersten zusammen. Denn Tätigkeit kann nicht ohne Kraft zu handeln sein, und andererseits ist ein Vermögen, das niemals ausgeübt werden kann, nichtig.89

86 87 88 89

Ebd., ebenso GP II, 486. „Ita anima est vita sensitiva, et vita est principium perceptivum“ Brief an Rud. Chr. Wagner, 4. Juni 1698, GP VII, 529. „In vi Activa varie sese per motus exercente Entelechiam primitivam et ut verbo dicam aliquid Animae analogum agnosco, cujus natura in perpetua quadam ejusdem seriei mutationum lege consistit, quam inoffenso pede decurrit.“ Brief an de Volder, 3. April 1699, GP II,171. „Ea, si semel intelligamus, naturam insitam non differre a vi agendi et patiendi, recidit in priorem. Nam actio sine vi agendi esse non potest, et vicissim inanis potetia est, quae nunquam potest exerceri.“ Ebd.

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Weil die Kraft im Endeffekt ein verwirklichendes Moment ist, kann Leibniz behaupten, die aktive Kraft schreite zur Perfektion, die passive dagegen zur größeren Unvollkommenheit90: Spontaner Aktualität kommt eine größere Perfektion zu als einer in einer Reaktion auf andere Aktivitäten verminderten Eigenaktivität. In dieser Aktivität begründet Leibniz die Teleologie der Welt und sie ist zugleich die ontologische Grundlage für die Konzeption der monadischen Dominanz, welche im Konzept der körperlichen Substanz eine zentrale Rolle spielt. Der ursprünglichen aktiven Kraft steht die ursprüngliche passive Kraft gegenüber. Während die aktive Kraft Veränderungen hervorbringt, widersteht die passive Kraft Einwirkungen von außen. Die ursprüngliche passive Kraft ist nicht mehr modifizierbar, weil sie in der grundlegenden und nicht quantifizierbaren Kraft der Monade besteht, die deren Leben ausmacht. Die passive Kraft beruht auf der irreduziblen Individualität und Fensterlosigkeit der Monade. Diese ist durch die sich selbst in Gänze umfassende monadische Aktivität bestimmt: Jede Monade bringt alles aus sich selbst hervor, auf eine ihr eigene Weise. Definiert man Wirkursächlichkeit als diejenige Form von Kausalität, die durch Gesetze oder Gesetzmäßigkeiten wirkt, dann ist das Hervorbringen von Perzeptionen durch die Substanz bzw. ihre Selbstrealisierung gerade nicht als Wirkursächlichkeit zu begreifen, sondern als Finalursächlichkeit, weil es sich gerade um individuelle, nicht aber um allgemeine Prinzipien handelt. Dieses eigene Prinzip ist der individuelle Standpunkt, von dem aus die gesamte Welt betrachtet bzw. repräsentiert wird und der eine strukturelle Entsprechung in anderen Monaden hat. Perzipierte Welt und Monade entsprechen sich somit: Da sich die Wesenheit der Monade und ihr „Rang“ im Rahmen der Schöpfung in der Klarheit der Perzeptionen niederschlagen, ist die Monade in dem Maße perfekt, wie sie die Welt perzipiert – und die Welt wird so perfekt perzipiert, wie die perzipierende Monade vollkommen ist.91 Die hier entscheidende Frage ist nun folgende: Sollten wir von Wirk- oder von Finalursächlichkeit sprechen, wenn die Monade ihre eigenen Perzeptionen hervorbringt? Leibniz macht in vielen Texten, beispielsweise der Monadologie, deutlich, dass der Appetitus final ausgerichtet ist. Aber wie geht dies mit der hier vertretenen These zusammen, dass der Appetitus dem Conatus entspricht? Müssen wir den Conatus nicht als ein Element der Wirkursächlichkeit verstehen? – Sofern der Conatus als ein Streben bezeichnet wird, kann er auch als teleologisch begriffen werden. Er strebt zwar nicht intentional nach einem konkreten, bewussten Ziel, aber er kann 90 91

Vgl.: „In omni percipiente vis activa passivaque est: activa in transitu ad perfectius, passiva in contrario.“ Unabgeschickter Entwurf zu einem Brief an de Volder, 19. Januar 1706, GP II, 281. Erich Heintel betont die zentrale Stellung dieses Gedankens für das Leibnizsche System und insistiert zu Recht: „Für die Monade bestimmt nämlich die jeweilige Art ihres ‚Vorstellens‘ zugleich ihren Ort in der Schöpfung, in der Stufenfolge der wahrhaft wirklichen Existenz (im Sinne der Usia), zum Unterschied von bloß erscheinendem Seienden (im Sinne des Zusammengesetzten), u. zw. von der anorganischen Materie an bis zur Zentralmonade Gott hin. Der Begriff ‚Vorstellen‘ erfährt damit eine Verallgemeinerung seines Sinnes, die besagt, dass die Weise, wie jede Monade das All ‚spiegelt‘, zugleich die Wesensbestimmtheit ihrer Existenz in der universalen Harmonie der Geschöpfe ausmacht.“ Heintel, Erich: „Die beiden Labyrinthe der Philosophie nach Leibniz“, in: ders.: Gesammelte Abhandlungen, Bd. 5, Stuttgart 1996, 171–183, hier 182.

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Teil IV: Kraft und Materie

streng genommen als eine sekundäre Finalursache gelten, die den göttlichen Willen umsetzt und von sich aus zu einer Vergrößerung der Perfektion der Welt strebt. Wenn eine Monade handelt, dann wird die Ausübung ihrer Handlungen durch andere Monaden beschränkt – nicht, weil es einen tatsächlichen Einfluss von der einen Substanz auf die andere geben kann, sondern weil die Aktivität der Substanz durch die prästabilierte Harmonie so ausgerichtet ist, dass sie dort aufhört, wo eine ihr gewissermaßen ‚überlegene‘ Monade an Aktivität zunimmt. Aus diesem Grund kann Leibniz die Form oder Entelechie mit der primitiven Kraft identifizieren, um sie von der derivativen, bewegenden Kraft zu unterscheiden, denn diese ist eine Begrenzung oder Variation der primitiven Kraft92. Die ursprüngliche Kraft nimmt in der abgeleiteten Kraft konkrete Formen an. Soweit die Monade der Welt durch ihren eigenen Standpunkt zugeordnet ist, kann dieser auch nicht von einer anderen eingenommen werden. Keine andere Monade kann zu einem bestimmten Zeitpunkt exakt denselben Standpunkt einnehmen wie eine andere: Ansonsten wären zwei Monaden in ihrer Eigenart der Weltrepräsentation und damit auch in allen ihren Prädikaten identisch. Dies kann aufgrund des Prinzips der Identität des Ununterscheidbaren nicht der Fall sein, denn dieses lässt nicht zu, dass sich zwei verschiedene Monaden in ihren Prädikaten vollständig gleichen. Dadurch wird der einer Monade zugeordnete Raum-Punkt als ihr ursprünglicher Ort des Wirkens undurchdringlich, er kann nicht von einer anderen eingenommen werden. Die Undurchdringlichkeit des Körpers, die Antitypia, wird so als der Grund der Materieverdrängung bei einer Bewegung von Körpern im Plenum ausgemacht, geht aber indirekt auf die Perspektivität der Substanz zurück. Dabei kann Leibniz es vermeiden, auf eine atomistische Position zurückzufallen, sein Postulat einer kontinuierlichen Materie aufzuheben oder gar die Existenz echter punktförmiger Körper anzunehmen. Die Zuordnung der perzipierten Raumpunkte zu einer Monade reicht hier völlig aus: Ich kann einem beliebigen Raumpunkt im Rahmen meiner Perzeptionen einen Widerstand zuschreiben, insoweit die dort ansässige Materie verdrängt wird, wenn ich diesen Raumpunkt als perzeptives Zentrum einnehme. Dies gilt natürlich in Extrapolation für alle Monaden: So wird ein Grundstein der Dynamik in der Lehre der einzelnen Substanzen und einer bloß perzeptiven Realität aller Körper gelegt. Ebenso wird deutlich, dass die Verortung von Monaden in ihren Wirkorten keine bloß heuristische Hypothese ist, sondern die Widerspiegelung einer tieferen Realität disjunkter und per se unverstehbarer und unperzipierbarer Entitäten im perspektivisch und phänomenal gegebenen Kontinuum der Dinge. 2.3. Die abgeleitete Kraft (vis derivativa) Die Monade kann dem Körper-Punkt einem ausgedehnten Körper zugeordnet werden – dann können wir von ihrem Körper-Punkt sprechen. So können die ursprüng92

„La force mouvante qui est une limitation ou variation accidentelle de la force primitive“, SN, 1. Entwurf, GP IV, 473. Vgl. GM III, 552; sowie GP IV, 395, wo er die primitive Kraft als substanziell, die derivative als akzidentell beschreibt.

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lichen aktiven Kräfte aller Körper-Punkte eines Körpers in einer quantifizier- und erfahrbaren Kraft zusammenwirken, die ebenfalls aktiv oder passiv sein kann: die abgeleitete, derivative Kraft. Sie ist erfahrbar, d. h. drückt sich vermittels ihrer erfahrbaren Wirkungen (Bewegungen, Beschleunigungen und Verbleiben im Ruhezustand) aus, während die ursprüngliche Kraft Bedingung für Erfahrungen überhaupt ist, weil sie Veränderungen, mithin Leben insgesamt, erst ermöglicht. Die Wirkung der abgeleiteten Kraft zeigt sich im Stoß zweier Körper. Sie muss postuliert werden, weil die ursprüngliche Kraft die Erfahrungen stoßender und gestoßener Körper nicht erklären kann93: Bloß durch Antitypia (Abstoßung) lässt sich die Bewegung nicht erklären, weil sie sich ja nicht gleichmäßig überträgt, sondern in Abhängigkeit von der Masse der Körper. Genauer gesagt bedeutet das Folgendes: Im Stoß gibt es einen stoßenden und einen gestoßenen Körper, in welchen entsprechend die aktiven und passiven derivativen Kräfte wirken. Diese sind, wie der Impetus, mit einer echten Geschwindigkeit assoziiert, während die primitive Kraft eher die sich selbst erhaltende Ursache in einem Körper ist (s. o.)94. Beschleunigt der stoßende Körper den gestoßenen, so kann man sagen, dass die Aktivität des ersteren die Passivität des zweiten bewirkt. Seine Passivität drückt sich erstens darin aus, dass er überhaupt undurchdringlich ist und so erst Gegenstand eines Stoßes sein kann; und sie besteht zweitens darin, dass die Geschwindigkeit nicht identisch übertragen wird, sondern eine Veränderung entsprechend des Masseverhältnisses beider Körper erfährt. Dieser Effekt der verminderten Beschleunigung bzw. Beschleunigungsübertragung ist die Masseträgheit (inertia) und sie erklärt sich entsprechend des Entgegenwirkens der passiven derivativen Kraft gegen die aktive. Die Annahme der Masseträgheit hat ebenfalls doppelte Konsequenzen: Erstens können realistische, d. h. der Erfahrung entsprechende Stoßgesetze aufgestellt werden; zweitens bewirkt sie, dass die Festigkeit von Körpern überhaupt real und wahrnehmbar wird. Ohne Masseträgheit würden sich Körper beim geringsten Druck sofort wegbewegen oder verformen, auf die geringste Berührung hin davonhüpfen wie ultraleichte Luftballons. Der Begriff der abgeleiteten Kraft ist doppelt bestimmt. Als Erstes wird sie mit dem gegenwärtigen Zustand identifiziert, der zum folgenden strebt. Damit ist sie der Wandel der Ereignisse aus der präfigurierten Virtualität des Begriffs in die Aktualität der Substanz: Die derivative Kraft aber ist der gegenwärtige Zustand selbst, solange er zum folgenden strebt oder den folgenden in sich trägt, wie alles Gegenwärtige schwanger ist mit dem Zukünftigen. Das Beharrende selbst aber, sofern es alle Fälle in sich trägt, hat eine ursprüngliche Kraft, so dass die ursprüngliche Kraft gleichsam das Gesetz der Serie ist, die derivative Kraft gleichsam die Bestimmtheit, die einen Markstein in der Serie bezeichnet.95

93 94 95

Vgl. SD, GM VI, 236 f. Ebd., 237. „Vis autem derivativa est ipse status praesens dum tendit ad sequentem seu sequentem praeinvolvit, uti omne praesens gravidum est futuro. Sed ipsum persistens, quatenus involvit casus omnes, primitivam vim habet, ut vis primitiva sit velut lex seriei, vis derivativa velut determi-

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Teil IV: Kraft und Materie

Wandel ist für Leibniz erst durch Unwandelbares möglich. Ebenso ist das Drängen von einem Zustand zum nächsten bedingt durch die Anlage, welche die Zustände einander zuordnet: So setzt jeder Moment in der Ereignisabfolge das Gesetz der Serie voraus, das hier mit der ursprünglichen Kraft identifiziert wird, welche die Kontinuität der Veränderungen bedeutet, deren konkretes Moment der Veränderung in einem einzelnen Ding die derivative Kraft ist. Die aktive primitive Kraft selbst ist unzeitlich, d. h. sie findet in einem infinitesimal kleinen Zeitintervall statt und kann erst wirksam sein, wenn sie sich verzeitlicht, also über die Zeit hinweg ausgedrückt wird. Die derivative Kraft übt sich zeitlich aus und wird dann als actio, als Handlung, begriffen, ist aber veränderlich, mithin quantifizierbar, im Gegensatz zu der konstanten und permanenten vis activa primitiva. Diese ist das formende Moment der substantiellen Form, das die derivative Kraft in ihrer Intensität bestimmt. Als Prinzip der Perzeptionen verwirklicht sie den vollständigen Begriff der Substanz und setzt diesen damit in Beziehung zu anderen Substanzen. Dies wird durch den phänomenalen Verweischarakter der Monade ermöglicht, d. h. das Zu- und Abnehmen der Ausdrucksintensität einer Monade in Relation zu der Intensitätsveränderung anderer Substanzen. Der Impetus ist gleichwohl noch von der über einen bestimmten Zeitraum ausgeübten Kraft zu unterschieden. Die verzeitlichte Handlung (actio) folgt zwar aus dem Impetus, aber ist wiederum eher als die Summe der Kraft zu den verschiedenen Zeitpunkten zu verstehen – statt f=mv kann die Handlung (actio) a dann als Summe der Kraft über die Zeit, d. h. als a=∑mv, formalisiert werden. Die abgeleitete Kraft ist das, was man Impetus nennt, den Conatus, wenn man so will, oder die Tendenz, die zu einer jeden bestimmten Bewegung führt, welche damit durch die ursprüngliche Kraft oder das Prinzip der Handlungen verändert wird. […] Ich nehme außerdem an (porro), dass sich die abgeleitete Kraft nicht anders von der Handlung (actio) unterscheidet als das Momentane vom Voranschreitenden; die erstere Kraft jedoch ist nur momentan, sie benötigt eine zeitlich ausgeführte Handlung und überführt damit die Kräfte in die Zeit, die in jeden körperlichen Teil hineingedacht werden.96

An dieser Stelle wird auch deutlich, dass die Kräfte keinesfalls ontologisch „in“ den Körpern vorhanden sind, sondern dass es eine radikale Differenz zwischen Kräften und phänomenal gegebenen Körpern gibt, wobei die Kräfte erst anhand unseres Kausalitätsverständnisses in die Körper hineingedacht werden – je nachdem, welcher Körper als ruhend oder bewegt verstanden wird. Die zweite Bestimmung besteht in der perzeptionellen Natur der Kraft97. Sie verwirklicht sich in verschiedenen Weisen durch Bewegung, ist aber nur perzepti-

96

97

natio quae terminum aliquem in serie designat.“ Brief an de Volder, 21. Januar 1704, GP II, 262. „Vis derivativa est id quod quidam vocant impetum, conatus scilicet seu tendentia ut sic loquar ad motum aliquem determinatum, quo proinde vis primitiva seu actionis principium modificatur. […] Porro vis derivativa ab Actione non aliter differt, quam instantaneum a successivo; vis enim jam in primo est instanti, actio indiget temporis tractu, adeoque fit ex ductu virium in tempus, qui intelligitur in quavis corporis parte.“ Abhandlung zur Philosophie Descartes (1702), GP IV, 396. „Vires derivativas ad phaenomena relego“, Brief an de Volder, 1705, GP II, 275.

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onell gegeben in den Modifikationen einer Monade. Kraft ist also in den und durch die Bewegungen der Körper wirksam, diese aber sind nichts anderes als Zustände der Substanz, dementsprechend ebenso die derivative Kraft: Die abgeleiteten Kräfte und Veränderungen sind Modifikationen des substanziellen und verbleibenden Dinges; [sie sind] nicht etwas, das dem Ding von Gott eingeprägt wird, was nicht aus ihrer eigenen Natur entspringt, und dies kann nicht durch andere [Sinnes-]Eindrücke (impressio) verstanden werden.98

Sofern sie aber Modifikationen sind, kommen sie auch den Körpern zu, welche durch die Modifikationen ausgedrückt werden – die derivativen Kräfte sind rein phänomenaler Natur99. Sie resultieren auf phänomenaler Ebene aus der Aggregation von Monaden, die in erster Linie nur durch effekthaft wahrnehmbare Widerständigkeit (Antitypia) ausgemacht werden. Ganz explizit wird dies in einer Passage in einem Brief an Wolf vom Juli 1711 formuliert, wenn auch auf eine stark verdichtete Weise. Diese umfangreiche Textstelle bündelt zahlreiche der bislang angesprochenen Punkte und soll deshalb hier umfangreich zitiert werden: Du fragst, wie die primitive Kraft modifiziert wird, etwa wenn die Bewegung im Herabfallen beschleunigt wird: Ich antworte, dass die Modifikation der primitiven Kraft, welche in der Monade selbst ist, nicht besser erklärt werden kann als durch Aufzeigen der Weise, wie die derivative Kraft in den Phänomenen verändert wird. Denn was in den Phänomenen als ausgedehnt und mechanisch gezeigt wird, ist lebendig und konzentriert in den Monaden. […] Diese Kraft jedoch (als reagierende Kraft [verstanden]) ist in den Körpern (sie zeigt sich in einer [überall] hindurchfließenden, unwahrnehmbaren Flüssigkeit) und zeigt sich mechanisch oder extensiv; sie wird per se undefinit bestimmt durch die Menge der Schläge und widerständigen Kompressionen. Sie wird selbst in der Entelechie (wie schon gesagt) dynamisch und monadisch konzentriert, [und] sie ist in diesen als Quelle der Mechanismen und Repräsentation der Mechanik, denn die Phänomene resultieren aus den Monaden (die einzig die wahren Substanzen sind). Und wenn die mechanischen [Dinge] durch die äußeren Umständen bestimmt werden, so wird die Entelechie selbst im Grunde harmonisch verändert (modificatur) durch sich selbst, da man sagen kann, dass jeder Körper seine derivative Kraft in sich selbst hat. Was mit diesem sogar in den selbst zusammengesetzten [Körpern] oder den wahren Phänomenen verstanden wird (denn die Körper werden so verstanden, dass sie die [umgebende] Flüssigkeit kontinuierlich beeinflussen (affluens)), umso mehr in den Monaden, und selbst sogar Substanz genannt wurde. Viele Substanzen jedoch sind als natürliche Maschinen oder organische Körper; die Aggregate, welche selbst nicht alle organisch sind, resultieren aus diesen, und selbst die Teile der organischen Körper. Jede Reaktion setzt die Widerständigkeit jeder Quelle voraus oder die Antitypie, und die Körper könnten keinen Widerstand leisten, wenn Durchdringlichkeit im leeren Raume gegeben wäre. Also ist die Undurchdringlichkeit grundlegend.100 98

„Vires derivativae et mutabiles sunt modificationes rei substantialis et remanentis; nec quicquam rei a Deo imprimitur, quod non fluat ex ejus natura, neque ab alio impressio facta intelligi potest.“ Brief an Joh. Bernoulli, 20 Juni 1703, GM III, 720. 99 „Vires derivativas ad phaenomena relego, sed vires primitivas manifestum esse censeo nil aliud esse posse quam tendentias internas substantiarum simplicium, quibus certa suae naturae lege de perceptione in perceptionem transeunt.“ Brief an de Volder, 1705, GP II, 275 100 „Quaeris, quomodo vis primitiva modificetur, verbi gratia cum motus gravium descensu acceleratur: respondeo, modificationem vis primitivae, quae est in ipsa Monade, non posse melius explicari, quam exponendo quomodo mutetur vis derivativa in phaenomenis. Nam quod in phaenomenis exhibetur extensive et mechanice, in Monadibus est concentrate seu vitaliter. […]

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Teil IV: Kraft und Materie

Leibniz betont, dass diese permanente Bewegungsaktivität die Monaden im Zustand des „Fließens“ erhält101, was mit der These des Fehlens definitiver Formen einhergeht. Hubertus Busche hat dies als Äther interpretiert und die These formuliert, dass seit den Frühschriften von Leibniz der Raum von einer feinstofflichen Flüssigkeit ausgefüllt sei, die alle Körper durchdringt und Träger der physischen Bewegungen ist102. Diese These sieht Leibniz in einer Tradition der Äthertheorien, die hier nicht weiter verfolgt werden soll; dass es entscheidende Brüche in Leibniz’ Verständnis der Körper von den Entwürfen einer Korpuskularphilosophie in der TMA und der Hypothesis Physica Nova hin zu dem Konzept monadischer Kraft gegeben hat, wurde hier bereits dargelegt. Dennoch kann die grundlegende Materialität aller Körper nicht als Aggregation fester, präformierter Bestandteile begriffen werden, sondern als dynamisches Ineinandergehen, Trennen und Verschieben, das durchaus als flüssig zu bezeichnen ist. Innerhalb dieser Flüssigkeit, die als materielle Grundlage aller Bewegungen dient, befinden sich die Körper, sie sind in einen beständigen Fluss an Veränderungen einbegriffen und verfügen nur durch unseren Geist über eine Einheit. Wir sehen, dass Leibniz in dieser kurzen Passage mehrmals die Perspektive wechselt und hier abwechselnd die Körper als körperliche Substanzen und als wohlfundierte Phänomene beschreibt. Er versucht hier, auf engstem Raume die Entstehung der Körper aus den Phänomenen bzw. den monadischen Perzeptionen mit dem Primat der aktiven primitiven Kraft zu verbinden, die sich als Undurchdringlichkeit zeigt. In den Körpern sitzen die jeweiligen Entelechien als perzipierende Kraftzentren, in deren Perzeptionen die Kräfte lokalisiert sind. Diese Perzeptionenabfolge wird als grundlegend für die kausale Abfolge mechanischer Ereignissen begriffen. Die Modifikationen der vis activa selbst sind dabei für uns nicht direkt verständlich, Ea autem vis (perinde ac vis reagendi) est insita corpori (oritur enim a perfluente liquido insensibili) et per se indefinita determinatur ipsa quantitate percussionis adeoque compressione resistentis et restitutionem compressi exhibetur Mechanice seu extensive, id in ipsa Entelechia (ut jam dixi) concentratur dynamice et monadice, in qua mechanismi fons et mechanicorum repraesentatio est; nam phaenomena ex Monadibus (quae solae sunt verae substantiae) resultant. Et dum mechanica ex circumstantiis externis determinatur, eo ipso in fonte ipso Entelechia primitiva harmonice modificatur per se, quia dici potest, corpus omnem vim suam derivativam habere a se ipso. Quod cum etiam in ipsis compositis seu phaenomenis verum deprehendatur (dum corpori computatur liquidum continue affluens), multo magis in Monadibus, ipsisque adeo substantiis erit dicendum. Substantiae autem tot sunt, quot Machinae naturales seu corpora organica; aggregata autem hinc resultant, qualia sunt omnia non organica, et ipsa fragmenta organicorum. Caeterum Reactio praesupponit omnis resistentiae fontem seu antitypiam, nec corpora resisterent, si penetrabilia essent instar spatii vacui. Itaque prior est impenetrabilitas.“ LXVII. Brief an Wolff, Juli 1711, LBW 138 f. 101 „Nam Monades cum sint in statu fluendi, habent vim.“ LXVII. Brief an Wolf, Juli 1711, BLW 140. 102 Hubertus Busche hat die weitestgehenden Analysen dieser Flüssigkeit vorgelegt und sie mit dem Äther der früheren Schriften identifiziert und als Träger physischer Kausalereignisse ausgewiesen. Siehe bspw. Busche, Hubertus: „Einleitung“, in: ders. (Hrsg.): Klassiker Auslegen: Monadologie, Berlin 2009, 1–34; ders.: Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum, a. a. O.; ders.: „Präetablierte Harmonie und Monadenlehre“, in: Reydon, Thomas A. C. / Heit, Helmut / Hoyningen-Huene, Paul (Hrsg.): Der universale Leibniz, Stuttgart 2009, 63–84.

Die Grundbegriffe der Dynamik

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sondern nur vermittels ihrer Resultate in Form phänomenal gegebener Kräfte, die sich wiederum in Bewegungen, Formen (figurae), Widerständigkeit und Trägheit zeigen103. Die kontinuierliche Veränderung des Perzeptionenkomplexes macht den Appetitus bzw. die primitive Kraft jeder einzelnen Monade aus und die Modifikationen dieser Kraft zeigen sich in den verschiedenen Veränderungen innerhalb des Perzeptionenkomplexes. Versuchen wir, dies an einem Beispiel zu erhellen. Ich betrachte einen Kugel, die über einen Tisch rollt und über dessen Kante fällt. Kugel und Tisch sind mir ebenso phänomenal gegeben wie der Rest der Welt, doch im Gegensatz zu weit entfernten Dingen nehme ich sie hinreichend klar wahr, weil die sie repräsentierenden Perzeptionen direkt auf meine Sinne bezogen werden können. Aus einer metaphysischen Perspektive gesehen bringe ich in mir verschiedene Perzeptionen hervor, die mir als aufeinander folgend gegeben sind: Die Kugel befindet sich zum Zeitpunkt t1 am Ort p1, zu t2 an p2, zu t3 an p3, usw. Der Tisch bleibt dagegen an seinem Ort: Tisch und Kugel zeigen sich in ihrer Undurchdringlichkeit, da die Kugel nicht im Tisch versinkt oder gar geisterhaft durch diesen hindurchfällt. Erst dann ist das Rollen der Kugel verständlich, denn wir müssen immer zwei Körper in die Betrachtung einer Bewegung einbeziehen104. Die Bewegung der Kugel über den Tisch wird zudem als Resultat einer weiteren Kraft verstanden, eines Impetus, weil sich hier im Phänomenkomplex bestimmte Veränderungen zeigen, die der Tisch selbst nicht aufweist. Dieser Impetus wird von uns als Grund angenommen, dass die Bewegung sich fortsetzt, sofern ihr nichts im Wege steht. Dazu kommt noch, dass die Bewegungen relativ sind: Unter bestimmten Bedingungen kann ich auch die Kugel als ruhend und den Tisch als bewegt betrachten. Dann würde dem Tisch der Impetus zukommen, weil dann diesem eben die Veränderungen im Phänomenkomplex zugesprochen werden. Die derivative Kraft ist also der gegenwärtige Bewegungsstatus der Dinge (status praesens), der ihre sprunglose Veränderung bewirkt, und durch ihn verweist jeder gegenwärtige Moment auf einen ihm zugehörigen zukünftigen Moment und realisiert diesen aus sich heraus105. Die Kraft bedeutet also die Tendenz zur Veränderung. Im Gegensatz zur scholastischen potentia activa ist Leibniz’ Kraft eine immanente, von sich aus aktive Umsetzung dieser Veränderung, die ohne externe Anregungen oder Stimuli auskommt106. Den ursprünglichen und den abgeleiteten Kräften entsprechen Conatus und Impetus, zwischen beiden Begrifflichkeiten liegt 103 Siehe dazu Rutherford, Donald: „Idealism Declined. Leibniz and Christian Wolff“, in: Lodge (Hrsg.): Leibniz and His Correspondents, a. a. O., 214–237, hier 223 f. 104 Vgl. Brief an de Volder 6. Juli 1701: „Man wird also notwendig den Begriff beider Körper brauchen, um das Zurückprallen des einen deutlich zu begreifen und dennoch kann das Zurückprallen nur der Modus des einen sein, da möglicherweise der andere seinen Lauf fortsetzt und nicht zurückprallt.“ – „Utriusque igitur corporis conceptus ad reflexionem unius distincte concipiendam erit necessarius et tamen reflexio potest esse modus, non nisi unius, cum fieri queat ut alterum pergat, non reflectatur.“ GP II, 226. 105 „Status praesens, dum tendit ad sequentem seu sequentem praeinvolvit, uti omne praesens gravidum est futuro.“ Brief an de Volder, 20. Juni 1703, GP II, 252. 106 GP IV, 469. Siehe dazu Koch, Hans Ludwig: Materie und Organismus bei Leibniz, Halle a. S. 1908, 40.

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Teil IV: Kraft und Materie

allerdings die Kluft zwischen phoronomischer und dynamischer Betrachtungsweise, also zwischen Bewegungs- und Kräftelehre. Zur systematisierenden Übersicht sei eine an Robinet107 angelehnte Tabelle in leicht veränderter Form wiedergegeben: Dynamischer Begriff Mechanischer Begriff

Metaphysisches Äquivalent

Äquivalent in der Monadenlehre

Vis activa primitiva, Vis mortua

Conatus

Entelechie, Spontaneität, Tendentia ad motum

Appetitus

Vis activa derivativa

Motus localis / Impetus

-

-

Vis passiva primitiva

Impenetrabilitas

Materia prima

Der Monade zugeordneter Körper-Punkt

Vis passiva derivativa

Massa, Motus (Inertia)

Materia secunda

Dem Monadenaggregat zugeordneter Körper

Vis viva

Actio motrix

Motus violentus, Handlung

Dominanz der Seele über den Körper

Die Fundierung der Begriffe der Wissenschaft in den Begriffen der Dynamik, welche der Substanz und dem Aggregat von Substanzen zugeschrieben werden, bedeutet, dass mit der monadenimmanenten ursprünglichen Kraft die Bewegungen, Stoßgesetze, Härte und Trägheit eines Körpers, metaphysisch begründet sind. Allerdings können so weder Form noch Einheit des Körpers erklärt werden. Auch wenn sie „bloß“ abgeleitet ist, so kommt der physischen Kraft doch etwas Wirkliches zu. Als letzter weltlicher Ursache muss der Kraft eine gewisse Wirklichkeit zugesprochen werden, um die Wirklichkeit der Erscheinungen zu erklären: Der Regenbogen unterscheidet sich in seiner Immaterialität von den wirklichen Körpern auch darin, dass er haptisch nicht erfahrbar ist und dass ihm keine Monaden qua Wirk-Ort zugesprochen werden können. Er ist bloß perspektivisch gegeben und seine Position im Raum kann nicht isomorph von einer Perspektive in jede andere überführt werden. Die Erfahrungskomponenten der Antitypia und der Inertia sind Kriterien der Wirklichkeit der Körper, weil sie deren Fundierung in den Substanzen anzeigen. Diese Körper-Wirklichkeit ist aber erfahrungsrelativ und weltimmanent, d. h. eine, die nur für das Subjekt dieser Erfahrungen ist. Sie muss damit unterschieden werden von der Wirklichkeit der einfachen Substanzen, die erfahrungsunabhängig ist. Es kann also berechtigterweise begrifflich differenziert werden zwischen erstens einer Erfahrungswelt, zweitens der Realität der Kräfte und drittens einer metaphysischen Wirklichkeit, die a priori zu denken ist und den einfa107 Robinet: Architectonique disjonctive, a. a. O., 258. Siehe auch: Ders.: „Dynamique et fondements métaphysiques“, in: Studia Leibnitiana, Sonderheft 13, 1984, 1–25.

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chen Substanzen entspricht. Dabei ist, wie bereits dargelegt wurde, die Welt nur für eine Monade und in ihrem Realitätsgehalt von der Monade abhängig. Leibniz betont immer wieder, dass der Kraftbegriff ein metaphysischer Begriff ist: Denn er ist ein unverzichtbarer Begriff, mit dem wir eine Theorie der Individuen bilden und Veränderungen erklären können. Die Kraft ist das sich noch nicht zeitlich auswirkende Vermögen, das in sich eine Veränderung für die Zukunft enthält108. Die Kräfte, welche die Veränderungen der Körper bewirken, sind also analog zu den Kräften zu sehen, welche in den Veränderungen der Modifikationen einzelner Substanzen wirken. Beeinflussen sich zwei Körper kausal, so verändern sich die aktualen Modifikationen der ihnen zugeordneten Substanzen in Entsprechung: Die Qualitäten einer die Veränderung „erleidenden“ Substanz ändern sich in dem Maße, wie sie sich bei der verursachenden Substanz ebenfalls ändern. Modifikationen, Perzeptionen und Prädikate ändern sich in allen Monaden gemäß der harmonie préétablie und nur aufgrund ihrer ursprünglichen Kraft; es wirken keine Kräfte unmittelbar zwischen Substanzen. Es gibt nur Kräfte, die aufgrund der empirischen Phänomene in der Interaktion zwischen den Körpern notwendig anzunehmen sind. Die Veränderungen der Modifikationen einfacher Substanzen, die dem Subjekt zeitlich gegebenen Veränderungen der Perzeptionen und den in den perzipierten Körpern wirkenden Kräften sind Aspekte desselben Vorganges. 2.4. Der Appetitus als Grund aller Kräfte In diesem Kapitel soll dargelegt werden, wie diese verschiedenen Kräfte auf die grundlegende Aktivität der Substanz zurückzuführen sind, die mal Appetitus, mal primitive Kraft oder Conatus genannt wird. Es handelt sich dabei um die substanzielle Spontaneität, die man als eine Form immanenter Kausalität verstehen kann. Sie liegt jeder Kraft, jeder Bewegung und damit jeder Materie, jeder körperlichen Form und jeder über die Zeit ausgeführten Handlung (actio) zugrunde.109 Der Begriff der derivativen Kraft ist zwar der Theorie der körperlichen Substanzen zuzuordnen, die Monaden und ihre Körper umfasst, aber die ontologische Wirklichkeit der primitiven Kraft als eigentlich substanzieller Natur gehört der Lehre von den einfachen Substanzen im strengeren Sinne an. Wie oben dargelegt betont Leibniz, dass die derivativen Kräfte die primitiven Kräfte im Reich der Phänomene manifestieren, wobei die primitiven Kräfte vor allem als Tendenzen zu verstehen sind, die den Substanzen selbst immanent sind. Der Appetitus ist das aktive Prinzip, dem in der aristotelischen Terminologie die Entelechie entspricht. Er ist Grund aller Perzeptionen und zugleich auch Grund aller Handlungen. Dieses aktive Prinzip ist also selbst nichts anderes als das aktive Prinzip der Veränderungen im doppelten Sinne: Einmal als Bewegung der Körper als perzipierte Körper; ein anderes Mal als Veränderung der Modifikationen, durch welche die Körper vorgestellt werden. Beides ist aus metaphysischer Perspektive dasselbe. 108 Siehe Eclaircissement des difficultés (1696), GP IV, 523. 109 Die grundlegende Bedeutung der Spontaneität legt schon Gueroult dar, vgl. Gueroult: Leibniz, Dynamique et Métaphysique, a. a. O., 163.

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Teil IV: Kraft und Materie

Diese Perspektive hilft uns gleichwohl für die Erkenntnis der einzelnen, uns physisch gegebenen Dinge und Ereignisse wenig, für die wir uns der Empirie und Physik bedienen müssen, statt auf metaphysische Ideen zurückgreifen zu können. Dies begründet die begriffliche Ausdifferenzierung zwischen den verschiedenen Kräften und den Körpern und den Substanzen, denn weder in der Naturwissenschaft, noch in unserem alltäglichen Erleben begegnen uns Substanzen, deren Modifikationen oder Kräfte. Die begriffliche Differenzierung zwischen aktiver primitiver Kraft und Entelechie wird durch zahlreiche Identifizierungen beider miteinander als eben eine rein begriffliche ausgewiesen, ihr entspricht aber keine reale Differenz110. Die ursprüngliche Kraft bewirkt in der Aggregation (d. h. Quantifizierung) perzipierbare Veränderungen, also Bewegungen der Körper. Zwischen der Serie der Modifikationen als bloßer Potenzialität und der Wirklichkeit der Perzeptionen im Fluss der Erfahrung liegt die Entelechie, welche das Prinzip der Veränderungen der Perzeptionen ausmacht. Alle Veränderungen der Körper können nach Leibniz durch Bewegungen erklärt werden; Bewegungen können wiederum durch das innere Prinzip, welches das Wesen jeder Monade ausmacht, begriffen werden. Die Kraft ist somit das physikalische Äquivalent zum inneren Gesetz der Serie in seinem Ablauf bzw. in seiner je momentanen Aktualisierung. Dies erklärt auch die Tatsache, dass eine Kraft über ihre Wirkung begriffen werden kann, obwohl die Wirkung im anzunehmenden Moment der Kraft noch gar nicht eingetreten ist. Die ursprüngliche Kraft kann als Prinzip der Abfolge der Perzeptionen begriffen werden. Wird sie aber in eine unmittelbare Beziehung zur Realität der Veränderung gesetzt, die wiederum als Wirkung verstanden wird, dann kann sie als immanente Ursache allen Werdens bezeichnet werden. Die derivative Kraft setzt die konkreten momentanen Veränderungsimpulse in eine echte Handlung um, die durch die ursprüngliche Kraft vorgegeben ist. Sie ist die je transitive Ursache eines jeden konkreten physischen Geschehens. Ebenso wie die Substanz geht auch die Kraft selbst schon ‚schwanger‘ mit der Zukunft und dies aus dem Grund, weil die Kraft, in ihrer übergangshaften Realisierung eines Ansatzes zur Wirklichkeit, gar nichts anderes ist als die Aktivität der Monade, die selbst ihr Realitätsmoment ihrer übergangshaften Realisierung eines formal gegebenen Moments zur Aktivität verortet111. Der Appetitus ist das Prinzip der Veränderung der Modifikationen der Monade und ontologisch identisch mit der ursprünglichen Kraft. Er hat aber eine andere Erklärungskapazität als der Kraft-Begriff, zumal er keine Erfahrungskomponente ist, also anders als der Kraftbegriff nicht zur Erklärung der beobachtbaren Veränderungen dient. Er begründet vielmehr die Prozessualität der Perzeptionsabfolge selbst, gewissermaßen der Erfahrung im weiteren Sinne, auch wenn diese gleichwohl im Rahmen einer das gesamte Universum widerspiegelnden Monade mit der Prozessualität der weltlichen Veränderungen identisch ist. 110 „Ex vi activa […] sive ex Entelechie sequitur actio.“ Brief an de Volder, GP II, 295. Siehe De ipsa natura, GP IV, 512: „Animam, vel formam animae analogam, sive ejntelevceia th;n prw;thn, id est nisum quendam seu vim agendi primitivam, quae ipsa est lex insita, decreto divino impressa […].“ 111 Vgl. Brief an de Volder, 21. Januar 1704, GP II, 262.

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Zurückgehend auf die Theorie der Perzeptionen und die Bedingung der Kohärenz für die Wirklichkeit der perzipierten Körper kann man drei Aspekte mittels der Vielfalt der Kräfte unter der Einheit der Entelechie in Zusammenhang bringen: Erstens die Beziehung zwischen der Kohärenz der Perzeptionen untereinander, zweitens die Kontinuität in ihrer Abfolge, sowie drittens die Einheit der Vielheit in den Perzeptionen vermittels der Einheit des Appetitus112. Appetitus, Entelechie und Kraft haben dieselbe Funktion: Sie realisieren die im vollständigen Begriff angelegten Modifikationen des Individuums – aber sie haben jeweils einen anderen Ort: Der Appetitus ist nichts anderes als die einem Subjekt zugängliche Prozessualität der Perzeptionen, die Entelechie vermittelt das begriffliche Prinzip des Individuums in die Selbstrealisierung des Individuums in dieser Perzeptionenabfolge, die Kraft ist in den Körpern verortet, welche durch die Perzeptionen ausgedrückt werden. Der prozessuale Charakter der Perzeptionenabfolge verändert auch den Begriff der Perzeptionen und der Repräsentationen: Die Perzeptionen werden kraft des Appetitus zu Repräsentationshandlungen, deren Repräsentationscharakter die Dinge in der Welt, deren Handlungscharakter aber die innere Dynamik der Kräfte, d. h. die unreduzierbare Aktivität und damit die Lebendigkeit der Monade ausmacht113. Die Entelechie bestimmt im Kontext dieser Repräsentationshandlungen, welche Perzeptionen das Individuum und seinen Körper ausdrücken und welche die Welt. Im Endeffekt geht damit die gesamte ausgedehnte, physische Welt, ja gehen alle Arten von physischen Kräften auf die Aktivitäten der Monaden zurück114. Auch andere Zitate legen eine Entsprechung von Conatus und Appetitus nahe, z. B.: „Ich nehme an, dass der Wille unserem Verstand entspricht, so wie in allen einfachen Entelechien der Appetitus den Perzeptionen entspricht, oder der ausführende Conatus (agendi conatus), der zu neuen Perzeptionen tendiert“115, oder auch: „Im Geiste jedoch, wenn man richtig urteilt, dann findet sich dort nicht so sehr der Verstand, sondern der Conatus, der die ungewollten Strebungen ausmacht (qui est appetitui involutus)“116. In letzterem Zitat wird deutlich, dass Leibniz den Appetitus auch mit dem Streben des Willens identifiziert, welcher die Geistesaktivität 112 Dies wird von Belaval ganz klar gesehen: „La perception n’existe que par une multiplicité hétérogène, qualitative, à laquelle répond la multiplicité qualitative de l’Appetitio et, par conséquent, de la force […]. [Die bewegende Kraft ist] origine du mouvement et, par lui, de la variété des phénomènes.“ Belaval: Leibniz, Critique de Descartes, a. a. O., 402. 113 Diese Ausdifferenzierung stammt von Lorenz, Kuno, der gleichwohl statt von Repräsentationshandlungen von Zeichenhandlungen spricht: „Leibnizens Monadenlehre. Versuch einer logischen Rekonstruktion metaphysischer Konstruktionen“, in: Weizsäcker, Carl Friedrich von (Hrsg.): Zeit und Logik bei Leibniz, Stuttgart 1989, 11–31, hier 21. 114 Vgl.: „Since the nature of what actually exists is to act, only simple substances truly exist. Hence extended phenomena are in reality only the simultaneous action of a plurality of actual and coexisting substances.“ McGuire, James E.: „‚Labyrinthus Continui‘: Leibniz on Substance, Activity, and Matter“, in: Woolhouse, Roger (Hrsg.): Gottfried Wilhelm Leibniz. Critical Assessments, Bd. III, London, New York 1994, 289–320, hier 304. 115 „Porro ut in nobis intellectioni respondet voluntas, ita in omni Entelechia primitiva perceptioni respondet appetitus, seu agendi conatus ad novam perceptionem tendens.“ Ohne Titel, in Betreff der Seele der Thiere, GP VII, 330. 116 „In Spiritibus etiam, recte judicas, non tantum esse intellectum, sed et conatum, qui est appetitui involutus.“ Brief an Bierling, 19. November 1709, GP VII, 489.

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ausmacht. Mit dieser dynamischen Konstruktion des Willens als aktive Grundlage aller perzeptuellen Veränderungen versucht Leibniz damit die, wie man heute sagen würde, bewusste oder unbewusste Intentionalität mit den kontrollierten oder unkontrollierten Bewegungen des Körpers zu vereinbaren. Darauf werden wir im letzten Teil noch zurückkommen, in dem die Freiheit des Menschen behandelt wird. Entscheidend ist, dass der Conatus in diesem Zusammenhang als der dynamische Übergang der Möglichkeit zur Wirklichkeit verstanden wird und in diesem Sinne zugleich der Beginn einer Bewegung, als auch der Ausgangspunkt des Entstehens eines Willensaktes sein kann. Er setzt das um, was die Entelechie ihm vorgibt bzw. die Entelechie bedient sich des Conatus, um eine echte, physische Wirksamkeit zu entwickeln. Eine weitere Textstelle zur Identifizierung von Appetitus und Conatus findet sich im Briefwechsel mit Georg Ernst Stahl. Dort besteht Leibniz darauf, den Appetitus so zu definieren, wie er bereits die Perzeption definiert habe, so nämlich wie ich unter dem Namen Appetitus den Conatus der Seele verstehe, so klein und verworren er auch sei, [der dazu dient,] um das Zuträgliche zu erlangen und das Unzuträgliche abzustoßen und der aus den nicht weniger verworrenen Perzeptionen erwächst. Darum sind wir allen unseren eigenen Appetitus [pl.] nicht mehr bewusst als allen unseren Perzeptionen, und in diesem Sinne behaupte ich, dass die körperlichen Bewegungen, selbst die, denen wir nicht bewusst sind, dem Appetitus der Seele entsprechen.117

Der Appetitus richtet sich dabei allerdings auf das Zuträgliche und das Unzuträgliche, das heißt, in seinem Streben wird bereits ein Wert vorausgesetzt. Die körperlichen Bewegungen folgen diesem Streben zum Guten, wobei noch genauer zu bestimmen ist, wie dieses Streben auf individuelles und allgemeines Gut ausgerichtet ist (siehe Teil VII). Dies scheint den Appetitus auf den ersten Blick von dem Conatus zu unterscheiden, doch streng betrachtet ist auch der Conatus als ein prinzipiengeleitetes Streben auf ein normativ vorgegebenes Ziel ausgerichtet. Allerdings ist uns der Conatus einer Bewegung erst ex post facto und nur in der theoretischen Abstraktion zugänglich, während wir den Appetitus in uns in verschiedener Form spüren können: Als rudimentäres und instinkthaftes Streben, mit dem Leibniz das Unbewusste antizipiert zu haben scheint, oder als körperlicher Drang wie Hunger. Ein reflektierter und bejahter Appetitus äußert sich als intellektuelle Willensstrebung aus einer Einsicht heraus. Diese Differenz zwischen Innen- und Außenperspektive scheint bei Leibniz im Hintergrund der Formulierung mitzuschwingen, der Appetitus sei der Conatus der Seele: Der Appetitus ist das Element in der Seele, was der Conatus in den Körpern ist. Zudem macht diese Textstelle deutlich, dass die Übereinstimmung der Veränderungen in der körperlichen Substanz mit der Veränderung in den Perzeptionen auf 117 Leibnitii Replicatio ad Stahlianas Observationes (1711), in: La Controverse entre Stahl et Leibniz, hrsg. von Sarah Carvallo, Paris 2004, 118: „[…] ut nempe [appetitus] etiam minutores et obscuriores animae conatus ad aliquid conveniens, aut inconveniens repellendum, ex perceptionibus non minus confusis ortos, sub appetitus nomine comprehendam. Itaque non magis omnem nostrum appetitum, quam omnem nostram perceptionem animadvertimus, et hoc sensu statuo, corporis motus etiam nobis non animadversos appetitibus animae respondere.“

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ein und dieselbe grundlegende ontologische Entität, nämlich die primitive Kraft, zurückzuführen ist, welche für beide Veränderungen verantwortlich ist. Beide ursprünglichen Kräfte, Appetitus und Conatus, sind nur der Perspektive nach unterschieden, zumal sie beide das fundierende Prinzip der Veränderung der Körper sind. Leibniz’ Formulierungen sind dabei nicht sehr einheitlich, was wiederum der jeweiligen philosophischen Perspektive geschuldet ist, die entweder auf die Seelen oder die Körper gerichtet ist. An einigen Textstellen wird der aktiven Kraft zugesprochen, dass sie den Conatus enthält (involvit)118 – an anderen Stellen wiederum wird der Appetitus direkt mit dem Conatus identifiziert119. Der Conatus als ursprünglicher Bewegungsansatz ist nicht die Kraft einer Monade, sich im Raum zu bewegen, sondern fundiert die Bewegung eines Körpers metaphysisch, d. h. in den substanziellen Atomen. Dabei verwendet Leibniz hier gleichwohl den späteren Appetitus-Begriff, den er seit dem Discours entwickelt hat; der frühere zielt eher auf das Lebendig-Sein der Substanz ab und noch nicht auf den Monaden-Begriff, wie er ihn in der Monadologie entworfen hat. Insgesamt kann man mit Pauline Phemister drei Arten von speziellen Appetitionen unterscheiden, die alle je dem späteren Begriff des Appetitus zugehören: erstens nicht wahrnehmbare Inklinationen, deren es unendlich viele gibt; zweitens wahrnehmbare oder wahrgenommene Appetitionen; drittens wirkliche Volitionen, also reflektierte Appetitionen eines zur Vernunft fähigen Wesens120. Diese steuern je die angestrebten Perzeptionen an, je nach Reflektionsfähigkeit der Monade und Klarheit der Wahrnehmungen. Diese nur graduell verschiedenen Appetitionen können auch je als einzelne Willensakte (volitiones) der Monade gelten, wobei sie entsprechend der ontologischen Perfektion der Monade auch ein größeres Monadenaggregat dominieren können, d. h. eines mit untergeordnet perfekten Monaden. Die klarer zu erkennenden Substanzen dominieren die, die zu weniger klaren Perzeptionen neigen. So wird gesichert, dass den einsichtigeren Monaden auch ein größerer Einfluss auf die Körperwelt zugeordnet ist als den unvernünftigen, die entweder als winzige Kleinstlebewesen manifestiert sind und/oder als Teile eines Lebewesens (siehe Teil VI). Die substanzielle Aktivität besteht nun, je nach Perspektive, darin, dass die Substanz die in ihr virtuell angelegten Perzeptionen entfaltet oder die in den Perzeptionen begründeten, innerweltlichen Handlungen ihr zugehörigen Körpers initiiert. Leibniz hat so die Idee der Kausalbeziehung als ontologische Dependenz von der bloß formalen Theorie der requisita auf die dynamische Kräftelehre ausgedehnt und transitive Kausalität metaphysisch begründet, indem er sie auf immanente 118 „Sed vis activa actum quendam sive ejntelevceia continet, atque inter facultatem agendi actionemque ipsam media est, et conatum involvit.“ De prima philosophiae emendatione et de notione substantiae (1694), GP IV, 469. 119 „Vires primitivas manifestum esse censeo nil aliud esse posse quam tendentias internas substantiarum simplicium, quibus certa suae naturae lege de perceptiones in perceptionem transeunt.“ Brief an De Volder, undatiert, vermutlich November 1704 – Oktober 1705 (?), GP II, 275. 120 Phemister: Leibniz and the Natural World, a. a. O., 247.

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Kausalität zurückführt. Auf der Ebene der Phänomene kann stets mit Mitteln der Wissenschaft eine naturalistische Antwort für Kausalitätsfragen gefunden werden und die Bewegung eines Körpers kann durch die physischen Eigenschaften anderer Körper erklärt werden. Damit kommt Leibniz den epistemischen Ansprüchen der Cartesianer und der modernen Wissenschaft entgegen. Seine Kräftelehre unterscheidet sich aber dahingehend von ihrem atomistischen oder materialistischen Gegenpart, als die Reduktion nicht bei materiellen Eigenschaften endet, sondern im Widerstreit verschiedener Aktivitätszentren, die außer ihrer graduell an- und abschwellenden Aktivität und ihrer Position gegenüber anderen Zentren keinerlei weitere Eigenschaften besitzen. Während die Materialisten und Atomisten quantifizierbare und universelle Eigenschaften wie Größe, Form und Bewegung als grundlegend für alle materielle Realität ansehen, schreibt Leibniz im Gegensatz dazu diese Rolle individuellen und bloß qualitativ veränderlichen Kraftzentren zu, die er später Monaden nennen wird. Genau diese Fundierung von quantitativen Eigenschaften in nur noch qualitativ begreifbaren Entitäten ist die Begründung der Physik in der Metaphysik. 3. DIE MATERIEBEGRIFFE Hier soll nun eine Ausdifferenzierung der verschiedenen Begriffe von Materie folgen, die bei Leibniz stets mit verschiedenen Formen der Kausalität verknüpft sind. Dabei ist zuerst anzumerken, dass es bei Leibniz keine genuin unbelebte Materie gibt. In direkter Anlehnung an Augustinus und den Neuplatonismus erklärt er: „Die bloß passive Materie ist gänzlich niederträchtig und ihr fehlt jede Tugend.“121 Dies bestätigt die Idee, dass Leibniz’ Ontologie eine deontische Komponente besitzt: Diese unbelebte Materie darf nicht existieren, weil sie der Existenz nicht wert ist. Unbelebte Materie ist in gewissem Sinne ein Grenzbegriff, der die letztmögliche Differenz zum Absoluten als Referenzpunkt markiert. In dieser Spanne wird die Werthaftigkeit des Daseins erst für den Menschen intelligibel. Eine bloß passive Materie würde aufgrund mangelnder Perfektion gar nicht geschaffen werden, sie ist moralisch unmöglich. Zudem kann es eine solche passive Materie nicht geben, weil der Begriff der Passivität immer den der Aktivität voraussetzt und derivativ ist und insoweit als unvollständig zu denken ist, wenn sein zugrunde liegender Komplementärbegriff fehlt. Kurz gesagt: Materie selbst ist nie aktiv, ihre Passivität resultiert aus der substanziellen Aktivität. Materie demnach existiert nur als unvollständiger Teil von etwas, d. h. als eine begriffliche Ausdifferenzierung eines ontologischen Ganzen, d. h. in der Abstraktion122. Die Einheit eines Körpers ist demnach auch eine Vereinigung von aktiven und passiven Elementen. Ein Körper bildet laut Leibniz nur dann eine Einheit, wenn diese durch eine übergeordnete Entelechie bestimmt wird. Erst dann kann dem Lebewesen als Gan121 „Materia mere passiva est aliquid vilissimum, nempe carens omni virtute“, Réfutation Inédite de Spinoza par Leibniz, hrsg. von Louis A. Foucher de Careil, Paris 1854, 30. 122 „Sed tale consistit tantum vel in incompleto, vel in abstractione“, ebd.

Die Materiebegriffe

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zem die Ursache für die Bewegungen zugeschrieben werden. Der Unterschied zwischen belebter und unbelebter Materie ist weder ontologischer Natur noch auf den Körper als Material verstanden zurückzuführen – schließlich sind alle Körper belebt, weil in allen Körpern nichts als lebendige Wesen zu finden sind. Jedem Körper-Punkt wird eine Monade zugeschrieben, sonst wäre die Materialität der Körper nicht verständlich. Der in unserer Erfahrung gegebene Unterschied zwischen lebendig und unbelebt wird durch das Vorhandensein einer inneren Einheit unter der Dominanz einer Seele konstituiert. Dieses Eine (unum per se) ist die körperliche Substanz123. Was ein unum ist, ist jedoch keinesfalls in den Perzeptionen zu finden, da diese selbst eben die Repräsentation einer Vielheit sind. Um zu untersuchen, wie es zu einer Einheit in der Materie kommen kann, sollen zunächst die einzelnen Materiebegriffe untersucht werden, die mit den erläuterten Kraftbegriffen in engem Zusammenhang stehen. Spätestens seit Bertrand Russels Untersuchung der Leibnizschen Philosophie ist bekannt, dass Leibniz kein einheitliches Konzept der Materie hat124. Im Folgenden werden vier Materiebegriffe expliziert, die Leibniz in verschiedenen Kontexten verwendet. Diese Aufzählung ist keinesfalls vollständig, aber sie soll hier helfen, die Formen physischer und substanzieller Kausalität auszudifferenzieren. Die ersten beiden Materiebegriffe werden im Specimen Dynamicum in naturphilosophisch-naturwissenschaftlichem Sinne eingeführt und lassen eine Vermittlung zwischen der Bewegung der Körper, der den Körpern innewohnenden Trägheit und der unreduzierbaren aktiven Kraft der Seele zu. Leibniz unterscheidet dort zwischen der Erstmaterie, die er der ursprünglichen Kraft zuordnet und die in der Undurchdringlichkeit der Körper besteht, und der zweiten Materie, die mit der abgeleiteten Kraft einhergeht und den in unserer alltäglichen Erfahrung gegebenen Körper bezeichnet. Der dritte Materiebegriff wird über Leibniz’ Aussagen zur Phänomenalität der Körper rekonstruiert, er wurde bereits dargelegt: Nach ihm erschöpfen sich die Körper in der Kohärenz der Phänomene. Die Materialität der Körper ist demnach rein phänomenal gegeben und ihr entspricht nichts, was irreduzibel wirklich wäre. Der vierte Materiebegriff bezieht sich auf eine Unterscheidung zwischen Materie und Form. Letztendlich, dies soll in den darauffolgenden Kapiteln gezeigt werden, kann dieser vierte Materiebegriff die ersten drei unter sich vereinen. 3.1. Die Erstmaterie (materia prima) Die Erstmaterie wohnt jeder einfachen Substanz inne und wird durch die Undurchdringlichkeit (Antitypia) konstituiert:

123 Brief an Remond, 4. November 1715, GP III, 657: „Une veritable substance (telle qu’un animal) est composée d’une ame immaterielle et d’un corps organique, et c’est la Composé et ces deux qu’on appele Unum per se.“ Vgl. auch z. B. GP IV, 395. 124 Siehe Russell: A Critical Exposition, a. a. O., 75 ff.

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Teil IV: Kraft und Materie Die Materie ist das, was aus der Antitypie besteht oder was einer Durchdringung widersteht; und dieselbige nackte Materie ist rein passiv. Der Körper jedoch ist die Materie selbst, die über eine aktive Kraft verfügt.125

Diese erste Materie wird durch die primitive passive Kraft ausgemacht und bewirkt, dass ein Körper von einem anderen nicht durchdrungen werden kann, bzw. dass dieser der Annäherung einen Widerstand entgegensetzt: Zwei Körper können nicht zugleich am selben Ort sein126. Dies ist in der Uneinnehmbarkeit des point de vue durch eine andere Substanz zur selben Zeit begründet. Die Erstmaterie ist also nichts mehr als der von anderen Substanzen nicht einnehmbare Raum-Punkt oder Körper-Punkt einer Monade – und damit nichts anderes als seine Perspektive bzw. die Perspektivität des Individuums selbst. Jeder Substanz kommt diese erste Materie zu, doch es wäre unsinnig zu behaupten, die Monade würde durch diese Kraft ihre Undurchdringlichkeit erhalten. Die passive ursprüngliche Kraft muss auf die aktive ursprüngliche Kraft zurückbezogen werden und damit auf die individuelle Abfolge der Perzeptionen; dies macht die ursprüngliche Kraft das Individuelle an der Monade aus, das sich nicht beeinflussen oder zerstören lässt. Damit konstituiert sie das körperliche Korrelat der Monade, einen Körper-Punkt, der auch mit dem point de vue derselben Monade zusammenfällt. Nun wird dieser Körper-Punkt in seiner Eigenschaft, undurchdringlich zu sein, als Voraussetzung der wahrgenommenen Materie gedacht, die durch die Eigenschaft der relativen Festigkeit und Trägheit bestimmt ist – analog zu der Vorstellung, dass ein mathematischer Punkt die Voraussetzung einer Linie ist, nicht aber ein wirklicher Teil dieser. Die Monade kann nun, da sie kein räumlichausgedehntes Objekt ist, auch kein mögliches Subjekt für die Eigenschaft der Undurchdringlichkeit sein. Diese kommt in gewissem Grade vielmehr dem Körper zu, als dessen Voraussetzung der infinitesimal ausgedehnte undurchdringliche KörperPunkt gedacht wird, welcher der Monade zugeordnet ist. So ergibt sich auf diesen bezogen prinzipiell keine mögliche Erfahrung der Undurchdringlichkeit – nur in quantifizierbarer Weise ausgedehnte Körper können erfahren werden. Diese jedoch sind nie in Gänze undurchdringlich und deswegen nicht als Erstmaterie identifizierbar. Die Einzigartigkeit der einfachen Substanz, durch welche die Undurchdringlichkeit und der genau einer Monade zugeordnete point de vue begründet werden, ist hingegen nicht als Voraussetzung zu denken, sondern sie ergibt sich aus der vollständigen Bestimmtheit der Substanz und dem Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren. Analog zum Conatus, der als Ansatz zu einer Bewegung verstanden werden kann, ist die erste Materie ein Ansatz (!) zum Widerstand, ohne tatsächlich erfahrbar widerständig zu sein – denn erst in der Aggregation kommt den Körpern Widerständigkeit zu, die nur graduell, nie aber absolut sein kann. Die Undurchdringlichkeit eines Punktes verhindert für sich genommen keine Bewegung oder Bewegungsübertragung. Das heißt: Der Undurchdringlichkeit von Körper-Punkten kommt der Status einer Voraussetzung zu, die erforderlich ist, um die Festigkeit und 125 „Materia est, quod consistit in Antitypia, seu quod penetranti resistit; adque ideo nuda materia mere passiva est. Corpus autem praeter materiam habet etiam vim activam.“ Brief an Bierling, 12. August 1711, GP VII, 501. 126 Vgl. z. B. NE II, Kapitel 4, § 1, A VI, 6, 122.

Die Materiebegriffe

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Trägheit von Körpern, die eine erfahrbare Größe haben, zu erklären. Wirkliche, absolute Undurchdringlichkeit kann nur einzelnen Materiepunkten zukommen, weil nicht zwei Substanzen am selben Ort angenommen werden können. In unserer Erlebniswirklichkeit erfahren wir nur Körper mit relativer Festigkeit. Leibniz macht diesen Punkt sehr deutlich: Alle Körper sind mehr oder weniger elastisch, vollständige Widerständigkeit kann keinem ausgedehnten Körper zukommen127. Es handelt sich also hierbei auch um einen Grenzbegriff, der die Grenzen des Wahrnehmbaren markiert und diese damit ermöglicht – analog zu den Endpunkten, die eine Linie konstituieren. Die Undurchdringlichkeit fundiert nur in metaphysischer Hinsicht die Trägheit, wir können keinen Körper unmittelbar als undurchdringlich erfahren, sondern nur vermittels ihrer Trägheit: Diese setzt als quantifizierbare Größe eine unquantifizierbare, minimal kleine Größe voraus und erfordert die Undurchdringlichkeit, die als unendlich kleine Größe jedem einzelnen Körper-Punkt zuzuschreiben ist und so die endliche Größe der Trägheit in Relation zu der Quantität des Körpers ermöglicht. Die erste Materie ist also fundiert in der Substanz selbst, in der vis activa primitiva. 3.2. Die zweite Materie (materia secunda) Die zweite Materie ist phänomenal erfahrbar und entstammt aus der quantifizierbaren Begrenzung der ersten, d. h. deren Umwandlung in eine erfahrbare Eigenschaft. Sie ist keine Eigenschaft einer Substanz, sondern die eines Körpers und resultiert aus der Aggregation von Substanzen. Sie ist „die erleidende oder widerstrebende Kraft in jeglichem Körper, aus der eine gewisse Ausdehnung im Körper folgt, sofern der Urheber der Dinge nicht anderes will.“128 Als Produkt der derivativen Kraft ist sie nur „in“ den Phänomenen gegeben, auch wenn ihr ein Aggregat von Substanzen zukommt, aus dem sie entspringt. Dieses besteht aus den Substanzen, die den Körper-Punkten zugeordnet sind, welche dem phänomenal gegebenen Körper in metaphysischer Hinsicht zugehören. Die erste Materie erfährt eine unendliche Aggregation entsprechend der Masse des Körpers: Das Aggregat aus unendlich vielen Monaden mit ihren je unendlich kleinen Conatus resultiert in einem endlichen Impetus, wobei sich Conatus und Impetus zueinander verhalten wie unendlich viele differential kleine Streckenabschnitte zu der Strecke insgesamt. Die unreduzierbare Aktivität der einfachen Substanz wird dabei in Relation gesetzt zu anderen Substanzen. So werden Körper durch ihre Masse begriffen und die Stoßgesetze basieren nicht auf der Ausdehnung der Körper, sondern auf der Quantität der Korpuskel, welche in der cartesischen Mechanik als Entitäten angenommen werden können. Mit dieser Fiktion der Korpuskel ist eine Heuristik geschaffen, welche die Kraftverteilung in Körpern modellierbar macht. Somit ist die zweite Materie der Mittler 127 „Omne corpus essentialiter Elasticum est.“ Abhandlung zur Philosophie Descartes (1702), GP IV, 397. 128 „Materia est vis patiendi seu resistendi in quocunque corpore, ex qua sequitur extensio certa corporis, nisi Autor rerum secus velit.“ Specimen Demonstrationum Catholicarum (1685 [?]), A VI, 4, 2326.

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Teil IV: Kraft und Materie

zwischen erstens der erfahrbaren Widerständigkeit, zumal sie deren Explanans ist, und zweitens der Undurchdringlichkeit, a priori gedacht als das innere Prinzip der einzelnen Monade. Die Vermittlung findet durch die unendliche Aggregation der vis primitiva passiva statt, aus der auf Erfahrungsebene die vis derivativa passiva resultiert. Letztlich kommt den Körpern und ihren Bewegungen aber kein eigener ontologischer Status zu, weil sie beide kein eigenes Sein haben jenseits der Modifikationen der Monade, durch die sie ausgedrückt werden. Demnach bedeutet die Unterscheidung zweier Materien keine zwei unterschiedlichen ontologischen Entitäten, sondern ist vielmehr eine Unterscheidung nach Wirkungsaspekten und Perspektiven. Der ersten Materie entspricht der Standpunkt der Monade um Raum und damit die Individualität der Substanz und sie garantiert, dass sich nicht zwei Körper gegenseitig durchdringen. Die zweite Materie geht auf die erste Materie zurück und wird als Explanans für die Erfahrung der Widerständigkeit der Körper gegenüber externer Bewegung eingefordert. Mit ihrem Begriff soll ausgedrückt werden, dass ein Körper einem anderen in dessen Bewegung Widerstand bietet und damit nicht nur einen erfahrbaren, fühlbaren Härtegrad besitzt, sondern auch Stoß- und Beschleunigungsgesetze ermöglicht. Der Begriff der zweiten Materie bezeichnet gar nichts Wirkliches: Und die zweite Materie (wie zum Beispiel der organische Körper) ist nicht eine Substanz […]; sie ist eine Anhäufung von mehreren Substanzen, wie ein Fischteich oder eine Schafsherde, und so wird sie Eines per accidens genannt, mit einem Wort, ein Phänomen.129

Die zweite Materie ist gerade nicht substanzieller Natur, soweit sie nur Lebewesen enthält, ohne selbst ein solches zu sein – auch der Körper eines Individuums kann, wenn man ihn als unabhängig von der Seele betrachtet (!), als eine solche bloße Anhäufung von Substanzen verstanden werden. Gerade in dieser Abstraktion von einer eventuellen übergeordneten Einheit wird deutlich, dass diese zweite Materie als die phänomenal gegebene Masse verstanden werden muss, die sich auch im Gewicht des Körpers ausdrückt. Während die passivische Widerstandskraft überall im Körper dieselbe ist130, so ist die Dichte der Körper wie ein Schwamm (spongia) zu denken, dessen Poren mehr oder weniger mit feinerer Materie gefüllt sind131. In diesem Sinne ermöglicht der Begriff der zweiten Materie die Naturwissenschaft, weil er es uns ermöglicht, auch ein einzelnes Lebewesen als einen bloßen Körper zu begreifen, der durch seine Materieteile ausgemacht wird und so Gegenstand der quantitativen Wissenschaft sein kann. Zugleich wird so deutlich, wie der Dualität von primitiven und derivativen Kräften eine Dualität an abgeleiteter und ursprünglicher Materie entspricht – Materiebegriffe und Kraftbegriffe bedingen und ermöglichen sich gegenseitig. 129 „Et la matiere seconde (comme par exemple le corps organique) n’est pas une substance […]; c’est qu’elle est un amas de plusieurs substances, comme un étang plein de poissons, ou comme un trouppeau de brebis, et par consequent elle est ce qu’on appele Unum per accidens, en un mot, un phenomene.“ Brief an Remond, 4. November 1715, GP III, 658. 130 Gegen Descartes und den Cartesianismus (1702), GP IV, 395. 131 Ebd. Vgl. außerdem dazu den fünften Brief an Clarke, GP VII, 397, sowie Phemister: Leibniz and the Natural World, a. a. O., 204 ff.

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Reduzieren wir den Körper jedoch auf einen bloß durch Masse, Größe, Form und Lage ausgemachten Körper, so sind wir in der Lage, ihn im Kausalnexus transitiver Ursachen zu begreifen und so mechanisch, also nur durch geometrische Begriffe zu erfassen. Durch die Theorie der Kräfte kann Leibniz aufzeigen, dass diese quantifizierbaren Eigenschaften reduzierbar sind auf ursprüngliche, metaphysische Qualitäten. Diese Qualitäten, v. a. Aktivität, Perfektion, Perspektivität, sind an die Monaden als irreduzible Entitäten gebunden. Genau darin liegt die oben erwähnte Begründung der Naturwissenschaft der Körper in der Metaphysik der Individuen. Würde man nur belebte, d. h. beseelte Individuen denken, die genuine Einheiten sind und durch ihre Seele spontan, d. h. durch interne und immanente Ursachen angetrieben werden, so könnte man nur qualitative Erklärungen für Veränderung angeben: Der Samen realisiert sich selbst im Baum. Diese Unterscheidung vollziehen wir auch heute automatisch mit, wenn wir von Personen („jemand…“) sprechen im Gegensatz zu Körpern („etwas…“), denn der Personenbegriff geht unvermeidbar mit der Annahme echter Freiheit einher, während wir den bloßen Körper stets als kausal determiniert begreifen können. Diese Vorstellung, dass selbstbestimmte Agenten stets in gewissem Maße frei sind, bloß aggregierte Dinge dagegen determiniert sind, wird auch im Folgenden aufgegriffen werden (siehe Teil VII). 3.3. Materie und Form Der dritte Materiebegriff, nach dem die Materie als Phänomen begriffen wird, wurde bereits in Kapitel 2.2 dargelegt. Er besagt lediglich, dass Körper nur phänomenal gegeben sind und sich nur darin vom Traum unterscheiden, dass sie kohärent sind. Es sollte mittlerweile deutlich geworden sein, warum die Kohärenz als prästabilierte Übereinstimmung der Substanzen zu verstehen ist und inwieweit diese Übereinstimmung dafür verantwortlich ist, dass sich die Körper so verhalten, wie wir es erleben. Im Traum wären Körper und deren Eigenschaften dagegen unfundiert. Der vierte Materiebegriff ist dagegen, so die hier vertretene These, ganz anders geartet als die anderen und die Zusammengehörigkeit aller vier Begriffe erschließt sich erst vor dem Hintergrund der gesamten Ontologie des leibnizschen Systems, so wie es in den späteren Jahren in Gänze entfaltet ist. Mit der Materie-Form-Dichotomie wird die aristotelische Tradition, die in der leibnizschen Philosophie fortwirkt, deutlich. Sowohl zusammengesetzte als auch einfache Substanzen werden durch die Dichotomie Materie-Form begriffen. Dieser Formbegriff kann als eine Reaktion auf das Erfordernis der Einheit der zusammengesetzten Substanzen verstanden werden, aber auch als Reaktion auf das Erfordernis eines Gesetzes der Perzeptionenabfolge in der einfachen Substanz, wobei dieses Gesetz selbst wieder formend sein muss für das einzelne Individuum132. 132 „But just as simple substance is supposed to underlie corporeal substance, one would suppose that the form and matter of simple substances is supposed to underlie the form and matter of corporeal substance.“ Garber, Daniel: „Leibniz on Form and Matter“, in: Early Science and Medicine II (1997), 326–352, hier: 342 f.

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In Anbetracht der Erstmaterie spielen sinnlich wahrnehmbare oder bloß vorstellbare Eigenschaften jenseits der heuristischen Undurchdringlichkeit keine direkte Rolle. Bereits in den Demonstrationes, die zwischen 1668 und 1671 entstanden sind, bekennt sich Leibniz zu Aristoteles und betont, dass der unteilbare Aspekt der Substanz in gewissem Maße aktiv ist und im scholastischen Sinne als Form bezeichnet werden kann; der passive Aspekt dagegen wird ebenfalls im scholastischen Sinne Materie genannt.133 Ungefähr zur selben Zeit, im Oktober 1668, skizziert Leibniz in einem Brief an Thomasius eine vollständige Substanzontologie im aristotelischen Sinne: Die Erstmaterie ist die widerständige Materie (moles) und die Figur oder Gestalt (figura) des Dinges; der Ursprung aller Bewegungen liegt letzten Endes in Gott; die Form (figura) des Dinges resultiert (!) aus der potenziellen Aktivität (potentia) der Materie und kann von der Materie als ihre substanzielle Form unterschieden werden, ist aber als Quelle aller sinnlichen Affektionen dem konkreten Körper gegenüber ontologisch vorhergehend. Die substanzielle Form, kann zur Erklärung aller Erscheinungen der Körper herangezogen werden134. Die Erstmaterie ist ganz im aristotelischen Sinne zugleich bloße Möglichkeit (potentia) und existent, nämlich als materiale Komponente eines Individuums, das durch seine Form zu einem Individuum und durch seine Materie wirklich wird. Die Erstmaterie realisiert sich dabei aber erst in der permanent stattfindenden Interaktion zwischen Körpern. Die Erstmaterie wäre ohne die Form inexistent und streng genommen undenkbar. Sie ist der alleinige Gegenstand des Wandels, was sich gegen die Atomisten und Korpuskularphilosophen richtet, die verschiedene Materiebegriffe annehmen konnten. Eine frühe Verwendung dieses Materiebegriffs findet sich in einem Brief an Thomasius, vom 6. Oktober 1668. Darin wird diese Konzeption im Zusammenhang mit der Überlegung entwickelt, dass weder Materie noch Form die Ursache der Bewegung sein können: Denn der Körper ist nämlich nichts anderes, als Materie und Form, und es ist wahr, dass weder Materie noch Form als Ursache der Bewegung verstanden werden können: Es ist notwendig, dass die Ursache der Bewegung außerhalb des Körpers liegt.135

Damit ist gemeint, dass die Bewegungsursache nicht im Reich des Körperlichen liegen kann, wie auch in der Theoria Motus Abstracta der Geist, hier noch nicht von der Seele unterschieden, als Bewegungsursache ‚außerhalb‘ des Körpers gedacht wird, d. h. der Geist ist kein Teil des Körpers, sondern dessen Grundlage136. In einem Text von 1669 identifiziert Leibniz den Begriff der körperlichen Form im 133 A VI, 1, 502. 134 Siehe dazu Mercer: Leibniz’s Metaphysics, a. a. O., 91. 135 „Cum enim corpus nihil aliud sit, quam materia et figura, et vero nec ex materia nec figura intelligi possit caussa motus: necesse est, caussam motus esse extra corpus.“ Brief an Thomasius vom 6. Oktober 1668, A II, 1 (2. Auflage), 19. 136 Vgl.: „Momente dieser neuen Konzeption sind die an der genauen Auseinandersetzung mit Hobbes gewonnenen Begriffe des Punktes, des Winkels, und vor allem des Conatus. Daher ist mit der Theoria motus abstracti die entscheidende Grundlage gelegt für jenes Projekt einer Philosophie des Geistes, von dem Leibniz in jenen Jahren immer wieder gesprochen hat.“ Goldenbaum, Ursula: „Leibniz’ Philosophie des Geistes als Gegenentwurf zu Hobbes’ Philosophie

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Sinne der Gestalt (figura) mit dem aristotelischen Begriff der substanziellen Form (forma)137 und bereitet so die Ineinsführung der Genese der körperlichen Gestalt durch Bewegungen mit der Begründung derselben in ihrem Wesen, d. i. in der substanziellen Form vor. Diese ist hier ein von der Vernunft eingefordertes Prinzip, mit dem die Veränderungen der Körper erklärbar sind, ohne dass dieser dadurch eine ontologische oder metaphysische Fundierung erfährt. Es sei daran erinnert, dass die Bewegung im Einklang mit der aristotelischen Tradition als Element der geometrischen Figur des Körpers gedacht wird, mit welcher eben die substanzielle Form identifiziert wird138. Die Identität der substanziellen Form mit der geometrischen Figur des Körpers gibt Leibniz später zugunsten eines abstrakten und als aktiv formend begriffenen Prinzips auf, welches die Teleologie des Lebewesens nicht durch seine geometrische Form denkt, sondern durch seine Perfektion und die Einbettung in den göttlichen Plan für die Welt. Einige Jahre später bezieht Leibniz in De mundo praesenti (1684–1686 [?]) diese Dichotomie von Materie und Form nicht mehr auf die durch ihre geometrische Form bestimmten Körper, sondern auf die körperliche Substanz: Die körperliche Substanz hat Teile und Arten. Die Teile sind Materie und Form. Die Materie ist das Prinzip des Erleidens, oder die ursprüngliche, widerständige Kraft, die wir gewöhnlich widerständige Materie (moles) oder Antitypie nennen, aus der die Undurchdringlichkeit der Körper entspringt. Die substanzielle Form ist das Prinzip der Handlung oder die ursprüngliche handelnde Kraft.139

Es liegt nahe zu vermuten, dass Leibniz seiner frühen Theorie auch in späteren Jahren noch zustimmen würde, zumal er oft betont, dass die Bewegungsursachen außerhalb des Körpers, mithin des Reichs der Körper überhaupt liegen. Das Prinzip der Handlungen, mithin der Bewegungen, findet sich aber nunmehr in der Form der körperlichen Substanz, aus welcher der auf phänomenaler Ebene gegebenen Körper resultiert. Die Form ist nicht mehr die bloße Form-Ursache des Körpers, sondern das abstrakte Prinzip der Abfolge der vorangelegten Handlungen, nach dem sich des Körpers“, in: Poser, Hans et al. (Hrgs.): Nihil sine Ratione. VII. Internationaler LeibnizKongress, Berlin 2001, 204–210, hier: 210. 137 „Hic si formam supponamus nihil aliud esse quam figuram.“ Epistola ad Exquisitissimae Doctrinae Virum de Aristotele Recentioribus Reconciliabili (1669), GP IV, 165. Dabei ist die Form die das individualisierende und bestimmende Zusammengehen von Bewegung, Lage und Figur, d. h. körperlicher Gestalt: „Haec forma educitur e potentia materiae. Phrasis enim haec, dura vulgo visa, positis his principiis facile explicatur. Formam enim educi ex potentia materiae, nihil aliud est, quam ex hoc materiae motu, ex hoc partium situ, hanc totius figuram oriri.“ Brief an Thomasius vom 6. Oktober 1668, A II, 1 (2. Auflage), 18. Dass Leibniz die Form mit der Potenz, der Kraft (potentia) der Materie in Verbindung bringt, ist bereits eine von Aristoteles ausgehende Vorbereitung seiner späteren Konzeption. 138 „Sin vero ab initio continua est, necesse est, ut formae oriantur per motum […] quia a motu divisio, a divisione termini partium, a terminis partium figurae earum, a figura formae, ergo a motu formae.“ Brief an Thomasius vom 20. April 1669, A II, 1 (2. Auflage), 27, vgl. 34. 139 „Substantia coporea habet partes et species. Partes sunt Materia et Forma. Materia est principium passionis, seu vis resistendi primitiva, quam vulgo vocant molem seu ajntitupo}a, ex qua fluit corporis impenetrabilitas. Forma substantialis est principium actionis seu vis agendi primitiva.“ A VI, 4, 1507.

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die Bewegung des Körpers realisiert. Dies ist aber eine immanente, keine transitive Ursache für die Bewegung der Körper. Die momentan gegebene aktive Kraft entspricht der Form, welche das steuernde Prinzip der Kraft ist. Dabei gehen Trägheit und Impetus, die beide in den Körpern ihre Wirkung haben, auf die substanzenimmanente, ursprüngliche Kraft zurück. Die vis activa primitiva, bzw. die Form der einfachen Substanz, folgt ihrem inneren Gesetz der Abfolge (lex seriei) und damit realisiert sie auch den Impetus, d. h. das Prinzip der Bewegungen, Handlungen und auch des körperlichen Widerstehens. Das Neue an dieser Verwendung des Materiebegriffs liegt in der Ausweitung des Begriffs der Form, d. i. der Form der zweiten Materie, auf den Begriff der substanziellen Form wie auch auf den Begriff der körperlichen Substanz, in dem die beiden Begriffe der Erst- und Zweitmaterie neu verortet werden. Dass Materie und Form Teile der körperlichen Substanz sind, wird verständlicher, wenn diese mit einer an Husserl angelehnten Terminologie als unselbständige Teilen begriffen werden, denen außerhalb des Ganzen keine eigene Existenz zukommen kann140. Als Materie wird das Prinzip des Leidens, die Passivität verstanden. Sie wird in ihrer Ausprägung als Passivität eines Körpers vom aktiven Prinzip, der substanziellen Form, geformt. Dies bedeutet nicht, dass hier zwei getrennte Entitäten existieren, zwischen denen ein kausales Verhältnis besteht. Es bedeutet vielmehr, dass hier die Selbstbestimmung und Eigenaktivität der Substanz de dicto in ein bewegendes Prinzip und einen bewegten Körper ausdifferenziert werden. Diese Differenzierung geht einher mit den ersten beiden Materiebegriffen und gilt analog zu der Vorstellung, dass die erste Materie als aktive Tätigkeit und die zweite als passiver Widerstand beschreibbar ist, wobei die Passivität der Materie zurückgeht auf die Aktivität der Seele. Beide sind im Körper im gleichen Maße vorhanden141. Die ursprüngliche Aktivität des Körpers ist nichts anderes als eine Begrenzung, d. h. Quantifizierung der abgeleiteten Aktivität. Die Möglichkeit der Übersetzung von ursprünglicher Aktivität zu relativer Passivität wird durch eine Bemerkung aus dem Specimen Dynamicum gewährleistet, welche besagt, dass die zweite Materie aus der Begrenzung durch die erste hervorgeht142. Vor dem Hintergrund des bisher dargelegten kann ein Versuch unternommen werden, dieses Konzept der Begrenzung der Zweitmaterie durch die Erstmaterie zu verstehen. Generell scheint bei Leibniz folgende Überlegung zu gelten: Ist das Begrenzende etwas, das quantitativ gegeben ist, dann kann aus der Begrenzung keine wahre Einheit hervorgehen und das Begrenzte damit nicht wirklich werden. Ist das Begrenzende aber selbst wiederum nicht quantifizierbarer Natur, so wie eine endliche Linie an einem bestimmten Punkt endet, so wird damit die Bedingung geschaffen für wirkliche Einheiten. Eine Begrenzung der zweiten Materie darf also nur im Falle von Dingen, die ein unum per accidens sind (bspw. ein Holzstapel), als eine rein räumliche Begrenzung begriffen werden. Bei echten Einheiten dagegen 140 Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen, zweiter Band, 1. Teil, Hamburg 1984 (nach Husserliana Band XIX/1). Besonders 227–300. 141 „In omni ictu corporum aequalis utrinque actio et passio est.“ Specimen inventorum (1688 [?]), A VI, 4, 1630. 142 SD, GM VI, 236.

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erfolgt die Begrenzung von innen, aus der Substanz heraus, so wie der Körper eines Lebewesens sich seiner „in“ ihm liegenden Form gemäß entwickelt. Im Folgenden wird deutlich werden: Im Falle eines Lebewesens findet die Begrenzung in teleologischer Hinsicht statt, nämlich in Bezug auf die Steuerung der Handlungen, sowie in Bezug auf die physikalische Körperausdehnung durch eine Zuordnung von widerständigen und trägen Körperteilen. Ersteres gründet in den Handlungen der körperlichen Substanz als Ganzes, die Ausdehnung dagegen in den Reaktionen der untergeordneten körperlichen Substanzen, welche keine eigenständigen Bewegungen haben, aber als Teil des Gesamtkörpers Widerstand gegen Einflüsse von außen leisten. Die Hierarchie der Substanzen, die einen Körper ausmachen und durch das formende Moment der übergeordneten Entelechie in eine Einheit gebracht werden, ist auch eine moralische und teleologische Hierarchie: Die Einheit des Lebewesens ist in letzter Instanz begründet durch die Perfektion seiner Form, die nicht nur ontologisch in bestmöglicher Weise realisiert ist, sondern der gegenüber auch zugleich die umfassendsten moralischen Ansprüche erhoben werden könne. Dies wird dann besonders deutlich, wenn Leibniz 1702 betont, dass das begrenzende Moment mehr Realität enthält als das untergeordnete – anscheinend sogar in direkter Anlehnung an seine Idee der Punkte, die eine Linie begrenzen und so erst ermöglichen: Und genau wie die Gestalt (figura) eine solche Begrenzung oder Modifikation der passiven Kraft oder der ausgedehnten Masse ist, so ist folglich die abgeleitete Kraft und die Bewegungseinwirkung (actio motrix) deren Modifikation, jedoch nicht von bloß passiven Dingen (sonst wird die Modifikation oder Grenze mehr Realität erfordern (involveret), als das, was begrenzt wird), sondern von aktiven [Dingen], d. i. von einer ursprünglichen Entelechie.143

Eine weitere, nicht ganz offensichtliche, aber für den Verlauf der hier vorgebrachten Argumentation aufschlussreiche Verwendung dieser Begrifflichkeiten findet sich in einem Brief an Arnauld vom 14. Juli 1686. Dort heißt es: Was der Seele widerfährt, erwächst ihr aus ihrem eigenen Grund, ohne dass sie sich in der Folge dem Körper anpassen müsste; genauso wenig muss dies der Körper hinsichtlich der Seele; Seele wie Körper folgen ihren Gesetzen und obwohl die Seele frei und der Körper ohne Wahl handelt, stimmen beide in denselben Phänomenen miteinander überein. Die Seele jedoch ist dennoch die Form ihres Körpers, weil sie alle Phänomene aller anderen Körper gemäß dem Bezug zu ihrem ausdrückt.144

143 „Et quemadmodum figura est quaedam limitatio seu modificatio vis passivae seu massae extensae, ita vis derivativa actioque motrix quaedam modificatio est non utique rei mere passivae (alioqui modificatio seu limes plus realitatis involveret, quam ipsum illud quod limitatur), sed activi cujusdam, id est entelechiae primitivae.“ Abhandlung zur Philosophie Descartes (1702), GP IV, 397. 144 „Ce qui arrive à l’ame luy nait de son propre fonds, sans qu’elle se doive accommoder au corps dans la suite, non plus que le corps à l’ame; chacun suivant ses loix, et l’un agissant librement, l’autre sans choix, se rencontre l’un avec l’autre dans les mêmes phenomenes. L’ame cependant ne laisse pas d’estre la forme de son corps, parce qu’elle exprime les phenomenes de tous les autres corps suivant le rapport au sien.“ Brief an Arnauld, 14. Juli 1686, A II, 2, 84.

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Die Seele ist in ihrer Kontinuität (ne laisse pas) die jeweils momentane Form des phänomenal gegeben Eigenkörpers des Lebewesens, weil sie alle Phänomene aller anderen Körper in Bezug auf ihren eigenen ausdrückt. Das wiederum bedeutet, dass die Anordnung und Klarheit der Perzeptionen, welche das weltliche Geschehen ausdrücken, in Beziehung steht zu den Perzeptionen, die den eigenen Körper ausdrücken. Die Unterscheidung zwischen ‚innerem‘ und ‚äußerem‘ Sinn ist in der Substanz selbst verortet, da es keine Dinge gibt, die auf die Substanz von außen einwirken. Es handelt sich dabei um die Binnendifferenz in der einfachen Substanz zwischen den Perzeptionen, die den eigenen Körper ausdrücken, und denen, die die Außenwelt anzeigen. So werden der eigene Körper und dessen Sinnesorgane als zentrale Perzeptionen, zusammen mit dem ihm innerweltlich zugeordneten point de vue, in der Theorie der einfachen Substanzen fundiert. Mit der Theorie der einfachen Substanzen und der Idee der individuellen Perspektive wird die Materietheorie von Leibniz erweitert. Erstmaterie ist aufgrund ihrer Einfachheit gleichwohl nicht als „Material“ im umgangssprachlichen Sinne zu verstehen, so als ob man eine Knetmasse zu einem Individuum formen könnte. Es handelt sich hier ebenfalls um eine Abstraktion von der sinnlich wahrgenommenen Materie145, die stets schon als Einheit von Form und Materie gegeben ist. Als Abstraktum ist sie das Resultat der Individualität selbst, weil sie Individualität in der Irreduzibilität der Perspektive besteht und damit in der Uneinnehmbarkeit der Perspektive anderer Subjekte, wobei die Perspektive eben auch mit einem irreduziblen, räumlichen Standpunkt korreliert. Demnach ist die Erstmaterie mit der abstrakten Form des Individuums verbunden, mit dem vollständigen Begriff, der auf abstraktester Ebene ausdrückt, wie und von wo das Individuum das Universum perzipiert. Der in den Perzeptionen repräsentierte Körper wird der Seele als der ihr eigene Körper zugeordnet, wobei als Kriterium die zentrale Stellung dient, welche den Perzeptionen zukommt, die den Körper unvermittelt ausdrücken. Gemeint ist damit, dass die Seele zuerst einmal den eigenen Körper auf unmittelbare Weise repräsentiert, einschließlich aller ihm innewohnenden Sinnesorgane, und dann erst auf mittelbare Weise den Gehalt, der vermittels der Sinnesorgane angezeigt wird. Die Seele ist das zugrunde liegende und bedingende Element und die Körper sind das derivative, bedingte; diese Unterscheidung sollte jedoch nicht überbetont werden, denn ohne Körper wären die Perzeptionen der Seele gehaltlos und damit ununterscheidbar, wodurch auch die Differenzen zwischen den Seelen aufgehoben wären. Deswegen ist die Seele bzw. Entelechie die Form des Körpers: In ihr liegt der Grund für die Unterscheidung zwischen den Perzeptionen, welche den eigenen und welche einen anderen Körper ausdrücken, d. h. der Grund für die Unterscheidung zwischen eigenem Sein und Außenwelt, zwischen Empfindung und weltlichem Vorkommnis. Im Specimen Dynamicum heißt es: Aber an uns ist es, indem jenes Allgemeine und Ursprüngliche abgetrennt und vorausgesetzt ist, von dem wir lernen, dass jeder Körper aufgrund seiner Form immer agiert und jeder Körper aufgrund seiner Materie immer weiter leidet und widersteht, jetzt weiterzugehen und in dieser Lehre von den abgeleiteten Wirksamkeiten und Widerständen zu handeln, inwiefern die Körper 145 NE, Teil II, Kapitel 23, § 23, A VI, 6, 222.

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mit verschiedenen Drängen wirksam sind oder wiederum auf verschiedene Weise zurückdrängen; denn zu diesen passen die Gesetze der Aktionen, die nicht nur mit der Vernunft erkannt, sondern auch mit der Wahrnehmung selbst durch die Phänomene bewiesen werden.146

Hier soll der aristotelische Dualismus von Materie und Form mit der modernen Wissenschaft versöhnt werden. Dies soll, wie wir bereits gesehen haben, mit den ersten beiden Kraftbegriffen geschehen. Leibniz deutet dort mit indirektem Verweis auf seine früheren Schriften an, dass er aus seiner Feststellung, dass der Form die Aktivität zukommt und der Materie die Passivität, jetzt noch die Konsequenzen ziehen muss: Aktivität und Passivität machen alleine noch keine Wissenschaftsbegründung aus. Sie benötigen einen intelligiblen Vermittler zu den wissenschaftlichen Begriffen, d. i. Kraftbegriff und Stoßgesetze. Der Hinweis, dass die Stoßgesetze nicht nur durch die Vernunft, also a priori, sondern auch a posteriori durch die Wahrnehmung bewiesen werden können, bezeugt die bereits beschriebene Versöhnung der erfahrungsbasierten Heuristik der Naturgesetze mit der Substanzontologie, im Rahmen derer die Kräfte begründet werden. Aktivität und Passivität zeigen sich im Stoß und in anderen kausalen Beziehungen in Form von anzunehmenden Ursachen und beobachteten Wirkungen. Form und Materie selbst sind nicht beobachtbar. Ein zweiter Punkt fällt auf, der mit dem oben zitierten Brief an Arnauld im Einklang steht. Sowohl dort als auch im Specimen Dynamicum betont Leibniz, dass die Seele fortwährend die Form des Körpers ist: „Die Seele jedoch hört nicht auf, die Form ihres Körpers zu sein.“147 Und an anderer Stelle: „Wir nehmen an, dass jede Form immer auf den Körper einwirkt.“148 Im Vergleich zur oben herausgearbeiteten Position, nach der die vis activa derivativa, welche die Seele ausmacht, nur momentan wirkt und erst in der Aggregation ihre Kontinuität erfährt, kann hier also nur die Rede sein von einem konkreten, d. h. quantifizierbaren formenden Wirken der Form zu jedem einzelnen Zeitpunkt – während der Begriff der Entelechie als aktive primitive Kraft das kontinuierliche Wirken der Substanz insgesamt, d. h. die konstante und unreduzierbare Aktivität der Substanz bedeutet und damit eine Bedingung für das momentane Wirken der substanziellen Form ist. Der Unterschied besteht aber zwischen der Konkretion und Quantifizierbarkeit des formenden Wirkens im Körper, das immer ein bestimmtes sein muss, und dem permanenten, aber qualitativ zu denkenden Wirken der Entelechie, die nur nach Realisierung ihrer selbst gemäß dem sie denotierenden vollständigen Begriff strebt. Der Begriff der Seele muss in seinem funktionalen Gehalt ausdifferenziert und von den aufeinander bezogenen Begriffen der Entelechie und der substanziellen Form unterschieden 146 „Sed nostrum est generalibus illis ac primitivis sepositis suppositisque, quibus ob formam corpus omne semper agere, et ob materiam corpus omne semper pati ac resistere docemur, nunc quidem pergere ulterius, et in hac doctrina de virtutibus et resistentiis derivativis tractare, quatenus variis nisibus pollent corpora, aut rursus varie renituntur; his enim accommodantur leges actionum, quae non ratione tantum intelliguntur, sed et sensu ipso per phaenomena comprobantur.“ SD, GM VI, 237. 147 „L’ame cependant ne laisse pas d’estre la forme de son corps.“ Brief an Arnauld, 4. Juli 1687, A II, 2, 82. 148 „Ob formam corpus omne semper agere […] docemur.“ SD, GM VI, 237.

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werden149. Die Seele ist das ewige, d. i. überzeitliche und zugleich permanent wirkende Konstituendum des Körpers und dessen Bewegungen, somit deren konkrete, momentane und die Aktivitäten bestimmende substanzielle Form. Hier wird auf das neuplatonische und augustinische Primat der Seele gegenüber dem aus ihr resultierenden, sich entfaltenden Körper zurückgegriffen. Ein weiteres Mal (1698) findet sich die Bezugnahme auf Materie und Form im Briefwechsel mit Johann Bernoulli. Leibniz beantwortet dessen Frage nach der materia prima bzw. nach der Materie per se mit dem Verweis auf bloße Passivität und die Abhängigkeit der Materie von der Seele bzw. Form150. Etwas später im selben Brief wird die notwendige Zusammengehörigkeit der Aktivität, als das formende Moment des Individuums verstanden, und der Passivität, also der in die Form eingegliederten Materie im Allgemeinen betont. Auf Bernoullis Frage hin, was hier an der Einheit von Seele und Körper unvollständig sei, verweist Leibniz auf die gegenseitige Abhängigkeit von Aktivität und Passivität, die sich erst im organischen Körper gegenseitig vervollständigen151. Hier wird wieder die Form mit der Seele identifiziert. Die Aktivität ist unvollständig ohne die Passivität, die Form ohne Materie, die Seele ohne den Körper. Leibniz erwähnt immer wieder, dass eine körperlose Seele zwar möglich wäre, doch nicht im Sinne Gottes, der die Welt nach dem Prinzip des Besten geschaffen hat: Eine Welt, in der die Seelen Körper haben und in der damit auch alle Phänomene wohlfundiert sind, ist reicher und besser als eine, in der dies nicht der Fall ist. Demnach hätte Gott guten Grund, eine Welt zu schaffen, in der die Lebewesen nicht rein unkörperlich sind. Dieser vierte Materiebegriff ist in seiner Komplexität und Leibniz’ oft unklarer Ausdrucksweise nicht immer hinreichend greifbar, findet sich aber noch an zahlreichen anderen Stellen152. 3.4. Die individuelle Substanz als Grund aller Materie Diese Aufstellung von vier Materiebegriffen ist nicht vollständig, aber sie umfasst diejenigen, die am weitesten ausgearbeitet scheinen und am häufigsten verwendet 149 „Ansonsten ist die Seele die Entelechie oder ursprüngliche aktive Potenz in einer körperlichen Substanz, durch welche die Materie oder ursprüngliche passive Potenz derselben Substanz vervollkommnet wird, und durch Modifikationen dieses [doppelten] Ursprünglichen entstehen in der körperlichen Substanz selbst Tätigkeiten und Erleidungen.“ – „Alioqui Anima est Entelechia seu potentia activa primitiva in substantia corporea per quam Materia seu ejusdem substantiae potentia passiva primitiva perficitur, et horum primitivorum modificatione in ipsa substantia corporea actiones passionesque nascuntur.“ Brief an Des Bosses, GP II, 301. 150 „Respondeo: id quod est mere passivum, atque ab animabus vel formis sejunctum.“ Brief an Joh. Bernoulli, 20./30. September 1698, GM III, 541. 151 „Respondeo: passivum sine activo, et activum sine passivo.“ Ebda, 542. Und eben dort: „Monadem completam seu substantiam singularem voco non tam animam, quam ipsum animal aut analogum, anima vel forma et corpore, organico praeditum.“ 152 Z. B.: „Et si quid est reale, id solum esse vim agendi et patendi adeoque in hoc (tanquam materia et forma) substantiam corporis consistere.“ De modo distinguendi phaenomena realia ab imaginariis (1683–86 [?]), A VI, 4, 1504. Vgl. auch: „Essentia autem materiae seu ipsa forma corporeitatis consistit in ajntitupiva seu impenetrabilitate.“ Epistola / Brief an Thomasius, 20./30. April 1669, A II, 1 (2. Auflage), 26.

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werden. Ein Beispiel für eine andere Konzeption der Materie: In den Nouveaux Essais bezeichnet Leibniz die Materie im Zusammenhang mit der von den Mathematikern angenommenen Regelmäßigkeit von Körpern als „die Mischung der Effekte des umgebenden Unendlichen.“153 Diese Definition geht auf die Annahme einer unendlichen Anzahl von Monaden zurück, welche mittels prästabilierter Harmonie in ihrer Aktivität aufeinander wirken, sowie auf die Annahme, dass es weder wirklichen Stillstand noch räumliche Leerstellen gäbe. Damit macht Leibniz auf die Problematik der Komplexität des Unendlichen aufmerksam und betont somit auch die Probleme der Anwendbarkeit der vereinheitlichenden Begriffe der exakten Wissenschaften auf die unendliche Vielfalt der Welt. Da die Existenz einer Leere, eines Vakuums die Perfektion der Welt verringern würde, gibt keine Leerstellen im Raum154. Die Ausdehnung kann nicht auf eine Aggregation von Punkten reduziert werden, diese sind die Voraussetzung (requisita) der ausgedehnten Körper, aber vom Ausgedehnten selbst fundamental verschieden. Erst die Aggregation von Substanzen erzeugt den Widerstand, der dem Begriff der Masse zugrunde liegt und den physikalischen Körper erfahrbar macht. Widerstand und Masse sind Abstraktionen und keine ursprünglichen Eigenschaften. Es gibt keine absolute Festigkeit, sondern alle Festigkeit, Undurchdringlichkeit und Widerständigkeit der Körper ist rein phänomenal gegeben und damit derivativ von einer basalen Wirklichkeit, den Substanzen, abhängig. Alle Körper, also auch alle Teile von Körpern, sind in Bewegung, denn Leibniz hält einen völlig ruhenden Körper für etwas, das mit der Natur der Dinge unverträglich ist155. Die Körper sind aber auch nicht absolut flüssig, da Flüssigkeit, gedacht als absolute und kontinuierliche Beweglichkeit, nur den Substanzen selber zukommt156. Absolut feste Materie ist letztlich ebenfalls nur als Grenzbegriff denkbar, zumal jeder Festigkeit auch die Dynamik einer Flüssigkeit zukommt. Dementsprechend ist auch der Begriff einer ruhenden Materie nur ein Grenzbegriff. Die als materiell erfahrbaren Körper – flüssig oder fest – lassen sich durch die Korpuskulartheorie erklären, wenn man diese Einschränkungen des Geltungsanspruches der verwendeten Theorien und Begrifflichkeiten mitbedenkt. Die zweite Materie ist in der ersten fundiert, fügt dieser jedoch keine neuen ontologischen Entitäten hinzu und kann somit mit der Ontologie der phänomenalistischen Interpretation begriffen werden. Ebenso ist der dritte Materiebegriff, mit dem die Körper als bloße Phänomene gedacht werden, auf die erste Materie als das Strukturgesetz aller Erscheinungen zurückzuführen. Dabei sind die Termini der Entelechie und der substanziellen Form nur danach unterschieden, dass sie in unterschiedlichen Erklärungskontexten auftauchen. Die phänomenalistische und monistische Grundposition begreift die Entelechie als die Seele des Lebewesens, als Zentrum und Subjekt der Perzeptionen. Die Konzeption der substanziellen Form bezieht sich aber auf die Form der körperlichen Substanz im Hinblick auf die Aggregation, d. h. auf die Übereinstimmung der Substanzen im außerphänomenalen 153 154 155 156

„Le melange des effects de l’infini environnant.“ NE, Vorwort, A VI, 6, 57. Vgl. Leibniz’ zweites Schreiben an Clarke, Dezember 1715, GP VII, 356. SD, GM VI, 236. Vgl. NE II, Kap 23, § 23, A VI, 6, 222. Ebd.

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Raum. Der Begriff der substanziellen Form wird zudem auch in der ursprünglichen aktiven Kraft, bzw. in ihrer momentanen Konkretion im Zusammenwirken im aggregierten Körper, begründet. Es gibt also ein formendes Element in der zweiten Materie, das auf ein formendes Element in der ersten Materie zurückzuführen ist, so wie die derivative Kraft auf die primitive zurückführbar ist. Die Form der individuellen Substanz ist damit Grundlage für die Form des Körpers, des Substanzenaggregats und damit der körperlichen Substanz. Daraus erwächst dann eine neue Form der Substanz, die Leibniz auch als unum per se substantiatum bezeichnet: „Sie sagen, es scheine zwischen Substanz und Modifikation ein dazwischen liegendes Wesen zu geben. Ich aber antworte, dass dieses Ens medium gerade das substanziierte Eine für sich ist oder die zusammengesetzte Substanz; sie liegt nämlich zwischen der einfachen Substanz (die den Namen Substanz vorrangig verdient) und der Modifikation. Die einfache Substanz ist beständig; das Substanziierte kann entstehen und vergehen und verändert werden.“157 Diese zusammengesetzte Substanz ist die einfache Substanz mit besonderem Hinblick auf ihren phänomenal gegebenen Körper, dem sie eine strukturelle Einheit und zielgerichtete Aktivität verleiht und dem dadurch gegenüber dem einheitslosen Körper ‚mehr‘ Realität zukommt. Die zusammengesetzte Substanz ist, das macht Leibniz hier deutlich, keine echte, unreduzierbare Substanz. Gleichwohl sollte sie im aristotelischen Sinne als aus Materie und Form zusammengesetzt verstanden werden, wobei die Form auch als Entelechie bezeichnet wird. Der Körper als Materie verstanden ist dabei gegenüber der aktiven Entelechie rein passiv und demnach rein phänomenal gegeben. Die zusammengesetzte Substanz wird auch als körperliche Substanz bezeichnet und ihr ist das nächste Kapitel gewidmet. Zuerst soll im Folgenden eine Übersicht über die Verwendungen der zentralen Begriffe der Substanz gegeben und diese komplexe begriffliche Architektur der Substanzontologie dargestellt werden, ausgehend von der Darstellung in einem Brief an de Volder vom 20. Juni 1703 und mit dem Ziel, die Aggregation der Monaden aus der formenden Aktivität der übergeordneten einfachen Substanz heraus zu begreifen.

157 „Ais videri Ens medium dari posse inter substantiam et modificationem. Ego vero putem, id medium esse ipsum unum per se substantiatum, seu substantiam compositam; ea enim media est inter substantiam simplicem (quae praecipue nomen substantiae meretur) et modificationem. Substantia simplex est perpetua; substantiatum nasci et interire potest, et mutari.“ Brief an Des Bosses, 20. Sept. 1712, GP II, 459.

TEIL V: SUBSTANZEN UND IHRE KÖRPER „Ohne die Seele oder die Form irgendeiner Art hätte ein Körper gar kein Sein, weil kein Teil von ihm aufgezeigt werden kann, der nicht wiederum aus mehr Teilen besteht.“1 G. W. Leibniz

1. DIE KÖRPERLICHE SUBSTANZ Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, die bereits ausdifferenzierten Begriffe zwecks präziserer Bestimmungen im Rahmen eines architektonischen Systems leibnizscher Ontologie zu rekonstruieren. In einem Brief an de Volder heißt es: Ich unterscheide also erstens die ursprüngliche Entelechie oder die Seele, zweitens die Materie – nämlich die erste Materie oder die ursprüngliche passive Kraft, drittens die vollständige Monade, in der beide Momente vereint sind, viertens die Masse oder die zweite Materie, d. h. die organische Maschine, zu welcher unzählige untergeordnete Monaden zusammenwirken, fünftens das Lebewesen oder die körperliche Substanz, welche durch die in dem Mechanismus herrschende Monade ihre Einheit erhält.2

Die Monade ist eine Einheit aus der Seele und der materia prima, der passiven ursprünglichen Potenzialität, d. h. aus der Seele und einem durch Undurchdringlichkeit ausgezeichneten Körper-Punkt, der die Verankerung des point de vue im perzipierten Raum darstellt. Damit entspricht jeder Monade ein Körper-Punkt, der dem phänomenalen Raum zugedacht wird. Um aber einen belebten Körper zu erhalten – der Körperbegriff impliziert Ausdehnung, d. h. gleichzeitiges Vorhandensein von Gleichartigem – bedarf es eines Aggregats von Monaden und dementsprechend einer unendlichen Vielzahl von Körper-Punkten, die den phänomenalen Körper des Lebewesens ausmachen: Die materia secunda ist die physikalische Basis der organischen Maschine, sofern man hier begrifflich Form und Materie unterscheidet. Die Entelechie als Seele herrscht über diese Zweitmaterie. Mit der Entelechie 1 2

„Nisi anima esset, seu forma quaedam, corpus non esset ens aliquod, quia nulla ejus pars assignari potest, quae non iterum ex pluribus constet“, Conspectus Libelli, 1678–79 (?), A VI, 4, 1988. „Distinguo ergo (1) Entelechiam primitivam seu Animam, (2) Materiam nempe primam seu potentiam passivam primitivam, (3) Monada his duabas completam, (4) Massam seu materiam secundam, sive Machinam organicam, ad quam innumerae concurrunt Monades subordinatae, (5) Animal seu substantiam corpoream, quam Unam facit Monas dominans in Machinam.“ Brief an de Volder vom 20. Juni 1703, GP II, 252.

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Teil V: Substanzen und ihre Körper

ist hier die unaufhörliche Aktivität der übergeordneten Monade gemeint, die an der Spitze der Monadenhierarchie steht und als übergeordnetes Prinzip begriffen wird, das den Lebewesen-Körper, die organische Maschine, in ihrem Aufbau und in ihren Handlungen bestimmt. Diese Bestimmung wird erst unter Hinzunahme der Punkte vier und fünf deutlich: Die Monade ist logisch oder begrifflich unabhängig von allem anderen, außer von Gott. Das Lebewesen aber, das durch die Monade beseelt wird, bedarf eines Körpers, der einem Substanzenaggregat entspricht. Der Begriff der körperlichen Substanz aber geht über den Begriff der Monade hinaus und meint auch den Körper, der durch die dem Lebewesen zugeordneten Monaden konstituiert wird: Die körperliche Substanz bezeichnet die Monade in ihrer Einheit mit ihrem Körper3. Man könnte nach den vorhergehenden Überlegungen auch sagen: Der Begriff der körperlichen Substanz bezeichnet die aus Körper und einfacher Substanz zusammengesetzte Einheit, wobei die Monade sich selbst in ihren Perzeptionen ihren Körper zuschreibt und dieser Körper seine Realität durch die koordinierte Aktivität des zugrunde liegenden Substanzenaggregats erhält. Materie und Form gehen im ontologischen Sinne auf die primordiale Aktivität der einzelnen Substanz zurück, welche erst die Passivität des Körpers ermöglicht. Insoweit kann man sagen, dass die Konzeption der zusammengesetzten Substanzen aus materiellem Körper und individueller Form in den individuellen Substanzen begründet ist, die in diese zusammengesetzte Substanz eingehen: Denkt man die substanzielle Form in einer endlichen und zeitlichen Perspektive, dann wird deutlich, dass sie aus der je momentanen Aktualisierung der Modifikationen der einfachen Substanz besteht, welche die Bewegungen und Widerstände ihres Körpers ausdrücken. In einer metaphysischen, überzeitlichen Perspektive konzipiert handelt es sich bei der substanziellen Form um die Struktur des Lebewesens als Körper, wie auch um die Struktur seiner gesamten zeitlich ausgedehnten Geschichte. Doch dieser abstrakte Prinzipiencharakter geht mit einer formenden, aggregierend wirkenden Aktivität einher. Deswegen ist die Seele gegenüber dem Körper ontologisch grundlegend, weil sie als aggregierendes Moment dem Aggregat vorhergeht – so, wie in der Dichotomie von Aktivität und Passivität auch die Aktivität grundlegender ist, weil aus ihr die Passivität hervorgeht. Die Materie ist nur insoweit der Monade zugeordnet, als diese sich in ihrer Binnendifferenz zwischen Ich und Außenwelt ihren Körper als den ihr eigenen Körper zuschreibt und diesem kraft ihrer Dominanz über andere Substanzen eine funktionale und strukturelle Einheit verleiht. Die körperliche Substanz ist demnach das Lebewesen (animal), das belebte Ganze, das eine wirkliche Einheit (unum) bildet. Die Einheit des Lebewesens ist durch die momentane Gegebenheit der Einheit der Seelen-Entelechie bestimmt, die über eine Monadenhierarchie im metaphysischen Raum und über einen ganzen Körper im phänomenalen Raum verfügt. Diese zweite Materie resultiert aus einer Vielzahl von Monaden, die den organischen Körper des Lebewesens konstituieren, nicht in phänomenaler, sondern in metaphysischer Hinsicht, denn der phänomenal gegebene Körper ist aus anderen ebenso bloß phänomenal gegebenen Körpern 3

„Substantia corpoream voco, quae in substantia simplice seu monade (id est anima vel Animae analogo) et unito ei corpore corganico consistit.“ Brief an Bierling, 7. Juli 1711, GP VII, 501.

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zusammengesetzt. Die Zweitmaterie besteht also nicht aus vielen Monaden in dem Sinne, dass diese physische Atome in einem physischen Ding wären; sie setzt diese Monaden aber gleichwohl voraus. Durch die phänomenal gegebene Materie wird die Ausdehnung als Attribut mehrerer Substanzen verstanden, nicht als das einer einzelnen4. Ausdehnung ist relativ zur ausgedehnten Sache, so wie die Dauer nur relativ zur andauernden Sache gedacht werden kann5. Die Ausdehnung des Körpers ist nur phänomenaler Natur. Das Aggregat der Monaden ist nicht räumlich ausgedehnt – die zweite Materie ist, begrifflich isoliert gedacht, nur ein Phänomen und nur insoweit real, als sie Teil einer zusammengesetzten Substanz ist. Wir verstehen nun, welche Rolle die organischen Körper spielen. Es scheint falsch zu sein, die Lebewesen selbst als körperliche Substanzen für „truly indivisible ‚atoms of substance‘“6 zu halten. Als Körper sind die Lebewesen zerteilbar und als körperliche Substanzen sind sie Aggregate untergeordneter körperlicher Substanzen, also zusammengesetzt. Nur die Monade kann in gewissem Maße als substanzielles Atom gelten, nicht aber als körperliches oder materielles Atom. Die zusammengesetzte oder körperliche Substanz verfügt über keine wirkliche, sondern über eine strukturelle und funktionale Einheit, die sie gleichwohl gegenüber der Einheit durch Aggregation auszeichnet. Wie wir gesehen haben, kann sie nicht als homogener Teil der Körperwelt begriffen werden und ist damit nicht in räumlichem Sinne „in“ den Körpern. Die körperliche Substanz ist gegenüber der phänomenalen Welt ein selbständiger, heterogener Teil, eine natura prius. Sie ist deren Grund und konstituiert damit die Substanzialität der Lebewesen, die so als körperliche Substanz gelten können, da sie der Körper der jeweiligen Monade sind. Wie die Passivität von der Aktivität abhängig ist, so ist auch die erste Materie als Potenzialität unvollständig ohne die Entelechie7. Sie ist bloß passive Potenzialität und es fehlt ihr noch an Kraft, um in die Wirklichkeit überführt zu werden. Die erste Materie und die aktive Potenzialität, die Entelechie, wurden von Gott als zusammengehörig geschaffen (concreatur8). Das vollständige Lebewesen aber, oder die körperliche Substanz, besteht aus der Monade mit ihrem Körper. Dieser Körper selbst ist materiell, d. h. in diesem Falle mit Masse, materia secunda, ausgestattet9 und ein bloßes Sein per aggregationem: 4 5 6 7 8

9

Brief an de Volder, 23. Juni 1699, GP II, 183. Vgl. Brief an de Volder, 27. Dezember 1701, GP II, 234. Phemister: Leibniz and the Natural World, a. a. O., 114. „Mais la matiere premiere et pure prise sans les ames ou vies qui luy sont unies, est purement passive: aussi à proprement parler n’est elle pas une substance, mais quelque chose d’incomplet.“ Brief an Remond, 4. November 1715, GP III, 657. Vgl. auch: De Ipsa Natura, GP IV, 512. „Im Übrigen wird eine eigene erste Materie, d. h. ursprüngliche passive Potenz, die von der aktiven unabtrennbar ist, mit der Entelechie (welche sie vervollständigt, sodass sie eine Monade oder vollständige Substanz bildet) mit erschaffen.“ – „Caeterum materia prima propria, id est potentia passiva primitiva, ab activa inseparabilis, ipsi Entelechiae (quam complet, ut Monada sue substantiam completam constituat) concreatur.“ Brief an Des Bosses, 16. März 1709, GP II, 368. „Et la matiere seconde (comme par exemple le corps organique) n’est pas une substance, mais par une autre raison; c’est qu’elle est un amas de plusieurs substances, comme un étang plein de poissons, ou comme un trouppeau de brebis, et par consequent elle est ce qu’on appele

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Teil V: Substanzen und ihre Körper Die Materie selbst, oder die widerständige Materie (moles), die man Erstmaterie nennen kann, ist keine Substanz; ich sage nicht, dass sie ein substanzielles Aggregat ist, sondern etwas unvollständiges. Die zweite Materie, oder Masse, ist keine Substanz, sondern Substanzen; so ist nicht die Herde, sondern das Tier eine Substanz, nicht der Fischteich, sondern der Fisch.10

Leibniz wird im März 1703 von Isaac Jacquelot die Frage gestellt, wie in einer Substanz zugleich etwas Aktives und etwas Passives gegeben sein kann, obwohl sich doch beides widerspricht. Leibniz antwortet, dass die Entelechie aktiv und die Materie passiv ist, beides ist ohne das andere nicht vollständig11. Der Substanz aber kommt Handeln und Leiden zu. Es liegt nahe, den Begriff der Vollständigkeit als einen Begriff der ontologischen Abhängigkeit zu lesen12. Die vollständige Substanz ist also abhängig von den abgeleiteten Kräften und der Entelechie, bzw. der Seele als Aktivität verstanden, welche zusammen das Lebewesen ausmachen. Soweit die Entelechie auch als Seele begriffen wird und die abgeleiteten Kräfte den Körper ausmachen, kann gesagt werden, dass Körper und Seele sich gegenseitig notwendig bedingen, d. h. jeder Körper ist beseelt und jede Seele verfügt über einen Körper, abgesehen von Gott selbst, der reine Aktivität ist und kein passives Gegenstück in Form von Kräften hat. Dieses Verhältnis nennt Leibniz eine Vereinigung (union) und bezeichnet sie als ein unum per se13. Zwar sind Körper und Seele nicht identisch, aber sie sind auch nicht teilbar. Sie stehen, dank der prästabilierten Harmonie, in unmittelbarer Übereinstimmung (s’accordent). Dieser Begriff der Vereinigung (union) ist anders zu verstehen als die Begriffe des Einen (unum) und Einheit (unitas): In der Vereinigung sind zwei Elemente so vereint, dass ein dominierendes, aktives Element über ein passives Element verfügt, durch dieses wirkt und nicht von ihm abtrennbar ist – die Aktivität ist nicht nur nominal immer zusammen mit dem Begriff der Passivität zu begreifen, sondern auch ontologisch stets mit Passivität verbunden. Passivität ist hier gleichwohl

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Unum per accidens, en un mot, un phenomene.“ Brief an Remond, 4. November 1715, GP III, 657. „Materia ipsa per se, seu moles, quam materiam primam vocare possis, non est substantia; imo nec aggregatum substantiarum, sed aliquid incompletum. Materia secunda, seu Massa, non est substantia, sed substantiae; ita non grex, sed animal; non piscina, sed piscis, substantia una est.“ Brief an Joh. Bernoulli, August/November 1698, GM III, 537. Brief an I. Jacquelot, März 1703, GP III, 457. Vgl. auch: „Wie aber die Materie selbst nicht ein Seiendes ausmacht, wenn die adäquate Entelechie fehlt, so auch nicht ihr Teil.“ – „Ut autem ipsa materia, si Entelechia adaequata absit, non facit unum Ens, ita nec ejus pars.“ Brief an Des Bosses, 11./ 17. März 1706, GP II, 304. Ebenso antwortet er auf Johann Bernoullis Frage was unvollständig sei: „Respondeo: passivum sine activo, et activum sine passivo.“ Brief an Joh. Bernoulli, 20./ 30. September 1698, GM III, 542. So erklärt sich auch eine auf die Begriffe der Entelechie und der derivativen Kraft bezogene Bemerkung gegenüber Joh. Bernoulli: „Entelechiae quoque et Virium derivatarum, et Monadis nomina convenire rationibus, quibus significata nominum eruuntur, res ipsa, ni fallor, ostendit.“ Brief an Joh. Bernoulli, 1. Juli 1704, GM III, 756. „Les ames s’accordent avec les corps et entre elles en vertue de l’harmonie préetablie, et nullement par une influence physique mutuelle, sauve l’union metaphysique de l’ame et de son corps, qui les fait composer unum per se, un animal, un vivant.“ Brief an Remond, 4. November 1715, GP III, 658.

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in erster Linie als Begrenzung der Aktivität verstanden, ihr kommt keine eigene Existenz zu. Reine Aktivität, die nichts hat, worauf sie wirken kann, gibt es nicht in der Welt. Dies lässt sich passend auf den Begriff der Vereinigung von Erst- und Zweitmaterie übertragen, zumal erstere ebenfalls aktiv ist und physikalisch nur in Zusammensetzung mit anderen Substanzen handeln kann, also durch die Zweitmaterie. Eine einzelne Monade ist in physikalischer Hinsicht bedeutungslos für einen Körper, solange sie nicht die Entelechie des Lebewesens ist. Entsprechend gilt dies für den Zusammenhang zwischen Form und Materie, soweit die Form als substanzielle Form, d. h. als Seele, mit dem Körper vereint ist. Wie aber verhält sich die substanzielle Form zu der individuellen und zu der körperlichen Substanz? Keinesfalls sollte davon ausgegangen werden, dass das zu formende Material bereits vorläge und die Form nur nachträglich hinzugefügt würde. Folgende Aspekte sind als die verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffs der substanziellen Form in ihrer Erklärungskapazität hervorzuheben: 1. Die substanzielle Form wird als Seele verstanden14 und der Materie als deren formendes, individualisierendes und vor allem substanzialisierendes Moment gegenübergestellt. Erst durch sie wird eine Materieansammlung, die für sich genommen weder Form noch Einheit hat und deshalb streng genommen gar nicht existieren würde, zu einem physischen Körper. Die Seele transzendiert den Körper, sie beseelt ihn und konstituiert ihn, indem sie ihn belebt und sich als aktives Moment mit der bloß passiven Materie verbindet. In den Körper tritt Materie ein und aus, etwa beim Ernähren, Ausscheiden, Wachsen und Sterben von Lebewesen, doch dessen Form als überzeitliches Strukturmoment bleibt stets erhalten und konstant, da sie ja gerade all diese Momente in ihrer zeitlichen Abfolge überhaupt erst vorgibt. 2. Die substanzielle Form ist das Individualitätsmoment der körperlichen Substanzen und sorgt dafür, dass das Lebewesen gerade mehr ist als ein maschineller, aggregierter Körper15. Durch sie sagt das Lebewesen „Ich“ zu sich16 und vereint andere einfache Substanzen unter einer Entelechie17. Die Identität des Lebewesens und die Einheit des Körpers werden durch sie hergestellt; die substanzielle Form individualisiert ein Lebewesen und verleiht ihm substanzielle Einheit. Damit wird bewirkt, dass der Materie auch der ontologische Status zukommt, eine Substanz zu sein. Das „Ich“ ist das konstante Moment des Lebewesens, das über die gesamte Lebensdauer des Wesens erhalten bleibt. 3. Die substanzielle Form wird als Entelechie, monadenimmanente, aktive ursprüngliche Kraft18 verstanden. Damit wird das formende Moment in der Vermittlung zwischen Statik und Dynamik verstanden. So ist die Form das Prinzip 14 15 16 17 18

Z. B. SN, 1. Entwurf, GP IV, 473; GP IV, 511, GP II, 59. „Je donne des formes substantielles à toutes les substances corporelles plus que machinalement unies.“ Brief an Arnauld vom 28. November. / 8. Dezember 1686, A II, 2, 121. Ebd. SN § 3, GP IV, 478 f. Z. B.: Unbetiteltes Fragment gegen den Cartesianismus, undatiert, GP IV, 395; siehe auch GP IV, 511.

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Teil V: Substanzen und ihre Körper

der Handlungen (principium actionum)19 und des Impetus20, der ja nichts anderes ist als die Betrachtungsweise der Handlung in den Begrifflichkeiten der Wissenschaft der Dynamik. Auf diese Weise vermittelt die substanzielle Form zwischen dem vollständigen Begriff und der Bewegung der Körper. So wie der Appetitus sich zur einfachen Substanz verhält, so verhält sich auch die Entelechie zur zusammengesetzten Substanz. Der gegenüber den Körpern transzendente Charakter der substanziellen Form als Seele deutet darauf hin, dass die konstituierenden Elemente der Körper jenseits dieser ein Sein haben; der aktive Charakter der Form als Kraft verweist dagegen darauf, dass Form und Formung als Prozess nicht zu unterscheiden sind. Als principium actionum ist die substanzielle Form intelligibel und hat eine ausrichtende und steuernde Funktion für den Impetus. In diesem steuernden Moment liegt zugleich die Einheit des Körpers: Die jeweilige momentane Zustandsbestimmung des phänomenalen Körpers ist die derivative Kraft in den Aggregaten, die mehr als bloß mechanisch vereint sind. Die substanzielle Form unternimmt die Trennung dieser mechanischen Einheit von andern Einheiten und ordnet das Aggregat einer Monade zu, welche vom Körper als dem ihr zugehörigen sprechen kann21. Die substanzielle Form vermittelt die ursprüngliche Kraft der einzelnen Monade mit den Bewegungen ihres Körpers entsprechend den Kognitionen des Lebewesens. Die Identifizierung mit der primitiven aktiven Kraft bedeutet die Kontinuität des Wirkens der Form als ein individualisierendes Moment. Die Entelechie macht zusammen mit den Perzeptionen der ausgedehnten Körper und dem Aggregat der Monaden, das die Erscheinung des ausgedehnten belebten Körpers fundiert, ein unum per se aus, die körperliche Substanz. Dieses unum per se scheint aber ganz anderer Natur zu sein als das unum per se der einfachen Substanz, die selbst als Seele des Lebewesens „Teil“ der zusammengesetzten Substanz ist. Es liegt nahe, anzunehmen, dass die einfache Substanz insoweit ein unum per se ist, als sie ein substanzielles Atom ist. Die körperliche Substanz dagegen ist ein unum per se in einer Form-Materie-Einheit, die wir de dicto als einen Dualismus erfassen, die de re gleichwohl eine Einheit ist. Die Aggregation der Substanzen ist dabei eine Bedingung dafür, dass der Materie der körperlichen Substanz Realität zukommt, auch wenn die Substanzen sich gerade nicht als homogene Teile in einen Körper zusammensetzen, sondern diesem letzten Endes stets extern bleiben müssen. Die Einheit der Form wird durch die Entelechie garantiert, der das Aggregat der Substanzen unabtrennbar zugeordnet (concreatur) ist.

19 20 21

„Atque hoc principium actionum, seu vis agendi primitiva, ex qua series statuum variorum consequitur, est substantiae forma“, Specimen Inventorum (1688 [?]), A VI, 4, 1625. Vgl. Beilage zu einem Brief an Des Bosses, 19. August 1715, GP II, 506. Siehe: „Forma substantialis est principium actionis seu vis agendi primitiva. Est autem in omni forma substantiali quaedam cognitio hoc est expressio seu repraesentatio externorum in re quadam individua, secundum quam corpus est unum per se, nempe in ipsa forma substantiali, quae repraesentatio conjuncta est cum reactione seu conatu sive appetitu secundum hanc cognitionem agendi.“ De mundo praesenti, A VI, 4 1508.

Die körperliche Substanz

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Wird die körperliche Substanz von der einfachen Substanz her gedacht, dann ist sie nichts weiteres als die einfache Substanz selbst, wie sie auf andere Monaden verweist, die ihrem Körper zugeordnet sind, und die Passivität der Substanzen im Aggregat in Entsprechung zur Aktivität der dominierenden Substanz als materiellen Gegenpart benötigt. Da die Passivität der anderen Substanzen aber in diesen selbst gegründet ist, nämlich als eine Verminderung ihrer je eigenen Aktivität, kann nicht von einer Wechselwirkung im engen Sinne gesprochen werden und in metaphysisch strengem Sinne sind die anderen Substanzen des Körpers keine Teile der körperlichen Substanz. Der Körper des Lebewesens, dessen Seele die einfache Substanz ist, existiert als Körper nirgends anders als in den Phänomenen derselben. Das monadische Gegenstück, das Substanzenaggregat, ist kein Körper im engeren Sinne. Deshalb besteht die zusammengesetzte Substanz aus der einfachen Substanz, die als Seele fungiert und zu der die anderen Substanzen, welche das ontologische Fundament des perzipierten Körpers bilden, in ihrer eigenen Aktivität mitgedacht werden müssen. Die zusammengesetzte Substanz ist also in doppeltem Sinne zusammengesetzt: In phänomenologischer Sicht besteht das Individuum aus der introspektiv wahrgenommenen Seele und dem perzipierten und erfahrenen Körper. In metaphysischer Hinsicht besteht sie aus dem ontologischen Fundament beider Aspekte des Individuums, der übergeordneten individuellen Substanz, die als Geist oder Seele fungiert, und den anderen individuellen Substanzen, deren Kräfte derart zusammenspielen, dass sie die zugrunde liegende Realität des Körpers konstituieren. Dabei ist zu beachten, dass die dem Körper zugeordneten Substanzen eben gerade kein Teil der phänomenal gegebenen Welt der Körper sind, sondern deren basale Realität, die sich aber nicht in raum-zeitlichen Erscheinungen zeigt. Wenn es nun aber heißt, dass Seele und Körper eine unzertrennliche Einheit bilden, so meint dies nicht, dass es auch eine unzertrennliche Einheit gibt zwischen der Monade und den anderen Monaden, die den Körper konstituieren. Leibniz wird zwar eine solche Einheit gerade als substanzielles Band (vinculum substantiale) konzipieren (siehe Teil V, Kapitel 3.1), aber die Einheit von Seele und Körper ist vielmehr die Einheit von Form und Materie, die nur de dicto, nicht aber de re unterschieden sind. Die Zentralmonade und die dem Körper zugeordneten Monaden sind dagegen fundamental verschieden und jede Einheit wird erst nachträglich hinzugefügt (superadditum22). Beide Einheiten werden je in ihrer eigenen Perspektive bzw. einem entsprechenden Problemkontext betrachtet: Die Rede von einer Einheit von Seele und Körper bzw. Form und Materie bezieht sich vor allem auf die AktivPassiv-Dichotomie, in der es keine Aktivität ohne ihr zugehörige Passivität geben kann und blendet aus, dass die Seele unteilbar ist, der Körper dagegen zusammengesetzt. Wenn aber von einer körperlichen Substanz die Rede ist, so ist der Problemkontext meist genau umgekehrt: Es geht dann vor allem um die Frage, wie eine funktionalistische Einheit in der Vielheit des Ausgedehnten möglich ist. Die körperliche Substanz ist also ein Konzept, das gerade die Idee einer aus homogenen Teilen zusammengesetzten Aggregation auf deren metaphysische Fundierungen hin überschreiten soll. Die körperliche Substanz ist eine einfache Substanz 22

Vgl. z. B. GP II, 474.

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Teil V: Substanzen und ihre Körper

in der Hinsicht, dass sie sich einen Körper zuschreibt, der in seiner Ausdehnung andere Substanzen voraussetzt. Diese anderen Substanzen werden in ihrer Gesamtheit als Substanzenaggregat bezeichnet, in Analogie zu dem Körperaggregat, nur mit dem Unterschied, dass es sich nicht um ein räumliches Aggregat handelt, sondern um eine hierarchisch geordnete Menge an Bedingungen für die Materialität des Körpers und damit für seine Realität. Diese Aggregation existiert gleichwohl nirgendwo als im Bereich des Phänomenalen, denn mit metaphysischer Strenge gesprochen stehen die Monaden in keinerlei aggregativem Verhältnis zueinander, sondern bloß im Verhältnis der prästabilierten Harmonie, aus der sich eine für den Körper bzw. das Lebewesen konstitutive Pseudo-Kausalität herausbildet. Leibniz verdeutlicht diesen Unterschied zwischen Aggregat aus selbständigen Teilen und Einheit, die auf unselbständige materielle Voraussetzungen zurückgeht: „Ein Aggregat zerfällt in Teile, eine zusammengesetzte Substanz nicht; diese verlangt nur Komponenten, besteht aber nicht essentiell aus ihnen, sonst würde sie zu einem Aggregat.“23 Die Unteilbarkeit, die das Sein der Substanz als unum per se ausmacht, kann sich aber nicht auf das Substanzenaggregat beziehen, sondern sie verweist auf die Zuordnungsfunktion der Entelechie, nach welcher der substanziellen Form stets eine körperliche Form zukommt, d. h. der Körper eine Seele hat. Der Körper ist notwendig ausgedehnt, also kein unum, aber seine Form als Strukturprinzip bildet mit ihm eine untrennbare Einheit, sofern es sich um ein Lebewesen handelt. Hierin ist die substanzielle Form unbedingt von der Gestalt des Lebewesens zu unterscheiden, da dieses die Gestalt im Laufe seines Lebens mehrfach wechseln wird. Letztlich ist der Körper „nur“ etwas phänomenal gegebenes, nämlich das, was die einfache Substanz am klarsten perzipiert, was sie sich selbst als ihren eigenen Körper zuschreibt. Diese Einheit zwischen der Form des Körpers und der ihn ausmachenden Materie ist das unum per se, nicht der Körper selbst. Die wahre Einheit liegt in der notwendigen wechselseitigen Bezogenheit: Jede Form hat auch immer eine Materie und jede Materie ist schon immer in einer Form gegeben. Genau diese ontologisch untrennbare, aber begrifflich und heuristisch auszudifferenzierende Einheit ist ein konstitutiver Faktor für Individualität. Zwar mag der belebte, ausgedehnte Körper sterben und vergehen, doch dies geschieht stets im Einklang mit der Aktivität der Entelechie, welche alle Handlungen und passiven Erlebnisse („Leiden“) dieses Lebewesens schon immer impliziert, einschließlich den wahrgenommenen Tod eines Lebewesens, der im metaphysischen Sinne kein echter Tod ist, da die Form als Substanz nicht vergehen kann. Die Materie verschwindet nicht ins Nichts, sie wird nur neu organisiert, was in unserer menschlichen Perspektive als Sterben wahrgenommen werden kann. Wir werden im folgenden Kapitel zum Organismusbegriff noch sehen, wie die Form als Strukturprinzip auch den Organismus ausmacht, der ebenfalls als Struktur des Körpers zu konzipieren ist. 23

„Aggregatum resolvitur in partes, non substantia composita; quae partes componentes exigit tantum, verum non ex iis essentialiter constituitur, alioqui foret aggregatum.“ Brief an Des Bosses, 29. Mai 1716, GP II, 517.

Die körperliche Substanz

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Die aktive primitive Kraft bzw. deren innerkörperliches Korrelat, der Conatus, ist noch unzeitlich und muss sich erst in Handlungen verzeitlichen. Die derivative Kraft bzw. der Impetus übt sich zeitlich aus und wird dann als Handlung (actio), begriffen, ist aber veränderlich im Gegensatz zu der konstanten und permanenten vis activa primitiva24. Die substanzielle Form ist das aktiv formende Moment und zugleich das Prinzip des Impetus. Sie bestimmt die derivative Kraft in ihrer momentanen Intensität, indem sie den phänomenalen Verweischarakter der Monade, d. h. das ‚pseudo-interdependente‘ Zu- und Abnehmen von Ausdrucksintensität, mit einem doppelten Moment in Beziehung setzt: Erstens mit dem vollständigen Begriff der Substanz, in dem schon die Welt und alles innerweltliche Geschehen vorangelegt ist, und zweitens mit dem korrespondierenden Geschehen in anderen Substanzen, welche das Aggregat bilden, dem der Körper zugeordnet wird25. Durch die Übereinstimmung der Kräfte formt sich der phänomenale Körper und gewinnt seine Materialität durch das Zusammenwirken von Undurchdringlichkeit und Trägheit. Zugleich perzipieren die Substanzen des Substanzenaggregats dieselben Veränderungen in Relation zu der ihnen je zugeordneten Position im organischen Körper. Da die Bewegungen und Handlungen mit der Trägheit des Körpers gleichartig sind, ist die substanzielle Form als Prinzip der Handlungen auch zugleich das Prinzip der Trägheit und gibt damit die haptisch wahrnehmbaren Grenzen des Körpers vor. Ontologisch wird so keine neue Materiedimension geschaffen, wohl aber eine neue Erklärungskapazität: Die Einheit der einfachen Substanz überträgt sich auf den Körper eines Lebewesens, so dass dieser entweder als genuines Lebewesen, als körperliche Substanz, oder aber, wenn man von der Seele abstrahiert, als zweite Materie, als bloßer Körper verstanden werden kann. Das Substanzielle an allen Lebewesen sind die folgenden Eigenschaften: Erstens besitzen sie ein Potenzial, das sich aktiv in Handlungen verwirklichen kann 24 25

Siehe auch: „Das Sein der abgeleiteten Kraft ist, wie es auf den unteilbaren Punkt der Zeit bezogen ist, im allgemeinen auch von Moment zu Moment veränderlich zu denken.“ Cassirer: Leibniz’ System, a. a. O., 269. Michel Fichant formuliert dies wie folgt: „Il faut desormais accueillir […] les instruments d’une intelligibilité métaphysique de surcroît: telle sera la fonction de la forme substantielle, requise pour fonder l’unité de la substance corporelle par-delà la diversité de ses attributs sensibles et intelligibles et pour enraciner dans les corps la force d’agir qui soutient les lois de conservation dont les invariants structurent le système universel des mouvements.“ Fichant, Michel: Science et métaphysique dans Descartes et Leibniz, Paris 1998, 203. Damit bezieht sich Fichant auf die Rehabilitation der substanziellen Form, ohne die weder die Bewegung, noch die Transsubstantiation erklärt werden kann. In dieser Arbeit liegt das Augenmerk aber weniger auf dem die Wissenschaften fundierenden Zusammenhang der Monade mit den überzeitlichen Bewegungs- und Stoßgesetzen, sondern auf der Verzeitlichung der Entelechie in der substanziellen Form, durch welche die körperliche Substanz zu einem bestimmten Zeitpunkt ihre Form erhält. Würde die Formung des Körpers unzeitlich gedacht, könnte weder die Transsubstantiation als zeitliche Änderung der inhaltlich-materiellen Identität des Körpers gedacht werden, noch das Wachsen und Vergehen von Lebewesen. Diese Veränderungen werden durch die Bewegungsgesetze auf der Körper-Ebene gesteuert, während sie auf der Ebene der Seelen schon durch die Vorangelegtheit der Welt in der Substanz bestimmt sind, die sich durch die Entelechie dynamisiert und mittels der substanziellen Form in den geformten materiellen Körper aktualisiert wird.

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Teil V: Substanzen und ihre Körper

(nämlich das lex seriei bzw. der Begriff der einfachen Substanz); zweitens kommt ihnen eine Seele zu, d. i. die Entelechie, die als aktive primitive Kraft für die Kontinuität der Verwirklichung in abstracto steht; und drittens verfügen sie über eine substanzielle Form, nach der sich das Potenzial tatsächlich zu einem bestimmten Zeitpunkt verwirklicht. Diese Form ist das Prinzip, welches angenommen werden muss, um den momentanen Zustand der Verwirklichung mit der ursprünglichen Kraft, welche die Prozessualität der Verwirklichung ausmacht, zu vereinbaren. Sie umfasst die Kontinuität und die Augenblicklichkeit der Verwirklichung. Deswegen identifiziert Leibniz die substanzielle Form mit der vis activa primitiva als das Moment der Verwirklichung und zudem die substanzielle Form mit dem Prinzip der Handlungen, d. h. des Impetus, und versöhnt so den perzeptiven Charakter der Monade mit dem Problem, dass es im Bereich der Körper keine für sich bestehenden Identitäten gibt, sondern nur fließende Übergänge. Die substanzielle Form verleiht der unerfahrbaren ursprünglichen Kraft in den abgeleiteten Kräften eine erfahrbare Form: die Gestalt und Bewegungen des Körpers als wohlfundierte Phänomene. Das dazu notwendige Aggregat konstituiert den Körper, der durch die Entelechie seine Einheit erhält. Mit dieser aufwendigen begrifflichen Konstruktion kann Leibniz den prozessualen Charakter der Erfahrung mit der permanenten Bewegung, d. i. mit dem permanenten Fluss der Dinge und der Persistenz übergeordneter, unveränderlicher Prinzipien in Verbindung bringen. Er gewährleistet so, dass die in der Erfahrung gegebenen Dinge gleichzeitig in den anderen Substanzen wirklich ontologisch fundiert sind und gerade nicht nur durch bloßen Konsens gegeben sind, wie eine universale Illusion oder eine auch subjektübergreifend wahrnehmbare, aber unfundierte Gestalt wie der Regenbogen. In Anbetracht dieser komplexen und umständlichen Rekonstruktion des leibnizschen Systems soll nun eine kurze Zusammenfassung versucht werden. Leibniz sieht die Mechanik seiner Zeit vor dem Problem stehen, dass die körperliche Materialität (erstens Härte, bzw. Festigkeit, also Passivität gegen Druck, und zweitens Masseträgheit, also Widerstand gegen Beschleunigung) nicht hinreichend erklärt werden kann, wenn nicht in allen Körpern eine grundlegende, stets konstante Kraft wirken würde. Ohne diese Kraft wären die entsprechenden Phänomene der Materialität nichts als ein Traum und Wissenschaft wäre nichts als bloße Spekulation. Dabei geht Leibniz davon aus, dass ein Körper überhaupt nur dann als solide und mithin materiell gelten kann, wenn er einer von außen einwirkenden Kraft standhält: Wenn also in ihm bereits Kräfte wirken, die dieser von außen wirkenden Kraft gleichartig sind und ihr entgegenwirken. In jedem noch so kleinen Materieteil müssen also Kräfte wirken, die selbst aktiv sind und dieselbe Natur haben wie die aus der Substanz entspringenden, letztlich in ihrer Akkumulation bewegenden und beschleunigenden Kräfte. Nur durch diese Aktivität, die eben nicht aus der Materie, sondern aus den ihr zugrunde liegenden Substanzen herstammen kann, bildet ein Körper die Gegenkraft, die jeder auf ihn ausgeübten Kraft entgegenwirkt. Die dem Körper eigene Bewegungstendenz, die eine wirkliche, substanzenimmanente Kraft ist, kommt allen noch so kleinen Körperbestandteilen zu, da es sonst weder Bewegungen noch Kräfte in der Erfahrungswelt geben kann.

Die körperliche Substanz

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Dies soll an einem Beispiel illustriert werden. Nehmen wir erneut an, Peter vollzieht eine Bewegung mit seinem Arm. Das bedeutet in erster Linie, dass Peter eine Abfolge an Veränderungen in seinem Körper perzipiert. Diese Abfolge von Perzeptionen gehört zur Monade namens Peter, die sich selbst als Wahrnehmungszentrum denkt und sich als Körper verortet, indem sie sich eine Menge an Perzeptionen als ihren Körper zuschreibt, immerhin hat sie eine weitgehende Kontrolle über die Aktivität dieses Körpers. Wir können damit, in Anschluss an die aristotelische Tradition, diese Monade als Entelechie des gesamten Körpers auffassen, auch wenn ihr streng genommen nur ein Raum-Punkt zukommt in diesem Körper, den sie kraft ihrer Undurchdringlichkeit einnimmt. Wechselt man aber die Perspektive und betrachtet diese Situation physikalisch, d. h. klammert man die Perspektivität des Geschehens aus und ingoriert ebenso die Tatsache, dass es sich hierbei in erster Linie um Perzeptionen handelt, dann erscheint dieser Körper als ein materielles Gebilde: Eine Einheit von ausgerichteten, derivativen Kräften. Diese Kräfte bestimmen Härte, Bewegung und Form des Körpers, da sie die Materialität des Körpers insgesamt in Form von Widerstand und Beschleunigung ausmachen. Dieses Kräftegebilde wird von einer übergeordneten Kraft kontrolliert, die von diesem zentralen Seelen-Punkt der Peter-Monade ausgeht und der auf phänomenaler Ebene der Appetitus ist, die subjektiv als prozessual erlebte Perzeptionenfolge. Diese übergeordnete Kraft ‚steuert‘ (qua präetablierter Harmonie) eine unendliche Anzahl an weiteren ursprünglichen Kräften, deren jede einem Körper-Punkt (und damit jeder dort lokalisierten Monade) in infinitesimal kleiner Form entspringt und damit jeweils ein Beginn einer potenziellen Bewegung ist, auch wenn diese sich nur in Form einer einzelnen Bewegung realisieren. Wenn sich also physikalisch gesprochen die Kräfte im Körper verändern und so Bewegungen manifestieren, dann ist dies aus Gottesperspektive nichts anderes als eine Abfolge an perspektivisch gegebenen, phänomenal-perzeptiven und isomorph ineinander überführbaren Zuständen zahlreicher Monaden, die sich alle je unterschiedlichen Körper-Punkten mit unterschiedlichem Wirkungsfeld in Peters Körper zuordnen. Dies wird noch näher erläutert. Diejenige einfache Substanz, welche die Entelechie des Lebewesens ist, steht also in einem doppelten Verhältnis zu dem Substanzenaggregat: Einerseits ist sie in mereologischer Hinsicht Teil des Aggregats, denn die Substanz, der die übergeordnete Entelechie zugehört, ist nicht prinzipiell verschieden von den anderen Substanzen. Andererseits wirkt sie in Hinsicht auf die Aktiv-Passiv-Dichotomie der Leib-Seele-Einheit als substanzielle Form, welche der Materie übergeordnet ist. In anderer Hinsicht wiederum ist die Seele nichts als eine Monade unter vielen. Dies ist die Gottesperspektive, in der streng metaphysisch gesprochen nichts als Monaden existieren. An die Frage nach der Einheit des belebten Körpers des Lebewesens schließt sich eine weitere Frage nach der Einheit in der unendlich teilbaren Materie an. Dies soll im Folgenden behandelt werden.

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Teil V: Substanzen und ihre Körper

2. DAS PROBLEM DER EINHEIT Leibniz gibt selbst Kriterien dafür an, wann von einer Einheit gesprochen werden kann und welche unterschiedlichen Formen von Einheiten es gibt. Neben der unitas findet sich bei Leibniz auch die Rede von der union und dem unum und auch wenn diese Termini manchmal synonym verwendet werden, so scheinen sie doch an anderen Stellen hinreichend ausdifferenziert. Die Einheit (unitas) ist das numerische Prinzip26, welches auch für Zahlen gilt und verschiedene „gestaffelte“ Einheiten zulässt, die teilbar sein können und in sich andere Einheiten enthalten. Dementsprechend gibt es zwar Einheiten in Körpern, aber es kann dort keine unteilbaren Einheiten geben27 – ebenso wenig wie in Zahlen oder Linien, die beide unbegrenzt teilbar sind. Das Eine (unum) ist ein metaphysisches Prinzip und bestimmt die letzten und wirklich seienden Entitäten: Nur das, was eins ist, kann Anspruch auf letztgültige Realität erheben. Das unum kann entweder als unum per se, als individuelle Substanz also, oder als unum per accidens, als Aggregat, gedacht werden, dem das EinsSein durch ein übergeordnetes Prinzip verliehen wird. Die Vereinigung (meist union, gelegentlich auch unité) der Substanz kann entweder in weiterem Sinne als die Einheit von Form und Materie im Individuum verstanden werden oder im strengeren Sinne als Einheit der Monade, die keine Teile hat.28 Als dritte Möglichkeit bietet sich die Einheit an, die durch Aktivität entsteht – jedenfalls signalisiert Leibniz in seinen späteren Schriften immer wieder, dass zur formalen und ontologischen Einheit noch die Aktivität als Einheitsprinzip hinzutritt: Als ich aber davon [vom Atomismus der Frühschriften] nach vielen Überlegungen abgekommen war, erkannte ich, dass es unmöglich ist, die Prinzipien einer wahren Einheit in der Materie allein oder in dem zu finden, was nur passiv ist, da darin alles nur eine Ansammlung oder ein Haufen von Teilen bis ins Unendliche ist.29

Rein passivische Materie hätte überhaupt keine Einheit und damit keine Realität. Doch wie Aktivität einheitsstiftend wirken kann, das muss noch in den folgenden Kapiteln geklärt werden. Festzuhalten ist aber, dass die Teilung eines Lebewesens nur „arithmetische“, nicht aber metaphysische Einheiten erreicht30. Damit 26

27 28 29 30

„Dass Seiendes und Eins austauschbar sind, meine ich auch mit Ihnen; auch dass die Einheit das Prinzip der Zahl ist, wenn man die Gründe oder Priorität der Natur, nicht aber die Größe im Auge hat, denn wir haben Brüche ins Unendliche.“ – „Ens et unum converti Tecum sentio; Unitatemque esse principium numeri, si rationes spectes, seu prioritatem naturae, non si magnitudinem, nam habemus fractiones, unitate utique minores in infinitum.“ Brief an Des Bosses vom 14. Februar 1706, GP II, 300. Vgl. z. B. Brief an de Volder, 30. Juni 1704, GP II, 267. Vgl. Adams: Leibniz, a. a. O., 267 ff. „Mais en estant revenu, apres bien des meditations, je m’apperceus, qu’il est impossible de trouver les principes d’une veritable Unité dans la matiere seule ou dans ce qui n’est que passif, puisque tout n’y est que collection ou amas de parties jusqu’à l’infini.“ SN § 3, GP IV, 478. „Der Bruch eines Lebewesens, oder ein halbes Lebewesen, ist also nicht ein durch sich Seiendes, weil er nur in Bezug auf den Körper des Lebewesens verstanden werden kann, der nicht ein durch sich Seiendes ist, sondern ein Aggregat, und eine arithmetische Einheit hat, eine

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ist gemeint, dass in der Teilung kein unum vorgefunden wird, sondern nur solche Einheiten, die eine Existenz als Teile eines Ganzen besitzen, nicht aber als eigenständig seiende Dinge. Solcherart rein geistig gegebene Einheiten sind etwa Linienabschnitte, die als solche stets auf eine Linie zu beziehen sind und nicht unabhängig von dieser zu denken sind. Daraus ergeben sich zwei Aufgaben: 1. Es muss geklärt werden, wie sich diese numerische Einheit, welche dem ausgedehnten Körper des Lebewesens zukommt, zu den individuellen Substanzen verhält, die je ein unreduzierbares unum per se bilden, während doch die Körper ein unum per accidens sind. Dies führt zu einer Antwort auf die Frage, wie es Einheiten in dem doch unendlich teilbaren Kontinuum der Materie geben kann. 2. Um zu klären, wie es zu einer Einheit in der Materie kommen kann, muss nun der Begriff der union auf das Prinzip der Aggregation übertragen werden. Dazu bedürfen die Begriffe der körperlichen und der zusammengesetzten Substanz einer Erläuterung und es wird sich das substanzielle Band (vinculum substantiale) als zusätzlich einheitsstiftendes Prinzip herausstellen. Im Folgenden soll zuerst auf die Einheitsfunktion der Entelechie als ursprüngliche Kraft und zugleich als Seele eingegangen werden. 2.1. Die Entelechie Leibniz bezeichnet die Seele auch als Entelechie, wenn er hervorheben möchte, dass sie über Aktivität und unmerkliche Neigungen verfügt31. Nicht jede Entelechie ist gleichwohl ein Geist, da es ihr ggf. an Vernunft mangeln kann und sie damit über keine intentionale Ausrichtung ihrer Aktivität verfügen würde32. Ist das Streben eines Lebewesens aber willentlich ausgerichtet, dann spricht Leibniz eher vom Willen selbst, auch wenn dieser Wille gleichwohl in einer Entelechie begründet oder manifestiert ist. Die Entelechie wird auch als Aktualität selbst verstanden: Als Aktualisierung eines Vermögens in einer Tätigkeit. In gewissem Maße sollte die Entelechie also als in der Seele begründete, permanente Funktion begriffen werden, welche die momentane Ausrichtung der Aktivität auf ein Ziel vorgibt. Dies wird, wie noch zu zeigen ist, auch die Struktur des organischen Körpers bestimmen. Der Begriff der Entelechie bezeichnet also die Lebendigkeit des Lebewesens in seiner Aktivität. Diese ist als das Streben zur Selbstverwirklichung zu verstehen – anders als der Begriff des Organismus, der eher auf die Einheit und Struktur des Lebewesens ver-

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metaphysische nicht hat.“ – „Animalis igitur fractio seu dimidium animal non est unum per se Ens, quia non nisi de animalis corpore intelligi potest, quod unum per se Ens non est, sed aggregatum, unitatemque Arithmeticam habet, Metaphysicam non habet.“ Brief an Des Bosses, 17. März 1706, GP II, 304. Vgl. TD § 87, Mo. §§ 18 f. Vgl. Brief an Des Bosses, 16. Oktober 1706, GP II, 325.

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Teil V: Substanzen und ihre Körper

weist: Auch wenn die Monaden in ontologischer Hinsicht aus Gott hervorgehen, so sind sie doch ihre eigene Quelle an Aktivität und Perzeptionen und werden nicht von Gott oder anderen Substanzen beeinflusst. Der Entelechiebegriff bedeutet somit einerseits die Unabhängigkeit der Monade von Kausalität, andererseits fundiert er die Aktivität der Körper in Form von Bewegungen in den Seelen, denen die Körper zugeordnet sind. Damit erklärt Leibniz einerseits die Tatsache, dass und wie es überhaupt Bewegungen geben kann, und andererseits auch, wie der pseudo-kausale Zusammenhang zwischen Seele und Materie (siehe Teil V, Kapitel 3.3) in Bezug auf den belebten, organischen Körper des Lebewesens und im Kontrast zu scheinbar unbelebter, d. h. uneinheitlicher Materie zu denken sei. Der Entelechiebegriff vermittelt den Appetitusbegriff mit dem in der Substanz bereits virtuell angelegten Ablauf allen Geschehens. Schließlich wird die Identifikation der Entelechie als das aktive Moment der Substanz durch die prästabilierte Harmonie zwischen Seele und Körper in Gleichklang mit der Kraft der Körper gesetzt und erklärt den Fluss der Dinge im konstanten Fluss der Zeit33. Die Funktion der Entelechie ist es, die Kräfte der Seele mit denen des Körpers zu versöhnen – und damit auch die zwei Welten der Seelen und der Körper. Laut Enno Rudolph hat die Entelechie die Aufgabe, zwischen der Vollkommenheit des Begriffs (bzw. des lex seriei) und der Konkretion und Unklarheit des gegenwärtigen innerweltlichen Geschehens zu vermitteln: Bei Aristoteles ist Entelechie ein aporetischer, bei Leibniz ein harmonistischer Begriff. Bei Aristoteles kennzeichnet er die Unabgeschlossenheit des Prozesses als dessen dynamisches Wesen, bei Leibniz die ‚virtuelle‘ Abgeschlossenheit. Bei Aristoteles ist zeitliche Veränderlichkeit im Entelechiebegriff impliziert […]. Bei Leibniz ist Entelechie ein Modell der Vollkommenheit des Gesetzes, insofern das phänomenale Geschehen vom Inbegriff des Systems nie abweichen kann.34

Dazu ist anzumerken, dass die Vollkommenheit der Entelechie als Vollständigkeit des Lebewesens in seiner phänomenalen Implikation in der Monade in abstracto angelegt ist und zur Konkretion der Form der Substanz bedarf. Wird die Form als biologische Funktion begriffen, dann ist Daniel Garber zuzustimmen, wenn er mit dem Konzept der substanziellen Form die Physik in der Biologie fundiert sieht35. Dem steht die Entelechie als das Konzept gegenüber, das die Dynamik in der Metaphysik fundiert. Insoweit können wir André Robinet zustimmen, der die Beziehung zwischen Entelechie und substanzieller Form als deren momentane Konkretion beschreibt:

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34 35

Robinet schreibt dazu: „Enfin l’entéléchie, avec son adjonction de ‚primitive‘ ou de ‚première‘ donne l’occasion au vocabulaire métaphysique d’absorber la distance qui sépare la force des esprits de la force des corps, en attribuant la première, sous le nom de force primitive active et passive à l’esprit et la seconde, sous le nom de force dérivative active ou passive à ce qui manifeste le corporel“ Robinet: Architectonique Disjonctive, a. a. O., 72. Rudolph, Enno: „Die Bedeutung des aristotelischen Entelechiebegriffs für die Kraftlehre von Leibniz“, in: Studia Leibnitiana, Sonderheft 13, 1984, 54. Garber: „Leibniz and the Foundation of Physics“, a. a. O., 88.

Das Problem der Einheit

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Entelechie ist ein Begriff größerer Extension als der der substanziellen Form, den sie einschließt; sie ist das Prinzip der Aktualität und der Realität, von dem die substanzielle Form nicht mehr als die Anwendung auf die lebenden oder auf die körperlichen Substanzen ist.36

Dabei muss bedacht werden, dass Leibniz zu dem von Robinet untersuchten Zeitpunkt, den späteren Jahren, den Begriff der substanziellen Form auf den Körper des Lebewesens bezieht, dessen Teleologie durch die Entelechie beschrieben wird. Dieser Deutung stehen zwar einige Textstellen gegenüber, in denen Form und Entelechie miteinander identifiziert werden37, die aber so gelesen werden können, dass sich die Begriffe der substanziellen Form und der Entelechie auf dieselbe ontologische Grundlage beziehen, diese aber in ihrer Funktion unterschiedlich bezeichnen. Die körperliche Substanz vereint die Entelechie als von sich aus aktive und gestaltbildende Form des Lebewesens als ganzes Individuum mit dem der körperlichen Maschine, dem ein Monadenaggregat entspricht. Diese erfährt ihre Einheit aus der Einheit des Individuums, dem sie perzeptionell gegeben ist. Der interne Ablauf von Perzeptionen kann, wie oben bereits dargelegt wurde, als Abfolge von Repräsentationshandlungen gedacht werden, in denen die Körper und Körperbewegungen ausgedrückt sind. Die Entelechie ist wiederum, metaphysisch gesprochen, ein sich selbst verwirklichendes Prinzip, das wir in Bezug auf die materiellen Körper als dynamisch wirkend denken sollten: Nach ihm wirken die derivativen Kräfte in der Aggregation und es macht die substanzielle Form der Lebewesen zu dem formenden Element des eigenen Körpers. Damit soll nicht ein ontologischer Unterschied zwischen Form und Entelechie, sondern die Berechtigung der begrifflichen Ausdifferenzierung zwischen beiden erklärt werden. Es soll auch nicht so verstanden werden, als ob zuerst eine primitive Kraft gegeben sei, zu der weitere hinzugefügt würden, die dann nachträglich eine Form erhielten, sondern das Lebewesen ist qua seiner Materialität schon immer ein geformtes. Form und Materie sind zwar begrifflich aufeinander bezogen, die Entelechie ist der Materie aber ontologisch vorgeordnet, weil sie das konstitutive Element des Substanzenaggregats und der zusammengesetzten Substanz ist, als dessen ursprüngliches Realitätsprinzip sie dient. Da die Monade als Aktivitätsprinzip mit der Entelechie als Realitätsprinzip immer schon zusammengeht, so erhält man die substanzielle Form eines Lebewesens38. Funktio36

37 38

„L’entéléchie est un concept à plus grande extension que la forme substantielle qu’il inclut; il est le principe de l’actualité et de la réalité dont la forme substantielle n’est plus que l’application aux substances vivantes ou aux substances corporelles.“ Robinet: Architectonique disjonctive, a. a. O., 64. Z. B. A I, 7, 248. „Sie fragen schließlich, wodurch sich meine zusammengesetzte Substanz von der Entelechie unterscheidet. Ich sage, dass sie sich nur wie das Ganze vom Teil unterscheidet, m. a. W. dass die erste Entelechie des Zusammengesetzten ein konstitutiver Teil der zusammengesetzten Substanz ist, nämlich die ursprüngliche aktive Kraft. Aber sie unterscheidet sich von der Monade, weil sie das ist, was die Phänomene realisiert; die Monaden dagegen können auch existieren, wenn es keine Körper, nur Phänomene gäbe. Übrigens begleitet von Natur aus die Entelechie der zusammengesetzten Substanz immer ihre beherrschende Monade: und so wird eine Monade – wenn man sie zusammen mit der Entelechie begreift – die substanzielle Form des Lebewesens beinhalten.“ – „Quaeris tandem, per quod mea substantia composita differat ab

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Teil V: Substanzen und ihre Körper

nell gesehen gibt die Entelechie das Ziel vor, auf das hin sich die Monade bzw. der Appetitus ausrichtet und beide organisieren als substanzielle Form das Lebewesen so, dass es die Mittel herausbildet, um in der physischen Welt effektiv den Weg zu diesem Ziel hin zu bestreiten. Die aus Monade und Körper zusammengesetzte Substanz enthält damit die Entelechie als vermittelndes Prinzip, da beide notwendig aufeinander verweisen: Wird die Entelechie in Bezug auf die Lebewesen und Körper gedacht, so erweist sie sich als das Realitätsprinzip der ausgerichteten, momentanen und konkreten Ausprägungen der Kräfte. Diese Ausprägungen erfährt sie allerdings erst in der zusammengesetzten Substanz als Zusammengehen von Körper und Seele durch eine substanzielle Form. Die Entelechie ist als grundlegendes Realitätsprinzip das Konstituendum der zusammengesetzten Substanz, weil sie Bedingung für die Aktivität und die permanente Verwirklichung des Körpers ist. Damit ist sie zugleich die Quelle der Aktivität in einem Lebewesen. Die als Seele verstandene Entelechie setzt den von ihr verschiedenen, aber von ihr beherrschten Körper überhaupt erst ins Sein (actuat)39, was durchaus im neuplatonischen Sinne als Ausfaltung verstanden werden kann. Ohne sie wäre die Mannigfaltigkeit der Materie bloß chaotisch und unreal und sie bewirkt, dass diese Mannigfaltigkeit ein geordnetes und damit reales Ganzes ist. Es ist die Aktivität der Substanz, die Entelechie, die dem Körper die materiespezifischen Eigenschaften der Trägheit und Widerständigkeit verschafft. Sie ist auch ausschlaggebend für die Einheit und die Aktivität des Körpers, d. h. für die Einheit der Aktivität, also deren Zielgerichtetheit. Die substanzielle Form bedingt auch vermittels der Kraft die physische Form. Damit entspricht die Entelechie in ontologischer Hinsicht dem Appetitus, nur mit der begrifflichen Ausdifferenzierung, dass der Appetitus einer Monade zugeordnet ist, die Entelechie einem Lebewesen. Doch mit den Feststellungen, dass die Einheit des Körpers durch die Entelechie gegeben ist und dass andere Substanzen unter eine Entelechie subordiniert sind, wird zwar ein Was beschrieben, nicht aber das Wie. 2.2. Die Mereologie der körperlichen Substanz In diesem Kapitel soll zuerst eine begriffliche Unterscheidung vorgenommen werden zwischen wirklichen und bloß virtuellen, d. h. anzunehmenden Teilen und Erfordernissen, die bedeutsam sein wird für eine Klärung des Zusammenhanges

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Entelechia. Dico ab ea non differre, nisi ut totum a parte, seu Entelechiam primam compositi esse partem constitutivam substantiae compositae, nempe vim activam primitivam. Sed differt a Monas, quia est realizans phaenomena; Monades vero existere possunt, etsi corpora non essent, nisi Phaenomena. Caeterum Entelechia compositae substantiae semper Monadem suam dominantem naturaliter comitatur: et ita, si Monas sumatur cum Entelechia, continebit formam substantialem animalis.“ Brief an Des Bosses, 29. Mai 1716, GP II, 519. „Entelechia vel anima […] semper corpus aliquod organicum naturaliter actuat, quod ipsum separatim sumtum, seposita scilicet seu semota anima, non una substantia est, sed plurim aggregatum, verbo, machina naturae.“ Abhandlung zur Philosophie Descartes, 1702, GP IV, 396.

Das Problem der Einheit

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zwischen Monade, körperlicher Substanz und Kontinuum. Die herausgearbeitete Unterscheidung zwischen wirklichen und virtuellen Teilen wird dann auf den Zusammenhang zwischen einem ausgedehnten, quantifizierbarem Ganzen und dessen unausgedehnten Teilen und schließlich auf den Begriff der körperlichen Substanz übertragen. In einem Brief an de Volder bezieht Leibniz die Begriffe der Quantität auf die der partes indeterminates, deren Existenz er sogleich leugnet, denn das, was wirklich ist, ist immer vollständig bestimmt. Damit wird das Kontinuum des Ausgedehnten als etwas bezeichnet, das bloß ideeller Natur ist: Aus dem, was ich gesagt habe, ist auch offenbar, dass es in den tatsächlichen [Dingen] nur eine diskrete Qualität gibt, nämlich die Vielheit der Monaden oder einfachen Substanzen, die in jedem beliebigen wahrnehmbaren Aggregat oder in den Phänomenen größer ist als jede beliebige entsprechende Zahl. Aber die kontinuierliche Quantität ist etwas Ideales, das zu dem Möglichen und dem Wirklichen nur gehört, insofern es Mögliches ist. Das Kontinuum schließt nämlich unbestimmte Teile ein, während es im Wirklichen nichts Unbestimmtes gibt, da ja in ihm jede Teilung, die überhaupt vorgenommen werden kann, bereits gemacht ist. Das Wirkliche baut sich wie die Zahl aus Einheiten auf, das ideelle wie die Zahl aus den Brüchen: Teile gibt es tatsächlich im realen, nicht im idealen Ganzen.40

Der hier hervorgehobene Unterschied zwischen aktualen und idealen Teilen verdeutlicht den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Wirklichkeitsbegriffen, die sich in den verschiedenen Perspektiven eröffnen. Einerseits müssen Phänomene als kontinuierlich gedacht werden, andererseits resultieren sie aus wirklichen Ganzheiten, den Monaden. Die Idealität des Kontinuums entspricht der phänomenal gegebenen Erlebniswelt; die Aktualität der monadischen Einheiten entspricht dagegen der letzten Instanz der Wirklichkeit, die über die Unteilbarkeit bestimmt ist und in metaphysischen und substanzontologischen Überlegungen gedacht wird. Selbst die ins Unendliche fortgedachte Teilung des Kontinuums kann nie die vorgeblichen letzten Teilchen erreichen, weil dazu ein Übergang von der phänomenalen Wirklichkeit in die Wirklichkeit der Monaden vollzogen werden müsste. Dies aber ist ebenso unmöglich wie durch Teilung einer Linie zu den sie konstituierenden Punkten vorzudringen: Ausgedehntes und Grundlegendes stehen nicht in endlicher Relation zueinander. Ihre Unterscheidung basiert vielmehr auf grundlegend verschiedenen Wirklichkeitsbegriffen und Erklärungsperspektiven. Schließlich begründet das Unausgedehnte das Ausgedehnte zugleich auf begriffliche und ontologische Weise. Erinnern wir uns an die im ersten Teil ausgearbeitete Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Interioritätsverhältnissen: Erstens kann etwas in etwas anderem und auch ein Teil dessen sein; oder zweitens ist etwas „in“ etwas anderem, ohne 40

„Patet etiam ex iis quae dixi, in Actualibus non esse nisi discretam Quantitatem, nempe multitudinem monadum seu substantiarum simplicium, quovis quidem numero majorem in quocunque sensibili aggregato seu phaenomenis respondente. Sed continua Quantitas est aliquid ideale, quod ad possibilia et actualia, qua possibilia, pertinet. Continuum nempe involvit partes indeterminatas, cum tamen in actualibus nihil sit indefinitum, quippe in quibus quaecunque divisio fieri potest, facta est. Actualia componuntur ut numerus ex unitatibus, idealia ut numerus ex fractionibus: partes actu sunt in toto reali, non in ideali.“ Brief an de Volder, 19. Januar 1706, GP II, 282. Siehe ebenso: „In apparentis aggregatorum, quae utique nonnisi phaenomena sunt.“, GP II, 251. Ebenso: „At in phaenomene sive aggregatis […]“, GP II, 252.

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Teil V: Substanzen und ihre Körper

dessen realer Teil zu sein, es ist vielmehr als Voraussetzung in das Ganze einbegriffen. In letzterem Fall spricht Leibniz von heterogenen Teilen. Diese Unterscheidung von Interioritätsbeziehungen lässt sich auch in der begrifflichen Unterscheidung zwischen logisch notwendigen und räumlich-inhärenten Teilen denken. Leibniz benutzt für beide das Wort „in“41, wobei es naheliegt, die nur logisch notwendigen Teile als implizierte Voraussetzungen zu begreifen. Die Unterscheidung zwischen idealen und reellen Teilen wird somit um eine Ausdifferenzierung des Begriffs des Enthaltenseins (inesse) ergänzt. Handelt es sich bei den im Ganzen enthaltenen Teilen um heterogene Teile, die dem Ganzen der Natur nach vorhergehen (natura prius), dann wird die Relation des Enthaltenseins zu einer Konstitutionsrelation. Bloß räumliche Teile dagegen sind stets ontologisch gleichartig in Bezug auf das Ganze, dessen Teile sie sind – logische Teile sind als Voraussetzungen notwendigerweise verschieden, aber dennoch in diesen42. Deswegen hat Belaval nur in Bezug auf die zusammengesetzten Körper recht, wenn er schreibt: „‚es gibt Zusammengesetztes‘ wird übersetzt als: ‚ich habe den Gedanken des Zusammengesetzten.‘“43 Der Körper enthält sowohl andere körperliche Teile, wie er andere unkörperliche Substanzen voraussetzt. Diese Unterscheidung soll auf einige noch unklare Begriffe übertragen werden. Wie oben dargelegt ist die zusammengesetzte Substanz ein unum per se und ontologisch nicht in Teile zergliederbar44 – dies aber bedeutet nicht, dass man ihr keine Teile zuschreiben muss. Bei Leibniz liegt die logische Teilhabe der räumlichen Teilhabe an einem Ganzen immer zugrunde: Die Bedingung für die Erscheinung eines Wesens im Raum ist, dass der vollständige Begriff dieses Wesens bereits die perspektivisch gegebene Gesamtheit der Dinge enthält und damit die Relationen, aus denen u. a. auch der Raum logisch hervorgeht. Die Eigenschaften werden diesen Wesen bereits prädikativ zugeschrieben, bevor sie phänomenal gegeben sein können: Der Begriff „Cäsar“ bedeutet schon seit Anbeginn der Schöpfung, dass Cäsar den Rubikon überqueren wird. Die zusammengesetzte Substanz setzt also Körper und Seele als ihre Teile voraus, sie enthält sie aber nicht. Einzig der Körper selbst enthält wiederum Teile, 41

42 43 44

Gilles Deleuze ist gleicher Ansicht und unterscheidet zwischen einer „inclusion réciproque“ und einer „inclusion unilatérale localisable.“ Ersteres meint die Interiorität von Teilen in einem ausgedehnten Ganzen aufgrund der Gleichartigkeit beider; zweites die Gegebenheit der requisita des Ausgedehnten in Bezug auf dieses Ausgedehnte. Siehe Deleuze, Gilles: Le Pli. Leibniz et le Baroque, Paris 1988, 77. Anders dagegen die obige Schreibweise (nach De mundo praesenti), Materie und Form seien Teile der körperlichen Substanz. Hier scheint eher ein logisch-inhärentes Interioritätsverhältnis gemeint zu sein. Die Verwendung des Ausdruckes „partes“ ist somit uneinheitlich. „‚Il y a des composés‘ se traduit: ‚j’ai la pensée de composés‘.“ Belaval, Yvon: Études leibniziennes. De Leibniz à Hegel, Paris 1976, 180. Vgl. obiges Zitat: „Ein Aggregat zerfällt in Teile, eine zusammengesetzte Substanz nicht; diese verlangt nur Komponenten, besteht aber nicht essentiell aus ihnen, sonst würde sie zu einem Aggregat.“ – „Aggregatum resolvit in partes, non substantia composita; quae partes componentes exigit tantum, verum non ex iis essentialiter constituitur, alioqui foret aggregatum.“ Brief an Des Bosses, 29. Mai 1716, GP II, 517. Vgl. dazu auch: Beilage zu einem Brief an Des Bosses, 19. August 1715, GP II, 506.

Das Problem der Einheit

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die dann die Komponenten des substanziellen Körpers sind. Der Begriff der zusammengesetzten Substanz ist eine Präzisierung des Begriffs des Lebewesens. Er entspricht ontologisch dem des animal des oben erläuterten Briefes an de Volder, nur ist er insoweit umfassender, als er eben implizit auf die Leib-Seele-Dichotomie und zudem gelegentlich noch auf die substanzielle Form als principium impetus rekurriert45. Diese begriffliche Verrenkung ist nur dadurch zu erklären, dass Leibniz mit diesem Begriff und dem der körperlichen Substanz einerseits ein mereologisches Problem zu lösen versucht. Er will einerseits die Aggregation des Körpers und die Einheit des Lebewesens begrifflich unter einen gemeinsamen Nenner bringen und andererseits die Aktiv-Passiv-Dichotomie als Zusammensetzung von Leib und Seele thematisieren. Als Lebewesen verfügt die Substanz über einen Körper, der auch teilbar ist, aber sie ist nicht mit diesem Körper identisch. Dies ist dann verständlich, wenn man obige Differenzierung zwischen zwei verschiedenen Formen der Interiorität bedenkt, nach der das „In-sein“ als homogen-aggregativer Teil oder als heterogene Voraussetzung verstanden werden kann. Die zusammengesetzte Substanz umfasst die einfache Substanz mit ihrer körperlichen Dimension, d. h. als eine Seele, die vermittels der substanziellen Form über einen Körper verfügt. Während die einfache Substanz rein für sich existierend gedacht wird, wird der Körper, welcher der zusammengesetzten Substanz zugehört, erst durch die PseudoInterdependenz mehrerer Substanzen unter einer übergeordneten Entelechie konstituiert. Diese ist gleichwohl nicht aus mehreren Substanzen, sondern aus Seele und Körper zusammengesetzt. Der Körper geht als Teil, nicht aber als konstitutives Moment in die zusammengesetzte Substanz ein, aber zu ihm gehören Substanzen in einem Maße, dass diese Substanzen den Körper konstituieren. Damit erklärt sich auch, wieso Leibniz die zusammengesetzte Substanz als ein unum per se begreifen kann: Die Teile der Substanz sind als verschiedene Voraussetzungen mitzudenkende Teile. Die zusammengesetzte Substanz ist eine Einheit, weil sie über eine dominierende Entelechie verfügt und so automatisch als ein einzelner, ganzer Körper wahrgenommen wird46. Dass die zusammengesetzte Substanz gerade nicht durch Aggregation einzelner, eigenständiger Teile zusammengesetzt wird, zeigt sich schon daran, dass Leibniz gerade zwischen unum per aggregationem und zusammengesetzter Substanz unterscheidet47. Letztere umfasst aktive und passive primitive Kräfte und die erste Materie sowie die substanzielle Form als Prinzip des Impetus. Sie umfasst begrifflich erstens die Monade in ihrer Aktivität und ihrer Bindung an einen Körper-Punkt und zweitens deren Bezugnahme auf andere Substanzen, aus der die zusammengesetzten Kräfte und damit ihr Körper resultieren48. Sie gilt als zusammengesetzt und zugleich eines, zudem 45 46 47 48

Siehe dazu die Beilage zu einem Brief an Des Bosses vom 19. August 1715, GP II, 506. Vgl. Brief an Des Bosses, 29. Mai 1716, GP II, 519. So in einer tabellarischen Beilage zu einem Brief an Des Bosses, 19. August 1715, GP II, 506. Dort fallen einfache und zusammengesetzte Substanzen unter die Kategorie unum per se, ens plenum. „Eine zusammengesetzte Substanz besteht […] aus einer aktiven und passiven ursprünglichen Kraft, woraus die Qualitäten und Handlungen und Erleidungen des Zusammengesetzten ent-

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Teil V: Substanzen und ihre Körper

kommt ihr eine echte Einheit zu, da die Mereologie eine ganz andere ist als bei einer Zusammensetzung durch Aggregation: Materie und Form sind keine eigenständigen Teile, sondern existieren je nur in einer Zusammensetzung. Die Einheit der zusammengesetzten Substanz ist dann eine strukturelle Einheit innerhalb der Serie der Perzeptionen, die einem Veränderungskomplex in den untergeordneten Monaden entspricht. Für uns stellt sich dies aber zumeist als ein Körper oder Lebewesen dar, auch wenn wir durch genauere Beobachtung und wissenschaftliche Untersuchung, etwa vermittels des Mikroskops, feststellen können, dass wir überall in der Materie weitere Lebewesen vorfinden (siehe Teil VI) Dagegen gilt für die Einheit des Körpers folgendes: „Es ist also eine Verkürzung im Sprachausdruck, wenn wir Eins sagen, wo mehr [Dinge] sind, als durch ein bezeichenbares Ganzes begriffen werden können, und wir als Größe ausdrücken, was nicht deren Eigenschaften hat.“49 Den physischen Dingen kommt folglich nur eine numerische Einheit zu, sie sind nicht wirklich Eines50. Die Einheit wird dem Aggregat durch den Geist verliehen, durch dessen Perzeptionen sie ausgedrückt werden51. Da die körperliche Substanz aber ein unum per se ist, kann sie kein Aggregat sein wie der Körper. Der uns phänomenal gegebene Körper ist gleichwohl weder in seiner Einheit mit einer Seele noch als Substanz gegeben, sondern bloß als ein Komplex, eine Anhäufung von Körperteilen. Erst durch den Intellekt und die Wissenschaft erkennen wir seine Ordnung und Harmonie, die wir in unserer Alltagserfahrung nur ästhetisch erleben – wir empfinden Ordnung und Harmonie als schön und beruhigend. Überträgt man dies auf das Konzept der durch die Entelechie gegebenen Einheit eines Körpers, so bedeutet dies, dass die Einheit des Körpers, nicht aber die der körperlichen Substanz, in letzter Instanz eine bloß gedachte bzw. phänomenale

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springen, die mit den Sinnen erfasst werden – gesetzt, dass sie mehr als nur Phänomene sind.“ – „Substantia composita […] consistit in vi activa, et passiva primitiva, ex quibus oriuntur qualitates at actiones passionesque compositi, quae sensibus deprehenduntur, si plus quam phaenomena esse ponatur.“ Brief an Des Bosses, 29. Mai 1716, GP II, 517–518. Vgl. auch: „Eine zusammengesetzte Substanz, d. h. die wahrhaft ein Eines-durch-sich ausmacht, ist aber nur dort, wo es eine dominierende Monade mit einem lebendigen organischen Körper gibt.“ – „Nulla autem est substantia composita seu revera constituens unum per se, nisi ubi est Monas dominatrix cum corpore vivo organico.“ Brief an Des Bosses, 21. April 1714, GP II, 486. Mit dem lebendigen organischen Körper kann eigentlich nur der phänomenale Körper gemeint sein, weil das Substanzenaggregat nicht im engeren Sinne organisch ist. „Est igitur loquendi compendium, cum unum dicimus, ubi plura sunt quam uno toto assignabili comprehendi possunt, et magnitudinis instar efferimus, quod proprietates ejus non habet.“ Brief an Des Bosses, 11. März 1706, GP II, 305. Nicholas Rescher formuliert dies ganz deutlich: „But how do monads unite into Aggregats? The answer is that, in general, they do not unite at all. […] A monadic aggregate is a single ‚individual thing‘ only in a remote sense. The aggregate appears as one, as a unit, and its thus a phenomenon by virtue of some genuine similarity among its constituents, a feature which gives it some footing in the real, monadic world, and makes it a well founded phenomenon.“ Rescher, Nicholas: The Philosophy of Leibniz, Englewood Cliffs 1967, 82. „Aggregatum enim nihil aliud est quam ea omnia simul sumta ex quibus resultat, quae sane Unitatem suam habent a mente tantum ob ea quae habent communia, ut ovium grex.“ Brief an de Volder, 10. November 1703, GP II, 256.

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Einheit ist. Diese ist bereits in den Begriffen der Substanzen angelegt und wird durch die dominierende Entelechie in der körperlichen Substanz verwirklicht. Da die Einheit der Körper rein geistig ist, erklärt sich auch die Einheit analog zu den virtuellen Teilen in der Materie: So wie Teile nur in Bezug auf einen Betrachter identifiziert und individuiert werden, so sind auch die funktionalen Einheiten der Lebewesen nur in Bezug auf einen Betrachter – dennoch sind sie Einheiten per se, weil sie durch die körperlichen Substanzen gewährleistet werden. Der Betrachter kommt dann aber ins Spiel, wenn sich die übergeordnete Substanz den eigenen Körper zuschreibt, was mit der Dominanz der Seele über den Körper und damit mit der prinzipiengeleiteten Aggregation der Substanzen einhergeht. Leibniz betont, dass in der Teilung der Körper Einheiten aufgefunden werden können. Daniel Garber macht auf den wichtigen Punkt aufmerksam, dass die in der Teilung der Materie erreichte Einheit eines Lebewesens zwar eine Einheit per se ist, aber mithin weiter teilbar, zumal das Ende der Teilung an einer bestimmten Stelle nicht notwendig sei: When the Leibnizian divides a real body into its ultimate constituents, the corporeal substances, we can stop there; that is sufficient to ground the real existence of the body in question. But, it is important to note, we needn’t stop with the first layer of corporeal substances we come upon. Leibniz’s basic building-blocks themselves contain further corporeal substances, and so on ad infinitum.52

Diese Einheit per se ist also anders als die der einfachen Substanz, weil ihr entscheidendes Kriterium nicht Unteilbarkeit, sondern substanzielle, einheitliche Aktivität ist. Entscheidend ist, dass es sich hier um die Teilung imaginärer, d. h. phänomenaler Körper, nicht der körperlichen Substanz selbst handelt. Wird beispielsweise ein Wassertropfen unter dem Mikroskop untersucht, so finden sich in diesem unzählige Kleinstlebewesen53, die diesen Wassertropfen ausmachen und in diesen Lebewesen weitere, noch kleinere, welche das größere Lebewesen ausmachen, aber selbst wieder aus kleineren bestehen – und so weiter, ad infinitum. Der Wassertropfen ist ein bloßes Phänomen, weil er selbst keine Einheit hat. Die Lebewesen aber haben eine Einheit insoweit sie Individuen sind, auch wenn ihre Körper nur Aggregate sind. Die Einheit des Individuums hat ihre Einheit aber nicht im phänomenal gegebenen und unendlich teilbaren Körper, sondern in dessen Fundierung in der Substanzontologie: In der Unterordnung des Aggregats unter eine dominierende Entelechie. Wird die körperliche Substanz von der einfachen Substanz her gedacht, die sich einen Körper zuschreibt und sich damit ein Substanzenaggregat unterordnet (auf der Grundlage des in der Monade schon implizierten Verweischarakters), dann können diese Substanzenaggregate ebenso wie der phänomenale Körper geteilt werden, ohne dass die einfache Substanz davon essentiell betroffen wäre. Die einfache Substanz fungiert schließlich in Bezug auf die Körper vor allem als das principium actionis und verleiht der Körperseite der körperlichen Substanz die Einheit als Kri52 53

Garber, Daniel: „Leibniz and the Foundation of Physics“, a. a. O., 36. Leibniz schätzt, dass man unter einem Mikoskop bis zu 800.000 sichtbare Lebewesen in einem einzelnen Tropfen Wasser vorfinden könnte, die selbst wieder in zahllose Geschöpfe zerteilbar sind. Vgl. einen nicht abgeschickten Brief an Malebranche, Mai 1679, GP I, 335.

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terium der Substanzialität. Dementsprechend kann zugleich gesagt werden, die körperliche Substanz sei ein unum und zugleich weiter teilbar54. Die Teilung der körperlichen Substanz bei Auffindung einer hierarchischen Struktur kann beendet werden, um die Einheit der Individuen in der körperlichen Substanz zu fundieren – auch wenn sie dennoch fortgeführt werden kann. Das bedeutet, dass wir in der Teilung des Körpers stets auf Lebewesen stoßen, die eine Einheit bilden, aber dennoch aus weiteren Lebewesen bestehen. Es ist demnach möglich, innerhalb der körperlichen Substanz weitere, kleinere körperliche Substanzen zu finden, welche dem zuerst erreichten Individuum untergeordnet sind. Diese hierarchische Interiorität von Einheiten von körperlichen Substanzen setzt sich auf phänomenaler Ebene fort: In jedem Lebewesen können weitere, kleinere Lebewesen entdeckt werden. Auf geistiger Ebene aber ist es unsinnig, weitere Seelen innerhalb einer übergeordneten Seele anzunehmen: Die Monaden sind „worlds apart“, nicht aber deren Körper. Die Monaden perzipieren das gesamte Universum und sind so je kraft ihrer eigenen, irreduziblen und identitätsstiftenden Perspektive eine Einheit. Doch innerhalb dieses totalen Perzeptionengeflechts schreibt sich die Monade eine Reihe von Perzeptionen als ihren eigenen Körper zu und kann sich und andere Lebewesen deshalb auch als körperliche Substanzen verstehen, ohne dabei ihren Einheitscharakter zu verlieren. Die den Sinnen unzugängliche Monade wird so zu einem körperlichen Lebewesen, das über einen phänomenal gegebenen, konstant und kontinuierlich handelnden und durch Prinzipien gesteuerten Körper verfügt, der durch Substanzen konstituiert wird, die ihm kraft ihrer Wirkung zugeschrieben werden müssen. Begreift man diesen Körper als ein prinzipiengesteuertes System mit funktionalen Teilen, so wird er als Organismus bezeichnet. Es ist dabei zu beachten, dass mit dieser begrifflichen Unterscheidung zwischen Monade und körperlicher Substanz ein Wechsel der Theorieperspektive einhergeht: Spricht Leibniz von den Monaden als Spiegel des Universums, so nimmt er eine transzendente Perspektive ein, die leicht mit der Gottesperspektive identifiziert werden kann. Spricht er aber von körperlichen Substanzen, so nimmt er einen substanzeninternen Blick ein, in dessen Rahmen eine sinnvolle Unterscheidung zwischen dem je eigenen Körper und den anderen Körpern der Außenwelt getroffen werden kann. Die Einführung der körperlichen Substanzen scheint durch die Idee einer Selbstzuschreibung des eigenen Körpers im Discours vorbereitet worden zu sein. Mit der Theorie der Kräfte kann erklärt werden, warum die Seele nur über den je eigenen Körper herrscht und nicht gleich über alles, was perzipiert wird. Diese Aspekte sollten für ein besseres Verständnis der körperlichen Substanz stets mitbedeacht werden. Der körperlichen Substanz wird das unum per aggregationem gegenübergestellt, ein Semi-Ens55, dem Einheit nur vermittels der Seele zukommt. In jedem 54

55

Auch Ernst Cassirer betont, dass die Bezogenheit des Geistes auf einen Körper keine nachträglich installierte Verbindung zweier getrennter Identitäten ist sondern eine identifizierende Bezugnahme auf materielle, aber monadeninterne Erscheinungen darstellt. Vgl. Cassirer, Ernst: Leibniz’ System, a. a. O., 364 ff. Vgl. etwa: „Substantias seu aggregatum substantiarum, sive unum per accidens verbo, substantiatum, uti est grex, omnisque massa corporea.“ Table de Définitions (1702–04 [?]), C, 438.

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perzipierten Körper können Lebewesen-Körper gefunden werden oder andere Teile, die zwar durch Lebewesen-Körper ausgemacht werden, aber selbst keine Einheit haben (die vorderen Schafe in einer Schafsherde, Tischbeine etc). Das substanzielle Aggregat ist also allein auf der phänomenalen Ebene gegeben und sollte dahingehend von der zusammengesetzten Substanz unterschieden werden, da diese als System von Kräften eine ontologische Dimension besitzt. Der Körper kann auch schon deshalb für sich genommen keine Substanz sein, weil er nicht für sich gedacht werden kann. Stattdessen wird ein Körper über die Zusammensetzung aus anderen Körpern verstanden und in Bezug auf die ihn berührenden Körper56, die seine Grenzen konstituieren. Der Körper kann sich nicht von selbst Grenzen setzen und damit seine Identität bestimmen, dazu ist er auf andere angewiesen – Leibniz mag dabei die mathematisch-abstrakte Idee der Linie im Allgemeinen vor Augen gehabt haben, die der Schnittstellen mit anderen geometrischen Körper bedarf, um zu einer konkret definierten oder individuierten Linie (also einer Strecke) zu werden. Kehren wir zu einem bereits besprochenen Beispiel aus einer anderen Perspektive zurück. Wenn Paul Peter erblickt, dann sieht er weder die Peter-Monade, noch das Substanzenaggregat, das den Peter-Körper qua Kraft phänomenal manifestieren lässt, sondern nur den diesem Substanzenaggregat zugehörigen Körper, den Peter-Körper. Diesem verleiht die Seele bzw. die Entelechie Peters durch die Koordination der Kräfte und Subordination der Monaden eine Einheit auf metaphysischer Ebene (qua substanziellem Band, siehe Teil V, Kapitel 3.1), die sich Paul auf phänomenaler Ebene aber bloß als unum per aggregationem erschließt, weil Paul ja bloß den Körper, nicht aber die ‚dahinterliegende‘, substanzielle Einheit wahrnehmen kann. Die als ausgedehnt perzipierte Materie selbst ist Resultat eines Substanzenaggregats und deshalb gerade nicht im engeren metaphysischen Sinne so wirklich wie die Substanzen selbst. Deswegen finden sich im Bereich der phänomenal gegebenen Körper andere, weniger reale bzw. derivative Einheiten als im Bereich der Substanzen. Peter dagegen ist für sich genommen eine echte Einheit aus Körper und Seele, eine zusammengesetzte, körperliche Substanz, die in der Einheit von Form und Materie begründet ist. Abstrahiert man aber von der Beseeltheit und betrachtet bloß diesen Körper, den Peter sich als seinen Körper zuschreibt, so ist dieser nichts als ein ens per aggregationem, ein semi-ens. Homogene Teile oder als Ganzes verstandene Gegenstände, die keine Lebewesen sind, müssen in einem gegebenen Kontinuum als bloß imaginär gelten, d. h. sie entstehen dadurch, dass wir aus dem Ganzen einen Teil gesondert betrachten oder ein Ganzes aus Teilen in unserer Vorstellung zusammensetzen und mit einem eigenen Wort bezeichnen. Solange es sich dabei aber nicht um ein Lebewesen oder eine Monade handelt, liegt auch keine wirkliche Einheit vor. Ein derart imaginäres 56

Handschriftliche Bemerkungen in einem Manuskript des Buches Entretiens sur la Métaphysique, sur la Religion et sur la Mort, von Malebranche. Leibniz notiert dort, vermutlich im Jahr 1712: „Un corps ne peut être conçu sans les corps qui le composent et même sans les corps qui le touchent.“ Zitiert nach: Malebranche et Leibniz. Relations personnelles, hrsg. von André Robinet, Paris 1955, 431.

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Ganzes, etwa ein ausgedehnter Körper, bedarf dabei seiner echten, begrenzenden Elemente. Durch die Annahme der wirklichen, dem Körper gegenüber heterogenen Teile kann die fundierende Realität der Körper gedacht werden. Dem liegt eine Ontologie zugrunde, die in letzter Instanz nur die Wirklichkeit von Monaden mit ihren Modifikationen und ihrer Aktivität anerkennt, aber begrifflich umfassendere Konzepte konstruieren und phänomenal andere Entitäten annehmen muss. In dieser Hinsicht ist der Begriff der körperlichen Substanz umfassender als der Begriff der Monade: Er schreibt dem Körper eine gewisse Realität zu, was, wie dargelegt, die Existenz anderer Substanzen als Bedingungen dieser körperlichen Existenz voraussetzt. Zugleich kann er eine echte metaphysische Geltung nur im Rahmen der Monadentheorie beanspruchen, weil es keine körperliche Substanz ohne Monade geben kann, theoretisch zumindest aber sind Monaden ohne körperliche Substanzen denkbar. Dies steht in Analogie zu dem Begriff der zusammengesetzten Substanz, der den Verweischarakter als Bedingung der eigenen Körperlichkeit mitbedeutet, aber in metaphysisch strenger Hinsicht eine echte Einheit ist. Dementsprechend ist auch die Vereinigung (union) von Körper und Seele gleichbedeutend mit der Annahme, dass eine zusammengesetzte Substanz aus aktiven und passiven Kräften besteht. Da jede Substanz einen je eigenen Körper hat, der wiederum andere Körper – und damit Substanzen – in sich enthält, gibt es gar keinen ontologischen, sondern nur einen begrifflichen Unterschied zwischen den individuellen Substanzen, die mit einem organischen Körper vereint sind, und den zusammengesetzten Substanzen, die ihn als Konstituenten haben57. Diese Ausdifferenzierung zwischen ontologischen und begrifflichen Unterschieden verfolgt Leibniz seit seinen frühen Schriften zum requisitum bis in seine späten Texte. In einem nicht abgeschickten Brief an Remond vom Juli 1714 schreibt Leibniz als Erläuterung zum Problem der Einheit der Monaden, dass die Teile eines ausgedehnten Körpers nur mögliche Entitäten sind, oben als imaginäre Teile bezeichnet, während die Monaden als wirkliche Entitäten jedem Zusammengesetzten vorgeordnet sind: Die Kontinuität ist nichts als ein ideales Ding, aber das was es [darin] Reelles gibt, das findet sich in der Ordnung der Kontinuität. Im [bloß] Ideellen oder im Kontinuum geht das Ganze den Teilen vorher […], die Teile sind nichts als potenzielle Teile; aber in dem Wirklichen geht das Einfache der Zusammensetzung vorher, die Teile sind aktuell, sie sind vor dem Ganzen.58

Der phänomenale Körper Peters ist immer schon als ein Ganzes und nicht erst durch eine Synthese der Teile begriffen, ihm werden die Körperteile zugeordnet, weil er über sie herrscht. Hierin unterscheidet er sich von einem Holzstapel oder anderen für sich genommen unbelebten Gegenständen. Jede Zergliederung des phänomenal gegebenen Körpers geschieht nach dem Ermessen des Betrachters. Die Monaden 57 58

R. M. Adams diskutiert, ob dies zu unterscheiden sei. Dem sei hier vor dem Hintergrund des oben dargelegten widersprochen, ebenso wie der von Adams diskutierten Zwei-SubstanzenKonzeption. Vgl. Adams: Leibniz: Theist, Determinist, Idealist, a. a. O., 268 ff. „La continuité n’est qu’une chose idéale, mais ce qu’il y a de réel, est ce qui se trouve dans cet ordre de la contiunité. Dans l’idéal ou continu, le tout est antérieur aux parties […], les parties ne sont que potenzielles; mais dans le réel, le simple est antérieur aux assemblages, les parties sont actuelles, sont avant le tout.“ Beilage eines Briefes an Remond, Juli 1714, GP III, 622 f.

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aber sind immer grundlegend einfach und das Substanzenaggregat muss immer von der einfachen Substanz her gedacht werden, durch deren Dominanz es überhaupt erst ein Aggregat ist. Die Einheit des materiellen Körpers ist ideal, mithin die Materie als solche, was aber nicht bedeutet, dass alles als materiell Wahrgenommene nur illusorisch ist. Die körperlichen Substanzen, die mithin in Peters Körper verschiedene organische Funktionen erfüllen (siehe Teil VI), sind aggregierte, aber echte Entitäten, die wir als (imaginäre) Teile des ganzen Körpers denken können, deren Entsprechung uns aber nie gewiss sein kann. Ob ich beispielsweise den Arm von Peter oder eine Körperzelle desselben als Teil Peters betrachte, das obliegt gänzlich mir. Ich kann zwar wissen, dass sich Peters Körper jenseits des mir phänomenal gegebenen aus körperlichen Substanzen aggregiert, aber meine gedankliche oder faktische Teilung von Peters Körper kann das Phänomenale nie überschreiten und wird nie zu den echten Entitäten vordringen. Die Übertragung der Erkenntnisse der Infinitesimalrechnung auf die Substanzontologie und das mereologische Problem der Materie gewinnen durch zwei Faktoren eine neue Analysedimension: Für diese derart umfassende Substanzenkonzeption ist die Aktiv-Passiv-Dichotomie relevant und ebenso die ontologische Differenz zwischen individueller Substanz und Körper-Ganzem. Die Bedingungen des Körpers stehen nicht nur zu diesem in einem mathematisch ausdrückbaren Verhältnis, sondern dieses Verhältnis, das in den Wörtern resultare und requisitum seine begriffliche Ausdifferenzierung erhält, ist sowohl quantitativer, als auch qualitativer Natur. Dies bedeutet, dass eine quantitativ endliche Zunahme an (fiktiven, körperlosen) Substanzen im Aggregat von keinerlei Bedeutung wäre – zumindest solange sich nicht auch eine qualitative Veränderung vollzieht, d. h. sich die Ordnungsstruktur des Aggregats in der substanziellen Form verändert. Leibniz betont, dass Gott in einem Körper zusätzliche Entelechien schaffen könnte, ohne dass dabei der phänomenal gegebene Körper verändert würde59, da eine körperlose Entelechie sich phänomenal nicht bemerkbar macht. Dafür ist die Transsubstanziation ein Beispiel. Auch in Bezug auf die körperliche Substanz ist die Ausdrucksweise von Leibniz’ eher uneinheitlich. So schreibt er einerseits, die Körper seien die körperliche Substanz60, andererseits schreibt er, sie resultierten aus dieser61. Dieses Problem kann aber dann gelöst werden, wenn der Körperbegriff ausdifferenziert wird in einen phänomenal gegebenen Körper, der rein als Phänomen betrachtet wird, und einen Körper, der auf seine metaphysischen Grundlagen hin diskutiert wird. 59

60 61

„In dieser Veränderung [einer absoluten Realität] wäre somit Eure Transsubstantiation anzusetzen, denn die Monaden sind nicht wirklich Ingredientien dieses Hinzugefügten, sondern requisita.“ – „Et in hujus mutatione collocanda esset transsubstantiatione vestra, monades enim revera non sunt hujus additi ingredientia, sed requisita.“ Brief an Des Bosses, 5. Februar 1712, GP II, 435; vgl.: „Es kann durchaus eine neue Entelechie erschaffen werden auch dann, wenn kein neuer Teil der Masse erschaffen wird.“ – „Porro Entelechia nova creari potest, etsi nulla nova pars massae creetur.“ Brief an Des Bosses, 16. März 1709, GP II, 368. Vgl. z. B. GP VII, 564; GP II, 622, 195; GP VII, 561 f. Vgl. z. B. GP IV, 491; GP III, 367; GP II, 195, 268 f., 281 f., 444, 504, 520.

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Die Verursachung, die zwischen dem Monadenaggregat und dem ihm zugeordneten, perzipierten Körper stattfindet, ist gleichwohl keine wirkliche Kausalität, sondern lässt sich eben am sinnvollsten als „quasi-causation“ auffassen62. Stephen Puryear spricht in diesem Zusammenhang von genuiner, wenngleich „non-standard“ Form der Verursachung63. Entscheidend ist, dass wir es als eine derivative Form der Verursachung verstehen sollten, die nicht im engeren, präziseren Sinne als Kausalität gelten kann, weil sie nicht unreduzierbar ist. Gleichwohl ist sie in dem Sinne wirklich, soweit sie für uns unverzichtbar ist und wir uns mit ihr die Welt intelligibel machen können – so, wie wir auch völlig zu Recht, aber nicht metaphysisch streng von einem Sonnenaufgang sprechen können. Bei dieser gegenseitigen Bezugnahme der Monaden aufeinander, die in Harmonie je die Intensität ihrer Repräsentationen ändern und damit als Ursache oder Wirkung gelten können, handelt es sich zwar nicht um eine ‚objektive‘ ontologische Kausalrelation, wohl aber um ein metaphysisches Verhältnis, das die epistemische Zuschreibung von UrsacheWirkungsverhältnissen im Rahmen unserer individuellen und innerweltlichen Perspektive legitimiert. Der Hintergrund dieser Unterscheidung ist die Differenz zwischen unserer Alltagswahrnehmung und der wirklichen Natur der Welt. Glenn Hartz spricht hier zu Recht von einer „causal and epistemic blockade“, die den phänomenal gegebenen Körper und die Einzelsubstanzen trennt64. Doch dabei sollte bedacht werden, dass diese quasi-kausalen Relationen bereits in der individuellen Substanz antizipiert sind, weil diese ja ihre Perzeptionen so hervorbringt, als seien sie von Außen beeinflusst. Insoweit ist die transitive Kausalität bloß virtueller Natur, weil sie nur in den Binnenrelationen der Phänomene in einer Monade gegeben ist. Aus unserer je individuellen Perspektive macht dies schlichtweg keinen Unterschied, aber auf metaphysischer Ebene verhindert Leibniz durch diese Interiorisierung der Kausalität in die Einzelsubstanz eine Nähe zur Influxustheorie, zum Okkasionalismus und zum Atomismus. Er zahlt dafür den Preis, dass er durch diese radikale Ablehnung jeder Wechselwirkung mit anderen Entitäten in die Nähe zum Solipsismus rückt, den er nur vermeiden kann, indem er auf das göttliche Verdikt zurückgreift, die Welt aus einer Vielzahl von Wesen bestehen zu lassen.

62 63 64

Diesen Ausdruck entnehme ich Bennett, Jonathan: Learning from six philosophers. Volume 1: Descartes, Spinoza, Leibniz, Oxford 2003, 99 passim. Puryear, Stephen: „Monadic Interaction“, in: British Journal for the History of Philosophy, 18.5 (2010), 763–796. Hartz: Leibniz’ Final System, a. a. O., 89. Hartz’ Ausdifferenzierung der phänomenalistischen Monadenlehre und der Theorie der körperlichen Substanz hat in ihrem Ergebnis eine ganz ähnliche Ausrichtung wie die hier vertretene Interpretation, auch wenn Hartz’ Untersuchung ergibt, dass beide Theorien zueinander inkompatibel sind. Die oben angeführte Differenz zwischen metaphysisch strenger und an die Alltagsphänomene angepasster Rede kann hier einen Ausweg anbieten, weil sie den Wahrheitsbegriff aufspaltet in eine metaphysische Wahrheit, die der Monadenlehre zukommt, und eine alltagspraktische Wahrheit, die den Phänomenen und der entsprechenden Theorie der körperlichen Substanzen zugehört.

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3. KÖRPER UND SEELE 3.1. Das substanzielle Band Es gilt noch zu klären, wie Substanzen, die unüberbrückbar getrennt sind, hierarchisch geordnet sein können, d. i. wie sie eine Einheit in dieser Hierarchie bilden können und wie diese Hierarchie ontologisch fundiert ist. Leibniz bemerkt, dass die räumliche Gestalt (figure) eines materiellen Körpers nicht präzise bestimmbar ist: „Ich meine, dass es keine Gestalt in der Natur gibt, die präzise und fixiert ist.“65 Dies gilt gleichermaßen für die Einheit des Substanzenaggregats in der Hierarchie unter einer Zentralmonade und die Einheit des phänomenalen Körpers. Die untergeordneten Monaden sind nicht quantitativ präzise definiert, denn es ist theoretisch denkbar, dass Monaden ausgewechselt werden, ohne dass sich eine merkbare Änderung des phänomenal gegebenen Körpers vollzieht. Die Einheit des Aggregats der Monaden unter der Dominanz einer selbst in dieses Aggregat miteinbeschlossenen Monade heißt auch substanzielles Band (vinculum substantiale)66 und alle anderen, akzidentiellen Formen von Aggregation, wie eine Herde oder ein Haufen und die aus ihnen zusammengesetzten Gegenstände, sind weder Lebewesen noch selbst fundierte Phänomene: Sie haben kein substanzielles Band, das sie und ihre Aggregation zu einer Einheit per se ‚zusammenhält‘, d. h. zu einer neuen Substanz macht67. In einem Brief an Des Bosses vom 29. Mai 1716 verweist Leibniz auf den Zusammenhang mit dem vinculum substantiale, in welchem Form und Materie der einfachen Substanz enthalten sind. Dieses kann die Einheit des Lebewesens in seiner Aggregation unter der Dominanz einer einzelnen Monade ontologisch verankern und fixieren, indem es die Form der Substanz zur Form der körperlichen Substanz macht, ohne dabei auf die Identität der die Materie ausmachenden substanziellen Atome zu rekurrieren. Dazu wird das Aggregat als eine Struktur verstanden, d. h. als eine bestimmte, zielgerichtete Anordnung von Substanzen. Diese sind in gewissem Maße austauschbar bzw. erhalten je erst im Rahmen dieser Struktur eine Funktion, so können sie beispielsweise einem bestimmten Körper-Punkt zuge65 66

67

„Je tiens qu’il n’y a point de figure dans la nature, qui soit precise et arrestée.“ Brief an Arnauld vom 9. Oktober 1687, A II, 2, 234. Benson Mates sieht dies genauso: „This type of hierarchy of the monads in an aggregate is called by Leibniz the „substantial bond“ (vinculum substantiale) of the aggregate, and only Aggregats characterized by such linkage are to be considered composite substances.“ Mates: The Philosophy of Leibniz, a. a. O., 198. Vgl. „Aber außer diesen realen Beziehungen kann eine vollkommenere aufgefasst werden, durch welche aus mehreren Substanzen eine neue entsteht. Dies wird nun kein einfaches Resultat sein, d. h. nicht allein aus wahren oder realen Beziehungen bestehen, sondern es wird außerdem eine neue Substanzialität oder ein substanzielles Band hinzufügen und nicht allein Effekt des göttlichen Verstandes, sondern auch des Willens sein.“ – „Sed praeter has relationes reales concipi una potest perfectior, per quam ex pluribus substantiis oritur una nova. Et hoc non erit simplex resultatum, seu non constabit ex solis relationibus veris sive realibus, sed preaterea addet aliquam novam substantialem seu vinculum substantiale, nec solius divini intellectus, sed etiam voluntatis effectus erit.“ Brief an Des Bosses, 5. Februar 1712, GP II, 438.

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ordnet sein, ohne dass sie jedoch in ihrer Individualität von Bedeutung für diesen phänomenalen Körper sind – wiederum gilt, dass die Transsubstantiation ansonsten nicht erklärbar wäre. Das substanzielle Band ist in diesem Zusammenhang als eine strukturelle Relation zwischen Geist und Körper zu verstehen, in die Monaden einund austreten können, ohne dass sich dabei diese Relation verändert. Sie treten in den Körper ein und konstituieren nicht dessen Wirklichkeit, demnach sind sie nicht ein Teil diese Relation – zumindest nicht auf unmittelbare Weise. Leibniz zufolge kommt den Relationen in Gott eine ontologische Fundierung zu. Sie werden durch Gott betrachtet und erhalten dadurch ihre Realität, d. h. sie sind nichts Geringeres als die Ideen68. Dadurch wird dem vinculum substantiale als Relation ein echtes Sein jenseits der phänomenal gegebenen Körper zugedacht. Dieses Band vereint Aktivität und Passivität, Form und Materie: Ich sage nicht, dass es zwischen der Materie und der Form ein dazwischenliegendes Band gibt, sondern dass die substanzielle Form selbst des Zusammengesetzten und die erste Materie, im scholastischen Sinne gemeint, d. h. die ursprüngliche, aktive und passive Potenz, in diesem Band gleichsam wie in dem Wesen (essentia) des Zusammengesetzten enthalten sind.69

Analog zur ontologischen Architektur, wie sie in dem Brief an de Volder entwickelt wurde, müsste das vinculum substantiale die Funktion haben, die andernorts der Monade zugedacht war: eine Einheit zwischen der Aktivität der Entelechie und der passiven Materie zu schaffen. Die Verwendungsweise dieses Begriffs ist dabei nicht sehr eindeutig. Das Band wird zu der Monade hinzuaddiert (superadditum70). An anderen Stellen heißt es, dass es die körperliche Substanz des Tieres sei71, dass es die zusammengesetzte Substanz mache72, dann wiederum, dass es das „Prinzip der Handlung der zusammengesetzten Substanz“ sei73. Aber auch diese funktional verschiedenen Aspekte lassen sich vereinbaren: Die zusammengesetzte Substanz erhält ihre Einheit durch ihre Aktivität, das vinculum substantiale „bindet“ also nichts anderes zusammen als die Aktivität der zusammengesetzten Substanz, d. h. der einzelnen Monade in ihrer Bezugnahme auf andere Substanzen. Es ist damit das Prinzip, welches die aktive Individualität der übergeordneten Entelechie mit dem Aggregat des substanziellen Körpers vereint. Dies verknüpft nun wiederum andere Aspekte der leibnizschen 68

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„Ferner betrachtet Gott nicht nur die einzelnen Monaden und die Modifikationen jeder beliebigen Monade, sondern auch ihre Relationen, und darin besteht die Realität der Relationen und Wahrheiten.“ – „Porro Deus non tantum singulas monades et cujuscunque Monadis modificationes spectat, sed etiam relationes, et in hoc consistit relationum ac veritatum realitas.“ Brief an Des Bosses, 5. Februar 1712, GP II, 438. „Non dico inter materiam et formam dari medium vinculum, sed ipsam compositi formam substantialiem, et materiam primam sensu scholastico sumtam, id est potentiam primitivam, activam, et passivam, ipsi vinculo tanquam essentiae compositi inesse.“ Brief an Des Bosses, 29. Mai 1716, GP II, 516. Vgl. z. B. GP II, 474. Brief an Des Bosses, 23. August 1713, GP II, 481. „Vinculum quod substantiam compositam facit […].“ Brief an Des Bosses, 24. Januar 1713, GP II, 475. „Principium actionum substantiae compositae […]“, Brief an Des Bosses, 19. August 1715, GP II, 503.

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Substanzphilosophie: Das substanzielle Band begründet dann auch die körperliche Substanz, weil es das Wirkprinzip der primitiven und derivativen Kräfte vorgibt, welche als Körper der zusammengesetzten Substanz gelten. Da die Kräfte je eine Entsprechung in den phänomenalen Körpern und in der Pluralität einzelner Substanzen haben, entsprechen sich auch Substanzenaggregat und Körper. Mit der Übereinstimmung der Aktivitäten der Substanzen in Entsprechung zu ihrem Körper-Punkt im Körper selbst materialisiert sich der Körper eines Lebewesens, weil sich die vom Körper-Punkt ausgehenden Ansätze zu einer Kraftausübung unter der Dominanz einer Monade entsprechend koordinieren. So kann der Körper phänomenal perzipiert werden und zugleich die Widerständigkeit und Trägheit leisten, die seine Materialität ausmachen. Das vinculum substantiale kann aufgrund seiner Unabhängigkeit durch die eigene Fundierung als absolute Idee zum Garanten für die Einheit der zusammengesetzten Substanz werden. Es handelt sich also um eine nachträgliche ontologische Fixierung des Substanzenaggregats als Einheit, ungeachtet aller Veränderungen desselben. Während materielle Körper nur als phänomenale Körper in unserem Geist bestehen, ist das substanzielle Band die Realisierung der im göttlichen Geist gegebenen Idee des Lebewesens als aus Seele und Körper zusammengesetztes. Damit erhält der phänomenal gegebene Körper eine Realität, die jede in individueller Perspektive gegebene, bloß akzidentelle Einheit übersteigt. Dem substanziellen Band also kommt eine von den Monaden unabhängige Realität zu: „Denn es erfordert Monaden, aber schließt sie nicht essentiell ein, weil es ohne Monaden existieren kann und die Monaden ohne es.“74 Das bedeutet, dass die Relationen zwischen den Monaden und untergeordneten Monadenaggregaten als eine strukturelle Dominanzrelation von Gott gedacht und damit ideell im göttlichen Geiste gegeben sind, unabhängig von der faktischen Existenz der Monaden – eine notwendige Voraussetzung für das Denken und Auswählen der möglichen Welten, die der Schöpfung der Welt vorhergehen muss. Es liegt also nahe anzunehmen, dass das Band die Dynamik der Veränderungen des Körpers ähnlich antizipiert wie der vollständige Begriff der Substanz, immerhin wurde es von Gott schon ‚vor‘ der Schöpfung gedacht. Das substanzielle Band sorgt also dafür, dass die perzipierten Körper einem durch eine echte Einheit vereinten Monadenaggregat entsprechen und so auch in strengem metaphysischen Sinne von echten Körpern jenseits der bloßen Wahrnehmung gesprochen werden kann. In diesem Sinne sind die Monaden durchaus in den Körpern, nur eben nicht in den Phänomenen der Körper. Kurz gesagt: Wäre das Schiff des Theseus ein Lebewesen, dann würde das substanzielle Band seine Identität über alle Veränderungen hinweg garantieren: Es garantiert die Existenz der Struktur des Schiffes als Schiff des Theseus über alle in es ein- und austretenden Teile hinweg und damit bindet es Form und Materie auf eine essentielle Weise zusammen.

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„Exigit enim monades, sed non essentialiter involvit, quia existere potest sine monadibus, et monades sine ipso.“ Brief an Des Bosses, 29. Mai 1716, GP II, 516.

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3.2. Dominanz durch Perfektion In diesem Kapitel soll gezeigt werden, wie eine einzelne Entelechie einen Körper dominieren kann. Leibniz gibt auch ein Kriterium dafür an, das jede dominierende Monade gegenüber dem ihr zugeordneten Aggregat erfüllt: Ihr kommt ein dem Aggregat gegenüber höherer Grad an Perfektion zu75. Wie ist die Perfektion in diesem Zusammenhang zu denken? Die graduelle Perfektion der Substanzen „umfasst nicht nur das moralische und physische Gute der mit Vernunft begabten Geschöpfe, sondern auch das Gute, das nur metaphysischer Art ist und auch die vernunftlosen Geschöpfe betrifft.“76 Die Perfektion der Substanz ist auch eine metaphysische – Leibniz spricht vom metaphysischen Guten (bonum metaphysicum)77. In erster Linie hat er wohl an den Unterschied zwischen Kleinstlebewesen, Pflanzen, Tieren und Menschen gedacht, der sich, außer im Erkenntnisgrad, auch im Grad der Beseeltheit auszeichnen kann – Leibniz verwendet bei der Frage nach der Beseeltheit von Pflanzen und Tieren vorsichtige Konjunktivformulierungen. So gesteht er beispielsweise auch ein, dass es durchaus auch eine Spezies geben kann, der mehr Perfektionen zukommen als dem Menschen78. Perfektion bedeutet im Falle der Menschen, dass die Monade mit der Fähigkeit zur Vernunft ausgestattet ist. Tiere verfügen im Gegensatz zu Pflanzen über klarere Perzeptionen, Gedächtnis und eine höhere Form von organisatorischer Komplexität. Damit verarbeitet Leibniz die aristotelische Dreiteilung der Empfindungsvermögen (animae) in vegetativ, sensitiv, rational79, die Leibniz gleichwohl als Kontinuum konzipiert und an zunehmende Klarheit knüpft, der wiederum eine organische Ausprägung entsprechen muss. So kann z. B. der Mensch mittels der rationalen, d. h. klarer perzipierenden und mit Gedächtnis ausgestatteten Monade ein intelligentes Lebewesen sein, während die Körper der Tiere aus Monaden resultieren, die nur über sensitive und vegetative, also unklare Perzeptionen verfügen. Dem korreliert auch die moralische Überlegenheit des Menschen, der sich as Ebenbild Gottes begreifen kann, gegenüber den Tieren. In diesem Sinne unterscheidet Leibniz zwischen einfachen Monaden und Geistern: Während erstere mangels eigenem Einsichtsvermögen einer ihnen von Gott eingegebenen inneren Finalität unterlegen sind, so können die Geister dank ihrer Vernunft das Gute einsehen und dementsprechend handeln. 75

76 77 78 79

„Betrachtet man die Herrschaft und Unterordnung der Monaden in den Monaden selbst, dann besteht sie nur in den Vollkommenheitsgraden.“ – „Dominatio autem et subordinatio monadum considerata in ipsis monadibus non consistit nisi in gradibus perfectionum.“ Brief an Des Bosses, GP II, 451. Die Dominanz kommt der Monade zu, nicht deren zugeordnetem, bloß anzunehmendem Körper-Punkt: Es gibt keine Punkte die fundamentaler oder vorgeordneter („avantage de priorité“) sind in der Natur: vgl. Brief an Bourget, 5. August 1715, GP II, 581. „Comprend non seulement le bien moral et le bien physique des Creatures intelligentes, mais encor le bien qui n’est que metaphysique, et qui regarde aussi les creatures destituées de raison.“ TD § 209, GP VI, 242. Vgl. auch: GP III, 32; GP VI, 443. TD § 341, GP VI, 317. Vgl. Brief an Des Bosses, GP II, 389.

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Die Seele ist durch die Perzeptionen auf den Körper bezogen. Kleinstlebewesen mit nur verworrenen Perzeptionen sind nicht in der Lage, komplexe oder mittelbare Handlungen auszuführen, geschweige denn Gründe für ihr Handeln gegeneinander abzuwägen. Die perfekteren Monaden verfügen mit ihren klareren Perzeptionen über einen größeren Wahrnehmungsraum, über einen komplexeren Handlungsspielraum und über die Fähigkeit zur moralischen Reflektion, durch die sie können ihre Handlungen rational begründen und effizient auf das Gute ausrichten können. Die Unterordnung der moralisch unterlegenen Lebewesen unter die, welche das Gute erkennen können, vermehrt die guten Handlungen in der Welt, was dem Prinzip des Besten entspricht. Leibniz benutzt in dieser Beziehung öfters den Begriff der „Ökonomie“, mit dem die perfektionsorientierte Verteilung der Seelen über die Körper gemeint ist80, die Gott zugunsten des Besten der Welt vorgenommen hat. Zudem ist mit Perfektion der Grad an Aktivität der Substanzen gemeint, der in der Einwirkung auf andere Substanzen zunimmt, wobei deren Aktivität entsprechend abnimmt und die deswegen auch als passivisch bezeichnet werden. Die Moralität ermöglicht der übergeordneten Substanz, ihre Aktivität auszuweiten „auf Kosten“ der anderen Substanzen. Die Bestimmung der Bewegungen bzw. die wechselseitige Ausrichtung von Seele und Körper erfolgt nur, insoweit es sich um klarere und präzisere Perzeptionen des Körpers handelt81. Die größere Perfektion der Substanzen manifestiert sich dabei als „Quasi-Beeinflussung“. Eine Substanz gilt dann als passiv, wenn ihre Aktivität geringer ist oder abnimmt, während eine andere, perfektere Substanz in Bezug auf die je isomorphen Perzeptionen aktiver ist oder ihre Aktivität verstärken kann. Graduelle Perfektion ist dabei nur denkbar im Hinblick auf wirkliche Perfektion, die nur Gott zukommt. Zwar kommt der Entelechie auch Perfektion zu (dies ist die griechische Bedeutung des Wortes „ejntelevceia“, dem im lateinischen das Wort „perfectihabia“ entspricht82), aber diese Perfektion bezieht sich zuerst auf die Unbedingtheit der substanziellen Kräfte, nicht einem äußeren Kausalnexus unterworfen zu sein, sondern Veränderungen selbst hervorzubringen83. Wie eine perfektere Substanz nach ihrem inneren Gesetz handelt (und sie kann gar nicht anders handeln), so sind ihre Handlungen immer durch einen Zuwachs an Aktivität bestimmt, während die untergeordneten Substanzen an Aktivität und Perfektion verlieren, also ihr gegenüber passiv sind. Damit ist die Handlung nicht 80 81

82 83

Vgl. z. B. GP II, 100; GP II, 124; DM § 21, A VI, 4, 1563, 1577; ebenso GP IV, 573; GP VI, 532. „Tellement que l’ame est faite dominante par avance et obeie des corps autant que son appetit est accompagné de perceptions distinctes, qui la font songer aux moyens convenable, quand elle veut quelque chose; mais qu’elle est assujettie au corps encor par avance en tant qu’elle va à des perceptions confuses.“ Brief an Königin Sophie Charlotte, 8. Mai 1704, GP III, 347. Vgl. TD § 87, GP VI, 150. Anette Marschlich schreibt dazu: „Die Fundiertheit durch ein Unbedingtes ist also realitätsstiftend, d. h. die Dominanz einer einfachen Substanz bedeutet für die körperliche Substanz eine Realität, der sie sich verdankt.“ Marschlich, Anette: Die Substanz als Hypothese. Leibniz’ Metaphysik des Wissens, Berlin 1997, 123. Dies gilt natürlich auch für die Fundierung von Kräften. Anders als von Marschlich wird die körperliche Substanz in der hier vorgetragenen Interpretation von der einfachen Substanz und ihrem Verweischarakter her gedacht und nicht von ihrer Körperseite her. Vgl. auch: ebda, 106–134.

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Teil V: Substanzen und ihre Körper

mehr etwas, das den Agenten äußerlich ist, sondern betrifft sie in ihrem innersten Wesen. Zwar können wir in metaphysischer Hinsicht davon ausgehen, dass die Veränderung der Wesen von ihnen selbst ausgeht und durch nichts als ein individuelles Prinzip bestimmt ist; es ist aber erfahrungskonform und praktisch, diese Wechselwirkung in Bezug auf konkrete Lebewesen und Dinge so zu verstehen, dass äußere Einflüsse in gewisser Weise tatsächlich eine Wirkung auf das Wesen der Dinge haben. Wir beobachten beispielsweise, dass Krankheiten oder Verletzungen einen Menschen töten, aber wir gehen zugleich davon aus, dass dieser Mensch in anderer Hinsicht als Seele unsterblich ist. Beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung, etwa würde eine Aufgabe der Annahme transitiver Kausalität unsere menschliche Vorstellung von gerechter Belohnung und Bestrafung unmöglich machen, weil wir damit auch die Frage der Schuld eines widrigen Ereignisses immer beim erleidenden Subjekt selbst suchen müssten. In dieser Beziehung gibt es seit dem Discours de Métaphysique eine deutliche Erweiterung des leibnizschen Systems: Der Discours konzipiert Kausalität noch als ein echtes Aktiv-Passiv-Verhältnis, mit dem zweistellige Relationen wie „Körper A stößt Körper B“ und organisierte Handlungen, z. B. das Einhalten eines Termins von mehreren Personen84, beschrieben werden können. Dies wird mit dem Kraftbegriff, der körperlichen Substanz und dem Entelechiebegriff durch eine Metaphysik der Einheit und der Dominanz erweitert und zugleich begründet. Die Dominanz der übergeordneten Monade, die ich bin, gegenüber dem Substanzenaggregat, das meinem Körper entspricht, schlägt sich in einer phänomenal gegebenen Veränderung nieder, etwa dass ich in der Lage bin, meinen Körper kraft meiner Kontrolle über diesen zu bewegen. Eine solche Bewegung ist nicht nur stets phänomenal zu beobachten, sondern geht einher mit der Zunahme meiner Aktivität, der vis activa primitiva, im Verhältnis zu der Aktivität aller untergeordneten Substanzen, die meiner Monade gegenüber passiv sind. Bewege ich meinen Arm gegen einen physischen, Widerstand leistenden Körper, dann zeigt sich anhand dieses Widerstandes die vis derivativa activa meines Körpers und dem gestoßenen Körper kommt die vis derivativa passiva zu. Die einem Körper übergeordnete Monade ist also doppelt aktiv: Einerseits ist ihre Spontaneität den untergeordneten und den Körper ausmachenden Substanzen überlegen, andererseits ist sie als zusammengesetzte Substanz, d. i. mit einem Körper vereinte Monade physisch aktiv gegenüber anderen Körpern. Dass ich meinen eigenen Körper nicht immer willentlich steuere, sondern dass bestimmte Funktionen auch ohne meinen Willen meiner Aktivität untergeordnet sind, das tut dem hier Dargelegten keinen Abbruch: Meine einzelnen Willensakte gehen nicht in meinem Willen, als Appetitus verstanden, restlos auf. Die mir eigene Spontaneität ist meinem Körper gegenüber dominant und nur das, was ich klarer perzipiere, kann ich auch kontrollieren. Auf diese qualitative Zunahme der Perfektion reagieren die untergeordneten Substanzen in entsprechender Weise: Sie bringen entsprechende Perzeptionen hervor und ihre Aktivität kann ebenfalls zu- oder abnehmen, je nachdem, inwieweit sie als Organe in das mir untergeordnete Ag84

Vgl. DM § 14, A VI, 4, 1549 f.

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gregat eingebunden sind. Dies gilt so auch für niedrigere Lebewesen wie Pflanzen und Tiere, die nicht im engeren Sinne über Apperzeptionen und willentliche Akte verfügen. Diese teleologische Umsetzung des monadischen Appetitus im Körper ist die „Erhabenheit der Natur“ („majesté de la nature“)85. Diese Erhabenheit lässt sich nicht im Rahmen der Korpuskularphilosophie denken, denn diese reduziert die Lebewesen auf ihre transitive Kausalität und bestreitet damit jede in den Körpern selbst wirkende Intentionalität. In den Nouveaux Essais findet sich eine Darstellung der moralischen Dimension jeder Veränderung, die Leibniz normalerweise mit dem Ausdruck des Appetitus versieht und die hier als Tendenz, als Conatus bezeichnet wird: So möchte ich sagen, dass das Wollen die Bemühung oder Tendenz (conatus) ist, in Richtung darauf zu gehen, was man gut findet, und sich von dem zu entfernen, was man für schlecht hält, derart, dass diese Tendenz sich unmittelbar aus dem Bewusstsein ergibt, das wir von gut und schlecht haben. Das Korollarium dieser Definition ist das berühmte Axiom, dass aus Wollen und Können zusammen die Handlung folgt, weil auf jede Tendenz die Handlung folgt, wenn sie nicht gehindert wird. So folgen nicht nur die inneren willentlichen Handlungen unseres Geistes, sondern auch die äußeren, d. h. die willentlichen Bewegungen unseres Körpers aus diesem Conatus […].86

Leibniz fügt hinzu, dass nur bewusste Handlungen willentlich sind und sich nach der Erwägung des Guten und des Schlechten richten. Das bedeutet, dass die Lehre der zwei Reiche der Natur und der Gnade keinen unüberbrückbaren Dualismus bezeichnet, sondern auf der Grundlage der ursprünglichen Aktivität der Substanz vereint wird, die sich einerseits als Grund des wirkursächlichen Conatus und zugleich als finaler Appetitus bzw. Entelechie manifestiert. War oben noch die Rede von der Entelechie als substanzielle Form beide Welten vermittelt, so dreht es sich hier um geistige Tendenzen als Bedingungen bewusster Entscheidungen und um die Bedingungen willentlicher Handlungen. Zwar gibt es in der Natur nur kausale Wechselwirkung, doch dank der prästabilierten Harmonie entsprechen die innerweltlichen Handlungen in ihrer Tendenz (in ihrem Conatus) den weniger bewussten Willensakten. In einem zeitnahen Brief an Hartsoeker erklärt Leibniz, dass die Körper dem Appetitus, nicht dem Willen folgen87, der Wille aber aus dem Appetitus folge. Durch die Entsprechung zwischen Appetitus und Conatus aber kann das sonst vom Reich der Gnade kausal getrennte Reich der Natur auch dem Prinzip des Besten folgen, ohne dass es zu einer Steuerung des Körpers vermittels direkter Willensakte kommt, zumal zwischen diesen und den Körpern keine kausale Ver85 86

87

SN § 10, GP IV, 481. „Je diray que la Volition est l’effort ou la tendance (conatus) vers ce qu’on trouve bon et contre ce qu’on trouve mauvais, ensorte que cette tendance resulte immediatement de l’apperception qu’on en a. Et le corollaire de cette definition est cet Axiome celebre: que du vouloir et pouvoir joints ensemble, suit l’action, puisque de toute tendance suit l’action lorsqu’elle n’est point empechée. Ainsi non seulement les actions interieures volontaires de nostre esprit suivent de ce conatus, mais encor les extérieures, c’est à dire les mouvemens volontaires de nostre corps […].“ NE II, Kapitel 21, § 5, A VI, 6, 172 f. „Notre simple volonté (si l’appetit va à la fin sans aller aux moyens et moyens des moyens) n’est pas un appetit que les corps soit obligé de suivre et d’executer […].“ Brief an Hartsoeker, 30. Oktober 1710, GP III, 510.

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Teil V: Substanzen und ihre Körper

knüpfung besteht. Der Appetitus als Willensakte hervorbringende Aktivität liegt dem Willen zum Guten als konkreter Willenshandlung zugrunde und ebenso den konkreten Bewegung der Körper. 3.3. Die prästabilierte Harmonie von Seele und Körper Es wird nun deutlich, dass es sich bei der Harmonie zwischen Körper und Seele und der Harmonie zwischen den Monaden nicht etwa um zwei verschiedene prästabilierte Harmonien handelt. Der Problemhintergrund, der Leibniz dazu bewegt, die These der prästabilierten Harmonie aufzustellen, ist sein Vorwurf gegenüber Descartes, dieser habe seine These vom Eingreifen Gottes, durch das die Seele gemäß den Bewegungen des Körpers empfinde, nicht begründet88. Nur ein unperfekter Gott hätte ein Eingreifen in eine unperfekte Schöpfung nötig. Vor dem Hintergrund der bereits herausgearbeiteten Theoriearchitektur kann zweierlei unterschieden werden: Einerseits besteht eine Harmonie zwischen zwei getrennten Reichen, die durch die prästabilierte Harmonie übereinstimmen, wobei je die Seele dem Reich der Finalursachen, der Körper dem Reich der Wirkursachen angehört. Andererseits bildet die Seele aber mit ihrem Körper, der dem Reich der Natur angehört, eine wirkliche Einheit per se. Leibniz schreibt: Die Seelen stimmen dank der prästabilierten Harmonie mit den Körpern überein und miteinander, und keinesfalls durch eine gegenseitige physische Beeinflussung, außer dass es die metaphysische Einheit (union) der Seele mit ihrem Körper gibt, die bewirkt, dass sie ein unum per se ausmachen, ein Tier, ein Lebewesen.89

Die Einheit zwischen Körper und Seele scheint also auch mit der prästabilierte Harmonie zwischen den Seelen einherzugehen. Davon ausgehend stellt sich folgende Frage: Wie ist diese Harmonie zwischen Seele und Körper, die ja eine Differenz zwischen beiden voraussetzt, zu denken, wenn man dabei beachtet, dass beide im Individuum in einer Einheit aufgehen? Dabei hilft es, begrifflich zwischen der Harmonie als strukturelle Isomorphie und der ontologischen Einheit zu unterscheiden. Leibniz präzisiert die Form der Einheit in einer früheren Version der Principes de la nature et de la grâce, die sich im Archiv von Hannover befindet: Es gibt also eine perfekte Harmonie zwischen den Perzeptionen der Monade und den Bewegungen der Körper, die von vornherein zwischen den Systemen der Wirkursachen und denen der Finalursachen prästabiliert ist und darin besteht […] die Übereinstimmung und physische Einheit von Seele und Körper, ohne dass das eine die Gesetze des anderen verändern könnte.90

88 89

90

Vgl. z. B. Brief an Arnauld, Juni 1686, A II, 2, 58. „Les âmes s’accordent avec les corps et entre elles en vertu de l’harmonie préetablie, et nullement par une influence physique mutuelle, sauve l’union métaphysique de l’âme et de son corps qui les fait composer unum per se, un animal, un vivant.“ Brief an Remond vom 4. November 1715, GP III, 658. „Ainsi il y a une Harmonie parfaite entre les perceptions de la Monade et les mouvements des corps, préetablie d’abord, entre le système des causes efficientes et celui des causes finales et

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Hier ist die Begründung der union zwischen Körper und Seele in der monadenübergreifenden Harmonie klar vorgegeben und die Einheit beider als physischer Wirkungszusammenhang ausformuliert. Hier wird deutlich, dass die Einheit von Seele und Körper unter Rückgriff auf die besondere Form psycho-physischer Kausalität verstanden wird. Nachdem Leibniz die Möglichkeit der Hypothese der prästabilierten Harmonie dargelegt hat, beschreibt er diese im Système Nouveau: Und da es zur Natur der Seele gehört, das Universum auf eine sehr genaue Weise darzustellen […], wird die Folge der Abbildungen, die die Seele hervorbringt, auf natürliche Weise der Folge der Veränderungen des Universums selbst entsprechen, wie umgekehrt der Körper auch der Seele für jene Geschehnisse angepasst ist, bei denen sie als von außen handelnd begriffen wird.91

Auffällig ist hierbei die Asymmetrie zwischen der auf die Veränderungen des Universums antwortenden Seele und dem Körper, der begriffen wird, als ob (comme) er handeln würde: Es gibt keine kausale Einwirkung des Universums auf die Seele und der Ausdruck des „Antwortens“ lässt die Bedingtheit der Wirkung in der Seele verankert. Wir haben bereits festgestellt, dass es in metaphysischer Hinsicht stets nur die Monaden als Seelen sind, die handeln. Der Körper wird wiederum nur vom Gesichtspunkt der Seele aus so begriffen, als würde er handeln. Tatsächlich aber liegt auch hier die Bedingung der Handlung in der Seele, nicht im Körper. Doch die Begründung dafür ist nicht nur eine ontologische, sondern zugleich eine teleologische: „Das ist umso vernünftiger, als die Körper nur für die Geister geschaffen wurden, die allein fähig sind, mit Gott in Gemeinschaft zu treten und seinen Ruhm zu feiern.“92 Die Bedingtheit der Körper durch die Seelen ist wiederum fundiert in der Bedingtheit der Seelen durch Gott93. Damit diese Konsequenz schlüssig aus angebrachtem Zitat gezogen werden kann, muss dazu noch bedacht werden, dass die Seelen nicht nur durch Gott geschaffen sind, sondern dass mit Körper und Seele auch zwei verschiedene Bereiche der Teleologie „parallelgeschaltet“ werden, das Reich der Kausal- und das der Finalursachen. Der erst durch den Geist verliehene Einheitscharakter des Körpers und die Wirklichkeit der zusammengesetzten Substanz sind in der ontologischen Grundlegung der komplexen Architektonik der Substanz begründet.

91

92 93

c’est en cela que consiste […] l’accord et l’union physique de l’âme et du corps, sans que l’un puisse changer les lois d’autre.“ Zitiert nach Robinet: Architectonique Disjonctive, a. a. O., 123. „Et cette nature de l’ame estant representative de l’univers d’une maniere tres exacte […], la suite des representations que l’ame se produit, répondra naturellement à la suite des changements de l’univers même: comme en échange le corps a aussi esté accommodé à l’ame, pour les rencontres où elle est conçue comme agissante au dehors.“ SN § 15, GP IV, 485. „Ce qui est d’autant plus raisonnable, que les corps ne sont faits que pour les esprits seuls capables d’entrer en societé avec Dieu, et de celebrer sa gloire.“ Ebda. Vgl. PNG § 4, GP VI, 599 f. So ist Gott der letzte Grund der Dinge, einerseits die letzte Kausalursache (durch die Schöpfung), andererseits gibt er durch seinen göttlichen Plan der Dinge die Finalursachen der Welt vor (PNG §§ 9 ff., GP VI, 603 f.), dass die Dinge der Welt zur Gnade geführt werden: „Cette Harmonie fait que les choses conduisent à la grace par les voyes mêmes de la nature.“ Mo § 88, GP VI, 622.

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Teil V: Substanzen und ihre Körper

Unter Rückgriff auf beide Aspekte der Theorie der prästabilierten Harmonie, die Konkordanz zwischen den Substanzen und die Konformität zwischen Körper und Seele, kann die Einheit des Körpers in der Hierarchie weiter geklärt werden. Die kausale Unabhängigkeit von Körper und Seele spiegelt sich in der perzipierten Welt wider, in der die Körper durch Stoßgesetze bewegt werden, ohne dass die perzipierende Seele einen direkten kausalen Einfluss darauf nimmt. Zudem werden die Perzeptionen der Seele nicht direkt kausal durch Veränderungen des Substanzenaggregats bzw. dessen phänomenalem Gegenpart hervorgerufen, sondern entsprechen einander dank eines gemeinsamen Ursprungs in der Schöpfung. Die Naturgesetze, nach denen die Bewegungen der Körper erfolgen, sind seit der Schöpfung den Körpern vorgegeben und gründen im Gesetz der Serie der Perzeptionen, sie sind aber nur heuristische Abstraktionen, die auf gemeinsamen Strukturen der je individuellen, aktivitätsanleitenden Prinzipien basieren94. Diese beiden Typen von Gesetzen beruhen aufgrund der Zurückführbarkeit aller Aktivität auf den Conatus bzw. auf den Appetitus in letzter Instanz nur auf die Abfolge von Modifikationen der Substanzen, nicht aber auf physisches Geschehen. Die Begründung der Verwendung des Naturgesetzbegriffs aber liegt in der zwischen den Monaden bestehenden Übereinstimmungen der Veränderung der Modifikationen. Zwischen Körper und Seele gibt es nun den fundamentalen Unterschied, dass die Körper teilbar sind und Teile enthalten, während die Seele unteilbar ist und keine Teile enthält. Dies impliziert auch die Sterblichkeit der endlichen Körper gegenüber der Unsterblichkeit der Seele. Leibniz schreibt dazu, dass die Seelen nur mit ihrem Körper-Punkt untrennbar verbunden sind und in anderer Form, also in oder mit einem anderen (d. h. aus anderen Substanzen zusammengesetzten) Körper wieder „auf die Bühne zurückkehren“ können: Aber die Geister sind diesen Umwälzungen nicht unterworfen, oder aber diese Umwälzungen der Körper müssen der göttlichen Ökonomie in Beziehung auf die Geister dienen. Gott schafft sie, wenn es an der Zeit ist, und er löst sie durch den Tod vom Körper (zumindest vom groben Körper), weil sie immer ihre moralischen Eigenschaften und ihre Erinnerung bewahren müssen, um dauernde Bürger dieser allumfassenden, gänzlich vollkommenen Republik zu sein, deren Monarch Gott ist, die keines ihrer Mitglieder verlieren kann und deren Gesetze über denen der Körper stehen.95

Die Geister sind mit dem Körper als Aggregat verbunden – zerfällt dieses Aggregat, so stehen sie nur noch mit dem Restaggregat, was ihnen als Körper verbleibt, in Übereinstimmung. Wie in der Diskussion über die Teilung des Kontinuums dargelegt, erreicht eine Teilung eines Aggregats, etwa im natürlichen Zerfallsprozess, 94 95

Siehe dazu u. a. Adams: Leibniz. Theist, Determinist, Idealist, a. a. O.; McDonough, Jeffrey: „Leibniz’s Two Realms Revisited“, in: Noûs 42.4 (2008), 673–696. „Mais les esprits ne sont pas sousmis à ces revolutions [d. h. die Metempsychose], ou bien il faut que ces revolutions des corps servent à l’œconomie divine par rapport aux esprits. Dieu les crée quand il est temps, et les detache du corps (au moins du corps grossier) par la mort, puisqu’ils doivent tousjours garder leur qualités morales, et leur reminiscence, pour estre citoyens perpetuels de cette republique universelle toute parfaite dont Dieu est le Monarque, laquelle ne sçauroit perdre aucun de ses membres, et dont les loix sont superieures à celles des corps.“ Brief an Arnauld, 30. April 1687, A II, 2, 189.

Körper und Seele

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nie die unteilbaren Atome, sondern nur weitere Aggregate: In allen Lebewesen sind immer noch kleinere enthalten. Keine Substanz kann also körperlos sein, sie kann nur an Einfluss verlieren. Dabei verringert sich die Perfektion der Substanz im Hinblick auf die Deutlichkeit der Weltrepräsentation und der geistigen Fähigkeiten96. Dabei werden verschiedene bereits dargelegte Aspekte der leibnizschen Theoriearchitektur relevant, die in einer kurzen Wiederholung skizziert werden sollen: Da die Entelechie das Prinzip der Anordnung und Abfolge der Perzeptionen als dynamisierendes Moment des Überganges vom bloß Potenziellen zum Wirklichen ist und die Monade sich in der perzipierten Welt ihren eigenen Körper zuschreibt, erhält der ihr eigene Körper eine ausgezeichnete Stellung im Vergleich zu den anderen perzipierten Körpern. Dank der prästabilierten Harmonie der Substanzen sind Anordnung und Abfolge der Phänomene in allen Substanzen isomorph und da Appetitus und Conatus einander entsprechen, richten sich auch die Bewegungsansätze insoweit harmonisch aus, dass Bewegungen und Festigkeit der Körper in der physischen Welt miteinander in Harmonie stehen. Dieser Zusammenhang zwischen der ontologischen Ebene der Monaden und der derivativen, physisch-phänomenalen Ebene der Körper erklärt, warum und wie die Körper aus einem Monadenaggregat resultieren – keinesfalls durch Verursachung oder Komposition, sondern weil die Monaden die Bedingungen (requisita), von Natur aus vorhergehende Fundamente bzw. unbedingte Konstituenten (prima constitutiva) der ausgedehnten Körper sind. Durch die unablässig perzipierende Natur der Seelen wird so die ewige Bewegung der Körper begründet. Die Perfektion der übergeordneten Substanz ist vor dem Hintergrund des Prinzips des Besten das entscheidende Kriterium dafür, welche Substanz über welchen Körper bestimmen kann und zu welchem Körper sie berechtigt ist. Ein Beispiel: Wäre eine über höhere Verstandesfunktionen verfügende Seele etwa im Körper eines Wurmes eingepflanzt, so würde dies der Perfektion der Welt widersprechen, weil hier der Körper als Mittel und die Seele als Zweck nicht in einem angemessenen Verhältnis zueinander stünden. Die geistige Repräsentation der substanziellen Form ist mit einem Conatus verbunden, welcher auf der Körperebene das Prinzip der Handlung ist. Er individuiert sich, je nach Kontext, in eine konkrete Bewegung, die dank der prästabilierten Harmonie in den Phänomenen gegeben ist. Dass die körperliche Substanz als ein unum per se begriffen wird, mag bedeuten, dass die Unterscheidung zwischen Monade und körperlicher Substanz vor allem eine begriffliche ist, nicht aber eine ontologische. Beides Begriffe bezeichnen das ganze Individuum, aus verschiedenen Perspektiven betrachtet: Einmal als perzipierendes Ich entsprechend den oben angegebenen fünf Kriterien der Substanzialität; ein anderes Mal als die Einheit von Körper und Seele, wobei der Körper in seiner Wirklichkeit andere Substanzen voraussetzt, diese aber nicht ebenfalls bezeichnet. 96

Dementsprechend ist es zwar zutreffend, aber zu einfach gedacht, wenn Brandon Look schreibt: „The relation between body and soul is reducible to the relation between monads.“ Look, Brandon: Leibniz and the ‚vinculum substantiale‘, Stuttgart 1999, 24. Für eine vollständige Darstellung der Relation zwischen Körper und Seele müsste noch Rekurs auf die den Körper konstituierenden Kräfte genommen werden.

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Teil V: Substanzen und ihre Körper

Aus Sicht der Substanzontologie sind einfache Substanzen requisita, Erfordernisse für die körperliche Substanz, u. a. weil die (kontinuierliche) Repräsentation des organischen Körpers unveränderliche substanzielle Atome erfordert. Aus metaphysischer Sicht ist die Monade der körperlichen Substanz vorgeordnet, soweit die Monade das einzige Seiende ist. Donald Rutherford formuliert dies wie folgt: As phaenomena bene fundata, Aggregats have a foundation in certain individuals, which together determine the existence of a single complex being insofar as they are apprehended as standing in certain relations to one another. The identity of an ens per aggregationem, such as an aggregate of substances, thus depends in an essential way both on its individual constituents and on the perceived relations among these constituents.97

Die Monade perzipiert keine Substanzen, sondern deren Körper; dahingehend kann man sagen, dass sie auf andere Substanzen ‚verweist‘. Dieser Verweischarakter ist aufgrund der prästabilierten Harmonie zwischen den Monaden konstitutiv für die Übereinstimmung der Körper mit der intersubstantiellen Hierarchie und damit auf physikalischer Ebene für die Übereinstimmung der Kräfte, durch die die Materialität des perzipierten Körpers ausgemacht wird. Dem Körper wird seine Einheit durch die substanzielle Form gegeben, indem diese durch den phänomenalen Verweisungszusammenhang die Aktualisierung der Bewegungen ausmacht, welche die Handlungen und die materielle Identität des Körpers manifestieren. Erst die substanzielle Form legt fest, wie die zusammengesetzte Substanz in ihrem Verweisungszusammenhang mit anderen Substanzen zu denken ist und bestimmt deren Wirkung, d. h. die konkreten Aktualisierungsmomente der Aktivität bzw. Passivität der Monaden in Relation zueinander. Fassen wir diese etwas unübersichtlichen Überlegungen noch einmal zusammen, und zwar anhand des uns bereits bekannten Beispiels von Peter, der Paul schlägt. Die Seele Peters ist Ursache und Grund für den Schlag, weil sie die Körperbewegungen vermittels der monadischen Dominanz über die anderen Substanzen lenkt, so dass die den Peter-Körper konstituierenden Monaden mit ihren unendlich vielen und infinitesimal schwachen Conatus in einen endlichen, messbaren und wirksamen Impetus münden. Dieser bewirkt, dass sich Peters Arm hebt und in eine schlagende Bewegung übergeht. Zwar könnte sich so die Mechanik der Bewegungen physikalisch nachvollziehen lassen, doch liegt die wahre Ursache des Schlages außerhalb der physischen und bloß phänomenal gegebenen Dinge, nämlich in der Entelechie Peters, die damit selbst wiederum dem ihr von Außen eingegebenen Grund nachgibt, dem Gesetz der Serie (lex seriei), das ihre Identität ausmacht und sie als Individuum bestimmt. Die physische Kausalität ist demnach unmittelbar abhängig von der monadischen Dominanz, die nicht als eine direkte Interaktion zu verstehen ist, sondern als eine Folge der aufeinander abgestimmten, individuellen Gesetze bzw. Prinzipien, die bewirken, dass die moralisch bessere, klügere und sittlichste Monade die Handlungen der ihr untergeordneten Monaden bestimmt98. 97 98

Rutherford, Donald P.: „Phenomenalism and the Reality of Body“, in: Studia Leibnitiana 22.1 (1990), 11–28, hier: 19. Vgl. auch: Brief an Des Bosses, GP II, 517. Siehe dazu auch Duarte, Shane: „Leibniz and Monadic Domination“, in: Oxford Studies in Early Modern Philosophy VI (2012), 209–248.

Substanzielle Aktivität als Grund transitiver Kausalität

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Diese Dominanz ist im Gesetz des Besten fundiert und begründet so eine Teleologie, die das Geschehen des jeweiligen Körpers zum Besten der Welt ausrichtet. Wie diese Zusammenhänge konkret gedacht werden müssen, werden wir im folgenden Teil sehen. In diesem Sinne ergibt sich physische Kausalität derivativ aus der Normativität des göttlichen Willens und damit auch der normativen Weltstruktur per se, der deontischen Ontologie, die direkt dem Prinzip des Besten und dem für die Schöpfung konstitutiven Willen Gottes entspringt; im konkreten Individuum aber wird jede physische Bewegung durch die dominante Monade koordiniert und in den Kräften der Substanzen realisiert, die sich dann in einer phänomenal gegebenen Bewegung zeigen. Die Struktur der physischen Kausalverknüpfungen wird so auf metaphysische Begründungsstrukturen zurückführt, die letzten Endes immer erst durch den Willen des Schöpfers zu verstehen sind. 4. SUBSTANZIELLE AKTIVITÄT ALS GRUND TRANSITIVER KAUSALITÄT Vor diesem umfangreichen Hintergrund soll nun dargelegt werden, wie die Bewegungslehre und die Theorie der Kräfte in der Substanz verankert sind. Dazu sind jedoch zuerst weitere Ausdifferenzierungen notwendig. George Gale hat einen Vorschlag für eine solche Ausdifferenzierung der Erklärungsebenen gemacht, welche die Theorie der Körper ausmachen. Er unterscheidet drei Ebenen: Die erste ist die Observationsebene, auf der derivative Kräfte bzw. körperliche Bewegungen betrachtet werden und auf dem die Körper als phänomenal gegeben konzipiert werden. Dazu kommt die Erklärungsebene, auf der primitive Kräfte als Gründe für derivative Kräfte herangezogen werden müssen und auf der die Körper als körperliche Substanzen betrachtet werden. Und schließlich findet sich eine eigentliche metaphysische Ebene, auf der die Monaden gedacht werden und Körper nur als monadische Perzeptionen und alle Veränderungen unter Rückgriff auf den Appetitus begriffen werden99. Dieses Modell findet sich in ähnlicher Weise bereits bei Aron Gurwitsch100 und wurde von Hans Poser101 überarbeitet und auf sechs Ebenen erweitert. Poser beruft sich dabei auf ein Leibniz-Zitat102 und unterscheidet 1.) eine metaphysische Ebene, auf der die Monaden und ihre Perzeptionen begriffen werden; 2.) eine metaphysisch-substanziale Erklärungsebene, die sich auch die vis primitiva und das Gesetz der Serie bezieht; 3.) eine metaphysisch-phänomenale Erklärungsebene, auf der die metaphysischen Prinzipien der vis derivativa erfasst werden; 4.) eine phänomenale Erklärungsebene, auf der die Bestimmung der vis 99

Siehe dazu bspw. Gale, George: „Leibniz’s Force: Where Physics and Metaphysics Collide“, in: Leibniz’ Dynamica, Studia Leibnitiana, Sonderheft 13 (1984), 62–70. Vgl. ebenso ders.: „The Physical Theory of Leibniz“, in: Studia Leibnitiana 2 (1970), 114–127. 100 Gurwitsch: Leibniz. Philosophie des Panlogismus, a. a. O., 386 ff. 101 Vgl. Poser, Hans: „Apriorismus der Prinzipien und Kontingenz der Naturgesetze. Das LeibnizParadigma der Naturwissenschaft“, in: Studia Leibnitiana, Sonderheft 13 (1984), 164–179. 102 De Natura Veritatis (1685–86 [?]), A VI, 4, 1518.

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Teil V: Substanzen und ihre Körper

derivativa durch die Bewegungs- und Naturgesetze gedacht wird; 5.) die abstraktivphänomenale Erklärungsebene der Hypothesenbildung; 6.) die Ebene der Empirie, auf der die Körper und ihre Bewegungen erfasst werden103. Streng genommen sind die erste und die sechste Ebene keine Erklärungsebenen mit bloß hypothetischer Einsicht, sondern die Bereiche echter metaphysischer Einsicht und direkter, sinnlich gegebener Realität. Die anderen vier Ebenen sind die der verschiedenen Modellbildungen und wissenschaftlichen Methoden, in denen die Begriffe entwickelt werden, mit denen wir die erste auf die sechste Ebene beziehen können und umgekehrt. Poser betont: Wir durchlaufen solche Erkenntnisebenen nicht immer nur in deduktiver Weise, sondern es handelt sich um „Ebenen eines Bedingungs- und Voraussetzungsgefüges“104, also um Ebenen im Theoriedesign der Welt selbst, die wir je nach Erkenntnisinteresse einnehmen oder als Grundlage nehmen. Diese Ausdifferenzierung kann nun benutzt werden, um einen Argumentationszusammenhang aufzuzeigen, in dem sich die angeführte Theorie monadischer Kausalität konstituiert. Dieser Zusammenhang kann von den ‚obersten‘ metaphysischen Prinzipien zu den Phänomenen führen (top-down) oder umgekehrt. Auf der ersten, metaphysischen oder monadischen Ebene gibt es nichts außer dem Appetitus, also reiner Spontaneität: Die einfache Substanz bringt ihre eigenen Zustände, d. h. Perzeptionen spontan aus sich selbst heraus hervor105. Auf der zweiten Ebene können wir dies als die Entelechie oder ursprüngliche Kraft begreifen, die sich selbst entlang des Gesetzes der Serie realisiert, welches wiederum durch den vollständigen Begriff vorgegeben. Dies wird in der dritten Ebene auf die körperliche Substanz übertragen, in der die Entelechie einen Körper formt und ihn als ein Kraftgebilde bewegt. Abstrahieren wir davon, dass es sich bei allen Körpern um Ansammlungen von Lebewesen handelt, so wenden wir uns der vierten, phänomenalen Erklärungsebene zu. Auf ihr können wir die Begriffe der Masse, Form, Geschwindigkeit betrachten und diese auf die vis derivativa zurückbeziehen. So machen wir abstrakte metaphysische Prozesse der Realisierung von Potenzialitäten, der seelischen Aktivität und der Veränderung von substanziellen Modifikationen mess- und berechenbar, indem wir sie in ihren Wirkungen als physische Bewegungen begreifen. Auf dieser Ebene werden auch die Naturgesetze formuliert, die dann auf der fünften Erklärungsebene auf die bewegten Körper angewendet werden bzw. zur Hypothesenbildung mit den Phänomenen verglichen werden, welche auf der sechsten Ebene gänzlich unmittelbar erfahrbar sind. Dieser Zusammenhang kann im Prinzip auch umgekehrt werden (bottom-up): Wir schließen von den Phänomenen induktiv auf Gesetzlichkeiten und Kräfte, erfassen deren metaphysische Begründungsbedürftigkeit und leiten so die Theorie der Substanzen her. – Die ungewöhnliche Komplexität des leibnizschen Denkens beruht unter anderem darauf, dass Leibniz beide Argumentationsmethoden (bottom-up und top-down) je nach Text anwendet, nie konkret und in Gänze ausarbeitet und dem Leser die Mühe überlässt, diese Zusammenhänge aus den verschiedenen Texten selbst zu erschließen. 103 Siehe Poser: „Apriorismus der Prinzipien“, a. a. O., 173. 104 Ebd., 177. 105 Die grundlegende Bedeutung der Spontaneität legt schon Gueroult dar, vgl. Gueroult: Leibniz, Dynamique et Métaphysique, a. a. O., 163.

Substanzielle Aktivität als Grund transitiver Kausalität

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In diesem Sinne erklärt sich auch, warum Leibniz manchen Texten wie bspw. in der Monadologie von der erfahrbaren Komplexität des Zusammengesetzten auf die Existenz des Einfachen schließt und in anderen Texten wiederum, z. B. in der Scientia generalis, genau umgekehrt vom aus metaphysischer Hinsicht notwendigen Einfachen auf die Bedingungen der Zusammensetzung schließt. Die Theorie der Ursachen erstreckt sich mithin über verschiedene Ebenen. Als Wirkursache gilt im Rahmen der physischen Dinge ein von der Substanz ausgeführter Akt, der als von der Substanz getrennt gedacht und auf eine körperliche Bewegung bezogen wird. Dazu ist es notwendig, dass mit diesem als aktiv zu denkenden Akt ein anderer, als passiv geltender (aber in Wirklichkeit bloß mit geringerer Aktivität hervorgebrachter) Akt einer anderen Substanz korreliert, der damit als zugehöriger Effekt gilt. Wird dieser Akt mit der Substanz vereint gedacht und sieht man von der Realisierung im Bereich des Körperlichen ab, dann kann man ihn als immanente Ursache für die Veränderung von Modifikationen und Perzeptionen ansehen. So ist letztlich jede Wirkursache mittelbar zwar in den Körpern vorfindlich, aber zugleich direkt auf den Appetitus zurückzuführen. Dies aber betrifft gleichwohl nicht alle unserer Erklärungen, denn für uns ist es unpraktisch und läuft den Fundamenten der Wissenschaft zuwider, wenn wir uns in unseren Erklärungen des Naturgeschehens auf den Appetitus oder die substanziellen Formen beziehen. Die Begründung der physischen Kausalität im Appetitus oder der Monade dient vielmehr dazu, eine metaphysische Begründung dafür anzugeben, warum wir solche physikalischen Gesetzmäßigkeiten überhaupt erst sinnvoll postulieren können. Selbst wenn wir die allgemeinen mechanischen Gesetze aus der göttlichen Weisheit und der Natur der Seele abgeleitet haben, dann ist es nichtsdestotrotz unangemessen, für die Erklärung der speziellen Phänomene der Natur überall auf die Seele oder die substanziellen Formen zurückzugreifen. Ebenso ist es unangemessen und unpraktisch, sich überall auf den absoluten Willen Gottes zu beziehen106. Für eine physische Erklärung muss man die Körper als Materiekomplexe betrachten, was durchaus eine Uminterpretation ihrer metaphysisch-substanziellen Realität ist. Erst dann kann man ihre Veränderungen anhand von Naturgesetzen und als kausal determiniert beschreiben und erklären. Eine finale, auch gegenüber metaphysischen Kriterien valide Erklärung aber wird dann möglich, wenn die Körper als phänomenal gegebene Kraftkomplexe begriffen werden, die nur insoweit fundiert sind, als es ein ihnen zugrunde liegendes, spontanes Wirken von Substanzen gibt, das dem göttlichen Plan für die Welt, mithin dem Reich der Gnade folgt. Genau hierin liegt ein zentraler Punkt, warum der Rekurs auf Gott für die Wissenschaft wenig erfolgsversprechend ist: Die Details der göttlichen Heilsökonomie sind dem Menschen auf ewig verschlossen. Die allgemeine Tatsache, dass das Reich der Natur dem der Gnade dienen soll107, hat zwar Konsequenzen für unser moralisches Handeln und unser Hoffen auf Gnade, ist für die Naturwissenschaft gleichwohl eher kontraproduktiv. 106 Siehe Conspectus libelli, 1678–79 (?), A VI, 4, 2009–10. 107 „Le regne de la nature doit servir au regne de la grace“, TD, GP VI, 168.

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Teil V: Substanzen und ihre Körper

Es stehen sich so zwei Erklärungsweisen der Körper gegenüber, nach denen diese entweder als physische Objekte im Kausalzusammenhang gedacht werden, oder in metaphysisch-phänomenalem Sinne als Phänomene auf ein Subjekt bezogen sind. Diese beiden Beschreibungsmöglichkeiten werden in einer dritten, teleologischen Perspektive auf die Dinge begründet. Hubertus Busche findet dafür eine konzise Formulierung: Indem Leibniz den prästabilierten psychophysischen Expressionismus analog auf die ganze Natur überträgt, depotenziert er die Perspektiven des kausal-mechanischen Erklärens und der solipsistischen Erlebnisimmanenz zu zwei notwendigen, aber für sich unzureichenden Aspekten der finalen Deutungsperspektive. Indem diese die als mechanisch beurteilte Realität der Phänomene vom intelligiblen Punkt her versteht, sucht sie die Monade in der Welt mit der Welt in der Monade zu vermitteln, den Standpunkt der modernen Naturwissenschaften mit dem Standpunkt der neuzeitlichen Subjektivität.108

Somit liegt die substanzielle Spontaneität jeder Kraft, jeder Bewegung und damit jeder Materie, jeder körperlichen Form und jeder Handlung zugrunde, die wiederum nur vor dem Hintergrund umfassender theologischer Annahmen verständlich wird: Der Wille Gottes kann und muss der Endpunkt jeder auf Vollständigkeit abzielenden Erklärung sein. Jede Erklärung des natürlichen Geschehens durch Verweis auf transitive Ursachen wird stets unvollständig bleiben, weil die Körper auf materielle Bestandteile reduziert werden und weil die Frage nach dem finalen Grundcharakter aller Perzeptionen, mithin auch aller Erklärungen selbst, ausgeblendet wird. 5. DIE LEHRE VON DEN ZWEI REICHEN Vor diesem Hintergrund lässt sich schließlich auch die berühmte Lehre von den zwei Reichen besser verstehen. Diese besagt, oberflächlich verstanden, dass das Weltgeschehen durch zwei einander antagonistisch gegenübergestellte Kausalformen bestimmt ist, durch Wirkursachen im Bereich des Körperlichen und Finalursachen im Bereich des Seelischen. Seelen und Körper folgen ihren eigenen Gesetzen – schon 1679 gesteht Leibniz, dass er schon lange die Einwirkung der Körper auf den Geist geleugnet habe109. Ebenso leugnet er die Wirkung des Geistes auf den Körper110. So hat er dieses Konzept schon früh angedeutet, auch wenn der Ausdruck der Lehre von den zwei Reichen zum ersten Mal vermutlich erst im Tentamen Anagogicum (1690–95?) verwendet wird111. In einem Text namens Anima quomodo agat in corpus von 1677–78 betont Leibniz die Analogie zwischen der menschlichen Seele und Gottes Hervorbringung der Welt. Weil die Seele hier besonders deutlich als eine immanent wirkende Ursache im Gegensatz zu den transitiv wirkenden Körpern herausgestellt wird, soll diese Passage hier in Gänze zitiert werden: 108 109 110 111

Busche: Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum, a. a. O., 516. Brief an Malebranche, 22. Juni 1679 A II, 1 (2. Auflage), 724, vgl. Grua, 259. Brief an Weigel, September 1679, A II, 1 (2. Auflage), 747. GP VII, 273

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Wie die Seele auf den Körper wirkt. Wie Gott in der Welt [wirkt]: das ist, nicht durch Wunder, sondern durch mechanische Gesetze. Und so, wenn in einem fiktiven Gedankenexperiment (per impossibile) die Geister aus der Welt aufgehoben würden und nur die Naturgesetze zurückblieben, so würden dieselben Dinge geschehen, als ob es Geister gäbe, und sogar Bücher würden geschrieben und gelesen von menschlichen Maschinen, die nichts verstehen. Tatsächlich aber ist es unmöglich, die Geister aufzuheben und die Gesetze der Mechanik zu bewahren. Denn die allgemeinen mechanischen Gesetze sind Erlasse des göttlichen Willens, und die individuellen Gesetze in jedem einzelnen Körper, die aus den allgemeinen Gesetzen folgen, sind die Erlasse der Seele oder ihrer Form, die nach dem Guten strebt, also zur Perfektion. Und so ist Gott der Geist, der alles zur allgemeinen Perfektion lenkt. Die Seele jedoch ist die fühlende Kraft in einem jeden Einzelnen, die zur je eigenen Perfektion (specialem perfectionem) strebt. Entstanden aber sind Seelen, denen Gott je allen einen Conatus zur je eigenen Perfektion mitgegeben (impressit) hat, dass aus diesem Konflikt die größtmögliche Perfektion erwächst. Man kann alles in der gesamten Natur durch die Finalursachen beweisen, wie auch durch Wirkursachen. Die Natur bringt nichts umsonst hervor (nihil facit frustra), sondern so, dass sie stets den kürzesten Wegen folgt. […] Die Geister handeln nicht außerhalb der Ordnung in den Körpern. Auch greift Gott nicht in die Natur ein, auch nicht bei den Dingen, die außerhalb der Ordnung zu stehen scheinen; [denn] die Dinge wurden von Anbeginn an so geschaffen, dass die allgemeine Ordnung sie in ihrer individuellen Besonderheit einschließt (in speciem extraordinarium involvat).112

Hier werden erneut zahlreiche Stränge des leibnizschen Denkens zusammengeführt, soweit er diese bis 1677 ausgearbeitet hatte. Zuerst einmal wird die kausale Abgeschlossenheit der Welt erneut betont: Weder Gott noch die Seelen greifen in den Lauf der Ereignisse ein. Die Handlungen der Körper sind mechanistisch determiniert, doch ohne Geist wären sie sinnentleert und unverständlich. Es ist der Geist, der die Dinge interpretiert und versteht. Doch das genannte Gedankenexperiment, sich eine Welt ohne Geister vorzustellen, kann nicht der Wirklichkeit entsprechen, sonst würde die Welt nicht mehr zur Perfektion streben: Dies vermag sie schließlich nur durch die Geister, die zugleich als Conatus Grundkonstituentien des physischen Weltgeschehens sind. Dieses ist so dank der Geister zugleich kausal wie auch final determiniert und kann so auch je mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten beschrieben und erklärt werden. Die natürliche Ordnung ist letzten Endes diesem finalen Streben und mithin dem Minimax-Prinzip geschuldet und sie gilt zuerst für die 112 „Anima quomodo agat in corpus. Ut Deus in mundum: id est non per modum miraculi, sed per mechanicas leges. Itaque si per impossibile tollerentur Mentes, et manerent leges naturae, eadem fierent ac si essent mentes, et libri etiam scriberentur legerenturque a machinis humanis nihil intelligentibus. Verum sciendum est hoc esse impossibile, ut tollantur mentes salvis legibus Mechanicis. Nam leges mechanicae generales sunt voluntatis divinae decreta, et leges mechanicae speciales in unoquoque corpore (quae ex generalibus sequuntur), sunt decreta animae sive formae ejus, contendentis ad bonum suum sive ad perfectionem. Itaque Deus est mens illa quae omnia ducit ad perfectionem generalem. Anima autem est vis illa sentiens quae in unoquoque tendit ad perfectionem specialem. Ortae autem sunt animae, dum Deus omnibus conatum ad perfectionem specialem impressit, ut ex eo conflictu oriretur maxima perfectio possibilis. Omnia in tota natura demonstrari possunt tum per causas finales, tum per causas efficientes. Natura nihil facit frustra, natura agit per vias brevissimas modo sint regulares. Hinc viae brevissimae quaerendae non in superficiebus ipsis refringentibus sed in tangentibus. Sed hoc obiter. Animae non agunt in corpora extra ordinem. Nec Deus in naturam, etsi appareant res fieri extra ordinem; rebus ab initio sic constitutis, ut ordo generalis aliquid in speciem extraordinarium involvat.“ Anima Quomodo Agat in Corpus (1677–78 [?]), A VI, 4, 1367.

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Teil V: Substanzen und ihre Körper

Geister und dann, vermittels dieser, auch für die Körper. Jeder Körper folgt den Gesetzen der Seele, und die individuellen Gesetze folgen einer allgemeinen Ordnung, die im göttlichen Willen und seiner Entscheidung, genau diese Welt hervorzubringen, begründet ist. Der Geist hat eigene Gesetze, die ihn über das Mechanische erheben; mechanische Operationen dienen in letzter Konsequenz dem Guten113. Das Reich der Finalursachen gehört den Seelen an, das Reich der Natur den Körpern; Finalursachen und Kausalursachen stehen sich gerade nicht in ein und demselben ontologischen Bereich gleichberechtigt gegenüber. Die Finalursachen wirken als immanente Ursachen von den Substanzen aus auf den Kausalnexus, der als Verkettung transitiver Ursachen der Finalursächlichkeit nicht antagonistisch gegenüber steht, sondern gewissermaßen orthogonal. So verlangt Leibniz etwa auch eine Herleitung der Naturgesetze selbst nach dem Prinzip des Besten114. Das Prinzip des Besten ist als Maxime Gottes zwar außerhalb des Weltgeschehens begründet, aber es ist nicht für sich selbst wirksam, sondern es bedient sich der Substanzen, die schließlich erst durch das Prinzip ausgewählt und in die Existenz gesetzt wurden. Die Naturgesetze, die der Bewegung und Veränderung der Körper korrespondieren, werden mittelbar und in ihrer Gesamtheit durch das Prinzip des Besten bestimmt, weil dieses die Auswahl, Koordination und Realität sämtlicher Einzelprinzipien der Substanzen vorgibt. In einem Brief an Lady Masham vom Mai 1704 beginnt Leibniz ein Argument über das Verhältnis der Seele zum Körper mit der für ihn unhintergehbaren Prämisse, dass die göttliche Allmacht und Allwissenheit nicht geleugnet werden könne. Er behauptet dann, dass er mit der Bestätigung dieser Aussage nichts anderes unternimmt, als immer und überall den Seelen und Körpern das zu attribuieren, was man immer in ihnen wahrnimmt (y experimente) wenn die Wahrnehmung deutlich (distincte) ist, das heißt, mechanische Gesetze in den Körpern und die inneren Handlungen in der Seele: Das Ganze [!] besteht aus nichts anderem als dem gegenwärtigen Zustand, verbunden mit einer Tendenz zu Veränderungen, die im Körper den bewegenden Kräften folgen und in der Seele den Perzeptionen des Guten und des Bösen.115

Um zu diesem Schluss zu gelangen, muss eine weitere, von Leibniz angenommene, aber hier nicht angeführte Prämisse hinzugezogen werden: Gott hat die Welt gleichförmig und bruchlos geschaffen und es gibt keine dichotomische Trennung zwischen Seele und Körper als eigenständige, irreduzible Dinge116. Dies wird durch 113 GP IV, 480. 114 Siehe SD, GM VI, 243. 115 „En quoy je ne fais encor qu’attribuer aux Ames et aux corps pour tousjours et par tout ce qu’on y experimente toutes les fois que l’experience est distincte, c’est à dire les loix mecaniques dans les corps, et les Actions internes dans l’Ame: le tout ne consistant que das l’estat present joint à la tendence aux changemens, qui se font dans le corps suivant les forces mouvantes, et dans l’ame suivant les perceptions du bien et du mal.“ Brief an Lady Masham, Mai 1704, GP III, 341. 116 Pauline Phemister nennt das zugrundeliegende Prinzip das principle of uniformity, vgl. dazu Brief an Lady Masham, Mai 1704, GP III, 340: „C’est par toutet tousjours tout comme chez nous et à present“, mit Ausnahme des Übernatürlichen. Siehe Phemister, Pauline: „‚All the time and everywhere everything’s the same as here‘ – The Principle of Uniformity in the Correspon-

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die als Ganzes bezeichnete Einheit von Körper und Seele in der einzelnen Monade betont, in der es eben nichts anderes gibt als einen aus einem Perzeptionenkomplex bestehenden Zustand und dem Appetitus, der zu neuen Perzeptionen strebt. Innerhalb dieser Perzeptionen, die unsere Erlebniswelt ausmachen, werden verschiedene Gesetzmäßigkeiten unterschiedlich deutlich erkannt und den beiden Seiten der monadischen Binnendifferenz Innen/Außen zugeordnet. Es „gibt“ also keine unterschiedlichen Natur- und Geistesgesetze, sondern nichts als bloße Hypothesen, Modelle und Fiktionen, die auf der für uns relevanten Klarheit und Erklärungskapazität beruhen. Im Reich der unvergänglichen und fensterlosen Monaden gibt es keine scharfe Trennung zwischen Körper und Seele, ebenso wenig eine zwischen mechanischen und psychologischen Gesetzen, sondern, mit metaphysischer Strenge gesprochen, nichts als den Appetitus, der seinem eigenen Gesetz folgt. Erst wenn wir von dieser metaphysisch strengen Perspektive absehen, eröffnet sich uns der gesamte Raum der Erklärungen und Hypothesen. Im Rahmen unserer Erlebniswirklichkeit aber geht die Sonne tatsächlich im Osten auf, Lebewesen können wirklich sterben und es gibt unbewegte und unbelebte Körper. In diesem Rahmen können wir kontingente Erkenntnisse haben, Wissenschaft betreiben und je nach dem uns zugehörigen Guten streben. Dazu aber müssen wir zwischen Seele und Körper unterscheiden und die mechanischen Gesetze der Körper und das moralische Streben der Seele zum Guten in die Erklärungen der weltlichen Prozesse einbeziehen. Leibniz macht deutlich, dass die beiden Reiche auf die monadeninterne Aktivität zurückgehen und deshalb auf die Teleologie im Appetitus: Die Quelle des Mechanismus ist die primitive Kraft, aber die Gesetze der Bewegung, nach dem Impetus und die derivativen Kräfte aus dieser [primitiven Kraft] erwachsen, fließen (profluunt) aus der Perzeption von gut und böse, oder aus dem, was am angemessendsten ist. So, wie die Wirkursachen von den Finalursachen abhängen, und die geistigen Dinge von Natur aus den materiellen Dingen vorhergehen, so sind sie auch unseren Gedanken vorgängig, da wir die uns unmittelbar zugängliche (nobis intimam), innere Seele eher erfassen als den Körper, was auch Platon und Descartes feststellten. Du sagst, dass wir diese Kraft nur durch den Effekt verstehen, nicht so, wie sie in sich beschaffen ist. Ich antworte darauf, dass dies der Fall wäre, wenn wir keine Seele hätten oder wir diese nicht erkennen würden. Die Seele hat in sich Perzeptionen und den Appetitus, und in diesen ist ihr Wesen enthalten.117

Hier geht Leibniz fließend vom Ursprung des Mechanismus zum Ursprung der Perzeptionen über, wodurch die hier vorgetragene These, dass Appetitus und Conatus letzten Endes dasselbe sind, bestärkt wird. Im Prinzip hat Leibniz mit dieser Argumentation die platonische Substanz, die als immaterielle Seele zum Guten strebt, dence Between Leibniz and Lady Masham“, in: Lodge (Hrsg.): Leibniz and His Correspondents, a. a. O., 193–213. 117 „Mechanismi fons est vis primitiva, sed leges motus, secundum quas ex ea nascuntur impetus seu vires derivativae, profluunt ex perceptione boni et mali, seu ex eo quod est convenientissimum. Ita fit, ut efficientes causae pendant a finalibus, et spiritualia sint natura priora materialibus, uti etiam nobis sunt priora cognitione, quia interius animam (nobis intimam) quam corpus perspicimus, quod etiam Plato et Cartesius notarunt. Hanc vim ais cognosci per effectus, non qualis in se est. Respondeo ita fore, si animam non haberemus, nec cognosceremus. Habet anima in se perceptiones et appetitus, iisque natura ejus continetur.“ Brief an Bierling, 7. Juli 1711, GP VII, 501.

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Teil V: Substanzen und ihre Körper

mit der aristotelischen Entelechie verbunden, die als körperliche Substanz sich selbst gemäß ihren Anlagen verwirklicht. Über den Kraftbegriff hat er diese Substanzenlehre als Grundlage aller Mechanik erdacht und kann den kausalen Ablauf der Welt in unendlich vielen individuellen Seelen und ihrem Streben zum Guten begründen. Das bedeutet folgendes: Nicht das Lebewesen ist in die Kausalzusammenhänge des Naturgeschehens eingebettet, sondern die Naturgesetze erwachsen als globale Strukturen aus den Mustern von unendlich vielen Handlungen unendlicher größerer oder kleinerer Lebewesen. Im Prinzip kann man bei Leibniz eine doppelte Abhängigkeit der Wirkursachen von den Finalursachen feststellen: Einerseits hängen alle Wirkursachen als perzipierte Strukturen bzw. derivative Kräfte vom Appetitus ab und damit von dem Streben des individuellen Lebewesens; andererseits hängt diese individuelle Anlage wiederum unmittelbar von Gottes Einsicht in das Weltgeschehen und seinem Willen ab, nur das beste Geschehen zuzulassen. Um den Ablauf der Welt zu erklären, wenden der Cartesianismus und der Atomismus den Blick vor allem auf die Dinge, doch Leibniz insistiert, dass dies ohne eine Reflektion auf die beseelten Individuen keine vollständige Erkenntnis hervorbringen kann, da diese konstitutiv sind für die Realität der Dinge und der naturgesetzlichen Strukturen gleichermaßen. Physisches Geschehen ist in diesem Sinne doppelt final determiniert: Erstens ist es Resultat eines individuellen Strebens zum Guten, ob die Lebewesen dies nun bewusst erfassen können oder nicht; zweitens ist es funktionaler Bestandteil des globalen Weltgeschehens, da alles in Harmonie mit allem anderem steht und da die Harmonie in der Welt zunehmen muss und nicht abnimmt. Die den Menschen hauptsächlich zugängliche Erklärung weltlichen Geschehens ist das Aufzeigen von Kausalursachen. Doch lassen sich neben solchen kausalmechanistischen auch finale Erklärungen angeben, beispielsweise „in Form mathematischer Extremalprinzipien“118. Dafür dient die Tatsache als Beispiel, dass das Licht von einer Lichtquelle zu seinem Objekt selbst bei Reflektion einen Weg wählt, der durch ein Minimum oder ein Maximum bestimmt ist und folglich der „am meisten determinierte“ Weg ist119. Jeffrey McDonough formuliert dies wie folgt: Put simply, Leibniz’s principle is tantamount to the claim that from among all the possible paths between a source and a sink, a ray of light will travel along the path which is unique with respect to ease; where „ease“ is understood as the quantity obtained by multiplying the distance of the path by the resistance of the medium(s).120

Dies ist nicht nur durch Effizienzursachen, sondern und vor allem auch durch Rückgriff auf Effizienzprinzipien zu erklären, welche selbst wiederum nur teleologisch 118 Breger, Herbert: „Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716)“, in: Böhme, Gernot (Hrsg.): Klassiker der Naturphilosophie, München 1989, 187–202, hier 194. 119 „Les voyes les plus determinées“, Tentamen Anagogicum (1696 [?]), GP VII, 278. Nur der Weg, der entweder durch ein Minimum oder ein Maximum bestimmt ist, ist eindeutig bestimmt, denn für alle anderen Strecken gibt es einen „Zwilling“, der denselben Wert hat. 120 McDonough, Jeffrey K.: „Leibniz on natural teleology and the laws of optics“, in: Philosophy and Phenomenological Research 78.3 (2009), 505–544, hier 512. Vgl. ebenso Duchesneau, François: Leibniz et la méthode de la science, Paris 1993, 263 f.

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zu verstehen sind121. Auch hier wird eine kausale Erklärung durch einen Rückbezug auf höhere Erklärungsprinzipien begründet, die selbst als finale Prinzipien zu verstehen sind. Ebenso wie im Bereich der Stoßgesetze soll die Finalerklärung in Form eines Effizienzmaximierungsprinzips angeben werden, warum von allen möglichen Wegen gerade dieser genommen wurde. Das Prinzip des Besten ist damit der letzte Grund für die weltliche Harmonie, die in solchen final erklärbaren Gesetzen, wie denen der Reflektion des Lichtes, am klarsten zum Vorschein gelangt: Letztlich ist das ganze Universum gewissermaßen die Lösung eines Extremwertproblems: Unter allen möglichen Welten kann Gott nur die beste geschaffen haben, weil sein Handeln sonst nur das Prinzip des zureichenden Grundes verletzt hätte. Wie nun die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten gleichzeitig die kürzeste Verbindung für irgend zwei dazwischen liegende Punkte ist, so gilt Analoges vom Universum: Es ist in jedem seiner kleinsten Teile von maximaler Vollkommenheit. Die Existenz finaler Naturgesetze, die Leibniz gegen den Descartesschen Mechanismus verteidigt, hängt insofern mit Grundannahmen seiner Metaphysik zusammen.122

Finalursachen sind ontologisch wie epistemisch basal – zuerst in den Lebewesen, dann als letzter Seins- und Erkenntnisgrund der Welt in Gott. Die final begründeten Reflexionsgesetze sind nach Leibniz nur ein erster Schritt. Unser wissenschaftliches Verständnis der Welt wird uns immer mehr zu einer finalen Begründung des Weltgeschehens in Gott hinführen: Die Analyse der Naturgesetze und die Untersuchung der Ursachen führt uns zu Gott, während man zeigt, wie man in Hinblick auf die Ziele wie in dem Differentialkalkül man nicht einfach zum Größten oder zum Kleinsten fortschreitet, sondern allgemeiner zum Bestimmtesten oder zum Einfachsten. Ich habe zu verschiedenen Gelegenheiten festgestellt, dass die letzte Auflösung der Naturgesetze uns zu den erhabensten Prinzipien der Ordnung und der Perfektion führt, die zeigen, dass das Universum das Ergebnis (l’effect) einer intelligenten universellen Macht ist. Dieses Wissen ist die größte Frucht unserer Untersuchungen […].123

Demnach kann Leibniz einfordern: „Die Untersuchung der Finalursachen in der Physik ist die richtige Unternehmung, von der ich glaube, dass man sie machen muss […].“124 Denn die Physik ist als Wissenschaft unvollständig, wenn sie nicht nach den einfacheren und universellen Gesetzen strebt, durch welche die allgemeine Weltökonomie der Ereignisse in Einklang mit der göttlichen Harmonie gebracht wird. Die Finalursachen bestimmen außerdem die Lebewesen, die immerhin als Einheit von Körper und Seele die letztendlich entscheidenden Momente der Aggregation sind, aus denen die Körper bestehen. Es gilt, für eine vollständige und 121 Vgl. dazu De ipsa natura, GP IV, 506. Siehe dazu auch Garber: Leibniz: Body, Substance, Monad a. a. O., 256 ff. 122 Breger: „Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716)“, a. a. O., 195. 123 „Que l’Analyse des Loix de la nature, et la recherche des causes nous mene à Dieu, ou l’on monstre comment dans la voye des finales comme dans le calcul differences on ne regard pas seulement au plus grand ou au plus petit, mais generalement au plus determiné ou au plus simple. J’ay marqué en plusieurs occasions que la derniere resolution des Loix de la Nature nous mene à des principes plus sublimes de l’ordre et de la perfection, qui marquent que l’univers est l’effect d’une puissance intelligente universelle. Cette connoissance est le fruit principal de nos recherches […].“ Tentamen Anagogicum (1696 [?]), GP VII, 272. 124 „La recherche des causes finales dans la Physique est justement la practique de ce que je crois qu’on doit faire […].“ Ebd., 273.

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Teil V: Substanzen und ihre Körper

auf echte Gründe und damit auf echtes Wissen abzielende Wissenschaft, die Untersuchung der Finalursachen miteinzubeziehen. 6. SCHLUSSBEMERKUNG Die in den vorangegangenen Kapiteln entfaltete Theorie der körperlichen Substanz hat für sich genommen in ihrer Erklärungskapazität ebenso deutliche Grenzen wie die der einfachen Substanzen. Sie alleine kann nicht erklären, wie sich die Vielfalt an Entitäten, d. h. Kräften, substanziellen Formen etc. ontologisch zueinander verhält, weil sie ihre eigenen Bedingungen, nämlich die Kriterien der Substanz, nicht konzipieren kann. Diese Bedingungen haben gar keine direkte Erklärungskapazität für die Erklärung der Einheit zwischen Körper und Seele, für die Wirklichkeit von Kräften und Körpern und für die Begründung der körperlichen Bewegungen. Um dies zu klären und um die Theorie der körperlichen Substanzen zu fundieren, wird wiederum der oben und eingangs beschriebene Phänomenalismus benötigt. Beide Erklärungsansätze ergänzen sich nicht nur gegenseitig, sondern sie verweisen notwendig aufeinander, auch wenn die Monadenlehre ontologisch grundlegend ist. Insoweit wird das Problem der Disjunktion der Körper als Phänomen oder als Aggregat zu einem Problem der Perspektivendualität, in Abhängigkeit zu den Erklärungszwecken und -zielen beider Ansätze. Dabei entspricht es unserer durchaus auch alltäglichen Unterscheidung zwischen Sein und Schein, zwischen metaphysischer Wirklichkeit und phänomenalen Gegebenheiten. Es handelt sich also weniger um ein ontologisches Problem, zumal der substanzontologische Ansatz in letzter Instanz keine eigenen Entitäten kennt, die nicht auch in dem phänomenalistischen Ansatz vorhanden wären. Zwecks präziserer Bestimmung aber ist die Substanzontologie begrifflich ausdifferenziert und unternimmt auf der begrifflichen Ebene Unterscheidungen, die keine ontologischen Entsprechungen haben. Es soll also Benson Mates widersprochen werden, wenn er schreibt, dass der Versuch, in De distinguendi phaenomena imaginaria mittels eines Kohärenzkriteriums eine Unterscheidung zwischen wahrheitsgemäßen und fehlrepräsentierenden („veridicial and non-veridicial“) Perzeptionen zu etablieren, gescheitert sei. Besonders fragwürdig scheint mir diese Schlussfolgerung von Mates zu sein: „Thus, while resisting the simple Cartesian explanation that otherwise God would be a deceiver, Leibniz seems unable to produce anything essentially better.“125 Es scheint jedoch so, als ob die leibnizsche Kausalitätstheorie in obiger Rekonstruktion eine Theorie der Fundierung der Phänomene enthält. Zwar wurde hier noch nicht auf die Frage nach der Wahrheit von Perzeptionen eingegangen, doch wurde zumindest ihre Fundierung in den Substanzen jenseits der Perzeptionen selbst dargelegt. Aus dieser Fundierung ließen sich Wahrheitskriterien ableiten. Zwar muss sich Leibniz in der Theodizee immer noch auf den Glauben an die Fundierung der Phänomene berufen126, aber damit ist auch der Glaube an die harmonie préétablie gemeint, die 125 Mates: The philosophy of Leibniz, a. a. O., 203. 126 TD § 41–42, GP VI, 74.

Schlussbemerkung

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eine Bedingung für die Fundierung der Phänomene ist. In letzter Instanz ist das philosophische Unternehmen der Fundierung der Wirklichkeit in der Annahme des Prinzips des Besten begründet, weil dieses überhaupt erst die Notwendigkeit einer Fundierung postuliert und zugleich als oberstes Prinzip aller Fundierungen dienen soll. Wie ist diese komplexe Metaphysik nun zu bezeichnen? Je nach Perspektive können einzelne Aspekte der Philosophie von Leibniz als realistische, idealistische und phänomenologische Ansätze beschrieben werden, auch unter gewissem Vorbehalt als Momente einer Supervenienztheorie127. Die Idee, dass die Körper aus dem Monadenaggregat resultieren, ist gar nicht so verschieden von der modernen Idee, dass bestimmte Eigenschaften auf zugrunde liegenden Fakten supervenieren – so resultiert etwa die Eigenschaft, flüssig zu sein, aus der Molekülstruktur des Wassers und die Qualität der Flüssigkeit ist mit den strukturellen Gegebenheiten des Wassers verbunden, wenn auch nicht mit diesen identisch. Auf einer abstrakten Ebene betrachtet sind die phänomenal gegebenen Qualitäten der Körper entsprechend eineindeutig auf radikal verschiedene, da auf substanzieller Ebene gegebene Strukturen des Zusammenwirkens der Monaden zurückzuführen. Betrachtet man die Wirklichkeit aus der Gottesperspektive, dann gibt es nichts als Monaden, die noch nicht einmal in einem räumlichen Verhältnis zueinander stehen. Leibniz gibt in seinem Briefwechsel mit Clarke deutlich zu erkennen, dass er einen als ‚Container der Dinge‘ konzipierten, präexistenten und absoluten Raum strikt ablehnt. Die Monaden sind bloß im metaphysischen Raum der wirklichen Dinge zu verorten. Von dort aus wissen wir, dass die Monaden das Universum von ihrer Perspektive aus und in Gänze betrachten, jede erlebt in ihren Perzeptionen die wirkliche deontische Struktur der Abhängigkeits- und Dominanzverhältnisse als räumlich ausgedehnte, einheitlich agierende, lebendige Körper. Aus dieser Gottesperspektive heraus würde man sehen können, wie sich den Monaden die Welt als eine Welt physischer Dinge zeigt: als wohlfundierte Erscheinungen, deren Gründe, Ursachen und Ursprünge eine völlig andere Natur haben als sie selbst.

127 Dies sieht auch Glenn Hartz so, freilich im Rahmen seiner Interpretation der Philosophie von Leibniz als ein heterogenes System, vgl. Hartz: Leibniz’ Final System, a. a. O., 115 ff., 184 ff., 190 ff.

TEIL VI: LEIBNIZ’ THEORIE DER ORGANISMEN1 „Die Körper sind getrieben von Naturkräften, die die Natur derselben nicht ausmachen, sondern es sei ein Verhältnis, das durch äußerliche Wirkung auf den Körper hervorgebracht werde. Unter Kraft, wenn man von einem Lebenden spricht, versteht man etwas Ursprüngliches.“ G. W. F. Hegel2

1. DER ORGANISMUS: ZWISCHEN EMPIRIE UND METAPHYSIK Im vorigen Kapitel wurde dargelegt, dass sich die Körper in ihrer Bewegungstendenz nach dem Appetitus richten. Resultiert diese Tendenz in einer echten Bewegung, dann wird sie von der übergeordneten Monade gesteuert, die als Seele des Körpers wirkt. Diese Seele, auch Entelechie genannt, kann aber nicht unmittelbar als Ursache für die Bewegungen des Körpers gelten, weil die wirkende Kraft in den Körpern die derivative Kraft ist und eines Aggregats an Substanzen bedarf, um den Conatus in eine wirkliche Bewegung zu überführen. Die prästabilierte Harmonie sorgt für eine Entsprechung zwischen dem Seelenleben, d. h. der Abfolge der Perzeptionen, und der physikalischen Kraft des Substanzenaggregats. Diese Übereinstimmung können wir als psychophysische Kausalität denken, wenn auch nicht im metaphysisch strengen Sinne. Der physikalische Raum ist durch Kausalursachen dominiert, die Entelechien sind als Bewohner des Reiches Gottes der göttlichen Teleologie unterworfen, weil sie dem Prinzip des Besten folgen. Diese Einwirkung der Seele auf den Körper aber wird vor allem durch die Dominanz der obersten Monade im Monadenaggregat bewirkt, da diese übergeordnete Monade auch über die am weitesten entwickelten geistigen Funktionen und den höchsten moralischen Wert gegenüber allen anderen dem Körper zugeordneten Monaden verfügt und deshalb als die Seele des Lebewesens gilt. Der Rest des Monadenaggregats konstituiert die Materialität des dieser Seele zugeschriebenen Körpers, indem sie die Kräfte 1

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Dieses Kapitels greift auf zwei Veröffentlichungen zurück: Lyssy, Ansgar: „Der Organismusbegriff bei Leibniz“, in: Stache, Antje (Hrsg.): Das Harte und das Weiche. Körper – Erfahrung – Habitus, Bielefeld 2006, 171–186 und ders. / Heßbrüggen-Walter, Stefan: „Maschinen der Kunst, Maschinen der Natur“, in: Busche, Hubertus (Hrsg.): Klassiker Auslegen: Monadologie, Berlin 2009. Hegel, Georg W. F.: Vorlesungen über die Philosophie der Natur, Berlin 1819/20, nachgeschrieben von Johann R. Ringier, hrsg. von Martin Bondeli / Hoo N. Seelmann, Hamburg 2002, 6 f.

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Teil VI: Leibniz’ Theorie der Organismen

organisieren, die wir auf phänomenaler Ebene als Widerstand erleben und die die Aktivitäten und Formen der Körper bestimmen. Dem phänomenalen Körper dieses Monadenaggregats ist eine eigentümliche Struktur und Dynamik zu eigen, die eine besondere Rolle in Leibniz’ Denken der physischen Welt spielt. Es handelt sich um einen Organismus, der schon vom Terminus her dem Mechanismus entgegengestellt ist. Beide Begriffe sind doppeldeutig, da sie zugleich ein Ding bezeichnen, nämlich ein Lebewesen oder eine Ansammlung mechanisch ineinandergreifender Teile, wie auch eine Art von Prozess, eben im Falle des Organismus ein organisiertes, autonomes Geschehen in einer lebendigen Einheit. Im vorliegenden Teil wird Leibniz’ Konzeption des Organismus vor der Grundlage der im vorangegangenen Teil entworfenen Substanzenlehre dargelegt3. Der Organismusbegriff bei Leibniz ist schon oft analysiert und rekonstruiert worden. Ernst Cassirer4 hat bereits auf dessen zentrale Rolle als Ergänzung zu einem mechanistischen Weltbild hingewiesen, das ohne den Organismusbegriff trotz seines totalen Erklärungsanspruches zentrale Erkenntnisinteressen nicht erfüllen kann. Er begreift den Organismusbegriff als eine Ausweitung des Substanzenbegriffs, die auf bestimmte wissenschaftsmethodologische Erfordernisse zurückgeht, etwa auf die Erklärung von Lebewesen und deren funktionalen Körpern, und auf die Begründung der biologischen Wissenschaft in einer substanziellen und weltlichen Entität. Cassirer vernachlässigt dabei gleichwohl die zentrale Rolle des aristotelischen Entelechiebegriffs, der in seiner Studie nicht angemessen gewürdigt wird. Hans Ludwig Koch5 rekonstruiert in seiner klassischen Studie den Materiebegriff als zentral für den Organismusbegriff, verfehlt aber die hier für bedeutsam erachteten Eigenarten des Organismus, etwa indem er die einheitsstiftende Funktion der Entelechie sowie die der zusammengesetzten Substanz bzw. des Substanzenaggregats übersieht. Antonio Nunziante betont die Genese des Organismusbegriffs aus der Übertragung des Harmoniebegriffs als Strukturprinzip auf die individuellen Körper6. François Duchesneau7, Marie-Noëlle Dumas8 und ähnlich auch Donald Rutherford9 betonen, dass der Organismus nicht nur als Struktur im Gegensatz zur toten, bloß mechanischen Aggregation steht, sondern zur genuin ontologischen Entität des Lebens wird. Allerdings versucht Dumas, den Organismus in der Monade zu begründen und dabei die Monade als zellenähnliche Grundeinheit zu 3

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Dabei werden unter anderem auch folgende Ausgaben von Leibniz’ Schriften verwendet: La controverse entre Stahl et Leibniz, hrsg. von Sarah Carvallo, Paris 2004 (im Folgenden abgekürzt als Carvallo); The Body-Machine in Leibniz’s Early Physiological and Medical Writings: A Selection of Texts with Commentary, hrsg. von Justin E. Smith, in: The Leibniz Review 17 (2007), 141–179 (im Folgenden abgekürzt als Smith). Cassirer, Ernst: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Berlin 1902, Nachdruck Hamburg 1998. Koch, Hans Ludwig: Materie und Organismus bei Leibniz, Halle a. S. 1908. Nunziante, Antonio-Maria: Organismo come Armonia. La genesi del concetto di organismo vivente nella filosofia di G. W. Leibniz, Trient 2002. Duchesneau, François: Les Modèles du Vivant de Descartes à Leibniz, Paris 1998. Dumas, Marie-Noëlle: La Pensée de la Vie chez Leibniz, Paris 1976. Rutherford, Donald: Leibniz and the Rational Order of Nature, Cambridge 1995.

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begreifen10, was mir vor dem Hintergrund der hier skizzierten Interpretation der Monadenlehre problematisch erscheint, da sie damit Gefahr läuft, die Monade als weltimmanent zu lesen und nicht die Welt als monadenimmanent. Tobias Cheung11 begründet ebenfalls den Organismusbegriff auf der internen Struktur der Monade, erläutert aber nicht, wie dies mit dem aus anderen Monaden resultierenden Körper zusammenhängt. Dabei stellt sich die Frage, wie naturphilosophische oder wissenschaftliche Überlegungen die metaphysische Konzeption des Individuums oder der Substanz beeinflusst haben können. Dazu haben verschiedene Autoren in der letzten Zeit12 einen bedeutenden Einfluss von einigen spätmittelalterlichen oder neuzeitlichen wissenschaftlichen Theorien auf Leibniz’ Monadenlehre selbst ausgemacht13, wie etwa die Theorien der Animalcula und der Präformation, die Leibniz bei Leeuwenhoeck, Sennert, Swammerdam und Athanasius Kircher vorgefunden hatte. Auch Cudworths „plastische Naturen“14 und Malpighis Konzeption der Lebewesen als kleine Maschinen (machinulae), wie auch Contis und Vallisneris Idee einer Präformation der Lebewesen15 scheinen eine große Rolle bei der Entstehung des Organismusbegriffs gespielt zu haben. Auch andere Autoren, wie Anna-Maria Tymieniecka16 oder Kurt Huber17 behaupteten, dass der Substanzbegriff durch Leibniz’ 10 11

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Dumas: La Pensée de la Vie, a. a. O., 188 ff. Cheung, Tobias: Die Organisation des Lebendigen. Die Entstehung des biologischen Organismusbegriffs bei Cuvier, Leibniz und Kant, Frankfurt a. M. 2000. In seiner Folgestudie zeigt er die Konzepte auf, in deren Umfeld Leibniz’ Organismusbegriff zu situieren ist: Ders.: Res vivens. Agentenmodelle organischer Ordnung 1600–1800, Freiburg i. Br. 2008. Arthur, Richard T. W.: „Animal Generation and Substance in Sennert and Leibniz“, in: Smith, Justin E. (Hrsg.): The Problem of Animal Generation in Early Modern Philosophy, Cambridge 2006, 147–174; Boyle, Deborah: „Spontaneous and Sexual Generation in Conway’s Principles“, in: ebd., 175–193; Duchesneau, François: Leibniz. Le vivant et l’organisme, Paris 2010; Heßbrüggen-Walter, Stefan / Lyssy, Ansgar: „Maschinen der Kunst, Maschinen der Natur“, in: Busche, Hubertus (Hrsg.): Klassiker Auslegen: Monadologie, Berlin 2009, 175–196; Smith, Justin E.: „Leibniz’s Preformationism: Between Metaphysics and Biology“, in: Tymieniecka, Anna-Teresa (Hrsg.): The Creative Matrix of the Origins. Dynamism, Forces and the Shaping of Life (Analecta Husserliana, Band LXXVII), Dordrecht 2002, 161–192; Wilson, Catherine: „Leibniz and the Animalcula“, in: Oxford Studies in the History of Philosophy 2 (1997), 153– 175. Die animalculare Präformation wird umfassend behandelt bei Smith: „Leibniz’s Preformationism“, a. a. O., ebenso wie auch Leeuwenhoecks Einfluss und die Möglichkeit einer Rezeption der Theorie der Panspermiae von Athanasius Kircher. Die Frage, ob Leibniz von Sennert beeinflusst wurde, diskutiert Arthur: „Animal Generation“, a. a. O., 147–174. Auf die Inspiration durch Anne Conway weist Boyle: „Spontaneous and Sexual Generation“, a. a. O., hin. Für die Theorie der Animalcula siehe Wilson: „Leibniz and the Animalcula“, a. a. O. In Smith: The Body-Machine in Leibniz’s Early Physiological and Medical Writings, a. a. O., 142, heißt es dagegen, die biologischen Thesen von Leibniz seien „firmly rooted in natural philosophy and metaphysics.“ Smith, Justin E. / Phemister, Pauline: „Leibniz and the Cambridge Platonists“, in: Brown, Stuart / Phemister, Pauline (Hrsg.): Leibniz and the English-speaking World, Dordrecht 2007, 95–110. Duchesneau: Leibniz. Le Vivant et l’Organisme, a. a. O. Tymieniecka, Anna Teresa: Leibniz’ Cosmological Synthesis, Assen 1964. Huber, Kurt: Leibniz. Der Philosoph der universalen Harmonie, München 1951, Nachdruck

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medizinische oder (proto-) biologische Kenntnisse besonders beeinflusst wäre18. Dies beruht auf der Annahme, Leibniz habe seine Thesen über die Unsterblichkeit der Lebewesen und der pränatalen Präformation der Tiere in Anlehnung an die empirischen Theorien der Epigenesis und der mikroskopischen Animalcula konzipiert. Catherine Wilson19 macht auf zwei zusätzliche Inspirationen aufmerksam: Sie vertritt die Position, dass Leibniz auch von Malebranche beeinflusst ist, der auf die Inadäquatheit der Sinne gegenüber dem sehr Kleinen verweist, und sie betont, dass Leibniz der Meinung ist, das Mikroskop habe lebendige Atome zum Vorschein gebracht. Ebenso hebt sie hervor, dass zweitens Leibniz auch von Fontenelles Idee gehört hatte, dass experimentelle Praktiken wie die Putrefikation in scheinbar unbelebten Körpern keinesfalls Lebewesen erschaffen, sondern lediglich bereits vorhandene sichtbar machen würde20. Dabei stehen Smith und Wilson in der bereits kritisierten Tradition der Annahme, Monaden könnten andere Monaden als Körper perzipieren bzw. Körper seien nur verworrene Erscheinungen von Monaden21. Solche Annahmen eines historischen Einflusses haben eine signifikante Bedeutung für das Verständnis der Theorie des Organismus im Rahmen des Leibnizschen Systems. Im Folgenden wende ich mich gegen die Deutung, Leibniz habe den Organismusbegriff mit Hinblick auf empirische Forschungen entwickelt. Sicher bemüht sich Leibniz, die empirischen Forschungen aufzugreifen und in seine Theorie zu integrieren, zumal er ja gerade nach einer umfassenden Synthese der verschiedenen Wissensbereiche strebt; doch insgesamt darf bezweifelt werden, ob die Theorien der Animalcula und die Entdeckungen des Mikroskops Leibniz Metaphysik tatsächlich beeinflusst haben. Es scheint vielmehr, dass Leibniz sich nur bestätigt gesehen hat und es droht die Gefahr eines Fehlschlusses, wenn man von der Tatsache, dass Leibniz die wissenschaftlichen Entdeckungen seiner Zeit mit großer Aufmerksamkeit verfolgt hat und vielen Ideen über die Natur der Lebewesen wohlwollend und zustimmend gegenüberstand, folgert, dass seine Philosophie davon auch tatsächlich positiv und in ideengebendem Sinne beeinflusst wurde22. Man 18 19 20 21

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München (1989). Zu Leibniz’ Stellung zur Medizin siehe Rothschuh, Karl E.: „Leibniz und die Medizin seiner Zeit“, in: Studia Leibnitiana, Sonderheft 1 (1969), 145–163. Wilson: „Leibniz and the Animalcula“, a. a. O. Vgl. Wilson, Catherine: The Invisible World, Princeton 1995, 207 f. Justin Smith versteht die körperliche Substanz als Organismus im Kontext einer realistischen Interpretation und wendet sich damit gegen die Positionen von Adams, Robert M.: Leibniz. Theist, Determinist, Idealist. Oxford 1994, und Garber, Daniel: „Leibniz and the Foundation of Physics: The Middle Years“, in: Okruhlik, Kathleen / Brown, James B.: The Natural Philosophy of Leibniz, Dordrecht 1985, 27–130. Siehe Smith, Justin E.: „On the Fate of Composite Substances After 1704“, in: Studia Leibnitiana 30.2 (1998), 204–210. Am Deutlichsten scheint mir dieser Schluss noch bei Arthur, Richard T. W.: „Animal Generation and Substance in Sennert and Leibniz“, in: Smith, Justin E. (Hrsg.): The Problem of Animal Generation in Early Modern Philosophy, Cambridge 2006, 147–174, hier bspw. 148: „Animal development is explained in terms of the unfolding of these seeds [i. e. unsichtbare „Kerne“ in Lebewesen], organized around a soul that is active in organizing the matter […]. While this develops the views expressed by Sennert, it also prefigures Leibniz’ mature doctrine of transformation, which, I shall argue, is best seen as a development of preformation.“ Meine These dagegen ist, dass Leibniz mit seiner Theorie der Metempsychose versucht hat, seinen nicht-

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sollte deshalb nicht die für den Monadenbegriff konstitutive Rolle des Einheitsbegriffs übersehen, den Leibniz im Anschluss an platonische und neuplatonische Traditionen entwickelt23 und der ihm zumindest als Problem bereits seit seiner Mainzer Zeit vor Augen steht. Leibniz vertritt bereits in seiner allerersten philosophischen Schrift 166324 eine antirealistische Position, nach der es nur Individuen in der Welt gibt und diese nur aufgrund ihrer Essenz individuiert werden. Somit bezieht Leibniz bereits außerordentlich früh eine Position, die gezielt die Einheit und Individualität zum Wesensmerkmal eines Lebewesens macht und dieses gerade nicht in Abhängigkeit kontingenter und somit empirisch feststellbarer Prädikate begreift. Zudem greift er schon 1669 in seinen Briefen an Thomasius den aristotelischen Formgedanken auf, um Individuum, Essenz und Existenz aufeinander zu beziehen. Er will zwar die substanziellen Formen rehabilitieren, allerdings ohne die aristotelische Idee eines genuinen Entstehens und Vergehens der Lebewesen, da dies seinem starken Einheitsbegriff ja gerade widerspricht: Eine echte Einheit kann nicht entstehen oder vergehen. Seit diesem Zeitpunkt gilt für ihn, dass eine teilbare Substanz nicht denkbar ist. Seine Substanzbegriffe und seine Ideen über Lebewesen sind oftmals nur Konsequenzen dieser metaphysischen Grundannahme. Leibniz hat Leeuwenhoeck erst 1672 getroffen, zu einem Zeitpunkt, als zentrale Aspekte seiner frühen Substanzenlehre schon geformt waren, die in den Grundzügen und auf reduzierte, aber keinesfalls konträre Weise der späteren Monadenlehre zugrunde liegt. Mir scheint es demnach plausibler, anzunehmen, dass sich aus diesen Auseinandersetzungen mit der antiken und der scholastischen Philosophie und aus der Konfrontation mit dem spinozistischen Substanzbegriff heraus sowie in dem Bemühen, den infinitesimalen Kraftbegriff (den conatus) in der Substanz zu begründen25, der Gedanke der individuellen Substanz entwickelt, deren Unsterblichkeit nicht in der empirischen Entdeckung der präformierten Kleinstlebewesen begründet werden kann, sondern vor allem in dem konstitutiven Einheitsbegriff – was keine Teile hat, das zerfällt auch nicht und kann auch nicht durch Zusammensetzung konstituiert worden sein. Es wurde hier bereits bezweifelt, ob man mit einer in die Wissenschaftsgeschichte eingebetteten Deutung des leibnizschen Systems die Monaden als etwas begreifen sollte, das ein materieller Teil in der Welt wäre, so wie etwa Tische, Hunde, ein See voller Fische, eine Schafsherde, usw., oder auch nur, ob Substanzen überhaupt Gegenstand der phänomenal gegebenen Welt sein können (vgl. Teil III). Ich schließe mich hier eher Sarah Carvallo26 und Hans Poser27 an, dass Leibniz in

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zeitlich zu verstehenden Einheitsbegriff mit der Annahme einer zeitlichen und dynamischen Welt in Einklang zu bringen. Siehe dazu Mercer, Christia: Leibniz’s Metaphysics. Its Origins and Development, Cambridge 2001 und Smith, Justin E.: „Confused Perception and Corporeal Substance in Leibniz“, in: The Leibniz Review 13 (2003), 45–64. De Principio Individui (1663), A VI, 1, 9–19. Für die Rolle des Conatus-Begriffs für das Entstehen der Substanz siehe Poser, Hans: „Leibniz’ Parisaufenthalt in seiner Bedeutung für die Monadenlehre“, in: Studia Leibnitiana, Supplementa XVIII.2 (1978), 131–144. Carvallo, Sarah: „La controverse sur la vie, l’organisme et le mixte“, in: Carvallo, 7–64. Poser: „Leibniz’ Parisaufenthalt“, a. a. O.

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den Auseinandersetzungen mit Leeuwenhoeck, Stahl und anderen eher eine empirische Bestätigung einiger seiner a priori aufgestellten Thesen sah. Es sollen einige weitere Argumente genannt werden, die gegen eine solche Theorie der Beeinflussung der leibnizschen Substanzenlehre durch empirische Forschung sprechen. Ein erstes Gegenargument ist folgendes: Der nach Leibniz’ Meinung durch das Mikroskop bestätigte Panorganismus bzw. Panvitalismus ist auch mit anderen, etwa dualistischen oder monistischen Ontologieentwürfen vereinbar – mit einem anderen Substanzbegriff natürlich, aber unter Beibehaltung der These der Allgegenwart von Organismen und Vitalkräften. Dementsprechend scheint eine Beeinflussung nicht zwingend gegeben zu sein. Es ist vor allem Leibniz’ an Aristoteles angelehnte und gegen Descartes, Spinoza und Hobbes gerichtete Annahme, dass jede Bewegung, ja jede Aktivität durch ein wirkliches, aber immaterielles Prinzip gesteuert werden muss, die, mit seiner Forderung nach individueller Einheit vereint, den Begriff der individuellen Substanz maßgeblich prägt. Beide Voraussetzungen entziehen sich jeder empirischen Betrachtung. Zudem ist gerade die Gegenüberstellung von Mechanismus als kausales System und Organismus als finales System eine apriorische Konzeption, die gar keinen direkten empirischen Gegenpart hat und weder durch die Empirie bestätigt noch inspiriert werden kann – im Gegenteil, ein Vergleich von Mechanismen und Organismen kann nur vor dem Hintergrund umfassender theoretischer Vorannahmen angestellt werden. Zweitens spricht Leibniz den apriorischen Theorien den Vorrang vor den empirischen zu. Dies gilt ganz allgemein, denn die Unabhängigkeit und unmittelbare Gewissheit unserer Verstandesfähigkeiten lässt einen ganz anderen Zugang zu überzeitlichen Wahrheit zu als die Empirie; aber Leibniz wendet diese Bevorzugung auch konkret auf die hier angeschnittene Frage an, wenn er die apriorische Vorhersagbarkeit der Kleinstlebewesen betont28 oder wenn er die Identität der von Adriaan Leeuwenhoek entdeckten Wesen mit seinen theoretisch postulierten, in anderen Organismen enthaltenen Wesen anzweifelt29. Zwar lassen sich Fakten a posteriori herleiten, auch metaphysische Fakten, nicht aber metaphysischen Prinzipien, mit denen diese Fakten übereinstimmen müssen30. Drittens wendet sich Leibniz gegen die Vertreter der Präformation, die behaupten, dass das Lebewesen vor der Empfängnis bereits im kleineren Maßstab in der Eizelle vollständig gegeben sei. Nach Leibniz ist das später ausgewachsene Lebewesen begrifflich31, d. h. der Struktur nach, in der Eizelle angelegt, wobei dies also 28 29

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Vgl. Brief an de Maizeauz, in: Leibniz Opera philosophica, hrsg. von Joannes E. Erdmann, 676; zitiert aus Dumas: La Pensée de la Vie, a. a. O., 110. „Je n’oserais assurer que les animaux que M. Leeuwenhoek a rendus visibles dans la semence soient précisément ceux que j’entends.“ Brief an Bourget, 5. August 1715, GP III, 579. Dumas hebt völlig zu Recht die Bedeutung des Infinitesimalkalküls hervor, der, angewandt auf Leibniz’ Idee der besten aller Welten, die Strukturiertheit und Perfektion des Mikrokosmos vorgibt. Vgl. Dumas: La pensée de la vie, a. a. O., 112 f. Dies ließe sich gegen Paul Lodges Position einwenden, der für eine Metaphysik a posteriori bei Leibniz plädiert: Ders.: „The Empirical Grounds for Leibniz’s ‚Real Metaphysics‘“, in: The Leibniz Review, 20 (2010), 13–38. Brief an Bourguet, 11. 7. 1714, GP VII 580. Vgl. auch Duchesneau: Les modèles du vivant, a. a. O., 329.

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in Anlehnung an die vollständige Bestimmung der Identität durch den vollständigen Begriff zu verstehen ist. Die Identität der Lebewesen ist vor allem formal und ontologisch zu verstehen, nicht aber als eine in den Körpern begründete. Der Körper befindet sich gerade, wie Leibniz immer wieder betont, in stetigem Fluss. Viertens erlaubt der ontologische Status des Organismus als überzeitliche Struktur (s. u.) keineswegs eine empirische Erkenntnis desselben: Als zusammengesetzte Substanz realisiert das Lebewesen die Phänomene32, es ist also das Fundament der Phänomene und nicht etwas, das selbst als Phänomen gegeben ist oder direkt und unmittelbar durch empirische Untersuchung zugänglich wäre. Demnach ist eine apriorische Erkenntnis einer empirischen stets überlegen. So lässt sich zwar die Position vertreten, dass die Empirie uns die Theorie der Präformation lehrt, aber die Vernunft muss diese Theorie bestätigen33. Das aber bedeutet nicht, dass eine apriorische Monadenlehre notwendig im Einklang mit der Empirie zu stehen hat, sondern es scheint eher, dass die Empirie durch die Vernunfteinsicht angezweifelt und widerlegt werden kann. Schließlich hat Leibniz auch die seinen Theorien zuwiderlaufenden Versuche von Evangelista Torricelli, das Vakuum nachzuweisen, aus apriorischen Gründen für unplausibel erklärt34. Mit dem hier vertretenen Ansatz soll also nicht die Position des Leibnizschen Organismusbegriffs im Kontext der neuzeitlichen Wissenschaft aufgearbeitet werden. Stattdessen werden die im vorangegangenen Teil ausgearbeiteten Überlegungen zur phänomenalistischen Grundlegung auf den Organismusbegriff übertragen. Dabei greife ich erneut einige der interpretativen Positionen von Donald Rutherford auf, vor allem dessen Thesen zur Kohärenz von Panorganismus und Monadenlehre. Rutherford macht in seiner Darstellung deutlich, dass der Monadenbegriff die Grundlage jeder Realität ist und dass die Behauptung, der Organismus sei das Fundament der Materie, vor allem vor diesem Hintergrund zu verstehen sei. Er unterscheidet drei Interpretationsebenen, die monadische, physische und panorganische Ebene35, die jedoch nicht auf ontologische Differenzen, sondern auf unterschiedliche Erklärungsabsichten zurückgehen. Eine Berücksichtigung der theoretischen Funktion des vinculum substantiale unterscheidet die organismische Ebene durch die Einführung eines eigenen Einheitsbegriffs von der physischen. Ich werde in diesem Kapitel aber den Zusammenhang zwischen physischer (d. i. mechanischer) und organismischer Ebene deutlich machen und dabei auf den Thesen aufbauen, dass die physische Materie nicht im wörtlichen Sinne aus Monaden ‚besteht‘, sondern dass es sich hier eher um ein Verhältnis der Korrespondenz bzw. 32 33

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Vgl. Brief an Des Bosses, 29. Mai 1716, GP II, 520. So heißt es in diesem Zusammenhang auch: „Les recherches des modernes nous ont appris et la raison l’approuve.“ Principes de la Nature et de la grace, § 6. GP VI, 601. Für eine ausführlichere Darstellungen des Verhältnisses von Philosophie und Wissenschaft, von apriorischer und aposteriorischer Erkenntnis siehe z. B. Duchesneau, François: Leibniz et la Méthode de la Science, Paris 1993; siehe Poser, Hans: „Apriorismus der Prinzipien und Kontingenz der Naturgesetze. Das Leibniz-Paradigma der Naturwissenschaft“, in: Studia Leibnitiana, Sonderheft 13 (1984), 164–179; ders.: Leibniz, Hamburg 2005. Vgl. bspw. Leibniz’ fünftes Schreiben an Clarke, 18. August 1716, GP VII, 396 f. Rutherford: Leibniz and the Rational Order of Nature, a. a. O., 213.

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Teil VI: Leibniz’ Theorie der Organismen

des Resultierens als um ein quantitatives Verhältnis handelt36. Dabei werde ich auf den im vorherigen Kapiteln erläuterten Kraftbegriffen aufbauen, welche die spontane und strukturierte Aktivität einer Monade in die physische Aktivität eines materiellen Lebewesens transportieren. 2. ORGANISMEN: VON MENSCHEN, TIEREN UND ANDEREN MASCHINEN In der Frage nach der Besonderheit und der angemessenen Beschreibung der Lebewesen laufen seit der Antike verschiedene Problemkomplexe zusammen: Als Erstes stellt sich die Frage, ob Veränderungen eher quantitativer oder qualitativer Natur sind. Zweitens muss die Frage nach dem Grund der Identität und Individualität eines jeden Lebewesens vor einem umfassenden metaphysischen Problemkomplex erörtert werden. Drittens ist die Frage nach der ontologischen Differenz zwischen Belebtem und Unbelebtem in einer vollständig durch Kausalursachen bestimmten Welt zu klären. Auch Leibniz’ Philosophie kann vor diesem Hintergrund verstanden werden. Zuerst soll hier ein kurzer Überblick über die Entwicklung des Begriffs des organischen Körpers bzw. des Organismus bei Leibniz gegeben werden. Leibniz kommt wahrscheinlich bereits in seinen Pariser Jahren (1672–76) bei Leeuwenhoek mit der Theorie der animalcularen Präformation in Berührung, die besagt, dass die endgültige Form des Lebewesens bereits vor dessen Geburt, sogar schon seit Begin der Schöpfung feststeht, als Spermatozoon oder als pflanzlicher Samen. Der Tod ist dabei kein endgültiger Zerfall des Lebewesens, sondern ein rein physischer Transformationsprozess, der es dem Lebewesen als solchem erlaubt, in anderer Form und auf eine andere Weise auch ohne den einst eigentlichen, eigenen Körper in und als andere Körper weiterzuleben – eine Metamorphosis. Leibniz dürfte darin seine Forderung nach einer Einheit des Lebewesens jenseits von mechanistisch-quantitativen Parametern bestätigt gesehen haben. Bis in die späten 1680er Jahren steht er dabei aber vor dem Problem, seine bereits etablierte Theorie der einfachen Substanzen mit der Idee zu vereinbaren, dass jedes Lebewesen mit seinem ausgedehnten und teilbaren Körper eine eigene, wirkliche Einheit bildet und dass nicht, wie dies bei Spinoza der Fall ist, alle individuellen Körper voll und ganz in der allumfassenden Substanz aufgehen. Er begreift daraufhin die individuelle Substanz als Spiegel der Welt und die Entelechie als zielgerichtete Aktivität und er reformuliert das Leib-Seele-Verhältnis in einer hylemorphischen, aber substanzenimmanenten Dichotomie. Dazu benötigt er gegenüber dem Konzept der Monade einen Theorieansatz, mit dem die individuelle Substanz auf ihre Mereologie und die Aktiv-Passiv-Dichotomie hin konzipiert werden kann: Diese findet er in den Begriffen der zusammengesetzten und der körperlichen Substanz. Im letzten Kapitel wurde bereits erläutert, wie die körperliche Substanz die wohlfundierten Phänomene als materielle Wirklichkeit und die Idee der Selbstzuschreibung des 36

„Material things do not form part of his [Leibniz’s] fundamental ontology. Their existence is to be explained, instead, in terms of the existence and properties of monads alone.“ Rutherford: Leibniz and the Rational Order of Nature, a. a. O., 219.

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eigenen Körpers begründet, indem Entelechie und physische Aktivität in den Körpern übereinstimmen. Nun soll noch darauf eingegangen werden, welche Rolle der Organismusbegriff im Rahmen dieser allgemeinen substanzontologischen Überlegungen hat: Er erweitert die Dynamik um konkrete teleologische Momente, nämlich die Funktionalität der Organe der Lebewesen. Damit wird der Gedanke der prinzipiengesteuerten Kräfte um den Begriff des funktionalen Wirkens erweitert und dies erlaubt es, den Effizienz- bzw. Harmoniegedanken auf die Individuen zu übertragen. Ernst Cassirer hat dies besonders deutlich in Worte gefasst: Der Begriff des Körpers, wie er in der Mechanik konstruiert wird, wird unzureichend, sobald es sich um die Erklärung der Lebensprozesse handelt. Die Materie bedeutet nach ihrer bisherigen Ableitung einzig den Massenpunkt oder das System der Massenpunkte. […] Von einer Gliederung innerhalb dieses Ganzen, von einer Ordnung und Unterordnung in der Beziehung seiner Teile zur Einheit des Systems können wir zunächst absehen.37

Man kann schließlich in diesem Sinne den Organismusbegriff als einen noch späteren Begriff zur Einführung einer neuen Binnendifferenz in die Monade lesen: Während der Begriff der „zusammengesetzten Substanz“ auf die Binnendifferenz zwischen Seele und Körper verweist (wobei der Körper als körperliche Substanz wiederum anderer Substanzen bedarf, die die Realität des Körpers ausmachen), so bedeutet der Begriff des Organismus die interne Strukturiertheit des der Monade zugehörigen Körpers, begriffen als phänomenal gegebener Körper, dessen Realität wiederum aus den ihm zugeordneten Substanzen resultiert. Diese körperliche Struktur folgt dabei der Vorgabe der obersten Entelechie, der Begriff des Organismus aber betont die Funktionalität der Körperteile und unterscheidet sich dahingehend vom Begriff der körperlichen Substanz, auch wenn beide Termini in letzter Instanz koextensiv sind. Der Begriff des Organismus wird zum ersten Mal um 1700 von Georg Ernst Stahl und ab 1704 in den Werken Leibnizens38 verwendet, vor dieser Zeit war eher von „organischen Körpern“ die Rede. Stahl führt den Begriff des Organismus ausdrücklich als Gegensatz zum Begriff des Mechanismus ein. Leibniz stimmt dieser Unterscheidung im Hinblick auf den ontologischen und epistemischen Status von Lebewesen und Maschinen zu, weil es sich hier um den prinzipiellen Unterschied zwischen unendlicher und endlicher Komplexität handelt – was ihn aber nicht daran hindert, auch Lebewesen als Mechanismen zu begreifen, da uns Menschen ohnehin nur endliche Komplexitäten begreifbar sind. Der Begriff des „organischen Körpers“ ist dem des Organismus’ dagegen untergeordnet, soweit der organische Körper ein Teil des Lebewesens bzw. Organismus ist, der auch noch eine den Körper regierende Seele umfasst. Zudem bezeichnet der Begriff des Organismus auch ein prozessuales und finales Geschehen, so wie der 37 38

Cassirer, Ernst: Leibniz’ System, a. a. O., 358. Gleichwohl taucht der Ausdruck „organisme“ bereits einmal in einem Text auf, der auf 1686 datiert wurde: Du Rapport General de Toutes Choses (1686 [?]), A VI, 4, 1615. Angesichts dieser Singularität – der Ausdruck wird danach achtzehn Jahre lang nicht mehr verwendet – liegt es aber nahe, von einem lapsus calami ausgehen, von einem einmaligen begrifflichen Experiment oder, was die Editoren durchaus für möglich halten, einer zu früh angesetzten Datierung.

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Teil VI: Leibniz’ Theorie der Organismen

Begriff des Mechanismus auch kausales Geschehen bezeichnet. Der Begriff des „organischen Körpers“ steht logisch vor allem dem des „anorganischen Körpers“ gegenüber und erhebt somit keinen Anspruch auf Einheit. Ein physischer Teil eines Lebewesens verfügt aber nicht über eine wirkliche Einheit; diese kommt dafür dem Organismus zu, der begrifflich nicht dem Anorganischen, sondern dem letztlich Unorganisierten, dem Unfunktionalen und vor allem dem Uneinheitlichen gegenübersteht. Dies kann am besten anhand der konkreten Anwendung der Begriffe illustriert werden: Tiere etwa wechseln die Teile, also ihr organischer Körper verändert sich. Durch den mit der Ernährung einhergehenden Partikelfluss39 werden neue untergeordnete Substanzen Teil des Substanzenaggregats, andere treten aus diesem aus. Dennoch bleiben diese Lebewesen als Individuum bzw. als Struktur weiterhin bestehen, es handelt sich immer noch um denselben Organismus40. Der organische Körper besteht also zu einem bestimmten Zeitpunkt im Rahmen einer Sukzession organisierter Materieteilchen41, der von der Seele betrachtet bzw. ausgedrückt wird42 und ihr gehorcht43. Der organische Körper selbst ist nur die Materie, die der übergeordneten Entelechie folgt und ihm kann erst durch seine Unterordnung unter eine Seele physische Realität als Organismus zukommen. Der Organismus als System oder Struktur, das einer Seele zugehört, bleibt bei allen Veränderungen des Körpers jedoch unverändert, weil er gerade das Prinzip ist, dem die Veränderungen folgen. Insoweit kann man sagen, dass ein Organismus im Laufe der Zeit über verschiedene organische Körper verfügen kann, was Leibniz am Beispiel der Raupe illustriert, die sich in einen Schmetterling verpuppt. Zudem steht der Organismusbegriff, gemeinsam mit dem Begriff des Lebewesens, dem des Unbelebten gegenüber, doch da es für Leibniz gerade nichts Unbelebtes geben kann, ist es plausibel, in manchen Kontexten den Begriff des Lebewesens mit dem des Organismus gleichzusetzen. Die drei Begriffe Lebewesen, körperliche Substanz und Organismus sind intensional, nicht aber extensional verschieden, da es letztlich keine Realität außer den Monaden gibt. Das entscheidende Hauptmerkmal für eine körperliche Substanz, durch die ein Organismus in der physischen Welt manifestiert wird, ist die Einheit eines ausgedehnten, massehaltigen Körpers mit einer übergeordneten Monade44. Jedes (irdische) Lebewesen ist stets ein Organismus, da jede Seele immer über einen Körper verfügt und jeder Körper, sofern ihm durch eine Seele eine Einheit verliehen wird, eben deswegen auch ein Organismus ist. Wie genau diese durch die Seele vermittelte Einheit zu verstehen ist und wie diese den Organismus bestimmt, wird eine der folgenden Fragen sein. Es soll hier nicht darüber hinweggegangen werden, dass Leibniz das Wort „Organismus“ eher selten verwendet. Der Begriff des „organisierten Körpers“ wird 39 40 41 42 43 44

Vgl. PNG § 6, GP VI, 601 f.; Mo § 71, GP VI, 619; GP VI, 266. Vgl. GP VII, 417 und GP II, 390. GP V, 215; GP V, 403. GP III, 340. GP VII, 570. „Substantiam corpoream voco, quae in substantia simplice seu monade (id est anima vel Animae analogo) et unito ei corpore organico consistit.“ Brief an Bierling, 12. August 1711. GP VII, 501.

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dagegen wesentlich häufiger benutzt, auch der des „organischen Körpers“. Deshalb soll hier unter Hinzuziehung des bereits erarbeiteten systematischen Kontextes eine Interpretation dieser Gegenüberstellung der Begriffe „Organismus“ und „Mechanismus“ versucht werden. Dabei wird die an Leibniz’ Texten leicht zu rechtfertigende These vorausgesetzt, dass er tatsächlich schon vor 1704 die Idee einer den Körpern der Lebewesen immanenten Architektur vertreten hat, die er nun noch mit dem Ausdruck „Organismus“ versieht. Ich werde Leibniz mit der Annahme lesen, dass durch den Begriff des Organismus seine bereits im Discours de Métaphysique angelegte Theorie der Lebewesen, die dort als individuelle Substanzen verstanden werden, nur eine begriffliche und systematische Ausarbeitung erfährt, nicht aber prinzipiell im Widerspruch zu seiner früheren Ontologie steht: Der Organismusbegriff setzt ebenso wie der Begriff der körperlichen Substanz, anders aber als der Begriff des Lebewesens, voraus, dass es ein den phänomenal gegebenen Körper begründendes Substanzenaggregat gibt. Der Begriff der körperlichen Substanz macht für sich genommen noch nicht deutlich, dass die organisierende Struktur des Aggregats eine durch ein Prinzip auf ein Ziel hin gesteuerte, einheitliche Struktur ist. Eine einzelne Substanz kann für sich genommen als Lebewesen, aber nicht als Organismus begriffen werden, da ein ausgedehnter Körper die Existenz mehrerer Substanzen erfordert, welche diesen Körper konstituieren. In seiner systematischen Funktion ermöglicht es der Begriff des Organismus, eine neue Differenzierung einzuführen, die eine Konzeption der Lebewesen jenseits der ontologischen Unterscheidung in Pflanzen, Tiere und Menschen erlaubt. Von Leibniz wie auch in der Sekundärliteratur werden Organismen gelegentlich ganz allgemein mit Tieren identifiziert, was insoweit auch plausibel ist, als Leibniz selbst an vielen Stellen „Tier“ synonym mit „Lebewesen“ verwendet. Er zählt schließlich Pflanzen aufgrund von „beobachteten Analogien“ zu den Tieren, indem er sie als „unperfekte“ Tiere begreift45. Ähnlich übertragen auch wir den bei uns Menschen introspektiv und unmittelbar zugänglichen Geist qua Analogie auch auf die außer uns befindlichen Lebewesen, nur dass wir ihnen eben eine entsprechend verminderte Einsichtsfähigkeit zusprechen: Daher scheint es wahrscheinlich, dass die Tiere uns eher ähnlich sind, und auf ähnliche Weise auch die Pflanzen, die den Tieren in vielem entsprechen, nicht nur mit dem Instinkt (corporea ratione) sondern in der Tat auch mit einer Seele bestehen, so dass folglich das Tier oder die Pflanze für eine unteilbare und permanente Substanz gehalten wird, die ihren Handlungen unterworfen ist. Denn wenn es auch mit der Vorstellungskraft nicht erfasst werden kann, so wird dies auch mit dem Geist am deutlichsten verstanden.46 45

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„Monsieur Malpighi fondé sur des analogies fort considerables de l’anatomie, a beaucoup de penchant à croire que les plantes peuvent estre comprises sous le même genre avec les animaux, et sont des animaux imparfaits.“ Brief an Arnauld, 9. Oktober 1687, GP II, 122. Ursula Goldenbaum weist darauf hin, dass Leibniz in den frühen Schriften die Empfindungsfähigkeit der Tiere und Pflanzen ablehnt. Deswegen beziehe ich mich hier kaum auf die frühen Schriften. Vgl. Goldenbaum, Ursula: „Transsubstantiation, physics and philosophy at the time of the Catholic Demonstrations“, in: Brown, Stuart (Hrsg.): The Young Leibniz and his Philosophy (1646–76), Dordrecht, Boston 1990, 79–102. „Hinc videtur probabile Bruta quae sunt valde nobis Analoga, similiter et plantas quae brutis in multis respondent non tantum [corporea] ratione verum etiam anima constare secundum quam

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Teil VI: Leibniz’ Theorie der Organismen

Die Identifikation der Organismen mit Tieren entspricht soweit aber dem Geist der frühen Neuzeit und ist dann unproblematisch, wenn man die Differenz zur heutigen Taxonomie deutlich macht. Während der Begriff des Tieres vor allem in Bezug auf die Beseeltheit zu verstehen ist („animal“ ist das beseelte Wesen mit einer „anima“ bzw. einem „animus“, einem Lebenshauch, einer Seele, also sind damit alle belebten Wesen gemeint), so ist der Begriff des Organismus ein für eine ganz andere Funktion hin geschaffener Neologismus, der in Leibniz’ ontologischem Rahmen eine Position einnimmt, erstens teleologische und kausale Naturprinzipien miteinander in Einklang zu bringen und zweitens das Kontinuum der Materie mit der Konzeption der individuellen und indivisiblen Substanz zu vereinen. Dies erinnert an Donald Rutherfords dreiteilige Unterscheidung von Interpretationsebenen des monadischen Raumes in physisch, monadisch und organismisch. Dabei sollte man bedenken, wie sehr es kontextabhängig ist, ob und wann Leibniz die Termini „Seele“, „dominante Monade“ und „Entelechie“ verwendet. Streng genommen sind nur die Tiere mit einer Monade als Seele ausgestattet, in anderen Lebewesen wie etwa den Pflanzen wirkt die Monade nur als Entelechie, worin die aristotelische Theorie der höheren Erkenntnisvermögen bei den verschiedenen Lebewesen nachklingt47. Welche Rolle spielt der Begriff des Organismus als Struktur des Lebendigen bei Leibniz? Leibniz wendet sich immer wieder gegen die Theorien von Hobbes und Descartes, die eine Wissenschaftsidee vertreten, nach der die wissenschaftlichphilosophische Erkenntnis auf der Methode der Geometrie und dem Begriff der Kausalursachen beruht. Er weist die Grenzen der Quantifizierung des Physischen im Mechanismus und Determinismus auf. Seine Einführung des Begriffs der Entelechie und der substanziellen Form führt ein Moment ein, das keinesfalls quantifizierbar ist und demnach hier als Qualität bezeichnet werden kann. In dieser Hinsicht ist Leibniz ein Vitalist: Lebewesen fallen für sich genommen und aufgrund ihrer intrinsischen Besonderheit in eine andere Seinsweise als die scheinbar unbelebten Dinge. Der Einheitsbegriff führt eine ontologische Differenz ein, der keine epistemische Differenz entspricht: Für Leibniz ist alles Physische immer auch mechanistisch zu erklären48. Selbst der Körper eines Lebewesens ist nichts anderes als eine hydraulisch, pneumatisch und mit Feuer betriebene Maschine („machinam

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brutum aut planta unica indivisibilis substantia permanens suarum operationum subjectum ducatur. Quod quamvis imaginatione comprehendi nequeat, mente tamen maxime intelligitur.“ Communicata cum Fardella (1690), A VI, 4, 1669. Leibniz notiert dort am Rande: „Ich halte es für wahrscheinlich, dass Pflanzen und Tiere belebt sind, auch wenn ich nichts zuversichtlich über den Körper irgend einer Art sagen kann außer dem menschlichen, mit dem ich unvermittelt bekannt bin. Wie auch immer, ich wage es dennoch zu sagen, dass sie [die anderen Lebewesen] belebte Körper enthalten oder Körper analog zu den belebten Körpern, also Substanzen.“ – „Probabile judico plantas et bruta esse animata, asseverare tamen aliquid de ullo speciatim corpore praeter humanum cujus intimam experientiam habeo non possum. Interim illud affirmare audeo inesse ipsis corpora animata vel animatis analoga seu substantias.“ Vgl. Mo § 63, GP VI, 618. Selbst in den Schriften zum Organismus heißt es: „etsi in materia omnia explicentur Mechanice, non tamen omnia in ea explicabuntur materialiter, hoc est per id quod in Corporibus mere passivum est, seu per principia mere mathematica, Arithmeticae nempe et geometriae.“ Anim-

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Hydraulico-Pneumatico-pyriam“)49. Mit diesem Ausdruck deutet Leibniz an, auf welche Grundbegriffe sich eine Wissenschaft des Körpers stützen müsste und er vereint damit verschiedene Erklärungsstrategien der Lebewesen durch die Wissenschaft. Dabei muss berücksichtigt werden, dass entgegen der heutigen Thermodynamik Leibniz stets davon ausgeht, dass jede physische Beschaffenheit und jede physische Veränderung letztlich durch die Gesetze der Mechanik, vor allem durch den Stoß beschreibbar ist. Dementsprechend wird der Organismus als „machine naturelle“50, sogar als „machine divine“51 bezeichnet. Organismen und Maschinen sind wiederum nicht graduell, sondern der Gattung nach („le genre même“52) verschieden: Ein Tier ist eine unendlich komplexe Maschine, die sich selbst mit „Treibstoff“ versorgt, da es sich gezielt fortbewegen kann und die Umgebung in Nützliches und Gefährliches zu unterscheiden weiß, und zudem sich bzw. seine Spezies reproduzieren kann – während eine von Menschenhand geschaffene und demnach nur endlich komplexe Maschine sich weder selbst versorgen, noch reproduzieren kann53. Dennoch gibt es eine bedeutsame Ähnlichkeit zwischen beiden, nämlich die Koordination der Teile auf einen Gesamtzweck hin und die Beschreibbarkeit durch Finalursachen: Der menschliche Körper, wie der Körper irgend eines Tieres, ist eine Art Maschine. Jede Maschine wird am Besten über ihre finale Ursache definiert, so dass es in der Erklärung der Teile einsichtig ist (appareat), auf welche Weise sie mit anderen Teilen für den [für sie] bestimmten Nutzen koordiniert sind.54

Da, wie bereits dargelegt, eine Kontinuität im leibnizschen Denken zu finden ist und der Organismusbegriff nicht als eine Suspendierung des Begriffs der körperlichen Substanz, sondern als dessen begriffliche Erweiterung verstanden werden kann, soll die folgende Argumentation sich vor allem auf Leibniz’ spätere Texte stützen. Auch wenn er bereits vorher zahlreiche Überlegungen zum Wesen, zur Freiheit und zur Empfindungsfähigkeit der Tiere festhält, so handelt es sich doch beim Organismusbegriff um eine dezidierte Neuerung in der Philosophie von Leibniz. Es ist vielmehr der Versuch, die Einheit von Lebewesen durch ihre physische Struktur zu erklären und die Fragen der Unterscheidungen innerhalb der Kategorie des Lebendigen dabei außen vor zu lassen55. Insgesamt wird der Organismus durch vier Merkmale bestimmt, die ihn von jeder Maschine und jedem Mechanismus unterscheiden:

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adversiones circa Assertiones aliquas Theoriae Medicae Verae clarii Stahlii (1710) in: Carvallo, 72. Leibnitii Replicatio ad Stahlianas Observationes, 1711, in: Carvallo, 116. Brief an Lady Masham, 30. Juni 1704, GP III, 356. Dutens II, 2, 136 und 144. SN § 10, GP IV, 482. „A motum hunc perpetuum opus fuit ut vires animal conservare, ad ea quae in hunc usum convenirent ferri, contrariaque evitare; quae talia sint dijudicare, denique speciem propagare posset.“ Corpus hominis et uniuscujusque animalis Machina est quaedam (1680–83 [?]), Smith, 151. „Corpus hominis, quemadmodum et uniuscujusque animalis, Machina est quaedam. Machina autem omnis a finali causa optime definitur, ut in explicatione partium deinde appareat quomodo ad usum destinatum singulae coordinentur.“ Ebd., 150. Relevante Überlegungen zum Wesen der Tiere im Unterschied zum Menschen finden sich in

348 1. 2. 3. 4.

Teil VI: Leibniz’ Theorie der Organismen

Er hat eine eigene koordinierte Aktivität, er ist eine zusammengesetzte Substanz, er ist in sich unendlich und hierarchisch strukturiert, in ihm manifestiert sich das eigentliche Streben nach Perfektion56.

Diese Merkmale bestehen nicht unabhängig voneinander. Für Leibniz ist jede Substanz immer organisiert und aktiv, alle Aktivität ist selbst prinzipiengeleitet, folgt mithin einem Ziel und kommt letztlich nur Substanzen zu. Im Folgenden sollen diese vier Aspekte des Organismus einzeln erläutert werden. Ich werde darlegen, wie diese Aspekte durch die dem Organismus übergeordnete Entelechie bestimmt werden, die ihr Prinzip und ihre Aktivität in die Teile des Körpers vermittelt. 2.1. Die Aktivität des organischen Körpers Leibniz führt den Begriff des Organismus mit der Betonung ein, dass der Organismus die Ordnung und das Werk bzw. Kunstwerk sei (l’ordre et l’artifice57), das von Gott geschaffen, in eine bestimmte Anordnung gebracht wurde und ein Teil des göttlichen Planes für die Welt ist. Diese Formulierung stützt die erwähnte Deutung des Organismus nicht als ein Ding, sondern als eine Struktur. So wie der Begriff des Mechanismus all das beschreibt, was mechanischen Prinzipien folgt, so ist der Organismus vom Begriff her eine organische Maschine, d. i. mit Werkzeugen versehen. Der Organismus ist in erster Linie die substanzielle Natur der Lebewesen und wird durch die göttliche Weisheit auf eine bestimmte Weise durch ein Prinzip geformt. Bei der Analogie zwischen Maschine und Organismus ist das zweckmäßige Zusammenwirken der Teile entscheidend. Dieses Zusammenwirken wird durch ein übergeordnetes Prinzip bestimmt, welches individuell und dem Lebewesen immanent ist und nicht, wie dies bei Maschinen der Fall ist, allgemein und extern. Dieses individuelle Prinzip ist die Seele des Lebewesens58, die übergeordnete Entelechie

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Kulstad, Mark: Leibniz on Apperception, Consciousness, and Reflection, München 1991, 67– 81. Meine Darstellung hat einige Ähnlichkeit mit der von Dumas, die folgende Aspekte des Organismus hervorhebt: Dessen Struktur, Autosuffizienz, Individualität, Finalität und interne Harmonie durch Korrelation der Teile, siehe dies.: La pensée de la vie chez Leibniz, a. a. O. (131). Mir geht es aber vor allem um die Einbettung des Organismusbegriffs in den bereits erarbeiteten metaphysischen Rahmen; Dumas’ Idee, die Monade als Urform dessen zu begreifen, was wir heute als Zelle bezeichnen, wird im Rahmen der hier vorgeschlagenen Immanenztheorie abgelehnt. Vgl. ebd., 188 ff. „L’Organisme c’est à dire l’ordre et l’artifice, est quelque chose d’essentiel à la matiere produite et arrangée par la sagesse souveraine.“ Brief an Lady Masham, Mai 1704, GP III, 340. Leibniz bezeichnet die Seele bzw. substanzielle Form auch als Prinzip: Brief an Lady Masham, Mai 1704, GP III, 339.

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– verstanden als ein formales Prinzip59 – und schließlich auch die Monade60. Einige Texte von Leibniz besagen, dass dieses principe de vie zugleich das Prinzip der wirklichen Einheit eines Lebewesens ist61; beide Lesarten sollen hier verfolgt und zusammen gedeutet werden. Jeder Organismus ist dank dieses ihn vollständig bestimmenden Organisationsprinzips eine natürliche Maschine. Eine künstliche Maschine ist nur zum Teil durch ihr Wirkprinzip bestimmt, so wie z. B. ein Zahn eines Zahnrades selbst in sich nicht mehr funktional strukturiert ist; eine natürliche Maschine ist jedoch zugleich in Gänze und bis in jeden noch so kleinen Teil hin strukturiert und es kann in ihr keine unstrukturierten Teile geben62. Im Gegensatz zu einer künstlichen Maschine, die einer externen koordinierenden Instanz sowie eines externen Antriebes bedarf, verfügt der Organismus selbst über eine eigene Koordination und kann von sich aus aktiv sein. Da der Organismus als eine unendlich strukturierte Maschine begriffen wird, ist mit dem Begriff auch immer das Prinzip gemeint, welches diese Maschine bestimmt und von dieser vorausgesetzt wird. Dieses Prinzip verleiht dem Körper eine gottgegebene „Präformation“63, was hier nicht im engeren Sinne der Theorie der Präformationisten zu verstehen ist, sondern sich aufgrund der durch den individuellen, vollständigen Begriff gegebenen Identität des Lebewesens über die Zeit des einzelnen Körpers hinaus erstreckt und damit qua Metempsychose das überschreitet, was wir im Alltag als ein bestimmtes Lebewesen beschreiben. Doch wie es bei Leibniz seit dem Discours keine Aktivität ohne Prinzip gibt, so findet sich auch kein monadisches Prinzip ohne zugehörige physische Aktivität. Es wäre undenkbar, dass der Organismus ein eigenes Prinzip enthält, aber zugleich seine Aktivität von außen bezieht – Lebewesen und Substanzen sind von sich aus aktiv. Es gibt auch keine rein passive Materie, aber ein künstlich hergestellter Körper ist im Gegensatz zu einem Lebewesen passiv: Er kann nicht in derselben Weise und von sich aus handeln wie ein Lebewesen und somit nicht zum Guten, nach Gnade oder nach Perfektion streben. Dennoch wird er durch unendlich viele Substanzen konstituiert, die seine Festigkeit und Massenträgheit ausmachen und ihm 59

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„Itaque demonstravi, ad Actiones corporum non tantum principium materiale, sed etiam formale requiriri, quod alicubi Entelechiam primitivam appellavi; cujus ex modificatione oritur motus, ut ex materiae per se modificatione oriatur figura.“ Animadversiones (1710) Carvallo, 72. NE, II, Kap. 27, § 3; GP V, 214. Dort wird es auch mit dem Prinzip der Individuation identifiziert. Andererseits rechtfertigen andere Texte auch eine Lesart, die dieses Prinzip als Kraft begreifen – eine solche Lesart wird in Dumas: La pensée de la vie, a. a. O., 85–90 vorgetragen. Ich denke, dass beides in der Hinsicht miteinander vereinbar ist, als bei Leibniz ein Prinzip nicht von dem getrennt gedacht werden kann, das dem Prinzip unterworfen ist. Es gibt für Leibniz kein rein syntaktisches, bzw. aus Variablen bestehendes Prinzip, das unabhängig von seiner Extension gedacht werden könnte. Konkret bedeutet dies: Ein Lebensprinzip kann bei Leibniz nur erstens aus einer Aktivität bestehen, da es gerade kein mathematisches Gesetz ist, und zweitens bedarf es eines Inhaltes, da Leibniz nicht Leben im Allgemeinen, sondern ein individuelles Leben meint. Hier finden wir abermals die Dichotomie von Form und Materie vor. Vgl. z. B.: Eclaircissement sur les Natures Plastiques (1705), GP VI, 550. Brief an Lady Masham, 30. Juni 1704, GP III, 356. „L’organisme des animaux est un mechanisme qui suppose une préformation divine“, Fünftes Schreiben an Clarke, 18. August 1716, GP VII, 418.

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auf diese Weise zugeordnet werden. Ihm ist aber kein Prinzip immanent, das seine Aktivität koordiniert und ihn als einen genuinen Agenten auszeichnet – selbst eine Maschine wird immer noch von Menschenhand mit einem externen Prinzip versehen. Sie ist damit in ihrer Existenz von Menschen abhängig und deswegen keine wirkliche, sondern nur eine derivative Entität. Hier kommt es vor allem auf das Verhältnis an, das zwischen der jeweiligen Zentralmonade als oberste Monade und den untergeordneten Substanzen besteht: Die oberste Entelechie, die Seele des Lebewesens, verleiht dem Körper eine einheitliche, koordinierte Aktivität, die ein bloß aggregierter, phänomenal als unbelebt gegebener Körper nicht hat. Es wurde bereits dargelegt, wie die vis activa primitiva und der vollständige Begriff der Substanz letztlich auch die Ausrichtung der vis activa derivativa bestimmen (vgl. Teil IV, Kapitel 2.3). Betrachten wir noch einmal einige der zentralen naturphilosophischen Behauptungen von Leibniz, um diese im Kontext des Organismusbegriffs zu verorten: 1.) Die Kraft überträgt sich im Stoß entsprechend der Masse und der Beschleunigung der Körper – es geht in den physischen Veränderungen der Körper insgesamt keine Kraft verloren, sondern sie überträgt sich nur. 2.) Die infinitesimal geringe Kraft, der Conatus, ist auch allen noch so kleinen Körperbestandteilen eingegeben und konstituiert ihre Undurchdringlichkeit. 3.) Die primitive Kraft der vielen verschiedenen Substanzen wird vermittels der prästabilierten Harmonie zu einem messbaren Impetus und konstituiert damit die Masseträgheit, den materiellen Widerstand gegen äußere Einflüsse sowie den inneren Zusammenhalt von Körpern – und damit die materielle, physische Realität. Diese ist im Vergleich zur substanziellen Realität nur derivativ und ist direkt durch die Perzeptionen der Substanzen bedingt. In allen Körpern muss überall eine Aktivität geben sein, damit Körper überhaupt passiv sein können. Nicht nur die einfache Substanz ist aktiv, sondern auch das Lebewesen. Das bedeutet für das Lebewesen wiederum dreierlei: 1.) Die Aktivität der Substanzen bedarf einer akkumulierenden und zugleich regelnden Instanz, einer Organisation, ohne die der Körper der Substanzen nicht zu denken ist: Da die Kraft einer individuellen Monade in ihrer infinitesimal kleinen Quantität noch keine physische Wirkungsquantität erreicht, muss sie akkumuliert werden. Dies wird in einem Substanzenaggregat erreicht, wobei eine übergeordnete Substanz als Entelechie die Ordnung vorgibt. Jede Akkumulation von Substanzen unter einem Prinzip ist ein Substanzenaggregat und somit ein organischer Körper. Die Substanzen, die einem in toto anorganischen Körper zugeordnet sind, folgen keinem insgesamt übergeordneten Prinzip. Es ist bei einem Organismus gleichwohl nicht der Fall, dass die oberste Entelechie alle untergeordneten Entelechien unmittelbar dominiert, sondern nur vermittels einer Hierarchie, die der Idee entspricht, dass jeder Organismus unendlich viele weitere Organismen in und unter sich enthält. Dadurch wird die Differenzierung der Struktur des Körpers möglich und zudem auch die Intention des Organismusbegriffs gegenüber der des Begriffs der körperlichen Substanz deutlich: Substanzen sind nie einzeln und auch nie ohne übergeordnetes, organisierendes Prinzip physisch wirksam – der Organismusbegriff drückt aus, dass es keine unorganisierten körperlichen Substanzen geben kann, da ihr Körper schlichtweg auseinanderfallen würde. Eine bloß mechanisch struktu-

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rierte Maschine bedarf eines genuinen Wesens, das ihr ein die Aktivität lenkendes Prinzip verleiht. Mit Laurence Carlin kann man drei Aspekte dieser Hierarchie der Substanzen feststellen: 1.) Jeder Substanz kommt ein bestimmter Grad an Perfektion zu, auch wenn dieser sich im Wandel der Zeit ändern kann, 2.) keinen zwei Substanzen kommt der gleiche Grad an Perfektion zu64, 3.) die Grade der Perfektion bilden zumindest der Möglichkeit nach ein Kontinuum – es gibt kein „Vakuum“ an Perfektion65. Allerdings würde Leibniz selbst dies nicht als ein wirkliches Prinzip anerkennen, da es sich hier um eine Konsequenz seiner Begriffstheorie handelt. Ohne eine solche Kontinuität jedoch würde es der Welt an Perfektion mangeln, da hier die Natur dann doch „Sprünge“ machen müsste und die Harmonie der Welt deshalb gestört wäre. Ebenso dürfte Leibniz kaum die Behauptung unterstellt werden, dass es trotz der Unendlichkeit an Substanzen auch ein faktisches Kontinuum an Formen gäbe – denn allein schon durch das Sterben und die Geburt der Lebewesen einer Art wird deutlich, dass keinesfalls alle möglichen Formen zu einer Zeit realisiert sind. Wichtig ist, dass dennoch alle zwischen zwei Arten denkbaren Formen auch möglich sind und wir nicht die mirakulöse Zugabe einer distinkten neuen Fähigkeit annehmen müssen – Fähigkeiten, Eigenschaften, physische Dispositionen müssen ebenfalls graduierbar verwirklicht sein. Da Leibniz sich durchaus auch des kontinuierlichen Wachstums des Menschen vom Embryo zum Erwachsenen einschließlich der Herausbildung der geistigen Fähigkeiten bewusst war, ist es eher unplausibel, in diesem Bereich eine Diskontinuität anzunehmen66. Selbst die menschliche Vernunft, von den geistigen Fähigkeiten der Tiere gänzlich distinkt, ist im Embryo wenigstens virtuell angelegt und muss nur graduell realisiert werden. Der Organismusbegriff unterscheidet sich insoweit (intensional, jedoch nicht extensional) von dem Begriff der körperlichen Substanz, als mit ihm Kriterien bezeichnet werden können, wie die interne Organisation einer körperlichen Substanz beschaffen ist: nämlich über Organe, also funktionale Bestandteile, die natürlich wiederum körperliche Substanzen sind. Dies wird in einem Brief an De Volder vom 9./20. Januar 1700 deutlich, in dem viele der bislang diskutierten Punkte von Leibniz selbst dargestellt werden: Wenn ich sage, dass die Seele oder Entelechie nichts in dem Körper tun kann (posse), dann verstehe ich unter ‚Körper‘ nicht die körperliche Substanz, von der sie die Entelechie ist, welche eine Substanz ist, sondern das Aggregat der anderen körperlichen Substanzen, die unsere Organe ausmachen […]. Dies also meine ich, dass was auch immer in einer Grundmasse (massa) oder in einem Aggregat von Substanzen in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Mechanik geschieht, das wird in der Seele oder Entelechie […] durch ihre eigenen charakteristischen Gesetze ausgedrückt. Aber die Kraft der Veränderung in jeder Substanz stammt von ihr selbst oder ihrer Entelechie, und dies ist soweit wahr, dass was in einem Aggregat geschehen wird, das kann von den Dingen erschlossen (colligi) werden, die jetzt in diesem Aggregat sind. Wie auch immer, seit es so viele getrennte (privatae) Entelechien in der Grundmasse (massa) unseres Körpers gibt, so folgt offensichtlich, dass nicht alles, was in unserem Körper geschieht, von dieser Entelechie hergeleitet werden kann, selbst wenn es mit dieser übereinstimmt (conspiret). 64 65 66

Vgl. NE, A VI, 6, 71. Vgl. GP VII, 531; GP II, 125; vgl. Carlin: „Leibniz’s great chain of Being“, a. a. O., 133. Vgl die Diskussion bei ebd., 145 ff.

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Teil VI: Leibniz’ Theorie der Organismen Ohne Zweifel unterscheidet sich die Entelechie oder Kraft, oder auch Aktivität, vom dem [bloßen] Widerstand (resistentia) oder der Passivität. Man könnte das Erste für die Form nehmen und das Letzte für die Erstmaterie; sie unterscheiden sich jedoch nicht in so einer Weise, dass sie als zwei verschiedene Substanzen verstanden werden könnten, sondern dass sie eine einzige konstituieren. Und die Kraft, die die Erstmaterie verändert, ist sicher nicht eine Kraft die ihr zugehört, sondern es ist die Entelechie selbst.67

Hier bezieht Leibniz selbst die organische Struktur des Körpers auf die erste als ordnendes Prinzip wirkende, aktive Kraft der obersten Monade, auch wenn seine Darstellung hier nicht leicht verständlich ist. Aber vor dem Hintergrund des bislang Erläuterten mag dies klarer werden. Der Körper setzt sich aus verschiedenen körperlichen Substanzen zusammen, die die Organe des Lebewesens ausmachen. Sie werden zwar von der übergeordneten Entelechie gesteuert, doch sie verfügen auch über eigene Entelechien und somit über eigene Organisationsprinzipien, so dass etwa die Struktur und Bewegung des Körpers insgesamt durch die erste Entelechie bestimmt werden, nicht aber das Geschehen in den einzelnen Organen, seien diese als Zellen zu denken oder als echte Organe wie Leber, Herz, Lunge etc. Die Struktur des Körpers wird durch die Aktivität der obersten Substanz qua monadischer Dominanz bestimmt, es handelt sich dabei gerade nicht um ein mechanisches, sondern um ein teleologisches, lebendiges Prinzip, welches die für die jeweiligen untergeordneten körperlichen Substanzen insoweit dominant ist, als ihre jeweiligen Prinzipien kraft der prästabilierten Harmonie so beschaffen sind, dass sie im Einklang mit dem obersten Prinzip wirken. Es findet jedoch keine transitive Einflussnahme der obersten Monade auf die untergeordneten Monaden statt. Alles physische Geschehen im Organismus ist in den Nervenbahnen, Blutgefäßen etc. verortet. Wenn die Entelechie also die Erstmaterie beeinflusst, etwa indem sie den der Monade zugeordneten Seelen-Punkt im Raume bewegt und so die Perspektive verändert oder Gedanken hervorbringt, dann wirkt sich dies im Monadenaggregat zu einer echten Kraft aus, die auf phänomenaler Ebene als Ursache der Bewegung des Körpers gedacht wird. Konkret bedeutet dies: Man kann sagen, dass eine Handlung, z. B. das Heben eines Armes, verursacht würde durch eine Bewegung der Nerven, diese wiederum durch andere Bewegungen im Körper; diese Verkettung von Ursachen bleibt aber

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„Cum dico animam vel entelechiam nihil posse in corpus, tunc per corpus intelligo non substantiam corpoream cujus est entelechia quae substantia una est sed aggregatum aliarum substantiarum corporearum organa nostra constituentium […]. Hoc igitur volo, quicquid in massa vel aggregato substantiarum secundum leges Mechanicas fit, illud in anima vel entelechia […] exprimi per leges ipsius proprias. Vis autem mutationis in quavis substantia ab ipsa est ipsiusve entelechia, quod adeo verum est ut etiam quicquid in aggregato futurum est, ex iis quae jam sunt in aggregato colligi possit. Interim cum tot privatae in Massa corporis nostris sint entelechiae, facile putat in non omne quod in nostro corpore fit, a nostra Entelechia esse derivandum etsi cum ea conspiret. ∆Entelevceia sive vis seu activitas haud dubie differt a resistentia seu passivitate, quarum illam pro forma hanc pro materia prima accipere possis; non ita tamen differunt ut considerari debeant tanquam substantiae duae diversae, sed ut unam constituentes et vis materiam primam mutans utique non propria ejus vis est, sed ipsa entelechia.“ Brief an de Volder, 9./20. Januar 1700, GP II, 205 f.

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immer innerweltlich, verweist transitiv von Bewegung auf Bewegung und erreicht nie die Seele oder die oberste Entelechie. Das Verständnis dieser organismischen Hierarchie trägt also in besonderem Maße dazu bei, die Konstitution der Materie und damit des physischen Kausalzusammenhanges zu verstehen, wobei sich herausstellen wird, dass durch die Organismen vor allem verschiedene Formen der finalen Kausalität begründet und manifestiert werden. 2.) Außerdem bedeutet die Bindung der Materialität der Körper an eine omnipräsente, immanente Aktivität auch, dass Leibniz die substanzielle Aktivität derart verallgemeinert, dass sie allen materiellen Körpern vollständig und lückenlos zukommt – denn ohne substanzielle Aktivität gibt es keine physische Passivität und somit keine Festigkeit und keine Masseträgheit. Da Substanzialität das Kriterium für Realität wie für Lebewesen gleichermaßen ist, bedeutet das auch, dass alle Körper belebt sind bzw. sich aus belebten Körpern zusammensetzen. Es gibt keinen Teil der Materie, der nicht wieder unendlich viele Lebewesen enthält68. Ebenso impliziert dies, dass jedes Lebewesen in und unter sich andere Lebewesen enthalten muss, um überhaupt materiell gegeben und physisch aktiv sein zu können – eine einzelne Monade würde nur über einen infinitesimal kleinen Conatus verfügen, der physisch wirkungslos wäre. Die Existenz organischer Körper ist also grundlegend für die physischen Körper, für alle physischen Ereignisse, und es kann keine wirklich unbelebte Materie geben, weil diese sonst schlichtweg gar nicht materiell wäre. 3.) Sowohl die künstlich herbeigeführten Bewegungen bzw. Kräfte als auch die natürlichen, sich in Naturprozessen vollziehenden oder von einem Organismus hervorgebrachten, sind letztlich auf dieselbe Aktivität zurückzuführen, die in der Welt der physischen Körper immer organismischen Ursprungs ist, auf metaphysischer Ebene stets in der substanziellen Spontaneität aufgeht. Die Körper besitzen alle selbst eine ursprüngliche Kraft, die dann in einer Bewegung resultiert, wenn die Kräfte so koordiniert werden, dass eine gemeinsame Wirkrichtung entsteht. Aber die von Menschenhand geschaffene Maschine kann ihre Bewegung nur aufgrund der ihr subordinierten Organismen ausführen – der Organismus wird nicht anhand des Vorbildes der Maschine konzipiert, sondern die Maschine ist faktisch erst aufgrund der Organismen möglich. Die physischen Eigenschaften und Bewegungen der scheinbar unbelebten Körper resultieren aus der Zusammensetzung und Aktivität der Lebewesen. Im Gegensatz zu einer endlichen, von Menschen gefertigten Maschine, ist der Organismus in seiner auf Spontaneität zurückgehenden Aktivität ein echtes automaton, ein Selbst-Beweger69. Dies gilt in zweierlei Hinsicht: Erstens entspricht die beständige Aktivität des Körpers der Spontaneität der dominanten Monade, die als Entelechie das formgebende Prinzip dieser Aktivität ist70. 68 69 70

„Il est vray (selon mon Systeme) qu’il n’y a point de portion de la matiere, où il n’y ait une infinité de corps organiques et animés.“ Considerations sur les Principes de Vie (1705), GP VI, 539. Als körperliche Substanz gibt sich das Lebewesen seine eigene Bewegung, vgl. Brief an Arnauld, 9. Oktober 1687: „Une substance corporelle se donne son mouvement elle même […]“, A II, 2, 245. Brief an de Maizeauz, 8. Juli, 1711, GP VII, 535. Vgl. Duchesneau: Les Modèles du Vivant,

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So verfügt das Lebewesen über eine aus metaphysischer Sicht ihm genuin eigene Aktivität, auch wenn diese erst im zusammengesetzten Körper eine echte physische Kraft werden kann. Zweitens trägt Leibniz in seinen medizinischen Schriften die Idee vor, dass Lebewesen durch ihr inneres Feuer am Leben bleiben und, anders als von Menschenhand geschaffene Maschinen, in der Lage sind, dieses Feuer durch Nahrungsaufnahme selbst zu versorgen. Da die Organismen dank ihrer Monaden über eine interne, wirklichkeitskonstitutiven Spontaneität verfügen, kann es in ihnen nirgendwo ein Moment absoluten Stillstandes geben: Die Körper der Tiere sind Maschinen perpetualer Bewegung oder, um es deutlicher zu sagen, sie sind vergleichbar mit einer bestimmten und einzigartigen (singularem) Spezies mit perpetualer organischer Bewegung, die immer in der Welt erhalten ist.71

Übertragen wir diese Überlegungen auf den Begriff des Lebens, dann ist klar: Leibniz ist ein Vitalist, da er den Körper nicht als eine bloß passive Materieansammlung versteht, sondern den Organismus als Körper mit einer genuin eigenen Aktivität ausstattet – er ist dann auch ein Panvitalist, da das gesamte Universum keine andere Aktivität enthält als diese und nichts als diese Aktivität, die letztlich konstitutiv für jede Art der Materie ist: Nicht die Materie macht das Leben aus, das Leben entsteht auch nicht aus der Materie, sondern es liegt der Materie zugrunde und diese geht aus ihm hervor. Die Aktivität der Monade ist kein Teil der Welt, jedoch konstituiert sie die Teleologie der Lebewesen, die als definite und aktuale Bestandteile der Materie deren Kausalität erst ermöglicht. 2.2. Die Substanzialität des Organismus Ein Organismus ist eine Substanz, da er eine interne Einheit der Organisation besitzt: Jeder organische Körper bildet mit seiner Seele eine Einheit, die eine körperliche Substanz ist. Das gesamte Lebewesen ist diejenige körperliche Substanz, die durch eine dominante Monade ihre Einheit erhält72, der Organismus ist seine Struktur. Diese Einheit besteht nämlich darin allein, dass er [der Mensch, bzw. das Lebewesen] dasselbe Leben genießt, das sich durch die materiellen Partikel fortsetzt, die in einem dauernden Fluss begriffen sind, die aber in dieser Abfolge im gleichen organisierten Körper vital vereinigt sind.73

Die Vitalität der Vereinigung mag sich auf die Aktivität der Substanz beziehen, im Vergleich zu den bloß aggregierten Dingen, die nicht insgesamt lebendig sind, da es ihnen an immanent koordinierter Aktivität mangelt. Die Unteilbarkeit und Un-

71 72 73

a. a. O., 339. „Corpora Animalium esse Machinas perpetui motus, sive ut clarius dicam ad certam quandam ac singularem motus perpetui organici speciem semper in orbe conservandam comparatas.“ Corpus Hominis et Uniuscujusque Animalis Machina est Quaedam (1680–83 [?]), Smith, 151. Siehe den bereits diskutierten Brief an de Volder, 20 Juni 1703, GP II, 252. „Seul qu’il jouit de la même vie, continue par des particules de matière, qui sont dans un flux perpetuel, mais qui dans cette succession sont vitalement unies au même corps organisé.“ NE II, Kap. XXVII, A VI, 4, 232.

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veränderlichkeit des Ichs wird von Leibniz als Hinweis auf die Substanzialität des Körpers verstanden: Denn da ich wahrhaft eine einzelne, unteilbare Substanz bin, unauflösbar in viele andere, das permanente und konstante Subjekt meiner Handlungen und meines Leidens, ist es notwendig, dass es eine persistierende individuelle Substanz außer meinem organischen Körper gibt, die in ihrer ganzen Art verschieden ist von der Beschaffenheit des Körpers, welche nie gleich bleibt (permanet), sondern sich fortwährend verändert, da anzunehmen ist, dass sie sich in einem Zustand der kontinuierlichen Veränderung der Teile befindet.74

Der sich derart permanent verändernde Körper ist, wie bereits dargelegt, jeder Substanz phänomenal gegeben, die Substanz bezeichnet ihn aber kontinuierlich als ihren eigenen, weil auch alle Veränderungen wie Nahrungsaufnahme und Ausscheidung von ihr mittelbar oder unmittelbar gesteuert werden. Andere Substanzen sind notwendigerweise mit den anderen Teilen dieses Körpers verbunden, so dass ihm physische Realität zukommt. In der körperlichen Substanz gibt die Seele das Prinzip der Organisation der einzelnen Körperbestandteile vor, so dass der Körper als Ganzes mehr sein kann als die Summe seiner Teile75. Die Seele ist mit ihrem Körper durch ein substanzielles Band (vinculum substantiale) verbunden, das wir zwar aus intellektueller Einsicht heraus postulieren können, das aber in seiner Konkretion nur von Gott eingesehen werden kann. Dabei ist das einem Körper zugeordnete Substanzenaggregat, aus der Gottesperspektive betrachtet, klar von anderen Aggregaten unterschieden. Wir dagegen verfügen neben der Klarheit und Unvermitteltheit unserer Sinnesempfindungen über ein weiteres Kriterium für die Zuschreibung unseres Körpers: Unser Körper gehört uns gemäß unserer Möglichkeit zu, ihn zu kontrollieren. Ich kann meine Hand bewegen – also gehört sie zu mir. Ich nehme die Dinge unter anderem durch die Tastbewegungen meiner Hand wahr – also gehört mir die Hand als mein Organ unmittelbar zu mir, die durch sie wahrgenommenen Dinge sind von mir verschieden, weil sie nur mittelbar gegeben sind. Innerhalb der Wahrnehmung wird durch die subjektimmanente Unterscheidung zwischen den verschiedenen Körpern und geistigen Zuständen ein System von Verweisungen der verschiedenen Perzeptionen aufeinander etabliert, die sich auf diese Weise aufeinander beziehen können und die Vermittlung der Welt durch die Sinne innerhalb der Modifikationen selbst wieder repräsentieren. Wir kennen also eine metaphysisch strenge Perspektive, nach der es nur Monaden und sonst keine Welt außerhalb der Substanzen gibt, und eine phänomenalistische Perspektive, in der zwischen mentalen und körperlichen Phänomenen unterschieden wird und nach der es eine Substanz als Seele gibt, die mit einem externen Körper assoziiert wird. Zwischen beiden Perspektiven besteht gleichwohl kein Widerspruch: Versteht man die Trennung zwischen mentalen und körperlichen Phänomenen als eine Unter74

75

„Hinc cum Ego vere sim unica substantia indivisibilis in alias plures irresolubilis permanens et constans subjectum mearum actionum et passionum, necesse est dari praeter corpus Organicum substantiam individuam permanentem toto genere diversam a natura corporis, quod in continuo fluxu suarum partium positum, nunquam idem permanet, sed perpetuo mutatur.“ Communicatio cum Fardella (1690), A VI, 4, 1669. Insoweit, als er durch die erhaltene Einheit auch über ein ihm nachträglich hinzugefügtes („superadditum“) substanzielles Band erhält. Vgl. Brief an Des Bosses, 24 Januar 1713, GP II, 474.

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scheidung zwischen verschiedenen Typen von Perzeptionen, so wird keine ontologische Differenz zwischen den perzipierten Körpern und den durch Substanzen ausgemachten Körpern postuliert. Der Körperbegriff wird also doppelt verwendet, einmal bezeichnet er den phänomenal gegebenen Körper, einmal die ihm zugrunde liegenden Substanzen. Der Körper wird als ausgedehnter Körper perzipiert, aber seine Materialität rührt daher, dass seinen Teilen Substanzen zugeordnet werden. Das Substanzenaggregat entspricht einem Körper auf der Ebene der Phänomene, der von allen diesen Substanzen aus einer leicht unterschiedlichen Perspektive perzipiert wird und den (bzw. dessen Teile) sich diese Substanzen als den ihnen eigenen Körper zuschreiben. Diese „Entsprechung“ beruht vor allem auf den kausalen Zusammenhängen, in denen sich die Körper manifestieren und die den Willensakten (volitiones) jeweils einer Monade analog sind. Der entscheidende Punkt der Substanzialität des Organismus als Ganzem liegt darin, dass jeder Organismus ein eigenes und ein einziges Formprinzip, ein Lebensprinzip76, besitzt. Dieses ist zwar mit der Seele identisch, auf der Körperebene gewährleistet es aber den Einheitscharakter des Körpers. Die Einheit von Körper und Seele in einem Organismus verleiht dem Körper letzte Wirklichkeit, während der Körper als bloße Erscheinung genommen keine Einheit besitzt. Ein Bienenschwarm z. B. besteht zwar aus einer ganzen Menge körperlicher Substanzen, er ist aber selbst keine Substanz77, da er nicht über ein übergeordnetes Prinzip verfügt. Ein Bienenschwarm ist nicht mehr als die Summe seiner Teile. So schreibt Leibniz in seinem Brief an Remond, 4. November 1715, dass der organische Körper, die sekundäre Materie eines Lebewesens, gerade keine Substanz ist, aber eine Zusammensetzung aus vielen Substanzen, wie ein Fischteich oder eine Schafsherde und insoweit ein unum per accidens oder ein Phänomen. Ein Tier dagegen kann als Substanz gelten. Es ist zwar aus einer immateriellen Seele und einem organischen Körper zusammengesetzt, die Seele aber fungiert als einheitsstiftender Grund und somit ist das Individuum mit seinem Körper ein unum per se78. Beziehen wir diese Merkmale der Substanz also auf den hier vorgestellten Begriff des Lebewesens bzw. Organismus, dann bedeutet die Substanzialität desselben hier außerdem, dass erstens ein Lebewesen in seinem Verhalten, zweitens in seiner Perspektive auf die Welt, und drittens in seinem Körperbau vollständig bestimmt ist. Dies soll nun konkret ausgeführt werden. 1.) Sofern das Lebensprinzip mit der Abfolge der Perzeptionen identifiziert wird, welche in der Substanz schon immer vorgegeben sind und die dessen Individualität ausmachen, ist in diesem Prinzip das individuelle Verhaltensmuster des Individuums schon unabänderlich vorgegeben. Die Identität eines Lebewesens bestimmt das Muster aller seiner Handlungen: Julius Cäsar wäre nicht Julius Cäsar, wenn er nicht den Rubicon überquert hätte79. Identität und Essenz fallen im Bereich des Realen zusammen. Schließlich besteht die Vollständigkeit des Begriffs 76 77 78 79

Z. B. Considérations sur les Principes de Vie, 1705, GP VI, 539. Dort wird das principe de vie auch mit der Abfolge der Perzeptionen identifiziert. Considérations sur la doctrine d’un esprit universel unique, 1702, GP VI, 535. GP III, 657 f. DM § 13, A VI, 4, 1546 f.

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eines Individuums darin, dass er schlichtweg jede Bestimmung dieses Subjekts festlegt80. Der vollständige Begriff des Individuums bestimmt nicht nur Embryogenese, Körperbau und andere Merkmale des Lebewesens, als Prinzip aller Veränderungen bestimmt er ebenso alle Handlungen oder Verhaltensweisen. 2.) Die einzelne Substanz ist auch durch ihre Perspektivität bestimmt, d. h. durch den Punkt, den sie als Betrachterzentrum des perspektivisch strukturierten Erfahrungsraums einnimmt81. Das bedeutet, dass sich die Welt jedem Lebewesen anders darstellt, auch wenn Gott sie als Ganzes überschauen kann und das objektive Korrelat der verschiedenen perspektivischen Weltansichten gewährleistet. Die Andersheit der Repräsentation der Welt ist dahingehend zu begreifen, als dass es sich dabei um verschiedene Grade der Deutlichkeit handelt, zumal jede Substanz den eigenen Körper und das ihr Naheliegende deutlicher repräsentiert als alles andere82; sie repräsentiert die Welt aber auch in Bezug auf den je eigenen Körper83. So bestimmen Größe und Komplexität des Körpers und die Reichweite der sensorischen Organe die perzeptionelle Klarheit der Repräsentation der Welt – deshalb kann, so Leibniz, ein Kind keine klaren Gedanken formen und damit schlichtweg gar nicht denken84. Jedes intelligente Wesen besitzt einen organischen Körper, dessen Grad an Perfektion der Intelligenz oder der Perfektion der Seele der übergeordneten Monade entspricht85. Es ist also anzunehmen, dass die geistigen Fähigkeiten höherer Monaden kontinuierlich aus denen niedrigerer erwachsen können86. Diese intellektuellen Fähigkeiten entsprechen denen des Körpers, denn in ihm und seinen Organen liegt der Grund für die Imperfektion unseres Wissens, etwa der Grund für den Mangel an Sinnlichkeit in mancher Erkenntnis oder der Langsamkeit des Wissenszuwachses.87

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Vgl. z. B. GP II, 44. Schließlich spricht Leibniz auch von der Substanz als „point reel et animé“ SN § 3, GP IV, 478. Brief an Arnauld, April 1687, GP II, 90. „J’avois dit, que l’ame exprimant naturellement tout l’univers en certain sens, et selon le rapport que les autres corps ont au sien, et par consequent exprimant plus immediatement ce qui appartient aux parties de son corps, doit en vertu des lois du rapport, qui luy sont essentielles, exprimer particulierement quelques mouvemens extraordinaires des parties de son corps […].“ Brief an Arnauld, September/Oktober 1687, GP II, 111 f.; Vgl. auch: Brief an die Kurfürstin Sophie, 6. Februar 1706, GP VII, 567. Brief an Jacquelot, 2. Februar 1704, GP III, 465. „Je tiens que toutes les inteligences créées ont des corps organisés, dont la perfection repond à celle de l’intelligence, ou de l’esprit, qui est dans ce corps en vertu de l’harmonie préétablie.“ A VI, 6, S. 307. Siehe dazu Lovejoy, Arthur: The great chain of being, Cambridge 1936, Rutherford: Leibniz and the Rational Order of Nature, a. a. O., und Jolley, Nicholas: Leibniz and Locke: A Study of the New Essays on Human Understanding, Oxford 1984. Für eine Diskussion dieser These siehe Carlin, Laurence: „Leibniz’s Great Chain of Being“, in: Studia Leibnitiana 32.2 (2000), 133–150. „Il faut chercher dans les organes l’explication de tout ce qui est morbifiant en nous et qui marque quelque imperfection, comme par exemple la lenteur du progres des nos connaissances.“ Brief an Jacquelot, 2. Februar 1704, GP III, 465.

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Leibniz insistiert also darauf, dass die Monade alles dadurch ausdrückt und perzipiert, dass sie ihren eigenen organischen Körper ausdrückt und perzipiert88. Der Körper eines Lebewesens existiert also als „darstellendes Wesen“ (nature representative), das „in der Lage ist, die außer ihr seienden Dinge mit Beziehung auf seine Organe zu perzipieren“89. Sie perzipiert die ihr untergeordneten körperlichen Substanzen in verschiedenen Graden der Deutlichkeit: Die Nerven und Gefäße, die Leibniz als Empfindungsträger ansieht, werden besonders deutlich wahrgenommen90 und können so auch anatomisch als Ursache für die zentralen Körperfunktionen und als Vermittler der anderen Körperzustände betrachtet werden. So machen sie den mittelbaren physischen Prozess der Wahrnehmung der Außenwelt aus, der aber nicht mit der unmittelbaren Repräsentation der Welt durch die Modifikationen der einfachen Substanzen verwechselt werden sollte. 3.) Jeder organische Körper ist in sich strukturiert, die ihn ausbildende Aktivität ist koordiniert. Diese Strukturiertheit des Körpers bedeutet eine Ordnung seiner, den Körper ausmachenden, körperlichen Substanzen: Die Körperteile sind erst dadurch Organe, also Werkzeuge (gr. o[rganon), als sie in einer Hierarchie zugunsten der größtmöglichen Perfektion angeordnet sind. Die Seele des gesamten Körpers ist je die Substanz, der gegenüber allen anderen dem Körper zugeordneten Substanzen die meisten Perfektionen zukommen. Die Beziehung zwischen Körper und Seele kann, wie im vorigen Teil bereits angedeutet, in zwei Richtungen gedacht werden. Es liegt nahe anzunehmen, dass eine Untersuchung über die Bedingtheit der Perzeptionen durch die Körper aufschlussreich ist für die Bedingtheit der Körper durch die Perzeptionen. Die Körper werden, dies macht Leibniz in einem Brief an Arnauld unmissverständlich deutlich, in Bezug auf den eigenen Körper begriffen91. Die monadische Dominanz ermöglicht eine hierarchische Struktur, was bedeutet, dass der Körper einer moralischen Struktur folgt, die eine zweckmäßige Ausrichtung ermöglicht. Es gilt, dass die Zentralmonade auch der Zentralrezeptor der Expressionen ist und, dank des erwähnten Analogie- bzw. Verweisungsnexus der Perzeptionen der einzelnen Monaden untereinander, jeweils diejenigen Zustände anderer Monaden ausdrücken kann, deren zugeordnetes Körper-Aggregat eine Rezeptorenfunktion hat, d. h. ein Sinnesorgan ist. Benson Mates illustriert dies an einem Beispiel:

88 89 90 91

Z. B. Mo § 62, GP VI, 617. „Capable d’exprimer les estres hors d’elle par rapport à ses organes.“ SN § 14, GP IV, 484. Brief an Arnauld, 30. April 1687, A II, 2, 176. Die folgende Textstelle betont die Hierarchie, die durch die zunehmende graduelle Perfektion und die damit verbundene graduelle Klarheit etabliert ist: „l’ame exprime plus distinctement (caeteris paribus) ce qui appartient à son corps, puisqu’elle exprime tout l’univers d’un certain sens et particulierement suivant le rapport des autres corps au cien car elle ne sçauroit exprimer egalement toutes choses […] mais il ne s’ensuit pas pour cela qu’elle se doive appercevoir parfaitement de ce qui se passe dans les parties de son corps, puisqu’il y a des degrés de rapport entre ces parties mêmes, qui ne sont pas toutes exprimées egalement, non plus que les choses exterieur.“ Brief an Arnauld vom 30. April 1687, A II, 2, 175 f.

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The monads constituting the eye express (perceive) certain states of the monads constituting the environment; the monads of the optic nerves express the states of those of the eye; and so on, until the dominant monad has the experience we call ‚seeing‘.92

Dies ist nicht zuletzt dadurch möglich, dass die Monade ihren eigenen Körper am deutlichsten perzipiert, ohne dabei notwendigerweise alles zu perzipieren. Eben da die Seele bzw. Zentralmonade nicht alle Vorgänge in ihrem Körper deutlich perzipiert, ist ihre Dominanz nicht unmittelbar auf das Bewusstsein zurückzuführen. Die Zustände des Körpers werden spontan repräsentiert, dies aber immer im Einklang mit der Repräsentation anderer Monaden. Dazu sei eine aufschlussreiche Stelle aus dem Système Nouveau zitiert: Da unsere inneren Empfindungen […] nur Phänomene, die äußeren Dingen folgen […], sind und wohl geregelten Träumen gleichen, müssen diese inneren Perzeptionen in der Seele selbst ihr aus ihrer eigenen ursprünglichen Verfassung zukommen, das heißt kraft ihres darstellenden Wesens (das fähig ist, die außer ihr Seienden mit Beziehung auf ihre Organe darzustellen) […].“93

Die Perzeptionen werden von der Substanz selbst hervorgebracht kraft der ihr eigenen Aktivität bzw. Spontaneität und sie werden nur von den ihr als räumlich naheliegend zugeordneten Monaden begrenzt. So etablieren sich Wirkungsketten, in denen die körperlichen Organe als Mittler dienen, weil auch in ihnen Seelen sitzen, die als Bewegungsursachen fungieren94 und so die außerkörperlichen Dinge mittels innerkörperlicher Reaktionen zur Zentralmonade vermitteln. Mehr noch: da die organisierte Masse, in der der Gesichtspunkt der Seele liegt, von ihr am nächsten ausgedrückt wird und sich umgekehrt von ihr zum handeln gemäß den Gesetzen der körperlichen Maschine in dem Augenblick gedrängt findet, in dem die Seele will, ohne dass die eine die Gesetze der anderen stört […] – dies ist die in jeder der Substanzen von vornherein geregelte gegenseitige Beziehung, die das hervorbringt, was wir ihre Kommunikation nennen und die einzig und allein die Verbindung von Seele und Körper ausmacht.95

Die Seele ist nichts anderes als die Zentralmonade und sie kontrolliert den Körper bzw. die diesem Körper zugeordneten Monaden, weil sie den Körper als ihren Körper am deutlichsten perzipiert, was der bislang entworfenen Theorie entspricht, 92 93

94

95

Mates, Benson: The Philosophy of Leibniz. Metaphysics and language, Oxford 1986, 198. „Et qu’ainsi nos sentimens interieurs […] n’estant que des phenomenes suivis sur les estres externes […], et comme des songes bien reglés, il faut que ces perceptions internes dans l’ame même luy arrivent par sa propre constitution originale, c’est à dire par la nature representative (capable d’exprimer les estres hors d’elle par rapport à ses organes) […].“ SN § 14, GP IV, 484. „Sed perceptio nihil aliud est, quam illa ipsa repraesentatio variationis externae in interna. Cum ergo ubique dispersae sint per materiam Entelechiae primitivae, ut facile ostendi potest ex eo, quod principia motus per materiam sunt dispersa, consequens est, etiam animas ubique per materiam dispersas esse, pro organis operantes.“ Ohne Titel, in Betreff der Seele der Tiere, undatiert, GP VII, 330 „De plus, la masse organisée, dans laquelle est le point de veue de l’ame, estant exprimée plus prochainement par elle, et se trouvant reciproquement preste à agir d’elle-même, suivant les loix de la machine corporelle, dans le moment que l’ame le veut, sans que l’un trouble les loix de l’autre […], c’est ce rapport mutuel reglé par avance dans chaque substance de l’univers, qui produit ce que nous appellons leur communication, et qui fait uniquement l’union de l’ame et du corps.“ SN § 14, GP IV, 485.

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dass Monaden sich ihren Körper anhand der Deutlichkeit der Perzeptionen selbst zuschreiben. Auf diese Weise kann man auch verstehen, wie die Seele ihre Stätte im Körper hat kraft einer unmittelbaren Gegenwart, die nicht größer sein kann, weil sie darin ist wie die Einheit im Ergebnis der Einheiten, nämlich der Menge.96

Diese auf den ersten Blick rätselhafte Analogie kann vor dem Hintergrund der hier entworfenen Theorie entschlüsselt werden. Die Menge der Einheiten ist die Menge der Monaden, die einen Körper ausmachen und die kraft der dominierenden Monade ein leitendes Prinzip erhalten und so eine Einheit qua aggregation erhalten in Form des physischen Körpers, über den die Seele präsidiert. Einer Substanz sind also kraft der prästabilierten Harmonie und der vermehrten Aktivität durch Perfektion andere Substanzen subordiniert, die ein eigenes Leben haben, durch eigene Prinzipien bestimmt und selbst aktiv sind. Dem entspricht auf der Ebene der auch durch das Mikroskop bestätigten Erfahrungen, dass z. B. ein Embryo ein individuelles Lebewesen ist und zugleich ein Teil eines anderen sein kann, ebenso die Spermatozoen oder die immerhin sich selbst organisierenden Körperzellen. Im Rahmen des Organismus sind die Substanzen so angeordnet, wie die oberste Seele es vorgibt. Diese Anordnung ist nur als eine Zuordnung, nicht als eine räumliche Inklusion zu verstehen: Substanzen sind nicht räumlich in einem Körper, da der phänomenale Raum nur je einer Substanz gegeben ist. Die anderen Substanzen können selbst nicht perzipiert werden, sie werden aber dem Körper nach ihrer Aktivität „per corresponsionem“97 zugeordnet. Die Seele kann aber nur die Körperteile bewusst steuern, welche sie aus ihrer Perspektive besonders deutlich wahrnimmt. Dementsprechend sind die Bewegungen unserer deutlich wahrgenommenen Gliedmaßen bewusst kontrollierbar, nicht aber der Fluss der Lebensgeister in den Adern oder die Konvulsionen von Magen und Darm, da wir diese nicht deutlich genug wahrnehmen. Bereits Cassirer hat dargelegt, dass die Einführung des Organismusbegriffs auch das Wesen des Mechanismus ändert, den er eigentlich ergänzen sollte. Der Organismusbegriff schränkt die Erklärungskapazität des Mechanismus nicht ein, sondern bestätigt sie; aber er fügt der leibnizschen Theoriearchitektur eine ontologische Ebene hinzu, auf der weitere, wirkliche Entitäten zu finden sind, von deren

96 97

„Et l’on peut entendre par là comment l’ame a son siege dans le corps par une presence immediate, qui ne sçauroit estre plus grande, puisqu’elle y est comme l’unité est dans le resultat des unités qui est la multitude.“ Ebd. Vgl. z. B.: „Indessen halte ich es nicht für passend, dass wir die Seelen als an Punkten [befindlich] betrachten. Vielleicht würde jemand sagen, dass sie nur durch Operationen lokalisiert sind, nämlich gemäß dem alten System des Einflusses gesprochen, oder besser (gemäß dem neuen System der prästabilierten Harmonie), dass sie lokalisiert sind durch Entsprechung und somit im ganzen organischen Körper sind, den sie beseelen.“ – „Interim non puto convenire, ut animas tanquam in punctis consideremus. Fortasse aliquis diceret, eas non esse in loco nisi per operationem, nempe loquendo secundum vetus systema influxus, vel potius (secundum novum systema harmoniae praestabilitae) esse in loco per corresponsionem, atque ita esse in toto corpore organico quod animant.“ Leibniz an Des Bosses, 16. März 1709, GP II, 370 f.

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Perspektive aus die Mechanik bloß mit quantitativen Pseudo-Entitäten zu tun hat. Diese Relativierung des Mechanismus beschreibt Cassirer wie folgt: Wäre daher das Physische nicht nach den Gesetzen der Mechanik erklärbar, so gäbe es für Gott, selbst wenn er es wollte, kein Mittel, uns die Natur zu enthüllen. Der Mechanismus ist somit das Bindeglied zwischen Natur und Mathematik, d. i. zwischen Natur und Vernunft. In diesem Sinne eines notwendigen Erklärungsprinzips bleibt der Materialismus anerkannt, der als absolute Behauptung über das letzte ‚Wesen‘ der Dinge abzuweisen ist. […] Das wahre Mittel gegen den Irrtum und die Schwäche dieser Lehre ist hier gefunden: Es besteht darin, dass man die materialistische Betrachtung in ihrem relativen Recht anerkennt, zugleich aber die dogmatische Behauptung einer Tatsache in ein methodisches ‚Als ob‘ verwandelt.98

Hier kommt also die bereits vorgestellte Ausdifferenzierung der verschiedenen Körperbegriffe zur Geltung: Der Körper als Organismus hat einen anderen ontologischen Status als der zum bloß physischen Objekt reduzierte Körper. Ersterer hat eine metaphysisch unabstreitbare substanzielle Natur, die gleichfalls in ihren Erscheinungen unter die Gesetze der Mechanik gefasst werden können – und müssen, wenn wir physisches Geschehen erklären wollen. Schließlich betont Leibniz immer wieder, die Seele dürfe nicht verwandt werden, um die Details der Ökonomie des tierischen Körpers zu erklären, und man solle auch nicht die substanziellen Formen auf die besonderen Probleme der Natur anwenden, obgleich diese notwendig seien, um die allgemeinen Prinzipien aufzustellen99. Bei der Betrachtung der Natur sieht man also gerade von ihrer Organisation ab und ignoriert die immanenten Prinzipien, da diese sich in ihrer Besonderheit ohnehin nur Gott erschließen. Uns Menschen ist es lediglich möglich, die immanenten Prinzipien in abstracto philosophisch zu erfassen und ihnen einen grundlegenden Platz in der Wissenschaftsbegründung zuzuweisen. „Genau zu reden hat also die Organisation der Natur nichts Analogisches mit irgend einer Kausalität, die wir kennen.“100 Dieser berühmte Ausspruch Kants ist zwar auch heute noch gültig, doch er ist nicht auf Leibniz zu übertragen – genau genommen gibt es für Leibniz in der Natur gar keine Kausalität jenseits ihrer organischen Konstitution, auch wenn wir Menschen unter Berücksichtigung des von Cassirer erwähnten als ob eine mechanische Erklärung auf die Naturdinge anwenden können und gelegentlich aufgrund der alle menschliche Erkenntnisfähigkeit übersteigenden Komplexität auch anwenden müssen. 2.3. Die unendliche Strukturiertheit des Organismus Jede Seele verfügt über einen Körper, der zu ihrem jeweiligen Zustand passt und so besonders für sie geeignet ist101. Dieser Körper besteht auf der phänomenalen Ebene aus Organen, funktional ausgerichteten Körperteilen, und auf der monadi98 Cassirer: Leibniz’ System, a. a. O., 360. 99 Vgl. etwa GP IV, 479; auch: Duchesneau: Les Modèles du Vivant, a. a. O., 322. 100 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 21996, A 290, B 294 f. 101 „L’Ame n’est jamais sans quelque corps organique convenable à son present Estat.“ Reponse

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schen Ebene aus einer Menge anderer, hierarchisch geordneter Substanzen. Er ist insoweit passend, als die untergeordneten Monaden sich selbst als Teile eines übergeordneten Körpers repräsentieren102. Sie verorten sich in diesem und soweit die Bewegungen der Organe distinkt repräsentiert werden, stehen sie in Harmonie mit der übergeordneten Monade, weil sie ihren Willensakten (volitiones) entsprechen. Die Entelechie liefert den Organismen entsprechend des vollständigen Begriffs der obersten Substanz diese Struktur. In Leibniz’ Dichotomie von Form und Materie werden Organismen von Innen, durch ihre Entelechie bestimmt und strukturiert, zugleich erliegen sie äußeren Ursachen, sowohl kausalen als auch finalen Ursachen. Leibniz formuliert dies ganz deutlich: „Die internen Ursachen der körperlichen Ereignisse, also die Materie und die Form, oder Masse und Entelechie, gehorchen den externen Ursachen, nämlich den effizienten [Ursachen] und den finalen.“103 Die Finalursachen sind dabei diejenigen „höheren“ Prinzipien, welche die Geburt der Dinge und deren periodische Abfolge betreffen. Die interne unendliche Strukturiertheit des Organismus bedeutet, dass jeder Körper über seine Organe verfügt, die, da sie auch eigenständige Substanzen sind, selbst über Organe verfügen – ad infinitum. Das bedeutet nicht, dass jeder beliebige Teil eines Körpers, wie etwa ein Bein oder ein Herz, selbst schon einem eigenen Prinzip folgt; wohl aber, dass sich in jedem Körperteil präformierte, aktive und prinzipiengesteuerte Elemente finden lassen, die wiederum Organe sind, also körperliche Substanzen. Es gibt in einem Körper keinen Teil, der sich nicht restlos in unendlich viele Organe zerlegen ließe. Die Organe nehmen also in dem sie enthaltenden Organismus eine doppelte Stellung ein: Erstens unterliegen sie selbst transitiven Wechselwirkungen, weil sie affiziert werden und auf solche Affektionen reagieren können. Da die in einem Körper gegebenen körperlichen Substanzen selbst eine eigene Perspektive besitzen und über eine eigene Aktivität verfügen, können sie eigenständig auf die Umwelt reagieren und so auch als Sinnesorgane dienen104. Zweitens sind sie aufgrund ihrer teleologischen Einordnung im Organismus ein funktionaler Bestandteil, der gleichzeitig einem eigenen Zweck sowie in Harmonie zur Struktur des obersten Lebensprinzips, der übergeordneten Seele, agiert. Die Funktionalität der Organe ist also doppelt zu verstehen: Ein Organ ist geschaffen, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen; aber die bloße Existenz dieses Organs aus kausalen Produktionsprozessen heraus konstituiert ebenso dessen Funktion. An einem Beispiel ausgedrückt: Damit die Tiere sehen können, wurden ihnen Augen gegeben, zugleich haben die

aux reflexions contenues dans la seconde Edition du Dictionnaire Critique de M. Bayle, article Rorarius, sur le systeme de l’Harmonie preétablie (1702), GP IV, 564. 102 Vgl. auch die Darstellung bei Rutherford: Leibniz and the Rational Order of Nature, a. a. O., 224 f. 103 „Causis internis Eventuum corporeorum, Materiae scilicet et Formae, seu Massae et Entelechiae, accedunt causae externae, nempe efficientes et finales.“ Carvallo, 73. 104 Vgl. Brief an Arnauld, April 1687, A II, 2, 176; Vgl. auch: Brief an die Kurfürstin Sophie, 6. Februar 1706, GP VII, 567 ff. Leibniz macht gleichwohl nicht deutlich, ob nun jede körperliche Substanz ein Organ ist oder sein kann.

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Tiere aufgrund des zu ihrer Entstehung führenden Kausalnexus Augen und deshalb können sie sehen105. Da der organische Körper aber im Prinzip an jeder Stelle empfindungsfähig und reaktionsfähig ist, kann man auch davon ausgehen, dass an den je stimulierten Stellen einzelne Perzeptions-Organe sitzen. Damit sind gleichwohl nicht unbedingt nur die Organe im heute umgangssprachlichen Sinne gemeint (Lunge, Herz, Leber etc.), sondern eben vielmehr ganz allgemein reaktive oder gar informationsverarbeitende Systeme oder Sensoren. Diese reagieren auf äußere Einwirkungen, in einem funktionalen Zusammenhang und gemäß ihrer Bedeutung und Position in dem Organismus. Organe sind sowohl kausal- als auch finalursächlich bedingt. Ein Körper kann also gleichzeitig mechanisch und architektonisch erklärt werden, d. h. er unterliegt sowohl den Naturgesetzen, als er auch auf ein bestimmtes Ziel hin konstruiert ist106. Er ist durch die Physik erklärbar und folgt zugleich dem göttlichen Heilsplan, der das Ziel der Schöpfung vorgibt und die Teleologie des Weltgeschehens strukturiert. Denn die natürlichen Dinge und Begebenheiten sind ex post facto ähnlich zu beurteilen wie menschliche Artefakte, indem man vom fertigen Ding auf die Urheberintention schließt: „Auch wenn es schwierig ist, die Absicht der Natur vor dem Ereignis zu beurteilen, nachdem etwas beendet wurde, kann man [aber] aus dem, was [von der Natur] gemacht wurde beurteilen, was sie machen wollte.“107 Dabei lässt sich eine Unterscheidung zwischen auferlegten und immanenten Gesetzmäßigkeiten treffen. Diese Unterscheidung kann anhand eines Beispiels illustriert werden, das sich bei Kant findet: Eine Uhr verfügt über einen externen Organisationszusammenhang, der ihr vom Uhrmacher auferlegt wurde, nämlich die funktionale Weise des Ineinandergreifens von Zahnrädern, Federn und Zeigern. Ein Lebewesen dagegen verfügt über eine „in sich bildende Kraft“108, durch die der Vergleich mit der Uhr zu kurz greift: Eine organische Maschine „organisiert sich vielmehr selbst und in jeder Species ihrer organisierten Produkte.“109 Bei Leibniz bedeutet dies: Den Organen wird im Rahmen des Organismus eine Gesetzmäßigkeit von außen auferlegt, auch wenn sie als beseelte körperliche Substanzen selbst einer immanenten Gesetzmäßigkeit folgen, die der übergeordneten Seele zwar nicht unmittelbar untergeordnet ist, die aber qua prästabilierter Harmonie den Willensakten bzw. dem Ordnungsprinzip der obersten Seele entspricht, so als ob es einen direkten Einfluss zwischen den Substanzen gäbe. Die Nachkommen eines Lebewesens folgen derselben äußeren Gesetzmäßigkeit, der Spezies, die wiederum ihre eigenen Organe lenkt und ihnen ihre spezifische Form verleiht. Jedes Lebewesen verfügt also über eine doppelte immanente Organisationsfunktion: Es ist in 105 Tentamen Anagogicum (1696 [?]), GP VII, 273. 106 Ebd. 107 „Quandam autem de finibus rerum consilioque naturae ante eventum judicare difficile sit; post rem peractam tamen de iis quae facere voluit, judicari potest ex illis quae fecit.“ Corpus hominis et uniuscujusque animalis Machina est quaedam, 1680–83 [?]. LH III, 1, 2, 1–2; In: Smith, 150. 108 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, A 292 109 Ebd., A 293.

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sich selbst der Struktur nach mehrfach organisiert, durch die übergeordnete Seele und die jeweilige Seelen in allen untergeordneten Substanzen, d. i. Organen, und ebenso in seinen ihm ähnlichen Nachkommen, die über eine vergleichbare Struktur verfügen. Leibniz greift zudem die Doppelung der aristotelischen Substanz auf, die ebenso als Individuum wie auch als Spezies existiert, wenn er schreibt: „Der lebende Körper ist eine Maschine, die sich selbst erhält und sich sich selbst ähnlich produziert (sibi similem producens).“110 Nun bedeutet diese doppelte Struktur von auferlegten und immanenten Gesetzmäßigkeiten zusammen mit der unendlichen Komplexität des physischen Körpers dreierlei: 1.) Der göttliche Heilsplan, auf Perfektion der Welt hin ausgerichtet, setzt sich auf körperlicher Ebene fort in das Prinzip der maximalen Formoptimierung („de formis optimis“, bzw. „maximum aut minimum praestantibus“)111: Die Form des Körpers ist in jedem noch so kleinen Detail durch die Forderung nach maximaler Effizienz dazu bestimmt, die bestmögliche Form bei geringstmöglichem Aufwand bzw. Material zu erstellen. Dieses Prinzip aber, so Leibniz, gilt sowohl für die Welt als Ganzes wie auch für jeden Körper überhaupt112, unabhängig von seiner Größe. Eine natürliche Maschine, d. h. ein Lebewesen, kann dagegen nur eine begrenzte Perfektion aufweisen, zumal die irdischen Möglichkeiten der Zwecksetzung endlich sind. 2.) Der einzelne organische Körper kann vom Menschen nicht definitiv und endgültig auf einzelne, bestimmte Eigenschaften reduziert werden, die für ihn typisch sind. Da es nach dem Prinzip der Kontinuität weder in der Materie noch in dem Weltablauf Sprünge gibt, können alle Lebewesen als nur graduell voneinander verschieden gedacht werden: zu allen zwei Lebewesen kann eines gedacht werden, das jedem der beiden ähnlicher ist als sie beide einander ähneln. Es ist letztlich dem Menschen unmöglich, definitiv ‚feststehende‘ Arten oder Gattungen auszumachen, und es ist der Einbildungskraft unmöglich, den Punkt zu erkennen, wo eine Gattung anfängt und eine andere aufhört113. Die Gattungen sind also nicht fest umrissen und es ist nur ein menschliches Hilfsmittel, die unzählbare und unkategorisierbare Vielfalt der Lebewesen unter wenige Begriffe zu subsumieren114. Auch die Arten selbst sind nicht fest vorgegeben 110 111 112 113

„Corpus viventis est Machina sese sustentans et sibi similem producens.“ A VI, 4, 568. Ebd., GP VII, 272. Ebd. Vgl. Brief an Varignon, undatiert, in: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, hrsg. von Ernst Cassirer, Hamburg 1996, Bd. I, 330. Dies gilt nur prinzipiell, es mag wohl sein, dass die Kompossibilitätsbedingungen der faktischen Welt bestimmte Grenzen setzen, die wir vielleicht nicht kennen können. So gibt es auch kein Kontinuum der Formen in der Welt, da nicht alle insgesamt möglichen Formen realisiert sind. Das Kontinuum der Formen der möglichen Organismen gilt vielmehr für das Reich der Ideen, das immer noch umfassender ist als die geschaffene Welt. 114 Über das Prinzip der Kontinuität und seine Anwendung auf die Lebewesen: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, hrsg. von Ernst Cassirer, Hamburg 1996, Bd. II, 556–559, vgl. Lovejoy, Arthur: The great chain of being, Cambridge 1936, 145.

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und auf ewig fixiert, sondern können sich ausdifferenzieren: Leibniz hält es durchaus für möglich, dass auch die Landlebewesen einst von Meerestieren abstammten115. Selbst die Unterscheidung zwischen Pflanzen und Tieren ist für Leibniz nur ein notdürftiges, willkürliches Behelfsmittel des Menschen und kann jederzeit durch die Entdeckung von Mittelwesen aufgehoben werden116. Es muss angenommen werden, dass die a priori einsichtigen Möglichkeiten an Organismen nicht alle realisiert sind. Selbst der Mensch ist als das Wesen mit den meisten Perfektionen nicht so perfekt, dass keine Möglichkeit zur Verbesserung besteht, denn dies trifft nur auf Gott zu: „Es ist sogar möglich, dass das Menschengeschlecht mit der Zeit zu einer größeren Vollkommenheit gelangt als die, welche wir uns jetzt vorstellen können.“117 Somit ist die Wissenschaft des Lebendigen notwendig auf die Empirie angewiesen, kann aber dennoch nicht alles ergründen, weil die unendliche Komplexität der wirklichen Formen der Lebewesen die Möglichkeiten der Erkenntnis a posteriori überschreitet. 3.) Einzelne periphere Körperbestandteile werden so undeutlich wahrgenommen, dass sie nicht im einzelnen zu identifizieren sind, sondern als Ganzes ein „Körpergefühl“ ausmachen, so wie am Meer auch nicht das Rauschen einer einzelnen Welle zu hören ist, sondern nur das Meeresrauschen im Ganzen118. Der eigene Körper ist gar nicht klar einsichtig, das Körperbewusstsein ist ein eher undeutliches, phänomenales Bewusstsein. Die Körperperipherie ist nur minimal, in petites perceptions wahrnehmbar, also nicht deutlich genug, um als bewusst zu gelten. Die Organe sind auf entsprechende Weise bis ins Unendliche ineinander verwachsen119, nicht nur auf einer Ebene der Größenordnung, sondern sich bis in immer feinere Details hin untereinander aufgliedernd und aufeinander Bezug nehmend. Es handelt sich bei den ineinander verschachtelten körperlichen Substanzen also nicht nur um „bugs all the way down“, wie Daniel Garber mehrfach betont120, sondern auch um Organe in Organen in einem höheren Lebewesen.

115 Ebd., 256. Lovejoy zitiert hier aus der Protogaea, hrsg. von Christian Ludwig Scheidt, Göttingen 1749, 41. 116 Ebd. Lovejoy zitiert hier aus den Miscellanea Berolinensia I (1710), 111 f. 117 TD § 341, GP VI, 317. 118 Brief an Arnauld, April 1687, A II, 2, 176. 119 Ohne Titel, GP IV, 396. 120 Leibniz konzipiert, so Garber, „a world whose principal inhabitants are corporeal substances understood on an Aristotelian model as unities of form and matter, organisms of a rudimentary sort, big bugs which contain smaller bugs, which contain smaller bugs still, all the way down“, Garber: „Leibniz and the Foundation of Physics“, a. a. O., 29. Siehe auch ders.: „Leibnizian Hylomorphism“, in: Manning, Gideon (Hrsg.): Matter and Form in Early Modern Science and Philosophy, Leiden 2012, 225–43, hier: 232.

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2.4. Das Streben nach Perfektion Um die durch die Lebewesen manifestierten Formen finaler Kausalität zu beschreiben, möchte ich mit einer begriffliche Vorgabe beginnen, die es hier erleichtern soll, die verschiedenen Arten der Teleologie der Lebewesen auszudifferenzieren: Zu unterscheiden ist erstens eine universale Teleologie als umfassende Theorie von einer Ausrichtung des Universums auf ein Ziel (vertreten z. B. in den anthropozentrischen Naturlehren der „Physikotheologie“ des 18. Jahrhunderts) von einer speziellen Teleologie, die lediglich einzelnen Naturkörpern eine Zweckmäßigkeit zuschreibt (wie es in der Biologie erfolgt); zweitens muss eine Teleologie, die von der inneren Gliederung eines Gegenstandes ausgeht und seinen Teilen Zwecke zuschreibt, also eine innere [interne] Teleologie (z. B. zur Beschreibung des Baus eines Organismus), unterschieden werden von einer Teleologie, die einem Gegenstand als Ganzem eine Nützlichkeit für etwas anderes zuspricht, also einer äußeren [externen] Teleologie (z. B. das Verhältnis von Nahrungsressourcen zu Organismen); und drittens ist zu unterscheiden, ob die Zielgerichtetheit eines Gegenstandes die mentale Antizipation eines zukünftigen Zustands impliziert, also eine Zwecksetzung (Zwecktätigkeit) beinhaltet, oder aber ob der Bezug auf das Zukünftige aufgrund anderer als mentaler Eigenarten des Gegenstands zugeschrieben wird, also eine Zweckmäßigkeit darstellt.121

Da für Leibniz jedes Lebewesen im Rahmen der universalen Harmonie einen Zweck besitzt und da es nichts anderes als Lebewesen in der Welt gibt, fallen spezielle und universale Teleologie zusammen, auch wenn sie in der Betrachtung eines Lebewesens als organischer Körper (d. i. als Organismus zu einem bestimmten Zeitpunkt im Wechsel der Metempsychosen) durchaus ausdifferenziert werden können. Die universale Teleologie ist in der unmittelbar das Weltgeschehen hervorbringenden Aktivität der Substanzen fundiert, nämlich eben in der vis activa primitiva oder Spontaneität. Sie folgt dem Prinzip des Besten122 hin zu größtmöglicher Perfektion, indem sie vorher virtuell in der Substanz angelegte Perzeptionen aktualisiert und so in die Wirklichkeit überführt – in dieser Beziehung sind die Seelen nach einer ihnen eigenen Zweckmäßigkeit geformt. Diese Vermehrung des Seienden kann als ein Grad der Realität gedacht werden, so dass das Streben nach Perfektion ein Streben nach Existenz selbst ist123. Soweit die Substanz ihre Perzeptionen spontan hervorbringt, strebt sie automatisch nach Perfektion, weil die Spontaneität ein Akt der Selbstrealisierung und damit ein Gewinn an Realität ist und weil ein Zuwachs an Realität eben einen Zuwachs an ontologischer Perfektion bedeutet – auch wenn dies ggf. mit einer Verminderung an moralischer Perfektion einhergehen kann. Nun soll gefragt werden, wie sich dieses substanzielle Streben nach Perfektion, d. i. die zielgerichtete innere Aktivität der Substanz, in den Organismus vermittelt, der ein perzipierter Körper ist und zugleich durch eine koordinierte Vielzahl von Substanzen ausgemacht wird. Damit möchte ich skizzieren, wie bei Leibniz universelle und spezielle, innere und äußere Teleologie zusammenhängen. 121 Toepfer, Georg: „Teleologie“, in: Krohs, Ulrich / ders. (Hrsg.): Philosophie der Biologie, Frankfurt a. M. 2005, 36–52, hier: 36. 122 Considérations sur la doctrine d’un esprit universel unique (1702), GP VI, 537 f. 123 Vgl. die Diskussion bei Adams, Robert M.: Leibniz. Theist, Determinist, Idealist, Oxford 1994, 157 f.

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Das Streben nach Perfektion bedeutet zuerst nicht, dass die Handlungen der Lebewesen immer perfekter werden, wohl aber, dass die Perfektion der Welt auf natürliche Weise zunimmt. Dies ergibt sich aus dem Satz vom Grunde und dem Prinzip des Besten, nach dem Gott keinen Grund gehabt hätte, eine Welt zu schaffen, in deren Verlauf es zu einer Verminderung an Perfektion kommt – es sei denn, diese Verminderung durch Tod, Krankheit oder anderes Unglück ist nur temporär, zugunsten einer Vergrößerung der Perfektion auf lange Sicht: „Die Organe sind [dann] nur eingefaltet und auf kleineren Umfang reduziert, aber die Ordnung der Natur erfordert es, dass sich alles wieder ausfaltet und eines Tages wieder in einen besonderen Zustand zurückkehrt, und dass es in diesen Unglücksfällen einen gewissen, wohl regulierten Progress gibt, der dazu dient, die Dinge wachsen zu lassen und zu perfektionieren.“124 Struktur, Konstitution, das Verhalten und schließlich Leben und Tod der Lebewesen sind durch Finalursachen bestimmt. Die Tiere vermeiden einerseits kraft der eigenen Entelechie das Übel und suchen von selbst das Lob Gottes, verfügen also über ein selbst gesetztes, externes Ziel. Andererseits führt ihre Einbettung in den göttlichen Heilsplan zu einem fortwährenden globalen Streben zur Perfektion, in dessen Rahmen alle Lebewesen andererseits auch als Mittel einem externen Zweck dienen. Die Wohlgeformtheit der Geschöpfe ist ein Zeichen für die Weisheit, mit der Gott den Weltverlauf ausgerichtet hat125 – also für die Subordination der internen Zwecke unter den externen Zweck der universellen Teleologie. Insgesamt bedeutet die teleologisch fortschreitende Verbesserung der Welt auch, dass sich die Lebewesen selbst entfalten, entwickeln, realisieren: Um die universelle Schönheit und Perfektion der Werke Gottes ganz zu verstehen, müssen wir jenen immerwährenden und vom gesamten Universum vollständig freien Prozess anerkennen, dass dieser immer zu neuen Verbesserungen fortschreitet. […] Obwohl schon viele Substanzen die Perfektion erreicht haben, aufgrund der unbegrenzten Teilbarkeit des Kontinuierlichen, bleiben in der Tiefe der schlafenden Dinge immer Teile, die noch aufwachen, in der Größe und im Wert wachsen müssen, in einem Wort, zu einem perfekteren Status fortschreiten müssen.126

Es ist eines der Kriterien für die Perfektion der Welt, möglichst viele und möglichst hoch entwickelte Individuen zu beherbergen – die Welt könnte in diesem Sinne weder lebensfeindlich sein, noch wäre es denkbar, dass die Organismen schlecht an die Umgebung angepasst wären. Daraus folgt, dass die Organe der Lebewesen nicht 124 „Les organes ne sont qu’enveloppés et reduits en petit volume, mais l’ordre de la nature demande, que tout se redéveloppe et retourne un jour à un état remarquable, et qu’il y ait dans ces vicissitudes un certain progrès bien réglé, qui serve à faire mourir et perfectionner les choses.“ Considérations sur la doctrine d’un esprit universel unique (1702), GP VI, 535. 125 Siehe TD § 134, GP VI, 188. 126 “In cumulum etiam pulchritudinis perfectionisque universalis operum divinorum, progressus quidam perpetuus liberrimusque totius Universi est agnoscendus, ita ut ad majorem semper cultum procedat. […] Etsi multae jam substantiae ad magnam perfectionem pervenerint, ob divisibilitatem tamen continui in infinitum, semper in abysso rerum superesse partes sopitas adhuc excitandas et ad majus meliusque et ut verbo dicam, ad meliorem cultum provehendas.“ GP VII, 308: De rerum originatione radicali. Übersetzung folgt Maria-Jesús Soto-Bruna: „Leibniz und die Europäische Fortschrittsidee“ in: Breger, Herbert: Leibniz und Europa. VI. Internationaler Leibniz-Kongress, Hannover 1994, 750–757, hier 754 f.

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nur unmittelbar für das Lebewesen ihren Zweck erfüllen, so wie etwa die Funktion des Blutkreislaufs nicht unmittelbar von einem Kontext abhängig ist. Die Funktion der Organe ist erst mittelbar, über die Interaktion mit der Umwelt, zu verstehen: So ist etwa die Hand erst dann als funktionales Organ, d. h. als natürliches Werkzeug zu denken, wenn man auch gleichzeitig eine Umwelt annimmt, in der es etwas für das Lebewesen Belangvolles zu greifen gibt. Die Organe erfüllen ihre Funktion dann, wenn die Welt ihnen gegenüber harmonisch strukturiert ist, was sich problemlos aus Leibniz’ Prinzipien des Naturgeschehens herleiten lässt. Insoweit Organismen intern nach Zwecken strukturiert sind und insgesamt auf einen Zweck hin streben, nämlich Selbsterhaltung, kann man sie als Maschinen bezeichnen, denn diese unterscheiden sich von insgesamt anorganischen Naturdingen – wie einem Stein etwa oder einem Regentropfen – eben durch die interne funktionale Struktur und koordinierte Aktivität. Wir können kraft unserer Vernunft die funktionale Struktur der natürlichen Maschinen erkennen, also die Funktion der Organe, die durch Gottes Einfallsreichtum geprägt sind127. Leibniz schreibt, dass der organische Körper durch die Organe seine Einheit realisiert, die er in der Entfaltung seiner Totalität anstrebt. Die Organe hängen dabei von der inneren Ordnung ihres Körpers ab, was Leibniz durch die Analogie beschreibt, dass auch die einzelnen Punkte einer Kurve durch ihre allgemeine Eigenschaft oder Gleichung bestimmt werden können128: Kennt man das oberste, strukturgebende Prinzip, so kann man alle (heterogenen wie homogenen) Teile derselben bestimmen. Die Subordination der untergeordneten Substanzen unter die oberste Monade bedeutet in diesem Sinne, dass jedem Teil ein auf das Ganze bezogener bestimmter ‚Platz‘ bzw. eine auf das Ganze bezogene Funktion zugewiesen wird. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Monade dort ist – Monaden haben streng genommen keine Position, keine Lage, keinen situs.129 Für unsere menschlichen Erklärungen von Einzelereignissen aber ist es sinnvoll und hilfreich, zu sagen, dass zumindest die Geister dort sind, wo sie wirken. Laurence Carlin hat darauf hingewiesen, dass in Bezug auf Handlungen Finalursachen nur insoweit wirksam sind, als sie mentale Zustände sind130. Vor dem Hintergrund des bisher erörterten wird deutlich, warum dies zu kurz gegriffen ist. Einerseits ist die Feststellung, dass eine Handlung durch mentale Zustände final bestimmt wird, trivial, sofern wir begrifflich zwischen Handlungen und bloßem Verhalten unterscheiden. Damit ein Akt eine Handlung sein kann, setzt er schon begrifflich eine bewusste, intentionale Ausrichtung voraus. Andererseits aber greift diese Erklärung im Rahmen der leibnizschen Metaphysik zu kurz. Erstens ist bereits der Appetitus teleologisch ausgerichtet und er ist überhaupt erst die Ursache dafür, dass wir mentale Zustände hervorbringen, er ist also selbst kein mentaler Zu127 „Quae sunt Machinae divinae inventionis, ad certum genus operationum comparatae, et in nobis quidem ad Rationcinationem exhibendam […].“ Animadversiones (1710), Carvallo 74. 128 Brief an Remond, 17. Februar 1715, GP III, 635: 129 Siehe dazu De Risi, Vincenzo: Geometry and Monadology. Leibniz’s Analysis Situs and Philosophy of Space, Basel/Boston/Berlin 2007. 130 Carlin, Laurence: „Leibniz on Final Causes“, in: Journal of the History of Philosophy, 44.2 (2006) 217–33.

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stand. Zweitens können wir eine Handlung auch als teleologisch beschreiben, ohne dass wir auf die mentalen Zustände des Agenten eingehen. Denn alle Handlungen vollziehen sich im Rahmen einer Welt, die insgesamt als Schöpfung zum Besten strebt kraft des göttlichen Willens, und der vollständige Grund für die einzelne Handlung wäre stets in der Gesamtzunahme der Perfektion der Welt zu finden. Die teleologische Ausrichtung ist selbst dann noch gegeben, wenn wir eine Handlung als rein mechanisch vollzogen beschreiben, denn der wahre Grund dieser mechanischen Prozesse liegt in einer primordialen und teleologischen Aktivität. Wir können mentale Zustände als Ursachen einer Handlung begreifen, wenn wir auf das oben beschriebene Leib-Seele-Verhältnis eingehen: Die bewussten Zustände einer übergeordneten Substanz sind aufgrund ihrer erhöhten Aktivität als Ursache für die mit ihr korrespondierenden, weniger aktiven Zustände zu begreifen. Während erstere mentale Zustände konstituieren, so beziehen sich letztere auf bloß perzipiertes physisches Geschehen. Wir können aber auch den mechanischen Kausalnexus beschreiben und darauf verweisen, dass dieser seinen wahren Grund in einer ursprünglichen teleologischen Aktivität besitzt – aber in dieser Beschreibung kommen mentale Zustände von Menschen gar nicht vor. Finalursachen sind sowohl intern durch die Entelechie gegeben, wie auch extern durch die Hierarchie der Substanzen. Letztere gewährleistet die Funktionalität der Organe bzw. der untergeordneten körperlichen Substanzen. So lässt sich folgende Deutung rechtfertigen: Wenn Leibniz sagt, dass das einfache Ziel des Lebewesens die Selbsterhaltung sei131, dann bezieht sich das auf die intern gegebene Finalursache, die den Aufbau und das Gleichgewicht zwischen den untergeordneten körperlichen Substanzen bestimmt. Die Einfachheit des Ziels steht dabei der Komplexität der Mittel gegenüber, also der Koordinierung aller Teile, womit auch die Intaktheit des Körpers und somit die Fortführung der Kontrolle der obersten Entelechie gemeint ist. Der Organismus strebt darauf hin, so heißt es an anderer Stelle, sich selbst zu produzieren132, sich selbst als Körper zu realisieren. Dieses interne Streben hin zur Selbsterhaltung durch Selbstproduktion entspricht natürlich einerseits unserer Alltagserfahrung, aber andererseits auch Leibniz’ Begriff der Perfektion, dass nämlich die Komplexität der Formen eine der Perfektionen der Welt ist. Der Organismus zerfällt bei seinem Tod in einfachere Formen und dann verliert auch die oberste, also perfekteste Substanz an Aktivität und damit an Perfektion, zumindest relativ zu anderen Substanzen. Dies Ganze geschieht zugunsten einer insgesamt größeren Perfektion der ganzen Welt. Dass der Organismus im Tode als Struktur erhalten bleibt, bedeutet, dass auch die untergeordneten Substanzen nicht wirklich von ihm „abfallen“, die einzelnen Organe werden jedoch mehr oder weniger „eingefaltet“133. Sie verlieren also an Materie und Funktionalität, bleiben jedoch der Struktur nach erhalten. Wie dies konkret vorzustellen ist, wie die einzel131 „Dici quidem potest finem esse simplicem, nempe conservationem sui“ Leibnitii Replicatio ad Stahlianas Observationes (1711), Carvallo, 124. 132 „Sa tâche la plus intrinsèque, qui est de produire la soie.“ Considerations sur les Principes de Vie, Beilage (1705), GP VI, 550. 133 „Il n’y a qu’une transformation d’un même animal, selon que les organes sont pliés différemment, et plus ous moins développés.“ SN § 7, GP IV, 481.

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nen Organe bei jedem Lebewesen auch in jeder möglichen Todesursache erhalten bleiben wenn auch nur in verkleinerter Form, das wird wohl unbeantwortet bleiben – und aufgrund der unendlichen Komplexität dieser Prozesse für den Menschen immer auch unvorstellbar. Es bedarf auch bei Leibniz zumindest einer begrifflichen Differenzierung zwischen interner und externer Teleologie des ganzen Lebewesens. Die interne entspricht dem Streben nach Selbsterhaltung und, was den Menschen angeht, dem Streben nach Harmonie und Gotteslob. Die externe ist die gottgegebene Teleologie der Welt. Dazu müssen die Teile des Organismus, also dessen Organe bzw. die subordinierten Substanzen, auf eine doppelte Teleologie (speziell und intern) hin verstanden werden: Die einzelnen Organe sind wiederum intern durch ihre Funktion für den Organismus bestimmt, extern aber in die Harmonie des Gesamtkörpers eingebettet und dessen Überleben dienlich134. Dieser Gesamtorganismus ist intern durch die Entelechie strukturiert und extern durch seine Einbettung in den Weltenlauf. Die Perfektion der Lebewesen entspricht erstens ihrer organischen Komplexität, soweit die weniger perfekten Substanzen den perfekteren untergeordnet sind – die Organismen sind gemäß der göttlichen Weisheit angeordnet135; zweitens ist die Perfektion durch die Vollkommenheit des Ausdruckes bestimmt, mit der die Substanz die Welt ausdrückt bzw. perzipiert136. Da ein vernunftbegabtes Lebewesen zu größerer Einsicht fähig ist und klarere Perzeptionen haben kann als ein Tier, ist die größere Perfektion des Menschen in den größeren geistigen Vermögen fundiert. Leibniz lässt keinen Zweifel daran, dass es schließlich die menschliche Vernunft ist, kraft derer die Menschen „unendlich“ über den Tieren und Pflanzen stehen137. Der Mensch ist dank seiner Vernunft das perfekteste irdische Wesen und nicht selbst wieder ein Teil einer übergeordneten Substanz. Wie ist diese Strukturierung eines Organismus mit seinen Suborganismen im Rahmen der hier vorgeschlagenen Lesart der Monadenlehre zu denken? Erinnern wir uns: Die Substanzen stehen in ihrem aktiven Hervorbringen von Perzeptionen miteinander in Harmonie, d. h. sie perzipieren dieselbe Welt gemäß ihres eigenen Standpunktes. Harmonie und Spontaneität sind das Fundament der Hierarchie eines Organismus. Da das innere Gesetz der Substanzen durch das Reich der Gnade regiert wird, also nach Finalursachen geordnet ist, deren letzter Grund Gott selbst ist, vermittelt sich dieses Streben nach Erlösung in die Organisation und das Verhalten der Körper. Dabei spielt die Fähigkeit der Individuen zur Einsicht in das Gute die entscheidende Rolle, da diese Eigenschaft die Perfektion der Substanzen ausmacht. Da der Mensch als vernunftbegabtes Wesen zu dieser Einsicht fähig ist, ist die das menschliche Individuum ausmachende Substanz den anderen, ihren Körper ausma134 135 136 137

Vgl. ganz ähnlich bei Dumas: La Pensée de la Vie, a. a. O., 133 ff. Brief an Lady Masham, 30. Juni 1704, GP III, 356. Vgl. DM § 15, A VI, 4, 1554. Considérations sur la Doctrine d’un Esprit Universel Unique (1702), GP VI, 532. Es scheint, dass Leibniz mit dieser prinzipiellen, nicht graduellen Trennung sein eigenes Prinzip der Kontinuität hintergeht.

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chenden Substanzen übergeordnet und kann den Körper so als Teil der Welt optimal benutzen. Die Entelechie organisiert also zugleich den Körper als meine externe Funktion, nämlich durch Realisation der Vorgaben meines Appetitus, in dem der göttliche Wille entsprechend meiner Rolle im Weltverlauf manifest ist. Das bedeutet gleichwohl nicht, dass alle Handlungen eines Lebewesens immer perfekter werden. Vielmehr bestimmt der göttliche Heilsplan, nach dem die Substanzen und ihre Verhältnisse ausgewählt wurden, die Veränderungen der Relationen der Substanzen zueinander. Damit ist nicht gesagt, dass die Perfektion eines Lebewesens nicht auch wieder abnehmen kann – sie nimmt etwa mit Krankheit oder dem Tod ab: Stirbt der Organismus, so stirbt noch lange nicht das Lebewesen, das Individuum selbst, da die einfachen Substanzen unsterblich sind. Der Körper aber zerfällt und die Perzeptionen werden so undeutlich, dass es nicht mehr zu einer klaren, geschweige denn bewussten Wahrnehmung kommen kann. Beim Menschen wird auch die Kette der Erinnerungen beendet und damit sagt er nicht mehr „Ich“ zu den früheren Metempsychosen. Das menschliche Individuum ist dann kein homo sapiens mehr, sondern ein Mikroorganismus, gleichwohl aber derselbe Organismus, weil er als Struktur erhalten bleibt. Zwar mag er Körperteile verlieren, aber genau das war ja in seinem Individuationsprinzip schon vorgegeben. Die übergeordnete Substanz verliert mit ihrer Perfektion auch ihre Einflussnahme auf andere Substanzen. Sie wird dann anderen Substanzen untergeordnet, zumal, wie oben dargestellt, keine Substanz ohne Körper sein kann und jeder Körper immer nur durch eine Hierarchie von Substanzen ausgemacht wird. Dabei handelt es sich keinesfalls um eine Form von ‚Seelenwanderung‘, sondern vielmehr um eine Transformation des Körpers in einem Maße, dass dieser nicht wiederzuerkennen ist – so wie die Transformation einer Raupe zu einem Schmetterling oder die eines Samenkornes in einen Baum. Zwar kann ein Körper zerfallen und damit sterben, eine Seele als ein immaterielles Prinzip stirbt nicht und bleibt mit einem noch so kleinen Körper assoziiert. Dieses Leben und Sterben der organischen Körper, das ohne den Tod von wirklichen Individuen auskommt138, folgt der göttlichen Ökonomie der Welt und dient, auch wenn sich dies im konkreten Falle der menschlichen Einsicht entzieht, der Vergrößerung der Perfektion der Individuen und der Welt als Ganzes139. Es wurde bereits erläutert, dass Leibniz ein Kontinuum der Formen annimmt. Dennoch spricht Leibniz einer Gattung zu, etwas prinzipiell Besonderes zu sein: dem Menschen. Das zentrale Merkmal des Menschen ist dessen Verstand, bzw. Intellekt, darin ist sich Leibniz einig mit der scholastischen Tradition. Bevor wir kurz auf diesen bereits ausführlich diskutierten Aspekt eingehen sei angemerkt, dass es sich bei dieser besonderen Fakultät nicht nur um eine anthropologische oder epis138 Considérations sur les Principes de Vie (1705), GP VI, 543. 139 Vgl. Brief an Arnauld, 20. April 1687: „La mort ne sera qu’un changement de diminution, qui fait rentrer cet animal dans l’enfoncement d’un monde et de petites creatures, où il a des perceptions plus bornées, jusqu’à ce que l’ordre l’appelle peutestre à retourner sur le theatre. […] Mais les esprits ne sont pas sousmis à ces revolutions, ou bien il faut que ces revolutions des corps servent à l’oeconomie divine par rapport aux esprits.“ A II, 2, 189.

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Teil VI: Leibniz’ Theorie der Organismen

temologische Differenz handelt, sondern auch vor allem um eine moralische Differenz140. Wir können nicht nur uns selbst und Gott erkennen, sondern uns ist auch eine moralische Pflicht dazu auferlegt. Leibniz erläutert immer wieder, dass es moralisch unmöglich ist, dass eine unschuldige Kreatur unter Gott leidet. Sofern Tiere unschuldig sind, da sie nicht, wie Menschen, unter der Erbsünde leiden und keine willentlichen Sünden begehen können, müssen sie in einer Welt leben, in der sie nicht leiden – und dazu hat Gott Tiere geschaffen, die der Reflexion nicht fähig sind und deshalb nicht wie Menschen leiden können141. Wir können gleichwohl aufgrund des Schmerzverhaltens der Tiere nicht sinnvoll daran zweifeln, dass Tiere eben auch Schmerzen empfinden142. Fassen wir die zentralen Unterschiede zwischen Menschen und anderen Lebewesen noch einmal stichwortartig zusammen143: 1. Nur Menschen haben einen Geist, während Tiere nur Seelen haben; 2. Menschen können ihre Handlungsgründe evaluieren; 3. Menschen sind moralisch dazu verpflichtet, nach Erkenntnis zu suchen und aus dieser die Grundlage für Gotteslob zu gewinnen. 3. DIE ERKLÄRUNGSKAPAZITÄT VON LEIBNIZ’ ORGANISMUSBEGRIFF Die hier vorgetragene Interpretation kann in gewissem Maße als idealistisch bezeichnet werden, weil deutlich geworden ist, dass es für Leibniz keine von den Seelen unabhängigen Körper geben kann und auch keine im engen Sinne der Monade externen Körper. Man kann hier Leibniz ganz wörtlich nehmen, dass der organische Körper eines Tieres ein bloßes Phänomen ist und nur kraft der Vereinigung mit einer als Seele fungierenden Substanz eine Einheit erfährt144. Es sind also weder die „verstreuten“ untergeordneten Monaden, denen eine Einheit zukommt, noch der eindeutig teilbare phänomenale Körper, sondern es ist die zielgerichtete Einheit der Aktivität, bzw. aus metaphysischer Sicht die Verfügbarkeit einer Monade über einen phänomenalen Eigenkörper bei gleichzeitiger Passivität der ebenfalls phänomenalen Fremdkörper. Mein Körper gehört zu mir, weil ich über ihn verfügen kann, ihn steuern kann und seine Bewegungen meinen Willensakten entsprechen – andere Körper und deren Bewegungen sind mir entzogen oder können nur mittelbar kontrolliert werden. Ich kann meine Hand bewegen und deswegen ist es meine Hand. Die Einheit zwischen Körper und Geist besteht also auch in der Harmonie zwischen Schmerzempfindung und Nadelstich, die Grund dafür ist, dass wir uns beides zu140 „Anima destinata sit, non tantum ad cognoscendas res externas sed etiam, et quidem multos magis, ad noscendum se ipsam, et per haec autorem Deum. […] tamen sciamus non tamen corpora, sed et nos ipsos et Deum a nobis cognosci, imo et debere cognosci. Eoque magis restinctione opus erat, quod assertio etiam ad animam humanam respiceret, nam in anima brutorum nihil inest morale, sed omnia mere sunt physica.“ Leibnitii Replicatio ad Stahlianas Observationes (1711), Carvallo, 104. 141 Vgl. Kulstad: Leibniz on Apperception, a. O., 47; sowie: GP II, 126; GP IV, 475; GP VI, 265 f. 142 Vgl. GP VI, 266. 143 Vgl. dafür die Diskussion bei Kulstad: Leibniz on Apperception, a. O., 42 ff. 144 Bspw. GP III, 657 f.

Die Erklärungskapazität von Leibniz’ Organismusbegriff

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schreiben. Sie würde dann fehlen, wenn jemand anderes einen Schmerz in meiner Hand fühlen würde oder wenn die Bewegungen meines Körpers den Willensakten eines anderen Geistes entsprächen. Oder, um es im Anklang an das Vokabular des Hylemorphismus zu reformulieren: Ich verfüge über meinen Körper, weil mein Geist, der mein Wesen und meine Identität in erster Linie konstituiert, als Organisations- und Bewegungsprinzip meinen physischen Körper als Körper in einer zusammengesetzte Substanz konstituiert. Die Einheit des Organismus ist damit in letzter Instanz die Einheit von Form und Materie (vgl. Teil V). Wenn Leibniz in einem in der Forschung oft diskutierten Brief an Des Bosses schreibt, dass für eine wahrhaft fundamentale Untersuchung der Dinge die körperlichen Substanzen abgelehnt werden können145, dann ist das derart zu verstehen, dass den körperlichen Substanzen eben kein eigenes Sein jenseits der einfachen Substanzen zukommt. Die Frage nach der Einheit der Lebewesen ist nicht zuletzt eine Frage der einheitlichen Aktivität derselben, die letztlich immer eines ebenso einheitlichen Prinzips bedarf. Welche Erklärungen liefert Leibnizens Theorie des Körpers als ein Organismus, die man nicht auch im Rahmen eines ausschließlich mechanistischen Weltbildes geben könnte? Die einzelnen körperlichen Substanzen sind im Hinblick auf ihre eigenen Fähigkeiten und auf ihre eigene Perfektion so angeordnet, dass sie zwar der obersten Substanz untergeordnet sind. Durch ihre hervorgebrachte Aktivität können sie dennoch auf eigenständige Weise ihre Funktion erfüllen, wobei diese Funktion erst im Hinblick auf die ihnen übergeordnete Gesamtstruktur verständlich wird. Damit kann Leibniz beispielsweise Selbstheilungsprozesse erklären, in denen sich einzelne Körperteile nach einer Deformierung so reorganisieren, dass sie die Form des ursprünglichen Körpers wiederherstellen146. Mit dieser Theorie der genetischen Organisation liefert Leibniz einen Ansatz zum Verständnis der Herausbildung neuer Lebewesen, der Embryologie, der Nachteile herkömmlicher Theorien überwindet. Nahm man vor Leibniz oftmals an, dass schon der Samen selbst das vollständige Lebewesen enthielte, das nur noch wachsen müsse, so kann Leibniz nun mit der substantiellen Form auf ein abstraktes und zugleich organisierend wirkendes Prinzip verweisen, welches als formendes Moment die Materialakkumulation und die einhergehende permanente Organisierung des heranwachsenden Lebewesens steuert. Die ihrer Funktion und innerkörperlichen Position entsprechenden substanziellen Formen bzw. Seelen sorgen dafür, dass die einzelnen Körperteile eigenmächtig ihren Platz finden und die ihnen gleichzeitig zugewiesene und selbst hervorgebrachte Funktion übernehmen: Die Augen sind zum Sehen geschaffen und das Wachsen eines Auges ermöglicht das Sehen. Hier können kausale und finale Erklärungen gleichermaßen, aber in unterschiedlicher Hinsicht Gültigkeit beanspruchen. 145 „Die Erklärung aller Phänomene allein durch untereinander konspirierende Perzeptionen der Monaden, ohne körperliche Substanz, erachte ich als nützlich für eine grundlegende Untersuchung der Dinge.“ – „Explicationem phaenomenorum omnium per solas Monadum perceptiones inter se conspirantes, seposita substantia corporea, utilem censeo ad fundamentalem rerum inspectionem.“ Brief an Des Bosses, 16. Juni 1712, GP II, 450. 146 Considérations sur la doctrine d’un Esprit Universel Unique (1702), GP VI, 529.

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Teil VI: Leibniz’ Theorie der Organismen

Leibniz bietet mit dem Organismusbegriff außerdem ein Kriterium für die Identität eines Wesens an, das auf empirisch wahrnehmbare Einzelheiten verzichtet: Ein Mensch ist nicht deswegen immer derselbe Mensch, weil er vom Embryo bis hin zum Greis immer gleichbleibende, individuelle Merkmale besitzt, sondern weil sein Strukturprinzip dasselbe bleibt. Ein Lebewesen besteht in seiner Identität auch über die verschiedenen Transformierungen hinweg, von der Raupe zum Schmetterling, vom Ei zum Vogel, vom Samen zum Baum147 – nicht der materielle Körper macht die Identität und die Individualität des Lebewesens aus, sondern vielmehr das den Körper organisierende, antreibende d. h. ihm Aktivität verleihende abstrakte Prinzip, die substanzielle Form. So möchte ich abschließend darauf hinweisen, dass der leibnizsche Organismusbegriff einen zentralen Schritt in der Genese des modernen Verständnisses des Individuums bedeutet: Hier entsteht im Spannungsfeld zwischen zweckmäßig organisierten und zugleich den Kausalgesetzen unterliegenden Körpern ein Fundamentalbegriff für das moderne Denken des Individuums überhaupt, der eine strukturelle Unterscheidung zwischen Lebewesen und unbelebten Körpern aufmacht. Der Organismus bezieht seine Identität und Individualität durch ein ihm eigenes, prinzipiell intelligibles Prinzip, welches den Körper organisiert, während der Mechanismus nur durch ein äußeres Prinzip bestimmt ist. Diese strukturelle Unterscheidung wird durch Maupertuis, Kant, Diderot, Bonnet, Haller und viele andere Denker des 18. Jahrhunderts aufgegriffen und auf wissenschaftshistorisch außerordentlich fruchtbare Weise verarbeitet148. Im folgenden Teil werden wir sehen, dass dieses Prinzip bei den Menschen die vernünftige Einsicht in das Gute verwirklicht und so Grund und Wesen der Freiheit ist.

147 Ebd., 533 f. 148 Siehe Duchesneau, François: La Physiologie des Lumières: Empirisme, Modèles et Théories, Paris 1982.

TEIL VII: FREIHEIT IN DER MONADENLEHRE „I will not do’t.“ „But can you, if you would?“ „Look, what I will not, that I cannot do.“ Shakespeare: Measure for Measure

1. EINFÜHRUNG IN DEN PROBLEMKONTEXT Leibniz war vermutlich einer der ersten Denker, der die kausale Geschlossenheit der Welt zu einem zentralen Aspekt seiner Metaphysik gemacht hat: Gott greift nicht in das Weltgeschehen ein. Dieser Idee hat er seine These der Äquipollenz von transitiver Ursache und ihrer Wirkung zur Seite gestellt. Damit ist nicht nur gesagt, dass es außer der Schöpfung keine außernatürliche Einwirkung auf die Kausalkette als Ganzes gibt, sondern auch, dass einzelne Handlungen und Ereignisse konkret aus ihrer Ursache hergeleitet werden können und die in ihnen wirkende Kraft exakt der Kraft der Ursache entspricht. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der menschlichen Freiheit: Können die Handlungen des Menschen als frei gelten? Peter Bieri hat dies in einem Trilemma formuliert, das heute als „Bieri-Trilemma“ bekannt ist1. Es besteht aus drei heute geläufigen Grundannahmen, die je für sich genommen plausibel sind, aber nicht alle zugleich wahr sein können: 1.) Die physische Welt ist kausal geschlossen. 2.) Geistige Zustände sind radikal verschieden von physischen Zuständen. 3.) Geistige Zustände wirken auf physische Zustände ein. Es scheint, als müssten wir eines dieser Postulate aufgeben, um die anderen zwei zu retten. Doch damit bezahlen wir einen hohen Preis: Wenn wir die These der Geschlossenheit der physischen Welt ablehnen, dann kann die Seele zwar auf die Dinge nach Belieben einwirken, aber wir verlieren zugleich eine der wichtigsten Grundannahmen der Physik, die daraufhin umfassend überarbeitet werden müsste. Gleichen wir aber als radikale Materialisten die Besonderheit unseres Geistes an die Materie an, dann können wir zwar die Einwirkung von Willensakten und Entscheidungen auf die Körper erklären, aber es werden neue Probleme aufgeworfen, Subjektivität und die Einheit der Erfahrung erklären zu können. Wenn wir schließlich die Einwirkung der Seele auf die Materie aufgeben, dann bleiben drei Theorieoptionen übrig, die allesamt unattraktiv sind. Als erste Möglichkeit können wir eine Form des Okkasionalismus annehmen, bei der Gott die geistigen und materiel1

Bieri, Peter: „Generelle Einführung“, in: ders.: (Hrsg.), Analytische Philosophie des Geistes, Bodenheim 1993, 1–28.

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Teil VII: Freiheit in der Monadenlehre

len Zustände stets aneinander anpasst. Diese Position ist unattraktiv, weil sie dann mit der leibnizschen Frage konfrontiert werden kann, warum Gott eine unperfekte Welt geschaffen hätte. Nehmen wir eine epiphänomenalistische Position ein, dann stellt sich die Frage nach der Funktion mentaler Zustände überhaupt. Argumentiert man aber wie Spinoza, der Körper und Seele als zwei getrennte Attributen ein und derselben Substanz versteht, dann setzt man sich dem Vorwurf aus, dass dieser Monismus die Relation zwischen Schöpfer und Schöpfung bzw. Geschöpfen unmöglich machen würde, weil dies gerade eine echte Distinktion zwischen beiden voraussetzt. Leibniz’ Philosophie wird zumeist und zu Recht so verstanden, dass in ihr die dritte Option abgelehnt wird, da er die direkte kausale Effektivität von Willensakten und anderen mentalen Akten und Zuständen bestreitet. Seine Idee der zwei Reiche von Körper und Seele, die je ihrer eigenen Form von Kausalität unterliegen, hat diese Deutung auf den ersten Blick plausibel gemacht: Die Körper folgen den Wirkursachen, die Seelen folgen den Finalursachen. Angesichts der bisherigen Darstellung eines „orthogonalen“ Verhältnisses von Wirk- und Finalursachen dürfte sich aber abzeichnen, dass dies eine zu kurz greifende Wiedergabe von Leibniz’ Position ist. Seine Freiheitstheorie ist gleichwohl kompliziert und wird auf ein umständliches einerseits … andererseits … hinauslaufen, womit Leibniz nichtsdestotrotz dieses von Bieri so elegant formulierte Problem umschiffen kann. Kant spottet bekanntermaßen, in der leibnizschen Philosophie würde die menschliche Freiheit die „Freiheit eines Bratenwenders sein, der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet.“2 Dabei spielt Kant anscheinend auf die im Système Nouveau unterbreitete Vorstellung an, dass die Monaden gleichsam wie Uhren individuell ‚eingestellt‘ sind und unabhängig voneinander ihrem vorgegebenen Prinzip sklavisch folgen. Kant kennt Leibniz’ Idee der vollständigen Begriffe, in denen nicht nur alle wesentlichen, sondern auch alle akzidentellen Eigenschaften der Kreaturen, mithin auch alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Handlungen repräsentiert sind3. Kant stellt dem derart als deterministisch verstandenen Leibniz seine eigene Theorie der menschlichen Freiheit entgegen, die auf zwei Aspekten beruht. Erstens rekurriert Kant auf die transzendentale und unhintergehbare Freiheit des Subjekts, sich selbst kraft seiner Vernunft Maximen zu geben, und zweitens auf die metaphysische Position des Subjekts, die eigenen Handlungen spontan kausal zu beginnen, ohne dass diese wieder auf eine physisch-objektive Ursache zurückzuführen sind. Dieses Urteil soll 2

3

Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 21996, A 97. In der Leibnizrezeption galt Leibniz also lange als Vertreter eines kaum ernstgenommenen Determinismus, spricht dieser ja auch von der nécessité heureuse. Zur Rezeption von Leibniz’ Freiheitsbegriffs siehe Axelos, Christos: Die ontologischen Grundlagen der Freiheitstheorie von Leibniz, Berlin 1973, 21 ff. Axelos schreibt ebenso Kant zu, dieser würde den Begriff des „denkenden Automaten“ (KpV, A V, 101) auf Leibniz übertragen, ebd., 26 ff. Dabei übersieht er aber, dass in dieser Polemik Kants die Realisten gemeint sind, die „immer dabei beharren, Zeit und Raum für zum Dasein der Dinge an sich selbst gehörige Bestimmungen anzusehen“ (ebd.). Kant kennt Leibniz’ Schriften zu diesem Zeitpunkt gut genug, etwa den Briefwechsel zwischen Leibniz und Clarke, um ihn gerade nicht mit dieser Position zu identifizieren.

Einführung in den Problemkontext

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hier exemplarisch stehen für jede Interpretation, die Leibniz für einen Vertreter einer deterministischen Weltauffassung hält. Es gibt zwei systematische Argumente, die es auf den ersten Blick nahelegen, Leibniz als einen Deterministen anzusehen, der die Naturnotwendigkeit betont und den freien Willen ablehnt: Das erste Argument behauptet, dass die kausale Geschlossenheit der physischen Welt dem Menschen keinen Spielraum für freie Handlungen oder gar freie Entscheidungen zulässt4. Das zweite Argument besagt, dass alle Handlungen durch den vollständigen Begriff bestimmt sind, was mit der Unfehlbarkeit der göttlichen Vorsehung einhergeht. Beide Argumente laufen darauf hinaus, dass es entweder aus physikalisch-nomologischen oder theologisch-moralischen Gründen unmöglich ist, kontrafaktisch zu sagen, der Handelnde hätte anders agieren können. Im Rahmen dieser Welt, die zudem noch als die beste aller möglichen Welten immerhin moralisch notwendig ist, hätte die Handlung nicht anders ausfallen können. Auch wenn Handlungsalternativen zwar logisch möglich sind, so sind sie doch nicht wirklich möglich. Wie ist nun diese Art der Determination zu verstehen? Eine physikalistische Determination des Menschen lässt sich ausschließen. Leibniz hat mit seinem berühmten Mühlen-Beispiel dargelegt5, dass wir zu jeder physikalischen Beschreibung des Menschen immer noch eine weitere, jenseits der Physik angesiedelten Beschreibungsebene hinzunehmen müssen, da gerade die Gedanken als das essentiell Menschliche nicht im Körper anzutreffen sind und demnach nicht der transitiven Kausalität der Dinge unterliegen. Allein dieser Aspekt verhindert, dass die Lebewesen bei Leibniz auf einen Automaten reduziert werden können: Sie besitzen ein genuines, eigenständiges und unreduzierbares Innenleben, das, wie wir gesehen haben, durch Gründe jenseits aller physischen Kausalverkettungen bestimmt ist. Leibniz kann aber auch kein Epiphänomenalist sein, weil er gerade das Geistige gegenüber dem Physischen als grundlegend ansieht. Auch ein kompatibilistischer Ausweg6, der die menschliche Freiheit nicht im Widerspruch zum physikalischen Kausalnexus stehen sieht, erfordert eine Ausdifferenzierung verschiedener Freiheitsbegriffe: Freiheit kann dann gerade nicht darin bestehen, jenseits aller Kausalketten zu agieren, sondern muss in bestimmten Selbstverhältnissen begründet sein. Die Option, Freiheit mit Verweis auf genuin andere Möglichkeiten physischer Akte zu definieren, fällt unter diesen Umständen weg, denn jedes Ereignis trägt Spuren allen bisherigen Geschehens in sich und wird so durch diesen enormen Kontext an globalen, gegenwärtigen und zeitlich zurückliegenden Fakten determiniert. Anders sieht es aus, wenn man die Determinierung des handelnden Individuums auf Leibniz’ Konzept eines vollständigen Begriffs stützt, da dieser auch alle zukünftigen Handlungen des Individuums enthält und von Gott bereits vor der 4

5 6

Siehe die Debatten bei Cranston, Paull R.: „Leibniz and the Miracle of Freedom“, in: Noûs 26.3 (1992), 218–235; Davidson, Jack: „Imitators of God: Leibniz on Human Freedom“, in: Journal of the History of Philosophy 36 (1998), 380–412; Carlin, Laurence: „Leibniz on Conatus, Causation and Freedom“, in: Pacific Philosophical Quarterly 85 (2004), 365–379. Vgl. Mo, § 17, GP VI, 609. Vertreten von bspw. Sleigh Jr., Robert C.: Leibniz and Arnauld, Yale 1990, u. a.; siehe dazu Cranston: „Leibniz and the Miracle of Freedom“, a. a. O., 218.

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Schöpfung in toto eingesehen wurde. Dies ist ein Problem, das Leibniz selbst lange umgetrieben hat und sein Denken von den frühen Schriften aus der Mainzer Zeit bis zu seinem Tode mitbestimmt hat. Dieses Problem spielt eine wesentlich bedeutendere Rolle für den berühmten Ausdruck, Freiheit sei eines der zwei großen Labyrinthe des menschlichen Geistes7 als das Problem der physischen Determination im Kausalnexus. Um diese Determination durch göttliche Vorhersehung besser zu verstehen, muss wieder auf die Theorie der möglichen Welten rekurriert werden. Denn mit der göttlichen Vorhersehung der Zukunft ist nicht gemeint, dass Gott zu einem bestimmten Zeitpunkt t0 die zukünftigen Ereignisse tn, tn+1, etc. vorhersehen kann; dies bedeutet vielmehr, dass Gott die Zeitreihe als Ganze bereits in allen Details erkannt und durchdacht hat, indem er die Lebewesen aufgrund ihres vollständigen Begriffs durchdacht hat. Doch dabei gilt es, die Form der göttlichen Einsicht genau zu bestimmen: Streng genommen denkt Gott nicht in erster Linie die Handlungen der Individuen vor der Schöpfung, sondern vielmehr das Wesen des Individuums selbst, die Substanz, der alle ihre Handlungen akzidentell zukommen. Die Handlungen folgen aus dem Wesen und werden durch dieses bestimmt. Die menschliche Perspektive auf die Zukunft muss also von der göttlichen streng unterschieden werden. Der Mensch kann sich verschiedene mögliche Szenarien vorstellen, in denen unterschiedliche Ereignisse eintreten und er kann darauf hoffen, dass eines davon eintreten wird. Dabei isoliert er einzelne Aspekte der Welt und nimmt an, dass der Rest ceteris paribus gleich bleiben wird. Dabei wird auch deutlich, dass die kontrafaktische Frage nach anderen, unrealisierten Handlungsmöglichkeiten sehr eng mit der menschlichen Perspektive verknüpft ist und sich aus einer metaphysischen Perspektive, der Gottesperspektive, gar nicht so auf diese Weise stellt. Für Gott ist die Zukunft nicht eine bloß mögliche Zukunft, sondern, ebenso wie die Vergangenheit, ein Teil dieser realen Welt, ein Teil von uns selbst. Die Zukunft ist für uns Lebewesen ein noch nicht eingetretener und somit bloß äußerst schwach perzipierter Teil der Welt. Einzelne menschliche Handlungen aber sind in jedem Fall ein essentieller Bestandteil der Welt in dem Sinne, dass die Welt schlichtweg eine andere Welt wäre, wenn auch nur eine einzelne Handlung anders ausfallen würde. Ein anderer Aspekt steht dabei jedoch im Hintergrund: Es ist Leibniz’ spezifischer Begriff des Wissens, der unter anderem dazu geführt hat, dass die Frage nach menschlicher Freiheit nicht zufällig im Kontext der Schriften um die Scientia generalis erneut aufgetaucht ist. Hier ist Leibniz’ Weigerung von Bedeutung, die Eigenschaften der Individuen in essentielle und akzidentelle zu unterscheiden. Die auch für Menschen a priori einsichtigen Wesen, etwa die Gegenstände der Mathematik, können durch ihre essentiellen Attribute eingesehen werden. Die Gegenstände der 7

„Duo sunt famosi erroribus Labyrinthi quorum unus Theologos potissimum alter Philosophos exercuit; ille de libertate, hic de continui compositione; quoniam illa mentis haec corporis interiorem naturam attingit.“ Vindicatio justitiae divinae et libertatis humanae (1686) A VI, 4, 1528. Vgl. auch: „Labyrinthus prior, seu de Fato, Fortuna, Libertate. […] Labyrinthus posterior, seu de Compositione continui, tempore, loco, motu atomis, individibili et infinito.“ Guilielmi Pacidii (1676), A VI, 3, 527.

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Mathematik sind aber rein fiktionale Entitäten. Das Wissen um echte, reale Individuen, das für Menschen einen unerreichbaren Maßstab darstellt, muss diese jedoch vollständig bezeichnen können. Die Zukunft eines jeden Individuums muss in der Form gedacht werden, dass seine Handlungen und Situationen in der Zukunft ebenso essentiell seinem Wesen angehören wie die Tatsache, dass es sich (zu einer bestimmten Zeit) um einen Menschen handelt, usw. Wenn die Individuen auf eine bestimmte Weise handeln, dann werden keinesfalls bloß kontingente Eigenschaften freigelegt oder geschaffen, sondern die Lebewesen vollziehen mit jeder Handlung nichts weniger als eine Realisierung ihres eigenen Wesens. Kraft ihrer Entelechie lassen sie die Potenzialität, die sie selbst sind, zur Wirklichkeit werden. Ihre Gedanken und Entscheidungen bestimmen die Handlungen und sie gehen aus ihrem Wesen hervor, es gibt keine inklinierenden (d. i. mit Notwendigkeit ex hypothesi bestimmenden) Faktoren des Weltgeschehens jenseits der Monaden und ihren individuellen Gesetzen. Ist die menschliche Handlung denn als unfrei zu denken, wenn sie vorhersagbar ist? Nicht unbedingt, denn es ist immer noch eine Handlung, die darin besteht, dass ein Lebewesen sich gemäß seines eigenen Wesens selbst realisiert. Aber es gilt, noch mehr Faktoren dabei zu beachten. Die Freiheitsthematik ist in einem komplexen Spannungsfeld situiert, in dem fast alle Themen der leibnizschen Philosophie zusammenlaufen. Einer der Gegner, gegen die Leibniz sich wendet, ist der Epikureismus bzw. Atomismus. Leibniz versteht ihn so, dass er nicht nur eine grundlose Trennung im Kontinuum annimmt, sondern auch ein völlig grundloses Weltgeschehen postuliert und dem Satz vom Grunde widerspricht. Der Epikureismus lehnt die Willensfreiheit ab und entfaltet eine deterministische Position, die Leibniz als radikal fatalistisch einschätzt – wenn die Handlung nichts als die Konsequenz der Atombewegung wäre, dann wäre das gesamte Weltgeschehen durch den Zufall bestimmt8. Damit wäre nicht nur die Freiheit aufgehoben, sondern der Glaube an den Schöpfergott würde aufgelöst, da in einer chaotischen Welt ein guter Gott nicht mehr von einem bösen oder selbst wieder chaotischen Gott unterschieden werden könnte9. Der große Kritiker des Epikureismus ist dabei Cicero mit seinem Werk De Fato10, das Leibniz besonders geschätzt hat. Cicero weist darauf hin, dass jeder Satz, jedes Urteil wahr oder falsch sein muss und dass diese Ambivalenz nur aufgrund einer nicht rein durch Kontingenz bestimmten Welt möglich ist. Diese Idee klingt bei Leibniz in dem aus moralischer, nicht aber logischer Notwendigkeit gefällten, göttlichen fiat nach. Wie wir gesehen haben, ist dieses fiat letzter Seins- und Bestimmungsgrund allen Seins und es konstituiert Wirk- und Finalursächlichkeit überhaupt erst im Kontext einer moralischen Notwendigkeit. Deswegen ist jede Ontologie für Leibniz ohnehin schon immer deontisch: Das Universum muss als genuin normativ und sinnhaft gedacht werden, will man es nicht auf eine bloße Aggregation von Körpern reduzieren. Jedes Wesen darf sein und soll auf eine bestimmte Weise sein. Existenz und Normativität sind nicht voneinander getrennt, weil Werte und die Grade des Guten 8 9 10

Vgl. TD, Appendix III, § 19, GP VI, 420. Vgl. TD, Discours preliminaire, § 37, GP VI, 71; TD, Preface, GP VI, 29; ebenso ebd., § 177, GP VI, 220. Vgl. Axelos: Die Ontologischen Grundlagen der Freiheitstheorie, a. a. O., 5 ff.

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nicht auf Handlungen bezogen sind, sondern direkt auf ontologische Strukturen. Für Leibniz gibt es gar keinen naturalistischen Fehlschluss, weil das Sein ohnehin ein Sollen impliziert, wie auch das Sollen gar nicht unabhängig von Existenz gedacht werden kann. Hier liegt einer der fundamentalen Gegensätze zum Atomismus und zum modernen Denken der Freiheit. Verschiedene Unterscheidungen sind für die nun folgende Diskussion des leibnizschen Freiheitsbegriffs hilfreich. Zuerst einmal sollte die Freiheit Gottes von der Freiheit der Geschöpfe unterschieden werden, da Gott nicht denselben Voraussetzungen unterliegt wie die Geschöpfe. Auch wenn die Diskussion um die göttliche Freiheit einen großen Teil der Freiheitsdebatte bei Leibniz einnimmt, soll sie hier nur kurz als grundlegende Frage untersucht werden, insofern sie für die Kausalitätsproblematik, wie auch für die Teleologie der Welt, relevant ist: Sie liegt der catena rerum zugrunde und generiert diese vermittels der Substanzen final aus sich heraus. Streng genommen können die unvernünftigen Lebewesen nicht als frei bezeichnet werden, aber die ihnen allen eigene Spontaneität muss erneut aufgegriffen und untersucht werden, damit die spezifisch menschliche Freiheit in Gänze begriffen werden kann. Wenn man sich aber als Interpret zu sehr auf die Rationalität des Appetitus fokussiert, dann übersieht man dabei schnell die zentrale Bedeutung des final wirkenden Appetitus. Dabei wird die Spontaneität von Leibniz selbst dezidiert als einer der hervorstechenden Aspekte der Freiheitskonzeption benannt11. Die Problematik der Freiheit der Monade ist also in einem komplexen Verhältnis von Spontaneität, Bedingtheit durch göttliche Vorhersehung, dem vollständigen Begriff sowie der spontanen Selbstrealisierung der Monade in einem wirklichen Körper zu situieren. Spontaneität bedeutet in diesem Zusammenhang abermals: „Was nun die Spontaneität betrifft, so ist sie uns insoweit eigen, wie wir das Prinzip unserer Handlungen in uns selbst haben, wie Aristoteles sehr gut begriffen hat.“12 Auch wenn wir sagen können, dass Gott der letzte Grund der Substanzen ist und diese im Sein erhält, so können wir doch auch davon reden, dass die substanzielle Spontaneität nicht von Gott stammt, sondern der Substanz selbst entspringt. Das beinhaltet geradezu die Unmöglichkeit einer Determiniertheit der Substanz ‚von Außen‘ und demnach wird die Substanz immer Grund ihrer eigenen Handlungen sein. Es wäre ein Missverständnis, die Handlungen von den Lebewesen selbst zu unterscheiden, als ob das Lebewesen unabhängig von diesen wäre. Handlungen sind nicht nur Aspekte oder Modifikationen der Monade, sondern Momente der Selbstrealisierung, der gewissermaßen autopoietischen Realitätskonstitution der Monade. Im Rückgriff auf die in den vorherigen Teilen dargelegte Interpretation kann man folgendes ausführen: Handlungen sind Komplexe von Phänomenen und Kräften, die von der handelnden Substanz in einem als wirkursächlich zu bezeichnenden Akt der Spontaneität selbst hervorgebracht werden. Die Substanz gilt deswegen als wirkursächlich handelnd, weil ihre Spontaneität mit einem Perfektionsgewinn 11 12

Er diskutiert die Freiheit Gottes und die Wahl der besten aller Welten in einem Brief an Jacquelot und Lady Masham, September 1704: „Mon système augmente notre spontanéité et ne diminue point notre choix“, GP III, 364. „Pour ce qui est de la spontaneité, elle nous appartient entant que nous avons en nous le principe de nos actions, comme Aristote l’a fort bien compris.“ TD § 290, GP VI, 289.

Überblick über den Freiheitsbegriff bei Leibniz

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verknüpft ist. Die den Effekt dieser Handlung erleidenden Monaden bringen diesen Effekt freilich auch selbst in einem spontanen Akt hervor, der ebenso ein Akt der Selbstrealisierung ist, auch wenn wir ihn aufgrund seiner verminderten Perfektion als erlittenen Effekt bezeichnen. Will man Leibniz’ Ausweg aus dem Labyrinth der Freiheitsproblematik nachvollziehen, dann müssen diese verschiedenen Aspekte müssen in einen umfassenden Zusammenhang gebracht werden. 2. ÜBERBLICK ÜBER DEN FREIHEITSBEGRIFF BEI LEIBNIZ Leibniz’ Freiheitsbegriff wurde bereits ausgiebig diskutiert und bietet auch eine verhältnismäßig klare Textgrundlage, da die Tatsache, ob ein Text sich der Freiheitsproblematik widmet, oft schon im Titel angesprochen ist, sei es nun durch Leibniz selbst oder durch die Herausgeber. Der locus classicus ist hierbei vor allem die Theodizee (1710), die immerhin den Untertitel Von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels trägt und damit auch schon einen Teil des Problemkomplexes vorgibt, in dem der Freiheitsbegriff zu verstehen ist. Doch das ist nur die Spitze des Eisberges. Die Freiheitsproblematik wird schließlich nicht nur in diesem prominenten Spätwerk behandelt, sondern ebenso thematisch gelagert bereits in Frühwerken wie Von der Allmacht und Allwissenheit Gottes und der Freiheit des Menschen (1670–71) oder der Confessio Philosophi (1673), in denen er die Frage diskutiert, ob Gott auch die zukünftigen Entscheidungen einer Person kennen kann. Der Grund der personalen, also menschlichen Entscheidungen, ist nicht nur für unser Seelenheil von besonderer Relevanz, sondern er unterscheidet sich auch von den Verhaltensursachen der Tiere, da wir – analog zu Gott – aus Einsicht in die moralische Notwendigkeit handeln. Es finden sich zudem zahlreiche kleinere Schriften, die (zumeist von den Herausgebern) mit Titeln wie De Libertate, De Libertate Hominis oder ähnlich versehen sind; sowie eine unüberschaubare Anzahl an anderen Texten, in denen die Freiheitsproblematik wenigstens en passant angeschnitten wird. Es ist sicher nicht übertrieben, mit Nicholas Jolley zu sagen, dass keine andere Thematik Leibniz so sehr beschäftigt hat wie diese13. Ebenso ist es nicht erstaunlich, dass der Freiheitsbegriff mit zu den am besten erforschten und umstrittensten Aspekten der leibnizschen Philosophie gezählt werden kann14. Sein lebenslanges 13

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Jolley, Nicholas: Leibniz, New York 2005, 126. Dies erkennt man auch schnell an der Vielzahl von Autoren, die Leibniz in diesem Zusammenhang diskutiert: Von Bedeutung sind so unterschiedliche Werke wie Augustinus’ De Libero Arbitrio, die schon in der Kindheit gelesene lutherische Streitschrift De Servo Arbitrio oder auch Laurentius Vallas De Libero Arbitrio. Siehe dazu die Notizen zu verschiedenen Theologen über die Freiheit (vor 1695?), Grua, 359. Die Auseinandersetzung mit Leibniz’ Position reicht bis in seine Zeit zurück. Aus der neueren Zeit sollen vor allem fünf Monographien erwähnt werden: Parkinson, George H. R.: Leibniz on human freedom, Wiesbaden 1970; Enge, Torsten Olaf: Der Ort der Freiheit im Leibnizschen System, Königstein Ts. 1979.; Axelos: Die ontologischen Grundlagen der Freiheitstheorie, a. a. O.; Liske, Michael-Thomas: Leibniz’ Freiheitslehre. Die logisch-metaphysischen Voraussetzungen von Leibniz’ Freiheitstheorie, Hamburg 1993; und Yun, Sun-Koo: Die Freiheitstheorie von Leibniz, Köln 1997. Zudem ist ein Sammelband zum Verhältnis von Freiheit und Na-

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Teil VII: Freiheit in der Monadenlehre

Ringen um eine abschließende Untersuchung bezeugt, dass es auch für Leibniz schwierig war, die in zahlreichen Notizen, Thesen und Traktaten entfalteten Ideen zu einer kohärenten Position zu vereinen. Bevor dargelegt werden kann, wie die hier vertretene Lesart der Kausalität bei Leibniz dessen Freiheitskonzeption beeinflusst, soll ein kurzer Überblick die verschiedenen Entwicklungsschritte verdeutlichen, die Leibniz’ Konzeption der menschlichen Freiheit durchlief – freilich ohne Anspruch auf Vollständigkeit15. Die Auseinandersetzung mit der Freiheitsproblematik beginnt sehr früh. Bereits der 17-jährige Leibniz wurde von Luthers De Servo Arbitrio stark beeindruckt. In den Notizen zu einem Gespräch mit Thomasius stellt er fest, dass der determinierende Grund in uns der freie Wille ist. So wird Freiheit schon ganz früh als Autonomie, also Selbstgesetzgebung begriffen16. In den Demonstrationes Catholicae stellt er zum ersten Mal die Frage nach der göttlichen Vorhersehung und will sogleich zeigen, dass unsere Freiheit sich mit der göttlichen Gnade vereinbaren lässt. Die Definition der menschlichen und göttlichen Gerechtigkeit bringt das Problem der Prädestination hervor17. In einem anderen Fragment aus dieser Zeit18 wird diskutiert, ob die Vorhersehung einen Fatalismus legitimieren kann, was Leibniz entschieden ablehnt. Er fürchtet die sozialen Konsequenzen, die er dem Fatalismus zuspricht, da dieser die Möglichkeit von Belohnung und Strafe und damit den Grundstein der Gerechtigkeit aushebeln würde. Ebenso wendet er sich gegen den Molinismus und dessen Idee, dass es kontingente Ereignisse gibt, die unabhängig von Gottes Willen eintreten können. Damit lehnt Leibniz die Scientia media ab, der zufolge Gott von Dingen Kenntnisse hat, die nicht durch seinen Willen begründet sind. Im dem Brief an Wedderkopf (Mai 1671) zieht Leibniz die Konsequenzen aus dem Prinzip des zureichenden Grundes: Gott (bzw. hier: Gottes Wille) ist der Grund der Existenz der Welt, sein Intellekt ist der Grund der Essenz. Gott setzt durch seine Ideen die Notwendigkeit eines Strebens zum Besseren, was die höchste Form der Freiheit ist. Um dies mit sich in Einklang zu bringen, muss er die Sünde zulassen, so dass der Sünder durch sein Leid zur universalen Harmonie beiträgt. Freiheit wird hier noch bloß als Freiheit von Zwang konzipiert. Die Confessio Philosophi (1673) ordnet den göttlichen Willen dem Intellekt unter: Die Welt als Möglichkeit wird durch Widerspruchsfreiheit bestimmt. Leibniz konzipiert zum ersten Mal die

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turgesetzlichkeit erschienen (Rutherford, Donald P. / Cover, Jan A. (Hrsg.): Leibniz. Nature and Freedom, Oxford 2005) und es findet sich eine große Menge an Aufsätzen und Buchkapiteln. Ein Grund für diese Popularität liegt in der Ausarbeitung einer logischen Grundlage der Freiheit in Form der modalen Unterscheidung von hypothetischer und absoluter Notwendigkeit sowie einer Begründung der epistemischen Kontingenz. In diesen Punkten finden sich zahlreiche interessante Anknüpfungspunkte für die der analytischen Philosophie zugewandten Denker und es ist kein Zufall, dass sich Philosophen wie Jonathan Bennett oder Alvin Plantinga besonders für diesen Aspekt der leibnizschen Philosophie interessiert haben. Hierbei werden einige Hinweise von Gaston Gruas kurzer Einleitung zu den Schriften zur Freiheit übernommen, siehe Grua, 258–262. Siehe A VI, 1, 45, 54, 60. Brief an Arnauld, November 1671, A II, 1, 174. A VI, 1, 544 ff.

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Wahlfreiheit und erkennt diese als genuine Form der Freiheit an. Kontingenz wird als Ausschluss der absoluten Notwendigkeit konzipiert. In den späten 1670er Jahren insistiert Leibniz gegenüber dem spinozistischen Determinismus auf nicht realisierten Möglichkeiten und unterscheidet die Unmöglichkeit der Essenz von der Unmöglichkeit der Existenz, eine folgenreiche Entscheidung, die hier erneut diskutiert werden muss. In der Conversatio cum Steno (1676) definiert Leibniz die göttliche und menschliche Freiheit als Wahl des wirklichen Besten – oder wenigstens als Wahl dessen, was man in Anbetracht seines Erkenntnisvermögens für das Beste hält. In einem Brief an Malebranche aus dem Jahre 1679 gesteht Leibniz, dass er schon seit langem die Einwirkung der Körper auf die Seelen und umgekehrt ablehnt und antizipiert damit die im Système Nouveau entworfene prästabilierte Harmonie19. In den folgenden Jahren (1678 und später) beschäftigt sich Leibniz mit den rationalen Kriterien für die göttliche Willensentscheidung und publiziert mehrere Studien über die Erforschung physischer Maxima. Dies hilft ihm, in einer Analogie die Idee der Maxima auch auf den Bereich des Moralischen zu übertragen: Von allen möglichen Welten gibt es eine einzige, die eineindeutig als moralisch beste zu identifizieren ist. Damit wird ein Kriterium geliefert, mit dem Gottes Wahl der besten aller möglichen Welten eindeutig entschieden werden kann. Gott hat zwar aus freien Stücken die beste Welt geschaffen, aber er unterliegt einer hypothetisch zu nennenden Notwendigkeit. Es bleibt gleichwohl unbeweisbar, dass Gott das Beste wählen will, auch wenn er die unendliche, also unbegrenzte Kraft zu Wollen hat20 – hier bleibt dem vernünftigen Menschen nur der Sprung in den Glauben, weil ohne diese Grundannahme des Prinzips des Besten keine echte Erkenntnis möglich wäre; der Ontologie insgesamt würde ihr entscheidendes Fundament fehlen. 1686 folgt im Discours eine erste Darstellung des Ursprungs des Übels aus der Endlichkeit der Geschöpfe21 – das Übel wird dabei als Limitation der unendlichen göttlichen Perfektionen in der Schöpfung verstanden. Leibniz betont: Wenn die göttliche Freiheit die Kontingenz als Wurzel hat, dann sind die Kontingentia umgekehrt auch die Prinzipien des göttlichen Dekrets22. Das Streben (tendance) des Möglichen zur Existenz ist dem göttlichen Dekret untergeordnet und geht in die Definition der Existenz mit ein. Passend dazu wählt er theologische Formulierungen für die Spontaneität und für die Gesetze der Vorhersehung23. In De ipse natura (1698) verteidigt er die innere Handlungskraft der Geschöpfe gegen Sturm, die Okkasionalisten und Spinoza; zudem verteidigt er das menschliche Gewissen und die menschliche Spontaneität als Indiz und Bedingung für eine genuine, aus Freiheit resultierende Moral, die der Perfektion der Welt zugehört. In seiner Auseinandersetzung mit Locke in den Nouveaux Essais erläutert er, wie Freiheit eine Tendenz ohne Zwang sein kann, unter Rückgriff auf Gott auf der einen Seite und auf eine Psychologie des Willens auf der anderen: „frei zu sein, das 19 20 21 22 23

Brief vom 22. Juni 1679, A II, 1, 477. De Libertate a Necessitate in Eligendo (1680–84 [?]), 1451 ff. DM § 30, A VI, 4, 1575 ff. Siehe dazu die Diskussion in De Libertate, Fato, Gratia Dei (1686–87 [?]), A VI, 4, 1595 ff. Theologi Varii de Libertate, vor 1695 (?), Grua, 359–361.

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Teil VII: Freiheit in der Monadenlehre

bedeutet, durch die Vernunft zum Guten bestimmt zu sein“24. Leibniz kritisiert Lockes „pragmatistischen“ Freiheitsbegriff, der nur auf Resultate und Erfolge zielt und darin aufgeht, Freiheit in der Entsprechung zwischen Willen und Handlung zu sehen, d. i. darin, das tun zu können, was man will25: Wenn man der Freiheit nur die von Locke zugewiesene Bedeutung zumisst, dann ist die Frage, ob der Wille oder das Entscheidungsvermögen (arbitrium) frei seien, eine absurde Frage. In der Theodizee (1710) schließlich verteidigt er die menschliche Freiheit gegen den Skeptizismus, Determinismus und Fatalismus. Die Freiheitsproblematik ist bereits durch die Scholastiker, zurückgehend auf Augustinus, als eine Frage des Verhältnisses von Schicksal und menschlicher Freiheit thematisiert worden. Wir werden jedoch sehen, dass Leibniz eine wesentlich umfassendere Freiheitsproblematik thematisiert. Insgesamt jedoch enthält die Theodizee erstaunlich wenig neue Einsichten, da die diskutierte Position bereits in früheren Schriften vorweggenommen wurde. Es gibt also recht wenig Indizien dafür, dass der transitive Kausalnexus von Leibniz selbst als gravierendes philosophisches Problem für den Freiheitsbegriff gesehen wurde. Es scheint vielmehr so, als ob die im Hinblick auf die Verkettung physischer Ursachen geführte Debatte eine anachronistische Rückprojektion moderner Fragen auf Leibniz ist, was sie gleichwohl nicht weniger berechtigt macht. Die soeben skizzierte Textgrundlage deutet gleichwohl eher in eine andere Richtung, nämlich auf ein metaphysisches Problem des Zusammenhangs von Spontaneität und Teleologie in einer Welt, die durch Gottes Auswahl der die Wesen bezeichnenden Begriffe formal bestimmt ist. Schließlich wir haben in den vorangegangenen Teilen der Untersuchung gesehen, dass der Kausalnexus selbst ein Resultat einer nicht wieder physischen Bedingungen unterliegenden, also ursprünglichen Kraft ist, die vor allem einer eigenen Gesetzmäßigkeit, ihrem lex seriei folgt. Dieses Gesetz ist nichts anderes als die abstrakte Individualität des Lebewesens selbst, benannt durch den vollständigen Begriff, manifestiert in der substanziellen Form. Die physische Kausalverknüpfung ist eine Folge davon, aber kein ihrerseits wieder determinierender Einfluss. Es lohnt sich also, dies näher zu betrachten. Bereits im ersten Teil der Theodizee formuliert Leibniz zwei Schwierigkeiten, bei denen es klar ist, dass die Schwierigkeiten der Freiheit vor allem das Verhältnis betreffen, das der Mensch zu sich selbst hat und zu Gott als sein Grund und Ursprung: Die einen [Schwierigkeiten] entspringen aus der Freiheit des Menschen, die mit dem Wesen Gottes unvereinbar scheint; und dennoch wird die Freiheit für notwendig erachtet, damit der Mensch für schuldig und strafbar befunden werden könne. Die anderen beziehen sich auf das Verfahren Gottes und scheinen diesem einen zu großen Anteil am Dasein des Übels zuzuteilen, selbst wenn der Mensch frei wäre und auch seinen Anteil daran hätte.26 24 25 26

„Être libre, c’est être déterminé par la raison au meilleur.“ NE II, Kapitel 21, § 49 f., A VI, 6, 198 f. GP V, 160; Axelos: Die Ontologischen Grundlagen der Freiheitstheorie, a. a. O., 314; vgl. NE II, Kapitel 21. „Les unes naissent de la liberté de l’Homme, laquelle paroit incompatible avec la nature divine; et cependant la liverté est jugée necessaire, pour que l’Homme puisse être jugé coupable et

Überblick über den Freiheitsbegriff bei Leibniz

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Also ist für Leibniz keineswegs die Frage nach der kausalen Determiniertheit entscheidend, sondern die nach dem Verhältnis der Freiheit zur göttlichen Vorsehung und zur Quelle des Übels in der Welt. Es geht also um individuelle Strafbarkeit und die kosmische Sittlichkeit, also die Frage, wo der Ursprung all dessen liegt, was es Schlechtes in der Welt gibt und welche irdischen und seelischen Konsquenzen dieses hat. Menschliche und göttliche Freiheit scheinen miteinander zu konfligieren, es handelt sich um einen Konflikt zweier „Rechte“27, mit denen die Schuldfrage zusammenhängt. Die Frage nach den „Rechten“ besteht darin, ob nun dem Menschen oder Gott berechtigterweise die Schuld am Übel in der Welt zugesprochen werden kann. Die Lösung des Freiheitsproblems besteht nach Leibniz aus drei Faktoren: Ich habe gezeigt, dass die Freiheit, wie man sie in den Theologenschulen haben will, in der Einsicht besteht, die eine genaue Kenntnis des Gegenstandes der Betrachtung einschließt, ferner in der Spontaneität, mit der wir uns entscheiden, und endlich in der Kontingenz, d. h. im Ausschluss der logischen und metaphysischen Notwendigkeit. Die Einsicht ist gleichsam die Seele der Freiheit, der Rest aber gleichsam der Körper und die Grundlage.28

Leibniz wendet vor allem gegen Spinoza ein, dass die Freiheit nur in einer kontingenten Welt möglich ist, nicht in einer notwendigen Abfolge. Damit das handelnde Wesen seinen Handlungsgrund aus sich selbst hervorbringt und sich selbst bestimmt, muss es über die genannte Spontaneität verfügen. Auch Erkenntnis ist für seine Freiheit notwendig: Wenn es das Gute nicht erkennen und seinem Handeln als Ziel setzen könnte, dann würde es seinen Trieben folgen oder völlig willkürlich handeln und wäre gerade deshalb unfrei. Der Wille setzt die eigenständige und auf Einsicht gestützte Bejahung des Guten bereits voraus29 und bestimmt sich so selbst. Völlig frei bedeutet eben nicht dasselbe wie völlig unbestimmt30! Der Mensch ist als frei und damit auch potenziell als schuldig und strafbar zu befinden, nicht nur, weil eine spinozistisch-fatalistische Einstellung sonst nach Leibniz enorme soziale und politische Probleme aufwerfen würde, sondern auch, weil der als moralisch ent-schuldender Freibrief gedachte Determinismus Gott selbst seiner Gerechtigkeit berauben würde: Die Sünder blieben entweder unbestraft, da Gott sie nicht als Urheber ihrer Taten verantwortlich machen könnte, da sie keine Option zu anderen Handlungen hatten; oder Gott müsste die Sünder bestrafen, auch wenn sie gar nicht anders hätten handeln können. Die Konzeption der göttlichen Gerechtigkeit ist also immanent vom Verständnis der menschlichen Freiheit abhängig.

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punissable. Les autres regardent la conduite de Dieu, qui semblent luy faire prendre trop de part à l’existence du mal, quand même l’homme seroit libre et y prendroit aussi sa part.“ TD § 1, GP VI, 102. Ebd. „Nous avons fait voir que la liberté, telle qu’on la demande dans les Ecoles Theologiques, consiste dans l’intelligence, qui enveloppe une connoissance distincte de l’objet de la deliberation, dans la spontaneité, avec laquelle nous nous determinons, et dans la contingence, c’est à dire dans l’exclusion de la necessité logique ou metaphysique. L’intelligence est comme l’ame de la liberté, et le reste en est comme le corps et la base.“ TD § 288, GP VI, 288. „Donc vraye liberté de l’esprit consiste à reconnoistre et à choisir le meilleur“, Du franc arbitre (1678–80 [?]), A VI, 4, 1409. TD § 365, GP VI, 331.

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Schließlich wendet sich Leibniz gegen die Cartesianer, konkret gegen Bayle, die Gott allein Freiheit zusprechen.31 Leibniz distanziert sich von diesen Überlegungen und versucht in vielen Fällen, Bayle nachzuweisen, dass es sich bei dem Konflikt der Freiheit mit der Determination und der göttlichen Vorsehung nur um Scheinprobleme handelt32. Um dies nachzuvollziehen, müssen wir also den letzten Grund aller Handlungen betrachten: Gottes Wille gegenüber seiner Schöpfung. 3. FREIHEIT UND DETERMINATION Wenn Gott der allgütigste Herrscher ist, dann wird er die beste aller möglichen Entscheidungen treffen. Bereits in der Confessio Philosophi (1673) ordnet Leibniz den göttlichen Willen dem Intellekt unter, da eben auch der Wille einen Grund benötigt33: Die Welt wird in ihrer Möglichkeit durch Widerspruchsfreiheit bestimmt, erst später kommt der Aspekt dazu, dass sie in ihrer Realität aber aufgrund ihrer moralische Qualität bestimmt wird. Diese Idee einer bloß logisch möglichen Welt legt den Grundstein für große Teile seiner weiteren Gotteslehre, da so die Einsicht in die Notwendigkeit das göttliche Wahlvermögen bestimmen kann. Aber bedeutet dies nicht, dass er durch seine Einsicht in das jeweils Beste zu einer bestimmten Entscheidung gezwungen wird? Man könnte nun argumentieren, dass dies für sich genommen kein Problem für die Willensfreiheit darstellt, wenn es mehrere beste Welten geben könnte, zwischen denen sich Gott in einem Akt der Indifferenz entscheiden könnte. Doch dies wird von Leibniz bereits in seiner frühen Phase energisch bestritten. So betont er in einem kleinen Werk namens Von der Allmacht und Allwissenheit Gottes und der Menschen (1670), das auch Leibniz’ „erste Theodizee“ genannt wird, dass der Wille kein Ding an sich (ens a se) ist, sondern seinen Ursachen unterworfen ist34. Der freie Wille besteht demnach nicht in der Indifferenz, die stets ursachenlos ist und einem absoluten Willen zukommend nichts weniger als eine Monstrosität wäre35. Der Wille besteht vielmehr in der Spontaneität und die höchste Freiheit ist nichts anderes, als sich auf vollständige Weise dem Intellekt zu unterwerfen. Jede Sünde entstammt letztlich einem Fehler, das Gute zu erkennen oder zum Gegenstand seines Wollens zu machen. Die eigentliche Problematik der Freiheit scheint für Leibniz darin zu liegen, zu erklären, wie sich der Wille durch die Einsicht in das Gute bestimmt, ohne von Gott dazu determiniert zu sein. Dabei scheint es ihm nicht sehr relevant, zu fragen, ob der Wille oder Handlungen durch physische Kausalursachen mitbestimmt werden. Anfang der achtziger Jahre publiziert Leibniz mehrere Studien über die Erforschung physischer Maxima. Dies hilft ihm, in einer Analogie die Idee der Maxima auch auf den Bereich des Moralischen zu übertragen: Von allen möglichen Welten 31 32 33 34 35

TD § 3, GP VI, 103. Ebd. Siehe dazu ausführlicher Evers, Dirk: „Gottes Wahl der besten aller möglichen Welten“, in: Busche, Hubertus (Hrsg.): Klassiker Auslegen: Monadologie, Berlin 2009, 129–143. A VI, 1, 537 ff. A VI, 3, 133. Siehe auch GP VI, 321.

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gibt es eine einzige, die eineindeutig als moralisch beste zu identifizieren ist. Damit wird ein Kriterium geliefert, mit dem Gottes Wahl der besten aller möglichen Welten eindeutig entschieden werden kann: Was in allen Dingen durch das Maximum oder Minimum erforderlich gemacht wird, ist das Prinzip der Determination, damit, wenn ich mich so ausdrücken darf, durch den Minimalverbrauch die Maximalwirkung erzielt wird.36

Darauf folgt: „Aus diesem wird auf vorzügliche Weise verständlich, wie im Ursprung der Dinge eine göttliche Mathematik (mathesis divina) oder ein metaphysischer Mechanismus angewandt wird und die Bestimmung des Maximums erfolgt.“37 Gott hat zwar aus freien Stücken die beste Welt geschaffen, aber er unterliegt einer hypothetisch zu nennenden Notwendigkeit. In einem zur Freiheitsthematik zentralen Text, De Libertate et Contingentia (1680–84 [?]) greift Leibniz den vom erkennenden Wesen erforderten leap of faith auf: Da die Kraft seines Willens durch nichts begrenzt werden kann, bleibt es unbeweisbar, dass Gott das Beste wählt bzw. gewählt hat38. Wir müssen letzten Endes auf Gottes Einsicht und seinen guten Willen vertrauen, weil wir nur so das Prinzip des Besten und den Satz vom Grunde für wahr halten können und weil wir zudem nur so diese Welt als eine kontingente Welt denken können, in der Freiheit möglich ist. In De rerum originatione radicali (1697) erläutert Leibniz, durch welchen „metaphysischen Mechanismus“ die Essenzen zur Existenz streben. Ihre Realität ist in dem göttlichen Intellekt begründet, Gott selbst ist frei und gut. Leibniz insistiert, dass es ein eindeutiges Kriterium für die Maximierung des Guten geben muss, welches auch auf die Schöpfung angewandt werden kann: Die Kombination der Maxima der gedachten Perfektionen ergibt notwendigerweise genau eine ausgezeichnete Welt und Gott kann schlechthin nicht anders, als genau diese auszuwählen, denn er handelt gemäß seines Prinzips der Weisheit oder Perfektion39. Dadurch allerdings werden die unrealisierten Möglichkeiten auf bloße Begriffskombinationen reduziert, denen unmöglich eine echte Existenz entsprechen könnte. Schließlich müsste Gott gegen sein eigenes Wesen, gegen seine eigene Allgütigkeit, handeln, um diese suboptimalen Begriffskombinationen in die Welt zu setzen. Unter diesen Voraussetzungen gilt: Diese Welt ist die einzige moralisch mögliche Welt, jede andere Begriffskombination bezeichnet eine moralische Unmöglichkeit. 36

37 38

39

„Semper scilicet est in rebus principium determinationis quod a Maximo Minimove petendum est, ut nempe maximus praestetur effectus, minimo ut dicam sumtu.“ De rerum originatione radicali (1697), GP VII, 303. Vgl. auch Koslowski, Peter: „Gottes Zweck der Maximierung von Existenz bei Leibniz. Die Entdeckung des Maximierungskalküls“, in: Hermanni, Friedrich / Breger, Herbert (Hrsg.): Leibniz und die Gegenwart, München 2002, 119–138, hier: 122 f. „Ex his jam mirifice intelligitur, quomodo in ipsa originatione rerum Mathesis quaedam Divina seu Mechanismus Metaphysicus exerceatur, et maximi determinatio habeat locum.“ GP VII, 304. „Primum decretorum Dei liberorum est quod velit semper agere ad gloriam suam seu perfectissimo modo; ex quo alia decreta omnia sequuntur. Cum ergo Deus sit liber a necessitate in eligendo bono vero, etiam homo erit liber a necessitate in eligendo bono apparente, creatus scilicet ad imaginem Dei, licet semper certo eligat id quod videtur optimum. Sed haec nihil officiunt certitudini.“ De libertate et contingentia (1680–84 [?]), A VI, 4, 1452. De rerum originatione radicali (1697), GP VII, 304.

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Teil VII: Freiheit in der Monadenlehre

Jede Notwendigkeit, der das Sein und Handeln der Geschöpfe unterliegt, ist erst einmal ‚nur‘ eine moralische Notwendigkeit. So fokussiert Leibniz das Problem der Freiheit auf zwei miteinander verwobene Aspekte: Die Identität der Welt und die Bedingungen ihrer Existenz auf der einen Seite, Gottes Verstand als Ursprung der Welt auf der anderen Seite. Die Scholastiker hatten neben Spontaneität und Einsicht als Freiheitsbedingungen, die beide der aristotelischen Tradition entlehnt sind, noch eine dritte Bedingung eingeführt, die Indifferenz, gegen die sich Leibniz unbedingt wehrt. Er würde Indifferenz nur dann als Freiheitsbedingung gelten lassen, würde man sie als Kontingenz verstehen, was freilich eine gravierende Wortverdrehung wäre40. So lehnt Leibniz die Idee einer Willensfreiheit als Wahl aus einer Indifferenz heraus ab: Eine Freiheit der Indifferenz ist unmöglich, denn dies wäre eine grundlose Freiheit und mithin bloße Willkürfreiheit. Er schreibt: „Alle Handlungen sind kontingent oder ohne Notwendigkeit. Aber alles ist auch determiniert oder geregelt und es gibt keine Indifferenz“41. Es gibt immer Gründe in der Natur, aufgrund derer eine jede Entscheidung gefällt werden kann und muss42, denn es kann keine zwei moralisch gleichwertigen Entscheidungsoptionen geben. In diesem Punkt bricht Leibniz in entscheidender Weise mit der Tradition. Eine scholastische Lehrmeinung lautet: Der freie Wille besteht in einer Freiheit der Indifferenz und des Gleichgewichts, er wird also durch nichts zu einer Entscheidung gedrängt oder gar genötigt. Diesen Punkt lehnt Leibniz entschieden ab43, weil er mit dem Satz vom zureichenden Grund und dem Prinzip der Identität inkompatibel ist, nach denen es keine zwei gleichen Dinge geben kann und auch kein Gleichgewicht zwischen zwei Gründen. Jede Option weist also einen für sie einmaligen, moralischen Wert auf, der in die Gründe für Gottes Entscheidungen und in unsere Entscheidungen gemäß unserer Einsicht eingeht. Für Leibniz ist die Lehre der absoluten Indifferenz des Willens, wie sie in der scotistisch-molinistischen Tradition vertreten wird, ebenso absurd wie Epikurs Idee einer grundlosen Atombewegung – und dies aus ganz ähnlichen Gründen. Stellt man sich Buridans Esel vor, der zwischen zwei identischen Heuhaufen steht und sich mangels der Unterschiede der Heuballen nicht entscheiden kann und verhungert, dann wird im Kontext der hier dargelegten Position deutlich, dass ein solches Szenario für Leibniz undenkbar ist. Erstens kann es aufgrund des Prinzips der Identität des Ununterscheidbaren keine zwei identischen Heuhaufen geben und da jeder physische Unterschied auch einen Unterschied in der Begehrlichkeit ausmacht, ist eine solche Situation undenkbar. Zweitens wäre eine Welt, in der physische Identität derartige desaströse Konsequenzen hätte, nämlich dass bestimmte Entscheidungen prinzipiell nicht auf rationale Weise getroffen werden 40 41 42 43

Vgl. TD § 302 f., GP VI, 296 f. „Toutes les actions sont contingentes ou sans nécessité. Mais aussi tout est déterminé ou reglé, et il n’y a aucune indifférence.“ GP VII, 110. „Il y a toujours une raison prévalente qui porte la volonté à son choix, et il suffit pour conserver sa liberté, que cette raison incline, sans nécessiter“ TD § 45; siehe auch GP VII 109, TD § 302, 307, u. ö. TD §§ 45–49, GP VI, 126 ff.

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können und der Esel noch verhungern muss, weit von der besten aller möglichen Welten entfernt. Eine absolut unbegründete Entscheidung ist schlichtweg gar nicht widerspruchsfrei denkbar44 und widerspricht auch dem Wesen der Welt als rational begründete Schöpfung. Dies würde letzten Endes sogar den ontologischen Status der Welt als beste aller möglichen Welten verringern, weil so ein weder prinzipiengesteuertes, noch ordnungsproduzierendes, noch rational begründbares Element in der Welt einen dominanten Platz einnähme. Eine solche Indifferenz des Willens ist also unmöglich und ebenso eine Indifferenz der Bewegung, was für den Atomismus tiefgreifende Konsequenzen hat: Die Atome können nicht in einem gänzlich offenen Möglichkeitsraum situiert sein, in dem eine Bewegung in jede Richtung gleichermaßen möglich ist – vielmehr muss es interne und externe Gründe geben, warum eine Bewegung in eine Richtung erfolgt und nicht in eine andere. Der externe Grund ist durch transitive Verursachung gegeben; der interne Grund dagegen bewirkt, dass und wie die von außen wirkende Kraft aufgenommen wird und einen genau bestimmten Effekt hat. An diesen Beispielen sehen wir auch, dass uns die Semantik des Wortes „können“ möglicherweise in die Irre führt: Die Idee, dass wir uns in derselben Situation anders entscheiden könnten, widerspricht dem Prinzip der Identität, weil wir keine Kriterien angeben können, um diese Situation als gleichzeitig anders bzw. anderswertig, aber numerisch gleich anzunehmen. Ein solches Szenario mit zwei gleichwertigen Optionen ist unplausibel. Das hat eine gravierende Konsequenz für die Art und Weise, wie wir Freiheit denken: Jede Entscheidung ist erstens bestimmt durch ihre Gründe, wie alles andere auch; und diese Gründe liegen zweitens nicht (nur) im entscheidenden Individuum, sondern in der Situation selbst, die aus sich heraus eine optimale Entscheidungsmöglichkeit enthält. Nun wird klar, warum Leibniz sich weigert, „frei“ und „indifferent“ in einem Atemzug zu nennen: Die Idee einer möglichen Indifferenz widerspricht der Idee, dass alle Entscheidungen auf Gründen basieren müssen, da die Annahme einer möglicherweise vollständig ambivalenten Situation Entscheidungen erzwingen würde, die ohne Grund in die eine oder andere Richtung tendieren. Gewissermaßen würde so eine Entscheidung aus dem Nichts heraus bestimmt werden, was für Leibniz völlig undenkbar ist. Dies würde die Idee der Freiheit schlichtweg aufheben. So setzt er das Freie gerade nicht dem Determinierten gegenüber45: Denn auch die freie Entscheidung ist durch Gründe bestimmt. Die kontrafaktisch zu formulierende Frage nach der prinzipiellen Möglichkeit einer anderen Entscheidung bei gleichen Voraussetzungen in derselben Situation scheitert am Prinzip der Identität und an dem des Grundes: Bezieht sich der auswählende Verstand auf die Umstände, dann fungieren die Umstände der Grund für die Entscheidung und dann würde – ceteris paribus – immer identisch entschieden. Gibt es keinen Grund für eine Entscheidung, dann verdient diese auch nicht die Bezeichnung, eine Entscheidung zu sein. Eine Situation wie die des Buridanschen Esels würde nicht nur eine grundlose, sondern auch eine konsequenzenlose Entscheidung evozieren, da weder die eine 44 45

Leibniz wendet sich hier gegen Molina: TD § 320, GP VI, 306. TD § 132, GP VI, 183 f.

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noch die andere Entscheidung einen Effekt auf die Zukunft haben kann, der sich von dem Effekt der abgelehnten Alternativmöglichkeit unterscheidet. Denn dazu müsste man ein symmetrisches Universum annehmen, in dem eine Handlung auf der einen Seite dieselben Konsequenzen trüge wie die auf der anderen Seite, wobei der Esel exakt in der Mitte gefangen sein müsste. Hätte aber eine Entscheidung andere Konsequenzen als ihre mögliche Alternative, dann könnte man diese Konsequenzen zum Grund machen, sich gerade für diese Option zu entscheiden und dann wären die Alternativen gerade nicht identisch. Dass eine konsequenzenlose Entscheidung aber eine absurde Vorstellung ist, das hat Leibniz hinreichend deutlich gemacht46. Wenn man also in diesem Kontext unter einer freien Entscheidung versteht, dass man sich in derselben Situation hätte anders entscheiden können, dann gilt es, zwei Arten von „können“ zu unterscheiden: Der erste Sinn von „können“ ist folgender: Ich kann mich anders entscheiden, da Ich selbst der Urheber meiner Entscheidung bin und die Entscheidung eine Art der Selbstbestimmung ist. Ich hätte auch in einem Akt der Selbstbestimmung andere Gründe und Konsequenzen wählen können und mich für eine andere Handlung entscheiden können. Doch dann wäre ich entweder nicht mehr die Person, die ich jetzt bin, weil mir andere Eigenschaften zukämen; oder aber alle beteiligten Faktoren (ich als Handelnder und die Situation als Handlungskontext) wären ceteris paribus dieselben, dann hätte ich mich gegen die in dieser Situation einzig optimalen und damit rationalen Gründe entschieden – und dann wäre meine Entscheidung schlichtweg gar nicht mehr rational zu nennen. Dieses ich kann mich anders entscheiden bedeutet: Nichts zwingt mich zu dieser Entscheidung außer meine eigene Rationalität und die Tatsache, dass die Entscheidung meinem Wesen entspricht. Ich bin der alleinige Urheber meiner Entscheidung. Der zweite Sinn liegt darin, dass ich mich gerade nicht anders entscheiden kann, da ich mich nicht aus dem Geflecht von abzuwägenden Gründen, Ursachen und Konsequenzen lösen kann. Sonst würde ich unvernünftig und damit wider meines eigenen Wesens handeln. Natürlich ist Leibniz nicht so naiv, anzunehmen, dass die Geschöpfe nicht irrational handeln können, aber darin zeigt sich gerade keine Freiheit. Ich kann mich also nicht anders entscheiden, als meine eigene Rationalität, die ein mir wesentlich zukommendes Merkmal ist, mir diese Option als die einzig rationale nahelegt und damit zum einzig möglichen Ergebnis einer rationalen Entscheidung macht. In gewisser Weise handelt es sich hierbei auch um eine Frage der Perspektive, die wir gegenüber einer Erklärung einnehmen. In einer retrospektiven Erklärung der Entscheidung hätte ich mich nicht anders entscheiden können, weil die Bestimmung meiner Entscheidung gerade den Gründen unterliegen bzw. der Einsicht folgen musste, denen sie eben unterlag. Alles andere wäre nicht frei, sondern willkürlich gewesen. In einer prospektiven Erklärung der Entscheidung kann ich mich sehr wohl anders entscheiden, weil ich es bin, der sich Gründe für die Entscheidung durch Nachdenken, Abwägen und Aussortieren zulegt. Versteht man den Möglich46

TD § 49, GP VI, 129.

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keitsbegriff auf die Autorschaft bezogen, so wird eine Möglichkeit suggeriert, die in kontrafaktischen Konditionalsätzen formuliert werden kann: Wenn ich x gewusst hätte, dann hätte ich auch y gewählt. Als bloßer Modalbegriff aber zeigt sich die Möglichkeit in der Analyse als moralisch bestimmt (inkliniert), da es zu der dekontextualisiert betrachteten Entscheidung zwar logische Alternativen gibt, keinesfalls aber echte, ‚lebendige‘ Alternativen, die nicht meine moralische Integrität untergraben hätten. Leibniz vertritt diese Position schon sehr früh, doch hier soll dieses Argument anhand eines späteren Textes erläutert werden. Wenn Sie die Freiheit für ein Wahlvermögen halten, das unabhängig von seinem Gegenstand ist (une faculté de choisir sans sujet), [dann] bekenne ich, dass diese nicht mehr mit dem Verstand und der Wahrheit versöhnt werden kann. Das habe ich in meiner Theodizee erklärt. Eine solche Freiheit ist unmöglich und bestreitet das große Prinzip des Grundes, wie auch das Leere, die Atome, das Harte und die perfekte Flüssigkeit: Dieses Prinzip [aber] erlaubt es uns, eine allgemeine und auf Beweise gestützte Philosophie zu etablieren.47

Die Theodizee wird hier explizit als Referenzwerk für diese Thematik ausgewiesen und es wird ein Bogen zu den unmöglichen Annahmen über die Natur gespannt. Freiheit als grundlose Kontingenz wäre reine Willkür. Zudem ist bemerkenswert, dass die Frage nach der Freiheit analog zu der Frage nach der Beschaffenheit der Materie zu denken ist und dies auch eine Parallelität beider Labyrinthe andeutet. Der Satz vom zureichenden Grund dient dabei als Leitprinzip, mit dem eine mögliche Antwort auf die Frage nach der Freiheit oder der Materie kompatibel sein muss und so eine Anzahl von hypothetischen Denkkonstrukten bereits ausschließt. Leibniz hat die Unterscheidung zwischen absoluter und moralischer Notwendigkeit eingeführt, um diese Problematik eines durch den göttlichen Verstand determinierten Willens zu umgehen. Gegen Spinoza insistiert Leibniz auf inexistenten Möglichkeiten und unterscheidet die Unmöglichkeit der Essenz von der Unmöglichkeit der Existenz. Die Entscheidung Gottes, diese Welt und nicht eine andere zu schaffen, muss wohl begründet, nicht aber mit logischer Notwendigkeit erzwungen sein: Ebenso wenig stellt das Vorherwissen oder die Vorheranordnung Gottes eine Notwendigkeit auf, wenngleich sie selbst auch untrüglich ist. Denn Gott sah die Dinge in der idealen Reihe der Möglichkeiten so, wie sie zukünftig beschaffen waren, und erblickte darunter den Menschen als ein freiwillig sündigendes Geschöpf; dadurch aber, dass er das Dasein dieser Reihe beschloss, hat er die Natur der Dinge überhaupt nicht verändert oder das, was zufällig war, notwendig gemacht.48

47

48

„Si vous prenez la liberté pour une faculté de choisir sans sujet, j’avoue qu’elle ne saurait être conciliée non plus avec la raison et la vérité. Je l’ai expliqué dans ma Théodicée. Une telle liberté est impossible et combat le grand principe du pourquoi, comme font aussi le vide, les atomes, le dur et le fluide parfait: et ce principe nous met en état de former une philosophie générale démonstrative.“ Brief an Nicolaus Hartsoeker, 7 Dezember 1711, GP III, 529 f. „Nec praescientia aut praeordinatio Dei necessitatem imponit, licet ipsa quoque sit infallibilis. Deus enim vidit res in serie possibilium ideali, quales futurae erant, et in iis hominem libere peccantem, neque hujus seriei decernendo existentiam, mutavit rei naturam, aut quod contingens erat necessarium fecit.“ CD, § 104, GP VI, 454.

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Entscheidend ist dabei, dass diese Unterscheidung auch eine Konsequenz für den Freiheitsbegriff hat. Denn Freiheit wird implizit dadurch so definiert: In einem Akt der Freiheit entscheidet Gott sich im Rahmen des logisch Möglichen für das moralisch Gebotene. Der Wille Gottes wird nun nicht mehr von logischer Notwendigkeit, sondern von willentlicher und in Vernunft begründeter Moralität gelenkt. Die Moralität selbst ist dabei wiederum zwar begründet, aber nicht deterministisch, da es schließlich keinen zwingenden Grund gibt, warum Gott sich nicht auch wider bessere Einsicht gegen das moralisch Gebotene entscheiden könnte. Dies wäre schlechthin unvernünftig und somit gegen das Wesen Gottes – wenn Gott seinen Willen der Einsicht in das moralisch Gebotene unterordnet, dann handelt er nicht aus einer wiederum übergeordneten logischen Notwendigkeit heraus, sondern weil diese Entscheidung seinem eigenen Wesen entspringt. Dies entspricht der bereits im frühen Brief an Wedderkopf erwähnten Idee, dass der Wille Gottes nur aus der universalen Harmonie folgen könne und aus nichts anderem, denn Wille und logische Notwendigkeit stehen in Gott in Einklang miteinander, ohne durch eine übergeordnete Instanz erzwungen worden zu sein. Absolute Notwendigkeit konstituiert so die strukturell grundlegende Rationalität der Welt; moralische Notwendigkeit wird zum Grund der Existenz der Welt49. Die Identität der Welt als die beste aller möglichen Welten hängt auch von jeder einzelnen Handlung, von jeder Existenz selbst ab, da es sich ansonsten um eine andere Welt handeln würde50. Dazu führt Leibniz eine dritte Art der Notwendigkeit ein, die hypothetische Notwendigkeit51. Damit bezeichnet er die Kontingenz der einzelnen weltlichen Fakten, die dennoch notwendigerweise folgen, da Gott sie alle vorhergesehen hat. Es handelt sich dabei also nicht um eine logische Notwendigkeit, da die Kontingenz für sich genommen widerspruchsfrei negiert werden kann; wohl aber um eine Konsequenz der moralischen Notwendigkeit, mit der sich Gott für diese Welt entschieden hat. Die Notwendigkeit der weltlichen Existenzen ist eine Folge einer bewussten Entscheidung Gottes und damit derivativ gegenüber logischer und moralischer Notwendigkeit. Es ist also gewiss, dass ein Geschöpf eine bestimmte Entscheidung trifft, aber für sich genommen ist diese Entscheidung nicht notwendig. Durch diese begriffliche Unterscheidung will Leibniz erreichen, dass Gottes Vorhersehung unabdingbar immer zutreffen wird, die Ereignisse der Welt für sich genommen aber nicht als notwendig gelten müssen.52 Zwar folgt die Identität der gesamten Welt dem moralischen Minimax-Prinzip, die Existenz der Welt hängt allerdings vom selbst unbegründeten Willen Gottes ab. Determiniert zu sein bedeutet also weder dasselbe, wie notwendig auf eine bestimmte Weise zu handeln, noch widerspricht dies der Freiheit. Damit erreicht Leibniz nicht, dass die Alternativlosigkeit der Welt aufgehoben ist. Stattdessen bewirkt diese begriffliche Differenzierung, dass sich die Fragen: 49 50 51 52

Vgl. TD § 7, GP VI, 106 f.; siehe auch: Tymieniecka, Anna T.: Leibniz’ Cosmological Synthesis, Assen 1964, 179. Vgl. bspw. TD, § 9, GP VI, 107 f. TD § 37, GP VI, 123 f. Vgl. TD § 43, GP VI, 126 f.

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Hätte es denn nicht alles auch ganz anders kommen können? Könnte ich auch ganz anders handeln als ich handele / handeln werde? so in dieser Form nicht mehr mit metaphysischer Strenge stellen lassen, sondern selbst eine weitergehende begriffliche Differenzierung erfordern. Entsprechend wird auch die Antwort auf solche Fragen komplexer ausfallen: In der einen Hinsicht, gemessen der logischen Notwendigkeit, hätte die Faktizität der Welt ganz anders beschaffen sein können, mit Ausnahme der logischen und mathematischen Wahrheiten. Nach der moralischen Notwendigkeit hätte allerdings keine andere Welt zur Existenz gelangen können, denn Gott folgt seinem selbstauferlegten moralischen Gebot, d. h. er folgt seinem Wesen darin, dass er die beste aller möglichen Welten zur Existenz führt. In hypothetischer Hinsicht ist alles insoweit notwendig, als es aus der Wahl dieser Welt folgt, was die Freiheit der Geschöpfe als Faktum mit einschließt, die Gott ja ebenfalls gewollt hat. Jede einzelne Handlung der Geschöpfe hätte für sich genommen prinzipiell anders ausfallen können, aber dann wären es andere Geschöpfe gewesen, die sie ausführen. Gott will zwar ebendiese Welt, aber nicht notwendiger-, sondern kontingenterweise.53 Denn entsprechend dem Parallelismus zwischen den beiden Reichen, dem der Endzwecke und dem der Wirkursachen, darf man begründet annehmen, dass Gott im Universum einen wirklichen Zusammenhang zwischen der Strafe oder Belohnung und der bösen oder guten Tat hergestellt hat, so dass die erste immer von der zweiten herbeigeführt wird und Tugend und Laster sich selbst ihren Lohn oder ihre Strafe verschaffen gemäß der natürlichen Abfolge der Dinge, die noch eine andere Art von prästabilierter Harmonie enthält als jene, die sich im Verkehr der Seele mit dem Körper zeigt.54

Moralische Notwendigkeit ist letzten Endes mit Freiheit identisch, denn „die Betrachtung der göttlichen Weisheit bringt uns zu dem Glauben, dass das Reich der Natur dem Reich der Gnade dient, und dass Gott als Baumeister alles so gemacht hat, wie es sich für Gott als Monarchen schickte.“55 Der Parallelismus von finalen Gründen und wirkenden Ursachen ist also kein wechselseitig gleichbewertetes System, sondern eines, in dem eine Hierarchie herrscht: Der Kausalnexus dient der finalen Ausrichtung des Weltgeschehens. Die Finalursache der gesamten Welt ist den einzelnen Wirkursachen vor- bzw. übergeordnet. So können wir die Selbstbestimmung des göttlichen Willens präziser fassen. Der Wille Gottes ist per se wirksam, d. h. in der Weise, dass die Wirkung erfolgen würde, wenn es nicht einen stärkeren Grund gäbe, der ihn hindert; denn dieser Wille geht nicht bis zur äußersten Anstrengung (ad summum conatum), weil er sonst, da Gott der Herr aller Dinge ist, viel verfehlen würde, seine volle Wirkung 53 54

55

TD § 237, GP VI, 258. „Car il y a lieu de juger suivant le parallelisme des deux regnes, de celuy des causes finales, et de celuy des causes efficientes, que Dieu a etabli dans l’univers une connexion entre la peine ou la recompense, et entre la mauvaise ou la bonne action, en sorte que la premiere soit tousjours attirée par la seconde, et que la vertu et le vice se procurent leur recompense et leur chatiment, en consequence de la suite naturelle des choses, qui contient encor une autre espece d’harmonie préetablie, que celle qui paroit dans le commerce de l’ame et du corps.“ TD § 74, GP VI, 142. TD § 112, GP VI, 164.

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Teil VII: Freiheit in der Monadenlehre hervorzubringen. Der volle und unfehlbare Erfolg gehört aber ausschließlich dem sogenannten nachfolgenden Willen an.56

Dieser nachfolgende Wille ist das gewissermaßen vektoriell zusammengesetzte Resultat aller vorhergehenden Willen, der analog zur zusammengesetzten Bewegung zu denken ist. „Daraus ergibt sich nun, dass Gott vorhergehend das Gute und nachfolgend das Beste will.“57 Diese Form der Selbstbestimmung des Willens durch sich selbst, die Leibniz seit den späteren 1670er Jahren vertritt, ist eine Form der Freiheit, die auch den intelligenten Geschöpfen zukommt (s. u.). Während die Weisheit Gottes in diesem Sinne für das Prinzip des Besten steht und so das Streben der Welt zum Besten begründet, so ist die Freiheit Gottes der Grund für die Freiheit der Geschöpfe, da sie gerade die Differenz zwischen hypothetischer und absoluter Notwendigkeit einführt und damit die Entscheidungen der Geschöpfe zu eindeutig bestimmten, nicht aber notwendigen Entscheidungen macht. Die Freiheit der Geschöpfe wiederum trägt erst zur Gerechtigkeit der Welt bei und dazu, dass die Welt überhaupt wünschenswert ist für Gott, der sie geschaffen hat, um sich an dem Glück und der Frömmigkeit der Geschöpfe zu erfreuen58. In diesem Sinne dienen auch die unbelebten Dinge und die unvernünftigen Geschöpfe dem Menschen zur Ausübung und Einübung seiner Vernunft59. Dies bedeutet zweierlei: Erstens erfüllt die Freiheit der Geschöpfe also eine wichtige Rolle für die göttliche Freiheit selbst: Die Existenz der Welt ist vor allem deshalb gerechtfertigt, weil sie den Wesen Raum und Möglichkeit gibt für ihr freies Streben zum Guten und somit zu Gott. Vernünftige Geschöpfe gibt es überhaupt nur deshalb, weil und insofern sie freie Geschöpfe sind60. Zweitens bedeutet dies für die ZweiReiche-Lehre, dass diese in theologischer Hinsicht so interpretiert werden kann: Das Reich der Natur ist der Möglichkeitsspielraum, in dem wir handeln; das Reich der Gnade besteht in der unmittelbaren Evaluierung, Belohnung und Bestrafung dieser Handlungen. Wäre die Freiheit der Geschöpfe tatsächlich nur die eines aufziehbaren Bratenwenders, wie Kant es nennt, so würde dies nicht nur die moralische Qualität der Welt aufheben, sondern auch Gottes Freiheit selbst hintergehen. Gott hätte sich damit nicht mehr für die beste aller möglichen Welten entschieden, denn für diese ist es ja gerade ein essentielles Merkmal, dass den Geschöpfen Vernunft zukommt und ein eigener Freiheitsraum in Form einer Selbstverwirklichung aus eigener Kraft heraus. Nur so ist die Welt tatsächlich auch die beste aller möglichen: Gott könnte zwar die Sünde aufheben und die Menschen veranlassen, nur reine Gedanken zu

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„C’est à dire, en sorte que l’effect s’ensuivroit, s’il n’y avoit pas quelque raison plus forte qui l’empêchat; car cette volonté ne va pas au dernier effort (ad summum conatum), autrement elle ne manqueroit jamais de produire son plein effect, Dieu étant le maitre de toutes choses. Le succès entier et infaillible n’appartient qu’à la volonté consequente, comme on l’appelle.“ TD § 22, GP VI, 115 f. TD § 23, GP VI, 116 f. vgl. § 25. DM § 5, A VI, 4, 1536 f. TD § 124, GP VI, 178 f. TD § 120, GP VI, 172 f.

Appetitus rationalis: Die Freiheit des Menschen

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haben, doch dies würde die Perfektion der Welt schmälern61, weil sie nicht mehr von sich aus zum Guten streben würde. Sie wäre stattdessen von dem Eingriff Gottes abhängig, und die Lobpreisung Gottes durch die vernünftigen Geschöpfe würde sich auf ein bloßes Lippenbekenntnis oder ein Marionettentheater beschränken. Ein Eingriff Gottes in die Schöpfung, immerwährend oder einmalig, wäre schließlich wider die göttliche Vernunft selbst. Um diesen Punkt deutlich zu machen und die verschiedenen Komponenten der göttlichen Entscheidung zu dieser Welt auszudifferenzieren, unterscheidet Leibniz in der Theodizee zwischen drei Arten des Willens bei Gott62: Der ursprüngliche vorhergehende Wille richtet sich auf die Güter an sich, und er wendet sich von den Übeln an sich ab, die es zu vermeiden gilt. Er entspricht der absoluten Notwendigkeit, weil er sich auf absolute Werte berufen kann. Der mittlere Wille bezieht sich auf die Verbindungen zwischen Gutem und Übel, durch diese wird das Gute zum höchsten Zweck und das Übel zum bloßen Mittel ohne eigene Daseinsberechtigung. Dies wiederum entspricht der hypothetischen Notwendigkeit. Der letztendliche Wille betrachtet das Gesamtsystem an Gutem und Übel. Mit diesem Willen wählt Gott die Welt, welche ein Maximum an Perfektionen gegenüber allen anderen Welten aufweist. Damit entscheidet er auch, ob das Übel gegenüber allem Guten gerechtfertigt ist. Der Preis, der für die Existenz der insgesamt besten aller möglichen Welten bezahlt wird, ist der, dass nicht jedes Individuum auch das beste mögliche Individuum sein kann, sondern das, welches im Rahmen der Gesamtarchitektur des Universums am Besten passt. Dieses Individuum wählt Gott mit moralischer Notwendigkeit aus. Der Willensakt gleichwohl, diese Welt auszuwählen, wurde im ersten Teil bereits als ein transzendentaler Akt bezeichnet. 4. APPETITUS RATIONALIS: DIE FREIHEIT DES MENSCHEN Wie verhalten sich die Entscheidungsmöglichkeiten des Individuums zu dieser allumfassenden, unausweichlichen und bestmöglichen Ur-Entscheidung? Bevor die menschliche Freiheit als Freiheit aus rationaler Einsicht und durch rationale Begründungen angegangen werden kann, muss zuerst die Weise untersucht werden, wie Lebewesen ihren Willen selbst steuern. Leibniz macht dies später in den Nouveaux Essais deutlich: Körperliche Handlungen und Willensakte (volitiones) folgen gleichermaßen dem Conatus63. Der Wille (voluntas) selbst ist ein Urteil über gut und schlecht64, also eine rational begründete bzw. begründungspflichtige Instanz, die dem Intellekt zugeschrieben und in einer Handlung umgesetzt wird. Er ist demnach ein rationaler Appetitus65 und somit nur uns Menschen (und anderen Vernunft61 62 63 64 65

vgl. TD § 114, GP VI, 165 f. Vgl. die Auflistung der drei Willensarten in TD § 119, GP VI, 169 f. NE II, Kapitel 21, § 5, A VI, 4, 172 f. Elementa Verae Pietatis (1677–78 [?]), A VI, 4, 1357 f. A VI, 2, 50, vgl. GP VII, 112: der Wille ist eine rationale Inklination; A II, 1, 98; A VI, 1, 457, 487: Wille ist das Streben eines denkenden Wesens. Vgl. auch: „Um endlich die Frage betreffs der Spontaneität zum Abschluss zu bringen, so muss man sagen, dass die Seele, wenn man die

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Teil VII: Freiheit in der Monadenlehre

wesen, etwa Engeln) zugänglich, da er nur dann als Wille gelten kann, wenn er über einen rationalen Grund verfügt. Wir nennen nur diejenigen Handlungen willentlich, die wir apperzipieren und auf die wir reflektieren können66, bzw.: Etwas zu wollen ist dasselbe, wie aus einem Urteil heraus nach etwas zu streben67. Dies scheint die Konsequenz zu haben, dass Tiere und andere Lebewesen über keinerlei Willen verfügen und somit auch nicht frei sein können. Doch Leibniz wehrt sich gerade gegen Descartes’ Vorstellung, dass Tiere nichts als bloße Mechanismen seien, aufgezogen wie Uhrwerke. Er setzt dieser mechanistischen Getriebenheit durch externe, transitive Ursachen die dem Individuum eigene Spontaneität entgegen, was, wie bereits dargelegt, bedeutet, dass die Substanz ihr eigenes Handlungsgesetz enthält und dass ihre Handlungen durch innere Gründe, also Vorstellungen, bestimmt werden. Doch bloße Selbstbestimmung der eigenen Handlungen durch den eigenen Appetitus reicht nicht zu wirklicher Freiheit. Dazu muss die Monade auch vernünftig sein: Der Mensch unterscheidet sich von dem Tier dahingehend, dass seine Selbstbestimmung vernünftiger Natur ist, also einerseits rationalen Prinzipien folgt und zweitens selbstdurchsichtig ist. Der Mensch ist, modern ausgedrückt, das Geschöpf Gottes, welches „das Schicksal der Freiheit auf sich nehmen muss, zu dessen ‚Natur’ es gehört, in der Natur nicht aufzugehen.“68 Der Verstand erkennt das Gute in klarer und deutlicher Weise und bejaht es somit in seiner Wahrheit automatisch. Die Vernunft erkennt moralische Wahrheiten und der Wille richtet sich auf diese Wahrheiten aus. Es liegt geradezu im Wesen der Vernunft, zu erkennen, was das Beste ist69 – immerhin hat Leibniz schon seit seinen frühen Überlegungen zur ratio das Prinzip des Grundes als ratio reddendi ausgedrückt und damit einem metaphysischen Prinzip eine normative Geltung verliehen. Die Vernunft erlegt sich selbst die Pflicht auf, eine moralische Position zu etablieren und die eigenen Handlungen mit Gründen zu legitimieren. Die Erkenntnis einer moralischen Wahrheit bringt automatisch das Streben zu dieser mit sich70, weil damit ein Grund gegeben ist, der nicht in einer unendlichen Kette von Zwecken oder gar der Abfolge von Ursachen aufgeht. Der Verstand wird durch die Einsicht in das Gute gezwungen, dieses als erstrebenswert anzunehmen. Er kann anhand der Deutlichkeit und Klarheit der Ideen und kraft einer Analyse den Unterschied zwischen bonum apparens und bonum verum

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Dinge im strengen Sinn nimmt, das Prinzip aller Handlungen und sogar ihrer Leiden in sich selbst trägt, und dass das gleiche für alle einfachen, durch die ganze Natur verbreiteten Substanzen gilt, obgleich es Freiheit nur bei den mit Vernunft begabten gibt.“ – „Enfin, pour conclure ce point de la spontanéité, il faut dire que prenant les choses à la rigueur, l’àme a en elle le principe de toutes ses actions, et même de toutes ses passions; et que le même est vrai dans toutes les substances simples, répandues par toute la nature, quoiqu’il n’y ait de liberté que dans celles qui sont intelligentes.“ TD § 65, GP VI, 138. Siehe wiederum NE II, Kapitel 21, § 5, A VI, 4, 172 f. Enumeratio Terminorum Simpliciorum (1680–85 [?]), A VI, 4, 394 f. Heintel, Erich: „Die beiden Labyrinthe der Philosophie nach Leibniz“, in: ders.: Gesammelte Abhandlungen, Bd. 5, Stuttgart 1996, 171–183, hier: 182. TD, § 316, GP VI, 303. Vgl. Bennett, Jonathan: „Leibniz’s Two Realms“, in: Rutherford, Donald / Cover, Jan. A. (Hrsg.): Leibniz. Nature and Freedom, Oxford 2005, 135–155.

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feststellen. Daraus resultiert aber noch nicht der Wille selbst: „Allein welche Vorstellung man auch immer vom Guten haben mag, so ist doch stets das Bestreben, diesem Urteil gemäß zu handeln, was meiner Ansicht nach das Wesen des Willens ausmacht, davon verschieden […]“.71 Der Wille besteht neben der Bejahung des Urteils noch in der Entscheidung, dieses Urteil als Handlungsprinzip anzunehmen. Er ist somit auch der aktive Drang zur geordneten Handlung und letzten Endes nichts weiter als der reflektierte Conatus bzw. appetitus rationalis des Menschen. Die menschliche Seele hat, ebenso wie Gottes Wille, die Möglichkeit, das Gute als für sich genommen Gutes anzuerkennen, während Tiere nur erkennen können, ob etwas je für sie gut ist. Die vernunftbegabte Seele kann das Gute zudem als Handlungsgrund für die eigenen Handlungen ablehnen, was eine Entscheidung wider die Vernunft wäre und damit schlichtweg böse, aber nichtsdestotrotz eine Option, die dem Willen zugänglich ist. Für Leibniz mindert eine solche Entscheidung den ontologischen Status der Substanz selbst, denn eine solche Seele wäre „unvollkommener und unglücklicher“72 als die, die sich entscheidet, das Gute zu bejahen. Die menschliche Seele ist die am wenigsten unvollkommene Seele im Bereich des Irdischen und folgt in ihren Handlungen einer moralischen Notwendigkeit, die direkt in ihrem eigenen Wesen begründet ist. Es liegt gerade im Wesen des Menschen, sich der vernünftigen Einsicht zu bedienen und deswegen einen höheren Vollkommenheitsgrad als alle anderen Tieren zu erreichen. Im Prinzip sind Kant und Leibniz sich hier einig: Ein Mensch, der sich in einer bewussten Entscheidung vom Guten abwendet, hintergeht seinen eigenen Status als Mensch, betrügt seine eigene Menschheit, und nähert sich damit dem Tierischen an73. Gott ist in dieser Hinsicht ein perfektes Vorbild, nach dem sich der Mensch ausrichtet, da er das Bild Gottes ist: Die Wurzel der Freiheit im Menschen ist das Bild Gottes, welches Gott aus seinem freien Willen zu schaffen gewählt hat, und er hat es eingerichtet, dass es durch nichts weniger als das Gute selbst zu solchen Überlegungen bewegt wird, welche auch durch Gott nur zum Grund seines Ruhmes ausgewählt wurden. Dabei ist es jedoch zu unterscheiden, dass der Mensch aufgrund seiner Erbsünde [in der Erkenntnis] versagen kann, Gott [jedoch] kann dies nicht.74

Die Intelligenz des Menschen verwandelt die Bestimmungsursprünge der Handlungen, die Vorstellungen, in echte Gründe und erlaubt so die Transzendenz bloßen Verhaltens hin zu echten Handlungen. Streng metaphysisch betrachtet kann man den Willen keinesfalls als Wirkursache eines physischen Geschehens begreifen kann. Nur zwischen der Vorstellung 71 72 73 74

TD, § 311, GP VI, 300 f. TD, § 312, GP VI, 301 f. Eine nicht in der Vernunft begründete Freiheit wäre nichts als eine Willkürfreiheit und durch diese würde der Mensch „das zügelloseste aller Tiere“ – „le plus indisciplinable de tous les animaux.“ TD § 313, GP VI, 302. „Radix libertatis in homine est imago divina, quod Deus scilicet eum voluit creare liberum, et fecit ut non nisi a boni proprii qua talis consideratione moveretur, quemadmodum Deus in eligendo non nisi gloriae suae rationem habet. Hoc tantum discrimen est, quod homo ex defectu originali creaturae cuiuscunque falli potest, Deus non potest.“ De Libertate (1680–84 [?]), A VI, 4, 1450 ff. Siehe auch GP VI, 414.

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des Zwecks und der des Mittels besteht ein wirkursächliches Verhältnis75. Wäre eine Vorstellung Wirkursache eines physischen Ereignisses, so würde dies die von Leibniz oft betonte Äquipollenz von Ursache und Wirkung unterlaufen und ebenso seine Annahme, dass der vollständige Effekt die vollständige Ursache enthielte. In alltagsrationaler, praxisorientierter Redeweise ist eine solche Interpretation zwar nützlich, aber streng metaphysisch betrachtet ist der konkrete Willensakt eher durch Pseudo-Kausalität qua prästabilierter Harmonie mit dem physischen Geschehen verbunden, wobei die Volition, als Conatus verstanden, zugleich der Anfang einer physischen Veränderung sein kann – eben so, wie ein Punkt Anfang einer Linie ist. Leibniz betont, dass der Körper dem Appetitus des Geistes nur deshalb folgt, weil er bereits von selbst dazu neigt, ihm gemäß der mechanischen Gesetze zu folgen76. Auch hier wird wieder der Einfluss seiner frühen Theorie der requisita deutlich, denn es klingt hier noch seine in Teil II diskutierte Feststellung nach: „es lässt sich in metaphysischer Strenge sagen, dass die Dinge, die wir Ursachen nennen, nur begleitende requisita sind.“77 Der Handlungsgrund ist als solcher nicht in den Wirkursachen zu suchen, sondern in den moralischen Evaluationen durch die Vernunft, die es dem Menschen erlauben, seine Handlungen auf ein Ziel hin auszurichten und den Einfluss der unbegründeten, irrationalen Strebungen und Neigungen auf den Willen zu beschneiden: „Niemand will, weil er will, sondern weil er glaubt, dass die Sache es lohnt.“78 Hier wird deutlich, dass nicht nur die klare und deutliche Erkenntnis des Handlungszieles entscheidend ist, sondern dieses wird auch in Relation gesetzt zu einer übergeordneten Ethik, die dieses Handlungsziel als lohnend ausweist: Die Vermehrung der Perfektion der Welt und die Mehrung des göttlichen Ruhmes. Letztlich liegt die wahre Ursache einer Handlung, die nicht als bloß physisches Geschehen, sondern als moralisch relevanter Akt gesehen werden muss, immer in der Bezugnahme auf diese göttliche Ethik. Der Wille konstituiert so seine Zielsetzungen als Motive des Guten, wie es durch den Verstand wahrgenommen bzw. gedacht wird79. Leibniz betont, dass die Handlungen des Menschen doppelt determiniert sind: Die Handlungen des Willens sind auf zweierlei Art bestimmt, durch das Vorherwissen oder Vorhersehen Gottes und dann auch durch die Beschaffenheiten der besonderen nächsten Ursache, die auf den Neigungen (inclinations) der Seele beruhen.80 75

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Vgl. „Repreaesentationem finis in anima causam efficientem esse repraesentationis mediorum in eadem“, Animadversiones (1710), Carvallo 78. Siehe dazu auch Rozemond, Marleen: „Leibniz on final causation“, in: Samuel Newlands / Larry M. Jorgensen (Hrsg.): Metaphysics and the Good: Themes From the Philosophy of Robert Merrihew Adams, Oxford 2009, 272– 294; und Carlin, Laurence: „Leibniz on Final Causes“, in: Journal of the History of Philosophy, 44.2 (2006), 217–233. Vgl. Brief an Stahl, Carvallo 139: „Non statuiter a me, corpus ideo exequi appetitum animae, quia eum percipit, (nulla enim, me judice, perceptio corpori tribui potest) sed ideo, quia ad eum exequendum jam tum mechanicis legibus fertur.“ Principia logico-metaphysica (1689 [?]), A VI, 4, 1647. „Nemo enim vult, quia vult, sed quia rem memeri putat.“ Confessio Philosophi (1672–73), A VI, 3, 124. Siehe auch TD § 51, GP VI, 130. TD § 288, GP VI, 288. „Celles [= diese Handlungen] de la volonté se trouvent déterminées en deux manières, par la

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Hier ist nicht die Rede von einer Bestimmung der Handlungen oder des Willens durch physische Ursachen, sondern vom Conatus der Zentralmonade, der erstens insgesamt dem Gesetz der Serie und damit zweitens im konkreten Falle auch seinem je vorherigen Zustand folgt. Die Serie der Modifikationen ist so strukturiert, dass die einzelnen Zustände alle harmonisch, kontinuierlich und aus internen Gründen heraus aufeinander folgen. Der Wille neigt also zum Guten, weil er seiner eigenen Struktur folgt, d. h. seinem Wesen; aber er folgt keiner Notwendigkeit, die in anderen Dingen (bspw. logischen Schlüssen) begründet liegt. Konkret folgen die verschiedenen Willensakte in einer Verkettung aufeinander, die der Verkettung der physischen Ursachen durchaus ähnlich ist: Die Perzeptionen in der Monade entstehen auseinander nach den Gesetzen des Strebens oder den Zweckursachen des Guten und des Bösen, die in geordneten oder ungeordneten bemerkbaren Perzeptionen bestehen – wie die Veränderungen der Körper und die äußeren Erscheinungen nach den Gesetzen der Wirkursachen, d. h. der Bewegungen, auseinander hervorgehen.81

Dennoch handelt es sich bei dieser Abfolge nicht um eine notwendige Abfolge, da der Wille jedes Abfolge-Gesetz jederzeit durchbrechen kann und demnach eher wie ein Wunder wirkt: Tatsächlich haben die freien oder einsichtigen Substanzen etwas Größeres und Wunderbareres in einer gewissen Nachahmung Gottes, so daß sie nicht an die bestimmten untergeordneten Gesetze des Universums gebunden sind, sondern wie durch ein eigenes Wunder (privato miraculo) allein aus dem Antrieb ihres eigentümlichen Vermögens handeln (ex sola propriae potentiae sponte agant) und in der Anschauung (intuito) einer Zweckursache der bewirkenden Kräfte den Zusammenhang und die Abfolge der Ursachen unterbrechen, die auf ihren Willen einwirken.82

Der Wille kann deshalb allen Naturgesetzen entgegenwirken, weil er sein eigenes Prinzip ist und keinen weiteren Gesetzen folgen muss: Der Geist ist der Physik gegenüber indifferent, da er nicht der physischen Notwendigkeit unterworfen ist, noch weniger der metaphysischen, das heißt, dass es keinen ihm zuweisbaren universalen Grund oder natürliches Gesetz gibt, aus dem kein wie auch immer perfekt geratenes und über den geistigen Zustand wohlinformiertes Geschöpf zusammengebracht werden kann, das mit Gewissheit schließen kann, was der Geist natürlicherweise auswählen wird […].83

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prescience ou providence de Dieu, et aussi par les dispositions de la cause particulière prochaine, qui consistent dans les inclinations de l’âme.“ TD § 365, GP VI, 331 f. „Et les perceptions dans la Monade naissent les unes des autres par les loix des Appetits, ou des causes finales du bien et du mal, qui consistent dans les perceptions remarquables, reglées ou dereglées, comme les changement des corps et les phenomenes au dehors naissent les uns des autres par les loix des causes efficientes, c’est à dire des mouvements.“ PNG § 3, GP VI, 599. „At vero Substantiae Liberae sive intelligentes majus aliquid habent, atque mirabilius ad quandam Dei imitationem; ut nullis certis Legibus universi subalternis alligentur, sed quasi privato quodam miraculo, ex sola propriae potentiae sponte agant, et finalis cujusdam causae intuitu efficientium in suam voluntatem causarum nexum atque cursum interrumpant.“ De Natura Veritatis, Contingentiae et Indifferentiae atque De Libertate et Praedeterminatione (1685– 86 [?]), A VI, 4, 1519. „Mentis indifferentia physica est, ut ne physicae quidem necessitati (nedum Metaphysicae) subsit, hoc est, ut nulla sit ratio universalis vel lex naturae assignabilis ex qua ulla Creatura

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Leibniz ist hier ganz klar, was die Asymmetrie zwischen Geist und Körper bzw. Zentralmonade und Körper angeht: „Die physische Ursache ist die einwirkende; die moralische Ursache ist die beabsichtigende. Jede moralische Ursache ist eine physische Ursache, aber nicht umgekehrt.“84 Der Bereich der Körper unterliegt den Gesetzen der Physik, wird aber auch und vor allem durch den Geist bestimmt – wie wir gesehen haben geschieht dies aus dem Grund, weil der Conatus der Ursprung aller Bewegung und Veränderung ist. Der Conatus ist, wenn er von der Vernunft gesteuert wird, nicht nur der Grund, sondern sogar das Wesen der Freiheit85. Hierin unterscheidet sich der Mensch nur aufgrund seiner Endlichkeit von Gott, weswegen er von Leibniz auch immer wieder als imago Dei bezeichnet wird86. Nur mathematische Elemente folgen mit logischer Notwendigkeit aufeinander, zwischen den numerischen Elementen einer Rechnung besteht allerdings auch nur eine bloß ideelle Differenz. Wirkliche Ereignisse gehen zwar kontinuierlich ineinander über, aber mit ihnen geht eine reale Veränderung bzw. Differenz einher, die in der ursprünglichen Aktivität der Substanz begründet ist und eine Veränderung in der in Körpern waltenden Kräftekonstellation bedeutet. Bei der Frage nach der Freiheit handelt es sich also nicht nur um die Frage, ob wir anders hätten handeln können, sondern auch und vor allem um die Frage, ob wir überhaupt handeln können. Leibniz kann mit diesem Entwurf der ursprünglich aktiven Substanz das zeitliche Aufeinanderfolgen von Ereignissen begründen. Dieses unterscheidet sich jedoch deutlich von dem Aufeinanderfolgen physischer Zustände. Leibniz betont, dass der Wille keinem weltlichen Gesetz folgt und er nicht durch nomologische Erklärungen verstanden werden kann: Wie demnach durch den freien Willen Gottes der Ablauf des Universums, so wird durch den freien Willen des Geistes der Ablauf seiner (eigenen) Gedanken verändert; wie also auf diese Weise keine Gesetze bei den Körpern, so können auch bei den Geistern keine untergeordneten allgemeinen Gesetze aufgestellt werden, die zur Vorhersage der Auswahl des Geistes hinreichen. Jedoch hindert das nicht, daß es für Gott hinsichtlich seiner künftigen Handlung eines Geistes feststeht, und insoweit auch hinsichtlich der Abfolge der Dinge, die er auswählt.87

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quantumcunque perfecta, et de statu mentis hujus edocta certo colligere possit, quid mens saltem naturaliter […] sit electura.“ Ebd., 1520 f. „Causa Physica est quae influit: Causa Moralis quae intendit. Omnis causa moralis est physica, non contra.“ A VI, 1, 27. „Freiheit wird durch den höheren Vollkommenheitsgrad konstituiert, denn „das, was im Hinblick auf die Tiere und die anderen Substanzen, die nicht mit Einsicht und Vernunft begabt sind, Spontaneität heißt, ist bei den Menschen auf einen höheren Vollkommenheitsgrad gehoben und wird Freiheit genannt.“ – „Ainsi ce qu’on appelle spontaneité dans les bestes et dans les autres substances privées d’intelligence, est elevé dans l’homme à un plus haut degré de perfection, et s’appelle Liberté.“ GP VII, 109. Siehe auch: A VI, 4, 1452. „Quoniam quemadmodum libera voluntate Dei cursus universi, ita libera voluntate mentis cursus cogitationum ejus mutatur, sic ut nullae quemadmodum in corporibus possunt, ita et in mentibus leges subalternae universales ad praedicendam mentis electionem sufficientes constitui queant. Quod tamen nihil prohibet, quin Deo quemadmodum de futuris suis actionibus, ita de futuris mentis actionibus constet, dum et seriei rerum quam elegit […].“ De Natura Veritatis (1685–86 [?]), A VI, 4, 1519.

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Es gibt keine allgemeinen, den Willen bestimmenden Gesetze, weil es auch in der Welt nichts als radikale, d. h. unreduzierbare Individuen gibt. Diese Individuen folgen alle ihrem eigenen, ebenso individuellen Gesetz, das ihr Wesen ausmacht und das auch die Abfolge der Gedanken vorgibt. So bestimmt es die Wesen direkt, während alle konkreten Naturgesetze (anders als metaphysische Prinzipien) nichts als heuristische Fiktionen des menschlichen Geistes sind, in dem Versuch, auf endliche Weise das unendlich komplexe Geschehen des Weltablaufes fassbar zu machen. Die Entscheidungen folgen aus dem Wesen der Substanz, aber auf eine Weise, die sich von uns nicht gesetzeshaft fassen lässt und deshalb wie ein Wunder ausnimmt88: Sie geschieht spontan, sie wird also durch interne und immanente Kausalität bedingt. Der Wille ist schließlich kein physisches Ereignis, so wie etwa das Heben einer Hand, sondern ein geistiges Moment, das rein der Monade zugehört, nicht aber deren Körper, auch wenn er, qua Conatus, einer körperimmanenten Tendenz zur Bewegung entspricht. Unsere Einsichtsfähigkeit wird aber durch unsere Endlichkeit begrenzt, wie auch der Vollzug physischer Handlungen durch unseren Körper begrenzt wird. Zwar ist unserer Spontaneität selbst keine Grenze gesetzt, aber unsere Handlungen müssen auf das zurückverweisen, was wir am klarsten perzipieren: Unseren Körper. Leibniz geht auf diese Problematik ein, wenn er die Frage beantwortet, warum der Mensch als imago Dei und als Spiegel des Universums sich dennoch nicht selbst als unendlich verstehen kann: Da aber das, was unsere Natur vollkommener ausdrückt, ihr auf eine besondere Weise zugehört, weil darin ihr Vermögen besteht, und weil sie begrenzt ist […], gibt es viele Dinge, die die Kräfte unserer Natur und sogar die aller begrenzten Naturen übersteigen.89

Das, was uns zugehört, ist unser Körper; unsere Begrenztheit ist nichts als die endliche Analysefähigkeit des Menschen und seine Abhängigkeit von Sinneswahrnehmungen. Könnten wir alles mit maximaler Klarheit und Deutlichkeit erkennen, so würden auch unsere Handlungen stets moralisch einwandfrei ausfallen. Wir müssten uns nicht noch einmal dafür entscheiden, uns nach solcherart deutlicher Erkenntnis auch zu richten. Die menschliche Endlichkeit ist die Ursache der eingeschränkten menschlichen Erkenntnisfähigkeit, dann an zweiter Stelle die Ursache für die Unzuverlässigkeit des Willens und somit schließlich auch die Ursache für das menschenverursachte Übel. Der Appetitus zusammen mit der Intelligenz konstituiert das menschliche Wahlvermögen – der Wille ist der appetitus rationalis. Zwar ist nicht jeder Mensch immer rational, aber dann ist er eben auch nicht in jeder seiner Handlungen frei. In diesem Sinne ist Freiheit als Autonomie im Sinne von Selbstgesetzgebung zu bezeichnen, da sich der Mensch dem Diktum des eigenen Verstandes unterwirft. Der Wille manifestiert sich in einzelnen Willensakten, die durch die jeweilige Perspektive und die damit gegebene direkte Umwelt bedingt sind. Die Willens88 89

Vgl. ähnlich Cranston: „Leibniz and the Miracle of Freedom“, a. a. O., 228. „Mais comme ce que nostre nature exprime plus parfaitement luy appartient d’une maniere particuliere, puisque c’est en cela que sa puissance consiste, et qu’elle est limitée […], il y a bien des choses qui surpassent les forces de nostre nature, et même celles de toutes les natures limitées.“ DM § 16, A VI, 4, 1554 f.

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akte sind damit zwar einerseits durch das Individuum realisiert, andererseits aber zugleich in den situativen Kontext, die individuelle Lebensgeschichte usw. eingebunden. Vermittels dieser Willensakte ist der Wille als ursprünglicher Antrieb aller Handlungen auch als Bewegungsgrund zu verstehen. Der Willensakt ist letztlich nicht in demselben Sinne frei wie der Wille: Er ist reflektiert und in Erkenntnissen gegründet. Der Wille dagegen liegt jeder Reflektion zugrunde, er ist ein reines Streben nach dem Guten und bringt die Willensakte erst hervor. Die Seelen setzen so also die Zwecke, nach denen der Körper strebt: „Die Seelen wirken nach den Gesetzen der Zweckursachen, durch Begehrungen, Zwecke und Mittel“90. Die Zweckursachen werden konkret durch Neigungen instanziiert, wobei Leibniz unmerkliche, merkliche und deutliche Neigungen (appetitus) voneinander unterscheidet91. Unmerkliche Neigungen sind nicht willentlich, sondern eher den äußeren Bestimmungen des Willens zuzuschreiben, da sie nicht reflektiert werden92. In diesem Sinne können verschiedene, widerstrebende Neigungen den Willen insoweit bestimmen, dass dieser einen bestimmten Willensakt hervorbringt. Streng genommen bringen diese Neigungen auch die einzelnen Übergänge zwischen den Perzeptionen hervor93 und müssen deshalb als einzelne Ausprägungen des Appetitus gelten, als einzelne Conatus (Plural): Die einzelne Volition ist der Conatus, der aus der Betrachtung des Guten entspringt94. Auch hier können wir auf die bereits erläuterte Umsetzung des Conatus als einzelner Handlungsimpuls in einen Impetus als Handlungsausführung zurückgreifen. Selbst wenn die physischen Ursachen die Handlungen unseres Körpers bestimmen, bilden uns wir ein [!], dass unsere Seele die bewirkende Ursache der Bewegung unserer Arme sei, obgleich diese nicht weiß, weder wo sich die Nerven befinden, die diese Bewegung herbeiführen müssen, noch wo die Lebensgeister zu suchen sind, die in diesen Nerven fließen müssen.95

Wie sich die Seele einen Körper zuschreibt, so schreiben wir unserem Körper auch die Seele als Ursache dessen Bewegungen zu, wenn die Bewegungen des Körpers dem Willen der Seele entsprechen. Die Seele ist dabei nicht im strengen Sinne die Wirkursache der Bewegungen, weil es eine prästabilierte Harmonie zwischen Seele und Körper gibt, die auf die Harmonie zwischen den jeweils zugrundeliegenden Monaden zurückgeht. Aber so wie wir uns unseren Körper zuschreiben und selbst die Trennung zwischen Innen 90 91 92 93 94

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„Les ames agissent selon les loix des causes finales par appetitions, fins et moyens.“ Mo § 79, GP VI, 620. NE II, Kapitel 21, § 42, A VI, 6, 194; vgl. TD § 64, GP VI, 137 f. Ebd. Vgl. PNG § 3, GP VI, 599; Mo § 79, GP VI, 620. „Voluntas est conatus agendi ad externa ortus ex cogitatione.“ De Affectibus (1679), A VI, 4, 1411; ähnlich C, 498. Siehe auch: Die Volition ist ein uns zum Handeln antreibender Conatus, dessen wir uns bewusst sind. „Voluntas est conatus agendi cujus conscii sumus.“ De Libertate et Necessitate (1680–84 [?]), A VI, 4, 1444. „Nous nous figurons que nôtre ame est la cause efficiente du mouvement de nos bras, quoiqu’elle ne sache ni où sont les nerfs qui doivent servir à ce mouvement, ni où il fautr prendre les esprits animaux qui doivent couler dans ces nerfs.“ TD § 401, GP VI, 354 f.

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und Außen vollziehen, erscheint es uns natürlich so, als ob es ein Willensakt wäre, der den Körper bewegt. Von „innen“, aus der Ich-Perspektive heraus betrachtet stellt sich die Freiheit der Substanz anders dar als von „außen“, wenn die transitive Kausalität der Körperwelt als Maßstab dient oder wenn man eine metaphysisch strenge Perspektive auf die Substanzen einnimmt. Auf dieser Differenz gründet in letzter Instanz die Kompatibilität von Vorhersehung, Prädetermination und der Freiheit der Substanz. Es wird nun deutlich, dass wir die Frage, ob der Mensch bei Leibniz frei ist oder nicht, gar nicht unabhängig von der Frage beantworten können, welche Rolle die Freiheit für den Menschen und für die Schöpfung als Ganzes spielt. Leibniz ist schließlich stets überzeugt davon, dass jeder Aspekt der Welt einen Nutzen hat, der in einem göttlichen Motiv begründet ist. In diesem Sinne hat auch die menschliche Freiheit einen Nutzen. Leibniz macht dies deutlich: Eine nicht in der Vernunft begründete Freiheit würde den Menschen jeder Belehrbarkeit, ja der rationalen Diskursivität schlechthin entheben und wäre den Menschen mehr schädlich als nützlich, weil der Verstand die Güte der Dinge nicht kräftig genug darstellen würde, um dem Willen die Kraft der Ablehnung zu nehmen. Es würde daher unendlich besser für den Menschen sein, wenn er immer mit Notwendigkeit durch das Urteil des Verstandes bestimmt würde, als wenn es dem Willen gestattet wäre, dessen Tätigkeit aufzuheben: Denn durch dieses Mittel würde der Mensch leichter und sicherer zum Ziel kommen.96

Eine solche Formulierung macht ersichtlich: Die Freiheit dient dem Menschen letzten Endes als Mittel zu einem weiteren Zweck. Von den Ideen eines Kant, Fichte oder Schelling, die in der Freiheit den letzten unaufhebbaren oder unreduzierbaren Grund des Menschen sehen, ist Leibniz hier weit entfernt. Hierbei ist es interessant zu bemerken, dass Leibniz in der Theodizee97 diese zuerst gegen Molina und Descartes ausgerichteten Freiheitsdebatte zu einem Angriff auf die Atomisten verwandelt, um dann daran anschließend Platons Konzept der Selbstbewegung (to; aujtokivneton) positiv aufzugreifen, also die Gegenüberstellung der selbstbewegten Seele zu der passiven Materie98. An dieser Stelle schließt der Freiheitsbegriff direkt an die Diskussion der Materialität der Welt an: Die einzige Theorie, die einen unbegründeten Bewegungsursprung postuliert, ist der Atomismus, der das Sein auf ein Zusammenspiel zweier Prinzipien reduziert, das Seiende und das Nichts. Hier fehlen die für Leibniz’ Philosophie so zentralen individuellen Prinzipien des Lebendigen, die aus bereits erörterten Gründen angenommen werden müssen, um Individualität, Materialität und die Schöpfung schlechthin erklären zu können. Anders als Demokrit und Leukipp haben Epikur und Karneades versucht, die Bewegung der Atome durch eine Form der Beseeltheit 96

97 98

„Une telle liberté seroit donc plus nuisible qu’utile aux hommes, parce que l’entendement ne representeroit pas assés bien toute la bonté des objets, pour oster à la volonté la force de la rejection. Il vaudroit donc infiniment mieux à l’homme qu’il fût tousjours necessairement determiné par le jugement de l’entendement, que de permettre à la volonté de suspendre son action: car par ce moyen il parviendroit plus facilement et plus certainement à son but.“ TD § 313, GP VI, 302 f. Hier TD § 319 ff., GP VI, 305 f. TD § 323, GP VI, 308.

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zu retten. Der Atomismus dieser Prägung hat jedoch auf die Gegenüberstellung von Seele und Materie verzichtet, was die klassischen Gegenpositionen zum Atomismus, den aristotelischen Hylemorphismus und den Neuplatonismus, für Leibniz so attraktiv gemacht hat. Die Gegenüberstellung von Ideen und Materie oder von Seele und Materie erlaubt es auch, das formale Prinzip von der Materie getrennt zu denken, was das Durchdenken der Welt durch Gott vor der Schöpfung und somit deren größtmögliche Begründetheit und Perfektion erlaubt; ebenso ermöglicht dies eine klare Trennung von Vernunftgründen und kausalen, sinnlich-triebhaften Einflüssen. An dieser Stelle in der Theodizee scheint Leibniz also deutlich zu machen, dass er in gewisser Weise Atomismus und Spinozismus ablehnen muss, wenn er die Freiheit des Menschen annehmen will. Der Kosmos kann erst dann gut und richtig und wünschenswert sein, wenn es in ihm freie Wesen gibt. Die menschliche Freiheit hat für die Gnadenzuteilung durch Gott eine zentrale Bedeutung, da so erst die Handlungen aus dem Wesen des Handelnden selbst folgen. Damit wird ein Konzept der Gerechtigkeit eingeführt, das die Rechtfertigung von Handlungen (nur) nicht auf die zugrunde liegenden Motive zurückführt, sondern darüber hinaus auf das Wesen des Wollenden selbst abzielt: Ich meine, man ist mehr zu loben, wenn man die Handlung seinen guten Eigenschaften verdankt, und man ist umso strafbarer, je mehr man durch seine schlechten Eigenschaften dazu disponiert worden ist.99

Auf den ersten Blick ist dies für den heutigen Leser eine verwunderliche Einsicht, da ja die Lebewesen über gar keine Möglichkeiten verfügen, ihr eigenes Wesen selbst auszusuchen oder nachträglich zu bestimmen, denn dies würde entweder ein unbegründeter Akt sein oder einer, der in externer Kontingenz begründet ist. Dieser Gedanke, dass die Lebewesen durch ihr eigenes Wesen zu Gnade oder Strafe gewissermaßen verdammt sind, weil sie ihrem eigenen Wesen folgen müssen, führt dazu, dass etwa Kant die Natur des Menschen als durch einen Akt der Freiheit begründet sieht, da sonst alle Schuldzuschreibung aufgehoben wäre100. Dieser Ausweg ist für Leibniz undenkbar, weil dies der Annahme widersprechen würde, Gott habe die Welt vor der Schöpfung bereits in Gänze durchdacht. Nach Leibniz hat Gott seine Gnaden der Erlösung schon im Moment der Schöpfung verteilt und die Wesen, die nicht dem Willen Gottes gemäß handeln und dafür bestraft werden, sind im Endeffekt der Preis dafür, dass es überhaupt eine Welt und erlösungsfähige Wesen gibt.

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„Je pense qu’on est plus louable quand on doit l’action à ses bonnes qualités, et plus coupable à mesure qu’on y a eté disposé par ses qualités mauvaises.“ TD, Appendix III, § 19, GP VI, 421. 100 Vgl. Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, hrsg. von Bettina Stangneth, Hamburg 2003, BA 6 f.

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5. SCHLUSSBEMERKUNG Die Natur als das Reich der Kausalursachen entsteht aus dem Reich der Gnade als System der Finalursachen; aber in unseren Erklärungen bedingen sich Kausalursachen und Finalursachen im Bereich der Lebewesen gegenseitig. Wir verstehen uns selbst schlichtweg gar nicht, wenn wir die finale Ausrichtung des Willens verkennen; aber zugleich überfordert es uns, die konkrete finale Ausrichtung der Körper als Resultat eines für uns undurchschaubaren göttlichen Willens einzusehen. Wir können lediglich annehmen, dass dies im Allgemeinen so sein muss, ohne jedoch im Speziellen daraus eine Erklärung gewinnen zu können. Die Frage, wie Freiheit in einer kausal determinierten Welt möglich ist, verkennt einen für Leibniz entscheidenden Punkt: Die menschliche Freiheit dient der Vollkommenheit der Welt, ja sie ist deren unmittelbare Bedingung und mithin einer der Gründe, warum es die Welt überhaupt geben kann. Die Existenz freier Wesen ist ein essentielles Merkmal, nach dem diese Welt ausgewählt wird. Die Selbstbestimmung der Substanz ist eine spontane Selbstbestimmung, die keinerlei universellen Gesetzen, aber dem Wesen der Substanz selbst folgt. In diesem Sinne gibt es keine für Menschen einsichtigen Gesetze des Geistigen, wohl aber sind alle seine zukünftigen Entscheidungen in seinem Begriff eingeschlossen und damit für Gott einsichtig. Das Wunder der menschlichen Freiheit folgt zwar nicht dem natürlichen Geschehen in der Welt, aber immer noch der Natur der individuellen Substanz101. Die Willensfreiheit als Wahlfreiheit hängt nur davon ab, ob die Substanz etwas auf rationale Weise wollen kann, nicht aber davon, ob faktische Handlungen inner- oder außerhalb vorhersagbarer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge stattfinden können. Für Leibniz gilt: Nur wer die Menschen mit einem bloßen physischen Körper verwechselt und das Primat des Geistes verneint, der wird auf die Idee kommen, menschliche Handlungen würden gänzlich dem Kausalnexus unterliegen. Die Wesen sind dann frei, wenn sie ihrem rationalen Willen folgen. Folgt der Körper den nicht apperzipierten Inklinationen, also den nicht rational erkannten und begründeten Neigungen, dann kann von freien Handlungen keine Rede sein. Diese Folgebeziehung selbst unterliegt allerdings nicht der freien Wahl des Lebewesens. Hier gilt wieder, was Leibniz schon zu Gottes Willen festgestellt hat: In keines Wesens Macht steht es zu wollen, was es will. Es liegt aber in der Menschen Macht, die Harmonie der Dinge einzusehen und zu bejahen: Freilich finden wir Dinge im Universum, die uns nicht gefallen; aber bedenken wir doch, dass es nicht für uns allein geschaffen worden ist. Dennoch ist es für uns geschaffen, wenn wir weise sind: Es wird sich uns anpassen, wenn wir uns ihm anpassen, und wir werden darin glücklich sein, wenn wir es wollen.102

101 Vgl. Cranston: „Leibniz and the Miracle of Freedom“, a. a. O., 223. 102 „Nous en trouvons dans l’univers qui ne nous plaisent point; mais sachons qu’il n’est pas fait pour nous seuls. Il est pourtant fait pour nous, si nous sommes sages: il nous accommodera, si nous nous en accommodons; nous y serons heureux, si nous le voulons être.“ TD § 194, GP VI, 232.

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Teil VII: Freiheit in der Monadenlehre

Die Möglichkeit zu menschlicher Weisheit besteht darin, den Willen im Einklang mit der Natur auszurichten. Freiheit lässt sich bei Leibniz also nicht mit Rückgriff auf kontrafaktische Möglichkeiten formulieren, weil so streng genommen die personale Identität problematisiert wird, die gerade an alle in dieser Welt stattfindenden Handlungen gebunden ist. Dieses Problem wird bspw. in paradoxalen Formulierungen deutlich: „ich hätte anders handeln können – aber die Person, die anders gehandelt hätte, wäre nicht mehr mit mir identisch.“ Vielmehr rückt Leibniz seinen Freiheitsbegriff in die Nähe eines modernen Freiheitsbegriffs, der entlang einer individuellen Rechtfertigungspraxis103 konzipiert werden kann und auf der Unterscheidung von Verhalten aufgrund von Wirkursächlichkeit und Handeln aus Gründen heraus beruht: Ich bin nicht deshalb frei, weil ich hätte anders handeln können, wenn ich anders gewollt hätte, sondern ich bin deshalb frei, weil ich das Gute erkennen und dieses als Grund für meine Strebungen benennen kann. Die Tiere und Pflanzen verfügen nicht über Intelligenz bzw. Apperzeptionen und deshalb streben sie gewissermaßen „blind“ und unreflektiert zum Guten. Die freien Wesen streben dabei nicht ‚gegen‘ den kausalen Einfluss der Dinge, sondern sind im Gegenteil in das Weltgeschehen ‚eingepasst‘: Bei der Wahl zwischen verschiedenen Reihen von Ereignissen, zwischen verschiedenen möglichen Welten, hat Gott sich der höchsten Vernunft gemäß für eine bestimmte Welt entschieden, in der, wie er voraussah, die freien Geschöpfe diesen oder jenen bestimmten Entschluss, wenngleich nicht ohne seine Mitwirkung, fassen würde. Damit hat er alle Ereignisse vorweg gewiss und ein für allemal bestimmt gemacht, ohne doch die Freiheit der Geschöpfe zu beeinträchtigen. Denn seine einfache Entscheidung ändert durchaus nichts an dem Wesen der freien Naturen, die er in seinen Ideen sah, sondern führte sie nur in die Wirklichkeit über.104

Die Naturereignisse betreffen die menschliche Freiheit nicht, es gibt keinen Konflikt zwischen beiden. Die jeder Monade zugehörige Freiheit ist insoweit eine Freiheit von wirkursächlicher Determination, als sie nicht äußeren Umständen folgt, sondern ihrem eigenen Wesen. Der Intellekt führt den Menschen zu Gott, weil der Mensch nach Gründen strebt, und weil er vernunftgemäß den vollständigen Grund in Gott sucht. Gott fordert vom Menschen nur den guten Willen, der in dem Streben besteht, den Willen Gottes zu wollen105. Die Einsicht in den Willen Gottes geht einher mit der Erkenntnis der Harmonie der Natur und der Bejahung der Größe und Erhabenheit des Schöpfers. Dieses Streben zu Gott ist dem Menschen in seiner Natur eingeschrieben und der Mensch ist auf diese Weise frei zu der Einsicht in Gottes Herrlichkeit und zu ihrer Lobpreisung. Das Fundament des Glaubens ist die Einsicht, dass die Bestimmung des Weltenschicksals nicht nur unfehlbar ist, son103 Für einen solchen rechtfertigungsorientierten Freiheitsbegriff siehe bspw. Bieri, Peter: Das Handwerk der Freiheit, München 2001. 104 „Car Dieu, porté par la supreme raison à choisir entre plusieurs suites des choses ou mondes possibles celuy où les creatures libres prendroient telles ou telles resolutions, quoyque non sans son concours, a rendu par là tout evenement certain et determiné une fois pour toutes, sans deroger par là à la liberté de ces creatures: ce simple decret du choix, ne changeant point, mais actualisant seulement leur natures libres qu’il y voyoit dans ses idées.“ Fünfter Brief an Clarke, 1716, GP VII, 390. 105 DM § 36, A VI, 4, 1586 f.

Schlussbemerkung

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dern zum Guten hin geordnet ist106. Diese Ordnung besteht in den Naturprinzipien und manifestiert sich in diachroner Hinsicht im Kausalnexus. Dass der Mensch in einer geordneten und harmonischen Welt lebt, ist eine Bedingung dafür, dass es überhaupt der Einsicht fähige Menschen geben kann und damit auch eine Bedingung für menschliche Freiheit. Sowohl die immanente Kausalität, die als realitätsstiftendes Verhältnis verstanden werden kann, als auch die transitive Kausalität, die ein ordnendes, Erkenntnis ermöglichendes Verhältnis ist, dienen der Möglichkeit menschlicher Freiheit und damit auch dem Weg zu Gott.

106 Von dem Verhängnisse, Grua, 388 f.; Unbetiteltes Fragment zur Scientia generalis, GP VII, 117.

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studia leibnitiana



sonderhefte

Im Auftrag der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft e.V. herausgegeben von Herbert Breger, Wenchao Li, Heinrich Schepers und Wilhelm Totok.

Franz Steiner Verlag

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ISSN 0341–0765

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Kausalität und Teleologie sind zentrale Begriffe in der Philosophie von G. W. Leib­ niz (1646–1716). Leibniz betont immer wieder, dass das Weltgeschehen zugleich kausal und final bestimmt ist. In episte­ mologischer Hinsicht bedeutet dies, dass jedes Ereignis sowohl aus seiner Ursache als auch aus seinem Zweck heraus erklärt werden kann. Für die Ontologie gilt, dass physische Ereignisse durch Wirkursachen bestimmt sind, die ihnen zugrundelie­ genden Substanzen aber nach Perfektion streben und damit auf Ziele hin ausge­

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richtet sind. Leibniz entwickelt in diesem Zusammenhang ein komplexes philoso­ phisches System, das diese scheinbar ge­ genläufigen Ideen integrieren soll und das eine Prinzipienlehre, eine komplexe Sub­ stanzontologie, eine Theorie dynamischer Kräfte und eine Organismuskonzeption umfasst. Anders ausgedrückt: Leibniz will die galileische Mechanik mit der aristote­ lischen Substanzenlehre und der christli­ chen Schöpfungslehre versöhnen. Ansgar Lyssy macht einen Vorschlag, wie diese metaphysische Synthese zu verstehen ist.

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