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German Pages 327 [332] Year 2006
Jochen Bojanowski Kants Theorie der Freiheit
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Kants tudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Gerhard Funke, Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Thomas M. Seebohm
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
Jochen Bojanowski
Kants Theorie der Freiheit Rekonstruktion und Rehabilitierung
Walter de Gruyter · Berlin · New York
© G e d r u c k t auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISSN 0340-6059 ISBN-13: 978-3-11-018944-5 ISBN-10: 3-11-018944-5 Bibliografische
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Der Deutschen
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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < http://dnb.ddb.de > abrufbar.
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Meinen Eltern, Geschwistern und Dele
Annibale Carracci, Ercole al bivio (Herkules am Scheideweg), mit freundlicher Genehmigung der Fototeca della Soprintenden^a Speciale per il Polo Museale napoletano.
Vorwort Dieses Buch ist der Versuch, Kants Freiheitstheorie durch systematische Argumentationsanalyse zu rehabilitieren. Ich möchte zeigen, daß ein großer Teil der Einwände, die bisher gegen diese Theorie erhoben worden sind, sich auflösen lassen. Damit wende ich mich gegen das, was in der gegenwärtigen Literatur zur Willensfreiheit als Kants Theorie verhandelt wird und was ich hier den „Mythos" dieser Theorie nennen werde. Dieser Mythos hat zwei Teile. In seinem ersten Teil handelt er davon, wie Kant nach einem Ausweg aus einem Dilemma suchte. Kant wollte beides, sowohl an einem absoluten Determinismus als auch an der absoluten Freiheit des Menschen festhalten. Den absoluten Determinismus brauchte Kant, um die philosophischen Grundlagen des Newtonischen Weltbildes zu liefern, den absoluten Freiheitsbegriff, weil er glaubte, nur so die Zurechenbarkeit menschlichen Handelns sichern zu können. Statt also einen dieser Begriffe aufzugeben, suchte er einen anderen Ausweg. Weil beides zugleich in einer Welt nicht zu haben ist, hat er eine zweite, übersinnliche Welt angesetzt, in der nicht Natur- sondern Vernunftkausalität wirkt. Doch damit habe Kant das Problem nicht gelöst, sondern nur verschoben. Das Problem besteht nun darin, wie die Handlung eines Menschen als empirisches Ereignis zugleich absolut frei und absolut determiniert sein kann. Was immer diese nichtempirische Welt auch sein mag, es scheint so, als müßte man den Menschen als freies Vernunftwesen und Mitglied der nicht-empirischen Welt für sein Handeln verantwortlich machen. Als Mitglied der empirischen Welt jedoch müßte er von jeder Verantwortung freigesprochen werden, weil sein Handeln vollständig durch Naturkausalität determiniert ist und er nicht hätte anders handeln können. Die Lehre des ersten Teils dieses Mythos lautet also: Kant ist uns eine „spukfreie" Theorie schuldig geblieben, die die Interaktion beider ontologisch distinkter Welten erklären kann. Sein Ausweg ist in Wahrheit ein Unweg. Dem Mythos zufolge ist Kant entweder bereit gewesen, den Spuk in seiner Theorie hinzunehmen oder er hat ihn nicht bemerkt. Was ihm indes mit Sicherheit entgangen sein muß, ist, daß er sich auch noch innerhalb der Fundamentalbegriffe seiner Theorie in Widersprüche verstrickt hat. Von dem folgenreichsten dieser Widersprüche handelt der zweite Teil
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Vorwort
des Mythos. Demnach habe Kant bei der Begründung seiner Moraltheorie im Rahmen seiner systematischen Voraussetzungen letztlich nicht anders gekonnt, als den guten Willen als Vernunftkausalität mit einem freien Willen vollständig zu identifizieren. Unvernünftiges bzw. unmoralisches Handeln wird von ihm zur bloßen Naturdetermination herabgestuft. Auf diese Weise habe Kant entgegen seiner ausdrücklichen Überzeugung die Rede von moralisch bösen Handlungen sinnlos gemacht. Mit der moralisch bösen Handlung geht aber schließlich auch noch ihr Gegensatz, die moralisch gute Handlung, verloren. Die Lehre dieses zweiten Teils ist, daß Kants Freiheitstheorie an ihrem höchsten Punkt, der Autonomie, gerade die Grundlage dessen zerstört, wozu sie als Erklärung angetreten ist, nämlich die Zurechenbarkeit menschlichen Handelns. Um diesen Mythos zum Guten zu wenden, gibt es Auswege, die beinahe so alt sind wie der Mythos selbst. Der eine besteht darin, gegen Kant eine Seite des Dilemmas aufzugeben und den absoluten Freiheitsbegriff auf einen determinismusverträglichen, relativen Freiheitsbegriff einzuschränken. Folgt man den Vertretern dieses Freiheitsbegriffes, dann erfüllt er alle Voraussetzungen, um die Moralfahigkeit des Menschen zu sichern, und Kant könne zudem noch an seinem absoluten Determinismus festhalten. Doch mit diesem Ausweg übersieht man, daß Kant nicht irgendeine Moral im Auge hatte, sondern eine Moral, deren höchstes Prinzip ein kategorisch-gebietender Imperativ ist. Um diese Art von Verpflichtung zu rechtfertigen, das wird in dieser Arbeit deutlich werden, ist ein relativer Freiheitsbegriff nicht hinreichend, sondern ein absoluter Freiheitsbegriff ist erforderlich. Wer den absoluten gegen den relativen Freiheitsbegriff eintauscht, hat damit auch jeden rechtmäßigen Anspruch auf kategorischgebietende Sollensansprüche verloren. Der Auflösungsversuch des zweiten Teils setzt bei einer Korrektur des Autonomiebegriffs an. Das Zurechnungsproblem wird definitorisch gelöst, indem Freiheit als die Fähigkeit bestimmt wird, sich für oder gegen das moralisch Gebotene zu entscheiden. Doch auch dieser Lösungsversuch verfehlt nicht nur Geist und Buchstaben der Kantischen Theorie, er geht auch der Sache nach ins Leere, weil er über keine legitime Definitionsgrundlage verfügt. Ließe sich der Mythos vermeiden und eine Geschichte von Kants Freiheitstheorie erzählen, die spuk- und widerspruchsfrei ist, ohne auf jene Standardlösungen zurückzugreifen, dann wären wir nicht nur im Besitz einer systematisch attraktiven Freiheitstheorie, sondern es wäre zugleich das Fundament für eine Moraltheorie gelegt, deren Sollensansprüche voraussetzungslos sind. Genau diese Art von Moraltheorie und nicht etwa
Vorwort
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jede Form menschlicher Praxis ist es, die nach meiner Auffassung mit einem absoluten Freiheitsbegriff zur Disposition steht. Der Mythos jedoch sitzt tief. Er wird nicht nur in der gegenwärtigen Literatur zur Willensfreiheit, sondern auch von einem großen Teil der Kantforschung tradiert. Solange wir Kant nur so verstehen können, daß er mit dem Schluß vom Sollen aufs Können beweisen wollte, daß der Mensch frei ist, zweitens „Autonomie" hinreichend bestimmt ist als die Fähigkeit uns selbst ein Gesetz vorzuschreiben, Kant drittens mit der Unterscheidung von „Wille" und „Willkür" die Möglichkeit moralisch böser Handlungen habe sichern wollen, er viertens mit dem Begriff einer „Kausalität aus Freiheit" gegen seine eigenen systematischen Vorgaben verstoße und er schließlich fünftens von der Freiheit der theoretischen Vernunft auf die Freiheit der praktischen Vernunft geschlossen hat, solange wir Kant nicht anders als in dieser Weise verstehen können, verstellen wir uns den Weg zu einer systematisch attraktiven und konsistenten Freiheitstheorie. Läßt man einige grundlegende Spezialstudien beiseite, haben in den letzten fünfzehn Jahren, soweit ich sehe, zwei Arbeiten versucht, Kants Freiheitstheorie als Ganze zu rehabilitieren. Sie machen mit dieser Theorie ernst, ohne sich systematisch durch Zusatzannahmen und Theorieimport von ihren Grundvoraussetzungen und Argumenten zu verabschieden (Allison 1990, Willaschek 1992). An diese Arbeiten werde ich im Ansatz mit diesem Buch anknüpfen und eine Geschichte von Kants Freiheitstheorie erzählen, die spuk- und widerspruchsfrei ist. Sie beginnt mit der Einsicht, daß wir uns mit dem Bewußtsein uneingeschränkter Sollensansprüche auch unserer absoluten Freiheit bewußt werden: „Sollen" impliziert „Können". Indem wir uns als kategorisch verpflichtet erkennen, denken wir uns als absolut frei (gegen 1). Absolute Freiheit bezogen auf den Willen als das Kausalvermögen des Menschen ist nicht etwa ein Zufallsereignis, sondern die Fähigkeit, aus einem reinen Vernunftgrund heraus handeln zu können. Die Autonomie unseres Willens besteht in der möglichen Handlungswirksamkeit der reinen Vernunft, ohne daß dafür ein empirisches Bedürfnis vorausgesetzt werden müßte. Reine Vernunft ist „für sich selbst" praktisch, während reine Vernunft nicht für sich selbst theoretisch ist (gegen 2). Die Definition der Autonomie des Willens schließt die moralisch böse Handlung deshalb nicht aus, weil Kant die Fähigkeit unseres Willens im Allgemeinen und nicht etwa die Kausalität eines einzelnen Willensaktes im Besonderen bestimmt (gegen 3). Um zu beweisen, daß wir nicht nur im Handeln diesen Begriff immer schon in Anspruch nehmen, sondern auch prädeterministische Moralskepsis diesen Begriff nicht auflösen kann, reicht der Verweis auf das logische Implikationsverhältnis von „Sollen" und „Können" nicht aus.
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Vorwort
Kant setzt mit einer Kritik des menschlichen Erkenntnisvermögens an. Aus theoretischer Perspektive ist die freie Handlung ein erstursächliches Ereignis. Die Vernunftkritik zeigt uns, daß der absolute Freiheitsbegriff ebenso wie der Begriff einer unendlichen Ursachenkette ein totalisierter Verstandesbegriff ist, der sich auf der Grundlage unseres Erkenntnisvermögens nicht verwirklichen läßt. Sie zeigt aber auch, daß dieser Begriff weder im Widerspruch zu Kants metaphysisch begründeten Kausalprinzip noch zu einem iVetardeterminismus steht. Kausalität aus absoluter Freiheit ist ein widerspruchsfreier Gedanke und nicht etwa ein uns möglicher Erkenntnisgegenstand (gegen 4). Sowohl der Begriff einer praktischen Vernunft als auch die Einsicht unserer moralischen Verpflichtung geben uns einen Grund, diesen widerspruchsfreien Begriff der Erstursächlichkeit zu bejahen und ihn als ein regulatives Prinzip in bezug auf menschliches Handeln anzuwenden (gegen 5). Dieses Buch ist die der Sache nach unveränderte Fassung meiner Doktorarbeit, die im Wintersemester 2004/05 von der Albert-LudwigsUniversität in Freiburg angenommen wurde. Ich möchte meinen Freunden und philosophischen Lehrern, die die Entstehung dieses Buches mit wertvollen Anregungen und Kritik begleitet haben, danken. Die Grundprobleme dieser Arbeit habe ich von Gerold Prauss geerbt. Er hat mich, wie schon so viele, mit seiner Kantkritik zu einem Gegenentwurf herausgefordert. Insbesondere die Teile I und III müssen als eine Reaktion auf sein drittes Kant-Buch über Freiheit als Autonomie verstanden werden. Er ist zusammen mit seinen Mitarbeitern Hans-Ulrich Baumgarten, Cord Friebe und Carsten Held in den Diskussionen so konsequent, provokativ und ausdauernd gewesen, wie man es sich nur wünschen kann, wenn man den Ursprung philosophischer Schwierigkeiten aufdecken will. Daß nicht nur viel vom kantischen Geist, sondern womöglich auch ein großer Teil von seinem Buchstaben zu retten ist, haben mir Wolfgang Bartuschat in meiner Zeit in Hamburg und Otfried Höffe in Tübingen auf sehr unterschiedliche Weise demonstriert. Mehr als ich das in diesem Buch habe deutlich machen können, bin ich ihrem Ansatz gefolgt, Kant aus seinen Texten heraus gegen seine Kritiker stark zu machen. Bei Otfried Höffe hatte ich mehrfach Gelegenheit, Entwürfe zu dieser Arbeit vorzustellen. Ihm und den Diskussionsteilnehmern, vor allem aber Frank Hofmann, Jean-Christophe Merle und Nico Scarano bin ich für einige kritische Nachfragen und hilfreichen Rat dankbar. M t Volker Dieringer habe ich viele Nachmittage um eine konsistente Interpretation des Kanons und der .Religionsschrift gerungen. Meine genealogischen Überlegungen im Exkurs wie auch meine Rekonstruktion des radikal Bösen tragen die Handschrift
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dieser fruchtbaren Gespräche. Eine große Hilfe war mir auch Eva Buddeberg, die Entwürfe zu dieser Arbeit gelesen, kritisch kommentiert und ausführlich besprochen hat. Wenn es mir in der Einleitung gelungen sein sollte, Kants systematischen Ort in der gegenwärtigen Debatte um die Willensfreiheit angemessen zu bestimmen und darüber hinaus vielleicht sogar seine systematische Attraktivität für die Gegenwart in Aussicht zu stellen, so ist das auch der Auseinandersetzung mit Thomas Grundmann und Ulrich Steinvorth zu verdanken. Mein besonderer Dank gilt ferner Dorothea Frede, Ulf Lafferenz, Günter Schnitzler, Andreas Schubert und Harald Wohlrapp, die über Freiheitstheorien und Kant hinaus mir sehr wertvolle philosophische Gesprächspartner oder Impulsgeber gewesen sind, sowie Hans-Helmuth Gander und Christian Strub, die mir in der Anfangsphase meiner Arbeit eine unersetzliche Hilfe waren. Den Herausgebern dieser Reihe danke ich für die wohlwollende Aufnahe meines Textes, insbesondere Manfred Baum, dessen Kommentare mich vor einigen Unvorsichtigkeiten bewahrt haben. Bei aller Lektüre bleiben Texte übrig, die man bis ans Ende nicht weglegt, weil sie Probleme, Argumente oder Lösungen bereit halten, die sich bewähren. Dies gilt in besonderer Weise für die Arbeit über Kants Kosmologie von Brigitte Falkenburg. Die Verbindung aus eigenständiger systematischer Argumentation, hermeneutischem Gespür und Klarheit des Gedankens ist mir ein unerreichtes Vorbild geblieben. Das vierte und fünfte Kapitel verdankt Falkenburgs Untersuchung wesentliche Einsichten. Herausfordernd und wertvoll bis zum Schluß war für mich auch die Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Henry Allison, Heiner Klemme, Bernd Ludwig, Dieter Schönecker und Marcus Willaschek. Mit Nico Naeve habe ich immer schon und überall die Probleme der Kantischen Theorie erörtert. Unser Gespräch ist über die Jahre nie abgerissen, und viele Argumente, die daraus erwachsen sind, sind in meine Arbeit eingeflossen. Er hat zudem eine reife Version dieses Texts kommentiert und ihn dadurch standfester gemacht, wofür ich schließlich auch Sasha Newton danken möchte. Sie hat mich fortwährend dazu ermutigt, die Fundamentalprobleme des transzendentalen Idealismus anzugehen. Wenn ich auch letztlich die eine oder andere Antwort schuldig geblieben bin, so hat doch besonders der zweite Teil dieses Buches von ihren schwierigen Nachfragen und Anregungen sehr profitiert. New York, November 2005
Jochen Bojanowski
Inhalt Vorwort Einleitung (a) Kants Theorie der Freiheit als systematische Alternative? (b) Das Grundlagenproblem (c) Aufriß der Untersuchung
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Teil I. Absolute Freiheit als Autonomie 1. Kapitel: Willensfreiheit und Moral (a) Autonomie des Willens (b) Absolute Freiheit und uneingeschränkte Verpflichtung (c) Handlung aus Pflicht
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2. Kapitel: Faktum der Vernunft (a) Das Moralgesetz als Vernunftprodukt (b) Exposition statt Deduktion
56 60 64
3. Kapitel: Die Deduktion der Freiheit (a) Freiheit und Moralgesetz als Seins- und Bewußtseinsgrund (b) Die objektive Realität der Freiheit (c) Die Priorität moraKscher Verpflichtung
70 72 81 86
Teil II. Sind Freiheit und Pradeterminismus vereinbar? Das Kompatibilismusproblem als Vernunftantinomie 4. Kapitel: Der Streit zwischen Dogmatismus und Empirismus (a) Die Antinomie der Vernunft (b) Die Beweise i. Der Beweis des Dogmatikers ii. Der Beweis des Empiristen (c) Die Prinzipien der Streitparteien und ihr Gegenstand 5. Kapitel: Urteilsverkündung im Vernunftstreit (a) Regulatives Prinzip statt synthetischer Grundsatz (b) Das dynamische Verhältnis von Grund und Folge und die Möglichkeit nicht-empirischer Bedingungen (c) Das Noumenon als Grenzbegriff
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Inhalt
6. Kapitel: Empirischer Gebrauch des regulativen Prinzips: Die Vereinigung von Freiheit und Prädeterminismus 143 (a) Der transzendentale Grundsatz der Kausalität 146 (b) Die Vereinbarkeit des transzendentalen Kausalprinzips mit absoluter Freiheit 153 i. Denkmöglichkeit der Freiheit 155 ii. Möglicher Gegenstand der Freiheit als regulatives Prinzip ... 161 iii. Menschliche Freiheit 165 Exkurs: Kants Freiheitstheorie. Eine genealogische Skizze (a) Die „praktische Freiheit" im Kanon der reinen Vernunft i. Praktische Freiheit als empirische Freiheit ii. Praktische Freiheit als transzendentale Freiheit (b) Die Freiheitsbeweise in der Grundlegung i. Die „Deduktion des Begriffs der Freiheit" ii. Zirkelauflösung: Ein Beweis der menschlichen Freiheit? Teil III. Scheitert das Autonomiekonzept an der Unmöglichkeit moralisch böser Handlungen? 7. Kapitel: Die Reinholdkritik: Autonom aber unzurechenbar! (a) Das Zurechnungsproblem (b) Reinholds Revisionsvorschlag: Selbstbestimmung für oder gegen das Moralgesetz (c) Inkorporationsthese + Wille und Willkür: Kants Lösungsversuch? 8. Kapitel: Kants Identitätsthese. Eine Restauration (a) Das Moralgesetz als einziger notwendiger Bestimmungsgrund eines freien Begehrungsvermögens (b) Positive Freiheit als Autonomie (c) Kants Replik auf Reinhold 9. Kapitel: Absolute Freiheit und das radikal Böse (a) Das radikal Böse (b) Die menschliche Natur als radikal böse (c) Kants Freiheitstheorie als Grundlage einer qualitativen Bestimmung der menschlichen Natur Bibliographie Personenregister Sachregister
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Einleitung "Any philosophy that can be put in a nutshell belongs in one." (Hilary Putnam) In der gegenwärtigen Diskussion zur „Willensfreiheit" wird auf ihre historischen Grundlagen kaum reflektiert. Willensfreiheit ist eine Illusion, von der wir uns verabschieden müssen! Dies verkünden uns heute im sogenannten „nachmetaphysischen Zeitalter" Neurobiologen, Soziobiologen und Psychologen sowie einige naturalistisch orientierte Philosophen (Roth, 2003; Singer 2003; Dawkins 1978; Hospers 1978; Honderich 1995; Walter 1998). Mit unterschiedlichen theoretischen Mitteln argumentieren sie für dieselbe Sache, einer fundamentalen Korrektur des Menschenbildes, die uns von dem Irrglauben unserer vollkommenen Selbstmächtigkeit und absoluten Freiheit erlöst. Auf der Grundlage neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse propagieren sie einen Determinismus, aus dem sie die Notwendigkeit zu einer grundlegenden Revision unserer sozialen Praktiken ableiten, um damit der „unmenschlichen" Uberforderung des Menschen Einhalt zu gebieten. Nicht nur unsere Moral, auch das Strafrecht, die Verteilung von gesellschaftlichen Privilegien, unser System des Belohnens und Bestrafens, aber auch unsere Einstellungen zu uns selbst, wie etwa das Gefühl der Reue oder des Versagens, seien von jenem Irrtum der Willensfreiheit durchsetzt. Wer die Geschichte der Debatte kennt, vermag dieses Pathos nicht zu teilen. Die Geschichte deterministischer, selbst /Mömleterministischer Freiheitstheorien ist lang, lang auch der Abschiedsgesang auf das autonome Vernunftsubjekt. Auch zu Kants Zeit haben nicht etwa nur die britischen Empiristen Henry Home und Joseph Priestley (Home, 1751; Priestley 1777 u. 1778), sondern ζ. B. auch der Deutsche Johann Heinrich Schulz in aller Schärfe einen empirischen Determinismus vertreten, mit dem er bereits für dieselbe Korrektur des Menschenbildes eintrat. Bereits Schulz ist damals für eine Revision der sozialen Praxis eingetreten: Für eine Revision der „Sittenlehre" und des „Kriminalrechts", der Begriffe „Lob und Tadel", „Tugend und Laster", „Schuld, Zurechnung und Strafe" sowie un-
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Einleitung
serem Gefühl der „Reue" und unserer „Empfindung der Freiheit und Unabhängigkeit" (Schul^ 1783, S. 76). Ebenso wie Generationen nach ihm legt Schulz Rechenschaft ab, in welchem Sinne wir auf der Grundlage der Gültigkeit des Determinismus noch an jenen Begriffen festhalten können. Von hier aus entwickelt er seine empirische Sittenlehre und ein funktionalistisches Strafrecht mit dem Primat der Spezialprävention. Der „Täter" wird demnach als Schädling des gesellschaftlichen Zusammenlebens genau deshalb „bestraft", weil er eine Bedrohung für die Gesellschaft darstelle und ein erziehbares bzw. therapierbares Wesen sei. Daraus ergibt sich letztlich die empirisch komplizierte und hochrangige Frage, welcher Art eine „Strafe" sein muß, damit sie eine Besserung herbeiführt (.Schul^ 1783, 5. 151 ff, 159). Schulz' Auffassung entspricht damit nicht nur der vieler gegenwärtiger Naturwissenschaftler und empiristischer Philosophen, auch maßgebliche Strafrechtler werden, selbst wenn sie sich „agnostisch" nennen, Schulz grundsätzlich zustimmen B. Roxin 31997, S. 37-62). Niemand wird die Fortschritte der empirischen Wissenschaften seit Kants Zeiten leugnen wollen. Ebenso verkehrt wäre es jedoch, zu meinen, diese Fortschritte stellten uns vor prinzipiell neue Probleme und die philosophische Diskussion stünde ihnen unvorbereitet gegenüber. Vielmehr ist die Geschichte des absoluten Freiheitsbegriffs auch die Geschichte seines Gegenbegriffs. Lange bevor die empirische Basis gesichert ist, können und müssen wir uns außerhalb des Labors gewissermaßen im Begriffseyjyznment über die Implikationen eines Naturdeterminismus Klarheit verschaffen. Kant hat die Schriften jener Deterministen gekannt, Schulz' Buch sogar selbst rezensiert. Doch obgleich ihm der Gedanke eines empirischen Determinismus vertraut war, hält er an der Freiheit des Menschen fest. Kants wiederholte Auseinandersetzung mit dem Determinismusproblem in der zweiten Kritik kann daher auch als eine Reaktion auf jene Deterministen verstanden werden. Dabei geht Kant sogar soweit, hypothetisch selbst einen empirischen Determinismus vorauszusetzen, auf dessen Grundlage es möglich ist, das Verhalten des Menschen „auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis, aus [zu] rechnen", und von dessen Exaktheit auch gegenwärtige Hirnforscher noch träumen dürfen (KpV, V 99 (A 177f.); vgl. auch KrV, Β 577f.). Damit orientiert er den psychophysischen Determinismus an der Paradedisziplin der Naturwissenschaft seiner Zeit, der Astronomie, und hält dennoch am Begriff der absoluten Freiheit fest. Wer gegen Kants Theorie bloß die Fakten empirischer Wissenschaft ins Feld führt, verfehlt also sein Ziel. Will er die Herausforderung anneh-
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men, muß er die empirische Forschung ruhen lassen und sich auf die prinzipielle Dimension dieses Problems einlassen. Das bedeutet nichts anderes als Philosophie zu betreiben. Zu den Kantischen Prinzipien und seiner Theorie der Freiheit gelangen wir nur über die Kantischen Texte. In der gegenwärtigen Debatte um „die" „Willensfreiheit" sind diese Texte zu den Akten schlechter Metaphysik gelegt worden. Indes muß jeder bei genauerer Lektüre dieser Texte bemerken, daß nicht die Kantische Theorie, sondern der Mythos dieser Theorie verhandelt wird. Ein Mythos, der gepflegt wird und der aufzubrechen nur durch diesen Mythos hindurch über eine originäre Zueignung des Textes und ein intensives Kopfzerbrechen möglich ist. Eine Reihe von Untersuchungen in der Kantforschung haben gezeigt, wie systematisch ertragreich eine solche Arbeit sein kann. Man kann daher mit Recht von einem „archäologischen Aspekt" der vorliegenden Untersuchung sprechen: Es müssen die Prinzipien und Argumente freigelegt werden, die durch überkommene Interpretationen und eine uns fremd gewordene Sprache sowie unvertraute theoretische Voraussetzungen verschüttet sind. Kant wird hier nicht als ein Gesprächspartner für „das" Problem „der" Willensfreiheit herangezogen, zu dem er einige Lösungsvorschläge beisteuert. Vielmehr soll das Problem selbst von Kants Texten aus entwickelt werden. Deshalb lautet die Devise: In die spezifisch kantischen Probleme hinein und nicht etwa „das" Problem „der" Willensfreiheit lösen. Erst wenn man verstanden hat, in welcher Weise sich für Kant das Problem überhaupt stellt, wird auch seine Lösungsstrategie verständlich werden. Der Begriff der Freiheit als Erstursächlichkeit basiert auf Kants Erkenntniskritik und ist als Autonomie das höchste Prinzip seiner universalistischen Ethik. Mit der Frage nach der Freiheit rührt man also an den Fundamenten von Kants kritischem System. Sie gehört neben Gott und Unsterblichkeit zu den drei metaphysischen Grundfragen, ist als deren Grundlage eine der beiden „Angeln der Metaphysik". Wer Kants Freiheitstheorie von diesen Voraussetzungen isoliert, löst sie auf. Die Leichtfertigkeit, mit der man diese Theorie beiseite geschoben hat (vgl. £ B. Schlick 1978, S. 157; Walter 1998, S. 20-23), ist bei der allgemein anerkannten Kompliziertheit der Kantischen Texte verwunderlich. Sowohl der inneren Kritik, die Kant auf der Grundlage seiner eigenen theoretischen Vorgaben Inkonsistenzen nachweisen will, als auch der äußeren, die die Prämissen der Kantischen Theorie selbst zurückweist, mangelt es an Klarheit darüber, welche Theoriebausteine Kant für seine Freiheitstheorie benötigt, welche Funktion ihnen zukommt und welchen Anspruch er mit ihnen verbindet. Solange aber noch fundamentale Un-
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Einleitung
klarheiten auf der Bedeutungsebene bestehen, steht auch das Urteil über den systematischen Rang dieser Theorie noch aus. Die philologisch-exegetische Auseinandersetzung, von der manch einer glaubt, daß sie eine vollständige Alternative zur systematischen Auseinandersetzung darstellt und wir uns als Philosophen für eine der beiden Möglichkeiten entscheiden müßten ßarnes 1995, S. x v i i f f ) , ist in Wahrheit ihr Komplement und bildet hier die Voraussetzung für eine systematische Diskussion. Solange die gegenwärtigen Theoretiker ihre eigenen Theorien als Gegenmodell zum Kantischen Theorieentwurf verstehen, ist die Bedeutung ihrer eigenen Theorie von ihrem Verständnis der Kantischen Theorie abhängig. Mit der Rekonstruktion von Kants Freiheitstheorie werden damit zugleich die Voraussetzungen der gegenwärtigen Theorien sichtbar werden. Darüber hinaus - und beträchtlicher noch - wird sich zeigen, daß wir bei Kant über menschliche Freiheit etwas lernen können, was uns keine der gegenwärtigen Theorieansätze mehr zu lehren vermag. Auf diese Weise wird es schließlich vielleicht möglich sein, die Frage, was von Kants Theorie der Freiheit in Anbetracht der gegenwärtigen Entwicklungen noch zu retten ist, einmal umzudrehen und zu fragen, was denn die gegenwärtigen Ansätze aus der Sicht der Kantischen Theorie wert sind. (a) Kants Theorie der Freiheit als systematische Alternative? Unser Selbst- und Weltverständnis ist zwiefältig. Auf der einen Seite betrachten wir uns und unsere Mitmenschen als frei handelnde, der Moral und Verantwortung fähige Wesen, die in der Regel selbst darüber entscheiden können, welche Handlung sie vollziehen. Auf der anderen Seite sind wir davon überzeugt, daß wir wesentlich durch unsere psychophysische Veranlagung sowie unsere Umgebung geprägt sind und unser Verhalten davon „determiniert" ist. Ob diese beiden Auffassungen miteinander vereinbart werden können oder sich gegenseitig ausschließen, ist die Frage, an der sich die Geister in „der" Debatte um „die" Willensfreiheit scheiden. Bei der Frage: „Willensfreiheit oder Determinismus?" hängt folglich alles davon ab, ob man das Oder exklusiv oder inklusiv versteht. Die Vertreter der inklusiven Lesart werden Kompatibilisten genannt, weil sie die beiden Thesen: „der menschliche Wille ist frei" und „der menschliche Wille ist naturkausal determiniert", für vereinbar halten. Die Vertreter der exklusiven Lesart heißen Inkompatibilisten, weil sie davon überzeugt sind, daß beide Thesen nicht zugleich wahr sein können. Der Inkompatibilist behauptet daher: „Der menschliche Wille ist nur dann frei, wenn er nicht naturkausal determiniert ist".
Kants Theorie der Freiheit als systematische Alternative?
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Diese inkompatibilistische Grundüberzeugung ermöglicht ihrerseits wiederum zwei Alternativen: Man kann die Konsequenz jenes Satzes negieren, den Determinismus für wahr halten und damit die menschliche Freiheit für illusionär erklären. Dann bezieht man eine Position, die seit William James als „harter Determinismus" bezeichnet wird ßames 1979, S. 116). James hat diesen Determinismus „hart" genannt, weil er die Möglichkeit der menschlichen Freiheit ausschließt. Im Unterschied dazu glaubt der Kompatibilist als sogenannter „weicher Determinist", daß die Freiheit des Menschen mit dem Determinismus vereinbar ist. Diese Etikettierungen sind verwirrend, weil man glauben könnte, der harte Determinist unterscheide sich vom weichen, weil ihr Determinismusbegriff ein anderer wäre. Tatsächlich ist es aber der Freiheitsbegriff, der differiert. Während der Kompatibilist glaubt, für unser Selbstverständnis als handelnde Wesen sei ein relativer, determinismusverträglicher Freiheitsbegriff hinreichend, ist der Inkompatibilist davon überzeugt, daß unsere gesellschaftliche Praxis auf der Illusion absoluter Freiheit gründe. Noch ein zweiter Punkt spricht dafür, die übliche Terminologie aufzugeben: Kant hat zu Recht darauf hingewiesen, daß nicht der Determinismus, sondern der Pradeterminismus eine Gefahr für den absoluten Freiheitsbegriff darstellt. Wenn man vermeiden will, daß eine freie Handlung bloß ein Zufallsereignis und damit uns letztlich nicht zurechenbar ist, muß auch die freie Handlung determiniert sein. Die Frage ist aber, ob diese Determination als ein Fall von Erstursächlichkeit gelten kann oder ob sie vollständig auf vorausgehende Ursachen zurückgeführt werden muß. Man könnte diese Position daher sachlich angemessener vielleicht als „inkompatibilistischen Prädeterminismus" bezeichnen. Traditionelle Vertreter dieser Position sind La Mettrie und Holbach (La Mettrie 1748; Holbach 1770). In der gegenwärtigen Debatte wird der inkompatibilistische Determinismus — freilich mit theoretisch stark divergierenden Mitteln — ζ. B. von Hospers (psychoanalytisch), dem frühen Ginet (physisch, epiphänomenalistisch) und Honderich (neurobiologisch) vertreten (Hospers 1978; Ginet 1978; Honderich 1995 u. 2002). Die andere Alternative des Inkompatibilismus besteht darin, den Determinismus auf irgendeine Weise einzuschränken, um so die menschliche Freiheit behaupten zu können. Vertreter dieser Auffassung werden als Ubertarier bezeichnet, sollten aber besser, um einerseits die Verwechslung mit der gleichnamigen Position aus der politischen Philosophie zu vermeiden und andererseits, um den Freiheitsbegriff, den sie in Anspruch nehmen, vom Freiheitsbegriff der Kompatibilisten abzusetzen, Vertreter eines absoluten (inkompatibilistischen) Freiheitsbegriffs genannt werden. Piaton, Descartes und Bramhall wären traditionelle Anknüpfungspunkte (Piaton,
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Einleitung
Politeia 10, 617-621; Descartes, 4. Meditation; Uramhall 1655). In der jüngeren Diskussion wird ein absoluter Freiheitsbegriff von Sartre, Chisholm und in einer besonders ausgereiften Form von Kane vertreten (Sartre 1943 u. 1946; Chisholm 1978, Kane 1996 u. 2002b). Die gegenwärtig am meisten verbreitete Position ist jedoch keine Unterart des Inkompatibilismus, sondern dessen Alternative: der Kompatibilismus. Die Kernaussage des Kompatibilisten ist, daß die beiden Thesen, „der menschliche Wille ist frei" und „der menschliche Wille ist naturkausal determiniert", zugleich wahr sein können und also der menschliche Wille frei ist, auch wenn er naturkausal determiniert ist. Der Kompatibilist geht sogar soweit zu sagen, daß der /»determinismus die Freiheit des Willens prinzipiell ausschließt und ein relativer Freiheitsbegriff alles ist, was wir für unser Selbstverständnis als handelnde und zurechenbare Wesen benötigen. Traditionelle Vertreter einer kompatibilistischen Position sind Hume und Mill (Hume 1739/40; ders. 1748; Mill 1859). Auch Hobbes und Locke werden gewöhnlich dazu gerechnet (Hobbes 1651; "Locke 1690). Man muß dabei aber ergänzen, daß sie nicht einen Ara/«rprädeterminismus, sondern ebenso wie Spinoza und Leibniz einen metaphysischen Prädeterminismus vorausgesetzt haben. Läßt man die internen Differenzen des Kompatibilismus innerhalb der gegenwärtigen Diskussion beiseite, kann man Schlick, Strawson, Davidson, Dennett, Frankfurt und Bieri alle unter diese Kategorie subsumieren (Schlick 1978; Strawson 1978; Davidson 1990; Dennett 1986; Frankfurt 2001; Bieri 2002). Freiheitstheorien
Kompatibilismus (relativer Freiheitsbegriff)
Inkompatibilismus (absoluter Freiheitsbegriff)
Vertreter eines absoluten Freiheitsbegriffs
Prädeterminismus
Die Rede von verschiedenen Arten des Prädeterminismus macht bereits deutlich, daß sich jede dieser Positionen noch sehr viel weiter ausdifferenzieren ließe. Doch bereits im Rahmen dieser grundlegenden Systematik hat es Kants Interpreten große Schwierigkeiten bereitet, seine Freiheitstheorie zu situieren. In der Kantliteratur wird Kant nicht nur als „Liberta-
Kants Theorie der Freiheit als systematische Alternative?
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rier" (Allison 1990), sondern auch als Kompatibilist (Meerbote 1984a und b; Hudson 1994; Horstmann 1997; Horn 2002), ja sogar als Kompatibilist von Inkompatibilismus und Kompatibilismus bezeichnet (Wood 1984). Dagegen ist man sich in der gegenwärtigen Freiheitsliteratur quer durch alle Fraktionen einig, daß nicht nur über den Ort, sondern auch über die Reichweite von Kants Freiheitstheorie längst entschieden sei. Die nahezu einhellige Auffassung dieser Autoren ist, daß Kant sowohl einen inkompatibilistischen Freiheitsbegriff als auch einen universellen Determinismus vertreten habe, die er auf der Basis einer Zwei-Welten-Ontologie versucht habe miteinander zu vereinigen. Dieser Versuch müsse jedoch letztlich in einen psycho-physischen Parallelismus münden, der nicht erklären könne, wie Freiheit in dieser Welt möglich sein soll. Darüber hinaus ist Kants Theorie mit einem zweiten Einwand konfrontiert, den Kompatibilisten seit jeher an die Vertreter eines absoluten Freiheitsbegriffes gerichtet haben: Ein absolut freier Wille sei bloß ein zufälliger Wille und man könne mit diesem Begriff letztlich das Problem nicht lösen, wozu man ihn ursprünglich gerade glaubte einführen zu müssen: die Zurechenbarkeit menschlicher Handlungen. Die Probleme der Kantliteratur, Kants Theorie der Freiheit im Rahmen jener skizzierten Systematik zu situieren, können jedoch Anlaß sein, Zweifel daran zu hegen, daß diese Theorie sich tatsächlich so einfach beiseite schieben läßt. Nicht in Detailfragen, sondern in bezug auf die grundlegenden Voraussetzungen dieser Theorie ist bisher keine Einigkeit erzielt worden. Daß zum einen eine erneute Auseinandersetzung mit Kants Theorie dringend geboten ist, nicht nur um über ihren systematischen Ort zu entscheiden, sondern gerade auch um die Reichweite der gegenwärtigen Freiheitstheorien richtig einschätzen zu können, daß zum anderen die beiden gängigen Argumente, die in der gegenwärtigen Literatur zur Willensfreiheit gegen Kants Theorie vorgebracht werden, ins Leere laufen, dafür soll im Folgenden argumentiert und damit in die zentralen Grundgedanken von Kants Freiheitstheorie eingeleitet werden. Es ist naheliegend, Kant als einen Kompatibilisten zu bezeichnen, weil er im Rahmen der Auflösung der dritten Antinomie sich nicht dogmatisch auf eine der beiden Seiten schlägt, sondern versucht, Freiheit und Naturdeterminismus miteinander zu vereinbaren. Die Tatsache jedoch, daß Kant mit dem Determinismus einen absoluten und nicht etwa relativen Freiheitsbegriff vereinbaren will, weist auf die Schwierigkeiten hin, die es bereitet hat, Kant in diesem Diskussionszusammenhang zu situieren. Im Unterschied zu Kant versucht der Kompatibilist nicht nur den Determinismus mit einem relativen Freiheitsbegriff zu vereinbaren, er argumentiert darüber hinaus auch noch dafür, daß dieser Begriff für unsere soziale
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Praxis hinreichend ist und der absolute Freiheitsbegriff nicht verständlich gemacht werden könne. Daher erklärt sich auch die hohe systematische Attraktivität des Kompatibilismus. Er kommt mit bescheidenen Voraussetzungen aus und verspricht, daß der Determinismus kein eigentliches Problem für unser Selbstverständnis als frei handelnde, der Moral und Verantwortung fähige Wesen darstellt. Dieser positive Aspekt ist mit einem negativen gekoppelt, der sich im Allgemeinen gegen die (wie Kompatibilisten sagen würden) „intellektualistischen Höhenflüge" inkompatibilistischer Freiheitsvertreter und damit auch gegen Kants Theorie der Freiheit wendet. Folgt man der verbreiteten Argumentation, beruht der Fehler des Vertreters eines absoluten Freiheitsbegriffs auf einer begrifflichen Verwechslung. Diese Verwechslung bestehe darin, den Begriff der „Notwendigkeit" von theoretischen Gesetzen im Sinne einer praktischen Notwendigkeit umzudeuten. Während bei Gesetzen der Theorie „Notwendigkeit" bloß „Allgemeingültigkeit" bedeute, sei die „Notwendigkeit" der praktischen Gesetze als eine „Nötigung", ein „Zwang" zu verstehen. Indem man „Notwendigkeit" im praktischen Sinne als eine Art von „Zwang"und nicht etwa von „Allgemeingültigkeit" mißversteht, entstehe die Vorstellung, wir wären nicht frei, wenn wir kausal determiniert sind. Aus dieser Verwechslung von „Notwendigkeit" und „Zwang" resultiere auch die Verwechslung der Negation. „Nicht-notwendig" bedeutet dann nicht etwa die Aufhebung des Gesetzes, sondern die Abwesenheit vom Zwang und damit das, was man allgemein unter Freiheit verstehe. Dieses fundamentale Mißverständnis von „Notwendigkeit" habe die Vertreter eines starken Freiheitsbegriffes dazu verleitet, Freiheit mit Indeterminiertheit gleichzusetzen fy B. Schlick 1978, S. 160ff;Ajer 1954). Damit hat die kompatibilistische Kritik den Punkt erreicht, wo sie dem Vertreter eines starken Freiheitsbegriffs die Widersprüchlichkeit und damit logische Unmöglichkeit seines Begriffs eines „absolut freien Willens" beweisen kann: Ein indeterminierter Wille sei ein im wörtlichen Sinne absolut freier Wille, der losgelöst von uns in keinem Zusammenhang mit unserer bisherigen Lebensgeschichte stünde. Ein solcher Wille bräche aus einem „kausalen Vakuum" über uns herein und wir müßten ihn als einen Willen betrachten, der „von der Erfahrung der Urheberschaft weit entfernt wäre". Ein unbedingt freier Wille wäre also ein Wille, der uns „zustößt". Mit den Eigenschaften „Unbeeinflußbarkeit", „fehlende Urheberschaft", „Fremdheit" weise dieser Wille die Merkmale auf, die nicht als ein Fall von Freiheit, sondern als ein Fall äußerster Unfreiheit begriffen werden müßten (Bieri 2002, 230f.; Frankfurt 2001, S. 79 ff; ebenso bereits Schuld 1783, S. 164; 170).
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Auch die Verantwortlichkeit des Handelnden, die das Konzept der absoluten Freiheit gerade sichern soll, werde im Gegenteil durch sie gerade unmöglich gemacht. Denn ein absolut freier Wille wäre nicht das Ergebnis eines Entscheidungsprozesses, bei dem wir uns durch biographisch gewachsene Überzeugungen bestimmen, vielmehr hätte dieser zufallige, ja „launische" Wille mit unserer Person überhaupt nichts zu tun. Losgelöst von dieser Person wären die „Handlungen", die auf ihn zurückzuführen sind, nicht uns, sondern dem Zufall zuzurechnen und wir nicht für sie verantwortlich (so bereits Hume 1748, S. 77 und Schul\ 1783, S. 164; ebenso Bieri 2002, S. 237f.). Die begrifflichen Verwechslungen, die dem Vertreter eines inkompatibilistischen oder absoluten Freiheitsbegriffs unterlaufen, führen damit letztlich dazu, daß er das, wozu er das Konzept der absoluten Freiheit glaubte einfuhren zu müssen, — die Sicherung menschlicher Freiheit und Verantwortlichkeit — durch ihn gerade selbst auflöst. Wären die Vertreter eines absoluten Freiheitsbegriffes bessere Analytiker gewesen, hätten sie bemerkt, daß sie „Notwendigkeit" mit „Zwang" und „Bedingtheit" mit „Unfreiheit" verwechselt haben und dadurch zu dem Schluß verleitet worden sind, „Freiheit" mit „Unbedingtheit" gleichzusetzen. Damit aber, so lautet der Vorwurf des Kompatibilisten an die Vertreter eines absoluten Freiheitsbegriffs, hätten sie sich eines fundamentalen Kategorienfehlers schuldig gemacht (vgl. auch Dennett 1986, S. 78-83). Im Gegenzug zu dieser Konzeption der absoluten Freiheit entwickelt der Kompatibilist sein Konzept der „bedingten Freiheit" (ebenfalls bereits Hume 1748, S. 78). Wir sind genau dann frei, wenn wir unsere Entscheidungen an Gründe binden und unser Handeln mit diesen Entscheidungen zur Deckung bringen können. Für diese Art von Freiheit ist es nicht erforderlich, daß wir diese Gründe in einem ursprünglichen Schöpfungsakt selbst hervorgebracht haben oder uns zu ihnen immer noch indifferent verhalten können. Gerade weil die Gründe das Produkt unserer Lebensgeschichte sind, sind es unsere Gründe. Gelingt es uns, unseren durch jene Gründe bedingten Willen gegen äußere oder innere Zwänge handlungswirksam werden zu lassen, sind wir frei. Die Freiheit des Willens kann also aus konzeptuellen Gründen gar nicht als absolut verstanden werden, sondern muß, damit der Wille unser Wille sein kann, eine relative, bedingte Freiheit sein. In diesem Sinn ist die Frage, ob der menschliche Wille tatsächlich frei ist, kein weiteres Problem mehr: Wir können durch Selbstbeobachtung feststellen, daß wir dazu in der Lage sind, unsere unmittelbaren Handlungsimpulse umwillen anderer Ziele, die wir höher bewerten, zurückzustellen. Die Selbstbeobachtung lehrt uns, daß wir uns zu unseren Bedürfnissen immer noch wählend ver-
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halten und auf diese Weise unser Handeln steuern können. „Mehr oder weniger" oder „in der Regel", kann man ergänzen, denn sowohl äußerlich als auch innerlich können bestimmte Zwänge vorliegen, die uns genau diesen Willens- und HandlungsSpielraum nehmen können. Äußerlich wäre da ζ. B. an manifesten physischen Zwang zu denken, etwa, daß der Handelnde buchstäblich in Ketten liegt oder etwas weniger offensichtlich, daß die ökonomischen Bedingungen die Handlungsmöglichkeiten einschränken. In beiden Fällen ist man zwar durchaus noch frei, sich andere Handlungsoptionen zu wünschen, aber es ist, wenn überhaupt, nur in einem sehr eingeschränkten Maß möglich, diese Wünsche auch handelnd zu verwirklichen. Aber auch auf der Subjektseitt kann es zu Einschränkungen kommen. Es sind dann nicht mehr äußere Zwänge, sondern das Wollen des Subjekts selbst, das dabei eingeschränkt wird. Zu denken wäre etwa an Situationen, in denen unser Wille gespalten ist, wir etwas auf einer ersten Stufe wollen, uns aber auf einer zweiten Stufen wünschen, diesen Willen nicht zu haben. Ein extremer Fall der inneren Unfreiheit ist die Drogensucht, bei der die Einschränkung unserer Freiheit ebenfalls im Unterschied etwa zu jenen Ketten bei unserem Wollen bzw. Bewußtsein ansetzt. Allen diesen Aspekten der Freiheit ist gemeinsam, daß ihnen ein graduierbarer, relativer Freiheitsbegriff zugrunde liegt: „Obwohl er in Ketten lag, konnte er seinen Kopf noch bewegen." „Ein Mensch in der ersten Welt hat durchschnittlich x-mal mehr Handlungsoptionen als ein Mensch in der dritten Welt." „Er wünscht sich, daß er dieses Mal an der Tür vorbeigehen kann, doch sein Wille ist stärker". „0,5 Promille Alkohol im Blut schränken das Reaktionsvermögen eines Menschen nicht so sehr ein, daß er eine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer darstellt." Für kompatibilistische Freiheitstheoretiker ist mit diesem relativen Sinn von Freiheit der gesamte Raum der Diskussion ausgeschritten. Folgt man ihrer Argumentation, brauchen wir auch für unser Selbstverständnis als handelnde und der Verantwortung fähige Wesen nur genau diesen relativen Freiheitsbegriff. Auch Kant streitet den relativen Sinn von Freiheit nicht ab. Das zentrale Thema der Rechtslehre ist die Erhaltung bzw. Herstellung der „Freiheit im äußeren Gebrauch" (MS/KL, VI 214 (AB 6 f.)). Mit der Tugendlehre und der Anthropologe in pragmaüscher Hinsicht liegen uns Schriften vor, in denen Kant uns zahlreiche Klug- und Geschicklichkeitsregeln an die Hand gibt, wie wir „Autokratie", d. h., Selbstherrschaft, oder „innere Freiheit" über uns erlangen können (MS/TL VI, 396 f.; 406 ff. (A 31 ff., A 49ff.); ApH, VII 253f., 265-68 β 205 ff, Β 225-28)). Doch dieser relative Freiheitsbegriff ist nicht der eigentliche Gegenstand seiner vernunftkritischen Schrif-
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ten. Er fällt in den Bereich der empirischen Psychologie und ist damit dem zuzurechnen, was er im Rahmen seines Systementwurfs in der ersten Kritik unter dem Titel „angewandte Philosophie" subsumieren würde (KrV, Β 876). Im Unterschied zu den kompatibilistischen Freiheitstheoretikern erkennt Kant, daß es noch eine absolute Dimension dieses Begriffs gibt, über die sich durchaus sinnvoll reden läßt. Diese absolute Dimension ist es, der Kant sich im Rahmen seiner „kritischen"und nicht etwa „doktrinalen" oder „angewandten" Schriften zuwendet. Auf diese Dimension stößt man jedoch nicht, solange man sich bloß mit Handlungsalternativen befaßt, bei denen es um biographisch bedingte Präferenzen geht: Colorado oder Hawaii? Kino oder Oper? Flucht oder Widerstand? Kind oder Ausbildung (Kane 2002b, S. 415; Roth 2003, S. 167; Bieri 2002, 74 f.; Räßler 2001, S. 122 f.)? Auf diese Dimension stößt man, wenn man in einer zugespitzten moralischen Entscheidungssituation steht, in der Vernunft und Neigung sich gegenseitig ausschließen. In dieser Situation bemerken wir, daß selbst wenn alle unsere biographisch bedingten Handlungsgründe dagegen sprechen, wir doch noch einen nicht-empirischen, reinen Vernunftgrund haben, der gegen die Verwirklichung unser subjektiv-privaten Interessen spricht. Doch solange man glaubt, daß alle Urteile der reinen Vernunft ebenso kontingent sind wie Ereignisse in unserem Leben (Frankfurt 2001, S. 109 f.), muß diese Dimension verschlossen bleiben. Der reine Vernunftgrund ist aus unserer Perspektive als eines sinnlichen Vernunftwesens, das nicht immer schon ausschließlich das will, was vernünftig ist, ein kategorisch-gebietender Imperativ. Aber wir selbst und nicht etwa eine äußere Instanz schreiben uns diesen Imperativ vor. „Wir selbst", damit ist nun freilich nicht mehr eine Persönlichkeit gemeint, die biographisch bedingt und subjektiv-different ist. „Wir selbst", das ist auch nicht, wie man Kant gewöhnlich unterstellt, ein reines Ich im Sinne eines inhaltslosen, unpersönlichen Ich (so χ. Β. Frankfurt 2001, S. 170). Vielmehr ist damit das gemeint, was uns im moralischen Sinne überhaupt erst eine Persönlichkeit verschafft: unser unmittelbares, d. h. apriorisches Bewußtsein des moralischen Gesetzes und die Achtung, die es in uns bewirkt. Persönlichkeit bei Kant nicht partikular verstanden als das Bündel einer Lebensgeschichte, sondern als das Wesen der Person, das allen Menschen unabhängig von ihrer besonderen Lebensgeschichte bereits zukommt. Der menschliche Wille (verstanden als vernunftfähiges Kausalvermögen und nicht etwa als einzelner Willensakt), der die Gesetzmäßigkeit will, kann mit Recht ein absolut freier Wille genannt werden, weil er weder ein bestimmtes Begehren voraussetzt noch das Gesetz seines Wirkens erst aus der Erfahrung gewinnen müßte. Diese Absolutheit bedeutet nun gerade
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nicht die Losgelöstheit von unserer Person, sondern daß wir als Vernunftwesen einen Handlungsgrund haben, der nicht empirisch bedingt ist, nicht das Produkt einer besonderen Lebensgeschichte ist. Ein absolut freier Wille ist damit gerade kein zufälliger Wille, sondern ein Wille, der die Fähigkeit besitzt, sich durch einen reinen Vernunftgrund zum Handeln selbst zu bestimmen. Er ist in Kants Worten: „das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein". Wenn wir unserem praktischen Vernunftgesetz zuwider handeln und unsere subjektiv-privaten Interessen über den Anspruch des Moralgesetzes stellen, büßen wir dabei die Fähigkeit, uns durch reine Vernunft zu bestimmen und damit unsere Freiheit, nicht ein. Wir mißbrauchen diese Freiheit aber, insofern wir uns zu etwas bestimmen, wozu wir uns auch bestimmt hätten, ohne daß uns diese Fähigkeit zukäme, nämlich die Verfolgung unserer subjektiv-privaten Interessen. Auf die absolute Freiheit des Willens stößt man also, wenn man die Implikationen einer bestimmten Form von Moraltheorie aufklärt, von der Kant behauptet, daß sie die einzig richtige ist. Diese Form von Moraltheorie erfordert es, einen Willen anzunehmen, der nicht nur relativ, sondern absolut frei ist. Nur solange der Zusammenhang zwischen Moralfähigkeit und absolutem Freiheitsbegriff unklar ist, muß es unnötig erscheinen, an diesem Begriff festzuhalten. Die Auseinandersetzung mit Kant wird also auch Klarheit darüber verschaffen, ob es tatsächlich erforderlich und sinnvoll ist, den Begriff der Freiheit als Autonomie auf die bloße Fähigkeit zu reduzieren, daß eine Person „tut, was sie selbst will" (Tugendhat 1992, S. 335). Kant könnte auf der einen Seite dem Kompatibilisten zugeben, daß für unser Selbstverständnis als handelnde und erziehbare Wesen der relative Freiheitsbegriff hinreichend ist. Auch der Verantwortung sind wir fähig, wenn man das dritte Rektum dieses Begriffs, die Gesetze, vor denen wir uns zu verantworten haben, bloß als positive Gesetze und nicht etwa als kategorisch gebietende Vernunfigcsztzz auffaßt. Um die Präferenzstruktur eines „straffälligen Menschen zu korrigieren, ist es lediglich erforderlich, daß er ein Wesen ist, das auf Lob und Tadel in empirisch bestimmbarer Weise reagiert. Prävention und nicht etwa Vergeltung ist daher auch die Losung des Kompatibilisten. Auf der anderen Seite wird Kant dem Kompatibilisten aber entgegenhalten, daß er mit einem relativen Freiheitsbegriff nur einen Ausschnitt, nicht aber den gesamten Bereich menschlicher Praxis zu erfassen vermag. Mit diesem Begriff gelingt es ihm entgegen seiner Überzeugung nicht, auch die Moralfähigkeit des Menschen in den Griff zu bekommen. Das Moralgesetz ist ein reines Vernunftgesetz und gebietet kategorisch, d. h.,
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ohne daß ein bestimmtes Begehren vorausgesetzt wird. An zahlreichen experimentell angelegten Beispielen hat Kant zu zeigen versucht, daß sein Maßstab der Sittlichkeit nicht das ideosynkratische Produkt seiner Philosophie ist, sondern „dunkel" und „unaufgeklärt" bereits im „Urteil eines jeden Menschen" enthalten ist und sich daraus ableiten läßt (KrV] Β 835; GMS, IV403f. (RA 19 f.); KpV, V 36 (A 63)). Er hat damit auch gezeigt, daß die moralische Praxis, von der er spricht, unsere Praxis ist. Wenn Kant mit dieser Analyse Recht hat, müßte auch der Kompatibilist und nicht nur der inkompatibilistische Prädeterminist unsere moralische Praxis als illusionär zurückweisen. Doch selbst wenn sich der Begriff eines absolut freien Willens widerspruchsfrei verständlich machen läßt, bleibt Prädeterministen beider Art noch eine zweite Argumentationsstrategie, um die Theorie eines absolut freien Willens zurückzuweisen. Beide Vertreter werden gegen Kants Ethik das Kompatibilitätsproblem selbst anführen, um damit den Anspruch eines kategorisch gebietenden Vernunftgesetzes als überzogen zurückzuweisen. Ein absolut freier Wille sei nicht mit „dem" Naturdeterminismus vereinbar und überfordere den Menschen in seinen Möglichkeiten. Mit dieser Auffassung knüpfen sie der Sache nach bei Spinoza und Nietzsche an, indem auch sie aufgrund freiheitstheoretischer Überlegungen die absolute Differenz von „Gut und Böse" durch die relative von „Gut und Schlecht" ersetzen möchten (Spinoza 1677, S.E1 App., E4 Praef, D1,2; Nische 1883, S. 61, 74, 78; ders., 1886, S. 107, 122f.; ders., 1887, S. 261 f., 274; ebenso Schul\ 1783, S. 111, 129, 168). Das Problem dieser deterministischen oder, wie Kant präziser formulieren würde, ^«deterministischen Moralskepsis wird von Kant ausfuhrlich in der ersten Kritik erörtert. Im Rahmen seiner „Logik des Scheins", der transzendentalen Dialektik, stellt er sich dem Problem eines universellen Prädeterminismus und dem Begriff einer Freiheit als Erstursächlichkeit in einer für die gegenwärtige Debatte ungeahnten Radikalität. Er setzt nicht etwa bei dem Spezialfall des menschlichen Kausalvermögens, dem Willen, an, sondern er fragt grundsätzlicher, ob das Konzept einer unverursachten Ursache überhaupt widerspruchsfrei denkbar ist. Widerspruchsfrei denkbar nicht bloß mit einem empirischen Determinismus, sondern mit dem transzendentalen Kausalprinzip selbst. Kant entlarvt den Streit zwischen Prädeterminismus und Freiheit als einen Vernunftstreit, der aus der Totalisierung der Verstandesbegriffe entspringt. Im Streitfall „Freiheit oder Prädeterminismus" ist es der Begriff der Kausalität, der zur Idee der „absolute [n] Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung" totalisiert wird. Diese Idee wird von der einen Seite als Erstursächlichkeit und von der anderen Seite als aktual infiniter
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Regreß verstanden. Mit seiner Auflösung der Antinomie macht Kant dem Irrglauben beider Streitparteien, sie würden sich auf dieselbe abgeschlossene Sinnenwelt beziehen, ein Ende und weist alle Ansprüche auf eine abschließbare Welterkenntnis zurück. Zugleich zeigt Kant aber mit der Auflösung der dritten Antinomie, daß man an beiden Ideen festhalten kann. Nicht als konstitutive Grundsätze vom Ubersinnlichen, sondern als regulative Grundsätze für den empirischen Vernunftgebrauch. Kant steht damit in der Auflösung der dritten Antinomie vor der besonderen Schwierigkeit, zu erklären, wie beide scheinbar widersprüchliche Prinzipien zugleich auf dieselbe Erscheinung angewendet werden können. Hinzu kommt noch, daß die Er stur sächlichkeit nicht einem Wesen zugeschrieben wird, das als „ens extramundanum" außerhalb der Sinnenwelt angesetzt wird. Vielmehr soll es möglich sein, Freiheit in der Welt widerspruchsfrei zu denken. Diese beiden Schwierigkeiten sind es, die die dritte Antinomie in besonderer Weise von den anderen drei Vernunftproblemen unterscheiden und die Kant eine so außerordentlich umfangreiche Erklärungsleistung abgefordert haben. Kants Lösung besteht nicht in einer Zwei-Welten-Theorie, sondern beruht auf seiner transzendentalphilosophischen Differenz von Ding an sich und Erscheinung, die uns berechtigt, Gegenständlichkeit zu „denken" (!), die selbst nicht verursacht ist, aber zugleich Ursache von Erscheinungen sein kann. Wer erstens glaubt, Kant habe mit seinem Prinzipiendualismus zuviel bewiesen, weil nun jedes Ereignis als Fall von Erstursächlichkeit gedacht werden könne, zweitens damit seinen Determinismus der ^weiten Analogie der Erfahrung revidiert und schließlich gegen seine eigenen systematischen Voraussetzungen verstoßen, wenn er den Begriff der „Kausalität" aufs Übersinnliche anwende, der tut gut daran, den gesamten Vernunftwiderstreit im Detail zu analysieren, um auf diese Weise bis zu den Anfangsgründen des transzendentalen Idealismus vorzudringen. Er wird seine Meinung ändern müssen. Primär geht es Kant in der Auflösung der dritten Antinomie um die Vereinbarkeit der Idee der Freiheit als Erstursächlichkeit mit dem in der Zweiten Analogie der Erfahrung etablierten transzendentalen Grundsatz der Kausalität (KrV', Β 564). Kant schließt zwar mit der zweiten Analogie der Erfahrung an Leibniz' Satz vom zureichenden Grund an (KrV, Β 246, Β 264f., Β 811), transformiert ihn aber in einen transzendentalen Grundsatz und schränkt ihn damit auf Erscheinungen als einer Teilklasse der Gegenstände überhaupt ein, indem er ihm eine erkenntniskonstituierende Funktion zuweist. Dieser transzendentale Grundsatz der Kausalität darf nicht auch als ein Beweis für das Bestehen eines wie auch immer gearteten empirisch-
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naturwissenschaftlichen Determinismus verstanden werden. Kant ist aber davon überzeugt — und darin liegt die Bedeutung seiner Auflösung für empirische Deterministen — mit der Vereinbarkeit seines transzendentalen Grundsatzes auch zugleich die Vereinbarkeit von absoluter Freiheit und einem empirisch-naturwissenschaftlichen Determinismus bewiesen zu haben; einem Determinismus, der nicht nur einen ohnehin nur schwer verständlich zu machenden „Beww^ideterminismus" voraussetzt (Honderich 1995, S. 11, 99, 116), sondern der über prognostische Gesetze verfügt, von denen die Neurobiologen noch weit entfernt ist; Gesetze nämlich, mit denen man das Verhalten der Menschen „auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis, ausrechnen [kann]" und die damit mit dem gleichen mathematisch-apodiktischen Gewißheitsanspruch auftreten wie die Gesetze der Astronomie (KpV, V99 (A 177f.)). Sowohl philosophierende Physiologen als auch physiologisch orientierte Philosophen müssen also mit nicht-empirischen, philosophischen Argumenten gegen Kants Auflösungsstrategie vorgehen. So beachtlich die Entdeckungen in der Hirnforschung auch sind, Kants Theorie ist auf diese Entdeckungen vorbereitet. Den empirischen Determinismus, von dem man meint, er wäre mit absoluter Freiheit unverträglich, hat Kant in seiner stärksten Form hypothetisch vorausgesetzt und dennoch kann er, aufgrund seiner erkenntniskritischen Vorarbeit, an der Idee der Freiheit als Erstursächüchkeit festhalten. Es ist nicht verwunderlich, wenn auch Neurobiologen an entscheidenden Stellen ihrer Argumentation die empirische Ebene verlassen und die philosophische Ebene dieses Problems entdecken. Der eine bemerkt die Interpretationsschwierigkeiten empirischer Experimente und vertritt auf der Grundlage seines Experiments einen absoluten Freiheitsbegriff (Übet 2002). Der andere verteidigt auf der Grundlage desselben Experiments einen Determinismus (Roth 2003, S. 176-181), fällt aber mit seinem Sinnkriterium der „empirischen Überprüfbarkeit" nicht nur in einen Positivismus zurück, von dessen Selbstwidersprüchlichkeit er längst wissen könnte, er bringt sich auch um die Möglichkeit, sein Weltbild vor erkenntniskritischer Naivität zu bewahren (ders. 2003, S. 170 ff., 197-209). Auch wenn Kant die Vereinbarkeit von Natur- und Freiheitskausalität anstrebt, ist er nicht etwa, wie einige gemeint haben (Meerbote 1984a und b; Hudson 1994; Horstmann 1997; Horn 2002), „Kompatibilist" im terminologischen Sinne dieses Wortes. Während der Kompatibilist behauptet, daß ein relativer Freiheitsbegriff für unsere soziale Praxis ausreichend ist und er daher lediglich versucht, einen relativen Freiheitsbegriff mit dem Naturdeterminismus (oder mit einem metaphysischen Determinismus) zu vereinbaren, erkennt Kant auf einer prinzipiellen Ebene, daß, wenn der „Prä-
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determinismus" wahr wäre, wir nicht mehr mit Recht an unserer sozialen Praxis als moralischer Praxis festhalten dürften. Kants besondere Vereinigungsstrategie beider Prinzipien beruht darauf, daß er die Gültigkeit des Prädeterminismus auf die Erfahrungsgegenständlichkeit endlicher Vernunftwesen einschränkt und damit Platz für die Denkmöglichkeit der Idee der Freiheit als Erstursächlichkeit schafft; nicht als eines assertorischen oder gar apodiktischen, sondern lediglich als eines problematischen Begriffs. Die unmittelbare Erkenntnis praktischer Verpflichtung gibt uns einen Grund, diesen bloß problematischen Begriff in bezug auf den Menschen zu bejahen. Kants Theorie der Freiheit ist also im terminologischen Sinne inkompatibilistisch und damit auch indeterministisch. Allerdings nur, wenn man „indeterministisch" nicht so versteht, daß Kausalität vollkommen ausgeschlossen wäre. Das Theoriestück der ^weiten Analogie besagt nicht, daß jede Veränderung an Dingen in Raum und Zeit mit unbedingter Notwendigkeit eintritt. Vielmehr behauptet Kant nur, daß sie nach dem Gesetz der Verknüpfung der Ursache und Wirkung, also mit bedingter Notwendigkeit eintritt. Einen Indeterminismus in bezug auf menschliches Handeln zu behaupten bedeutet lediglich, den Ausschluß deterministischer Kausalität, d. h., daß die Folge unvermeidlich wäre. Genau darin besteht gerade die entscheidende begriffliche Konfusion vieler Kompatibilistem sie identifizieren „indeterminiert" mit „unverursacht". Diese Identifikation führt sie wiederum dazu, „indeterminiert" mit „zufallig" gleichzusetzen, und auf diese Weise sind sie dann schließlich erneut bei der absurden Konsequenz angelangt, daß die absolut freie Handlung nicht eigentlich dem Subjekt, sondern dem Zufall zuzurechnen ist. Selbst also wenn man das Problem der Freiheit von der Gegenwart her entwickelt, reichen die Gründe nicht aus, Kants Theorie beiseite zu schieben. Vielmehr können alle Fraktionen der gegenwärtigen Debatte von Kant lernen: Kants Theorie kann erstens zeigen, warum das Konzept eines absolut freien Willens nicht zu der Absurdität eines zufälligen Willens führen muß, zweitens, welche systematische Funktion dieses Konzept hat, nämlich einen ausgezeichneten Typ von menschlicher Praxis, die Moralfähigkeit zu sichern und drittens, daß das Problem der Freiheit als Erstursächlichkeit ein Vernunftproblem ist, für dessen Auflösung mehr als bloß Begriffsanalyse oder empirische Forschung erforderlich ist, nämlich eine grundsätzliche Kritik des menschlichen Erkenntnisvermögens. Eine Rehabilitierung der Kantischen Theorie bedeutet nicht, sie gegen die Kritik inkompatibilistischer Deterministen und Kompatibilisten zu immunisieren. Sie werden aber dazu gezwungen, ihre Kritik auf einen anderen Boden zu stellen und dabei dazu angeregt, sich in der Auseinan-
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dersetzung mit Kants Theorie auch mit ihren eigenen Voraussetzungen auseinanderzusetzen. Doch auch die gegenwärtigen Vertreter eines absoluten Freiheitsbegriffes müssen sich von Kants Theorie aus fragen lassen, ob sie mit der Preisgabe der Moral als eines freiheitstheoretisch ausgezeichneten Bereichs dem Empirismus der Kompatibilisten zu weit gefolgt sind. Statt die sachlich unangemessene Kritik bloß zu übernehmen, haben sie die Möglichkeit, in der Auseinandersetzung mit Kant an ihre eigene Tradition produktiv anzuschließen. Dabei können sie einen positiven Freiheitsbegriff entdecken, der dem Generalverdacht, unter den positive Freiheitsbegriffe gestellt worden sind, entkommt, keine „despotic vision" darstellt (Βerlin 1958), sondern eine vernünftige Realität.
(b) Das Grundlagenproblem So vielversprechend eine Auseinandersetzung mit der Kantischen Freiheitstheorie ist, so schwierig gestaltet sich dieses Unternehmen auch. Uns liegt von Kant keine ausschließlich freiheitstheoretische Schrift vor, in der er diese Theorie schrittweise entwickeln würde. Seine Freiheitstheorie ist in zahlreiche seiner Schriften eingelassen, so daß bereits an dem Titel dieser Untersuchung „Kants Theorie der Freiheit" fast jedes Wort unklar ist. „Kant", das kann verstanden werden als die Summe aller Schriftdokumente, die uns von ihm oder den Nachschreibern seiner Vorlesungen überliefert sind. Versteht man „Kant" in diesem weiten Sinne, müssen nicht nur die veröffentlichten kritischen, sondern auch die vorkntischen Schriften, ferner alle unveröffentlichten Schriften sowie Vorlesungsnachschriften, fragmentarische Notizen (die sogenannten Reflexionen), das Opus Postumum und die Briefe berücksichtigt werden. Wollte man sie alle zur Grundlage machen, stünde nicht nur ein kaum überschaubarer Textkorpus zur Verfügung (alleine die Reflexionen zur Metaphysik belaufen sich auf 1200 Seiten), vielmehr bemerkt jeder, der sich in diese Schriften und Notizen einarbeitet, daß man auf ihrer Grundlage Kant sehr viele (vielleicht sogar beliebig viele) Positionen zuweisen kann. Eine Arbeit, die „Kant" im Titel führt, muß sich diesen philologischen Problemen stellen. Die Textauswahl muß mit guten Gründen gerechtfertigt werden. Gerade so genannte „systematische" Arbeiten sind textkritisch betrachtet nicht selten unsystematische Sammlungen. Aus allen Schriftdokumenten, die von und über Kant zur Verfügung stehen, werden Theorien zusammengesetzt, mit denen man Kant aus falsch verstandener „Wohltätigkeit" beispielsweise einen anomalen Monismus zuweisen will, auf dem er seine Freiheitstheorie gegründet habe (Meerbote 1984 α und b;
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Hudson 1994). Dabei werden Argumente für einen Zweck funktionalisiert, den sie nachweislich im Text nicht haben. Der Sinn eines solchen Unternehmens ist unklar. Soll die Auseinandersetzung mit dem Text nicht von vorneherein zu einer selbstreferentiellen Angelegenheit werden, gilt es nicht bloß nach Belegstellen für das zu suchen, was man vorher und ohne den Text bereits als eine gute Theorie identifiziert hat, vielmehr gilt es, die dem Text eigenen philosophische Problemstellungen und Lösungsstrategien zu bergen. Es geht hier nicht um philologische Haarspalterei, sondern um die Prinzipien einer werkbezogenen Interpretation. Auch diese Arbeit beansprucht, die Forschungsergebnisse nicht bloß zusammenzufassen, sondern ihr liegt die Idee des Fortschritts zugrunde. Diese Idee ist nur dann sinnvoll, wenn die konkurrierenden Interpretationen sich auf einen identischen Text beziehen und voraussetzen, daß auch die Theorie, die in diesem Text verhandelt wird, identisch ist. Wenn Reinhold, Schopenhauer oder Hegel Kant in bestimmten Punkten kritisieren, beziehen sie sich auf dieselben Aussagen wie wir heute. Auf der Grundlage desselben Textes beurteilen wir, ob ihre Interpretation richtig oder falsch ist, wobei sich unser Urteil selbst wiederum als korrekturbedürftig herausstellen könnte. Freilich handelt es sich nur um eine Idee des Fortschritts. Wir verfügen nicht über einen interpretationsfreien Gegenstand, an dem wir beweisen könnten, daß eine bestimmte Interpretation gegenüber einer anderen einen objektiven Fortschritt darstellt. Sehr wohl läßt sich jedoch begründen, warum frühere Interpretationen gegenüber neueren Arbeiten defizitär sind, insofern sie bestimmte Voraussetzungen machen, die in dem identischen Text keine Basis haben (vgl. 'Brandt 1990, S. 365-372). Komplizierter wird die Sache noch, wenn man den Textkorpus nach eigenem Belieben erweitert und neu zusammenstellt. Wenn die Rede von „Kants Theorie der Freiheit" nicht bedeutungslos werden soll, dürfen wir nicht leichtfertig die gemeinsame Diskussionsgrundlage preisgeben. Damit eine Forschungsdiskussion über dieselbe Sache überhaupt möglich ist, ist es notwendig, die Diskussionsgrundlage mit guten Gründen zu bestimmen. Es ist weit verbreitet, alle Textsorten gleichrangig zu behandeln, zuweilen sogar den Reflexionen und Vorlesungsnachschriften die Priorität zu geben fc. B. Allison 1990, S. 59-70; Schmitt,ζ 1989, Henrich 1986). Manche Arbeiten über Kant nutzen die Vagheit dieses Namens zur Provokation. Dabei werden aus unterschiedlichen Zeiten und Textsorten Zitate ineinandergeschoben. Nicht selten handelt es sich dabei bloß noch um dekontextuaüsierte Behauptungen. Die Argumente, an denen diese Interpreten so interessiert sind, werden eigenständig nachgeliefert. Auf diese Weise konstruiert sich jeder seinen Kant, und eine Entscheidung über die
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konkurrierenden Interpretationsangebote ist nicht möglich, weil die gemeinsame Textbasis nicht gegeben ist. Dieser Entwicklung, die sich mit dem Anwachsen der Edition von Vorlesungsnachschriften, Reflexionen und Opus Vostumum verstärkt hat, steuert diese Untersuchung entgegen. Der Textkorpus wird auf die veröffentlichten Schriften eingeschränkt. In dem genealogischen Exkurs der Arbeit wird gegen die Gleichstellung der verschiedenen Textsorten argumentiert werden und ein aufwendiges textkritisches Verfahren vorgeschlagen, das den Umgang mit ihnen regeln soll (s. da^u, Exkurs). Mit diesem Verfahren wird zum einen dem vorläufigen Charakter der Reflexionen Rechnung getragen, die als ein Selbstverständigungs/w^«/? verstanden werden müssen und deren systematische Funktion aufgrund ihrer Kontextlosigkeit oft unklar ist. Darin liegt auch der Grund, warum gerade sie sich in besonderer Weise für Interpreten anbieten, die an einer systematischen Rekonstruktion nicht interessiert sind, ihre eigenen Interessen verfolgen und den Text nur als Assoziationsgrundlage verstehen. Zum anderen wird bei diesem Verfahren berücksichtigt, daß Kant seinen Vorlesungen ein Textbuch eines sogenannten „Autors" zugrunde gelegt hat und selbst wenn man die Angemessenheit der Nachschrift voraussetzt, nicht immer klar ist, ob Kant seine eigenen Uberzeugungen vorträgt oder sich der Kritik nur enthalten hat. Der veröffentlichte Text wird in dieser Untersuchung als Haupttext behandelt fcur Gewichtung der Quellentypen vgl. den wegweisenden Aufsat% von Hinske 1995). Das bedeutet gerade nicht, ihn gegen Kritik zu immunisieren. Es ist im Einzelfall eine systematisch hochrangige und schwierige Frage, warum Kant bestimmte Argumente und Probleme wohl in den Vorarbeiten, Briefen, Reflexionen oder Vorlesungsnachschriften, nicht aber in seinen veröffentlichten Texten entwickelt. Es wäre die Aufgabe einer umfassenden genealogischen Untersuchung, auf der Grundlage von Haupt- und Nebentexten die Entwicklung der Kantischen Freiheitstheorie zu erarbeiten. Dabei kann es gerade nicht bloß darum gehen, Übereinstimmungen und Widersprüchlichkeiten festzuhalten, sondern es muß nach den systematischen Gründen der Entwicklung geforscht werden. Eine solche Arbeit ist nur im Fall ihres Mißlingens „bloß historisch" fy B. Lehmann 1967; Kawamura 1996; für die Demonstration einer textkritischen und systematisch ertragreichen genealogischen Arbeit s. Schwaiger 1999). Der Haupttext als Ausgangspunkt für eine derartige Arbeit ist auch die alleinige Grundlage dieser Untersuchung. Sie kann und muß daher im Hinblick auf jenes umfassende genealogische Projekt nur als eine Vorarbeit verstanden werden. Wenn man mit dem Haupttext nicht weiterkommt, weil er argumentativ unzureichend ist oder auch nur Verständnisschwie-
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rigkeiten bereitet, können diese Probleme nicht aufgrund einer falsch verstandenen „Wohltätigkeit" durch jene Nebentexte kurzerhand beseitigt werden. Lassen sich die Schwierigkeiten innerhalb des Textes nicht auflösen, gilt es dies zu konstatieren und als Problem festzuhalten. Es wäre verkehrt, den Anspruch auf Kohären% den wir bei einzelnen Schriften oder dem kritischen System als Ganzem voraussetzen, auch noch auf alle anderen schriftlichen Dokumente, die uns von Kant oder den Nachschreibern seiner Vorlesungen überliefert sind, mit auszudehnen. Konkret: Auch wenn sich etwa aus seinen vorkritischen Schriften eine empiristische Freiheitstheorie rekonstruieren läßt, die im Widerspruch zu seinen kritischen Schriften steht, ist es überhaupt nicht plausibel anzunehmen, Kant würde den Anspruch erheben, daß beide zugleich wahr sind. In dieser Untersuchung soll daher nicht der Versuch unternommen werden, auch nur für alle veröffentlichten Schriften zu beweisen, daß Kant eine einheitliche und kohärente Freiheitstheorie entwickelt hätte. Vielmehr wird eine Auswahl getroffen, die jedoch nicht willkürlich ist, sondern sich an zwei systematischen Voraussetzungen orientiert, die unbestritten so wesentlich zur Kritischen Philosophie gehören, daß man sie auflösen würde, wenn man ihr diese Voraussetzungen streitig machte: Der transzendentale Idealismus und eine Ethik, deren Gesetz ein kategorisch gebietender Imperativ ist. Thema ist also eine Freiheitstheorie, die zum einen als Konsequenz des transzendentalen Idealismus verstanden werden muß und die hinreichend ist, um Kants anspruchsvolle Moraltheorie zu begründen. Kurz gesagt, ist dies sein theoretischer Begriff der Freiheit als Erstursächlichkeit, den er mit Hilfe seines transzendentalen Idealismus legitimiert und sein praktischer Freiheitsbegriff der Autonomie. Doch auch innerhalb der Texte, die man ungenau die kritischen Schriften nennt, scheint Kants Freiheitstheorie widersprüchlich zu sein, so daß man gemeint hat, auch innerhalb dieser Schriften lassen sich fünf Freiheitskonzeptionen voneinander unterscheiden, von denen unklar sei, wie sie miteinander in Einklang gebracht werden sollen (Beck 1998). Der Singular im Titel dieser Arbeit „Theorie" erweist sich so gesehen auch für die kritischen Schriften als problematisch. Dieses Problem wird aus den Hauptteilen dieser Arbeit herausgehalten und in einem entwicklungsgeschichtlichen Exkurs gesondert behandelt. Es wird sich zeigen, daß Kants Theorie der Freiheit trotz starker Kontinuitätslinien sehr wohl sich auch nach der Veröffentlichung der ersten Kritik noch entwickelt hat. Die Entwicklung betrifft nicht das Problem der widerspruchsfreien Denkmöglichkeit von Freiheit als Erstursächlichkeit (theoretischer Freiheitsbegriff), sondern die Bestimmung der
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Freiheit des Menschen als einem Wesen mit einem vernunftfähigen Begehrungsvermögen (praktischer Freiheitsbegriff). Dieser entwicklungsgeschichtliche Exkurs wird darüber Rechenschaft ablegen, warum sich der Textkorpus, auf den sich die Rekonstruktion stützt, im Wesentlichen auf die ersten beiden Kritiken einschränken läßt. Es wird sich zeigen, daß nicht nur im Kanon-Kapitel der ersten Kritik, sondern auch in der Grundlegung Kants Freiheitstheorie noch nicht komplett ist. Auch wenn sich zentrale Theoriebausteine aus diesen Texten in der zweiten Kritik wiederfinden, kommt diesen Texten in bezug auf Kants Freiheitstheorie kein eigenständiger systematischer Rang zu, und Kant hat den Kjanon und die Grundlegung hinsichtlich seiner Freiheitstheorie mit der Veröffentlichung der zweiten Kritik überflüssig gemacht. Außerdem wird sich herausstellen, daß diese Freiheitstheorie nicht, wie allgemein angenommen wird, durch die Religionsschriß eine fundamentale Korrektur erhält, sondern Kant für diese Schrift genau jene Theorie voraussetzt, die er mit der zweiten Kritik bereits abgeschlossen hatte. Für die hier rekonstruierte Freiheitstheorie wird in Anspruch genommen, daß sie erstens unter Berücksichtigung der anderen systematischen Vorgaben die konsequenteste und schlüssigste Theorie ist, die sich aus diesen Schriften entwickeln läßt, zweitens Kant sie nachweislich als Freiheitstheorie ausgearbeitet und nicht etwa nur einige Ansätze dazu geliefert hat und nicht zuletzt drittens so geartet ist, daß sie sich von den Freiheitstheorien anderer Philosophen in besonderer Weise unterscheidet, so daß wir Grund zu der Annahme haben, daß hier der Name „Kant" (und nicht etwa Crusius, Leibniz oder Davidson) eine besondere Schärfe erhält und mit Recht von „Kants Theorie der Freiheit" gesprochen werden kann. Die Einschränkung des Textkorpus bedeutet nicht eine Immunisierung desselben gegen externe Kritik. So ist es denkbar, daß die Freiheitstheorie, die in dieser Untersuchung entwickelt wird, sich der Sache nach als unzureichend erweist. Ist eine Korrektur auch innerhalb des hier eingegrenzten Rahmens nicht nur möglich, sondern auch nachweislich vorgesehen, muß die Rekonstruktion, die in dieser Untersuchung ausgearbeitet wird, selbst zurückgewiesen werden. Ist sie es nicht, wird die Theorie und nicht etwa die Rekonstruktion aus systematischen Gründen abgelehnt. Wenn man glaubt, das fehlende Theoriestück aus anderen Kantischen Schriften nachliefern und problemlos integrieren zu können, kann mit guten Gründen dafür plädiert werden, den Textkorpus umwillen einer sachlich angemesseneren Theorie zu erweitern. Die Richtigkeit der Interpretation als Interpretation dieses bestimmten Textes wird damit jedoch nicht angezweifelt, sondern die Theorie selbst für unzureichend erklärt. Auf diese Weise erhalten wir nicht nur einen genau bestimmten Begriff davon, was
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wir „Kants Theorie der Freiheit" nennen, sondern wir sind immer auch gezwungen, über die Funktion und die Schlüssigkeit der zur Disposition stehenden Theorieteile Rechenschaft abzulegen und stehen so mitten in einer systematischen Auseinandersetzung mit Kant über das Problem der Freiheit.
(c) Aufriß der Untersuchung Es wird in dieser Arbeit also nicht auf der Grundlage von Nebentexten ein „neuer" Kant konstruiert werden. „Kant" steht hier nicht für die Vorlesungsnachschriften, Reflexionen, oder vorkritischen Schriften, sondern für jene Schriften, die seit über zweihundert Jahren Gegenstand intensiver philosophischer Interpretation und Diskussion sind. Trotz dieser langen Interpretationsgeschichte ist die Freiheitstheorie, die Kant in diesen Texten entwickelt in fundamentaler Hinsicht mißverstanden geblieben. Die fünf im Vorwort genannten Mißverständnisse sind hierfür paradigmatisch. Diese Kritik, wenn sie um Begründung bemüht ist, wird in dieser Untersuchung sehr ernst genommen. Sie führt uns die Fremdheit dieser Theorie in aller Deutlichkeit vor Augen und zeigt die Ansatzpunkte an, an denen, verfestigte Überlieferungen und Deutungen aufzubrechen sind. Im besten Fall gelingt es, durch die Kritik hindurch über sie hinaus zu den Prinzipien des Textes vorzudringen. Durch das Aufbrechen und Abtragen von buchstäblich zu kurz greifender Kritik wird die ursprüngliche Problemdimension freigelegt, vor der auch erst die Antworten und Lösungsstrategien ihre eigentliche Bedeutung gewinnen. Nicht beschwörende Paraphrase, sondern Wiederentdeckung der Prinzipien lautet also die Devise einer Interpretation, die sich der Sache dieser Texte annimmt. Das Ergebnis ist auch hier die Entdeckung einer neuen Theorie der Freiheit, nur daß „Entdeckung" eben nicht als „Erfindung", sondern als „Ausgrabung" vctstanden werden muß. Der Aufbau der Arbeit trägt der problemgenetischen Reihenfolge Rechnung. Sie zerfällt in drei Teile und wird durch einen entwicklungsgeschichtlichen Exkurs gestützt, in dem die Textauswahl begründet wird. Der erste Teil kann als Exposition des Freiheitsbegriffes verstanden werden. Dieser Begriff wirft zwei grundlegende Schwierigkeiten auf: zum einen das Prädeterminismusproblem und zum anderen das Problem der moralisch bösen Handlung. Die Teile zwei und drei sind in dieser Reihenfolge als Antwort auf diese Probleme zu lesen.
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Der erste Teil setzt mit einer Explikation des Begriffs der Willensfreiheit als Autonomie ein. Es ist dieser Begriff, der nach Kants Überzeugung, der spekulativen Vernunft überhaupt erst das Kompatibilitätsproblem aufgibt. Es müssen die systematischen Motive und Voraussetzungen herausgearbeitet werden, die Kant dazu fuhren, Autonomie als „Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein" zu bestimmen. Dabei gilt es sowohl den Zusammenhang von einem kategorisch gebietenden Imperativ und einem absoluten Freiheitsbegriff als auch die moralpsychologischen Grundlagen aufzuklären. Kant leistet schließlich im Rahmen der zweiten Kritik auch eine Deduktion der Freiheit, mit der er ihr objektive Realität in praktischer Hinsicht verschafft. Grundlage dieser Deduktion ist das „unmittelbar" und „apodiktisch gewisse" Moralgesetz als „Faktum der Vernunft". Diese Theorie vom „Faktum a priori" ist Gegenstand heftiger Kritik gewesen. Bevor also die Deduktion der Freiheit selbst Gegenstand der Untersuchung werden kann, muß die Begründung der Deduktionsgrundlage, die Theorie vom Vernunftfaktum, untersucht werden. Die Deduktion der Freiheit aus dem Moralgesetz kann die deterministische Moralskepsis nicht befriedigen. Diese Skepsis ist theoretisch und betrifft die Möglichkeit einer Freiheitskausalität innerhalb einer prädeterminierten Welt. Das Prädeterminismusproblem stellt insofern eine fundamentale Bedrohung für eine Ethik dar, deren höchstes Prinzip die Autonomie des Willens ist. Kant hat sich im Rahmen seiner ersten Kritik diesem Problem in einer für die Freiheitsdiskussion ungewöhnlichen Grundsätzlichkeit gestellt, die es erforderlich macht, in der Rekonstruktion seines Lösungsvorschlages bis hin zu den Grundlagen des transzendentalen Idealismus vorzudringen. Im feiten Teil dieser Untersuchung soll nicht nur Kants Lösungsvorschlag, sondern auch seine Problemdiagnose, vor deren Hintergrund sein Lösungsvorschlag überhaupt erst verständlich wird, genau analysiert werden. Zunächst wird Kants „dialektisches Argument" rekonstruiert, auf dem die ganze Antinomie der reinen Vernunft beruht. Dabei wird sich zeigen, daß unter den falschen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen es jeweils zu einer illegitimen Verabsolutierung der beiden konkurrierenden Prinzipien von Natur und Freiheit kommt. Um diesen Streit zu schlichten, strengt Kant einen gerechten Prozeß an, in dem er die Ansprüche beider Parteien zu Wort kommen läßt und auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft. Anschließend werden die Auflösungsprinzipien der Antinomien aufgesucht, wobei es sich im wörtlichen Sinne als entscheidend erweist, daß es sich bei dem Verhältnis von Grund und Folge um ein dynamisches und nicht etwa mathematisches Verhältnis handelt. Diese besondere Eigen-
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schaft der dritten (und vierten) Antinomie erlaubt es Kant, ein salomonisches Urteil zu sprechen und das ,entweder oder' in ein ,sowohl als auch' umzuwandeln. Indem Kant mit seinem transzendentalen Idealismus den Grundsatz der Kausalität auf Erscheinungen einschränkt und die Freiheit dem Noumenon zuweist, kann er an beiden Prinzipien festhalten. Grundlegend dafür, daß beide Streitparteien Recht bekommen, ist also nicht nur die Unterscheidung zwischen mathematischen und dynamischen Antinomien, sondern das Konzept eines „Noumenon", der als „Grenzbegriff' die Endlichkeit sinnlicher Vernunfterkenntnis kennzeichnet. Damit ist auch zugleich der positive Nutzen von Kants Vernunftkritik angezeigt, den er in der Vorrede noch rhetorisch in Zweifel gezogen hatte. Sie greift als „Polizei" in den Vernunftstreit ein, um ihm für immer „einen Riegel vorzuschieben" und ermöglicht es, daß beide Parteien „ihre Angelegenheiten ruhig und sicher treiben können" (KrV, Β xxv). Der transzendentale Idealismus ist also der „Schlüssel zu[r] Auflösung" des Vernunftstreits (KrV, Β 518). Wer die Gültigkeit der Auflösung der dritten Antinomie beurteilen will, muß sich daher auch noch mit den Fundamenten des transzendentalen Idealismus auseinanderzusetzen: der Unterscheidung zwischen Erfahrungsgegenständlichkeit und Noumenon. Doch auch wenn sich neben Natur- auch Freiheitskausalität widerspruchsfrei denken läßt, ergibt sich noch ein weiteres Problem, nämlich wie wir in bezug auf dieselbe Erscheinung sagen können, sie unterliege dem Grundsatz der Kausalität und sei zugleich das Produkt absoluter Spontaneität. Genau dies ist die primäre Aufgabe, deren Lösung Kant sich speziell im Auflösungskapitel der dritten Antinomie zuwendet und die ihm eine so außerordentlich umfangreiche Erklärung abgefordert hat. Ihre detaillierte Erörterung wird das abschließende Thema des zweiten Teils sein. Im Anschluß daran soll in einem genealogischen Exkurs, dessen Grundprinzipien oben bereits skizziert worden sind, die Entwicklung von Kants Freiheitstheorie von der ersten zur zweiten Kritik dargestellt und die systematischen Motive herausgearbeitet werden, die Kant zu Modifikationen seiner Theorie bewogen haben. Dabei wird zunächst der Kanon der ersten Kritik und anschließend die Grundlegung mit seiner Theorie der Freiheit aus der zweiten Kritik verglichen. Es wird sich zeigen, daß die zweite Kritik die systematisch konsequenteste Form seiner Theorie der Freiheit als Autonomie darstellt und sowohl der Kanon als auch die Grundlegung trotz starker Kontinuitätslinien für eine vollständige Freiheitstheorie nicht erforderlich sind. Dieser Exkurs ist damit zugleich auch eine Rechtfertigung, warum diese Arbeit die zweite Kritik zur Grundlage des praktischen Freiheitsbegriffs macht und die anderen beiden Texte nur zusätzlich anführt, um Kontinuitätslinien anzuzeigen.
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Der dritte und letzte Teil wendet sich einem internen Problem zu. Neben dem Kompatibilitätsproblem, das der deterministische Moralskeptiker an Kants Theorie der Willensfreiheit heranträgt und dessen Schwierigkeit Kant zu jeder Zeit gesehen hat, stellt sich nämlich noch eine weitere Schwierigkeit, von der viele glauben, Kant habe sie erst sehr spät erkannt und daraufhin seine Freiheitstheorie einer grundlegenden Revision unterzogen. Gemeint ist das Problem der moralisch bösen Handlung. Folgt man der verbreiteten Meinung, dann hat Kant mit seinem positiven Begriff der praktischen Freiheit als Autonomie die Möglichkeit der moralisch bösen Handlung ausgeschlossen. Frei und damit moralisch zurechenbar sei für Kant allein die moralisch gute Handlung. Doch auch die moralisch gute Handlung wird damit, dem Prinzip des verlorenen Gegensatzes folgend, durch Kants Theorie letztlich ebenso unmöglich gemacht. Diese Kritik, die bereits der Zeitgenosse Kants, Karl Leonard Reinhold, in seinen Briefen über die Kantische Philosophie erörtert hat, wird der Gegenstand des dritten Teils dieser Untersuchung sein. Zunächst wird die „Reinhold-Kritik" aufgenommen und von ihrem klassischen Ort aus aufgearbeitet. Dabei wird sich herausstellen, daß nicht nur Reinholds Kritik, die er bereits als eine Kritik bloß an Kants „Buchstaben" und den sogenannten „Freunden der Kantischen Philosophie", nicht aber am kantischen „Geist" verstanden hat, sondern auch Reinholds Lösungsvorschlag heute noch das letzte Wort derjenigen ist, die Kants Theorie vor Absurditätsvorwürfen bewahren wollen. Gewöhnlich versuchen sie zu zeigen, daß Kant mit dem ersten Stück der Rßligionsschrift diesen Lösungsweg auch selbst eingeschlagen habe. Im Gegenzug dazu soll hier der Kantische Buchstabe rehabilitiert werden. Es wird dafür argumentiert, daß die Kritik auf einem Mißverständnis von Kants Bestimmung der positiven Freiheit beruht. Seine Freiheitskonzeption, so wie er sie in den ersten beiden Kritiken entwickelt, bringt nicht die fatalen Konsequenzen mit sich, die jene Kritiker ihr nahelegen. Es ist entscheidend, sich klar zu machen, daß Kant, wenn er von „positiver Freiheit" spricht, eine positive Definition von Freiheit anstrebt. Aus theoretischer Perspektive war ihm in der ersten Kritik lediglich eine analytische Definition gelungen. Erst über das Moralgesetz als unmittelbar gewissem Vernunftfaktum gelingt ihm, was aus theoretischer Perspektive prinzipiell unmöglich ist: eine synthetische Definition der Freiheit als eines nichtempirischen Begriffs. Daß diese Definition die Möglichkeit der moralisch bösen Handlung ausschließe, beruht auf einem Mißverständnis von Kants sogenannter „Analytizitätsthese". Auch wenn Kants positiver Freiheitsbegriff seiner moralphilosophischen Hauptschrift widerspruchsfrei ist, besteht kein Zweifel daran, daß
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Kant sich in der Religionsschrift sehr viel intensiver mit dem moralisch Bösen auseinandergesetzt hat. Wie seine Freiheitstheorie mit seiner Theorie des „radikal Bösen" zu vereinbaren ist, wird zum Abschluß dieses dritten Teils erörtert werden. Das erste Stück der Eligionsschrift darf nicht als Kants Antwort auf die Frage verstanden werden, warum dem Menschen seine moralisch bösen Handlungen zuzurechnen sind. Vielmehr wird sich zeigen, daß die Religionsschrift systematisch sowohl auf der Auflösung der dritten Antinomie als auch auf seinem praktischen Freiheitsbeweis gründet. Kant entwickelt in dieser späten Schrift nicht noch irgendwelche Zusatzargumente für die Zurechenbarkeit menschlichen Handelns, sondern allein auf der Grundlage seiner Freiheitstheorie der ersten beiden Kritiken kann der Mensch als radikal böse gedacht werden.
Teil I. Absolute Freiheit als Autonomie „Freiheit ist das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch %u sein." (Immanuel Kant) Es ist fast eine Selbstverständlichkeit geworden, bei der Rekonstruktion von Kants Freiheitstheorie die Chronologie der Kantischen Texte aufzugreifen und zunächst mit dem theoretischen Begriff der Freiheit als Spontaneität zu beginnen, um von dort zum praktischen Begriff, der Autonomie seiner Moralphilosophie, überzugehen (Ortwein 1983; Carnois 1987; Gunkel 1989; Allison 1990; Willaschek 1992; Hudson 1994). Für diese auf den ersten Blick nur chronologische Anordnung läßt sich sogar ein systematisches Argument beibringen: Damit einem Begriff „objektive Realität" zukommen kann, müssen zwei notwendige Bedingungen erfüllt sein, die zusammen hinreichend sind: In einem ersten Schritt wird gezeigt, daß der Begriff logisch möglich ist, d. h., daß er nicht widersprüchlich ist, wie Kant sagen würde, kein „Unding" ist, bevor im zweiten Schritt der Nachweis der realen Möglichkeit erbracht wird, indem man zeigt, daß dem Begriff auch ein Inhalt zukommt. Dieser Reihenfolge gemäß liefert Kant mit der Auflösung der dritten Antinomie den Nachweis der logischen und mit seiner Deduktion in der zweiten Kritik den der realen Möglichkeit der Freiheit. Diese Anordnung stellt jedoch die problemgenetische Reihenfolge des absoluten Freiheitsbegriffs gerade auf den Kopf. Worüber man bisher hinweggesehen hat und worauf Kant zu Recht in seiner zweiten Kritik aufmerksam macht, ist, daß es die praktische Vernunft sei, die zuerst der spekulativen das „unauflösliche Problem" mit dem Begriff der Freiheit aufgibt (KpV, V30 (A 53f.)). In bezug auf unser theoretisches Weltverständnis hat der Begriff der absoluten Freiheit, genauer gesagt, einer „Kausalität aus Freiheit", entgegen der Behauptung des Dogmatikers (und nicht etwa Kants) in der Vernunftantinomie, keine Funktion. Kant hatte sogar mit seiner ^weiten Analogie der Erfahrung beweisen können, daß dieser Begriff den Prinzipien der Naturerfahrung gerade zuwider ist. Nicht in bezug auf unser Erkennen,
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sondern in be2ug auf unser Handeln müssen wir so etwas wie eine „Kausalität aus Freiheit" in Anspruch nehmen. Deshalb sagt Kant, daß wir ohne die Erkenntnis des Moralgesetzes „niemals zu dem Wagstücke gekommen sein würde [n], Freiheit in die Wissenschaft einzuführen" (ebd.). Der Begriff der Freiheit, um den es Kant zu tun ist, ist nun nicht etwa ein relativer, sondern ein absoluter Freiheitsbegriff. Als solcher ist er kein Erfahrungsbegriff, sondern eine Vernunftidee. Diese Idee, so kann man ergänzen, wird nicht schon von empirisch-praktischer, sondern erst von moralisch-ptzkxischet Vernunft in Anspruch genommen. Es wird von entscheidender Bedeutung sein, sich klar zu machen, daß Kant dabei nicht irgendeine Moraltheorie im Auge hat, keine „empirische Sittenlehre", sondern, wie jeder weiß, eine Moraltheorie, deren höchstes Moralprinzip ein ^/igowi^-gebie tender Imperativ ist. Doch worüber leicht hinweggesehen wird, ist, daß nur kategorisch und nicht etwa hypothetisch-verbindliche Imperative einen absoluten Freiheitsbegriff implizieren. Das Konzept einer Moraltheorie mit kategorisch-gebi&tenAen Imperativen erfordert es, an dem Begriff der absoluten Freiheit festzuhalten. Weder unser theoretisches Weltverständnis noch eine bloß empirische Sittenlehre, die auch mit einem relativen Freiheitsbegriff auskäme, würden uns dafür einen Grund geben. In seiner zweiten Kritik zeigt Kant, daß wir uns vermittels unsers unmittelbaren Wissens kategorischer Verpflichtung auch unserer absoluten Freiheit bewußt werden. Erst von diesem Bewußtsein ausgehend ergibt sich die Frage, wie und ob diese Art der Willensfreiheit als ein Fall von „Kausalität aus Freiheit", die wir in unseren moralischen Urteilen immer schon voraussetzen, mit unserem theoretischen Weltverständnis vereinbar ist. Dieser Zusammenhang besteht nicht erst seit der zweiten Kritik. Vielmehr hat Kant auch in der ersten Kritik wie selbstverständlich eine Moraltheorie mit kategorisch-gebietenden Imperativen vorausgesetzt (KrV, Β 835). Bereits dort hat er gesehen, daß in der Moral jene transzendentale Idee der Freiheit ihre Funktion hat (KrV, Β 582 ff.). Es ist daher angebracht, einmal der problemgenetischen Anordnung folgend, mit Kants praktischem Freiheitsbegriff einzusetzen und erst in dem nachfolgenden zweiten Teil dieser Arbeit die skeptische Nachfrage nach der Denkmöglichkeit einer Kausalität aus Freiheit zu beantworten. Erst wenn der Zusammenhang von Kants Moralphilosophie und einem absoluten Freiheitsbegriff hinlänglich expliziert worden ist, wird verständlich, was genau bei dem Vernunftstreit in der dritten Antinomie zur Disposition steht. Erst die genaue Einsicht in diesen Zusammenhang kann verständlich machen, warum Kant nicht wie gegenwärtige Kompatibilisten sich mit
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einem relativen Freiheitsbegriff zufrieden geben kann und statt der Vereinigung von Naturkausalität und relativer Freiheit auf empirischer Ebene, Totalitätsmetaphysik betreibt, um die Denkmöglichkeit des absoluten Freiheitsbegriffs zu sichern. Zugleich wird aber auch deutlich werden, warum Kants Deduktion der Freiheit im Rahmen seiner Moralphilosophie die Bedenken des prädeterministischen Skeptikers prinzipiell nicht befriedigen kann. In diesem Eröffnungsteil soll im ersten Kapitel die systematische Funktion des Freiheitsbegriffs im Rahmen der Kantischen Moralphilosophie dargelegt werden. Dabei wird Kants Theorie des menschlichen Begehrungsvermögens im Zusammenhang mit seinem Konzept kategorischverbindlicher Imperative erörtert werden, um schließlich die moralpsychologische Besonderheit aufzuzeigen, die eine derartige Moraltheorie involviert. Das zweite Kapitel wird sich mit der Voraussetzung des ersten Kapitels befassen, nämlich, wie Kant mit Recht behaupten kann, daß das uneingeschränkt gebietende Moralgesetz ein „Faktum der Vernunft" sei. Mit dem „Faktum der Vernunft" ist das Fundament für Kants praktischen Freiheitsbeweis, seine „Deduktion der Freiheit", gewonnen; sie wird das Thema des dritten und letzen Kapitels dieses ersten Teils sein.
1. Kapitel: Willensfreiheit und Moral In einem relativen Sinn ist die menschliche Freiheit gar kein Problem. Die Selbstbeobachtung lehrt uns, daß wir uns zu unseren Bedürfnissen immer noch wählend verhalten und auf diese Weise unser Handeln steuern können. Kant aber beansprucht mehr. Dieses Mehr hat seine Gründe in einer universalistischen Ethik, einer Ethik, deren Gesetz ein kategorisch gebietender Imperativ ist. Gewöhnlich wird darauf hingewiesen, daß wir die Freiheit des Menschen voraussetzen müssen, damit ihm seine Handlungen zugerechnet werden können. Kant ist in seiner Moralphilosophie nicht primär an der Frage interessiert, ob dem Menschen seine Handlungen zuzurechnen sind, sondern nach welchen Gesetzen eine Zurechnung erfolgen kann. Er argumentiert dafür, daß wir selbst es sind, die sich das Moralgesetz auferlegen und es auch nur deshalb ein kategorisch-gebietender Imperativ ist. Wie sich in diesem Kapitel zeigen wird, impliziert dieser kategorisch-gebietende Imperativ, daß der menschliche Wille absolut frei ist. Der Unterschied zwischen relativem und absolutem Freiheitsbegriff wird terminologisch oft in den Begriffen „Handlungsfreiheit" und „Willensfreiheit" fixiert. Nicht selten kommt es dabei zu Mißverständnissen.
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Nicht nur die Vertreter eines absoluten Freiheitsbegriffs, sondern auch Kompatibilisten sprechen von „Willensfreiheit". Doch bei Kompatibilisten ist diese sogenannte „Willensfreiheit" nur ein relativer Begriff und also aus der Sicht absoluter Freiheitsvertreter bloß eine Handlungsfreiheit. Diese Konfusion ist Ausdruck davon, daß Kompatibilisten nicht selten die eigentliche Problemdimension des absoluten Freiheitsbegriffes mißverstehen B. Moore 1912, S. 113). Ein zweiter Grund macht diese Ausdrücke in bezug auf die Kantische Freiheitstheorie ungenau, ja sogar unbrauchbar. Das paradigmatische Beispiel der Scholastik (s. άαψ Λrendt 1979, S. 126), das auch von Locke wieder aufgegriffen wird (Locke 1690, B. 2, Chapt. XXI, Sect. 9), um die Unterscheidung von Willens- und Handlungsfreiheit zu erklären, ist der Sturz eines Menschen ins Wasser. Der Mensch, der ins Wasser stürzt, etwa weil die Brücke unter ihm zusammenbricht, kann im Fallen sich sehr wohl noch wünschen, nicht zu stürzen und sogar sich zu diesem Wunsch in Form einer Ja/Nein-Stellungnahme wählend verhalten, er ist aber nicht mehr in der Lage, diesem Willen auch handelnd zu entsprechend. Der Stürzende ist also sehr wohl willens- aber nicht handlungsfrei. Das Wollen wird hier als ein Wahlvermögen gedacht, dem das Handeln als die Verwirklichung des Wollens gegenübersteht. Kant denkt den Willen dagegen als ein Kausa/vctmögcn, als die Verwirklichung einer Möglichkeit. Wenn Kant die positive Freiheit als das „Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein" definiert, ist, wie sich zeigen wird, mit der Praktizität der Vernunft mehr als nur das Hervorbringen eines mentalen Zustandes, einer „Pro-Einstellung" zu einer begehrten Handlungsalternative gemeint. Vielmehr ist damit impliziert, daß reine Vernunft handlungswirksam sein kann und genau diese mögliche Handlungswirksamkeit der reinen Vernunft ist die positive Definition der (absoluten) Freiheit unseres Willens. Nun will Kant freilich nicht behaupten, daß, wenn wir nur wirklich wollen, auch die Schwerkraft außer Kraft setzen können. Auch die Existenz „innerer Schwerkräfte", wie etwa zwanghaftes Verhalten, würde Kant nicht leugnen. Worum es Kant im Rahmen seiner Problemstellung geht, ist, ob beim menschlichen Willen als einem vernunftfähigen Kausalvermögen für seine Handlungswirksamkeit prinzipiell eine Lust vorausgesetzt werden muß, oder ob nicht die Vernunft selbst den Willen bestimmen kann, indem sie selbst eine „Triebfeder" zur Handlung hervorbringt. Kant fragt also, ob der menschliche Wille als vernunftfähiges Kausalvermögen nur über Handlungsgründe verfügt, die subjektiv-different und historisch gewachsen sind und der Vernunft in bezug auf diese Handlungsgründe lediglich eine instrumentelle Funktion zukommt, oder unsere Vernunft
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selbst mit einem nicht-empirischen, reinen Vemunftgrund, der historisch invariant ist, unser Handeln bestimmen kann. Willensfreiheit wird bei Kant also nicht bloß als eine Fähigkeit gedacht, mentale Begehrungszustände hervorzubringen oder auf einer intellektuellen Metastufe zu diesen Begehrungszuständen wählend Stellung zu nehmen, es geht vielmehr immer auch um die mögliche Verwirklichung, die mögliche Han dlungsssmk s a m k c it. Deshalb sind die Ausdrücke „Willensfreiheit" und „Handlungsfreiheit" in bezug auf die Kantische Freiheitstheorie irreführend. 1 Sie weisen aber auf einen Unterschied in der Sache hin, der hier nicht etwa eingeebnet werden soll. Allein die pnn^tpielle Fähigkeit des menschlichen Willens, als Kausalvermögen aus einem reinen Vernunftgrund heraus handeln zu können, garantiert nämlich noch nicht die aktuelle Selbstherrschaft des Individuums über sich selbst (innere Freiheit) sowie seine Unabhängigkeit von äußeren Zwängen (äußere Freiheit). Hier beginnt die relative und empirische Dimension des Freiheitsbegriffs, die als „Handlungsfreiheit" bezeichnet wird und in dieser Untersuchung „relativer Freiheitsbegriff' heißt. Demjenigen, der im Umgang mit seinen Gefühlen und Affekten geübt und erzogen ist, fällt die Suspension und Kontrolle leichter als dem Ungeübten. Wer zudem eine Anleitung im moralischen Urteilen erhalten hat, wird die „Dialektik", die Scheinhaftigkeit, erkennen, wenn er oder andere versuchen, „wider die strengen Gesetze der Pflicht zu vernünfteln und ihre Gültigkeit, wenigstens ihre Reinigkeit und Strenge in Zweifel [ziehen]" (GMS, 405 (BA 23)). Es ist eine schwierige und wichtige Frage, mit der Kant sich selbst intensiv auseinandergesetzt hat, wie eine ^777///^rinzipiengeleitete Erziehung dem Menschen Selbstherrschaft über sich verschaffen kann (KpV (Methodenlehre); MS/TL; ApH (3. Buch); Päd.; s. άαψ Munzel 1999; Hufnagel 1988, S. 50-56). Doch dieser Frage geht die nicht-empirische, metaphysische Frage nach dem absoluten Begriff der Freiheit voraus. Nur wenn der menschliche Wille tatsächlich autonom im kantischen Sinne (!) ist, ist es überhaupt sinnvoll, eine Erziehung aber auch ein Rechtswesen auf der Grundlage eines autonomen Vernunftsubjekts zu begründen. Dieser fundamentale Freiheitsbegriff ist das Thema dieser Untersuchung.
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Die Konfusion geht sogar soweit, daß das Vereinbarkeitsproblem bei Kant als Problem der Vereinbarkeit von „Handlungsfreiheit"© und dem „allgemeinen Kausalgesetz" beschrieben wird (Stekeler-Weithofer 1990, J . 304). Dies ist richtig, insofern es Kant nicht nur um die spontane Hervorbringung von Vorstellungen geht, sondern auch um die Handiungswkksamkeit dieser Vorstellungen. Es ist aber verkehrt, insofern „Handlungsfreiheit" gewöhnlich als ein relativer Freiheitsbegriff verstanden wird und gerade um die Rechtfertigung dieses anspruchslosen und unproblematischen, relativen Freiheitsbegriffs geht es Kant nicht.
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Es wird die Aufgabe dieses ersten Kapitels sein, Kants Theorie der Freiheit als Autonomie zu explizieren. Dabei gilt es insbesondere, die Voraussetzungen auseinanderzulegen, die gegeben sein müssen, um rechtmäßige Adressaten uneingeschränkter Moralgesetze zu sein. In einem ersten Abschnitt werden die zentralen Momente von Kants Theorie des menschlichen Begehrungsvermögens untersucht und es soll gezeigt werden, inwiefern die Freiheit dieses Begehrungsvermögens in seiner Autonomie, dem „Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein", besteht. Im zweiten Abschnitt wird dann zunächst das objektive Moment, die Gesetzgebung, thematisiert werden, bevor im dritten und letzen Abschnitt nach den moralpsychologischen Grundlagen, dem subjektiven Moment, für die Verwirklichung einer Handlung aus reiner Vernunft gefragt werden soll. (a) Autonomie des Willens Kant bestimmt das Begehrungsvermögen als die Fähigkeit, „durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellung zu sein" (KpV, V 9 (A 15); KU, V 177 β x x i i f f . ) ; MS/E, VI 211 (AB 1); ApH, VII251, β 202)). Vorstellungen sind Bewußtseinsakte. Der Inhalt dieser Bewußtseinsakte sind die vorgestellten Gegenstände. Als Inhalte des Begehrungsvetmögens und nicht etwa Verabscheuungsvermögens (KpV, V58 (A 101)) wollen wir ihre Verwirklichung. Wenn die Verwirklichung des Bewußtseinsinhalts in unserer Macht liegt, können wir durch die Inhalte unseres Bewußtseins unser Verhalten so bestimmen, daß wir den begehrten Gegenstand verwirklichen. Auf diese Weise werden jene Inhalte „Ursache" der Verwirklichung des begehrten Gegenstandes. Das Begehrungsvermögen wird von Kant also als ein kausales und nicht etwa intentionales Vermögen verstanden (s. άαψ Willaschek 1992, S. 106112)?
Kant unterscheidet zwei Arten von Akten des Begehrungsvermögens: die Willkür (Wille) und den Wunsch. Wenn unser Begehren mit dem Bewußtsein der Fähigkeit zur Verwirklichung begleitet ist, dann wollen wir den Gegenstand. Ist das Begehren dagegen mit dem Bewußtsein begleitet, daß wir den begehrten Gegenstand unserer Vorstellung nicht hervorbringen können, wünschen wir ihn bloß.
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Für einen Versuch, gegen Kants moralphilosophische Grundlegungsschriften von der dritten Kritik aus „mit" Kant eine Intentionalitätstheorie zu entwickeln j-, Prauss 1983, §§ 12-16.
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Mit diesen Definitionen ist ein bekannter Sachverhalt angesprochen. Wir können durch Erfahrung feststellen, daß wir, wenn wir beispielsweise unsere Gesundheit begehren und zugleich ein Wissen haben, wie wir dieses Begehren verwirklichen können, ζ. B. durch das Wissen, daß raffinierter Zucker Karies verursacht, unser Verhalten durch diese Vorstellungen so beeinflussen, daß wir den Verzehr von Zucker meiden. Die Vorstellung „Gesundheit erhalten" wäre insofern die Ursache der Handlung und, wenn das Wissen wahr ist, zugleich die Ursache für den Erhalt der Gesundheit. Von einem Willensakt kann man nun genau dann sprechen, wenn wir unsere Gesundheit begehren und zugleich das Bewußtsein haben, sie durch entsprechende Handlungen herbeiführen zu können. Bei einem Wunsch wäre dasselbe Begehren dagegen mit dem Bewußtsein begleitet, sie nicht herbeifuhren zu können. Der Grund können eigene Schwäche oder auch äußere Hindernisse sein. Ein wesentliches Charakteristikum des menschlichen Begehrungsvermögens, das ihn vom bloß tierischen unterscheidet, ist, daß er auf den Verstand bezogen ist (KpV, V 55 (Λ 96)). Wir sind in der Lage, Regeln und Grundsätze zu formulieren, von deren Befolgung wir uns mit gutem Grund eine erfolgreiche Verwirklichung unserer Absichten versprechen. Derartige Verstandesvorstellungen schreiben uns ein „Mittel zur Wirkung, als Absicht vor[...]" (KpV, V20 (A 36)). Bereits durch Selbstbeobachtung können wir feststellen, daß unser Begehrungsvermögen durch sinnliche „Antriebe zwar affiziert, aber nicht bestimmt wird" (KrV, Β 562; Β 830; KpV, V 32 (A 57); MS/Ε, VI 213 (AB 5)). Wir können „durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen überwinden" (KrV, Β 830). Im Unterschied zum tierischen Begehrungsvermögen, das in seinem Verhalten durch Instinkte unmittelbar bestimmt ist, können wir Menschen unsere unmittelbaren Handlungsimpulse suspendieren und nach Vorstellungen richten, die in diesem Fall nicht bloße Repräsentationen, sondern Begriffe sind und uns Handlungsanweisungen bzw. Mittel zur erfolgreichen Verwirklichung anzeigen. Das menschliche Begehrungsvermögen wird nicht durch einen Reiz unmittelbar zur Handlung bestimmt, vielmehr können wir unser Verhalten an Regeln orientieren. Diese Fähigkeit gibt uns einen Handlungsspielraum. Man kann diese Fähigkeit mit Recht „Freiheit" nennen. Auch Kant streitet diesen Sinn von Freiheit nicht ab. Allerdings handelt es sich dabei lediglich um Freiheit in einem relativen und nicht etwa absoluten Sinne. Entscheidend ist hier, was uns dazu veranlaßt, unsere unmittelbaren Handlungsimpulse zu überwinden. Wenn der Zweck, der uns dabei zugrunde liegt, wiederum ein Zweck ist, für den eine Lust als gegeben
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vorausgesetzt werden muß, dann suspendieren wir unseren unmittelbaren Handlungsimpuls lediglich umwillen der Verwirklichung jener anderen Lust. Wenn dem menschlichen Begehrungsvermögen nur diese relative Freiheit zukäme, dann würde es sich vom tierischen Begehrungsvermögen nur graduell, nicht aber kategorial unterscheiden. Das Prinzip, nach dem beide verfahren würden, wäre das Lustprinzip (GMS, IV 459 (BA 120 f.); KpV, V 61 f . (A 108)). Die Pointe von Kants Definition des Begehrungsvermögens ist nun, daß sie das Ergebnis seiner moralphilosophischen Untersuchung nicht vorwegnimmt. Vielmehr läßt sie offen, ob dem menschlichen Begehrungsvermögen zu seiner Handlungswirksamkeit immer eine „Triebfeder" als gegeben vorausgesetzt werden muß, oder ob es auch aus reiner Vernunft zum Handeln bestimmt werden kann. Das zentrale Problem der Kantischen Moralphilosophie ist gerade, ob unserem Intellekt in bezug auf den Willen nur eine instrumentellregulative Funktion zukommt und er nur der ,Administrator' bzw. „Diener" unserer subjektiven Bedürfnisse ist (GMS, 441 (BA 89); KpV, V 24 (A 44 f.); Rel VI, 45 (B 50)), oder ob er auch allein aus sich heraus ein konstitutives Handlungsgesetz hervorbringt, das unser Handeln bestimmen kann. Kant weiß, daß nur wenn er beweisen kann, daß die Vernunft im Praktischen auch eine konstitutive Funktion hat, sich auch eine Moral mit uneingeschränkten Sollensansprüchen rechtfertigen läßt (s. da%u. Kap. 1b). Das Ergebnis seiner Moralphilosophie ist eindeutig: Die Vernunft hat eine konstitutive Funktion. So wie sie als „Vermögen der Prinzipien" (KrV, Β 356; GMS, IV448 (BA 101); KpV, V 119 f . (A 216); MS/Ε, VI 214 (AB 6)) im Unterschied zum Verstand in der theoretischen Erkenntnis über die sinnliche Anschauung hinaus geht (KrV, Β 367), ist sie auch im Handeln nicht auf ein vorliegendes Begehren angewiesen. Doch während das theoretische Erkenntnisvermögen , f i r sich selbst gar nichts erkennt' und bei der Erkenntnis immer auf etwas sinnlich Gegebenes angewiesen ist (KrV, Β 145), bringt die praktische Vernunft den Gegenstand des Willens und mit ihm zugleich auch die „Triebfeder" zur Handlung, die „Achtung vor dem Gesetz" selbsttätig hervor (s. άαψ Kap 1c). Praktische Vernunft ist ,,für sich selbst praktisch" und kann so aus sich heraus nicht nur eine Regel zur Erreichung eines vorausgesetzten Zwecks hervorbringen, sondern bringt auch diesen Zweck und mit ihm die Triebfeder zur Handlung selbst noch hervor (GMS, IV410 ßA 33), 461 (BA 124 f.); KpV, V24 f . (A 44), 91 (A 163); KU, V174 f . β xviif.)).
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Als Menschen sind wir zwar nicht ausschließlich Vernunftwesen, doch als Vernunftwesen ist uns der vernünftige Handlungs2weck nicht gleichgültig. Der Vemunftzweck steht unserem Willen nicht als etwas ihm äußerliches gegenüber, sondern ist sogar ein Zweck, den jeder Mensch als Vernunftwesen notwendig will (KpV, V 60 f . (A 106)). In der Fähigkeit, daß reine Vernunft für sich selbst praktisch sein kann, liegt für Kant nun auch zugleich die spezifische Differenz des menschlichen Willens, die ihn nicht nur dem Grad, sondern auch der Art nach von einem tierischen Begehrungsvermögen unterscheidet (GMS, IV 459 (BA 120 f.); KpV, V 61 f .
(A 108)). Ein Begehrungsvermögen, das wie das menschliche nicht nur die Fähigkeit besitzt, Regeln für einen gegebenen Zweck hervorzubringen und diesen Regeln seine unmittelbaren Handlungsimpulse unterzuordnen, sondern auch den Zweck selbst noch hervorbringt, ist absolut frei. Das menschliche Begehrungsvermögen hat die Fähigkeit, sich nicht nur nach zweckrationalen Prinzipien, sondern „nach praktischen Prinzipien a priori" zu richten (KpV, V32 (A 57)). Seine Freiheit besteht also darin, daß es „für sich selbst"praktisch ist und nicht etwa für seine Handlungswirksamkeit erst anderer Einflüsse bedarf. Wie schon in seiner theoretischen Philosophie hat Kant die Unterscheidung zwischen Vernunft und Verstand auch in seiner praktischen Philosophie sprachlich nicht immer durchgehalten. Er verwendet Vernunft manchmal in einem weiteren Sinne, der auch Zweckrationalität einschließt. Doch auch wenn diese Unterscheidung sprachlich nicht immer präsent ist,3 hat er der Sache nach immer zwischen pragmatischtechnischer und moralischer Vernunftanwendung unterschieden. Verwendet man Vernunft in diesem weiten Sinne, kann man sagen: Wenn unsere Vernunft den Willen in regulativer Funktion bestimmt, handeln wir %weckrational; ist die Vernunft hingegen konstitutiv, schreibt sie ihm einen moralischen Zweck vor. Allein die konstitutive Funktion der Willensbestimmung ist für Kant ein Problem. Daß der Wille durch yweckrationale Überlegungen bestimmt sein kann, steht für ihn außer Frage und ist eine Tatsache der empirischen Psychologie. Diese Art der Willensbestimmung wird von Kant jeweils nur als Kontrastfolie zur moralischen Willensbestimmung abgehandelt. Wenn nun das Begehrungsvermögen unbedingt frei sein soll, muß es allein aus sich heraus etwas bewirken können und es darf nicht etwas ihm Fremdes als Ursache seines Wirkens zugrunde liegen. Es muß sich selbst 3
An entscheidenden Stellen legt Kant jedoch großen Wert auf diese Unterscheidung (GMS IV, 452 (BA 107f.); KpV V, 55 (A 96); KrV, Β 575).
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mit einem hinreichenden Handlungsgrund ausstatten. Auf diesen Handlungsgrund stößt Kant bei seiner Frage, wie eine praktische Regel beschaffen sein muß, damit ihr zu Recht der Status eines ohne Einschränkung gültigen Handlungsgesetzes zugesprochen werden kann. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist, daß dieses Gesetz zugleich auch das Gesetz ist, dem ein absolut freier Wille „allein notwendig" unterworfen ist (KpV, V 29 (A 52)). Zu dem spezifischen Freiheitsgesetz gelangt Kant also durch seine moralphilosophische Grundfrage nach dem unbedingt Guten. Kant argumentiert mit der Unterscheidung von Materie und Form des Prinzips, das der Handlung zugrunde liegt: Material ist der Wille dann bestimmt, wenn die Wirklichkeit eines Zustandes oder Gegenstandes umwillen der Lustgewinnung angestrebt wird. Das Lustprinzip kann indessen nicht zur Begründung des uneingeschränkt Guten dienen, weil wir nur aus der Erfahrung wissen können, was wir begehren und was wir für begehtensmrt befunden haben. Wenn unsere Vernunft „Ratschläge der Klugheit" generiert, ist sie angewiesen auf die Kontingenz der eigenen Bedürfnisse und auf eine nicht weniger kontingente Welt. Die Maximen, die wir uns dabei aneignen, stellen sich zuweilen als mehr, zuweilen als weniger tauglich heraus. Um erfolgreich Lebensregeln zu formulieren, bedarf es „Weltkenntnis" (KpV, 36 f . (A 64)), und um sie mit Gewißheit zu bestimmen, „Allwissenheit" (GMS, IV 418 (BA 46f.)). Was „wahren dauerhaften Vorteil bringt, ist [...] in undurchdringliches Dunkel eingehüllt". Viel Klugheit ist erforderlich, die Regel durch „geschickte Ausnahmen [...] den Zwecken des Lebens anzupassen" (KpV, 36 f . (A 64)). „Alles scheinbare Vernünfteln a priori ist [bei einer Glückseligkeitslehre] im Grunde nichts, als durch Induktion zur Allgemeinheit erhobene Erfahrung (MS/Ε, VI 215 f . (AB 9)). Deshalb können wir zur Erlangung unserer Glückseligkeit immer nur „generelle"aber niemals „universelle"Regeln formulieren (KpV, V 36 (A 63)). Weil alle materialen Bestimmungsgründe von der individuellen Konstitution des Subjekts abhängig und damit empirisch bedingt sind, taugen sie nicht zu einem präskriptiven Handlungsgesetz, das für alle Menschen kategorisch verbindlich ist. Ein Wille, der nach dem Lustprinzip handelt, muß sich, um erfolgreich zu sein, notwendig auf Mittel zur Verwirklichung seines Zweckes einlassen, die ihm nicht reine Vernunft vorschreibt, sondern die der theoretische Verstand in praktischer Anwendung erst aus der Erfahrung gewinnen muß. Die Gesetze, denen ein nach Lust strebender Wille unterworfen ist, gibt er sich nicht selbst, sondern „das Objekt durch sein Verhältnis zum Willen gibt diesem das Gesetz" (GMS, IV 441 (BA 88), KpV, V109 (A 197)).
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Um nun das unbedingte Handlungsgesetz herauszuarbeiten, sieht Kant von aller Materie ab und erkennt, daß allein die Widerspruchsfreiheit unserer Handlungsprinzipien zum praktischen Gesetz dienen kann (GMS, IV 422 (BA 53), 437 ßA 81); KpV, V 19 (A 36), 26f. (A 48 f.)). Dieses Gesetz wird anders als jene Klug- oder Geschicklichkeitsregeln nicht in Reflexion auf die empirische Verfaßtheit des Subjekts und dessen Welt gewonnen, vielmehr gibt sich das Subjekt dieses Gesetz selbst (KpV, V 33 (A 59)). Durch dieses Gesetz läßt sich die absolute Freiheit des Begehrungsvermögens positiv bestimmen, die aus theoretischer Perspektive prinzipiell nicht einsehbar ist. Die absolute Freiheit des Begehrungsvermögens besteht nicht in seiner Gesetzlosigkeit (in welchem Falle der Begriff eines freien Willens widersprüchlich wäre), sondern darin, daß es sich als selbstgesetzgebend über die Naturkausalität erhebt, sich als „erhaben" erweist (GMS, IV 440 (BA 86); KpV, V 88 (A 158)), indem es sich den hinreichenden Bestimmungsgrund für sein Wirken selbst gibt. Während der Wille als Begehrungsvermögen, wenn er auf materiale Prinzipien ausgerichtet ist, heteronom ist, und Heteronomie eine Naturnotwendigkeit des Willens bedeutet (GMS, IV 446), muß er als absolut freier Wille die Gesetze seines Wirkens selbst hervorbringen. Diese Fähigkeit des Willens, aus einem reinen Vernunftgrund heraus wirksam werden zu können, bezeichnet Kant als die „Autonomie" des Willens (GMS, IV 440 ßA 87), 447 ßA 98); KpV, V 33 (A 59), 47 (A 83), 128 (A 232), 132 (A 237).A Mit ihr ist zugleich auch eine positive Definition der Willensfreiheit gewonnen: Es ist das „Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein" (MS/E, VI 213 f . (AB 6); GMS, IV461 ßA 124); KpV, V 62 (A 110)). Der reine Wille ist reine praktische Vernunft und nicht auf die Materie, sondern auf die Form der Maxime gerichtet. Als solcher will er die Gesetzlichkeit seiner Maximen, d. h., ihre Universalisierbarkeit. Nun besteht die Moralität einer Handlung gerade darin, die universelle Gültigkeit der Maxime, die der Handlung zugrunde liegt, zu wollen. Deshalb heißt ihre Universalisierbarkeit zu wollen, auch ihre Moralität zu wollen (GMS, IV422 ßA 54f.), 437 ßA 81 f.); KpV, V19 (A 36), 26f. (A 48f.)). Damit 4
Es ist eine verbreitete Unterbestimmung des Autonomiebegriffs, ihn bloß auf den Gesetzgebungsaspekt zu reduzieren fc B. Bittner 1983, S. 121; Schilling 1996, 70 ff.). Kant aber geht es um die Autonomie des Willens. Der Wille wird von ihm als Kausalvermögen gedacht, das Ursache von Wirkungen in der Welt ist. Die Praktizität der reinen Vernunft bedeutet gerade nicht nur, spontan ein Gesetz hervorzubringen, sondern daß der Wille kausal wirksam wird. Diese mögliche Handlungswirksamkeit reiner Vernunft ist im Autonomiebegriff mit impliziert. Nur so wird auch der Zusammenhang von der Idee der transzendentalen Freiheit als HrsAMrsächlichkeit und Autonomie des Willens verständlich (s. da%u Kap. 8b).
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steht für Kant fest, daß das Gesetz eines freien Willens nur das Moralgesetz sein kann. Im praktischen Vernunftgebrauch ist es allein der „mora/«•^-praktische" Gebrauch, bei dem sich die Vernunft als konstitutiv erweist. Und so glaubt Kant mit Recht schließen zu können, daß „ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei" sind (GMS, IV 447 (BA 98); KpV, V 33 (A 59)). Bei zweckrationalen Überlegungen kann die praktische Vernunft dagegen bloß aus „gegebenen Gesetzen durch Schlüsse Folgerungen ziehen, die doch immer nur bei der Natur stehen bleiben" (KU, V 175 (B xvii)). Gerade weil die praktische Vernunft in bezug auf den Zweck der Handlung nicht ursprünglich schöpfend ist und er als gegeben vorausgesetzt werden muß, läßt sich positiv kein Freiheitsgesetz formulieren, das dem Willen zugrunde liegt, wenn er aus zweckrationalen Erwägungen handelt. Kant behauptet also zum einen, daß wir einem uneingeschränkt gebietenden Moralgesetz verpflichtet sind und er erkennt, daß die absolute Freiheit des Willens die Bedingung seiner Möglichkeit ist. Dieser freie Wille, darf nicht als ein einzelner Willensakt verstanden werden, sondern meint das Begehrungsvermögen des Menschen im allgemeinen. Dieses vernunftfähige Begehrungsvermögen ist nicht allein der Naturkausalität unterworfen, und in seinem Wirken nicht „heteronom". Vielmehr ist es dazu fähig, aus einem ursprünglich eigenen Handlungsgrund heraus wirksam zu werden. Genau darin liegt die spezifische Freiheitskausalität der Autonomie und die absolute Freiheit unseres Willens (s. da^u Kap. 7). Nun muß das Moralgesetz uns Menschen vorgeschrieben werden und beschreibt nicht etwa auch unser tatsächliches Handeln, weil wir nicht immer schon das tun, was vernünftig ist. Wäre unser Wille ausschließlich durch Vernunft bestimmt, würden sich alle Imperative in Indikative verwandeln. Unser Wille ist jedoch kein „heiliger Wille", sondern immer auch von Zwecken bestimmt, die jenen Ansprüchen der Vernunft zuwider sind. Der Imperativ ist also eine Regel, die eine Handlung, die subjektiv zufallig ist, als objektiv notwendig vorschreibt (GMS, IV413 f . (BA 37f.), KpV, V 32 (A 57); MS,/Ε, VI 222 (AB 20)). Diese Differenz zwischen objektivem Gebot und subjektiver Absicht wird von Kant begrifflich durch das Verhältnis von „Maxime" und „Imperativ" fixiert. Die Maximen drücken die subjektiven Grundsätze unseres Handelns aus. Es sind Wollenssätze, die den Sollenssätzen, den Imperativen, gegenüber stehen. Wenn die Wollenssätze mit den Sollenssätzen übereinstimmen, dann handeln wir jeweils geschickt, klug, oder moralisch gut.5 5
Für eine Explikation des Maximenbegriffs s. Bittner 1974 und Höffe 1979. Eine kritische Auseinandersetzung mit ihren Positionen findet sich bei Köhl 1990.
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(b) Absolute Freiheit und uneingeschränkte Verpflichtung Aus der im vorhergehenden Abschnitt exponierten Konzeption der Autonomie ergibt sich eine Differenzierung der Handlungsvorschriften. Ein autonomer Wille erlegt sich die Weise seines Wirkens selbst auf. Dagegen ist ein heteronomer Wille, was die Regel zur Verwirklichung seines Zwekkes angeht,6 auf Erfahrung angewiesen. Die Handlungsvorschriften, die daraus entspringen, unterscheiden sich insofern, als bei subjektiv-privaten Zwecken die Handlungsvorschrift nicht uneingeschränkt für jedes Subjekt gültig sein kann, sondern nur für die Subjekte, die tatsächlich diesen Zweck verfolgen. Nur ein notwendiger Vernunftzweck rechtfertigt eine kategorische Handlungsvorschrift. Hypothetisch-gebietende Imperative haben entgegen einer verbreiteten Meinung nicht etwa die Form eines hypothetischen Satzes, bei dem die Gültigkeit des Nachsatzes durch die des Vordersatzes bedingt ist (wenn A ist, dann ist B). Vielmehr ist die Rede von „hypothetischen Imperativen" nur die Kurzform für „hypothetisch -gebietende Imperative". „Hypothetisch" ist also ebenso wenig wie „kategorisch" ein Adjektiv, das „Imperativ" näher bestimmen würde, vielmehr muß „hypothetisch" als eine nähere Bestimmung zu „gebieten" verstanden werden (vgl. ~Ludwig 1999,
106f.Vür den Diskussions^usammenhang s. See! 21993, S. 151 f.). Was hier vorausgesetzt wird, ist ein bestimmter Wille. Das Gebot, das dieser Imperativ ausspricht, ist nur unter der Voraussetzung (Hypothese) eines bestimmten Willens eine gültige Handlungsvorschrift, d. h. nur unter dieser Voraussetzung überhaupt geboten. Bei hypothetisch-gebietenden Imperativen ist also „der Wille [...] auf etwas anderes verwiesen, [...], wovon man voraussetzt, daß er es begehre". Doch eben dieses Begehren „muß man ihm, dem Täter selbst, überlassen" (KpV, V20 (A 37)). Der aktuelle Wille, meine Gesundheit zu erhalten und mein Wissen darum, daß raffinierter Zucker Karies hervorruft, führt, sofern immer auch die Möglichkeit besteht, daß ich nicht das tue, was vernünftig ist, zu dem Imperativ: „Meide raffinierten Zucker!" Daher müssen auch sämtliche Versuche, den hypothetisch-gebietenden Imperativ als einen hypothetischen Befehlssatz zu formulieren, scheitern. Auch ein hypothetischgebietender Imperativ hat immer die Form eines kategorischen Satzes: „Tue X!". Die spe2ifische Leistung des Verstandes besteht darin, uns bewußt zu machen, was wir, wenn wir unseren Zweck wirklich wollen, auch zugleich 6
Eine Ausnahme bilden die Handlungsregeln, die sich ihrem Inhalt nach analytisch aus dem gegebenen Handlungszweck ableiten lassen.
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als Mittel in Kauf nehmen müssen. Wir werden damit vor die Alternative gestellt, den Zweck zu verwirklichen und damit auch die notwendigen Mittel zu bejahen, oder, weil die Mittel einen zu hohen Preis von uns verlangen, von unserem Zweck Abstand zu nehmen, d. h. ihn nicht mehr zu wollen, sondern allenfalls noch zu wünschen. Daher sind auch die hypothetisch-gebietenden Imperative „was das Wollen betrifft analytisch" (GMS, IV 417 (BA 44 f.)). Nicht etwa wird dabei aus dem unbestimmten Antezedenz, „ich will glückselig sein", irgend ein konkreter Handlungszweck analytisch gefolgert, ebenso wenig bildet hier ein konkreter Handlungszweck das Antezedenz, aus dem das Mittel als Konsequenz analytisch gefolgert würde. Vielmehr impliziert das Wollen (und nicht etwa das Wünschen) des Zwecks, ebenso analytisch auch die Inkaufnahme des notwendigen Mittels wie das Dreieck die Dreiseitigkeit (ebd.). Man kann also nicht etwas wollen, ohne gleichzeitig die Mittel, die zur Durchsetzung erforderlich sind, implizit auch zu bejahen. Das bedeutet nicht, daß man die Mittel um ihrer selbst willen verfolgt, vielmehr kann man sie durchaus mißbilligen. Solange aber der Zweck des Wollens nicht aufgegeben wird, der es notwendig macht, jene Mittel zu ergreifen, will man implizit auch die notwendigen Mittel (vgl. Ludwig 1999, S. 126 f.). Welche Mittel zur Verwirklichung meines Handlungszweckes konkret zu ergreifen sind, ist freilich in der Regel nicht eine Frage der bloßen Analyse meines Willens. Synthetische Erkenntnis a posteriori, etwa der Befund, daß raffinierter Zucker zu Karies führt, liefert jene handlungsleitende Erkenntnis. „In der Regel", weil wir durchaus auch durch Analyse des Handlungszwecks ein notwendiges Mittel seiner Verwirklichung uns deutlich machen können. Wenn ich etwa meinen Reichtum vergrößern will, dann impliziert „Reichtum vergrößern" notwendig, daß ich mehr Einnahmen als Ausgaben mache (vgl. Höffe 1994). Aber welcher Art auch immer die Erkenntnis der Handlungsanweisung bei hypothetischen Imperativen ist, immer dient sie uns dazu, eine erfolgreiche Verwirklichung unserer Zwecke zu gewährleisten. Die hypothetisch-gebietenden Imperative setzen entweder eine bloß mögliche oder eine wirkliche Absicht voraus, die allen Menschen tatsächlich zukommt. Gemäß der Kategorie der Modalität (KrV, Β 95) nennt Kant die hypothetisch-gebietenden Imperative im ersten Fall ein „problematischpraktisches Prinzip", im zweiten ein „assertorisches" (GMS, IV 414 f . (BA 40)). Als problematisch-praktische Prinzipien schreiben sie uns in bezug auf eine mögliche Absicht ein Mittel zu seiner Verwirklichung vor. Dagegen setzen hypothetische Imperative als assertorisch-^fäküschc Prinzipien nicht nur eine uns mögliche Absicht voraus, sondern eine, die jeder Mensch im-
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mer schon verfolgt, „weil sie zu seinem Wesen gehört" (GMS, IV 416 (BA 42)). Diese Absicht ist unsere „Glückseligkeit". Doch auch wenn man davon ausgeht, daß jeder Mensch den Zweck seiner persönlichen Glückseligkeit mit „Naturnotwendigkeit" verfolgt (GMS, 415 f . (BA 42); KpV, 25 (A 45)), ist das, was sich hinter dem „allgemeinen Titel" der Glückseligkeit verbirgt, in Wahrheit subjektivdifferent (KpV, 25 (A 46), 36 (A 64)), „Die Ratgebung enthält zwar Notwendigkeit, die aber bloß unter subjektiv-zufälliger Bedingung [...] gelten kann" (GMS, IV 416 (BA 44)). „Worin nämlich jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe, kommt auf jedes sein besonderes Gefühl der Lust und Unlust an" (KpV, V 25 (A 46)). Die Handlungsanweisung, die der Verstand in bezug auf diesen Zweck hervorbringt, ist immer auf die jeweilige Bedürfnislage gegründet. Auch wenn die Absicht eines jeden Menschen tatsächlich die Befriedigung der eigenen Glückseligkeit ist, bleibt es eine empirische Frage herauszufinden, worin genau die jeweilige Glückseligkeit besteht und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um sie zu verwirklichen. Aus diesem Grund sind hypothetisch-gebietende Imperative auch keine apodiktischpraktischen Prinzipien, weil die Bejahung des Handlungszwecks jedem selbst überlassen ist. Sie sind nur für diejenigen eine gültige Handlungsvorschrift, die den konkreten Zweck, etwa die Gesundheit zu erhalten, als eine Verwirklichung ihrer Glückseligkeit betrachten. Selbst wenn man also voraussetzt, daß wir tatsächlich und mit „Naturnotwendigkeit" unsere Glückseligkeit begehren, ist die inhaltliche Füllung dieses Begriffs, der konkrete Handlungszweck und damit auch die Handlungsanweisung jedem selbst aufgegeben (KpV, V 20 (A 37)). Kant nennt diese assertorisch-praktischen Prinzipien, die auf unseren „dauernden Vorteil", auf unsere Glückseligkeit, gerichtet sind, „Ratschläge der Klugheit" und unterscheidet sie von jenen problematisch-praktischen Prinzipien, bei denen ein „beliebiger Zweck" vorausgesetzt wird (GMS, IV 415 (BA 41)), indem er sie „Regeln der Geschicklichkeit" nennt (GMS, IV 416 βA 43); KpV, V25 (A 46)). Im Unterschied zu den Regeln der Geschicklichkeit und den Ratschlägen der Klugheit, bei denen der Wille „auf etwas anderes verwiesen ist, wovon man voraussetzt, daß er es begehre" (KpV, V 20 (A 37)), gebietet die moralische Handlungsvorschrift kategorisch, d. h. voraussetzungslos und schreibt dem Willen unmittelbar seinen Zweck vor. Nur diese Handlungsvorschrift ist ein apodiktisch-praktischer Grundsatz, weil sie nicht von der Voraussetzung eines bestimmten Zweckes abhängig ist, die in das Belieben des Handelnden gestellt ist. Selbst wenn die „Ratschläge" und „Regeln" dazu dienen, einen von mir begehrten Zweck zu verwirklichen,
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bleibt ihre Gültigkeit in praktischer Hinsicht doch immer an diesen bloß subjektiven Zweck gebunden. Auch ihre Nötigung ist objektiv, weil sie auf erfahrungsgesättigtem Wissen oder reiner Verstandeserkenntnis beruht. Damit kommt ihnen zwar ebenfalls „Notwendigkeit" zu, „aber diese ist nur subjektiv bedingt" (KpV, V 20 f . (A 38); GMS, IV 420 βA SO)). Zweckrationale Handlungsvorschriften sind nur für diejenigen Subjekte objektiv verbindlich, bei denen man den Zweck als gegeben voraussetzen kann. Daher will Kant auch nur dem Sittengesetz den Status eines praktischen Gesetzes zubilligen. Praktische Gesetze unterscheiden sich von theoretischen darin, daß sie nicht Aussagen darüber treffen, was der Fall ist, sondern was der Fall sein soll. Sie sind damit auf den Willen als dasjenige Vermögen gerichtet, das unser Handeln bestimmt. Damit eine Handlungsvorschrift ein Geset% des Willens, ein praktisches Gesetz, sein kann, und nicht nur „Regel" oder „Ratschlag" sein soll, muß es „für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig" sein (KpV, V 19 (A 35), Hervorhebung J. B.). „Gesetz" „führt den Begriff einer unbedingten und zwar objektiven und mithin allgemein gültigen Notwendigkeit bei sich" (GMS, IV 416 ßA 43)), Hervorhebung verändert J. B.). Hypothetisch-gebietende Imperative sind aber immer nur gültig in bezug auf einen subjektiv-relativen Zweck. Der zentrale Unterschied zwischen hypothetisch und kategorisch gebietenden Imperativen besteht damit in der Größe ihres Geltungsbereiches — sie gelten für alle vernünftigen Wesen und nicht nur für diejenigen, die einen bestimmten Handlungszweck verfolgen. Kategorische Verpflichtung impliziert, aufgrund ihres universellen Gültigkeitsanspruches nicht nur ein Gesetz, ein reines Vernunftgesetz, sondern auch der Zweck selbst muß ein reiner Vernunftzweck sein. Damit wird — und das ist für die Freiheitsproblematik von fundamentaler Bedeutung — zugleich ein Wille unterstellt, dessen Handlungszwecke nicht ausschließlich zufallig sind und von empirisch-kontingenten Faktoren abhängen. Vielmehr wird damit vorausgesetzt, daß der Wille seine zufälligen Zwecke den notwendigen Vernunftzwecken unterordnen kann. Kategorische Verpflichtung besagt: ,Was immer du auch für Handlungsimpulse hast, ordne sie dem Moralgesetz unter'. Die reine praktische Vernunft gebietet dem sinnlich affizierten Willen unter allen Umständen und ψ jeder Zeit, nach verallgemeinerungsfähigen Maximen zu handeln. Kant formuliert daher auch, „handle so, daß die Maxime [...]" oder „handle so, daß Du auch wollen kannst", und gebietet nicht etwa unmittelbar eine bestimmte Handlung, sondern setzt bei unserem Willen selbst an. Der moralische Imperativ schreibt uns nicht eine Handlung für einen bereits vorliegenden Zweck unseres Willens vor, sondern gebietet, daß der
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subjektive Grundsatz auf dem unsere Handlung beruht, universalisierbar sein soll (KpV, V30 (A54); GMS, IV402 ßA 17)). Nur weü reine praktische Vernunft nicht einen Zweck voraussetzt, sondern den Zweck selbst vorschreibt, ist ihr kategorischer Anspruch gerechtfertigt.7 Für die Willensfreiheit bedeutet das, daß hypothetisch bedingte Handlungsregeln Willensfreiheit im absoluten Sinne nicht implizieren, wohl aber einen relativen Freiheitsbegriff voraussetzen. Ein geeigneter Adressat für Imperative zu sein, bedeutet nicht, daß wir alle subjektiv-privaten Zwecke suspendieren können und „reine Vernunft für sich selbst praktisch" wäre. Vielmehr kann der Beweggrund, der Zweck, den der Imperativ voraussetzt, ein zufälliges Produkt unserer Lebensgeschichte sein. Der Imperativ hat hier die Funktion, meinen biographisch bedingten Willen zum Erfolg zu führen. In einem eingeschränkten Sinn von Freiheit setzt das Vermögen, nach zweckrationalen Prinzipien zu handeln, auch Freiheit voraus. Auch hier müssen wir unmittelbare Handlungsimpulse suspendieren und unseren Willen nach jener Regel richten, die uns der Imperativ vorschreibt. Doch die Suspension erfolgt immer nur im Hinblick auf jenen biographischzufälligen Zweck, den wir nicht ursprünglich selbst hervorgebracht haben. Die Freiheit, die für hypothetisch-gebietende Imperative vorausgesetzt werden muß, ist nicht absolut, sondern relativ. Je mehr es mir gelingt, meinen gegebenen Willen gegen äußere und innere Zwänge durchzusetzen, desto größer ist meine Freiheit. Diese relative Freiheit muß von jener absoluten Freiheit, deren positiven Gehalt Kant in seinen moralphilosophischen Schriften entwickelt, unterschieden werden. Gibt man diese Unterscheidung auf, verliert die Kantische Freiheitstheorie ihre Provokation. Kategorisch-gebietende Imperative erfordern mehr als nur jenen relativen Begriff. Zum einen setzen sie voraus, daß Handlungsvorschriften nicht immer ein materiales Substrat zu Grunde liegen muß und zum anderen, daß wir tatsächlich auch in der Lage sind, von allen materialen Handlungsimpulsen zu abstrahieren und allein die Form der Maximen zum Bestimmungsgrund unseres Handelns machen können. In Kants Moralphilosophie steht die erste dieser beiden Voraussetzungen im Vordergrund. Er geht von seiner Frage nach dem uneinge7
Wenn Kant also die Formulierung des Moralgesetzes mit den Worten einleitet, „handle so, daß", dann wird damit nicht etwa ein bestimmtes Handlungsergebnis geboten, vielmehr setzt Kant bei dem Grundsatz der Handlung, bei der Maxime an. Analog zu seiner theoretischen Philosophie, die sich mit der „Erkenntnisart" von Gegenständen befaßt (KrV, Β 25), kann man daher für Kants praktische Philosophie sagen, daß sie die „Handlungsart" (KpV V, 60 (A 106)), die Maxime, die der Handlung zugrunde liegt, thematisiert.
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schränkt Guten bzw. nach einem uneingeschränkt gebietenden Handlungsgesetz aus und stellt fest, daß dieses Handlungsgesetz die Autonomie des Willens voraussetzt. Bei der Rechtfertigung des Gesetzes glaubt er, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, ohne einen vorausgehenden Beweis der Willensfreiheit auszukommen. Vielmehr glaubt er die Willensfreiheit aus dem Moralgesetz deduzieren zu können.8
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Es ist immer wieder behauptet worden, das Problem des absoluten Freiheitsbegriffs betreffe nur Kants Moraltheorie und sei für seine Rechtstheorie irrelevant. Diese Behauptung bedarf einer Differenzierung, die hier nur grob skizziert werden soll: Nach einer verbreiteten Meinung hat Kants Theorie der Freiheit als Autonomie die absurde Konsequenz, daß uns nur die moralisch guten nicht aber die moralisch bösen Handlungen zuzurechnen sind (s. da%u Kap. 7 f ) . Aus dieser (falschen) Meinung wird dann auch oft noch der voreilige Schluß gezogen, daß der Mensch damit auch seine Straffähigkeit einbüße fy B. Dorschel 1992, S. 27). Ein erster Verteidigungsversuch macht geltend, daß, um ein geeignetes Objekt für Lob und Tadel zu sein und damit die Präferenzstruktur des Handelnden korrigieren zu können, wir den absoluten Freiheitsbegriff nicht benötigen und wir also zumindest an einem schwachen Begriff von „Strafe" im Sinne einer Therapie- oder Erziehungsmaßnahe festhalten können. Strafrechtler und kompatibilistische Freiheitstheoretiker haben dies genügend gezeigt fo. B. Roxin 31997, i". 37-62, Stramon 1978, S. 232f.). Doch man kann von hier aus nicht auch behaupten, Kants Rechtstheorie könne ohne den Begriff der absoluten Freiheit auskommen, auch wenn man sie damit vor der Kritik am absoluten Freiheitsbegriff bewahren möchte (Ebbinghaus 1988, S. 297; Geismann 1974, S. 60 f.). Es ist eine Unterbestimmung, die Zurechnungsfähigkeit bei Kant bloß mit „intentionalem Handeln" gleichzusetzen (Höffe 1995, 128 f.). Die entscheidende Frage ist an dieser Stelle nicht, ob der Täter der Urheber einer Handlung ist, sondern nach welchen Gesetzen ihm die Handlung zugerechnet werden soll. Auch wenn sich die rechtliche Zurechnung einerseits auf den „Rechtsimperativ" und moralische Zurechnung andererseits auf den „Pflichtimperativ" beziehen und ihnen damit jeweils ein anderes Gesetz zu Grunde liegt, teilen sie ein entscheidendes Moment: die kategorische Verpflichtung. Kategorische Verpflichtung ist uneingeschränkte Verpflichtung. Das bedeutet, daß dieses Gebot unabhängig davon, worauf unsere sinnlich affizierte Willkür gerade gerichtet ist, der Imperativ für uns verbindlich ist. Kant hat in seinen moralphilosophischen Grundlegungsschriften gezeigt, daß eine Moraltheorie uneingeschränkte Verpflichtung nur dann in Anspruch nehmen kann, wenn sie ein Prinzip ausfindig macht, das sich nicht auf sinnliche Motivationsgtünde reduzieren läßt. Insofern setzt das Recht autonome Subjekte im kantischen Sinne voraus, das sind Vernunftsubjekte, bei denen reine Vernunft für sich selbst praktisch sein kann. Auch für das Recht gilt: Nicht, „weil der Mensch denk- und sprachbegabt ist, [...] schreiben wir ihm Zurechnungsfähigkeit [...] zu" (ebd.), vielmehr ist seine Fähigkeit „die Willkür unbedingt [...] zu bestimmen" das entscheidende Merkmal (Ret'., VI 26 (B 15 f.)). Kant sagt ja gerade ausdrücklich, daß „daraus, daß ein Wesen Vernunft hat, gar nicht [folgt], daß dieses ein Vermögen enthalte, die Willkür unbedingt, durch die bloße Vorstellung der Qualifikation ihrer Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung zu bestimmen" (ebd.). Nach Kants Überzeugung ist Intentionalität nur für die Anlage zur „Menschheit", nicht aber für die zur Persönlichkeit hinreichend. Als Personen sind wir nicht nur zweckrational, sondern auch noch zurechenbar. Zurechenbarkeit heißt bei Kant aber immer, daß reine Vernunft für sich selbst [und nicht etwa vermittels sinnlicher Motivationsgründe] praktisch sein kann (ebd. Hervorhebung J. B.). Genau die ursprüngliche Praktizität der reinen Vernunft wird nicht nur in der Moral, sondern auch im Recht vorausgesetzt. Denn auch „das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ" (MS/RL VI, 331 (B 226)). Man muß hier zwischen einer prinzipiellen Fähigkeit aus
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Eine Moraltheorie würde aufhören Moraltheorie zu sein und Anthropologie werden, wenn sie den Anspruch auf kategorische Verpflichtung aufgäbe (GMS, IV 388 f . (BA v-ix)). Andere Moraltheorien, die bei ihrer Begründung dennoch mittelbar oder unmittelbar auf ein materiales Substrat rekurrieren und so letztlich nicht auf Kants Begriff der „Autonomie" stoßen, werden von ihm sämtlich mit dem Heteronomie-Verdikt belegt und zurückgewiesen (GMS, IV 442-45 (BA 89-96); KpV, V 39 ff. (A 6871)). Hierin liegt das, was man mit Recht als die kopernikanische Wende der Moralphilosophie bezeichnen kann. Was sich alle Moraltheorien vor Kant „nicht einfallen ließen" ist, daß der Mensch „nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung unterworfen sei" (GMS, IV 432 (BA 73)). (c) Handlung aus Pflicht Damit Kants Moraltheorie nicht selbst letztlich auf einem heteronomen Prinzip gründet, die Handlung eines «»»/«^-vernünftigen Wesens im allgemeinen, insbesondere aber auch die moralisch gute Handlung nicht ohne „Triebfeder" zustande kommt, muß es möglich sein, ohne Voraussetzung einer sinnlichen Triebfeder aus reiner Vernunft zu handeln. Könnten wir immer nur unter Voraussetzung eines empirischen Bedürfnisses handeln, gäbe es keine kategorisch, sondern lediglich hypothetisch-gebietenden Imperative. Die Konzeption kategorischer Verpflichtung impliziert, daß wir in der Lage sind, alle buchstäblich „pathologischen" (d.h., „widerfahrenden" und nicht etwa „krankhaften") Triebfedern zu suspendieren und aus einem reinen Vernunftmotiv heraus zu handeln. Eine Handlung, die nicht nur äußerlich dem entspricht, was das Moralgesetz gebietet, sondern der Gesinnung nach umwillen der Gesetzlichkeit der Handlungsmaxime ausgeführt wird, ist eine moralisch gute und nicht bloß (moralisch) legale Handlung. Als moralisch gute Handlung ent-
reiner Vernunft handeln zu können und der aktuellen Handlung unterscheiden. Das Recht setzt nicht voraus, daß unsere aktuelle Handlung „aus Pflicht", d. h. aus reiner Vernunft erfolgt. Sie kann auch bloß legal sein, wenn sie etwa aus Angst vor Strafe vollzogen wird. Aber um ein Wesen zu sein, das kategorisch-gebietenden Imperativen unterworfen ist, muß uns prinzipiell ein Vermögen zukommen, aus reiner Vernunft handeln zu können. Ansonsten wäre der Anspruch kategorischer Verpflichtung verfehlt. Das ist es, was die rechtsphilosophische Debatte um die Willensfreiheit bisher nicht bei Kant lernen wollte (Jakobs 1982; Roxiη }1997'), weil sie nicht nach den Gesetzen gefragt hat, nach denen die Zurechnung erfolgt, sondern sich immer nur auf die erste und zweite Stelle des Begriffs konzentriert. Friedrich Tretter hat sich ausführlicher mit der Unabhängigkeitsthese von Geismann und Ebbinghaus auseinandersetzt und im Gegenzug dazu den Zusammenhang von absoluter Freiheit und Recht bei Kant herausgearbeitet (Tretter 1997, S. 268-291).
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spricht sie nicht nur dem „Buchstaben", sondern auch dem „Geist" des moralischen Gesetzes. Entscheidend bei dieser Konzeption ist, daß der Grund der Handlung keine pathologische Triebfeder sein darf, sondern die Gesetzlichkeit des Moralgesetzes selbst der Grund des Handelns sein muß (KpV, 71 f . (A 127f.)). Beim menschlichen Willen stimmt im Unterschied zum „göttlichen Willen" der subjektive Bestimmungsgrund des Willens nicht immer mit dem objektiven überein (KpV, 79 (A 141)). Obwohl wir, wie Kant in der Analytik der zweiten Kritik zeigt, ein unmittelbares Wissen davon haben, was moralisch vernünftig ist, sind wir als sinnliche Wesen Triebfedern unterworfen, die wir in unseren Maximen erst unter die Bedingung des Moralgesetzes bringen müssen. Das dritte Hauptstück der KpV muß als Kants Antwort auf die Frage verstanden werden, wie der objektive Grund zugleich auch subjektiv bestimmend werden kann und damit, wie die moralisch gute Handlung überhaupt in unsere Welt kommen kann. Kants zentrale These ist, daß unser Bewußtsein des Moralgesetzes selbst in uns ein Gefühl bewirken muß, das alle „pathologischen", nicht„vernunftgewirkten" Gefühle, unterwirft und selbst Ursprung einer Triebfeder ist, damit eine moralisch gute Handlung möglich ist. Dieses vernunftgewirkte Gefühl nennt Kant die „Achtung vor dem Gesetz". Um als sinnlich-vernünftiges Wesen rechtmäßiger Adressat uneingeschränkter Moralgesetze zu sein, ist es nicht ausreichend ein Wissen des Gesetzes zu haben, „welches die Handlung, die geschehen soll, objektiv als notwendig vorstellt, d. i. welches die Handlung zur Pflicht macht", vielmehr ist auch noch ein zweites Moment erforderlich, nämlich „eine Triebfeder, welche den Bestimmungsgrund der Willkür zu dieser Handlung subjektiv mit der Vorstellung des Gesetzes verknüpft" (MS/Ε, VI 218 (AB 13 f.)). Diese Triebfeder muß von allen „pathologischen" Triebfedern kategorial verschieden sein. Mit der Einführung dieses kategorialen Unterschiedes gelingt es Kant, die moralpsychologische Grundlage zu schaffen, die ihn legitimiert, seine moralphilosophische Differenz zwischen pflichtmäßigen bzw. legalen Handlungen auf der einen Seite und moralisch guten Handlungen auf der anderen aufrechtzuerhalten. Die moralisch gute weist im Verhältnis zur moralisch bloß legalen Handlung äußerlich, objektiv, keine Differenz auf. Der Unterschied liegt, wie bemerkt, auf der Subjektseite·. Bei moralisch guten Handlungen handeln wir umwillen des Moralgesetzes, bei bloß legalen umwillen einer subjektiv-privaten Triebfeder. Deshalb ist bei einer bloß legalen Handlung nur „der empirische Charakter gut, der intelligible aber immer noch böse [...]" (KeL, VI 37 β 35), s. άαψ Kap. 9a). Bei einer bloß legalen Handlung ist entweder die Achtung alleine keine hinreichende Triebfeder zur Hand-
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lung oder sie ist sogar dem Prinzip der Selbstliebe untergeordnet, ohne daß dabei die Handlung illegal würde, weil zufällig das moralisch Gebotene mit dem, was nach dem subjektiven Prinzip der Selbstliebe zu tun ist, koinzidiert. Kant erörtert in der Grundlegung in diesem Zusammenhang drei Typen von Handlungen: Pflichtwidrige Handlungen, pflichtgemäße (legale) Handlungen, zu denen wir mittelbar eine Neigung haben, und pflichtgemäße Handlungen, zu denen wir unmittelbar geneigt sind. Obgleich bei den letzten beiden dieser drei Handlungstypen legale Handlungen resultieren, können auch sie den Moralitätstest nicht bestehen. Das gilt insbesondere auch für den dritten Typ, bei dem eine besondere Schwierigkeit entsteht, Moralität (Handlung aus Pflicht) und Legalität (Pflichtmäßigkeit) voneinander zu unterscheiden. Auf diese Schwierigkeit macht Kant aufmerksam, um aber zugleich auch hier jenen Unterschied zu sichern und der Nachlässigkeit bei der moralischen Beurteilung menschlicher Handlungen entgegenzutreten. Trivialerweise kann bei „pflichtwidrig[en]" Handlungen „gar nicht einmal die Frage [bestehen], ob sie aus Pflicht geschehen sein mögen, da sie dieser sogar widerstreiten" (GMS, IV 397 (BA 8)). Dagegen sind Handlungen des zweiten Typs sehr wohl pflichtmäßig. Allerdings haben wir zu ihnen „unmittelbar keine Neigung [...], üben sie aber dennoch aus, weil [wir] durch eine andere Neigung dazu getrieben werden". Kant denkt dabei etwa an den Fall eines „Kaufmanns", dessen Handeln durchaus pflichtmäßig sei, wenn er „seinen unerfahrenen Käufer nicht überteure". Indessen wird diese Ehrlichkeit auch der „kluge Kaufmann" und nicht etwa nur der moralisch gute an den Tag legen, weil er weiß, daß dort, „wo viel Verkehr ist", er sich selbst um seinen eigenen Vorteil bringt, wenn er dem „unerfahrenen Käufer" die Ware zu einem überteuerten Preis verkauft (GMS, IV397 (BA 9)). Das Beispiel des Kaufmanns, der seine Kunden nicht betrügt, weil er sich von ihrer ehrlichen Behandlung eine finanzielle Bereicherung verspricht, ist ein klarer Fall davon, unmittelbar zur Ehrlichkeit keine Neigung zu haben, aber vermittels der Neigung, sich bereichern zu wollen, dennoch über eine nicht-vernünftige, sinnliche Triebfeder für diese Handlung zu verfügen. Bei diesem Handlungstyp ist es noch „leicht [zu] unterscheiden, ob die pflichtmäßige Handlung aus Pflicht oder aus selbstsüchtiger Absicht geschehen sei" (ebd., Hervorhebung ^ T. J. B.). Erst im dritten Fall, bei dem „die Handlung pflichtmäßig ist und das Subjekt noch überdem unmittelbare Neigung zu ihr hat, ergibt sich eine besondere Schwierigkeit hinsichtlich der Beurteilung der moralischen Qualität. Wir müssen uns dabei Handlungen vorstellen, zu denen wir in
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der Regel eine unmittelbare Neigung haben und zugleich diese Handlung auch dem entspricht, was moralisch geboten ist (ebd., Hervorhebung T. J.B.). Kants Beispiel in diesem Fall ist die Erhaltung des eigenen Lebens. Auf der einen Seite wollen wir von Natur aus das eigene Leben erhalten. Zugleich erkennen wir aber auch, daß es nicht vernünftigerweise zum allgemeinen Gesetz werden kann, sich „aus Selbstliebe zum Prinzip [zu machen], wenn das Leben bei seiner längeren Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es [uns] abzukürzen". Das Konzept der Selbstliebe beinhaltet ein Sorgetragen für sich selbst und damit der „Beförderung des Lebens". Ich kann nicht auf den Fortbestand meiner selbst aus sein und mich gleichzeitig vernichten wollen. Darin liegt ein Widerspruch, der es unmöglich werden läßt, jene Maxime zu einem allgemeinen Gesetz zu erheben (GMS, IV ebd., 422 ßA 53 f.)). Weil bei der Erhaltung des eigenen Lebens im Normalfall die gebotene Handlung mit dem, was wir unserer Natur nach ohnehin schon tun würden, koinzidiert, zeigt sich gerade erst in der moralischdillemmatischen Ausnahmesituation, nämlich wenn wir uns in Umständen befinden, in denen wir uns das Leben nehmen wollen, ob unsere Handlung „echten moralischen Wert" hat oder nicht. Der entscheidende Unterschied zwischen legalen (pflichtmäßigen) Handlungen, zu denen wir unmittelbar eine Neigung haben und legalen Handlungen, zu denen wir nur mittelbar geneigt sind, ist, daß bei jenem Handlungstyp Moralität und Legalität schwer voneinander zu unterscheiden sind. Doch auch hier — und darum geht es Kant in diesem Zusammenhang — dürfen wir diesen Unterschied aus den Augen verlierend nicht legales mit moralisch gutem Handeln verwechseln und in unserer moralischen Beurteilung leichtfertig werden. Um legitimiert zu sein, Handlungen „Moralität" und nicht etwa nur „Legalität" zuzuschreiben, ist es nicht ausreichend, daß die Maximen „gesetzmäßig", d. h. verallgemeinerbar sind, sondern die Handlung muß auch ummllen ihrer Gesetzlichkeit vollzogen werden. „Der objektive Bestimmungsgrund [muß] jederzeit und ganz allein zugleich der subjektivhinreichende Bestimmungsgrund der Handlung sein, wenn diese nicht bloß den Buchstaben* des Gesetzes, ohne den Geist desselben zu enthalten, erfüllen soll" (KpV, V 72 (A 127), HervorhebungJ. B.). Die Maxime: „wenn ich in Geldnot zu sein glaube, so will ich es borgen und versprechen, es zu bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen", ist nicht verallgemeinerbar. Jemand, der nach dieser Maxime handelt, muß sich „notwendig widersprechen". Der Begriff „Borgen" beinhaltet, daß es sich bei dem Geld um eine vorübergehende Leihgabe und
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nicht etwa um ein Geschenk handelt. „Versprechen" impliziert, daß der Versprechende mit seinem Wort garantiert, daß er die Schuld begleichen wird. Derjenige, der es sich zur Maxime macht, sich in Not Geld zu borgen und verspricht es zurückzugeben, obwohl er weiß, daß er es nicht zurückgeben kann, hebt damit die Konzepte des „Borgens" und „Versprechens" auf, widerspricht sich selbst und ist also unvernünftig. Handelt jemand auf der Grundlage von Maximen, die sich nicht verallgemeinern lassen, hat er bereits die Eingangsvoraussetzung für eine moralisch gute Handlung verfehlt. Wenn man Kants Beispiele für unmoralische Maximen in verallgemeinerbare Maximen umwandelt, ergibt sich ζ. B.: ,Wenn ich in Geldnot bin, will ich es borgen und versprechen es zurückzugeben, nur wenn ich weiß, daß ich mein Versprechen halten kann' (GMS, IV 422 (BA 53)). Oder in einem anderen Fall: ,Ich will mein Vermögen nur dann vergrößern, wenn dazu nicht ein Diebstahl oder Betrug erforderlich ist' (KpV, V 27 (A 49)). Beide Maximen halten dem Verallgemeinerungstest des Moralgesetzes stand. Die Frage ist jedoch, ob im Fall ihrer Anwendung, in der konkreten Handlungssituationen, wo diese allgemeinen Handlungsprinzipien zur Anwendung kommen, andere Triebfedern zur Einhaltung dieser Maximen stärker sind als die Achtung vor der Gesetzmäßigkeit der Maxime, oder ob diese auch allein hinreichend ist. Dann und nur dann wäre die Handlung auch moralisch gut. Es ist ferner die Situation denkbar, daß derjenige, der derartige Maximen hat, niemals in den Konflikt gerät, weil nicht die entsprechenden „Gelegenheitsursachen" vorliegen, wie Kant sagen würde (KrV, Β 581), weil die Situation niemals danach ist, daß er sich etwa Geld borgen müßte oder er sich durch einen Betrug bereichern könnte. Es ist also möglich, daß wir mit moralisch guten Maximen leben, unsere Handlungen im Anwendungsbereich der Maximen aber immer nur legal sind. Es mag uns immer nur an der entsprechenden „Gelegenheit" gemangelt haben, unmoralisch zu handeln. Selbst wenn wir in unserem moralischen Leben vielen Versuchungen widerstanden haben, können wir uns als endliche Wesen niemals sicher sein, ob nicht auch unsere moralische Gesinnung letztlich ihren Preis hat. Kant hat immer wieder darauf hingewiesen, daß es unüberwindliche epistemische Hindernisse bei der Identifikation moralisch guter Handlungen gibt. Denn, so lautet sein Argument, es lasse sich „in keinem Beispiel mit Gewißheit dartun, daß der Wille hier ohne andere Triebfedern bloß durchs Gesetz bestimmt werde". Vielmehr sei es „immer möglich, daß insgeheim Furcht vor Beschämung, vielleicht dunkle Besorgnis anderer Gefahren Einfluß auf den Willen haben mögen". Daher lautet Kants rhe-
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torische Abschlußfrage: „Wer kann das Nichtsein einer Ursache durch Erfahrung beweisen, da diese nichts weiter lehrt, als daß wir jene nicht wahrnehmen? (GMS, IV 419 (BA 49), vgl. auch GMS, 408 ßA 29 f.); KpV, V33 (A 58), 47 (A 81); MS/TL, VI 392f. (A 24 f.), 447 (A 114)). Trotz dieser prinzipiellen Erkenntnisskepsis hinsichtlich der moralisch guten Handlung weiß Kant auch um Situationen, in denen die subjektivprivaten und objektiv-allgemeinen Interessen in einem exklusiven Verhältnis zueinander stehen (KpV, V 30 (A 54); Rel VI, 49 f . β 58); MS/ TL, VI 380 (A 2 f.), 483 (A 173 f.)). Hier zeigt sich mit einiger Sicherheit, ob der Handelnde bereit ist, seine Neigungen dem Moralgesetz unterzuordnen. Selbst wenn wir moralisch gute Maximen angenommen haben, ist weder garantiert, daß wir in der konkreten Handlungs situation auch tatsächlich umwittert der Gesetzmäßigkeit der Maximen handeln noch daß wir, im Falle eines Konflikts zwischen moralisch guter Maxime und Neigung auch tatsächlich an dieser Maxime festhalten. Erst in jenen moralischdillematischen Entscheidungssituationen, in denen Vernunft und Neigung sich ausschließen, wird offenkundig, ob wir der moralisch guten Maxime auch dann folgen, wenn wir unsere subjektiv-privaten Interessen hintan stellen müssen und bereit sind, die moralisch gute Maxime auch um ihrer Gesetzlichkeit willen, „aus Achtung vor dem Gesetz", zu befolgen. Allein das Vorliegen einer verallgemeinerbaren Maxime ist also nicht ausreichend, um dem Handelnden Moralität und nicht etwa nur Legalität zuzusprechen. Der Unterschied zwischen einer bloß legalen und einer moralisch guten Handlung liegt also genau darin, daß diese aus Achtung vor dem Gesetz, jene hingegen nur unter Voraussetzung eines nichtvernunftgewirkten, im wörtlichen Sinne pathologischen Gefühls zustande kommt. Dieser Unterschied macht es auch erforderlich, das Gefühl der Achtung als moralisches Gefühl von pathologischen Gefühlen nicht nur dem Grad nach, sondern kategoHal zu unterscheiden. Das hat nun wiederum erhebliche Konsequenzen für Kants Theorie der Freiheit. Achtung kann kein Gefühl sein, das uns bloß widerfährt, es kann kein „pathologisches Gefühl" sein, es ist nicht durch sinnliche Einflüsse hervorgerufen und auf unsere sinnliche Natur zurückzuführen. Das Gefühl der Achtung vor dem Gesetz müssen wir uns vielmehr so denken, daß es durch die Vernunft selbst hervorgebracht wird und also „vernunftgewirkt" ist. Bei einer „Handlung aus Pflicht" kann daher nicht eine sinnliche Triebfeder vorausgeset^t werden, vielmehr ist die moralische Triebfeder selbst ein Vernunftprodukt, d. h. „durch einen intellektuellen Grund gewirkt" (KpV, V 73 (A 130); GMS, IV 460 ßA 122 f.)).
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Kant hat in der Grundlegung mit gutem Grund terminologisch zwischen dem Bewegungsgrund (motivum) und der Triebfeder (elater animi) unterschieden. „Der subjektive Grund des Begehrens ist die Triebfeder, der objektive des Wollens der Bewegungsgrund, daher der Unterschied zwischen subjektiven Zwecken, die auf Triebfedern beruhen, und objektiven, die auf Bewegungsgründe ankommen, welche fur jedes vernünftige Wesen gelten" (GMS, IV 427 ßA 63 f.), Hervorhebung J. B.; vgl. auch PrPh-Powalski, XXVII 112 f., 170 f., 180 f.; Ethik, 38 f.). Auch wenn Kant im dritten Hauptstück der zweiten Kritik nicht erneut diese Terminologie einfuhrt, unterscheidet er doch, wie gesehen, ausdrücklich zwischen unseren subjektiven und objektiven Bestimmungsgründen (KpV, V 79 (A 141)). In der Methodenlehre verwendet Kant schließlich wie selbstverständlich „Bewegungsgrund" genau in jenem Sinne eines objektiven Vernunftgrundes (KpV, V152 (A 271), 156 (A 279)). Diese Unterscheidung ist problematisch, weil Kant erklären muß, wie das Moralgesetz als objektiver Bewegungsgrund zugleich auch Triebfeder des menschlichen Handelns werden kann. Kant weiß, daß solange der objektive Vernunftgrund nicht auch Triebfeder wird, wir zwar sehr wohl wüßten, was objektiv geboten ist, aber, psychologisch gesehen, gar nicht in der Lage wären, dem Moralgesetz auch um seiner Gesetzlichkeit ivillen zu entsprechen. Freilich könnten wir ζ. B. aus unserem Begehren nach Ehre oder unserer Angst vor Strafe ein Moralgesetz befolgen. Doch solange es in unserem Gefühlshaushalt kein Gefühl gäbe, das dem Moralgesetz um seiner selbst willen Einfluß auf unser Handeln verschaffen könnte, wäre zwar nicht die (moralisch) legale wohl aber die moralisch gute Handlung unmöglich. Damit die letztere möglich ist, muß es bei einem Wesen mit sinnlichen Triebfedern, das nicht immer schon dem entspricht, was vernünftig ist, eine Triebfeder geben, die jene Triebfedern in ihrer Handlungswirksamkeit einschränkt und selbst als Ursache der moralisch guten Handlung gedacht werden kann. Nun ist ein „intellektuelles [Gefühl\ ein Widerspruch" (KpV, V 117 (A 210); so bereits in Ethik, S. 47), so daß es ausgeschlossen ist, daß der objektive „Bewegungsgrund" unmittelbar als Triebfeder wirkt. Damit steht Kant vor der systematischen Schwierigkeit, auf der einen Seite keine Triebfeder für die moralisch gute Handlung voraussetzen zu dürfen, andererseits aber für die empirische Möglichkeit der moralisch guten Handlung eine moralische Triebfeder in Anspruch nehmen zu müssen. Kant löst dieses Problem, indem er die Achtung vor dem Gesetz als ein Gefühl ansetzt, das nicht dem Bewußtsein des Moralgesetzes vorausgeht, sondern eine notwendige Folge dieses Bewußtseins ist. Der kategorische Anspruch des Moralgesetzes als objektiver Bewegungsgrund bewirkt in
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uns ein Gefühl der Achtung, das Triebfeder für die moralisch gute Handlung ist. Damit hat das Moralgesetz „indirekt", nämlich vermittels des Gefühls der Achtung Einfluß auf unseren Gefühlshaushalt (KpV, Κ 79 (A 140)). Gerade dieses Wirkungsverhältnis zwischen Bewußtsein des Sittengesetzes und Achtung vor dem Gesetz übersieht, wer die Achtung schlicht mit dem Bewußtsein des Sittengesetzes identifiziert fy B. Beck 31995, S. 208f.). Mit dieser Verwechslung gerät aber auch das Ziel der Kantischen Argumentation, nämlich die mofApsychologische Grundlage für seine Ver«»»//ethik zu schaffen, aus dem Blick. Es ist zwar richtig, daß unser Bewußtsein des Moralgesetzes „nicht nur objektiver Bestimmungsgrund, [sondern] auch subjektiver Bestimmungsgrund d. i. Triebfeder zu dieser Handlung [ist]". Aber nur, „indem es auf die Sinnlichkeit des Subjekts Einfluß hat und ein Gefühl bewirkt, welches dem Einflüsse des Gesetzes auf den Willen beförderlich ist". Dieses Gefühl ist das Gefühl der Achtung. Als ein veniunfig^mrktes Gefühl ist dieses Gefühl vom Subjekt selbst hervorgebracht. Eben weil die Achtung uns nicht widerfahrt, nennt Kant sie „nicht pathologisch, sondern praktisch-gewirkt' (KpV, V 75 (A 133 f.)). Von welcher Triebfeder wir uns letztlich bestimmen lassen, hängt nicht etwa jeweils von der Stärke der Triebfedern ab, sondern ist Resultat einer freien Entscheidung (KrV, 562; GMS, IV 457f. (BA 118); KpV, Κ 60 (A 105), 82 (A 147), 100 (A 179)·, s. άαψ Teil III). Doch bereits hier kann man sehen, daß wir nach dieser Konzeption in der moralisch bösen Handlung nicht etwa den „Gehorsam" gegenüber dem Moralgesetz gänzlich „aufkündigen" können (Ret,'., VI 36 (B 33)), sondern nur das Ordnungsverhältnis in unseren Maximen umdrehen (Rel., VI 36 β 34)). Die Achtung vor dem Gesetz bleibt als „Keim des Guten" selbst bei einem „bösartigen" und nicht etwa nur „gebrechlichen" Menschen noch erhalten (Rel., VI 45 β 50), 48 β 56)). Das Gefühl der Achtung ist wie jedes „Gefühl, wodurch es auch erregt werden mag [...], jederzeit physisch" und nicht etwa intellektuell (MS/TL, VI 377 (A vif.); vgl. KpV, V 75 (A 133 f.)). Doch sein Ursprung ist nicht unsere Sinnlichkeit, sondern reine Vernunft. Es ist unser Bewußtsein des Moralgesetzes, das als objektiver „Bewegungsgrund" die subjektive „Triebfeder", nämlich die Achtung vor dem Gesetz in uns hervorbringt. Es ist üblich geworden, den Begriff „Motiv" weiter zu fassen, so daß er auch die Triebfedern noch mit einschließt. Mit dem Verlust dieser Begrifflichkeit läuft man allerdings Gefahr, für jenes von Kant angezeigte Verhältnis zwischen Motiv und Triebfeder blind zu werden. Kant gibt sich mit dieser Konzeption als moralischer Internalist zu erkennen (s. άαψ Scarano 2003, S. 148-151). Moralische Gründe sind schon
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von sich aus hinreichend für das Zustandekommen von Handlungen und es bedarf nicht nur keiner externer, außermoralischer, Antriebe, vielmehr ginge dem Handeln, sobald außermoralische Triebfedern entscheidend für die Handlungswirksamkeit des Willens sind, seine eigentliche Moralität verloren. Kant ist sich über die Reichweite der Behauptung eines vernunftgewirkten Gefühls vollkommen im Klaren. Er weiß, daß es unmöglich ist, zu bestimmen, „auf welche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde und was, indem sie es ist, mit dem menschlichen Begehrungsvermögen, als Wirkung jenes Bestimmungsgrundes auf dasselbe vorgehe". Denn, so lautet Kants Argument: „Wie ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könne [...], das ist ein für die menschliche Vernunft unauflösliches Problem und mit dem einerlei: wie ein freier Wille möglich sei" (KpV, V 72 (A 128)). Diese Fragen sind deshalb identisch, weil die Achtung vor dem Gesetz als ein vernunftgewirktes Gefühl ein Fall von Erstursächlichkeit sein muß.9 Wie aber ein Fall von Erstursächlichkeit möglich ist, — soviel hat Kant im Rahmen der dritten Antinomie der ersten Kritik gezeigt — läßt sich prinzipiell nicht erkennen. Nur die widerspruchsfreie Denkmöglichkeit hat Kant der Kausalität aus Freiheit einräumen können (KrV, Β 310; s. άαψΚαρ. 6b). Wenn Kant also in der zweiten Kritik behauptet, es sei ein „unauflösliches Problem" zu erklären, „wie ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könne", kommt damit nicht nur zum Ausdruck, daß es eine unüberwindliche Schwierigkeit ist, wie wir, ohne ein sinnliches Bedürfnis vorauszusetzen, handeln können, zugleich ist damit auch der modale Status dieses Gedankens angezeigt: Im Rahmen der dritten Antinomie hat Kant begründet, warum der Gedanke einer unverursachten Ursache in theoretischer Hinsicht problematisch und nicht etwa assertorisch oder apodiktisch ist: Auch wenn ihm in der sinnlichen Anschauung kein Gegenstand korrespondiert und er kein Konstitutionsprinzip der Naturerfahrung ist, ist er gleichwohl widerspruchsfrei denkbar (KrV, Β 310). Deshalb kann er zwar „nicht unter die [realen] Möglichkeiten gezählt werden [...], obgleich auch darum nicht für unmöglich ausgegeben werden" (KrV, Β 347). Weil das moralische Gefühl nicht aus seinen Ursachen erklärt werden kann, kann es Kant lediglich darum gehen, „apriori an[zu]eigen", was die moralische Triebfeder „im Gemüte wirkt (besser zu sagen, wirken muß)" (KpV, V 72 (A 128), Hervorhebung J. B.; vgl, KpV, V 89 (A 160 f.)). Es ist nicht etwa so, daß dieses Gefühl durch sinnliche Anschauung erkannt wer9
Die Betonung auf das Zahlwort wird im achten Kapitel thematisiert werden.
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den könnte, das Konzept einer moralisch guten Handlung fordert vielmehr ein vernunftgewirktes Gefühl. Die Beschaffenheit dieses moralischen Gefühls muß „a priori", d. h. durch Begriffsexplikation (und nicht etwa durch intuitive Erkenntnis) entwickelt werden. Der naheliegende Zirkeleinwand wird durch Kants moralphilosophischen Ausgangspunkt, dem „Faktum der reinen Vernunft", zurückgewiesen (s. da%u Kap. 2).w Das Moralgesetz gebietet uneingeschränkt. Das bedeutet, daß der Wille ohne Voraussetzung einer subjektiv-privaten Triebfeder bzw. eines Interesses ihm zu folgen hat. Dazu ist erforderlich, daß der Wille als Kausalvermögen „nicht bloß ohne Mitwirkung sinnlicher Antriebe, sondern [...] mit Abbruch aller Neigungen, sofern sie jenem Gesetz zuwider sein könnten, bloß durchs Gesetz bestimmt werde" (KpV, V 72 (A 128)). Nun kann man gerade nicht davon sprechen, daß die „Unterwerfung" unserer Neigungen unter das Moralgesetz ein Gefühl der Lust in uns hervorbringen würde und also eine Triebfeder zur moralisch guten Handlung wäre. Vielmehr bewirkt die Unterwerfung unserer Neigungen durch das Bewußtsein des Moralgesetzes in uns ein Gefühl des ,,Schmerz[es]" und damit der „Unlust". Das Bewußtsein des Moralgesetzes schlägt den „Eigendünkel", das „Wohlgefallen an sich selbst (arrogantia)", nieder und schränkt die „Selbstliebe", das „Wohlwollen an sich selbst (philautia)" auf eine „vernünftige Selbstliebe" ein (KpV, V73 (A 129f.), 80 (A 143)). Doch zugleich bewirkt das Bewußtsein des Moralgesetzes auch ein positives Gefühl, nämlich das Gefühl der Achtung vor dem Gesetz. Positiv ist dieses Gefühl, weil es nicht nur die Neigungen einschränkt und Unlust hervorruft, sondern selbst mit Lust begleitet ist und eine Triebfeder zur Handlung ist. Unter dem Anspruch des Moralgesetzes werden wir uns bewußt, über unsere unmittelbaren Handlungsimpulse „erhaben" zu sein und aus reiner Vernunft handeln zu können. Indem die „Unterwerfung" der Neigung nicht etwa durch einen äußeren Zwang, sondern durch unsere eigene Vernunft erfolgt, ist sie nicht bloß „demütigend", sondern enthält eine „Erhebung" über unsere sinnliche Natur (KpV) V 80 (A 143); vgl. Rel. VI 49 f., β 58 f.)). Statt Selbstsucht als dem Oberbegriff von „Selbstliebe" und „Eigendünkel" empfinden wir eine „Selbstbilligung" (KpV, Κ 10
Deshalb ist es verfehlt, gegen die Theorie der Achtung bloß die Fakten empirischer Psychologie ins Feld zu fuhren (so Rickard Brandt 1979). Dem Gefihl kommt in Kants Moraltheorie sehr wohl eine konstitutive Rolle in bezug auf die moralischen Handlungen zu, doch entscheidend ist, daß es vernunftgewirkt ist. Eine brauchbare Verteidigung der Kantischen Moralpsychologie gegen die empiristischen Standardeinwände, die die Gültigkeit einer bestimmten Form von Psychologie nur voraussetzen, findet man im ersten Teil von Galvins Aufsatz (Galvin 1991, S. 221-227). Dem zweiten Teil liegt allerdings ein zu weiter Moralbegriff zugrunde, so daß dort das Argumentationsziel nicht auf der Grundlage der Kantischen Moraltheorie erreicht werden kann.
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81 (A 143 f.)). Erst als ein Resultat unseres moralisch guten Handelns und nicht etwa schon als Resultat bloß unseres Bewußtseins des Moralgesetzes (so etwa Lee 1987, S. 229), stellt sich dann schließlich auch das ein, was Kant „Selbstzufriedenheit" nennt (KpV, V 117 (A 212)). Das Konzept uneingeschränkter moralischer Verpflichtung setzt voraus, daß wir ohne Voraussetzung einer subjektiv-privaten Triebfeder handeln können. Damit fuhrt es zu der Unterscheidung zwischen einer moralisch guten und einer bloß legalen Handlung. Der Theoriebaustein des Gefühls der Achtung vor dem Gesetz hat im Rahmen von Kants Theorie des Begehrungsvermögens, seiner „Handlungstheorie", die Funktion, die moralpsychologischen Voraussetzungen für die empirische Möglichkeit einer moralisch guten Handlung aufzuklären. Lediglich „was [die moralische Triebfeder] im Gemüte wirkt (besser zu sagen, wirken muß), [ist] a priori anzuzeigen" nicht aber auch, ob es tatsächlich so etwas wie ein vernunftgewirktes Gefühl gibt. Der Skeptiker, der die Möglichkeit eines vernunftgewirkten Gefühls bezweifelt, wird mit dem Triebfeder-Kapitel der zweiten Kritik nicht befriedigt und von Kant auch dort explizit an die Auflösung der dritten Antinomien rwiesen (KpW 72 (A 128), Hervorhebung J. B.; j·. da^u Teil II). Damit wird auch verständlich, warum Kant argumentationslogisch sein moralphilosophisches Hauptwerk nicht mit einer Moralpsychologie einsetzen läßt, sondern zunächst das Moralgesetz als ein Faktum der Vernunft exponiert. Das Theoriestück der Achtung vor dem Gesetz ist eine notwendige Folge davon, daß wir als sinnlich-vernünftige Wesen kategorischen Gesetzen unterworfen sind. Kant kann nicht etwa von der empirisch-psychologischen Erkenntnis des Gefühls der Achtung vor dem Gesetz darauf schließen, daß wir kategorisch-gebietenden Imperativen unterworfen sind. Eine rationale, nicht-empirische Psychologie, die wohl der einzige Kandidat für die synthetische Erkenntnis eines vernunftgewirkten Gefühls wäre, hatte Kant bereits in der ersten Kritik aus erkenntniskritischen Gründen zurückgewiesen. Im Unterschied zur ersten Kritik, muß daher in der zweiten nicht die Ästhetik (als Wissenschaft von den „Prinzipien der Sinnlichkeit" (KrV, Β 34 ff.) der Logik, sondern die Logik der Ästhetik vorausgehen (KpV, 16 (A 31 f.); 90 (A 161 f.)). Eine Moraltheorie, die von der Ästhetik als Psychologie ihren Ausgang nimmt, übersteigt entweder die „Grenzen der Sinnlichkeit" oder sie hat bereits im Ansatz das anspruchsvolle Projekt kategorischer Verpflichtung aufgegeben und sich für eine empirische Sittenlehre entschieden. Kants Konzept der Willensfreiheit, so wie es in den ersten drei Abschnitten dargestellt worden ist, gibt Probleme auf. Ein Fundamentalproblem,
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Teil I. Absolute Freiheit als Autonomie
das die Kantkritiker seit dem Erscheinen der zweiten Kritik beschäftigt, ist, wie unsere Handlungen überhaupt als „böse" bezeichnet werden können, obgleich unserem Handeln nur dann keine sinnliche Triebfeder zugrunde liegt, wenn wir moralisch gut handeln. Kant habe, — so lautet der verbreitete Vorwurf — indem er den Willen als ein Schöpfungs vermögen versteht und das Objekt der Schöpfung als das sittlich Gute bestimmt, keinen Raum für die Freiheit zum Bösen gelassen. Hierfür wäre es erforderlich, Willensfreiheit nicht bloß als Schöpfung zu denken, sondern auch als Wahkctmögta. Es wird die Aufgabe des dritten Teils dieser Arbeit sein, zu überprüfen, ob dieser Vorwurf berechtigt ist, oder ob Kants Theorie, so wie er sie in seiner ^weiten Kritik entwickelt hat, systematischen Raum läßt, diesem Sachverhalt Rechnung zu tragen. Eine andere Schwierigkeit, die Kants Theorie der Willensfreiheit aufgibt, ist ihre Vereinbarkeit mit dem, was Kant präziser als gegenwärtige Freiheitstheoretiker den „Pradeterminismus" nennt (Rel. VI 49 (B 59), Hervorhebung J. B.). Als ein absolutes und nicht etwa relatives Freiheitsvermögen setzt sie eine absolute Selbstursächlichkeit voraus. Im zweiten Teil wird daher erörtert werden müssen, wie Kant im Rahmen der dritten Antinomie den Widerspruch zwischen Freiheit und Prädeterminismus aufheben will und die Denkmöglichkeit einer unverursachten, ersten Ursache sicherstellt. Zunächst aber muß geklärt werden, welche Strategie Kant zur Rechtfertigung des Sittengesetzes wählt. Welche Gründe sollen davon überzeugen, dieses Gesetz nicht bloß für ein „Hirngespinst", eine „chimärische Idee" zu halten (GMS, IV 445 ßA 95))? Die Deduktionsproblematik des Sittengesetzes ist für die Willensfreiheit von fundamentaler Bedeutung, weil Kant das Sittengeset2 selbst wiederum zum Deduktionsgrund der Freiheit erhebt (KpV, V 47 (A 82)), Wenn das Prinzip, von dem Freiheit deduziert werden soll, selbst ungerechtfertigt bleibt, dann wäre damit auch Kants Freiheitsbeweis gescheitert.
2. Kapitel: Faktum der Vernunft Der kategorisch gebietende Imperativ ist ein synthetischer Satz α priori (GMS, IV 420 (ΈΑ 50); KpV, V 31 (A 56), 46 (A 80)). In der theoretischen Philosophie ist ein synthetischer Satz ein Satz, in dem dem Subjektbegriff ein Prädikat zugeschrieben wird, das nicht im Subjektbegriff bereits enthalten ist. Im Unterschied zu analytischen Sätzen, die lediglich den Subjektbegriff erläutern, sind synthetische Sätze erkenntniserweiternde Sätze. Das zentrale
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Problem in Kants theoretischer Philosophie ist nun, wie und ob es möglich ist, Subjekt und Prädikat nicht vermittels sinnlicher Anschauung, nicht a posteriori, sondern a priori, vor aller wirklichen Erfahrung, zu verknüpfen (KrV, Β 10 f.). Das synthetische Apriori des Grundsatzes von Kants praktischer Philosophie ist anderes geartet. Der kategorische Imperativ ist ein synthetischer Satz α priori, weil er nicht ein subjektiv-zufälliges Interesse voraussetzt; er ist synthetisch, weil er den Willen des Menschen, der als sinnliches Wesen nicht immer schon ausschließlich das Gute will, mit einem Willen verknüpft, der ausschließlich das Gute will. Daß wir dem Moralgesetz unterworfen sind und diese Verknüpfung gerechtfertigt ist, kann also nicht einfach analytisch aus dem menschlichen Willen abgeleitet werden. Dagegen bedarf - wie im ersten Kapitel deutlich wurde - die Unterwerfung unter hypothetische Imperative keiner gesonderten Rechtfertigung. Denn setzt man voraus, daß wir einen bestimmten Zweck wollen (und nicht etwa nur wünschen), dann wollen wir auch das dazu notwendige Mittel. Für den Willen, der die Gesundheit will, ist der Imperativ „meide Zucker" verbindlich. Aus dem aktuellen Wollen dessen, der durch den Imperativ angesprochen werden soll, läßt sich analytisch die Verbindlichkeit ableiten. Daher sagt Kant zu Recht, daß in bezug auf die Frage nach der Möglichkeit hypothetischer Imputative, „keine Schwierigkeit" besteht (GMS, IV 417 ßA 44 f.), 419 ßA 48)). Die Verbindlichkeit des Moralgesetzes kann nicht aus dem vorliegenden Wollen abgeleitet werden, sondern ist synthetisch mit ihm verknüpft. Das Moralgesetz kann jedoch nicht wie synthetische Sätzen α posteriori empirisch legitimiert werden, weil keine sinnliche Anschauung die Rechtmäßigkeit jener Verknüpfung darstellen kann. Erfahrung ist, wie Kant bereits in der ersten Kritik wußte „in Ansehung der sittlichen Gesetze (leider!) die Mutter des Scheins", weshalb es „höchst verwerflich" wäre, „die Gesetze über das, was ich tun soll,\ von demjenigen herzunehmen oder dadurch einzuschränken, was getan wird' (KrV, Β 375). Solange Kant kein Argument dafür beizubringen weiß, warum der Wille eines sinnlichvernünftigen Wesens sich diesem Prinzip des ausschließlich vernünftigen Wesens unterwerfen soll (GMS, IV 449 ßA 102 f.)), ist nicht einzusehen, warum der kategorische Imperativ keine „chimärische Idee ohne Wahrheit", kein „Hirngespinst" ist (GMS, IV445 ßA 96)).n 11
Ludwig vertritt die Auffassung, Kant beziehe sich in der Grundlegung und der zweiten Kritik, wenn er von „analytisch" und „synthetisch" spricht, jeweils auf einen anderen Sachverhalt. In der Grundlegung noch meine er mit „analytisch", daß im aktuellen Wollen die vorgeschriebenen Mittel impliziert sind, während er in der KpV „analytisch" auf das Moralgesetz beziehe, dessen Erkennbarkeit man analytisch ableiten könne, wenn die Freiheit des Willens
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Um so verwunderlicher ist es, wenn Kant in der zweiten Kritik das Moralgesetz als ein „Faktum a priori" ansetzt und erklärt, daß die objektive Realität durch keine Deduktion bewiesen werden könne und es dennoch „für sich selbst fest steht" (KpV, V 47 (A 81 f.); vgl. auch 94 (A 168)). Das Bewußtsein des Sittengesetzes lasse sich nicht aus Daten der Vernunft „herausvernünfteln", sondern es dränge sich „für sich selbst uns a u f . Als synthetischer Satz a priori sei es das einzige „Faktum der reinen Vernunft" (KpV, 31 (A 56)). Diesen Lösungsversuch der Deduktionsproblematik wertet der eine als einen Ausdruck „bloßer Not" und des „fundamentalen Scheiterns" (Prauss 1983, J. 67 f.), die anderen erblicken hierin sogar den „Skandal der Transzendentalphilosophie". In dieser Maßnahme bekunde sich das Scheitern eines der grundlegenden Prinzipien des Kantischen Denkens, nämlich „nichts gelten zu lassen, was nicht aus den Bedingungen seiner Möglichkeit konstruierbar ist" (Böhme 1983, S. 345). Indem Kant das Sittengesetz als ein apriorisches Faktum ansetzt, mißachte er seine fundamentale Einsicht der ersten Kritik, daß etwas nur dann als apriorisch in Anspruch genommen werden dürfe, wenn es sich auch deduzieren läßt. Insofern das Moralgesetz einerseits etwas Apriorisches sein soll und damit deduzierbar sein muß, andererseits ein Faktum und insofern unabgeleitet ist, erweise es sich als ein „apriorisches Faktum", als ein „Unding" — unmöglich widerspruchsfrei zu denken (Prauss 1983, S. 68). Die Frage, wie ein Argument, das die Gültigkeit des kategorischen Imperatives beweist, auszusehen hat, ist äußerst umstritten. Mehr noch: Es besteht sogar Unklarheit darüber, welchen Weg Kant selbst eingeschlagen hat, um einen solchen Nachweis zu erbringen. Auf der einen Seite wird behauptet, daß die Gültigkeit des kategorischen Imperatives als eines synthetisch-apriorischen Grundsatzes sich nur durch eine transzendentale Deduktion nachweisen lasse. Tatsächlich habe Kant auch in der Grundlegung noch eine derartige Deduktion angestrebt. Als er jedoch bemerkte, daß seine Versuche scheiterten, habe er davon Abstand genommen und qua intellektueller Anschauung gegeben wäre (Ludwig, 114 f.). Dabei übersieht Ludwig vermutlich, daß die Schwierigkeit zu erkennen, daß wir kategorisch verpflichtet sind, gerade eine Folge davon ist, daß wir den freien Willen nicht als aktuell gegeben voraussetzen können. Dieselbe Position hat Kant bereits in der Grundlegung bezogen: „Wenn also die Freiheit des Willens vorausgesetzt wird, so folgt die Sittlichkeit samt ihrem Prinzip daraus durch bloße Zergliederung ihres Begriffs. Indessen ist das letztere doch immer ein synthetischer Satz" (GMSIV, 447 (BA 100)). Auch wenn Kant die Frage nach der Analytizität der hypothetisch-gebietenden Imperative in der KpV nicht wieder aufnimmt, bleibt diese Differenz zu den kategorisch-gebietendtn Imperativen bestehen. Eine Folge davon ist, daß die Verbindlichkeit bei kategorisch-gebietenden Imperativen nicht aus dem aktuellen Willen ableitbar ist.
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den kategorischen Imperativ geradewegs als „Faktum" angesetzt. Damit aber habe er bestenfalls demonstriert, daß wir unsere Handlungen nach kategorischen Prinzipien beurteilen, nicht aber bereits die Rechtmäßigkeit dieses Anspruchs ausgewiesen. Was hindert uns daran, kategorische Ansprüche bloß für eine historisch-kontingente Tatsache, für das ideosynkratische Produkt eines intellektualistischen Philosophen zu halten? Einige dieser Kritiker wollen allerdings das faktische Scheitern von Kants Legitimationsversuchen nicht auch so verstanden wissen, daß eine solche Legitimation auch prinzipiell scheitern muß und haben daher selbst versucht, die fehlenden Argumente nachzuliefern (Grünewald 1988; Hossenfelder 1988). Demgegenüber ist geltend gemacht worden, daß der prinzipielle Unterschied zwischen theoretischer Erkenntnis auf der einen Seite und praktischer auf der anderen notwendig auch eine andere Rechtfertigungsstrategie praktischer Grundsätze erforderlich mache. Kant habe in seiner Moralphilosophie einem systematischen Grund Rechnung getragen, indem er von jener transzendentalen Deduktion absieht. Auch wenn sich diese Interpreten darüber einig sind, daß die Theorie vom Vernunftfaktum ihren Grund in der Sache hat, sind sie sich uneinig darüber, zu welchem Zeitpunkt Kant zu dieser Einsicht gelangt ist. Die einen sind davon überzeugt, daß Kant, erst nachdem seine Deduktion in der Grundlegung fehlgeschlagen sei, in der zweiten Kritik erkannt habe, daß eine Deduktion des Moralgesetzes prinzipiell unmöglich sei (Allison 1990, S. 227 ff.; Henrich 1973, S. 250 f.; ders. 1975, S. 62 f., S. 77; Ilting 1972, S. 125; Beck 31995, S. 165; Willaschek 1992, S. 171 f.). Andere haben dagegen geltend gemacht, daß, wenn Kant in der Grundlegung von „Deduktion" spricht, etwas anderes gemeint habe als in der Analytik der ersten Kritik und er insofern bereits dort und nicht erst in der KpV einen anderen Weg der Deduktion eingeschlagen habe. Seine Lehre vom Vernunftfaktum vollende so gesehen die in der Grundlegung begonnene Argumentation. Beide Texte würden sich demnach nicht exklusiv, sondern komplementär zueinander verhalten (Freudinger 1993; Reibenschuh 1990). Die entwicklungsgeschichtlichen Probleme sollen aus diesem Kapitel herausgehalten und in einen entwicklungsgeschichtlichen Exkurs ausgelagert werden (s. da%u Exkurs). Dort wird dafür argumentiert, daß Kant in der Grundlegung seine Deduktion des Moralgesetzes als eines synthetischpraktischen Satzes a priori noch an der Legitimation synthetischtheoretischer Sätze orientiert hat, zunächst unmittelbar die Idee der Freiheit als im terminologischen Sinne „problematischen" Begriff und Voraussetzung des moralischen Gesetzes rechtfertigt, um anschließend über ein „Drittes" die Rechtmäßigkeit des Moralgesetzes als eines synthetischen
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Satzes zu deduzieren. In der Grundlegung liegt nicht etwa, wie viele meinen, ein unzulässiger Schluß von der Freiheit der theoretischen Vernunft auf die Freiheit des Willens vor. Die Argumente, die Kant im Rahmen dieser Deduktion entwickelt, sind im einzelnen nicht ungültig und werden auch durch die zweite Kritik nicht revidiert. Doch obgleich Kant in der Grundlegung zum ersten Mal sein Konzept der Freiheit als Autonomie entwickelt, bleibt der epistemische Status der Freiheit als einer „problematischen" Idee, die aus praktischer Hinsicht vorausgesetzt werden kann, im Verhältnis zur ersten Kritik unverändert. In der zweiten Kritik revidiert Kant nicht etwa einzelne Argumente seiner Deduktion, sondern seinen Ansatz indem er praktische Erkenntnis als einen Fall „unmittelbarer" und „apodiktisch gewisser" Vernunfterkenntnis ausweist. Er hat damit den dritten Abschnitt der Grundlegung (zumindest hinsichtlich seiner Freiheitstheorie) überflüssig gemacht. Das Moralgesetz wird als „Faktum der reinen Vernunft" selbst zur Deduktionsgrundlage der Freiheit und Kant verschafft ihr damit zum ersten Mal objektive Realität. Die zweite Kritik ist also der epistemische Höhepunkt von Kants Theorie der Freiheit und seine Theorie vom Vernunftfaktum eine ihrer tragenden Säulen. Für ihre Standfestigkeit soll in diesem Kapitel argumentiert werden.
(a) Das Moralgesetz als Vernunftprodukt Die Gültigkeit des Sittengesetzes als eines synthetischen Satzes α priori läßt sich nicht empirisch beweisen. In der ersten Kritik hat Kant ein zweistufiges Verfahren entwickelt, mit dem er die Gültigkeit der nicht-empirischen Begriffe, der Kategorien des Verstandes, nachweist. Auf der ersten Stufe, der „metaphysischen Deduktion", sucht er zunächst die reinen Elemente des Denkens auf, um dann auf der zweiten Stufe, der „transzendentalen Deduktion", zu beweisen, daß sie für die Konstitution der Erfahrungsgegenstände notwendig sind (KrV, Β 159). Die transzendentale Deduktion einer Sache anzustreben bedeutet, sich nicht mit der Frage nach dem, was der Fall ist („quidfacti"), zufrieden zu geben, vielmehr wird hier nach der B^echtmäßigkeit des Anspruchs („quid iuris") gefragt (KrV, Β 116). Wenn wir empirische Begriffe wie „Stein" oder „Baum" verwenden, können wir auf die Erfahrung rekurrieren um ihre objektive Realität zu beweisen. Die objektive Realität reiner Begriffe läßt sich dagegen nicht durch Erfahrung darstellen, weil Erfahrung immer nur zeigen kann, wie ein Begriff durch Reflexion auf die Erfahrung erworben worden ist. Damit aber ist über die 'Rechtmäßigkeit der Verwendung
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nichts gesagt (RrV, Β 117). Empirisch läßt sich die Verwendung bloß „illustrieren", nicht aber auch „deduzieren" (KrV, Β 126). Der zentrale Vorwurf, den Kant gegen die Empiristen erhebt, lautet daher: Wer verkennt, daß reine Begriffe einen „ganz anderen Geburtsbrief' als Erfahrungsbegriffe haben, und dann wie — Locke — eine empirische „Deduktion" anstrengt und damit die Frage nach dem Verhältnis zwischen Begrifflichem und Sinnlichem als eine „questionem facti"versteht, untergräbt bereits im Ansatz die Apriorizität der Verstandesbegriffe und damit ihre Notwendigkeit (KrV, Β 119). Es wäre also zu erwarten, daß Kant, nachdem er in seiner zweiten Kritik in den Paragraphen 1 bis 8 die reinen Elemente des notwendig gebietenden Handlungsgesetzes exponiert hat, nun eine transzendentale Deduktion folgen läßt, die uns die Rechtmäßigkeit des Anspruches versichert. Tatsächlich folgt auf jene Exposition ein Abschnitt, der mit der Uberschrift „Von der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft" betitelt ist (KpV, V 42 (A 72), Hervorhebung J. B.). Doch die Erwartungen, daß in diesem Abschnitt auch eine transzendentale Deduktion erfolgen würde, werden enttäuscht. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, müßte daher die Betonung bei jener Überschrift auf dem „Von"liegen. Denn was Kant hier gerade «/^/ankündigt, ist: „Die Deduktion der Grundsätze". Mit diesem „Von" ist also nicht mehr gesagt, als daß in diesem Abschnitt Gedanken %ur und über die Deduktion der Grundsätze zu erwarten sind.12 Es ist daher auch nicht verwunderlich, daß entscheidende Aussagen über den spezifischen epistemischen Status des Moralgesetzes bereits vorher gefallen sind. Als ein „Faktum der Vernunft" hatte Kant es bezeichnet, „weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, ζ. B. dem Bewußtsein der Freiheit [...] herausvernünfteln kann" (KpV, V 31 (A 56)). Damit ist nun offenbar gemeint, daß das Moralgesetz nicht aus einem höheren Prinzip abgeleitet werden kann, sondern selbst das höchste Prinzip ist. Es ist ein synthetischer Satz, der „für sich selbst" und nicht etwa vermittels empirischer Anschauung sich „uns aufdringt" (ebd., Hervorhebung J. B.). Zugleich hat Kant damit auch gesagt, daß es sich bei diesem Faktum der praktischen Vernunft ausschließlich um ein Vernunftprodukt handelt. Nun spricht Kant auch in bezug auf das Moralgesetz davon, daß es uns „gegeben"ist (KpV, V31 (A 56), 47 (A 81), 104 (A 187f.)). Doch warnt er zugleich davor, diese Gegebenheit mißzuverstehen. Denn das Sittenge12
Beck irrt daher, wenn er meint, Kant würde „im Widerspruch zum Titel dieses Abschnitts [bestreiten] es könne eine Deduktion des Grundsatzes der reinen praktischen Vernunft geben" (Beck 31995, J. 164, Hervorhebung J. B.).
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setz sei „kein empirisches, sondern das einzige Faktum der reinen Vernunft" (KpV, 31 (A 56)). Die Gegebenheit des Sittengesetzes ist uns also nicht als ein Sinnesdatum durch die empirische Anschauung vermittelt. Vielmehr muß man hier von einer unmittelbaren Gegebenheit, von einer Schöpfung durch die Vernunft sprechen. Wir partizipieren damit als moralische Wesen an göttlicher Vernunft, die nicht gegebene Gegenstände sich vorstellt, sondern „durch dessen Vorstellung die Gegenstände selbst zugleich gegeben, oder hervorgebracht' werden (KrV] Β 145, Hervorhebung J. B.). Als eine unmittelbare Gegebenheit ist das Sittengesetz ein ursprüngliches Vernunftprodukt: „Reine Vernunft ist für sich allein praktisch, und gibt (dem Menschen) [...] das Sittengesetz" (KpV, V 31 (A 56), Hervorhebung J. B.). Insofern ist das Moralgesetz ein Faktum im emphatischen Sinne: eine Tat der reinen Vernunft (vgl. $ B. Willaschek 1992). Es ist das „einige" Faktum, weil reine Vernunft nur in der Aiora/gesetzgebung selbst den Zweck der Handlung hervorbringt. Als Imperativ gebietet reine Vernunft dieses Gesetz, weil der Mensch als sinnlich-sre.rnünfüges Wesen jederzeit der Versuchung ausgesetzt ist, seine objektiven Zwecke den subjektiven unterzuordnen (KpV, V 32 (A 57)). Als sinnlich-vemünitige Wesen geschieht bei uns nicht immer das, „was die Vernunft für sich allein tun würde" (GMS, IV 449 ßA 102 f.)). Bereits dadurch, daß Kant das Moralgesetz als Faktum der reinen Vernunft dem empirischen Faktum gegenüberstellt, wird deutlich, daß die Vernunft hier selbstursprünglich tätig sein muß und Macherin des Moralgesetzes ist. Zudem läßt sich auch philologisch belegen, daß Kants Verwendung von „Faktum" äquivok ist. Zum einen gebraucht er es als „factum brutum", zum anderen aber auch im Sinne einer zurechenbaren „Tat" (Reflexion 7298; vgl. Kitoka 1991; Willaschek 1991).™ Die Erkenntnisbedingung, die Kant für das Moralgesetz formuliert, lautet: „Sobald wir uns Maximen des Willens entwerfen", werden wir uns des Moralgesetzes „unmittelbar" bewußt (KpV, V 29 (A 53)). Solange wir bloß auf die unmittelbare Verwirklichung unserer Bedürfnisse aus sind und nicht versuchen unser Handeln an Grundsätzen zu orientieren, be13
Willaschek geht in seinem Aufsatz dem Kantischen Wortgebrauch von „Faktum" nach und gelangt zu der Überzeugung, daß „Faktum" von Kant zum einen als „factum brutum", aber eben auch im Sinne einer zurechenbaren „Tat" verwendet wird. Er verweist auf die Reflexionen 3579, 6783, 6784, 7288 und 7292, wo Kant „tut" mit „facit" übersetzt. Aufschlussreich ist ferner eine Stelle aus der Schrift „Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee": Es dürfe, so heißt es dort, nicht als „Faktum des höchsten Urhebers aller Dinge, sondern bloß der Weltwesen, denen etwas zugerechnet werden kann, d. i. der Menschen", angesehen werden (Theodizee, VIII 255 (A 195)). Auch in der Religionsschrift verwendet Kant gelegentlich „Faktum" im Sinne von Tat (Ret VI, 31 (B 26) 23
ß 10)).
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merken wir nichts von dem kategorischen Anspruch eines Moralgeset2es. Erst wenn wir allgemeine Grundsätze bilden, stoßen wir unmittelbar auf jenes Gesetz, das die Verallgemeinerbarkeit der Maximen fordert. Kant hat dies an einem moralischen Konfliktfall verdeutlicht: Er setzt dabei voraus, daß es sich jemand (X) zur Maxime gemacht hat, sein „Vermögen durch alle sicheren Mittel zu vergrößern" (KpV, V 27 (A 49)). Nun konstruiert Kant eine Situation, bei dem diese Maxime zur Anwendung kommt: Ein anderer (Y) ist gestorben, der bei X etwas zur Verwahrung, ein sogenanntes „Depositum", hinterlegt hatte. Dazu kommt noch, daß abgesehen von X niemand in Kenntnis darüber ist, daß Y bei X ein Teil seines Eigentums zur Verwahrung hinterlegt hat. Die Maxime von X vorausgesetzt, folgt, daß X in diesem Fall zu der Überzeugung kommen muß, daß dies ein geeigneter Fall ist, sein Vermögen zu vergrößern, indem er das von ihm in Verwahrung genommene Eigentum von Y unterschlägt. Nicht nur kann X in dieser Situation sein Vermögen vergrößern, es besteht zudem keine Gefahr für ihn, etwa durch Strafe belangt zu werden. Wenn X nun aber nicht bloß seinen zweckrationalen Verstand, sondern seine moralisch-praktische Vernunft gebraucht und sich fragt, ob seine Maxime verallgemeinerbar ist, wird er folgendes feststellen: Der Begriff „Depositum" impliziert, daß es sich um einen Gegenstand, der zur Aufbewahrung hinterlegt worden ist, und nicht etwa um ein Geschenk handelt. Die Maxime, sein „Vermögen durch alle sicheren Mittel zu vergrößern", ist nicht universalisierbar, weil sie letztlich dazu führt, daß ich fremdes Eigentum anerkenne und es zugleich als solches ableugne. Dies ist nur auf Kosten eines Selbstwiderspruchs möglich, weshalb die Maxime nicht zu einem allgemeinen Gesetz tauglich ist. Sie führt in diesem Fall dazu, daß das Konzept und nicht etwa die Institution des Depositums, auf die X selbst bei seiner Unterschlagung gesetzt hat, sich auflöst. (KpV, V
27 f . (A 49 f.); vgl. auch GMS, IV 403 (RA 18 f.); ψηι Thema vgl. Hoffe 1994, S. 206-214 und ders., 2003, S. 67-75 sowie Cramer 2001). Selbst ein Kind „von etwa acht oder neun Jahren" wird, wenn man ihm diesen Fall vorträgt bereits erkennen können, daß es unerlaubt ist, „dieses Depositum in eigenen Nutzen zu verwenden" (Gemeinspruch, VIII286 (A 226f.)). Das Bewußtsein dieses Widerspruches ist „unmittelbar", weil es nicht durch Erfahrung vermittelt, sondern ein Bewußtsein eines reinen Vernunftgesetzes ist. Es „drängt sich uns a u f , insofern wir bemerken, daß wir uns bestimmte Maximen nur bei Strafe des Selbstwiderspruchs zueigen machen können. In diesem Sinne stoßen wir „unmittelbar" auf dieses Gesetz. Es ist nicht etwa erforderlich, daß man sich moralisch gute Maximen bildet, um sich des Moralgesetzes bewußt zu werden ( H ö f f e 2002, S. 79). Kant scheint vielmehr der Auffassung zu sein, daß wir, sobald wir
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Maximen bilden, bereits über die Singularität des Einzelfalls hinaus sind und die Gründung allgemeiner Grundsätze anstreben. Einer derartig eingestellten Vernunft kann die Widersprüchlichkeit unmoralischer Maximen nicht entgehen, es sei denn, sie verstößt gegen ihre eigenen Prinzipien und dächte inkonsequent (KU, V 294f. (B 158 f.)). Das Moralgesetz wird also im Gebrauch unserer reinen praktischen Vernunft entdeckt. Damit setzt Kant bei der Begründung des Fundamentalprinzips seiner Ethik nicht auf sinnlich vermittelte, sondern auf reine unmittelbare Vernunfterkenntnis. Reine praktische Erkenntnis ist eine Schöpfung des Gegenstandes und nicht etwa das Produkt von Sinnlichkeit und Verstand.14 Damit ist das Moralgesetz aber auch zugleich ein Faktum im Sinne eines unhintergehbaren Ausgangspunktes, „weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft [...] herausvernünfteln kann (RpV, V 31 (Λ 56)). (b) Exposition statt Deduktion Warum eine transzendentale Deduktion beim Sittengesetz prinzipiell undurchführbar aber auch entbehrlich ist und ihre Exposition bereits als ihre Rechtfertigung verstanden werden muß, darüber hat Kant gleich zweimal Rechenschaft abgelegt. Einmal befaßt er sich damit in jenem Abschnitt, der „Von der Deduktion der Grundsätze [...] " überschrieben ist. Darüber hinaus finden sich in der kritischen Beleuchtung ausführliche Begründungen für sein gesamtes methodisches Vorgehen in der Analytik der zweiten Kritik (KpV, V 89-94 (A 159-A 169)). Die kritische Beleuchtung wird von Kant ja gerade vorgestellt als die „Untersuchung und Rechtfertigung, warum sie [die Wissenschaft, die Analytik] gerade diese und keine andere systematische Form haben müsse, wenn man sie mit einem anderen System vergleicht, das ein ähnliches Erkenntnisvermögen zum Grunde hat". Mit dem „anderen System" ist hier freilich die KrV gemeint. Bei der großen Aufmerksamkeit, die Kant diesem Thema widmet, kann nicht davon die Rede sein, man würde Kant „kurzerhand auf Stellen festlegen", bei denen er die Deduzierbarkeit des Moralgesetzes aus prinzipiellen Gründen ablehnt (Prauss 1983, S. 69, Hervorhebung J. B.). 14
Ilting ist davon überzeugt, daß der zentrale Fehler Kants darin bestehe, daß das moralische Gesetz sich nicht auf eine „Erkenntnis von Gegenständen" bezieht (Ilting, 1972, S. 126). Dabei unterstellt Ilting jedoch zu unrecht, daß Kant „Erkenntnis" hier im Sinne der KrV als sinnliche Erkenntnis versteht. Gerade an jener Stelle, auf die Ilting sich bezieht, wird das ausgesprochen: Praktische Erkenntnis ist eine Erkenntnis, bei der die Vernunft selbst „der Grund von der Existenz der Gegenstände" ist (KpV, A 80).
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Wie immer man auch Kants Argumente bewerten mag, allein die Tatsache, daß er die Methode, die er wählt, rechtfertigt, und sie ihm nicht unversehens unterläuft, hätte jene Kritiker, die in der Theorie vom Vernunftfaktum bloß eine „Verzweiflungstat" oder den „Skandal der Transzendentalphilosophie" erblicken, dazu bewegen können, sich mit diesen Argumenten auseinanderzusetzen und Kants Theorie des Vernunftfaktums nicht voreilig als „Selbstüberredung" zu disqualifizieren (ebd.). Im Unterschied zu Kant haben jene Kritiker sich offenbar entschieden, eine nicht-empirische Theorie der Moral unter dieselben methodischen Vorgaben zu stellen wie eine nicht-empirische Theorie der Naturerfahrung. Obgleich sich eine Vielzahl von Literatur zur Deduktionsproblematik findet, sind die Argumente, die Kant in der zweiten Kritik gegen eine Deduktion des kategorischen Imperativs vorbringt, kaum berücksichtigt worden. Und das, obgleich sich Kant hier explizit über die prinzipielle Differenz zwischen praktischer und theoretischer Philosophie erklärt. Wer gegen Kant die Auffassung vertreten will, daß die Gültigkeit des Sittengesetzes auf dieselbe Art zu beweisen ist wie die Gültigkeit der Grundsätze des theoretischen Verstandes, der müßte selbst ein Argument dafür präsentieren können. Doch jene Kritiker beschränken sich darauf, Kant in dieser Sache Inkonsistenz zu unterstellen. Dies aber ist nur möglich, wenn man seine methodischen Überlegungen hinsichtlich der Deduzierbarkeit des Moralgesetzes in der zweiten Kritik ignoriert. Es erscheint daher lohnend, sich Kants Argumente, die ihn dazu veranlassen, das Grundgesetz seiner Moralphilosophie für nicht deduzierbar zu halten, genauer anzusehen. Grundlegend hierfür ist die unterschiedliche Problemstellung, die sich in bezug auf reine theoretische und reine praktische Vernunft ergibt. Für die theoretische Vernunft stellte sich die Frage, ob der reine Verstand mit Recht Anspruch auf nicht-empirische Sätze erhebt, die nicht bloß analytisch, sondern synthetisch sind. Bei empirischsynthetischen Sätzen kann auf die Anschauung verwiesen werden, um die Rechtmäßigkeit des Satzes zu beweisen. Um einem Körper mit Recht die Eigenschaft der Schwere zuzuschreiben, bedarf es sinnlicher Anschauung. Deshalb sagt Kant, daß „ein Drittes nötig [ist] worin allein die Synthesis zweener Begriffe entstehen kann" (KrV, Β 194). Die Rechtmäßigkeit der Verbindung der zwei Begriffe des „Körpers" und der „Schwere" in einem Urteil der Form „S ist P", wird bewiesen, indem man auf ein Drittes, die sinnliche Anschauung, verweist. Wenn sich tatsächlich in der Erfahrung ein Fall findet, bei dem einem Körper so etwas wie Schwere zukommt, hat der Satz, „dieser Körper ist schwer", „objektive Realität".
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Damit einem Satz objektive Realität zukommt, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Zum einen muß er sich „auf einen Gegenstand beziehen" zum anderen „in demselben Bedeutung und Sinn haben" (ebd.). Die objektive Realität verbürgt bei einem Erfahrungsurteil allein die Anschauung. Auch für die Rechtfertigung synthetischer Sätze, die »«^-empirisch, sondern a priori sind, „ist ein Drittes nötig", damit ihnen objektive Realität zukommt; dieses Dritte ist die „mögliche Erfahrung" (KrV, Β 794, Hervorhebung Kant). Die Pointe der theoretischen Philosophie Kants ist nun, daß sich synthetische Urteile a priori insofern rechtfertigen lassen als sie als „die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt [...] zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung [sind]" (KrV, Β 197). Synthetische Sätze a priori beziehen sich nicht auf Gegenstände der sinnlichen Anschauung, um ihnen empirische Eigenschaften zuzuschreiben, sie sind aber auch keine leeren „Hirngespinste", vielmehr kann durch sie überhaupt erst etwas Gegenstand der Erfahrung werden. Kant sichert ihnen ihre objektive Realität, ihren Gegenstandsbezug und ihre Bedeutung, indem er zeigt, daß sie die Ermöglichungsbedingungen der Gegenstände der Erfahrung sind. Der entscheidende Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Vernunft ist nun, daß sich bei der theoretischen Vernunft das Vermögen einer „reinen Vernunfterkenntnis durch Beispiele aus Wissenschaften [...] ganz leicht und evident bewiesen werden [kann]" (KpV, V91 (A 163)). Die objektive Erkenntnis der Naturwissenschaft wäre nicht möglich, wenn sie nicht Begriffe wie „Kausalität" oder das „Substanz-Akzidenz-Verhältnis" ihren Untersuchungen zu Grunde legen würden. Kant hat aber in der KrV nicht nur die Grundsätze des reinen Verstandes, sondern auch für die der reinen Vernunft eine „transzendentale Deduktion" (!) durchgeführt (KrV, Β 699). Auf diese Grundsätze der theoretischen Vernunft weist Kant in der zweiten Kritik hin, wenn er „Vernunft" hier tatsächlich im engeren Sinne verstanden wissen will, jedoch nur um auch diese Deduktion von den reinen praktischen Grundsätzen zu unterscheiden. Auch die Deduktion der Grundsätze der Vernunft war nur möglich, weil sie Gültigkeit in bezug auf mögliche Erfahrung haben (KpV, V 45 (A 78)). Anders als jenen Grundsätzen des reinen Verstandes kommt ihnen zwar keine konstitutive, sondern ausschließlich eine „regulative" Funktion zu. Sie sind „heuristische" Prinzipien, die dazu dienen, den empirischen Gebrauch der Vernunft „durch Eröffnung neuer Wege, die der Verstand nicht kennt, ins Unendliche (Unbestimmte) zu befördern (KrV, Β 708). Doch auch die Grundsätze der reinen theoretischen Vernunft ermöglichen nicht etwa sachhaltige nicht-empirische Erkenntnis, vielmehr
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sind sie selbst nicht-empirische Grundsätze, denen nur insofern „objektive Realität" zukommt, als sie Bedingungen der Möglichkeit für die Vollkommenheit der Erkenntnis der Gegenstände sind (KrVΒ 693f.). Beide Deduktionen der ersten Kritik beweisen also, daß die theoretischen Grundsätze nur als erfahrungsermögüchende Prinzipien gültig sind. Sie sind konstitutiv bzw. regulativ in bezug auf eine mögliche Erfahrung und haben daher objektive Realität. Nun ist der Grundsatz von Kants Moralphilosophie, das Sittengesetz, nicht etwa funktional auf sinnliche Anschauung bezogen und Ermöglichungsbedingung der Erfahrung, vielmehr ist die reine praktische Vernunft selbst — und darin liegt die fundamentale Differenz zur theoretischen —: „der Grund von der Existen^ der Gegenstände" (KpV, V46 (A 80)), Hervorhebung]. B.). Wie aber soll die objektive Realität eines Grundsatzes bewiesen werden, wenn er sich gar nicht auf Dinge bezieht, „die der Vernunft irgend wodurch anderwärts gegeben werden", sondern deren Existenz sie erst selbst hervorbringt (ebd.)} Auch in der theoretischen Erkenntnis hatte sich der Verstand als konstitutiv für die Fakta erwiesen. Er unterwirft qua Spontaneität als „Vermögen der Regeln" und „Quell der Grundsätze" die Sinnesdaten seinen Ordnungsprinzipien (KrV, Β 197 f.). Der transzendentale Idealismus hatte gelehrt, daß der Verstand auch die empirischen Sachverhalte nicht bloß zu vernehmen hat, vielmehr geht die „factio" (Handlung) des Verstandes dem Faktum voraus. Aber Naturerfahrung, die wir zwar im Vollsinn des Wortes machen und nicht etwa erleiden, geht nicht in bloßer Vernunftspontaneität auf. Vielmehr sind wir als endliche Wesen immer darauf angewiesen, daß wir von etwas affiziert werden, das wir selbst nicht hervorgebracht haben. „Vermittels der Sinnlichkeit werden uns [Sinnesdaten] gegeben" (KrV, Β 33), und eben diese Gegebenheit liegt im Unterschied zu ihrer Reglementierung nicht in der Macht des Subjekts. Gerade weil die Grundsätze des reinen theoretischen Verstandes die Erfahrung jener Gegebenheit erst ermöglicht, kommt ihnen objektive Realität zu. Daß es sich bei diesen reinen Grundsätzen nicht um „Erdichtungen" handelt, konnte „durch Beispiele aus Wissenschaften [...] ganz leicht und evident bewiesen werden" (KpV, V 91 (A 163), vgl. auch 47 (A 81)). Dabei zeigte sich, daß naturwissenschaftliche Erkenntnis eben diese Begriffe immer schon voraussetzt und sie für ihre Theoriebildung unverzichtbar sind. Die Vernunffo&gäiie. der theoretischen Erkenntnis, die Ideen, sind regulativ notwendig für die Vollständigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Im Unterschied dazu ist das Sittengesetz gerade nicht auf gegebene Willensakte bezogen, sondern bringt auch den Zweck, den Gegenstand des Willens, ursprünglich selbst hervor.
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Teil I. Absolute Freiheit als Autonomie
Eine Deduktion des Moralgesetzes erweist sich als unmöglich, weil es in der Moralphilosophie kein Äquivalent für „mögliche Erfahrung" gibt. Der Vorschlag, Kant hätte seine Deduktion in der Moralphilosophie nicht vom Begriff der „möglichen Erfahrung", sondern der „moralischen Erfahrung" anfangen müssen (Beck 31995, S. 164 f.), ist irreführend, weil damit an den Anfangsgründen der Kantischen Philosophie eine äquivoke Verwendung von „Erfahrung" eingeführt wird. Setzt man bei dem Begriff der Naturerfahrung der ersten Kritik an, ist Moralität ja gerade etwas, was prinzipiell nicht in der Erfahrung angetroffen werden kann. Was hier mit „moralischer Erfahrung' gemeint sein könnte, bleibt unklar. Kant erweist sich diesbezüglich wieder einmal kritischer als seine Kritiker, wenn er mit seiner Moraltheorie beim „Urteil" eines jeden Menschen ansetzt (KpV, V 91 (Λ 163)). Doch anders als bei den Grundsätzen der reinen theoretischen Vernunft, deren Wirklichkeitsgeltung uns die Objektivität naturwissenschaftlicher Aussagen verbürgt, gibt es bei der Moral keine empirische Wissenschaft, die hier dieselbe Funktion übernehmen könnte und kann sie auch prinzipiell nicht geben. Kant konnte nur beweisen, daß das moralische Urteil eines jeden Menschen jenes synthetische Apriori immer schon impliziert. Doch er hat sehr deutlich gesehen, daß die „Rechtfertigung" der „Reinigkeit" des Moralgesetzes nicht auch bereits seine Deduktion als eines synthetischen Satzes a priori ist (ebd.). Der Unterschied zwischen theoretisch-diskursiver und praktisch-intuitiver Vernunft hat es unmöglich werden lassen, eine strukturanaloge Deduktion auch in der praktischen Philosophie durchzuführen. Statt der Deduktion des Moralgesetzes bietet Kant lediglich einen hypothetischen Beweis an: „Wenn man die Möglichkeit der Freiheit einsehen könnte, würde man auch die Notwendigkeit des Moralgesetzes einsehen (KpV, V 94 (A 167)). In welcher Weise Moralgesetz und Freiheit zusammenhängen und wieso Kant die objektive Realität der Freiheit aus dem Moralgesetz ableiten kann, obgleich er hier doch offenbar die Gültigkeit des Moralgesetzes von der Freiheit abhängig macht, wird im Zentrum des nächsten Abschnitts stehen. Hier gilt es nun zunächst rückblickend zu fragen, was die zentralen Gründe sind, die Kants Theorie des Vernunftfaktums zu einer notwendigen Konsequenz seines moralphilosophischen Unternehmens gemacht haben. Das primäre Ziel seiner Moralbegründung ist es, die differenten Prinzipien von Glückseligkeit auf der einen und Sittlichkeit auf der anderen Seite herauszuarbeiten. Seine entscheidende Einsicht ist dabei, daß das Gesetz der Sittlichkeit im Unterschied zu den „Regeln der Geschicklichkeit" und den „Ratschlägen der Klugheit" kein subjektiv-privates Bedürfnis als Zweck voraussetzt. Der Zweck muß hier vielmehr ein reiner (und
2. Kapitel: Faktum der Vernunft
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das bedeutet formaler) Vernunftzweck sein, damit der Anspruch auf kategorische und nicht etwa nur hypothetische Gültigkeit eingelöst werden kann. Dies wurde im ersten Kapitel sorgfältig ausgearbeitet. Damit wurde aber auch zugleich der wesentliche Grund freigelegt, warum das Sittengesetz nicht funktional in bezug auf gegebene Willensakte ist, sondern als ein ursprüngliches Vernunftprodukt, als ein Faktum durch die Vernunft, gedacht werden muß. Genau darin liegt dann auch der Unterschied zwischen theoretischen und praktischen Grundsätzen: Im Praktischen ist die Vernunft „der Grund von der Existenz der Gegenstände", während sie im theoretischen nur die Reglementierung gegebener und nicht etwa selbst hervorgebrachter Anschauung besorgt. Die Deduktion, der Nachweis der objektiven Realität, der theoretischen Grundsätze gelang, indem Kant zeigte, daß nur dadurch, daß gegebene Sinnesdaten unter die Grundsätze des Verstandes gebracht werden, überhaupt erst Gegenstandserkenntnis möglich ist. Nun ist der reinen praktischen Vernunft zur Konstitution ihrer Grundsätze nichts gegeben. Vielmehr ist sie, sofern sie sich auf sinnlich gegebene Absichten richtet, immer nur zweckrational, nicht aber moralisch ausgerichtet. Das, was reine praktische Vernunft konstituiert, ist sogar prinzipiell nicht in der Erfahrung anzutreffen. Daher konnte auch keine Wissenschaft die Wirklichkeit der Prinzipien der praktischen Vernunft verbürgen. Die einzige Wirklichkeit, auf die Kant sich berufen kann, ist das Urteil des gemeinen Menschenverstandes. Durch die „Zergliederung" jenes Urteils beweist er, daß der kategorisch-gebietende Imperativ ein l/en2#«/Zprodukt und nicht etwa ein Traumland seiner Philosophie ist. (KpV, V 32 (A 56), 35 f . (A 62 f.)). Er kann damit zeigen, daß Sittlichkeit und Glückseligkeit auf „Ungleichartige Bestimmungsgründe" zurückgeführt werden müssen (KpV, V 92 (A 164)). Er hat damit bewiesen, „daß reine Vernunft, ohne Beimischung irgend eines empirischen Bestimmungsgrundes, für sich allein praktisch" gedacht wird (KpV, V 91 (A 163)). Wie es möglich ist, daß reine Vernunft für sich selbst praktisch sein kann, läßt sich prinzipiell nicht einsehen (GMS V, 461 ßA 124f.); KpV, V 72 (A 128)). Einem weit verbreiteten, insbesondere von Marx, Nietzsche und Freud inspirierten Einwand zufolge, läßt sich das Sollen des kategorischen Imperatives bloß als historisch-kulturell gewachsene Internalisierung entlarven (vgl. Marx 1845, S. 31 ff.; Nietzsche 1886, S. 188 ff; ders. 1788, S. 258274; Freud 1929, S. 250-59). Kant würde dem vermutlich entgegnen, daß dieses Sollen, das reine Vernunft auferlegt, gerade historisch und kulturell invariant ist. Es läßt sich nicht auf das Interesse eines Herrschers oder einer Herrscherschicht zurückführen, sondern liegt im Willen eines sinnlichvernünftigen Wesens selbst (GMS, 449 ßA 102)). Selbst wenn die Ge-
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Teil I. Absolute Freiheit als Autonomie
schichte eine „Geschichte von Klassenkämpfen" gewesen ist, fällt diesen Kämpfen nicht auch das Urteil reiner praktischer Vernunft zum Opfer. Gerade diese unveränderliche Tiefendimension des moralischen Urteilens freizulegen, ist es, wovon Kants Ethik ihren Ausgang nimmt. Das singuläre Wollen des Menschen für sein eigentliches Wollen zu erklären, dem das Allgemeine als ein Anspruch, der ihm äußerlich ist, gegenübertritt, setzt einen Willensbegriff voraus, den Kant in seiner Moralphilosophie einer sachlich (nicht aber auch historisch) nachhaltigen Kritik unterzogen hat. Daß die Menschen in ihren Urteilen klar und deutlich zwischen Selbstliebe und Sittlichkeit unterscheiden, hat Kant an zahlreichen experimentell angelegten Beispielen aufgezeigt (KpV, V23 (A 42f.), 27 (A 49), 30 (A 54), 35f. (A 62 f.), 37 (A 65), 87 ff. (A 156 ff), A 92 f . (A 165 f.), 98f. (A 175 f.)). Er hat damit auch belegt, daß die Praxis, über die er schreibt, unsere Praxis ist. Die Berechtigung des Anspruchs auf kategorische Verpflichtung wird nicht ausgewiesen, indem Kant das Moralgesetz von einem höheren Prinzip ableitet. Statt dessen beweist er in reduktivem Verfahren, daß unsere moralischen Urteile von allen empirischen Triebfedern absehen und allein auf reiner Vernunft gründen. Bereits damit hat Kant sein Beweisziel erreicht: Kategorische Ansprüche sind keine bloße „Erdichtung" und nicht „versteckterweise hypothetisch" (GMS, IV 419 (BA 48)). Sie beruhen auf einer unmittelbaren und damit „apodiktisch gewissen" Vernunfteinsicht (KpV, V3 (A4), 47 (A 81), 135 (A 243), 142 (A 257)), bei der wir von allen empirischen Bewertungsmaßstäben abstrahieren und ausschließlich die Verallgemeinerbarkeit der Maxime beurteilen. Diese Einsicht haben wir, wenn wir — über die Momentaneität unseres eigenen und des Tuns der anderen hinaus — uns nach Grundsätzen des Handelns orientieren. Daß wir nach der Berechtigung unserer Grundsätze fragen sollen, hat Kant nicht bewiesen und auch nicht zu beweisen angestrebt.
3. Kapitel: Die Deduktion der Freiheit Das vorhergehende Kapitel hat gezeigt, warum eine transzendentale Deduktion, so wie Kant sie bei den theoretischen Grundsätzen des Verstandes oder der Vernunft durchgeführt hatte, in bezug auf das Moralgesetz prinzipiell unmöglich ist. Aber - und damit stellt Kant seine Argumentation der Grundlegung buchstäblich auf den Kopf - das Moralgesetz dient nun selbst als Fundament, von dem aus sich absolute Freiheit deduzieren läßt. Diese Deduktion der Freiheit „tritt an die Stelle" jener „vergeblich ge-
3. Kapitel: Die Deduktion der Freiheit
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suchten Deduktion des moralischen Prinzips", was zunächst einmal „widersinnisch" erscheinen muß (KpV, V 47 (A 82)). Es ist nicht etwa „widersinnisch", weil Kant sich über die Widersprüchlichkeit seiner Theorie vom „Faktum a priori' im Klaren ist und daher auch seiner weiteren Argumentation grundsätzlich mißtrauen würde (Prauss, 1983, 68f.), vielmehr ist dieses Verfahren dem zuwider, was man auf den ersten Blick erwarten würde. Erwarten würde man, daß Kant zuerst ein Argument für die Freiheit als Erstursächüchkeit präsentiert, die ja gerade die 1Voraussetzung für kategorische Verpflichtung ist, um dann mit Recht darauf schließen zu können, daß wir auch kategorischen Gesetzen unterworfen sind. Doch nun wird „umgekehrt" das Moralgesetz „selbst zum Prinzip der Deduktion" (KpV, V47 (A 82)). Genau diese „Widersinnigkeit" der Kantischen Moraltheorie, daß Freiheit aus der moralischen Verpflichtung und nicht umgekehrt moralische Verpflichtung aus der Freiheit abgeleitet wird, ist in der gegenwärtigen Debatte der zentrale Ansatzpunkt jener Kritiker, die kategorische Verpflichtung für unzumutbar und eine „Handlung aus Pflicht" für ein bloßes Phantasiegebilde halten. Die Aufgabe dieses Kapitels ist daher zunächst, zu untersuchen, welche Gründe Kant für die wechselseitige Abhängigkeit von Freiheit und Moralgesetz vorbringt. Dabei gilt es herauszuarbeiten, was es eigentlich heißt, daß Freiheit der „Seinsgrund" und das Moralgesetz dagegen der „Bewußtseinsgrund" der Freiheit ist. Erst wenn das Verhältnis von Freiheit und Moralgesetz angemessen bestimmt ist, wird sich auch zeigen lassen, daß Kant entgegen einer verbreiteten Auffassung neben seiner Theorie vom Vernunftfaktum keine Zusatzargumente für die Gültigkeit des Moralgesetzes entwickelt hat und in der zweiten Kritik ausschließlich die Freiheit aus der moralischen Verpflichtung deduziert wird. Im zweiten Abschnitt kann dann die Frage erörtert werden, weshalb aus moralischer Perspektive möglich ist, was aus theoretischer Perspektive prinzipiell unmöglich bleibt: der Freiheit als konstitutivem Prinzip „objektive Realität" zuzusprechen. Schließlich wird im letzten Abschnitt anhand zweier pointiert konstruierter Entscheidungskonflikte die bewußtseinsmäßige Priorität moralischer Verpflichtung vor der absoluten Freiheit durch die Erfahrung bestätigt. Wenn man diese Priorität eingesehen hat, wird auch Kants Behauptung verständlich, daß erst das Moralgesetz mit seinem kategorischen Anspruch der spekulativen Vernunft das Problem aufgibt, wie Freiheit als Erstursächüchkeit mit dem Determinismus vereinbar ist. Erst der kategorische Anspruch des Sittengesetzes muß den Skeptiker auf den Plan rufen, weil das Sittengesetz als solches einen absoluten Freiheitsbegriff impliziert, der mit dem Naturdeterminismus nicht vereinbar zu sein scheint. Die Skepsis derjenigen, die kategorische Verpflichtung für „chimärisch" hal-
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Teil I. Absolute Freiheit als Autonomie
ten, ergibt sich erst aus spekulativer Perspektive und wird von Kant in der dritten Antinomie abgeholt. Damit leitet dieses letzte Kapitel des ersten Teils in die Verteidigung des absoluten Freiheitsbegriffes über, der das Thema des ^weiten Teils dieser Untersuchung sein wird. (a) Freiheit und Moralgesetz als Seins- und Bewußtseinsgrund Bereits in der Exposition der Grundsätze hat Kant die wechselseitige Abhängigkeit von Freiheit und Moralgesetz bewiesen und ihr Verhältnis näher bestimmt. Nachdem er in § 4 zunächst gezeigt hat, daß für ein praktisches Gesetz allein ein formales und nicht etwa materiales Gesetz in Frage kommt, weil die Materie des Wollens subjektiv-different ist (KpV, V 27 f . (A, 48 ff.)), legt er sich nun in den §§ 5 und 6 zwei Aufgaben zur Lösung vor: Die erste Aufgabe besteht darin, die Beschaffenheit des Willens ausfindig zu machen, für dessen Bestimmung die Form des Gesetzes allein hinreichend ist. Das Ergebnis ist, daß der Wille absolut frei sein muß, und das Argument dafür lautet: Die Form des Gesetzes ist ein ursprüngliches Vernunfipnodukt. Wenn die Form allein als Bestimmungsgrund des Willens hinreichend sein kann, muß der Wille unabhängig von der Mräwkausalität sein (negative Freiheit). Diese Unabhängigkeit ist nicht nur relativ, sondern absolut, weil für die Wirksamkeit des Willens der reine Vernunftzweck, die Form der Maximen, hinreichend ist. Diese absolute Unabhängigkeit des Willens entspricht dem negativen Begriff der transzendentalen und nicht etwa empirischen Freiheit (KpV, V28f. (A 51 f.)). In der zweiten „Aufgabe", die Kant sich vorlegt, dreht er das Beweisziel um: Er setzt die negative Freiheit des Willens im absoluten Sinne voraus und fragt nun, wie das Geset^ beschaffen sein muß, das einen freien Willen „allein notwendig" bestimmen kann. Hier kommt Kant zu dem erwarteten Ergebnis, daß ein Gesetz, das den Willen als freien Willen „allein notwendig" bestimmen kann, ein formales Gesetz sein muß. Denn, so Kants Argument, da die Materie immer „empirisch gegeben" werden muß, der freie Wille aber gerade von allen empirischen Bestimmungsgründen unabhängig ist, bleibt allein die gesetzgebende Form, die dem freien Willen „allein notwendig und nicht etwa zufällig zugrunde liegt (KpV, V29 (A 52)). Die Lösungen der Aufgaben ergeben also zum einen, daß ein Wille, der durch die Form des Gesetzes hinreichend bestimmt werden kann, ein freier Wille ist und zum anderen, daß das Gesetz, das einen freien Willen „allein notwendig" bestimmt, ein formales Gesetz sein muß. Als formales Handlungsgesetz - das hatte Kant in den §§1-4 bereits gezeigt - kommt
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nur das Moralgesetz und nicht etwa Geschicklichkeitsregeln oder Klugheitsratschläge in Frage.15 Mit der Lösung der beiden Aufgaben hat Kant also bewiesen, daß „Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz [...] wechselweise aufeinander zurück[weisen]" (ebd.). Doch er hat damit nicht auch bewiesen, daß der menschliche Wille auch tatsächlich frei ist. Vielmehr hat er dies ausdrücklich nur „vorausgesetzt" (ebd.). Es ist naheliegend, daß Kant nun für die Freiheit des Willens argumentieren würde, um von dort aus zu beweisen, daß wir moralischen Gesetzen unterworfen sind. Die Schwierigkeit, die sich an dieser Stelle für Kant ergibt, ist die, daß Freiheit weder ein empirischer Begriff noch Bedingung der Möglichkeit der Naturerfahrung ist. Um nun zu zeigen, daß dieser Begriff dennoch nicht leer ist, stellt Kant die entscheidende Frage, „wovon unsere Erkenntnis des unbedingt-Praktischen anhebe" (ebd.)}6 Die grundlegende Einsicht der zweiten Kritik besteht nun darin, daß wir uns des „unbedingtPraktischen" durch das Moralgeset% als eines ursprünglichen Vernunftprodukts „unmittelbar bewußt werden" (KpV, V 29 (A 53)). Es ist nicht die Freiheit, die uns unserer moralischen Verpflichtung bewußt werden läßt, sondern die moralische Verpflichtung selbst, die uns als Faktum der Vernunft „auf den Begriff der Freiheit führt" (ebd.). Wenn wir uns nicht des Anspruchs des Sittengesetzes bewußt würden, das kategorisch gebietet und damit die vollkommene Unabhängigkeit von unseren sinnlichen Bedürfnissen in Anspruch nimmt, wären wir uns auch nicht unserer absoluten Freiheit bewußt. Mit dem Moralgesetz gebieten wir uns, im Konfliktfall zwischen Vernunft und Neigung vernünftig zu handeln und alle sinnlichen Motivationsgründe unter die Bedingung des Moralgesetzes zu stellen. Das Moralgesetz ist die einzige Handlungsvorschrift, mit der wir uns die Suspension aller sinnlichen Motivationsgründe gebieten, um sie nicht zum primären Handlungsgrund werden zu lassen. Insofern werden wir uns unter seinem Anspruch, der immer unser eigener Anspruch als Vernunftwesen ist, unserer absoluten Freiheit bewußt. Wenn bei unserem Willen, damit er etwas will, immer ein sinnliches Bedürfnis vorausgesetzt werden müßte, wäre er nicht absolut frei. Das Moralgesetz, dessen Anspruch wir uns unmittelbar bewußt sind, versichert uns, daß wir von allen sinnlichen Motivationsgründen abstrahieren und aus reiner Vernunft wollen können. Aus diesem Grund bezeichnet Kant das Moralgesetz als „ratio cognoscendi", als Erkenntnisgrund der Freiheit. 15 16
Ob die §§ 5 und 6 moralisch böse Handlungen ausschließen, wird unten im 7. und 8. Kapitel erörtert werden. Diese Frage markiert den zentralen Unterschied zur GMS (s. da%u Exkurs).
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Teil I. Absolute Freiheit als Autonomie
Die Freiheit dagegen ist der Seinsgrund, die „ratio essendi" des Moralgesetzes (KpV, V4 (A 5)). Auch wenn damit genauer bestimmt ist, auf welche Weise Freiheit und Moralgesetz „wechselweise aufeinander zurück [weisen]", wird von Kant nicht weiter erläutert, was es heißt, daß etwas der Seinsgrund bzw. Bewußtseinsgrund von etwas ist. Obgleich das „reziproke", „analytische" oder „identische" Verhältnis von Freiheit und Moralgesetz für viele der Grund ist, Kants Freiheitstheorie als absurd zurückzuweisen (s. da^u Kap. 7), unternehmen jene Kritiker nicht einmal den Μ ersuch einer genauen Analyse der Begriffe „ratio cognoscendi"und „ratio essendi". Man muß in die vorkritische Zeit zurückgehen, wenn man wissen will, was Kant unter „ratio essendi" und „ratio cognoscendi" verstanden haben könnte. Auch wenn Kants Freiheitstheorie der KpV erhebliche Differenzen zur Nova Oiluädatio aufweist,17 ist die Bestimmung des Verhältnisses von ratio essendi und ratio cognoscendi, wie er sie dort entfaltet, informativ. Kant befaßt sich in den vier Abschnitten dieser Schrift mit den vier Grundsätzen metaphysischer Erkenntnis, die er als die „ersten Grundsätze" bezeichnet. Von Bedeutung ist hier der zweite Abschnitt, der den „Satz des bestimmenden Grundes" zum Thema hat.18 Wenn Kant vom „bestimmenden Grund" spricht, meint er das, was in der Schulphilosophie und auch heute noch in Kurzform als „Satz vom Grund" oder in der Langform als „Satz vom zureichenden Grund" geläufig ist. Von „zureichend" zu sprechen, hält Kant für zweideutig, weil „zureichend" ein relativer Begriff ist und deshalb „nicht sofort ersichtlich [ist], wie weit er zureicht" (Nova, 1393 (427)). „Bestimmen" dagegen sei eindeutig. Es bedeutet, „ein Prädikat mit Ausschluß seines Gegenteils setzen" (Nova, 1391 (423)). Wenn wir den bestimmenden Grund einer Sache angeben, dann nennen wir das Merkmal, das „mit Gewißheit ausreicht, eine Sache so und nicht anders zu begreifen" (Nova, 1393 (427)). Auf Urteile bezogen heißt „bestimmen" also nichts anderes als das Urteil „S ist P" treffen und zwar so, daß das Gegenteil, „S ist nicht P", ausgeschlossen werden kann. Der Grund, der es legitimiert, dem Subjekt ein bestimmtes Prädikat zuzuschreiben, fungiert dann als das Antezedenz 17
18
Kant unterliegt hier offenbar noch selbst jenem Fehler, den der Vertreter der These in der dritten Antinomie begeht, wenn er das logische und metaphysische Verständnis des Satzes vom bestimmenden Grund identifiziert. Auch den Begriff „Ursache seiner selbst" für „widersinnig" zu halten ist aus kritischer Perspektive nur vom phänomenalen Standpunkt aus vertretbar (Nova I, 394 (431)). Eine ausführliche und präzise Auseinandersetzung mit Kants vorkritischer Konzeption des Satzes vom Grund und seiner Überwindung durch die zweite Analogie der Erfahrung in der ersten Kritik findet sich bei honguenesse 2001.
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eines hypothetischen Schlusses. Als ganzes lautet dieser Schluß daher: Wenn Grund X der Fall ist, dann kann dem Subjekt ein bestimmtes Prädikat zugeschrieben werden. Der Grund X läßt uns einsehen, warum das Prädikat dem Subjekt zukommt. Das bedeutet aber auch, daß erst dann nach dem bestimmenden Grund gefragt werden kann, wenn eine Prädikation vorliegt (Nova, 1392 (423)). Für das Verhältnis von Freiheit und Moralgesetz ist nun entscheidend, daß ein Grund „vorgängig" (antecedenter) aber auch „nachträglich" (consequenter) bestimmend sein kann. Den vorgängig bestimmenden Grund nennt Kant auch „den Grund warum", „den Grund des Seins" oder den Grund des „Entstehens" (rationem cur s. rationem essendi vel fiendi), während er den nachträglich bestimmenden Grund den „Grund daß oder des Erkennens" (rationem quod s. cognoscendi) nennt. Zu den vorgängig bestimmenden Gründen zählt er auch den „identischen Grund", auch wenn hier „der Begriff des Bestimmten dem Begriff des Bestimmenden weder folgt noch vorhergeht" (ebd.). Kant hat diese interne Differenz der vorgängig bestimmenden Gründe illustriert. Bei identischen Sätzen wie: „Körper ist etwas körperliches" oder aber auch bei analytischen Sätzen wie: „Körper sind ausgedehnt", die sich auf Identität zurückführen lassen (Forschritte XX, 322 (A 175)), ist der Grund einer Aussage, im Subjektbegriff bereits enthalten. Um zu wissen, ob oder warum dem Körper Ausdehnung zukommt, muß ich nicht auf ein vermittelndes Drittes rekurrieren. Der Grund für dieses Urteil liegt vielmehr bereits im Subjekt selbst. Subjekt und Prädikat werden hier nicht durch Vermittlung zu einer Einheit gebracht, sondern sind miteinander identisch (Nova, 1392 (423)). Dagegen kann man bei synthetischen Sätzen wie: „die Welt befaßt viele Übel", den bestimmenden Grund nicht aus der Analyse des Subjektbegriffes gewinnen. Hier wird nach einem externen Grund gesucht, der das Entstehen oder das Sein (Existenz) des Übels erklären kann. Die Analyse des Subjetbegriffs kann uns indessen keine Information darüber geben, warum es in der Welt viele Übel gibt (Nova, 1392 (425f.)). Für die nachträglich bestimmenden Gründe gibt Kant kein Beispiel aus der Geometrie oder Theologie, sondern aus der Astronomie. Das synthetische Urteil: ,Das Licht verbreitet sich in allmählicher und anzeigbarer Geschwindigkeit", ist nicht unmittelbar verifizierbar. Vielmehr dient hier die „Verfinsterung der Jupitertrabanten" als Erkenntnisgrund. Die nachträglich bestimmenden Gründe sind also nur die Gründe der Erkenntnis eines Sachverhalts, der selbst nicht unmittelbar erkannt werden kann (ebd.). Die beobachtbare Tatsache, daß die Jupitertrabanten sich verdunkeln, hat aber selbst keine Wirkung auf die allmähliche, nicht-instantane Verbrei-
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tung des Lichts. Sie ist lediglich der Grund dafür, daß wir um die Verbreitung des Lichts wissen können. Selbst wenn „keine Jupitertrabanten vorhanden wären, und es die durch ihre Phasen bewirkte Verdunkelung nicht gäbe, würde sich das Licht doch ebenso in der Zeit bewegen, obwohl uns dies vielleicht nicht bekannt wäre" (ebd.). Wenn man nun das Verhältnis von Willensfreiheit und Moralgesetz analog konzipiert, ergibt sich folgendes: „Der menschliche Wille ist frei", ist ein synthetischer Satz. Ein vorgängig bestimmender Grund kann für diesen Satz nicht angegeben werden. Anders als bei jenem synthetischen Satz, bei dem die Ursachen des Übels in der Welt in der Erfahrung aufgesucht werden konnten, läßt sich die reale Möglichkeit der Freiheit — das hatte die erste Kritik gelehrt — prinzipiell nicht beweisen. Lediglich widerspruchsfreie Denkmöglichkeit (logische Möglichkeit) hatte Kant ihr einräumen können. Ein vorgängig bestimmender Grund, der diesen Satz wahr machen könnte, läßt sich jedoch nicht angeben. Indem Kant nun jedoch zeigen kann, daß die Freiheit des Willens selbst der vorgängig bestimmende Grund des Moralgesetzes ist und wir uns des Moralgesetzes als eines unmittelbaren Vernunftfaktums apodiktisch gewiß sind, darf er andersherum vom Moralgesetz auf die Freiheit des Willens schließen: Die absolute Freiheit des Willens ist Bedingung der Möglichkeit kategorischer Verpflichtung, weil wir nur dann, wenn wir von allen sinnlichen Motivationsgründen des Willens abstrahieren können und sie dem Moralgesetz als Vernunftgesetz und oberster Bedingung unterordnen können, moralische und nicht etwa nur eudaimonische Wesen sind. Indem das Moralgesetz von allen sinnlichen Motivationsgründen des Willens abstrahiert und fordert, daß die ¥orm der Bestimmungsgrund des Willens sein soll, wird damit impliziert, daß der Wille absolut frei von sinnlichen Motivationsgründen wirken kann. Deshalb sagt Kant: „Wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft [...], so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas als Freiheit ist [...] anzunehmen" (KpV, V4 (A 5)). Auch wenn die logische Möglichkeit der Freiheit in der ersten Kritik bewiesen werden konnte, hat man damit noch keinen Grund, den bloß „problematischen Begriff, bei dem es unausgemacht ist, ob man ihn bejahen oder verneinen soll (vgl. KrV, Β 100 f.), zu bejahen. Das Moralgesetz als unmittelbar gewisses Vernunftfaktum gibt nun den Grund, den absoluten Begriff der Freiheit zu bejahen und ist insofern die ratio cognoscendi, der nachträglich bestimmende Erkenntnisgrund, der Freiheit. Auf der anderen Seite ist der uneingeschränkte Anspruch des Moralgesetzes nur dann sinnvoll, wenn unser Wille frei ist. Wäre unser Wille nicht frei, wäre ein Handlungsgesetz, das keine empirischen Motivations-
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gründe voraussetzt, sondern eine Handlungsart gebietet, der reine Vernunft zugrunde liegt, sinnlos. In diesem Sinne ist die Freiheit als Seinsgrund (ratio essendi) der vorgängig bestimmende Grund des Moralgesetzes, der gegeben sein muß, damit wir überhaupt das uneingeschränkt Gute wollen können. Freiheit ist der ,,Grund[e] der Möglichkeit" des Moralgesetzes und insofern das Reah/esen desselben (Logik, § 106.). Nun haben wir von dem Moralgesetz ein apodiktisches Wissen und sind deshalb dazu legitimiert, auf die Wirklichkeit seines Seinsgrundes, die Freiheit, zu schließen. Im Unterschied dazu setzt die bloß intellektuell geleitete Verwirklichung der eigenen Glückseligkeit keinen absoluten Freiheitsbegriff voraus. Die Imperative gelten dabei immer nur relativ auf einen subjektiven Zweck, von dem vorausgesetzt wird, daß wir ihn begehren. Es ist also nicht jede Art von Sollensanspruch, die den Begriff absoluter Freiheit voraussetzt. Hätten wir nur eine Anlage zur „Menschheit" und nicht etwa auch zur „Persönlichkeit" (Rel, VI 26 ff. β 15-18)), hätten wir nur eine instrumentelle und nicht auch moralische Vernunft, würde der Idee der absoluten Freiheit keine Funktion in bezug auf menschliches Handeln zukommen.19 Doch mit dem Moralgeset% hat Kant einen wirklichen Fall in unserem „Bewußtsein" ausfindig gemacht, der ohne den Begriff der absoluten Freiheit des Willens nicht auskommt. Das Moralgesetz gebietet uns eine Handlung, die von allen sinnlichen Motivationsgründen absieht und uns damit nicht nur unsere relative, sondern absolute Freiheit bewußt macht. Insofern verbürgt das Faktum der Vernunft als nachträglich bestimmender Erkenntnisgrund, als ratio cognoscendi, die Wirklichkeit der absoluten Freiheit, wie die „Verfinsterung der Jupitertrabanten" die nicht-instantane „Verbreitung des Lichts" garantiert. Allerdings mit dem Unterschied, daß die Wirklichkeit der Verfinsterung der Jupitertrabanten eine sinnliche Anschauung, während das Vernunftfaktum ein Fall von unmittelbarer und apodiktischer Vernunfterkenntnis ist. An anderer Stelle scheint Kant jedoch dieses Erkenntnisverhältnis von Freiheit und Moralgesetz wieder aufzugeben. Dort spricht er von einem „Kreditiv des moralischen Gesetzes" (KpV, V 48 (A 83), Hervorhebung J. B.), womit offenbar gemeint ist, daß nicht die Freiheit ihre Realität durchs Moralgesetz erhält, sondern das Moralgesetz realisiert wird und zwar dadurch, daß es der Freiheit ihre Realität verschafft.
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AUison meint dagegen offenbar, den absoluten Freiheitsbegriff auch für hypothetische Verbindlichkeit in Anspruch nehmen zu müssen (AUison 1990, S. 88 j f . ) .
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Teil I. Absolute Freiheit als Autonomie
Versteht man jedoch das Moralgesetz im oben erläuterten Sinne als ratio cognoscendi, ist das Moralgesetz ein Beglaubigungsgrund für die Freiheit, nicht aber seiner selbst. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß das erstere Verständnis, wonach das Moralgesetz ein Kreditiv seiner selbst ist, einige textliche Unterstützung hat. Denn unmittelbar, nachdem Kant vom „Kreditiv des moralischen Gesetzes" gesprochen hat, fährt er fort: ,,[D]as moralische Gesetz beweist seine Realität dadurch auch für die Kritik der spekulativen Vernunft genugtuend, daß es einer bloß negativ gedachten Kausalität [...] positive Bestimmung [...] hinzufügt [...]" (ebd., Hervorhebung], B.). Von dem Verständnis der Wendung „Kreditiv des moralischen Gesetzes" hängt also nichts Geringeres ab als die Frage, ob Kant geglaubt hat, mit der Deduktion der Freiheit zugleich neben seiner Theorie vom Vernunftfaktum nun noch ein weiteres Argument für die Gültigkeit des moralischen Gesetzes entwickelt zu haben. Der Genitiv der Wendung „Kreditiv des moralischen Gesetzes" läßt allerdings unklar, ob das Moralgesetz durch etwas beglaubigt (kreditiert) wird oder es selbst etwas anderes beglaubigt. Versteht man ihn als genitivus obiectivus, wird die objektive Realität des Moralgeset^es beglaubigt und zwar dadurch, daß es Prinzip der Deduktion der Freiheit ist. Doch es wäre ein offenbarer Zirkel, wenn zunächst aus der Faktizität des Moralgesetzes die Freiheit deduziert würde, um anschließend aus der Wirklichkeit der Freiheit das Moralgesetz abzuleiten. Es wäre auch nicht schlüssig, daraus, daß etwas das Prinzip einer Deduktion ist, zu folgern, daß es auch selbst ein gültiges Prinzip ist. Der genitivus obiectivus brächte Kant also in erhebliche Argumentationsprobleme.20 20
Dennoch hat man immer wieder den Genitiv als genitivus obiectivus verstanden wissen wollen, so als würde Kant hier einen Beglaubigungsgrund für das Moralgesetz beibringen. Dabei wird nicht einmal die Möglichkeit einer alternativen Interpretation erwogen (Beck 31995-, Gunkel 1989). Gunkel ist der Auffassung, daß sich in diesem Terminus auch eine Bescheidung des kantischen Anspruches hinsichtlich der Deduktion des Kategorischen Imperatives ausspricht. Noch in der Grundlegung habe Kant sein Deduktionsverfahren an der KrV orientiert und zeigen wollen, wie ein Kategorischer Imperativ möglich ist. Von dieser „starken" Deduktion habe Kant dann in der KpV Abstand genommen. Er beanspruche hier nicht mehr zu zeigen, wie der kategorische Imperativ möglich ist, sondern nur noch daß er möglich ist. Um Mißverständnissen vorzubeugen, habe Kant in bezug auf dieses „Minimalprogramm" nicht länger von „Deduktion", sondern nur noch von „einer Art Kreditiv" gesprochen, die er dem Moralgesetz verschafft habe. In dem Wandel der Terminologie manifestiere sich auch die fundamentale Wende, die Kant hinsichtlich seiner Deduktionsstrategie zwischen Grundlegung und KpV vollzogen habe (Gunkel 1989, S. 179, 199 ff., 217). Dieses Mißverständnis zeigt sehr deutlich, zu welchen Konsequenzen ein unangemessenes Verständnis der Wendung „Kreditiv des moralischen Gesetzes" führen kann. Beck glaubt, daß die Freiheit das Moralgesetz beglaubigen könne, weil die Freiheit unabhängig vom Moralgesetz im theoretischen Gebrauch „beglaubigt" worden sei (Reck !1995, S. 167). Der
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Der Kontext legt dagegen ein ganz anderes Verständnis nahe: Nachdem Kant zunächst erklärt hatte, daß an die Stelle der Deduktion des Moralgesetzes die Deduktion der Freiheit tritt und bei dieser Deduktion das Moralgesetz selbst als Faktum den Ausgangspunkt bildet, beweist er schließlich die Wirklichkeit der Freiheit und verschafft ihr objektive Realität (KpV, V 47 (A 82)). Genau auf diesen Sachverhalt bezieht Kant sich, wenn er jenen zweideutigen Satz mit einem Demonstrativpronomen einleitet und erklärt, daß ,,[d]iese Art von Kreditiv des moralischen Gesetzes [...] statt aller Rechtfertigung a priori völlig hinreichend [ist]" (KpV, V 48 (A 83), Hervorhebung J. B.). Nachdem er gezeigt hat, daß Freiheit die ratio essendi, der Ermöglichungsgrund des Moralgesetzes ist und das Moralgesetz als Faktum aufgewiesen hatte, kann er nun auf die Wirklichkeit der Freiheit schließen. Wenn Kant vom „Kreditiv des moralischen Gesetzes" spricht, dann deshalb, weil es selbst als Beglaubigungsgrund für die Freiheit dient, die selbst nicht unmittelbar erkennbar ist. Dieses Ergebnis vor Augen blickt er nun zurück auf das Ergebnis der dritten Antinomie aus der ersten Kritik und will die Komplementarität der beiden Theoriestücke beweisen. Doch wenn Kant in jener zitierten Passage behauptet, „das moralische Gesetz beweist seine Realität dadurch [...] genugtuend, daß es einer bloß negativ gedachten Kausalität [...] positive Bestimmung [...] hinzufügt" (ebd., Hervorhebung J. B.), scheint damit genau jener unverständliche Sachverhalt ausgedrückt zu sein, daß das moralische Gesetz seine eigene Realität beweist, indem es die Kausalität der Freiheit positiv bestimmt. Es ist naheliegend und wäre nicht ungewöhnlich, wenn Kant sich mit dem Possessivpronomen nicht auf das Moralgesetz, sondern auf ein Nomen oder Pronomen im Maskulinum oder Neutrum Singular des vorhergehenden Satzes beziehen würde. Aber man sucht dort vergeblich nach Ausdrücken wie „Begriff der Freiheit" oder „Prinzip der Freiheit", die eine alternative Referenz zulassen würden. Was indessen grammatikalisch geboten ist, muß nicht auch sachlich richtig sein. Der Sache nach muß Kant sich mit „seine" auf „Freiheit" beziehen, denn wie er nach einem Kurzreferat des Ergebnisses der dritten scheinbare Vorzug des Wortes „Beglaubigen" ist, daß man nicht so genau weiß, welchen epistemischen Status der Freiheit hier zugebilligt wird. Kein Zweifel sollte daran bestehen, daß die erste Kritik theoretisch lediglich die mderspruckrfreie Denkmöglichkeit der Freiheit bewiesen hat. Wie sie damit selbst ein Prinzip der „Beglaubigung" sein kann, ist nicht ersichtlich. Beck scheint hier die Problemlage mit jener der Grundlegung zu identifizieren. Doch die Besonderheit der KpV liegt gerade darin, wie Beck selbst weiß (Beck 31995, S. 165), daß Kant nicht zunächst mit moralneutralen Argumenten die Freiheit sichert, sondern vom Vemunftfaktum auf die Wirklichkeit der Freiheit schließt.
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Antinomie seine Deduktion der Freiheit noch einmal zusammenfaßt: „Ich konnte aber diesen Gedanken [den der Freiheit] nicht realisieren, d. i. ihn nicht in Erkenntnis eines so handelnden Wesens [...] verwandeln. Diesen leeren Platz füllt nun reine praktische Vernunft, durch [...] das moralische Gesetz aus" (KpV', V 49 (A 85)). Genau dies ist der zentrale Gedanke jener Deduktion der Freiheit, die sich mit Erläuterungen über drei Absätze erstreckt (KpV, 4 7 f f . (A 82-86)). Es ist abwegig anzunehmen, als könnte und würde Kant en passant noch das Moralgesetz beglaubigen, das doch bereits vorher als Faktum der Vernunft etabliert worden und selbst Ausgangspunkt der Deduktion gewesen ist. Es ist deshalb an dieser Stelle aus systematischen Gründen geboten, eine Konjektur vorzunehmen und „seine" durch „ihre" zu ersetzen. Den Verdacht der Willkürlichkeit, der einem solchen Vorschlag anhängt, kann man neben dem sachlichen auch noch mit einem philologischen Argument entkräften: In der Anmerkung zu den §§ 5 und 6, in der Kant das Verhältnis von Moralgesetz und Freiheit diskutiert, verwendet er ebenfalls das „falsche" Reflexivpronomen, indem er sich auf „Freiheit" mit „sein" bezieht. Hartenstein hat an dieser Stelle zu Recht „ihr" konjiziert (KpV, 32 (A 53)). Ebenso wäre es sinnvoll, im Rahmen jener Deduktion der Freiheit zu schreiben: „Denn das moralische Gesetz beweist ihre [die Realität der Freiheit, Konjektur J. B.] Realität [...] dadurch auch für die Kritik der spekulativen Vernunft genugtuend, daß es einer bloß negativ gedachten Kausalität [...] positive Bestimmung [...] hinzufügt" (KpV, 48 (A 83)). Das Ergebnis dieser Analyse ist also: Auch wenn Kant davon spricht, daß Freiheit und Moralgesetz „wechselweise aufeinander zurück[weisen]" (KpV, 29 (A 52)), wird nur die Freiheit aus dem Moralgesetz deduziert und nicht umgekehrt das Moralgesetz aus der Freiheit oder gar aus sich selbst. Vielmehr ist das Moralgesetz als Faktum der Vernunft unmittelbar gewiß und bedarf keiner Deduktion. Daher ist auch jede „Beglaubigung", die es sich vermeintlich selbst verschaffen würde, indem es das Deduktionsprinzip der Freiheit ist, überflüssig. Der Kantische Schluß ist also in Kürze der: Ein freier Wille ist ein Wille, bei dem reine Vernunft für sich selbst praktisch sein kann. Reine Vernunft ist nur dann für sich selbst und nicht etwa unter Voraussetzung eines bestimmten Begehrens praktisch, wenn ihr kein materiales Substrat zugrunde liegt, das sie prinzipiell nicht selbst hervorgebracht haben kann. Das Moralgesetz ist das einzige Handlungsgebot, das nicht auf materiale Zwecke reduzierbar ist und die formale Stimmigkeit der Maximen zum Prinzip des Handelns erhebt. Nun hat Kant durch das „Faktum der Vernunft" die Wirklichkeit des moralischen Gesetzes in unserem Bewußtsein
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aufgewiesen. Von dort kann er auf die Wirklichkeit der Freiheit des Willens schließen. Insofern beweist das moralische Gesetz „nicht bloß die [Denk-] Möglichkeit [der Freiheit], sondern die Wirklichkeit an Wesen [...], die dies Gesetz als für sie verbindend erkennen" (KpV, 47 (A 82)). Auf die kritische Frage, ob Menschen, die dieses Gesetz nicht für sich als verbindlich betrachten, auch dabei ihre Freiheit einbüßen, lautet die Antwort: Derjenige, der das Moralgesetz für nicht verbindlich erklären wollte, müßte zugleich auch seinen Status als Vernunftwesen aufgeben können. Doch ebenso wenig wie es uns möglich ist, unsere Sinnlichkeit abzulegen und uns auf diese Weise in „heilige Wesen" zu verwandeln, steht auch die Vernünftigkeit prinzipiell nicht zu unserer Disposition. Gerade auch in der unmoralischen Tat leisten wir nicht auf das Moralgesetz „gleichsam rebellischerweise (mit Aufkündigung des Gehorsams) Verzicht" (Rel VI, 36 (B 33)). Vielmehr sind und müssen wir immer dem Anspruch des Moralgesetzes unterworfen sein, der, selbst wenn wir unmoralisch handeln, immer unser eigener Anspruch als Vernunftwesen ist. Nur unter dieser Voraussetzung ist überhaupt unsere Handlung als moralisch böse zu qualifizieren.
(b) Die objektive Realität der Freiheit Erst durch die genaue Bestimmung des Verhältnisses von Freiheit und Moralgesetz kann verständlich werden, in welcher Hinsicht Kant der Freiheit „objektive Realität" verschafft, von der er in der Grundlegung noch behauptet hatte, daß sie „auf keine Weise [...] dargetan werden kann". Sein Argument dafür war, daß Freiheit eine bloße Idee der Vernunft sei und „nicht in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann". Sie könne daher auch „niemals begriffen oder eingesehen werden" und gelte nur als „notwendige Voraussetzung" eines Wesens, das sich eines moralischen Willens „bewußt zu sein glaubt" (GMS, IV459 (RA 120 f.). Wenn Kant nun trotzdem in der zweiten Kritik erklärt, er habe die objektive Realität der Freiheit „bewiesen" (KpV\ V 4-8 (A 4-14), 47 f . (A 82 f.), 49 f . (A 85 ff.), 55 ff. (A 97ff.)), dann scheint er damit einen Widerspruch zur Grundlegung und auch zur ersten Kritik in Kauf nehmen zu müssen (KrV, Β 586). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß der Begriff der „objektiven Realität" vielschichtig ist. Es lassen sich grob drei Arten von Begriffen unterscheiden, denen in jeweils einer anderen Beziehung objektive Realität verschafft werden kann: Empirische Begriffe, reine Verstandesbcgriffe und reine Kera#«/5begriffe:
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In der Analytik der KrV nennt Kant zwei Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Erkenntnis „objektive Realität" beanspruchen kann. Zum einen muß sie „sich auf einen Gegenstand beziehen" und zum anderen muß dieser, auf den sie sich bezieht, „Bedeutung und Sinn" haben (KrV, Β 194). Die objektive Realität empirischer Begriffe ist unproblematisch, „weil wir hier jederzeit die Erfahrung bei der Hand haben [...]" (KrV, Β 116 f.). Um etwa zu beweisen, daß dem Begriff „Pferd" objektive Realität zukommt, können wir die Merkmale explizieren und anhand empirischer Anschauung feststellen, daß tatsächlich einem Ding diese Eigenschaften zukommen und der Begriff also nicht „ganz leer, nichtig und ohne Bedeutung" ist (KrV, Β 123). Die objektive Realität eines Urteils der Form „S ist P" wird durch ein „Drittes", die sinnliche Anschauung, bewiesen (KrV, Β 194; vgl. Kap. 2). Dagegen kann den nicht-empirischen, reinen Verstandesbegriffen nicht ihre objektive Realität verschafft werden, indem man auf die empirische Anschauung bezug nimmt. Denn die Notwendigkeit und nicht etwa bloße Regelmäßigkeit, die diese Begriffe beanspruchen, läßt sich prinzipiell nicht durch die Erfahrung beweisen (KrV, Β 123). Kants entscheidende Einsicht in seiner theoretischen Philosophie besteht nun darin, daß die objektive Realität der reinen Begriffe sich nicht durch Objekte der empirischen Anschauung beweisen läßt, wohl aber dadurch, daß sie überhaupt erst Objekterkenntnis ermöglichen (KrV, Β 125). Die reinen Verstandesbegriffe sind also insofern nicht „ganz leer, nichtig und ohne Bedeutung" als sie Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungsgegenstände überhaupt sind. Jenes „Dritte", das die objektive Realität des Begriffes verbürgt, ist bei den reinen Verstandesbegriffen daher mögliche Erfahrung (KrV, Β 794, Hervorhebung Kant). Auch wenn die objektive Realität der reinen Verstandesbegriffe nicht durch die Erfahrung bewiesen wird, so ist sie doch „nicht unabhängig von aller Beziehung auf die Form einer Erfahrung überhaupt" (KrV, Β 269 f . Hervorhebung J. B.). Vielmehr sind die Vers tandesbegriffe als die Form jeder Erfahrung (in dem von Kant gemeinten starken Sinn von „empirischer Erkenntnis" (KrV, Β 218), in jedem Urteil, das Anspruch auf Erkenntnis anmelden kann, notwendig impliziert. Insofern haben die reinen Verstandesbegriffe „Sinn und Bedeutung". Ihre Anwendungsbedingung ist die uns Menschen einzig mögliche sinnliche Anschauung. Gleichwohl sind sie als Begriffe a priori nicht aus der Erfahrung gewonnen, sondern gehen ihr erkenntnislogisch voraus und sind damit jene Fundamentalbegriffe, die Erfahrung überhaupt ermöglichen.
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Auch die Freiheit ist ein nicht-empirischer Begriff, allerdings kein Begriff des Verstandes. Freiheit im absoluten und nicht etwa relativen Sinne geht auf die Totalität der Bedingungen und ist insofern ein Vernunßbzgnff, eine Idee (KrV, Β 356 ff., Β 377 ff.). Es wäre also ein kategorialer Fehler, wollte man versuchen, der Freiheit irgendeine konstitutive Funktion für sinnlich-anschauliche Erkenntnis zuzuweisen. Nachdem Kant zunächst in der Analytik der ersten Kritik die Verstandeskategorien einer transzendentalen Deduktion unterzogen hatte, fuhrt er nun in der Dialektik eine „transzendentale Deduktion" der Vernunftbegriffe, der Ideen, durch (KrV, Β 697). Beide Deduktionen sind jedoch hinsichtlich der Art und des Ziels ihres Beweises nicht identisch. Während die transzendentale Deduktion in der Analytik den Verstandesbegriffen eine konstitutive Funktion für die Erkenntnis überhaupt bescheinigt, weist Kant den Vernunftbegriffen lediglich eine regulative Funktion für die Einheit der Erkenntnis zu. Bei dieser Deduktion „zeigt sich [...] ein Unterschied der Denkungsart [...] der subtil, aber gleichwohl in der Transzendentalphilosophie von großer Wichtigkeit ist". Damit ist der Unterschied gemeint, etwas bloß „relativ anzunehmen (suppositio relativa)" oder es „schlechthin anzunehmen (suppositio absoluta)" (KrV, Β 704). Mit der Deduktion der Vernunftbegüife will Kant beweisen, daß, auch wenn kein Grund besteht, jene Ideen schlechthin anzunehmen, sie gleichwohl relativ angenommen werden dürfen. Wenn auch die Erkenntnis von Gegenständen ohne Vernunftideen möglich ist, sind doch die Vernunftideen notwendig, um die systematische Einheit der Erkenntnis herzustellen. Da die Erfahrung selbst prinzipiell „niemals ein Beispiel vollkommener systematischer Einheit [geben kann]" (KrV, Β 709), gibt die Vernunft diesen Gegenstand selbst, doch nicht als ein assertorisches, sondern lediglich als „problematisches" Prinzip (ebd.). Die Vernunftideen dürfen also relativ in bezug auf die systematische Einheit der Erkenntnis angenommen werden. Sie fungieren damit als heuristische Forschungsprinzipien, um die Synthesisleistungen des Verstandes zu ihrer systematischen Einheit zu bringen. Diese Ideen haben objektive Realität in bezug auf etwas, dessen Wirklichkeit problematisch angenommen werden darf und muß, wenn wir das Erkenntnisinteresse der systematischen Einheit voraussetzen (KrV, Β 697). Auch wenn also diese Deduktion den Vernunftbegriffen keine konstitutive Funktion zuweisen konnte, bedeutet das jedoch noch nicht, daß ihnen keine objektive Realität zukommen kann. Vielmehr macht Kant geltend, daß ihre objektive Realität nicht etwa darin besteht, daß sie sich unmittelbar auf einen Gegenstand beziehen, sondern sie nur „ein nach den Bedingungen der größten Vernunfteinheit geordnetes Schema [sind]".
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Die Ideen sagen uns nichts über die Beschaffenheit von Objekten aus, sondern sie zeigen uns nur, wie wir unter ihrer Leitung „die Beschaffenheit und Verknüpfung der Gegenstände der Erfahrung überhaupt suchen sollen" (KrV, Β 698). Dementsprechend müssen wir die Seele so betrachten, als ob sie unteilbar ist, um zur „systematischen Einheit in der Erklärung der Erscheinungen der Seele" zu gelangen (KrV, Β 710). Es ist ein notwendiges Prinzip für die systematische Einheit der Welt, sie so zu betrachten, „als ob sie aus der Absicht einer allerhöchsten Vernunft entsprossen wäre" (KrV] Β 714, Hervorhebung J. B.). Die Idee Gottes als „oberste Intelligenz, als [...] alleinige Ursache des Weltgan2en" eröffnet uns „ganz neue Aussichten, nach teleologischen Gesetzen die Dinge der Welt zu verknüpfen" (KrV, Β 715). Die systematische Einheit der in der Anschauung gegebenen Erscheinungen wird schließlich dadurch bewerkstelligt, daß wir die Reihe ihrer Ursachen so betrachten, als ob sie unendlich wäre (KrV, Β 712 f.) und wir den „aufgegebenen" Abschluß der Kausalkette in der empirischen Forschung auf uns nehmen (KrV, Β 536). Keine, nicht einmal eine regulative Funktion also kommt der Idee der Freiheit zu, wenn es der Vernunft um Erkenntnis zu tun ist. Von der Freiheit ließ sich gerade nicht beweisen, daß sie Bedingung der Möglichkeit der systematischen Einheit der Naturerkenntnis ist. Im Gegenteil: Im Durchgang durch die erste Kritik zeigte sich, daß die spekulative Erkenntnis auf den Begriff der Freiheit als Erstursächlichkeit verzichten kann und muß, weil sie ihren Prinzipien gerade zuwider ist. Doch Kant hat bereits in der ersten Kritik gesehen, daß der Idee der Freiheit für die Beurteilung der menschlichen Handlungen eine regulative Funktion zukommt. Denn bei praktischen Prinzipien betrachten wir „die Vernunft selbst als bestimmende Ursache" und setzen so „die Bedingung nicht mehr in die Reihe der Erscheinungen" und betrachten die Erscheinung (Handlung) so, „als ob sie schlechthin (durch eine intelligible Ursache) angefangen würde". Auch wenn der Idee der Freiheit also keine regulative Funktion in bezug auf unsere Erkenntnis zukommt, so doch in bezug auf unsere Praxis (KrV, Β 713, Hervorhebung % T. J. B.). Nun ist in der ersten Kritik nicht immer deutlich, ob damit jede Form von Praxis oder nur die moralische Praxis gemeint ist fe B. KrV, Β 576). Wenn Kant jedoch das regulative Prinzip im Rahmen der Dialektik an einem konkreten Fall erläutert, haben wir es mit einer moralischen und nicht etwa moralneutralen Handlung zu tun, bei der wir voraussetzen, daß der Täter sich „unangesehen aller genannten empirischen Bedingungen, anders habe bestimmen können" (KrV, Β 583; s. άαψ Kap. 6b).
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Bereits in der ersten Kritik hat Kant also der Freiheit objektive Realität in (moralisch-) praktischer Hinsicht zugewiesen. Und auch in der Grundlegung ändert sich hinsichtlich des epistemischen Status der Freiheit nichts. Auch hier wird sie als eine praktisch notwendige Idee vorausgesetzt (GMS, IV 448 (BA 100)). Von hier aus ist also überhaupt nicht verständlich, warum Kant in der zweiten Kritik gerade den fundamentalen Erkenntnisfortschritt darin sehen will, der Freiheit objektive Realität verschafft zu haben (KpV, V (KpV, V4-8 (A 4-14). Um nun diesen entscheidenden Fortschritt begreifen zu können, muß man sich die differierenden Begründungen klarmachen, die Kant jeweils dazu berechtigten, die objektive Realität der Freiheit anzunehmen. In der KrV rechtfertigt er sie damit, daß „man von ihrer Möglichkeit eben so wenig weiß, um sie zu verneinen [oder] zu bejahen" (KrV, Β 701). Mit der Auflösung der dritten Antinomie hatte er nachweisen können, daß Freiheit widerspruchsfrei denkbar ist und sie damit zwar nicht als einen assertorischen oder gar apodiktischen, wohl aber als einen problematischen Begriff sichern können. Freiheit ist ein „Gedankenwesen" (Noumenon), das aber darum nicht auch schon ein „wirkliche [r] und bestimmte [r]" Gegenstand ist, sondern nur als ,,Analog[on] von wirklichen Dingen" zugrunde gelegt werden darf (KrV, Β 701). Doch eben weil Freiheit kein „Unding" ist und widerspruchsfrei gedacht werden kann, ist Kant dazu berechtigt, sie als regulatives Prinzip der praktischen Vernunft gelten zu lassen. Dagegen gelingt ihm in der zweiten Kritik nun auch die positive Bestimmung der Freiheit, und zwar durch das Moralgesetz. Die Idee der Freiheit ist nun nicht mehr bloß regulatives Prinzip für die moralische Beurteilung menschlicher Handlungen, sondern konstitutiv für das Moralgesetz, dessen wir uns unmittelbar bewußt sind. Weil wir ein sicheres „Wissen" des Moralgesetzes haben, „wissen" wir auch von der Möglichkeit der Freiheit, „weil sie die Bedingung des moralischen Gesetzes ist" (KpV, V4 (A 5)). Freiheit ist nicht nur kein Unding und ein regulatives Prinzip für die Beurteilung der moralischen Handlungen (Ergebnis der Auflösung der dritten Antinomie). Freiheit als Erstursächlichkeit ist vielmehr Bedingung der Möglichkeit des moralischen Gesetzes und damit konstitutiv nicht nur für dieses Gesetz, sondern für die Möglichkeit einer moralisch guten Handlung. „Objektive Realität" bedeutet also in der KpV nicht, daß der Freiheit ein Gegenstand in der sinnlichen Anschauung korrespondiert. Sie ist auch kein Konstitutions- oder Regulationsprinzip möglicher Naturerfahrung. Ebenso wenig ist sie nur eine Idee, die als ein „Gedankenwesen" (Noumenon) in praktischer Hinsicht für die moralische Beurteilung menschlicher Handlungen angenommen werden muß (KrV, Β 713; KpV, V 48 (A 84)).
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Absolute Freiheit wird als Willensfreiheit in der zweiten Kritik durch das Moralgesetz positiv bestimmt. Weil das Moralgesetz ein nicht-empirisches und apodiktisch gewisses Vernunftfaktum ist, erfüllt es die notwendigen Bedingungen, um als Bestimmungsgrund für den nicht-empirischen (absoluten) Freiheitsbegriff dienen zu können. (KpV, 78 (A 139)). Freiheit als Autonomie ist das „Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein" (MS/E, VI 213 f . (AB 6); GMS, IV 461 (BA 124); KpV, V 62 (A 110)). Zugleich ist die Freiheit das Konstitutions^tmzv^ des Moralgesetzes und insofern auch die ErmögKchungsbedingung einer moralisch guten Handlung, einer Handlung aus Pflicht. Auch wenn wir keine Anschauung einer empirisch unbedingten Kausalität haben, „die ihm seine objektive theoretische Realität bestimmte", hat dieser Begriff dennoch seine Anwendung. Nicht in bezug auf sinnliche Anschauung, sondern in bezug auf „Gesinnungen oder Maximen" (KpV, V 56 (A 98 f.); vgl. KU, V 468 (B 457), 474 β 466 ff.)). Auf diese Weise gelingt es Kant, über das Moralgesetz als Faktum der Vernunft die objektive Realität der Freiheit in praktischer Hinsicht zw beweisen. (c) Die Priorität moralischer Verpflichtung Das moralische Gesetz ist der nachträglich bestimmende Bewußtseinsgrund der Freiheit. Obgleich das Moralgesetz die Freiheit des Willens voraussetzt, ist sie, aristotelisch gewendet, doch nur das Erste der Sache nach. Das Erste für uns dagegen ist das Bewußtsein des moralischen Gesetzes. Es ist also die „Sittlichkeit, [die] uns zuerst den Begriff der [absoluten] Freiheit entdeck[t]" und somit auch praktische Vernunft, die der spekulativen Vernunft das Problem der Vereinbarkeit von Freiheit und Naturdeterminismus „aufstellt". Das bedeutet nicht, άι& praktische Vernunft selbst über die Wirklichkeit der Freiheit ins Grübeln käme, aber spekulative Vernunft wäre von sich aus „niemals zu dem Wagstücke gekommen [...], Freiheit in die Wissenschaft einzuführen", wenn nicht das Sittengesetz es ihr „aufgedrungen" hätte (KpV, V 30 (A 53 f.)). Indessen bleibt die Auflösung, wie Freiheit mit dem Naturdeterminismus vereinbar ist, ein Problem der spekulativen Vernunft. Genau hier haben auch die beiden Entscheidungsszenarien, die Kant konstruiert und die in ihrer Reichweite vielfach mißverstanden worden sind, ihren systematischen Ort. Er strebt damit nicht etwa einen empirischen Freiheitsbeweis an, sondern die Erfahrung soll „die Ordnung der Begriffe", nämlich der Freiheit und des moralischen Gesetzes, bestätigen (ebd.).
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Anhand zweier pointiert angeordneter Entscheidungskonflikte will Kant zeigen, daß uns erst das Sittengeset% als Faktum der Vernunft die absolute Freiheit entdeckt. Im ersten Fall steht jemand, der seinen Geschlechtstrieb für unüberwindbar hält, vor folgender Wahl: Entweder er befriedigt seine Wollust, dann wird er getötet, oder er suspendiert sie und kann damit sein Leben erhalten. Im zweiten Fall steht er vor der Entscheidung, in einem Gerichtsverfahren entweder auf Drängen seines „Fürsten" eine Falschaussage über einen Unschuldigen abzugeben und sich auf diese Weise das Leben zu retten, oder die Wahrheit zu sagen, in welchem Falle jener „Fürst" die Tötung veranlassen würde (ebd.). Kant betrachtet den Menschen im ersten Fall als sinnliches Wesen. Er läßt zwei Grundtriebe in Konkurrenz zueinander treten: den Trieb zur Geschlechtsbefriedigung und den Überlebenstrieb. Er setzt implizit voraus, daß der Uberlebenstrieb in der Regel stärker ist, weshalb er sagt, daß man „nicht lange raten" müsse, wie in diesem Fall die Antwort ausfallen wird (ebd.). Unter Androhung der unverzüglichen Todesstrafe wird derjenige, der vorgibt, er könne seiner Wollust nicht widerstehen, feststellen, daß er sie suspendieren und an dem „Hause, da er diese Gelegenheit trifft", vorbeigehen kann. Zweifellos macht er hier die Erfahrung von Freiheit. Aber - und das ist es, was Kant durch den Kontrast mit dem zweiten Fall vor Augen führen möchte — die Freiheit, die er hier erfahrt, ist nur relativ und nicht etwa absolut. Denn ,überleben zu wollen', verweist auf einen Naturtrieb, der nicht ein ursprüngliches Vernunftprodukt ist. Der Zweck, der hier verfolgt wird, ist kein Vernunft-, sondern ein Naturzweck. Solange wir zwischen gegebenen konkurrierenden sinnlichen Bedürfnissen auswählen, hängt das Ergebnis unserer Wahl bloß davon ab, von welcher Entscheidung wir uns ein größeres Vergnügen versprechen bzw. einen geringeren Schmerz (KpV, V 22 f . (A 40 ff.)). Wir stellen hier also sehr wohl fest, daß wir durch Vorstellungen unsere unmittelbaren Handlungsimpulse überwinden können, doch wir machen dabei nicht die Erfahrung, daß wir uns von allen sinnlichen Triebfedern frei machen und aus reiner Vernunft heraus einen Handlungszweck hervorbringen können. Diese absolute Freiheit erfahren wir erst in jenem moralischen Konflikt zwischen Vernunft und Neigung. Nachdem Kant im ersten Fall die beiden fundamentalen Naturtriebe miteinander in Konflikt treten lassen hat, läßt er nun ein ungleichartiges Prinzip, die Sittlichkeit, mit dem stärkeren der beiden Triebe konfligieren. Hinzu kommt noch, daß Kant im zweiten Fall ausschließt, daß die Lüge strafrechtliche Konsequenzen für den Täter hat, weil der Staat in Person des „Fürsten", die Lüge gerade sanktioniert. Auch die Angst vor Strafe scheidet damit als Motiv, dem moralisch Gebotenen Folge zu leisten, aus.
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Doch das Moralgesetz gebietet unnachgiebig, das eigene Überleben seinem Gebot unterzuordnen und die Wahrheit zu sagen. Selbst der vermeintlich stärkste und fundamentalste Trieb muß sich damit dem Anspruch des Moralgesetzes beugen.21 Darin zeigt sich aber zugleich, daß sich unsere Handlungsprinzipien nicht gänzlich auf naturale Antriebe reduzieren lassen, sondern wir die Fähigkeit haben, aus reiner Vernunft einen Handlungsgrund hervorzubringen. Das Sollen, das die Vernunft hier gebietet, ist kategorisch, weil es keine bestimmte Absicht als gegeben voraussetzt. Im ersten Fall hat der Verstand nur eine regulative Funktion in bezug auf die erfolgreiche Verwirklichung gegebener Naturtriebe. Er kann hier nur hypothetischgebietende Imperative formulieren, die ein bestimmtes Begehren voraussetzen. Doch im zweiten Fall gebietet das Sittengesetz und das gebietet voraussetzungslos: Auf welches Bedürfnis unser Wille auch immer gerichtet sein mag, er muß sich von diesem Bedürfnis befreien können und es unter die Bedingung des Moralgesetzes stellen. Insofern dieses Gebot nicht eine äußerliche Zumutung ist, sondern wir es uns qua Vernunft selbst auferlegen (es als Vernunfiwesen a priori wollen), erkennen wir, daß sich unser Begehren nicht auf sinnliche Antriebe reduzieren läßt, sondern wir selbsttätig aus reiner Vernunft einen Handlungszweck hervorbringen. Die Frage, ob jemand im Konflikt zwischen Überleben und Moralität sich für die Moralität entscheiden kann, beantwortet die praktische Vernunft mit „ja", denn, insofern wir sollen und es nicht etwa erlaubt ist auch anders zu handeln, ist die Handlung notwendig. Eine notwendige Handlung muß aber, wie man sich leicht am Quadrat der logischen Gegensätze verdeutlichen kann, möglich sein.22 Der Schluß vom Sollen aufs Können erfolgt nach einem formal-logischen Prinzip.23 Wer hier einwenden wollte, Kant könne nicht aus einem Prinzip der Logik unser Vermögen, in der empirischen Welt eine Wirkung hervorzubringen, beweisen, verkennt das Argumentationsziel: Mit der Kontrastierung dieser beiden Szenarien soll lediglich demonstriert werden, daß „Sittlichkeit uns zuerst den Begriff der Freiheit entdek21 22
23
Neuere naturwissenschaftliche Erkenntnisse können hier an der strukturellen Gültigkeit des so konstruierten Konflikts nichts ändern. ,Es ist möglich, daß Schweden blond sind' verhält sich subaltern dazu, daß es notwendig ist, daß Schweden blond sind. ,Es ist notwendig, daß Schweden blond sind', verhält sich konträr zu dem Satz, daß es unmöglich ist, daß Schweden blond sind und steht im kontradiktorischen Gegensat^TM der Aussage, daß es möglich ist, daß Schweden nicht blond sind. Im Rahmen der deontischen Logik ist der Schluß vom Sollen aufs Können weit verbreitet (Von Wright 1963; Aqvist 1984; Gowans 1987; Sapontys 1991; Gensler 1996; Zimmermann 1996), allerdings nicht unumstritten (Van Fraassen 1973; Marcus 1980; Horty, 1994; Saka 2000).
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ke" (KpV, V 30 (A 53)). Wenn es jemandem unmöglich ist, einem Gebot handelnd zu entsprechen, kann er nicht sinnvoll ein Adressat des Sollens sein, es wäre sogar falsch, hier überhaupt von einem „Sollen" zu sprechen. Deshalb wird demjenigen, der in moralische Bedrängnis geraten ist, solange er vom Standpunkt der praktischen Vernunft aus sein Handeln bewertet und sich im Konflikt zwischen eigenem Überleben und der Wahrheit gebietet, die Wahrheit zu sagen, seine absolute Freiheit, sein „Können", bewußt. Er hat nicht etwa zunächst das Bewußtsein absoluter Freiheit, um von dort auf seine moralische Verpflichtung zu schließen, sondern „weil er sich bewußt ist, daß er es soll [...] erkennt [er] in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre" (KpV, 30 (A 54)). Dieses Erkenntnisverhältnis von Moralgesetz und Freiheit gehört seit der zweiten Kritik zum festen Bestandteil der Kantischen Freiheitstheorie (Rel VI, 49 f . β 58); MS/ TL, VI 380 (A 2 f.), 483 (A 173 f.)). Nicht der Schluß vom Sollen aufs Können ist das Spezifische, wodurch sich der Anspruch des Moralgesetzes von allen hypothetischgebietenden Imperativen unterscheidet. Auch das Sollen hypothetischgebietender Imperative ist notwendig, wenn man den Zweck als gegeben voraussetzt. Das heißt, auch unter dem Anspruch zweckrationaler Vernunft werden wir uns unserer Freiheit bewußt. Doch diese Freiheit ist ebenso wie das Sollen nicht absolut. Vorausgesetzt, daß wir diesen Zweck wirklich wollen, sind zweckrationale Handlungsprinzipien für uns verbindlich. Der Zweck indessen, den diese Imperative voraussetzen, ist im emphatischen Sinne zufällig und kein notwendiges Produkt der Vernunft. Er ist gegeben und nicht etwa gemacht. Deshalb ist das Bewußtsein der Freiheit im absoluten Sinne der moralischen Verpflichtung vorbehalten. Damit ist freilich nicht auch bereits die spekulative Frage entschieden, ob absolute Freiheit als „Hirngespinst" zurückgewiesen werden muß, weil das Konzept einer unverursachten Ursache unvereinbar mit dem Naturdeterminismus und in sich widersprüchlich ist.24 Kant hat durch diese Szenarien nur bewiesen, daß jener absolute Freiheitsbegriff uns erst durch das 24
Saka verkennt, daß auch für Kant das Determinismus-Problem nicht mit dem Schluß vom Sollen aufs Können gelöst wird. Vielmehr stimmt Saka vollkommen mit Kants Grundüberzeugung überein, wenn er glaubt, daß jener Schluß ein Problem für die Determinismus-Debatte aufgibt. Dieses Problem löst Kant mit der dritten Antinomie. Wenn Sakas Kritik ihr Ziel nicht verfehlen sollte, dann hätte er sich mit den Argumenten, die Kant dort entwickelt, auseinanderzusetzen müssen (Saka 2000, S. 93, 100). Auch Held glaubt, daß der Schluß vom Sollen aufs Können, erklären soll, wie Freiheit „in einer kausal bestimmten Welt überhaupt möglich ist" und, daß dieser Schluß als ein zweites Argument neben der Auflösung der dritten Antinomie die Kompatibilismusfrage beantworten soll (Held 2001, S. 131). Aus Kants Texten kann man lernen, wie beide Argumente systematisch aufeinander aufbauen.
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Moralgesetz bewußt wird und „mithin praktische Vernunft zuerst der spekulativen das unauflösliche Problem mit diesem Begriffe aufstelle [...]" (KpV, V 30 (A 53)). Sie liefern insofern die experimentelle Bestätigung für das zuvor aus reiner Vernunft entwickelte Ergebnis, daß das Moralgesetz die ratio cognoscendi der Freiheit ist. Kant hat damit nicht etwa an einem Fall sinnlich-anschaulich demonstriert, daß aus absoluter Spontaneität eine Kausalkette neu begonnen wird. Das wäre ein theoretischer Beweis der Freiheit, der auch in der zweiten Kritik prinzipiell unmöglich bleibt. Er hat nur gezeigt, daß wir uns selbst Gesetze des Handelns vorschreiben, die nicht aus der Erfahrung gewonnen sind und mit der Handlung aus Pflicht einen Handlungstyp ausfindig gemacht, bei dem sich eine formale Bestimmung des Freiheitsgesetzes geben läßt. Die Verteidigung dieses absoluten Freiheitsbegriffes gegen den Skeptiker bleibt der spekulativen Vernunft überlassen, die sich bei der Frage: „Freiheit oder Naturdeterminismus" in eine Antinomie verwickelt, die Kant mit einem „Sowohl-Als-Auch" auflöst und damit auch aus spekulativer Perspektive die Freiheit als absolute Freiheit verteidigt. Dieser Vernunftstreit und damit die Verteidigung der Freiheit wird das Thema des zweiten Teils dieser Untersuchung sein. Damit ist nun auch deutlich geworden, warum diese Untersuchung nicht in chronologischer Reihenfolge zunächst bei der dritten Antinomie angesetzt, sondern von der Grundlegung und der zweiten Kritik ausgehend, Kants Freiheitstheorie rekonstruiert. Damit trägt sie genau jenem Sachverhalt Rechnung, daß die moralische Verpflichtung das bewußtseinsmäßig Erste ist und die spekulative Frage nach der Vereinbarkeit mit dem Naturdeterminismus sich von diesem Faktum aus überhaupt erst stellt.
Teil II. Sind Freiheit und Prädeterminismus vereinbar? Das Kompatibilismusproblem als Vernunftantinomie „Denken kann ich, was ich will, wenn ich mir nur nicht selbst widerspreche." (Immanuel Kant) Die fundamentale Bedeutung der dritten Antinomie wird im allgemeinen damit begründet, daß sie es war, die Kant nach seinem Selbstzeugnis „aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Kritik der Vernunft selbst hintrieb" (Briefe XII, 257f. (21.09.98)). Doch die dritte Antinomie ist für die Kantische Philosophie auch deshalb von außerordentlicher Bedeutung, weil - und das ist für die hier leitende Fragestellung entscheidend — ihre Auflösung dem zentralen Begriff seiner Moralphilosophie, der „absoluten Freiheit", erst seine logische Möglichkeit verschafft. Die Auflösung der dritten Antinomie ist insofern — Kants Metaphorik aufnehmend (KrV, Β 782) — das Schutzschild gegen den Prädeterminismus, der (wie im ersten Teil dieser Untersuchung dargelegt worden ist) eine fundamentale Bedrohung für eine auf kategorischen Prinzipien beruhende Ethik darstellt (KpV, V 97 (A 173)). Die dritte Antinomie ist daher nicht nur ein Verbindungspunkt zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, sie ist sogar eine der tragenden Säulen von Kants praktischer Philosophie überhaupt. Wenn die spekulative Vernunft beweisen könnte, „daß [absolute Freiheit] sich gar nicht denken lasse, so muß notwendig [...] Freiheit und mit ihr Sittlichkeit [...] dem Naturmechanism den Platz räumen" (KrV, Β xxix, Hervorhebungen verändert J. B.). Diesen „scheinbaren Widerspruch zwischen Naturmechanismus und Freiheit" löst Kant nicht etwa durch jene Deduktion der Freiheit, die er in der zweiten Kritik vorgenommen hat, auf, vielmehr muß man sich dafür „an das erinnern, was in der Kritik der reinen Vernunfi gesagt war [...]" (KpV, V 97 (A 174), Hervorhebung J. B.). Wer skeptisch ist gegen die Annahme einer Kausalität aus absoluter Freiheit und danach fragt, wie dieses Vermögen mit dem Prädeterminismus vereinbar ist, der wird von Kant in der zweiten Kritik mit resümierenden Bemerkungen auf die erste verwiesen (GMS, IV 455f. (BA 115); KpV, V
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Teil II. Sind Freiheit und Pradeterminismus vereinbar?
30 (A 53), 48 ff (A 83-87), 94-106 (A 169-191); KU, V 175 (xviii); Re/., VI 39 f . (B 39 f.), Β 49 f . (58 f.)). Im Rahmen der transzendentalen Dialektik, der „Logik des Scheins", hat Kant sich in der KrV eingehend mit dem Problem der Vereinbarkeit von Natur- und Freiheitskausalität auseinandergesetzt. In diesem feiten Teil soll nicht nur Kants Lösungsvorschlag, sondern auch seine Problemdiagnose untersucht werden. Im vierten Kapitel wird zunächst Kants „dialektisches Argument" rekonstruiert, auf dem die Antinomie der reinen Vernunft beruht. Kant zeigt damit, daß unter den falschen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen es jeweils zu einer illegitimen Verabsolutierung der beiden konkurrierenden Prinzipien von Natur und Freiheit kommt. Er macht dem unkritischen Vernunftgebrauch buchstäblich den Prozeß und entwickelt zwei Beweise, mit denen die beiden konkurrierenden Streitparteien jeweils ihre Ansprüche vortragen. Auf der einen Seite steht der Dogmatiker, der einen absoluten Freiheitsbegriff vertritt, auf der anderen der „Empirist", der für die Wahrheit des Prädeterminismus argumentiert. Diese Beweise werden schrittweise analysiert, ihre unterschiedlichen theoretischen Voraussetzungen herausgearbeitet und bewertet. Im fünften Kapitel werden die Auflösungsprinzipien der Antinomien aufgesucht. Als entscheidend erweist sich dabei, daß es sich bei dem Verhältnis von Grund und Folge um ein dynamisches und nicht etwa mathematisches Verhältnis handelt. Dadurch ist die Grundlage für einen schlichtenden Richterspruch gelegt, der das ,entweder oder' in ein ,sowohl als auch' umwandelt. Indem Kant mit seinem transzendentalen Idealismus den Grundsatz der Kausalität auf Erscheinungen einschränkt und die Freiheit dem Noumenon zuweist, kann er an beiden Prinzipien festhalten. Grundlegender noch als die Unterscheidung zwischen mathematischen und dynamischen Antinomien ist also das Konzept eines „Noumenon" der als Grenzbegriff die Endlichkeit sinnlicher Vernunfterkenntnis kennzeichnet und der „Schlüssel" zu[r] Auflösung" des Vernunftstreits ist. Dieses Konzept gilt es nicht nur vorauszusetzen, sondern es soll nach der Rechtfertigung gefragt werden, die Kant für seine transzendentalphilosophische Differenz von Erfahrungsgegenständlichkeit und Noumenon gibt. Erst von hier aus läßt sich über die Schlüssigkeit von Kants Auflösungsstrategie urteilen. Die Auflösung der dritten Antinomie ist damit aber nicht etwa abgeschlossen. Vielmehr sind erst die Prinzipien aufgedeckt, die bei der Auflösung zur Anwendung kommen. Im speziellen Auflösungskapitel selbst ergibt sich noch ein weiteres Problem, nämlich wie wir in bezug auf dieselbe Erscheinung sagen können, sie unterliege dem Grundsatz der Kausalität und
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sei zugleich das Produkt absoluter Spontaneität. Genau dies ist die primäre Aufgabe, deren Lösung Kant sich speziell im Auflösungskapitel der dritten Antinomie zuwendet und die ihm eine so außerordentlich umfangreiche Erklärungsleistung abgefordert hat. Sie wird das Thema des abschließenden sechsten Kapitels sein.
4. Kapitel: Der Streit zwischen Dogmatismus und Empirismus Kant hat sich intensiv mit der Skepsis gegen das Konzept einer absoluten Freiheit, die ein kategorisch gebietendes Moralgesetz notwendig impliziert, auseinandergesetzt. Auch er ist der Auffassung, daß eine unverursachte Ursache kein Fall von theoretischer 'Erkenntnis sein kann. Er hat nicht versucht, wie einige quantenmechanisch inspirierte Philosophen, einen Fall von Freiheit ad oculos zu demonstrieren. Vielmehr argumentiert er, daß Unbedingtheit prinzipiell empirisch nicht beweisbar ist, weshalb derjenige, der einen empirischen Beweis der absoluten Freiheit anstrengt, bereits im Ansatz scheitern muß. Auch einen transzendentalphilosophischen Beweis, der Freiheit als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung ausweist, weist Kant mit seiner ^weiten Analogie zurück. Dort zeigt er, daß 'Naturkausalität und nicht etwa Freiheit Bedingung der Möglichkeit von objektiver Naturerkenntnis ist. Dennoch hat Kant an der absoluten Freiheit festgehalten. Nach einer verbreiteten Auffassung nicht deshalb, weil er ausweisbare Gründe dafür gehabt hätte, sondern allein, weil er die fatalen Konsequenzen für Moral und Religion gefürchtet habe (Bennett 1974, Strawson 1981). Damit wird Kant eine Position zugewiesen, die er, wie sich zeigen wird, selbst einer radikalen Kritik unterzogen hat. Die Stärke der Kantischen Theorie hegt gerade darin, daß er sich nicht dogmatisch auf eine Seite schlägt und gegen den „Empirismus" die Gültigkeit der Freiheit bloß behauptet. Die empiristischen Bedenken gegen eine Kausalität aus Freiheit werden von Kant nicht dogmatisch zurückgewiesen, vielmehr insistiert er als „unparteiischer Kampfrichter" darauf, „es ganz bei Seite [zu] setzen, ob es die gute oder die Schlimme Sache sei, um welche die Streitende[n] fechten [...]" (KrV, Β 451). Statt sich auf eine Seite zu schlagen, strengt Kant einen Prozeß an, in dem beide Parteien, sowohl der empiristische Vertreter des universellen Naturdeterminismus als auch der dogmatische Vertreter der Erstursächlichkeit die Gültigkeit ihrer Position beweisen sollen. Auf diese Weise gibt Kant dem Streit zwischen Freiheit und Naturdeterminismus, der als „Keim" in der menschlichen Vernunft selbst wurzelt, „Nahrung", damit
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er „Kraut ausschießt", um so die Ursache des Streites zu entdecken „und es [das Kraut] nachher mit der Wurzel zu vertilgen" (KrV', Β 806f.). Dieses Verfahren „einem Streite der Behauptungen zuzusehen, oder vielmehr ihn selbst zu veranlassen [...], um zu untersuchen, ob der Gegenstand desselben nicht vielleicht ein bloßes Blendwerk sei", nennt Kant die „skeptische Methode". Sie darf nicht mit dem „Skeptizismus" verwechselt werden, der „die Grundlagen aller Erkenntnis untergräbt". Durch die skeptische Methode gelangt man dagegen gerade zur Aufklärung des Irrtums. Kant schlichtet den Streit nicht etwa damit, daß er die Einwände des Empiristen gänzlich zurückweist. Vielmehr gelingt es ihm, beiden Vertretern Recht zu geben, indem er den Geltungsbereich ihrer Aussagen einschränkt. Das „entweder oder" wird von Kant auf diese Weise in ein „sowohl als auch" aufgelöst. Erst ein gerechter Prozeß, der die Ansprüche beider Seiten zu Wort kommen läßt und auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft, schafft die Aussicht auf einen „ewigen Frieden" im Bereich der Wissenschaft (KrV, Β 806) und auf ein „dauerhaft ruhiges Regiment der Vernunft über Verstand und Sinne" (KrV, Β 493). Die Argumente, die Kant in der Exposition des Vernunftstreits entwickelt, dürfen daher nicht mit seiner eigenen Lehrmeinung verwechselt werden (so % B. bei Figal32000, S. 113; Gunkel 1989, S. 68 f., 77 ff.). Ebensowenig sollen sie im Detail bestimmten philosophiehistorischen Positionen entsprechen. Sie sind musterhaft konzipiert und sollen zeigen, daß unter Voraussetzung eines transzendentalen Realismus der Widerstreit der Vernunft notwendig ist und er sich erst vom Kantischen Standpunkt aus, dem transzendentalen Idealismus, auflösen läßt. Erst von hier aus zeigt sich, daß beide Parteien tatsächlich „um nichts streiten, und ein gewisser transzendentaler Schein ihnen da eine Wirklichkeit vorgemalt habe, wo keine anzutreffen ist" (KrV, Β 529f.). Um begreifen zu können, was für einen Streit Kant mit seiner Auflösung zu schlichten beansprucht, muß man sich mit den Argumenten der beiden Streitparteien auseinandersetzen und kann nicht — wie es in der Regel geschieht — unmittelbar bei der Auflösung anfangen. Dabei wird sich zeigen, daß sich für Kant „das" Kompatibilismusproblem in anderer Weise stellt als es gegenwärtige Freiheitstheoretiker immer schon voraussetzen. Für den, der nicht versteht, in was für eine Antinomie die Vernunft gerät, für den muß auch die Auflösung in ihrer Bedeutung und Reichweite unverstanden bleiben. Daher soll im folgenden Kapitel der „Widerstreit" selbst zum Thema gemacht werden (s. άαψ besonders Dimker; Kraft; Schönekker 1996). Dabei wird zunächst - die Leitmotive des Antinomiekapitels aufnehmend - die grundlegende Struktur der Vernunftantinomie ausein-
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andergelegt. Danach sollen sorgfältig die Argumente beider Streitparteien rekonstruiert und entlang einschlägiger Forschungsliteratur diskutiert werden. Von hier aus läßt sich dann das Vernunftinteresse aufzeigen, das den beiden konkurrierenden Positionen zugrunde liegt, um abschließend noch einmal eine präzisere Bestimmung des eigentlichen Streitobjektes vornehmen zu können. (a) Die Antinomie der Vernunft In der transzendentalen Analytik als der „Logik der Wahrheit" hatte Kant gezeigt, daß die Begriffe und Grundsätze des Verstandes die Form aller möglichen Erfahrung darstellen. „Durch sie allein wird Erkenntnis und Bestimmung eines Gegenstandes möglich" (KrV', Β 367). Das bedeutete zugleich, daß die Erkenntnis der Grundsätze des Verstandes „ihrem Ursprünge nach" keine Erkenntnis aus Begriffen ist. Der Grundsatz der Kausalität etwa, daß alles was geschieht, eine Ursache hat, ließ sich nicht analytisch aus dem Begriff dessen, was überhaupt geschieht, ableiten. Statt dessen gibt der Grundsatz selbst uns eine Anleitung, wie wir von dem, was geschieht, einen bestimmten Erfahrungsbegriff gewinnen können (KrV, Β 357). In der transzendentalen Dialektik, der „Logik des Scheins", überprüft Kant nun die Ansprüche der Vernunft, die als systematisches Vermögen, als „Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien" (KrV, Β 359), die Verstandes begriffe (Kategorien) über die Grenzen der Erfahrung zu erweitern sucht (KrV, Β 435 f.). Die Vernunft ist als das oberste Erkenntnisvermögen nicht auf Anschauungen bezogen, sondern richtet sich auf den Verstand, „um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben Einheit a priori durch Begriffe zu geben" (KrV, Β 359). Erst die Vernunft hat es daher mit absoluten und nicht etwa „komparativen Prinzipien" zu tun, weil sie im Unterschied zum Verstand ihre Grundsätze nicht in bezug auf mögliche Erfahrung, sondern allein aus Begriffen (Verstandeskategorien) zu schließen versucht (KrV, Β 356f.). Kant bestimmt den Vernunftschluß in der formalen Logik im Unterschied zum Verstandesschluß als einen mittelbaren und nicht etwa unmittelbaren Schluß. In ihm wird nicht ein Urteil unmittelbar aus einem anderen Urteil abgeleitet, vielmehr tritt noch ein vermittelndes Urteil hinzu, aus dem die Konklusion gefolgert wird. Der Vernunftschluß besteht daher aus Obersatz, Untersatz und Schlußsatz. Im Obersatz wird durch den Verstand eine allgemeine Regel gedacht. Im Untersatz wird durch die Urteilskraft eine Erkenntnis unter die Bedingung der Regel subsumiert.
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Schließlich wird im Schlußsatz durch Vernunft das Prädikat der Regel der subsumierten Erkenntnis zu- oder abgesprochen. Die Arten der Vernunftschlüsse ergeben sich aus der relationalen Beschaffenheit des Obersatzes: Bei kategorischen Vernunftschlüssen ist der Obersatz ein kategorischer, bei hypothetischen ein hypothetischer und bei disjunktiven ein disjunktiver Satz (KrV, Β 360f.; Logik, §§ 42, 48, 61). Bei Vernunftschlüssen geht es um das Verhältnis der Bedingungen (Obersatz, Untersatz) zur Konklusion. Nun können die Bedingungen selbst wieder unter allgemeinere Bedingungen gebracht werden usw. Auf diese Weise entstehen „zusammengesetzte Vernunftschlüsse", die, sofern sie „von den Folgen herauf zu den Gründen" schließen, „Prosjllogismen" heißen. (Logik, § 87; KrV, Β 364). Kant formuliert daraus einen logischen Grundsatz oder, wie er auch sagt, eine „logische Maxime" der Vernunft: „[Suche] zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte [...], womit die Einheit desselben vollendet wird". Diese Maxime der allgemeinen formalen Logik wird nun im transzendentalen Vernunftgebrauch ontologisiert. Auf diese Weise wird die „logische Maxime", die dazu auffordert, „zu einem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden", zu einem synthetischen Grundsatz gemacht, der transzendent ist, weil er „die Schranken der Erfahrung [...] zu überschreiten gebietet" (KrV, Β 353)·. „Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben, wodurch jenes allein möglich war" (KrV, Β 436; vgl. auch KrV, Β 525). Die Bestandteile der logischen Maxime, „Unbedingtes", „Bedingung", „Bedingtes", werden durch „Erscheinung" ersetzt. Auf diese Weise transformiert die Vernunft, die in diesem Grundsatz vom Bedingten ausgeht, die Verstandeskategorien zu transzendentalen Ideen, um so die empirische Synthesis bis zum Unbedingten zu vervollständigen. Die transzendentalen Ideen sind also nichts anderes „als bis zum Unbedingten erweiterte Kategorien" (KrV, Β 436). Gemäß der Reihenfolge der Kategorientafel ist es in der dritten Antinomie die Kategorie der Kausalität, die von der Vernunft zu einer transzendentalen Idee totaüsiert wird. Sie ist die einzige der Ri7tf//o«.rkategorien, die als transzendentale Idee tauglich ist. Zwei Bedingungen muß eine Kategorie erfüllen, um zu einem kosmologischen Vernunftbegriff erweitert werden zu können: Zum einen muß ihre Synthesisleistung zu einer Reihe von Bedingungen führen und zum anderen müssen die Bedingungen, aus denen die Reihe besteht, einander untergeordnet sein (KrV, Β 436). Die Kausalitätskategorie ist die einzige der Relationskategorien, die beide Anforderungen erfüllt. In ihr wird eine Reihe von Ursachen zu einer
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gegebenen Wirkung gedacht. Um die Möglichkeit der vorliegenden Erscheinung begreifen zu können, ist es notwendig, die Bedingungen ihrer Möglichkeit zu begreifen. Sowohl die Wirkungen dieser Erscheinung als auch die beigeordneten Bedingungen dieser Wirkungen sind daher ein „willkürliches" und nicht etwa ein „notwendiges Problem der reinen Vernunft", weil wir ihrer gerade nicht bedürfen, um die Möglichkeit jener Erscheinung einsehen zu können (KrV, Β 438). Aus diesem Grund taugen auch die beiden anderen Kategorien der Relation (die der Gemeinschaft und die der Inhärenz und Subsistenz) nicht zu einer transzendentalen Idee, weil jene Teile bzw. die Akzidenzien nicht als Bedingungen einander »»fefgeordnet, sondern nur ^geordnet sind (KrV, Β 441). Folgt man dem oben formulierten hypothetischen Grundsatz, läßt sich ein „dialektisches Argument" formulieren, auf dem, wie Kant sagt, die ganze Antinomie der reinen Vernunft beruht: 1. Wenn das Bedingte gegeben ist, dann ist auch die ganze Reihe der Bedingungen gegeben. 2. Nun sind uns Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben, 3. Also ist uns die ganze Reihe aller Bedingungen derselben (der Gegenstände) gegeben (KrV, Β 525, Β 364). Diese allgemeine Argumentationsfigur, die allen Antinomien als hypothetischen Vernunftschlüssen zugrunde liegt, läßt sich auf den Sonderfall der dritten Antinomie übertragen: 1. Wenn etwas Bewirktes gegeben ist, dann sind alle Ursachen des Bewirkten ebenfalls gegeben. 2. Nun ist uns etwas Bewirktes gegeben, 3. Also sind auch alle Ursachen des (gegebenen) Bewirkten gegeben. Die Konklusion dieses Argumentes postuliert die absolute Totalität. Aus ihr resultiert auch der Widerstreit der Vernunft mit sich selbst. Mit dieser Konklusion wird nämlich nichts Geringeres behauptet, als daß die vollständige Reihe der Ursachen, und damit das Unbedingte selbst gegeben ist. Dieser Grundsatz der Vernunft ist nun nicht etwa analytisch, sondern synthetisch, „denn das Bedingte bezieht sich analytisch zwar auf irgend eine Bedingung, aber nicht aufs Unbedingte" (KrV, Β 364). Das Unbedingte wird nun von dem Vertreter der These und dem der Antithese auf je unterschiedliche Weise gedacht, wobei die eine die andere jeweils ausschließt. These und Antithese der dritten Antinomie legen ihrer eigenen Position jeweils einen anderen Begriff des „Unbedingten" zugrunde. Zum einen kann das Unbedingte als Erstursächlichkeitvetsf&nden
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werden, in welchem Fall das absolut Unbedingte ein Teil der Kausalkette ist, dem die anderen Ursachen untergeordnet sind, das selbst aber ein absolut erstes der Kausalkette ist. Dieses Unbedingte heißt in bezug auf die Kausalität „absolute Selbsttätigkeit (Freiheit)" (KrV, Β 445f.). Zum anderen läßt sich das Unbedingte aber auch als aktual-infiniter Regreß denken, in dem alle Ursachen bedingt sind und nur die gesamte Kausalreihe ist als aktual unendliche vollkommen unbedingt. Die Kausalreihe wird hier ohne Anfang und dennoch als unbedingt, d. h. als aktual unendlich gedacht. Unendlichkeit der Kausalkette kann nicht begründet behauptet werden, wenn sie nicht als Ganzes gegeben wäre. Auch wenn man behauptet, die Kausalkette sei „ohne Anfang, d. i. unendlich", nimmt man daher Unbedingtheit in Anspruch, denn die ganze Kausalkette kann in keiner sinnlichen Anschauung gegeben werden (ebd.). Gegen diesen Begriff des aktual-infiniten Regreß wird Kant den Begriff des Unbedingten als unbestimmten Regreß setzen (vgl. auch die Unterscheidung ^wischen „in infinitum" und „in indefinitum" (KrV, Β 539-543). Es ist von entscheidender Bedeutung, daß nicht nur, wie viele gemeint haben, die These, sondern auch die Antithese der dritten Antinomie einen Begriff des „Unbedingten" voraussetzt.25 Die Pointe des Widerstreits der Vernunft Regt gerade darin, daß es eine kosmologische Idee gibt, die auf zweifache sich einander widersprechende Weise bestimmt werden kann. Im Fall der dritten Antinomie ist es die Idee der „absolute [n] Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung" (KrV, Β 443). Obwohl beide Weisen, diese Idee zu bestimmen, einander ausschließen, gibt es doch für beide Auffassungen „ebenso gültige und notwendige Gründe" (KrV, Β 449). Um den Konflikt aufzulösen, kann Kant sich nicht dogmatisch auf ein der beiden Seiten schlagen. Vielmehr möchte er beweisen, wie es auf der Grundlage des kritischen Idealismus gelingen kann, beide Standpunkte dialektisch in einem höheren Standpunkt aufzuheben. 25
Besonders präzise wird dies von Dimpker, Kraft und Schönecker herausgearbeitet (Dimpher; Kraft; Schönecker 1996, S. 182-185, 195f., 209). Nach Strawson hätte die „kritische Lösung" genau darin bestanden, nur die These zurückzuweisen und an der Antithese festzuhalten. Strawson zufolge sei es absurd, wenn Kant im Rahmen der dritten Antinomie auch die Antithese für falsch erklärt. Doch dabei übersieht Strawson gerade, daß nicht nur die These, sondern auch die Antithese einen Begriff des „Unbedingten" voraussetzt. (Strawson 1981, S. 181). Auch Schopenhauer verkennt, daß die Antithese ebenfalls einen Begriff des „Unbedingten" voraussetzt. Schopenhauer zufolge gehe nur die These von dem Obersatz aus, daß mit dem Bedingten auch die vollendete Reihe seiner Bedingungen gegeben sei, die Antithese ihn dagegen überall „ausdrücklich leugne" und das Gegenteil behaupte (Schopenhauer 1980 (querst 1818), S. 635 f.). Dieselben Mißverständnisse kann man schließlich auch bei Bennett studieren (1974, S. 280).
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(b) Die Beweise i. Der Beweis des Dogmatikers These: „Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen notwendig" (KrV) Β 472). Die Beweise der dritten Antinomie haben, wie auch die ihrer Vorgänger, die Form einer reductio ad absurdum. Dabei wird zunächst die Negation dessen behauptet, was man zu beweisen unternimmt: 26 (1) Angenommen, es gibt keine Kausalität, die nicht nach irgendeinem Naturgesetz wirkt.27 Im folgenden Beweisschritt wird die Implikation dieser Voraussetzung expliziert: (2) Dann setzt alles, was geschieht, einen vorherigen Zustand voraus, aus dem er notwendig nach einer Regel folgt. An dieser Stelle läßt sich bereits darauf hinweisen, daß der Vertreter der These eine Zusatzprämisse einführt, nämlich, „daß etwas in der Welt geschieht', worauf im Text auch die Sperrung des Wortes „geschieht" aufmerksam macht. In den folgenden drei Schritten wird dann das Argument für die in (6) gezogene Schlußfolgerung entwickelt, daß es in einer Welt, in der ausschließlich Naturkausalität gilt, keinen absolut ersten Anfang der Kausalkette geben kann: (3) Wenn der vorige Zustand immer schon gewesen wäre, wäre auch seine Folge nicht erst entstanden, sondern immer schon gewesen. (4) Eine Folge zeichnet sich aber dadurch aus, daß sie erst durch den vorigen Zustand geworden ist. (5) So muß der jeweils vorige Zustand selbst geworden und aus einem ihm vorhergehenden Zustand entstanden sein.
26 27
Zur Erläuterung und Diskussion des „apagogischen" Beweisverfahrens vgl KrV, Β 817-B 823; Logik, 1X52. Mit dieser Rekonstruktion wird dem Plural „Gesetz«? der Natur" Rechnung getragen. Wenn Kant im Plural von „Gesetzen" spricht, meint er empirische Naturgesetze; spricht er dagegen im Singular vom „Kausalgesetz", ist das allgemeine Kausalprinzip gemeint (vgl. Schmucker 1990, S. 156).
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(6) Wenn also alles nach Naturgesetzen geschieht, kann es keinen ersten Anfang, sondern nur einen subalternen Anfang geben. Weil der Vertreter der These davon ausgeht, daß sich die Vollständigkeit einer Kausalkette nur dann bestimmen läßt, wenn auch das erste Glied dieser Kette bestimmbar ist, kann er zu Recht auch noch den folgenden Schluß ziehen: (7) Die Vollständigkeit der Bedingungen einer Kausalkette ist unerreichbar. Die entscheidende Wende nimmt der Beweis dann im 8. Schritt, der es letztlich in Schritt (9) erlaubt, die eingangs angeführte Annahme ad absurdum zu führen. (8) Nun besagt das Gesetz der Natur aber, daß nichts ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache geschieht. (9) Also widerspricht der in (1) behauptete Satz, daß alle Kausalität nur als Naturkausalität möglich ist, sich selbst. Bereits die einleitenden Worte „nun aber" machen darauf aufmerksam, daß der Vertreter hier zu einem Argument ansetzt, das mit den bisherigen Ergebnissen im Widerspruch stehen wird. Der Satz, daß „ohne hinreichend a priori bestimmt Ursache nichts geschehe", ist - wie die Verwirrung in der Kant-Literatur offenbart 28 — erläuterungsbedürftig: „A priori" ist hier wohl nicht im kritischen Sinne als „erkenntnislogisch der Erfahrung vorausgehend", sondern im vorkritischen Sinne als „vom Vorhergehenden" zu verstehen (vgl. Heimsoeth 1966, 239). Der Vernunft kann es (wie oben bereits bemerkt) „ganz gleichgültig sein", wie weit sich die Konsequenzen eines Ereignisses „α parte posteriori' erstrecken. Denn dieses Ereignis wird durch die Ereignisse „a parte priori' hinreichend erklärt (KrV, Β 389). Während das vorliegende Ereignis für den Vertreter der These nur durch eine Reihe von Bedingungen möglich ist, die durch ein erstes unbedingtes Glied abgeschlossen ist, ist es für den Vertreter der Antithese nur durch die unendliche Reihe der Bedingungen (Ursachen) möglich. Mit diesem Gesetz erfüllt auch die Antithese die „Forderung der Vernunft" nach einer hinreichenden, und d. h. vollständigen Bestimmung
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Als Beleg dafür seien hier nur zwei Beispiele genannt: Bennett kommt nach der Prüfung diverser Interpretationsansätze zu der Überzeugung, daß der Satz unklar bleibe und er nicht einmal erkennen könne, worin das Argument der These überhaupt besteht (bennett, S. 187). Strawson meint, bei dem Satz, daß „ohne hinreichend a priori bestimmt Ursache nichts geschehe", handle sich hierbei um ein „falsches Prinzip" (Strwason 1981, S. 180).
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des Bedingten. Erst die Vollständigkeit der Bedingungen (das Unbedingte) bestimmt das Bedingte hinreichend. Mit dem „Gesetz der Natur" soll die Position der Antithese aufgenommen werden. „Hinreichend a priori bestimmt" bedeutet, daß ein Ereignis durch vorhergehende Ursachen vollständig bestimmt ist. Vollständigkeit kann jedoch nach dem Ergebnis des Beweisschrittes (7), das bloß aus den Voraussetzungen der Antithese folgte, nie erreicht werden. Wenn hier nun davon die Rede ist, daß „ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache nichts geschehe" (Hervorhebung J. B.), die Vollständigkeit aber prinzipiell unerreichbar ist, dann wäre die Konsequenz, daß nichts geschehe, was jedoch nicht der Fall ist. Mehr noch: Allein mit der Naturkausalität läßt sich die Möglichkeit eines Ereignisses nicht erklären, weil hier bloß unendlich viele notwendige Bedingungen, die aber zusammen genommen nicht hinreichend sind, gedacht werden. Der Widerspruch der ersten Prämisse besteht also genau darin, daß sie Naturkausalität als einzige Kausalität zulassen will, in welchem Fall aber in Ermangelung einer hinreichenden Ursache überhaupt kein Ereignis stattfände. Bereits Hegel hat den Vorwurf erhoben, die Beweise der dritten Antinomie seien zirkulär. Der zu beweisende Satz werde als geltend vorausgesetzt, so daß „der ganze Umweg des Beweises [...] daher erspart werden" könnte. Das, was „Kant" hier „Gesetz der Natur" nennt, würde, wenn man es zum Prinzip erhöbe, bedeuten, daß man nur sinnvoll von hinreichender Verursachung sprechen kann, wenn die Kausalbedingung Teil einer Kausalkette wäre, die in einer unbedingten ersten Ursache gründet. „Kant" unterlasse es aber, dieses Prinzip zu begründen, vielmehr setzte er gerade das voraus, was in der These erst zu beweisen gewesen wäre und mache sich daher einer petitioprinäpii schuldig (Hegel 1816, j1. 441). Dieser Vorwurf ist neuerdings wieder aufgegriffen, dabei allerdings mit einem anderen Argument begründet worden: Folgt man diesem Argument, dann dürfe der Vertreter der These das „Gesetz der Natur" sehr wohl als gegeben annehmen, weil er damit lediglich von einer Voraussetzung Gebrauch mache, die auch vom Vertreter der Antithese geteilt wird. Hegel verkenne mit seinem Vorwurf gerade, daß auch die Antithese auf dem Vernunftgrundsatz basiere und ein Bedingtes durch die Totalität der Bedingungen erkläre, die sie dann freilich nach ihrem Begriff als eine unendliche Kette der Ursachen begreift (Dimker; Kraft; Schönecker 1996, S. 206). Der Grund, warum die These die Antithese zurückweist, liegt darin, daß die folgenden beiden Sätze nicht zugleich wahr sein können:
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(a) Die Kette der vorausliegenden Ursachen ist unendlich. (b) Ohne Abschluß der Kausalkette ist keine Ursache hinreichend bestimmt. Der Zirkel besteht gerade darin, daß (b) das ist, was die These zu beweisen hätte, nämlich, daß nur etwas geschieht, wenn Naturkausalität nicht als einzige Kausalität angenommen wird, weshalb der Beweis tatsächlich zirkulär ist. Die letzte Konsequenz, die der Vertreter der These aus dem Ergebnis zieht, daß Naturkausalität nicht als einzige Kausalität angenommen werden könne, ist: (10) Es muß daher eine ursprüngliche Kausalität angenommen werden (transzendentale Freiheit), die nicht unter dem Naturgesetz steht. Weil Naturkausalität für die Ereignisse in der Welt als einzige Kausalität nicht hinreichend ist, muß auch noch eine unbedingte Kausalität angenommen werden. Man könnte meinen, als Gegenbegriff zu „Naturkausalität" käme auch „Zufälligkeit" (Kontingenz) in Frage, weshalb der Schluß auf eine Yjzusalität aus Freiheit nicht notwendig ist. Man könnte sogar soweit gehen zu sagen, daß Freiheit nichts anderes als Zufälligkeit ist (Hume, Enquiry, Sect. VIII, Part I). Dagegen würde der Vertreter der These argumentieren, daß, wenn die Abschlußbedingung zufällig wäre, sie unbestimmt bliebe. Das aber bedeutet — die Gültigkeit von (8) vorausgesetzt —, daß sich nichts ereignen würde. Der Vertreter der These hat also keine Alternative und setzt nicht bloß absolute Spontaneität voraus, weil er damit das Problem der Zurechenbarkeit lösen kann, um das es ihm, wie er in der Anmerkung zu verstehen gibt, ebenfalls zu tun ist. Vielmehr schließt er im Rahmen seiner Argumentation zu Recht auf eine absolute Spontaneität, eine sich selbst bestimmende Ursache. 29 ii. Der Beweis des Empiristen Antithese: „Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur" (KrV, Β 473). Gemäß dem Verfahren der reductio beginnt der Beweis erneut mit der Negation dessen, was zu beweisen ist, aus der sich die Notwendigkeit einer unbedingten Ursache als Konsequenz ableiten läßt. 29
Genau diesen Sachverhalt scheinen Dimker, Kraft und Schönecker zu übersehen, wenn sie sagen, der Vertreter der These äußere sich nicht zu der Frage, ob er Freiheit als absolute Gesetzlosigkeit verstanden wissen will (Dimker; Kraft; Schönecker 1996, S. 191).
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(1) Vorausgesetzt, es gibt eine besondere Art von Kausalität, nach der ein Zustand in der Welt ursprünglich anfangen kann: (2) dann gibt es nicht nur eine absolut erste Ursache in der Reihe der Ereignisse, sondern diese Ursache ist selbst etwas, das nach keinem Gesetz aus etwas anderem entstanden wäre. Der folgende dritte Satz ist entscheidend aber mißverständlich, insofern hier von einer „noch nicht handelnden Ursache" die Rede ist. Eine „noch nicht handelnde Ursache" ist aber strenggenommen keine Ursache, so daß man hier wohl treffender formulieren sollte: „Eine noch nicht als Ursache wirkende Substanz". Daß hier das Argument seine entscheidende Wendung nimmt, wird erneut mit dem „es setzet aber [...]" angezeigt (Hervorhebung J. B.). Hier wird die Universalität des Kausalprinzips als versteckte Prämisse eingeführt, die der Voraussetzung widerspricht und mit der zu beweisenden Antithese identisch ist. (3) Immer wenn eine Substanz als Ursache zu wirken beginnt, dann befindet sie sich in einem Zustand, der sich wesentlich von ihrem vorhergehenden Zustand unterscheidet, mit dem sie aber in einem kausalen Zusammenhang steht.30 In der folgenden Voraussetzung wird dann bloß noch einmal expliziert, was in dem Begriff einer „freien Ursache" enthalten ist, um daraus die Kontradiktion von Freiheit und Kausalgesetz abzuleiten: (4) Als freie Ursache steht der vorhergehende Zustand der Substanz mit dem nachfolgenden Zustand der Substanz als wirkender Ursache in keiner kausalen Beziehung, d. h. sie erfolgt nicht aus ihm. (5) Folglich müssen Freiheitskausalität und Naturkausalität einander ausschließen. Damit hat der Vertreter der Antithese hier bereits sein Beweisziel erreicht. Denn er kann dem Vertreter der These nachweisen, daß er sich selbst widerspricht, insofern er auf der einen Seite zwar die Existenz von naturkausalen Ursachen zugibt, auf der anderen Seite aber zugleich an der Existenz von spontanen Ursachen festhalten will. 30
Kant spricht an dieser Stelle bereits von „handelnder Ursache". Man hat Kant in diesem Zusammenhang vorgeworfen, er schwanke in der dritten Antinomie zwischen dem eigentlichen Problem der kosmologischen Freiheit und dem anthropologischen Problem der Willensfreiheit fc Β Gunkel 1989, S. 58, 65). Wer dieses Schwanken allerdings bereits in dem Begriff der „handelnden Ursache" erblicken will, übersieht, daß Kant diesen Ausdruck nicht, wie es heute üblich ist, für freie Verhaltungen reserviert, sondern auch naturkausal verursachte Wirkungen als „Handlungen" bezeichnet (vgl. V. Gerhardt 1986).
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Allerdings ist der Beweis bis hierher zirkulär, weil in der Prämisse (3) die universelle Gültigkeit des Kausalprinzips eingeführt wird, die im Widerspruch zur ersten Voraussetzung steht. Es ist jedoch auch nicht erkennbar, daß der Vertreter der These im folgenden Beweisstück noch ein neues Argument anführt, vielmehr muß das „und" des folgenden Satzes („Ä»i/eine solche Verbindung der sukzessiven Zustände [·.·]") explikativ und nicht etwa kausal (begründend) gelesen werden. 31 (6) Wenn man eine Freiheitskausalität unterstellt, wäre die Einheit der Erfahrung unmöglich. (7) Sie kann daher auch nicht in der Erfahrung, (sondern nur in einer Hinterwelt) angetroffen werden. (8) Also ist die Freiheitskausalität ein „leeres Gedankending". Nach einer verbreiteten Auffassung tritt das entscheidende Argument des Vertreters der Antithese erst im fünften Beweisschritt auf (vgl. Oimker; Krafi; Schönecker 1996, S. 214; Allison 1990, S. 20 f.). Das Problem dieses Beweisschrittes sei allerdings, daß damit von Kants kritischer Philosophie, nämlich der ^weiten Analogie, Gebrauch gemacht werde, worin ein „Mangel der Antithesis" liege (Dimker; Kraft; Schönecker 1996, S. 218). Doch damit verkennt man nicht nur, daß die reductio bereits im dritten Beweisschritt abgeschlossen ist, sondern auch, daß aus absolut realistischer Position jener nicht ausschließlich kritische Standpunkt verteidigt werden kann: Wenn Freiheitskausalität uneingeschränkt gilt und Freiheitskausalität eine Kausalität ist, bei der die wirkende Substanz aus sich heraus eine Kausalkette neu beginnt, ohne daß sich ihr Wirken auf eine vorhergehende Ursache zurückführen läßt, dann ist die Einheitlichkeit unserer Erfahrung gestört, weil wir für manche Wirkungen keine Ursachen angeben könnten. Die absolute Freiheit eines Dinges setzt voraus, „daß sein Zustand mit dem vorhergehenden [...] gar keinen Zusammenhang der Kausalität hat". Deshalb kann Freiheit prinzipiell nicht Gegenstand der Erfahrung sein und eine freie Ursache muß unbestimmt bleiben, weil wir keine Erkenntnis von einer erfahrungstranszendenten Welt haben können. Aus
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Genau dies aber scheinen Dimker, Kraft und Schönecker zu meinen, wenn sie sagen, das Argument für den Widerspruch von Spontaneität und Naturkausalität bestehe darin, „daß nach einer solchen [freiheitskausalen Verbindung], keine Einheit der Erfahrung möglich sei (Dimker; Krafi; Schönecker 1996, S. 214). Auch für Ortwein ist das Argument an dieser Stelle noch nicht abgeschlossen. Mit seinen drei Einwänden, die er dann in der Folge gegen den Beweis der Antithese entwickelt, fällt er daher hinter seine Einsicht der Zirkularität zurück; sie setzen an der falschen Stelle an und lassen sich mit Ausnahme des dritten Einwandes rasch entkräften (Ortwein 1983, S. 28 f.).
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diesem Grund behauptet der Vertreter der Antithese auch, daß die Freiheitskausalität ein „ens rationis", ein leerer Begriff ohne Gegenstand ist. Auch aus seiner Sicht ist sie nicht etwa ein nihil negativum, ein Unding, weil das Konzept einer unverursachten Ursache nicht schon in sich widersprüchlich ist. Aber der Begriff ist ohne Gegenstand, weil ihm keine Anschauung korrespondiert, weshalb er ein „Gedankending" ist, das „nicht unter die [realen] Möglichkeiten gezählt werden d a r f (KrV, Β 348). Doch weil der Empirist nicht über die transzendentale Differenz von Ding an sich und Erscheinung verfügt, hat er keinen Grund, die Freiheit als „problematischen" Begriff anzunehmen. Wenn der Vertreter der Antithese nun im folgenden Absatz erklärt: „Wir haben also nichts als Natur", zeigt er damit an, daß er die Widerlegung der Antithese als abgeschlossen betrachtet. Die folgenden Schritte können daher bereits zu den „Anmerkungen" gerechnet werden. Ihre Rekonstruktion verdeutlicht, daß in dem verbleibenden Textstück keine für das Beweisziel relevanten Argumente mehr enthalten sind. Der Vertreter der Antithese beweist, warum unter Voraussetzung der universellen Gültigkeit der Naturkausalität absolute Freiheit als „Gesetzlosigkeit" begriffen werden muß. (9) Die Welt läßt sich nur naturkausal erklären. (10) Wenn die Kausalität aus Freiheit sich nach Gesetzen bestimmen läßt, dann ist sie keine Freiheits-, sondern Naturkausalität. (11) Daher ist absolute Freiheit Befreiung vom Leitfaden aller Regeln. (12) Also unterscheiden sich Freiheit und Natur voneinander wie Gesetzlosigkeit und Gesetzmäßigkeit. (c) Die Prinzipien der Streitparteien und ihr Gegenstand Kant hat die Streitparteien der Antinomien nach ihren Argumentationsprinzipien klassifiziert. Bei der Vergleichung der Prinzipien bemerkt Kant, daß die „Denkungsart" des Vertreters der Antithese „vollkommen gleichförmig" ist. Er vertrete das Prinzip des „reinen Empirismus" (KrV, Β 493f.). Dagegen argumentiere der Vertreter der These aus doppelter Perspektive, insofern er zum einen sehr wohl die „empirische Erklärungsart innerhalb der Reihe der Erscheinungen" vertritt, zum anderen aber ihnen „intellektuelle Anfänge" zugrunde legt. Diese Position wird von Kant als „Dogmatismus" bezeichnet (KrV, Β 494). Man geht von hier aus gewöhnlich dazu über, die These dem Rationalismus (Kant spricht in der
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ganzen ersten Kritik nicht vom „Rationalismus") der deutschen Schulphilosophie zuzuordnen, dagegen die Antithese mit Humes Empirismus zu identifizieren (Bennett 1974, 189). Diese Zuordnung hat man versucht zu widerlegen, indem man glaubte zeigen zu können, daß die Argumente, die Kant in den Antinomien entwikkelt, die Debatte zwischen dem Newtonianer Clarke auf der Seite der These und Leibniz auf der Seite der Antithese widerspiegeln (Al-A^m 1972; im Anschluß daran Allison 1990, S. 13). Doch bei genauerer Untersuchung der Argumentation von These und Antithese bleiben diese Zuordnungen unbefriedigend. Es zeigt sich vielmehr, daß die Beweise nur musterhaft für den Empirismus bzw. Dogmatismus als Grundprinzip derjeweiligen Argumentation stehen und nicht etwa für die Position bestimmter historischer Persönlichkeiten (vgl. Falkenburg 2000)?2 Beide Streitparteien haben divergierende Interessen, die im Hintergrund ihrer Argumentation stehen. Der Vertreter der These argumentiert aus einem „praktischen Interesse" heraus (KrV', Β 494), das sich in der Anmerkung zum Beweis deutlich ausspricht: Auch wenn der Begriffsumfang von „Freiheit" nicht schon im Begriff der „transzendentalen Freiheit" aufgeht, weil er „großen Teils empirisch" („psychologisch") sei (KrV, Β 476), sei es doch allein die transzendentale Freiheit, die die „Imputabilität", die Zurechenbarkeit, der Handlungen sichern könne. Dieses Fundierungsverhältnis des empirischen Freiheitsbegriffs im transzendentalen wird von Kant geteilt (KrV, Β 561 f.). Auf die Frage, welche Imputabilität hier gemeint ist, muß die Antwort lauten: eine Zurechnung, die Freiheit als Erstursächlichkeit voraussetzt (absolute Freiheit). Das Argument, der Vertreter der These habe hier allein die rechtliche Zurechnung im Blick, weil er mit dem Aufstehen vom Stuhl ein moralneutrales Beispiel wählt, kann nicht überzeugen.33 Die Unterscheidung zwischen 32
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Dennoch wäre es legitim zu untersuchen, von wem welche Argumente historisch tatsächlich vertreten worden sind. Damit aber würde man von vornherein die Untersuchung auf eine breitere Basis stellen als Al-Azm, der seine Hypothese, daß die Leibniz-Clarke-Debatte zum Vorbild diente, ohne Berücksichtigung anderer Positionen zu beweisen versucht. Wie steht es mit jenen Einflüssen, die Kant selbst nennt: dem „Platonism" und dem „Epikureism" (KrV, Β 499}? Dazu wäre es sinnvoll, nicht in erster Linie die Texte von Piaton oder Epikur zu studieren, sondern bei Jacob Brucker nachzulesen, über den Kant diese Autoren rezipiert hat. Von Wagners Einfluß wird unten noch die Rede sein. Wenn der Vertreter der These der dritten Antinomie tatsächlich ein moralneutrales Beispiel gewählt hat, so deshalb, weil er (und auch Kant?) möglicherweise die Auffassung vertritt, Willensfreiheit lasse sich ursprünglich moralneutral begründen. Moralisches Handeln wäre dann ein Sonderfall dieser Willensfreiheit. Wer meint, Kant sei es hier alleine um den rechtlichen Zurechnungsbegriff zu tun, verkennt außerdem, daß es sich bei diesem Beispiel, so wie es der Vertreter der These expo-
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rechtlicher und moralischer Imputation ist im Zusammenhang mit der dritten Antinomie nur sinnvoll, wenn man ihnen jeweils einen anderen Freiheitsbegriff zuordnen möchte. Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, daß es in jener Anmerkung zur These um „Freiheit des Willens" (KrV Β 476), und zwar nicht etwa im Sinne eines relativen Begriffs, als spontaneitas secundum quid, sondern als „absolute Spontaneität" (ebd.), als Vermögen „eine Reihe von Begebenheiten gan^ von selbst anzufangen", geht (KrV, Β 562). Der bloß relative Freiheitsbegriff ist für die Zurechenbarkeit der Handlungen, sofern sie nach kategorisch gebietenden Gesetzen beurteilt wird, nicht hinreichend (KrV, Β 583). Die Antwort auf die Frage, welche Imputabilität hier gemeint ist, hängt also letztlich von der Konzeption der Moral oder des Rechts ab. Wenn man (wie Kant) der Auffassung ist, daß in beiden die Zurechnung nach kategorisch gebietenden Gesetzen erfolgt, setzen sie auch beide „Freiheit" im absoluten Sinne voraus. Auch „das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ". Der kategorische Anspruch ist nur dann theoretisch legitimiert, wenn das Subjekt, das nach diesen Gesetzen bestraft wird, ein absolut freies Wesen ist (MS/KL, VI 331 (B 226), s. da^u Fußnote 8). Auch wenn der Vertreter der These in seinem Beweis theoretisch argumentiert, indem er den kausal ersten Anfang als hinreichende Abschlußbedingung für Naturereignisse ausweisen will, ist Kant davon überzeugt, daß das „Vernunftinteresse", das dieser Argumentation zugrunde liegt, in erster Linie „praktisch"sei (JCrl7, Β 494). Denn aus theoretischer Perspektive ist es der Vernunft „nicht einmal erlaubt, [ihr] Geschäfte zu verlassen, und unter dem Vorwande, es sei nunmehr zu Ende gebracht, in das Gebiete der idealisierenden Vernunft [...] zu transzendenten Begriffen überzugehen, wo [der Dogmatiker] nicht weiter nötig hat zu beobachten und den Naturgesetzen gemäß zu forschen, sondern nur zu denken und zu dichten, sicher, daß er nicht durch Tatsachen der Natur widerlegt werden könne [...]" (KrV, Β 497). Die Alternative zwischen empirischer Naturforschung und transzendenter „Erdichtung" wird von Kant aus kritischer niert, nicht bloß um ein «ora/neutrales, sondern auch um ein ra^&neutrales Beispiel handelt. Betrachtet man den philosophiehistorischen Kontext, wird aber sogar noch fraglich, ob Kant hier tatsächlich ein moralneutrales Beispiel gewählt hat. Blickt man nämlich in Friedrich Wagners Untersuchung, dann entdeckt man die Fortsetzung jenes von Kant aufgegriffenen Beispiels: „Vom Stuhle aufzustehen [...] in unsere Tasche zu greifen, gewisses Geld heraus zu nehmen, aus unserm Zimmer zu gehen und das Geld einem Armen zu geben" (Wagner 1730, §§ 28, 52f.). Es ist sehr gut möglich, daß es sich hier in der These um eine Anspielung auf Wagners Text handelt, von dem Kant voraussetzen konnte, daß ihn kundige Zeitgenossen kannten. Wohltätigkeit ist eine Tugend- und nicht etwa eine Rechtspflicht, die Kant in der Grundlegung als eine unvollkommene Pflicht bestimmen wird (GMS, 423 (BA 56 f.).
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Perspektive eindeutig entschieden: Eine hinreichende Abschlußbedingung in die Naturerkenntnis einzuführen, würde den empirischen Forschungsprozeß beenden, der doch, weil er es immer mit Erscheinungen zu tun hat, prinzipiell unabgeschlossen bleiben muß. Dennoch kann die Vernunft nicht gänzlich auf die transzendentale Freiheit verzichten, weil sie neben dem Anfang der Welt, der Unsterblichkeit der Seele und der Annahme eines Weltschöpfers zu den „Grundsteine[n] der Moral und Religion" gehört (KrV, Β 494, Hervorhebung]. B.J. Die transzendentale Freiheit ist nicht nur die notwendige Bedingung einer auf kategorischen Gesetzen gründenden Ethik, vielmehr kann man aus der Perspektive der zweiten Kritik sagen, daß Gott und Unsterblichkeit „vermittels des Begriffs der Freiheit objektive Realität [...] verschafft wird" und damit die transzendentale Freiheit (Erstursächlichkeit) auch für die Religion von fundamentaler Bedeutung ist (KpV, V 4 (A 6JJ.34 Weil Kant davon überzeugt ist, daß Moral und Religion aus Vernunß und nicht etwa aus Gefühl oder Offenbarung zu begründen sind, kann er mit Recht sagen, daß transzendentale Freiheit ein praktisches Interesse der Vernunft ist und nicht etwa auf ein willkürliches partikulares Interesse zurückgeführt werden muß. Nicht irgendeine Moral und Religion setzt also den Begriff der transzendentalen Freiheit voraus, sondern nur eine, die auf reinen Vernunftprinzipien gründet. 35 Bei dem Vertreter des Empirismus findet sich „kein solches praktisches Interesse aus reinen Prinzipien der Vernunft, als Moral und Religion bei sich führen" (KrV, Β 495). Das Vemunftinteresse, das hinter seiner Position steht, ist ausschließlich theoretisch. Aus theoretischer Perspektive bleibt unerlaubt, was aus praktischer eingeräumt werden muß: ein Vermögen „unabhängig von den Gesetzen der Natur zu wirken (Freiheit)" (KrV,
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Auch die Frage nach dem Verhältnis der Ideen wird von Kant unterschiedlich beantwortet. Und auch wenn Kant in der ersten Kritik noch nicht von einer fundierenden Funkdon der transzendentalen Freiheit spricht, gilt auch für die erste Kritik, daß transzendentale Freiheit eine notwendige Bedingung seiner „Moraltheologie" ist. Auch wenn Kant im Kanon behauptet, daß Freiheit „durch Erfahrung bewiesen werden" könne (KrV, Β 830), „gründet" diese praktische Freiheit sich auf der transzendentalen (KrV, Β 561). Das heißt, wenn der Begriff der transzendentalen Freiheit widersprüchlich wäre, wäre auch die „praktische Freiheit" eine bloße Illusion von Freiheit. Sowohl das Verhältnis von praktischer und transzendentaler Freiheit als auch die Veränderungen des Freiheitsbegriffes werden im ersten Exkurs im Anschluß an diesen zweiten Teil thematisiert. Noch immer fehlt es an einer Arbeit, die das sich wandelnde Verhältnis der Ideen zueinander von der ersten bis über die dritte Kritik hinaus ins Spätwerk untersucht. Das hat bereits Horstmann (1997, S. 217-221) in Auseinandersetzung mit Dennetts (1986) naiver Kantlektüre sehr deutlich und überzeugend vorgeführt. Auch Bieri (2002), der Dennett in vielen Punkten folgt, hätte von Kant lernen können, welche Funktion ein absoluter Freiheitsbegriff hat.
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Β 498). Nur wenn man ein solches Vermögen aus der Naturerkenntnis verbannt, und hier ausschließlich den Grundsatz der Naturkausalität gelten läßt — das ist auch Kants Überzeugung — bleibt das Merkmal empirischer Wahrheit erhalten, das „Erfahrung vom Traum unterscheidet" (KrV, Β 479). Von hier aus kann jetzt abschließend eine präzisere Bestimmung des Streitobjektes der beiden konkurrierenden Parteien vorgenommen werden. Dazu ist es hilfreich, sich einen zusammenfassenden Uberblick über ihre Voraussetzungen zu verschaffen: Einigkeit besteht bezüglich der Gültigkeit des Naturkausalitätsprinzips. Die Frage ist nicht, ob das Naturgesetz gilt. Seine Gültigkeit wird von beiden Seiten gleichermaßen angenommen. Differenzen treten bei der Frage nach dem Geltungsbereich auf. Während der Vertreter der Antithese dessen universelle Gültigkeit vertritt, behauptet der Vertreter der These, daß vor aller Naturkausalität auch noch eine Freiheitskausalität angenommen werden müsse. Was nun die Art der Freiheit anbetrifft, so kommen beide Parteien darin überein, daß das Problem nicht in der Annahme eines komparativen, sondern absoluten („transzendentalen") Freiheitsbegriffes liegt. Doch auch wenn beide Parteien einen absoluten Freiheitsbegriff zugrunde legen, müssen sie im Rahmen ihres Beweises absolute Freiheit unterschiedlich begreifen. Während der Vertreter der These absolute Freiheit in eine intelligible Abschlußbedingung verlegt und sie mit Vernunftgesetzlichkeit identifiziert, zwingt den Vertreter der Antithese sein Verifikationismus dazu, absolute Freiheit als „Gesetzlosigkeit zu denken. Daraus ergibt sich eine weitere Differenz, die so groß zu sein scheint, daß die Frage naheliegt, ob These und Antithese tatsächlich um dieselbe Sache streiten (vgl. Oimker; Kraft; Schönecker 1996, 219-232). Wenn Kant die dritte Antinomie in jenem eingangs zitierten Brief als den Konflikt zwischen den zwei Standpunkten: „Es ist Freiheit im Menschen, — gegen den: es ist keine Freiheit, sondern alles in ihm Naturnotwendigkeit", bezeichnet (Brief e XII, 257 ((21.09.98)), erweist sich dies als eine Verkürzung der Problematik. Auch wenn, wie gezeigt wurde, die Anmerkung des Vertreters der These genau in diesem Sinne verstanden werden muß, insofern er auf die tiefgreifenden moralischen Konsequenzen hinweist und wir mit der These uns auch von der moralischen Differenz zwischen Gut und Böse verabschieden müßten,36 ist im eigentlichen Beweis der These von der menschlichen
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KrV, Β 476. Der Vertreter der Antithese würde vermutlich entgegnen, daß absolute Spontaneität gerade die Zurechenbarkeit einer Handlung nicht erklären könne, weil Freiheit hier als etwas gedacht ist, daß dem Menschen gewissermaßen zustößt und in keiner Beziehung zu seinem Charakter zu stehen scheint (vgl. Al-A^m 1972, S. 105 oder auch Bieri 2002,
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Freiheit gar nicht die Rede. Vielmehr wurde dort bloß bewiesen, daß sich nichts ereignen würde, wenn man nicht annimmt, daß es eine unverursachte intelligible Abschlußbedingung gibt. Auch wenn man dem Vertreter der These dieses Ergebnis zugesteht, steht der Beweis der menschlichen Freiheit noch aus. Denn, selbst wenn alle Ereignisse auf diese intelligible Abschlußbedingung als einen ursprünglichen Schöpfungsakt zurückgeführt werden könnten, was hindert uns daran, „alle nachfolgenden Zustände für eine Abfolge nach bloßen Naturgesetzen [zu] nehmen"? So ist es wohl zu verstehen, wenn der Vertreter der These selbstkritisch auf seinen Beweis zurückblickt und bemerkt, er habe bisher nur gezeigt, warum Freiheit notwendig für den „Ursprung der Welt" vorausgesetzt werden muß (KrV, Β 476). Um nun auch die Möglichkeit einer innerweltlichen Freiheit einsichtig zu machen, unterscheidet er in der Anmerkung zwischen einem „ersten Anfang der Zeit nach" und einem ersten Anfang „der Kausalität nach" und illustriert diesen Unterschied mit dem Beispiel des Aufstehens vom Stuhl.37 Auch wenn den Ereignissen „mitten im Laufe der Welt" der Zeit nach Ereignisse vorausgehen, sei die Tatsache, daß sie zeitlich auf diese Ereignisse „ f o l g e n " nicht auch ein Beweis dafür, daß sie kausal aus diesen „erfolgen " (ebd., Hervorhebung]. B.). Das eigentliche Argument des Vertreters der These für die Annahme einer Freiheitskausalität im Weltverlauf lautet: Wenn die Notwendigkeit der Annahme eines kausal ersten Anfanges der Welt und damit das „Vermögen" eine Kausalreihe aus „absolute [r] Spontaneität" zu initiieren, „bewiesen" ist, berechtigt dieser Beweis auch zu der Annahme, daß, „mitten im Laufe der Welt" Kausalreihen von selbst anfangen können und den „Substanzen" dieser Reihen das Vermögen beilegen, „aus Freiheit zu handeln". (ebd., Hervorhebung J. B.). Anders gewendet: Die Notwendigkeit einer kosmologischen Abschlußbedingung bedeutet noch nicht, daß sich alle Ereignisse kausal auf diese eine Abschlußbedingung zurückführen lassen. Vielmehr ist es „erlaubt", nachdem durch den Begriff des „Unbedingten" als Erstursächlichkeit die Gültigkeit der Naturkausalität eingeschränkt und die Notwendigkeit einer absolut spontanen Ursache (Freiheitskausalität) bei Kausalreihen etabliert worden ist, daß „mitten im Laufe der Welt" hinreichende Abschlußbedingungen wirksam sind.
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S. 257f). Wie oben gezeigt wurde, mag dieser Einwand auf andere Theorien zutreffen, die einen absoluten Freiheitsbegriff verteidigen. Kants Theorie trifft er nicht (s. da%u Einleitung). Damit „entblödet" „Kant" sich nicht etwa, einen Fall von Freiheit demonstrieren zu wollen (Schopenhauer 1980 (querst 1818), S. 632), der Vertreter der These will lediglich den Unterschied zwischen einer kausalen und einer zeitlichen Verknüpfung an diesem Beispiel illustrieren.
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Auch dieses Argument hängt letztlich von der Voraussetzung ab, daß das Naturgesetz eine absolut spontane Abschlußbedingungen fordert, und setzt damit den Begriff der Unbedingtheit im Sinne der Erstursächlichkeit voraus, bei dem das Unbedingte als ein Teil der Kausalreihe gedacht wird. Die Unterscheidung zwischen einem Anfang der Zeit und einem Anfang der Kausalität muß für den Empiristen im emphatischen Sinne sinnlos bleiben. Wenn man keinen Grund habe, ein „mathematisch Erstes der Zeit nach" anzunehmen, sei es auch nicht zulässig, ein „dynamisch Erstes der Kausalität nach" anzunehmen (KrV, Β 477). Mit dieser Unterscheidung verläßt man die Erfahrung als notwendigen Ausgangspunkt der Erkenntnis. Im Unterschied zum Vertreter der These war es dem Vertreter der Antithese in seinem Beweis ausschließlich um innerweltliche Freiheit zu tun. Auf die außerweltliche Freiheit kommt er nun seinerseits erst in der Anmerkung zu sprechen. Absolute Freiheit kann für ihn im Rahmen seiner Voraussetzungen überhaupt nur außerhalb der Welt ihren Ort haben. Doch muß er die Annahme einer außerweltlichen Erstursache als eine „kühne Anmaßung" zurückweisen, weil man mit ihr die einzig gültige Erkenntnisgrundlage, die Erfahrung, verläßt.38 Für die Bestimmung des Streitobjektes der beiden Parteien ist entscheidend, daß die divergierenden Prinzipien, die den Streitparteien zugrunde liegen (intellektuell-empirische auf der einen und rein empirische auf der anderen) dazu führen, daß der Vertreter der These auch glaubt, rechtmäßig außerweltliche Freiheit beweisen zu können. Dagegen ist dies für den Vertreter der Antithese von vorneherein ein unerreichbares Beweisziel. Der Vorwurf, daß die beiden Parteien nicht um dieselbe Sache streiten, fällt letztlich darauf zurück, daß sie ihre erkenntnistheoretischen Prinzipien nicht ausweisen. Erst mit den Anmerkungen ist die gemeinsame Streitgrundlage gefunden. Beide Vertreter machen hier Argumente geltend, die zeigen sollen, warum sie nicht nur berechtigt sind außerweltliche Freiheit anzunehmen bzw. innerweltliche Freiheit abzulehnen. Auch in der Exposition der dritten Antinomie wird also nicht um die Frage nach der ersten Ursache der Welt überhaupt gestritten, sondern 38
Gegen den Vertreter der Antithese ist geltend gemacht worden, daß seine Argumentation, insofern sie sich gegen innerweltliche Freiheit richtet, die außerweltliche Freiheit, die der Vertreter der These meint, gar nicht trifft. Welche Einheit der Erfahrung, so müsse sich der Empirist fragen lassen, könnte denn überhaupt gestört werden, wenn man eine kosmologische Erstursache zugesteht (Ortwein 1983, S. 28)} Es ist jedoch, wie oben gezeigt, dem Vertreter der These durchaus nicht bloß um außerweltliche Freiheit zu tun. Darüber hinaus ist die Annahme einer kausalen Abschlußbedingung, und sei es auch eine kosmologische Erstursache, insofern der Einheit der Erfahrung zuwider als diese Bedingung prinzipiell nicht mehr bestimmt werden kann, weil ihr keine Ermöglichungsbedingung zugrunde liegt.
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auch um innerweltliche Freiheit und damit um die Freiheit des Menschen. Der Vertreter der Antithese weist die Frage nach der außerweltlichen Freiheit als unsinnig und die Freiheit innerhalb der Welt als unvereinbar mit dem Kausalgesetz zurück. Der Vertreter der These schließt von der Gültigkeit dessen, was er für das „Naturgesetz" hält, auf die Notwendigkeit einer intelligiblen Abschlußbedingung. Eine absolut spontane Abschlußbedingung innerhalb der Welt soll auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen kausaler und zeitlicher Verknüpfung zweier Ereignisse plausibel gemacht werden. In diesem Kapitel wurde gezeigt, wieso die Vernunft, die über die Einzelerkenntnis hinaus als systematisches Vermögen auf die Totalität der Bedingungen aus ist, in einen Widerstreit geraten muß. Solange in diesem Streit kein schlichtender Richterspruch erfolgt ist, ist die Alternative: „Dogmatischer Trotz" oder „Skeptische Hoffnungslosigkeit" (.KrV) Β 434). Demjenigen, der sich gegenüber einer Ethik, die auf kategorisch-gebietenden Imperativen beruht, skeptisch zeigt, weil er die absolute Freiheit, die eine solche Ethik voraussetzt, für nichtig hält, kann der Dogmatiker keine befriedigenden Gründe präsentieren, die seine Zweifel beschwichtigen. Erst die transzendentale Differenz des transzendentalen Idealismus wird den Streit mit einem „Sowohl-Als-Auch" auflösen und damit sowohl der Moral als auch der Wissenschaft zu ihrem Recht verhel-
5. Kapitel: Urteilsverkündung im Vernunftstreit In dem Skandalprozeß der Vernunft wird keiner der vier Streitfälle dogmatisch entschieden. Im ersten und zweiten Streitfall werden die Ansprüche beider Parteien mit einem „weder noch" zurückgewiesen. Im dritten und vierten Fall stellt sich heraus, daß die Kontrahenten sich beide auf einen anderen Aspekt der Welt beziehen. Sie kommen daher mit der Ermahnung davon, den Geltungsbereich ihrer Aussage einzuschränken, so daß ihren Ansprüchen mit einem „sowohl als auch" stattgegeben und der Streit durch einen „Vergleich" geschlichtet werden kann (KrV, Β 559). Doch auch das ändert nichts an dem richterlichen Todesurteil für den Hauptangeklagten — die rationale Kosmologie. An ihre Stelle treten die Prozeßakten dieses Vernunftstreits, die ein Exempel statuieren, das all jenen als Warnung dienen soll, die sich in gleicher Weise an abgeschlossener Welterkenntnis versuchen (KrV, Β 731). Hier soll zunächst in einem ersten Abschnitt — die Auflösungsprinzipien der Antinomien aufsuchend — expliziert werden, wie der transzendentale Idealismus eine Entscheidung des Vernunftstreits herbeiführt. Dabei wird
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sich zeigen, daß der synthetische Grundsatz der Vernunft in ein analytisches Postulat umgewandelt werden muß. Der Grundsatz der Vernunft ist nicht konstitutiv für die Erkenntnis des Unbedingten. Das bedeutet auch zugleich, daß sich weder Freiheit als Erstursächlichkeit noch der universale Naturdeterminismus beweisen lassen. Der Grundsatz der Vernunft fungiert nur als eine Regel, die lediglich etwas darüber aussagt, wie weit sich der empirische Regreß in bezug auf eine gegebene Erscheinung erstreckt. Im Fall der dritten Antinomie ist dieser Regreß weder finit noch infinit, sondern indefinit. Wie Kant, obgleich er jede Erkenntnis des Unbedingten prinzipiell ausschließt, in der dritten Antinomie dennoch These und Antithese Recht geben kann und sie nicht beide wie im ersten Antinomienpaar zurückweist, wird das Thema des zweiten Abschnitts sein. Nach einer verbreiteten Auffassung hat Kant seine Auflösungsstrategie allein deshalb geändert, weil er die fatalen Konsequenzen für Moral und Religion fürchtete. Eine genaue Analyse der Kantischen Argumentation kann jedoch zeigen, daß guter systematischer Grund, der Unterschied zwischen mathematischer Verbindung und dynamischer Verknüpfung, dieses Verfahren rechtfertigt. Dieser Unterschied ermöglicht es, den Geltungsbereich der Antithese (Naturkausalität) auf die Erscheinungen einzuschränken und die These (Freiheitskausalität) dem Noumenon zuzuweisen. Grundlegend dafür, daß beide Streitparteien Recht bekommen, ist also nicht nur die Unterscheidung zwischen mathematischen und dynamischen Antinomien, sondern das Konzept des Noumenon. Wer die Gültigkeit der Auflösung der dritten Antinomie beurteilen will, muß sich daher mit den Argumenten auseinandersetzen, die Kant für die Einführung eines Noumenon präsentiert: „Denn sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten" (KrV, Β 564). Im dritten Abschnitt sollen daher die Argumente rekonstruiert werden, die Kant dazu berechtigen, ein „Noumenon in negativer Bedeutung" einzuführen. Dabei wird sich herausstellen, daß die beiden konkurrierenden Interpretationen — Zwei-Aspekte oder Zwei-Welten — sich Probleme einhandeln, die hausgemacht sind und es sich dabei um eine falsche Alternative handelt. Als Gremibegriff soll das Noumenon in negativer Bedeutung lediglich einen Bereich anzeigen, der prinzipiell außerhalb der Erkenntnismöglichkeit eines endlichen Vernunftwesens liegt. Auf diese Weise bewahrt uns der Grenzbegriff vor der Meinung, wir könnten unsere Erkenntnis auf alles das ausdehnen, was die Vernunft zu denken vermag: Eine absolut spontane Ursache genauso wie eine unendliche Ursachenreihe.
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(b) Regulatives Prinzip statt synthetischer Grundsatz Die Antinomie der Vernunft entspringt aus dem „Dialektischen Argument": 1. Wenn das Bedingte gegeben ist, dann ist auch die ganze Reihe der Bedingungen gegeben. 2. Nun sind uns Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben, 3. Also ist uns die ganze Reihe aller Bedingungen derselben (der Gegenstände) gegeben (Kr]/, Β 525, Β 364). Dieses Argument ließ sich auf den Sonderfall der dritten Antinomie übertragen, indem man die Idee der absoluten Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung zugrundelegt (vgl. Kap. 4a). 1. Wenn etwas Bewirktes gegeben ist, dann sind alle Ursachen des Bewirkten ebenfalls gegeben. 2. Nun ist uns etwas Bewirktes gegeben, 3. Also sind auch alle Ursachen des (gegebenen) Bewirkten gegeben. Kant will nun zeigen, daß dieses Argument ein Fehlschluß ist. Genauer, daß es sich bei diesem Argument um ein „sophisma figurae dictionis" handelt. Der Fehler bei dieser Figur besteht darin, daß „der medius terminus in verschiedener Bedeutung genommen [wird]" (Logik, § 90). Dementsprechend diagnostiziert Kant in bezug auf jenes dialektische Argument einen „merkwürdigen Unterschied zwischen den Begriffen" (KrV, Β 528). Damit ist „Bedingtes" und im speziellen Fall der dritten Antinomie „Bewirktes" gemeint, das in Obersatz und Untersatz äquivok verwendet wird. Während im Obersatz „Bedingtes" bzw. „Bewirktes" in „transzendentaler Bedeutung", d. h. nicht als Erscheinung angesetzt wird, wird es im Untersatz etnpirisch verstanden. Als rezeptive Vernunftwesen sind die Gegenstände, die uns als Bewirkte in unserer Anschauung gegeben sind, immer raumzeitlich strukturierte Gegenstände. Es sind „Erscheinungen" und nicht etwa Gegenstände einer nichtsinnlichen Anschauung, wie im Obersatz. Insofern im Obersatz die Beziehung zwischen den Bedingungen und dem Bedingten nicht raumzeitlich, sondern bloß logisch oder transzendental gedacht wird, „werden sie als zugleich gegeben vorausgesetzt" (KrV, Β 528). Dagegen impliziert allein die Tatsache, daß uns ein Objekt in der {uns einzig möglichen) sinnlichen Anschauung gegeben ist, nicht auch bereits, daß alle Bedingungen dieses Objekts in der Anschauung mitgegeben
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sind. Vielmehr müssen diese Bedingungen gerade immer in einer empirisch erst noch zu vollziehenden Synthese aufgesucht werden. Kants Lösung besteht nun darin, diesen synthetischen Grundsatz in ein bescheideneres ,analytisches Postulat', eine Forschungsmaxime, umzuwandeln, das „klar und ungezweifelt gewiß" ist: ,,[W]enn das Bedingte gegeben ist, [ist] uns eben dadurch ein Regressus in der Reihe aller Bedingungen zu demselben aufgegeben [...]" (KrV, Β 526). Mit diesem Satz wird die Frage, wie weit sich der Regreß erstreckt, ob er endlich oder unendlich ist, offengelassen. Er fordert lediglich dazu auf, das zu suchen, was im Begriff des „Bedingten" bzw. „Bewirkten" analytisch bereits enthalten ist: die Bedingungen bzw. die Ursachen. Deshalb „erhebt sich [dieser Satz] über alle Furcht vor transzendentale [r] Kritik" (ebd.). Mit dieser Lösung trägt Kant seiner Einsicht Rechnung, daß die kosmologische Idee, die im Fall der dritten Antinomie die „absolute Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung" fordert, für den Verstandesbegriff „entweder zu groß oder zu klein" ist (KrV, Β 514). Nimmt man nämlich wie der Vertreter der These an, daß nicht alle Ereignisse der Naturkausalität unterliegen, sondern auch absolut spontane Ursachen notwendig voraussetzt werden müssen, dann behauptet man, daß Erscheinungen unbedingt sein können. Darin liegt jedoch ein konzeptueller Widerspruch, insofern Erscheinungen als unbestimmte Gegenstände einer sinnlichen Anschauung nicht als Abschlußbedingungen erfahren werden können und vielmehr immer erst nach dem Kausalprinzip, das Kant im Rahmen der Analytik etabliert hat, bestimmt werden müssen. Versteht man die dritte kosmologische Idee also im Sinne der Erstursächlichkeit, ist sie für den Verstandesbegriff, der weitere bestimmende Ursachen der Erscheinung fordert, zu klein (KrV, Β 516). Nimmt man dagegen mit dem Vertreter der Antithese an, daß der Regreß der Ursachen ins Unendliche geht, hat man damit in Anspruch genommen, die Ursachenreihe der Erscheinungen, die doch in der empirischen Synthese immer noch miteinander zu verknüpfen sind, bereits durchlaufen zu haben. Doch anders als bei dem Erkenntnisgegenstand einer intellektuellen Anschauung sind die Bedingungen im Bedingten nicht auch zugleich mitgegeben, vielmehr müssen die Bedingungen im empirischen Regreß erst aufgesucht werden. Deutet man also die absolute Vollständigkeit der Erscheinungen in der dritten kosmologische Idee im Sinne eines unendlichen Regresses, bei dem alle Ursachen bedingt sind und nur die gesamte Kausalreihe als aktual-unendliche unbedingt ist, dann ist diese Idee für den Verstandesbegriff zu groß, weil die ganze Ursachenreihe in keinem empirischen Regreß durch sukzessive Synthese erreichbar ist (ebd.).
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Die Antinomie kann insofern als das widersprüchliche Resultat zwischen den Synthesisleistungen des Verstandes und den Systematitzitätsforderungen der Vernunft betrachtet werden. Die Vernunft fordert das Unbedingte, das dem Verstand, der sich auf sinnliche Anschauung bezieht, prinzipiell nicht gegeben ist. Indem Kant den Fehler, der den Argumentationen beider Parteien zugrunde liegt, aufgedeckt hat, ist es möglich, daß sie beide, da sie „ihre Fo[r]derung auf keinen gründlichen Titel gründen, abgewiesen werden" (KrV, Β 529). Damit hat Kant im Grunde sein Beweisziel erreicht. Wäre da nicht das Problem, daß die Konklusionen der Vertreter von These und Antithese im kontradiktorischen Gegensatz zueinander stehen, so daß die Falschheit des einen notwendig die Wahrheit des anderen bedeutet, aber nicht beide ^ugleich falsch sein können. Der Vertreter der These hatte behauptet, daß zur Erklärung der Erscheinungen notwendig auch Freiheitskausalität angenommen werden müsse und daher einige Ereignisse nicht den Naturgesetzen unterliegen, sondern durch Freiheit verursacht werden. Der Vertreter der Antithese behauptete dagegen, daß alle Ereignisse in der Welt den Naturgesetzen unterliegen. Am Quadrat der Gegensätze wird deutlich, daß beide Aussagen als kontradiktorische Gegensätze weder beide wahr noch beide falsch sein können. (A) Alle Ereignisse in der Welt sind kausal determiniert
konträr
(E) Kein Ereignis ist kausal determiniert
kontradiktorisch
(I) Einige Ereignisse in der Welt sind kausal determiniert
subkonträr
(O) Einige Ereignisse sind nicht kausal determiniert
Nun läßt Kant aber keinen Zweifel daran, daß er nicht nur in der ersten und ^weiten Ληύηοηίΐ6 sowohl die Behauptung des Vertreters der These als auch die des Vertreters der Antithese zurückweist, vielmehr gilt auch für
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die Ursachenreihe in der dritten Antinomie, daß sie „weder endlich noch unendlich" ist (KrV', Β 533). Auch wenn Kant die Zurückweisung beider Behauptungen nur exemplarisch am Fall der ersten Antinomie durchfuhrt, gilt doch das, was „von der ersten kosmologischen Idee [...] gesagt worden [ist] auch von allen übrigen" (ebd.). Kants entscheidendes Argument, das ihn legitimiert, zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Aussagen beide zurückzuweisen, besteht darin, daß der kontradiktorische Gegensatz, den er auch die „analytische Opposition" nennt, in Wirklichkeit eine „dialektische Opposition" ist (KrV, Β 532). Er erläutert dies an einem Beispiel: Wenn jemand über einen Körper sagt, daß er „entweder gut oder er nicht gut [riecht]", sind damit die Möglichkeiten noch nicht erschöpft, es kann nämlich noch „ein Drittes statt [finden], nämlich, daß er gar nicht rieche (ausdufte), und so können beide widerstreitende Sätze falsch sein" (KrV, Β 531). In dem Fall, daß der Körper gar nicht so ein Ding ist, dem überhaupt so etwas wie „Geruch" zu- oder abgesprochen werden kann, ist die Alternative „riecht gut oder riecht nicht gut" hinfällig. Bei einem geruchlosen Körper läuft sowohl das Prädikat des „Gutriechens" als auch des „nicht Gutriechens" leer. Genau dies ist der Fall einer dialektischen Opposition. Die Formel für eine dialektische Opposition lautet also: „Wenn zwei einander entgegengesetzte Urteile eine unstatthafte Bedingung voraussetzen, so fallen sie, unerachtet ihres Widerstreits (der gleichwohl kein eigentlicher Widerspruch ist), alle beide weg, weil die Bedingung wegfällt unter der allein jeder dieser Sätze gelten sollte" (KrV, Β 531). In jenem Beispiel besteht die „unstatthafte Bedingung" darin, daß dem Körper überhaupt so etwas wie Geruch zukommt. In bezug auf die Antinomie muß die entscheidende Frage also lauten: Welche „unstatthafte Bedingung" wird von These und Antithese vorausgesetzt, so daß sie, obwohl ihre Aussagen einander kontradiktorisch entgegengesetzt sind, „alle beide weg[fallen]" können? Der Text gibt eine klare Antwort: Der Widerstreit der Vernunft ist „bloß dialektisch", weil man fälschlicherweise „die Idee der absoluten Totalität, welche nur als eine Bedingung der Dinge an sich selbst gilt, auf Erscheinungen angewandt hat [...]" (KrV, Β 534). Man setzt also „unstatthaft" voraus, daß Erscheinungen Dinge wären, auf die man die Idee der absoluten Totalität anwenden könnte und verkennt dabei, daß sie ihrer Struktur nach gar nicht etwas sind, das sich totataüsieren ließe. Deshalb ist die durch These und Antithese nahegelegte Alternative, „entweder Endlichkeit oder Unendlichkeit der Kausalkette", eine falsche Alternative, so wie bei einem
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geruch/W« Körper „entweder gut riechend oder nicht gut riechend" die falsche Alternative ist. Indem Kant also den Widerspruch zwischen These und Antithese als „dialektisch" entlarvt, ist er berechtigt, beide zugleich zurückzuweisen. Damit gibt er nun aber nicht gänzlich jede Art von Vernunftgrundsatz auf; er schränkt aber den Anspruch, der damit verbunden ist, ein. Der Grundsatz der reinen Vernunft ist jenem analytischen Satz gemäß nur eine Regel, die „postuliert was von uns im Regressus geschehen soll, und nicht antizipiert, was im Objekte vor allem Regressus an sich gegeben ist" (KrV, Β 537). Für die Grundsätze des reinen Verstandes konnte Kant beweisen, daß sie konstitutiv sind, weil durch sie überhaupt erst Wahrnehmung bzw. Erfahrung von Gegenständen möglich wird. Die Vernunft ist mit ihren totalisierenden Begriffen nicht auf Gegenstände der sinnlichen Anschauung, sondern auf das Unbedingte gerichtet. Doch weil die sinnliche Anschauung die uns einzig mögliche Anschauung ist, kann der Grundsatz der Vernunft kein konstitutives Prinzip von Ärsinnlicher Gegenstandserkenntnis sein. Wir können uns nicht auf das Unbedingte, das in der dritten Antinomie die Erstursächüchkeit bzw. die unendliche Reihe ist, beziehen. Deshalb können sowohl Erstursächüchkeit als auch die Unendlichkeit der Ursachenreihe weder wahr noch falsch sein. Alles was Kant den Vernunftgmndsälzen einräumen kann, ist der Status eines regulativen Prinzips. Als solches hat es eine mittelbare Funktion in bezug auf unsere Erfahrung. Der Vernunftgrundsatz soll dem Verstand als Regel zur „größtmöglichen Fortsetzung und Erweiterung der Erfahrung" dienen (RrV, Β 537). Mit dieser Regel wird nun nicht etwa wie bei konstitutiven Prinzipien etwas über das Objekt selbst ausgesagt („was das Objekt sei"), sondern nur, „wie der empirische Regressus anzustellen sei, um %u dem vollständigen Begriffe des Objektes %u gelangen " (KrV, Β 538, Hervorhebung £ T. ergänzt J. B.). Mit der Idee als einem regulativen Prinzip wird also über die Endlichkeit oder Unendlichkeit der Ursachenreihe keine Aussage gemacht, sondern nur darüber, wie weit wir in der Reihe der Ursachen zurückgehen müssen, um das Objekt vollständig zu bestimmen. Nun haben wir es in der Erfahrung immer mit Erscheinungen zu tun, weshalb wir dort das Unbedingte prinzipiell nicht antreffen können. Insofern werden wir beim Zurückverfolgen der Ursachenreihe niemals Vollständigkeit erreichen können. Doch damit ist nicht auch gesagt, daß der empirische Regreß in jedem Fall notwendig unendlich ist. Vielmehr ist bei dem Verhältnis von Ursache und Wirkung immer nur „ein Glied der Reihe gegeben, von welchem der Regressus zur absoluten Totalität allererst fortgehen soll" (KrV, Β 541). Deshalb hält Kant hinsichtlich des Regresses, der in der Erfahrung prinzipiell unabschließbar ist, an einer Differenzie-
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rung fest, die in bezug auf den Progressus bloß eine „leere Subtilität" ist (KrV] Β 539). Wenn nur ein Glied der Reihe und nicht etwa das Ganze in der empirischen Anschauung gegeben ist, dann ist man lediglich dazu berechtigt, einen Regressus in indefinitum und nicht etwa in infinitum anzunehmen (KrV, Β 441 ff.). Wenn man also nicht wie eine Reihe von Interpreten Kant eine „anthropologische Verschiebung" in der Auflösung der dritten Antinomie unterstellen will (ζ B. Bennett 1974, S. 188; Gunkel 1989, S. 65, 83; Wimmer 1990, S 98; Höffe 42004, S. 251), gilt es zwei im emphatischen Sinne entscheidende Ergebnisse festzuhalten, zu denen Kant bereits vor dem neunten Abschnitt, der in vier jeweils gesonderten Teilen die Auflösung der vier Antinomien besorgt, gelangt ist: Zum einen können wir prinzipiell über die objektive Erstreckung der Reihe, ob sie endlich oder unendlich ist, keine Aussage machen, weil wir es als sinnlich anschauende Wesen immer mit Erscheinungen zu tun haben, die keine Erkenntnis des Unbedingten zulassen. Daraus ergibt sich ein Zweites, nämlich daß der synthetische Grundsatz der Vernunft unzulässig ist, weil er nicht zur Erkenntnis des Unbedingten dient, sondern auf ein ,analytisches Postulat' eingeschränkt werden muß, das als eine Regel dient, die uns sagt, wie wir den empirischen Regreß anstellen müssen, wenn es um das Verhältnis von Koexistenz bzw. Sukzession, des Teils zu seinem Ganzen und des Grundes zur Folge zu tun ist, um zur größtmöglichen Vollständigkeit der Erkenntnis zu gelangen. Bei dem Verhältnis von Grund und Folge (3. Antinomie) ist im Unterschied zur ^weiten Antinomie, die mit dem Verhältnis des Teils zu seinem Ganzen befaßt ist, das Ganze nicht empirisch gegeben, deshalb gilt für den Regreß hier, daß „es ins unendliche möglich [ist], zu noch höheren Bedingungen der Reihe fortzugehen". Es ist also nicht notwendig, daß wir „mehr Glieder der Reihe an[ψ] treffen", sondern nur „nach mehreren [Gliedern] fragen, weil keine Erfahrung absolut begrenzt [ist] (KrV, Β 542f., Hervorhebung verändert J. B.). Der Regreß erstreckt sich also in „unbestimmte Weite (in indefinitum)" und nicht etwa ins Unendliche (KrV, Β 541 f.). Dieses allgemeine Ergebnis steht also bereits fest, noch bevor Kant sich im neunten Abschnitt speziell der „Auflösung" der einzelnen Antinomien zuwendet Die Überschrift dieses Abschnitts verdeutlicht, worum es Kant hier noch zu tun ist: „Von dem empirischen Gebrauche des regulativen Prinzips der Vernunft, in Ansehung aller kosmologischer Ideen" (KrV, Β 543, Hervorhebung J. B.). Bei der Auflösung der dritten Antinomie hält sich Kant nicht mehr mit der „Bedenklichkeit" auf, daß die Ursachenreihe des Kausalgesetzes „keine absolute Totalität verstattet", „denn sie ist schon in der „all-
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gemeinen Beurteilung [...] gehoben worden" (KrV, Β 571, Hervorhebungen geändert J. B.). Mit „allgemeine [r] Beurteilung" bezieht Kant sich offenbar auf den siebten Abschnitt. Dort hatte er erklärt (wie oben ausführlich dargelegt worden ist), daß die Antinomie dadurch „gehoben" wild, daß der Widerstreit „bloß dialektisch" ist (KrV, Β 534), weil man eine „unstatthafte Bedingung" voraussetzt (KrV, Β 531), indem man „die Idee der absoluten Totalität [...] auf Erscheinungen anwendet" (KrV, Β 534). Wenn man „dieser Täuschung des transzendentalen Realismus" unterliegt, dann „bleibt - im Fall der dritten Antinomie - weder Natur, noch Freiheit übrig" (KrV, Β 571), weil die Idee der absoluten Vollständigkeit der Entstehung der Erscheinungen verstanden als Erstursächlichkeit für den Verstandesbegriff „zu klein" und verstanden als aktual-infiniter Regreß „zu groß" ist (KrV, Β 514). Der transzendentale Idealismus klärt uns darüber auf, daß die Erkenntnis des Unbedingten unmöglich ist und der synthetische Grundsatz der Vernunft in ein regulatives Prinzip umgeformt werden muß, das im Fall der dritten Antinomie einen empirischen Regreß „in indefinitum" gebietet. Damit erhält der regulative Grundsatz der Vernunft seine Gültigkeit in bezug auf die systematische Einheit der Erscheinungen. Daß die Erscheinungen nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung zu verknüpfen sind, darüber hat Kant in der ^weiten Analogie der Erfahrung bereits hinreichend Rechenschaft abgelegt. All dies steht bereits fest, noch bevor Kant speziell mit der Auflösung der dritten Antinomie beginnt. Wenn er sich nun „dem empirischen Gebrauch [e] des regulativen Prinzips" zuwendet, besteht das Problem also nicht mehr darin, ob die Kausalkette endlich oder unendlich ist, sondern ob und wie im empirischen Gebrauch des regulativen Prinzips neben dem Kausalgesetz auch noch eine Kausalität aus Freiheit zugrunde gelegt werden kann. Die Handlungen Gottes unter der Idee der transzendentalen Freiheit zu denken, bereitet keine weitere Schwierigkeit, weil in Gott als nichtempirischem Wesen keine Zeitfolge gedacht werden muß. Man darf daher die Idee der transzendentalen Freiheit nicht unmittelbar mit der Willensfreiheit des Menschen identifizieren. Vielmehr ist diese Idee, positiv verstanden, die Idee von Erstursächlichkeit überhaupt und menschliche Freiheit soll als ein Fall von Erstursächlichkeit gedacht werden können. Auch wenn die Handlungen des Menschen im Unterschied zu den Handlungen Gottes sehr wohl kausal determiniert sind, ist der Mensch, wie sich zeigen wird, mit seinem vernünftigen Kausalvermögen im Unterschied zur belebten und unbelebten Natur das einzige Wesen, bei dem wir berechtigt sind, für die Beurteilung seiner Handlungen einen Prinzipiendualismus zu etablieren,
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worin genau die Schwierigkeit bei der Einführung des empirischen Gebrauchs des regulativen Prinzips liegt. Kants nächstes Ziel muß daher nun darin bestehen, zu beweisen, daß im Fall der dritten (und vierten) Antinomie These und Antithese „alle beide wahr sein können" (KrV, Β 560), wenn man statt der einen „unstatthaften Bedingung" jeweils unterschiedliche Bedingungen zugrunde legt. Es wird sich zeigen, daß die Voraussetzung dafür ein Sachverhalt ist, der die dritte Antinomie nicht nur mehr von der ^weiten, sondern auch von der ersten Ληtinomie, bei der ebenfalls nicht das Ganze empirisch gegeben ist, unterscheidet, weshalb dort eine derartige Auflösung unmöglich war. Gemeint ist, daß es sich bei dem Verhältnis von Grund und Folge um ein dynamisches und nicht wie bei den ersten beiden Antinomien um ein mathematisches Verhältnis handelt.
(b) Das dynamische Verhältnis von Grund und Folge und die Möglichkeit nicht-empirischer Bedingungen Kant löst die vier Antinomien nicht identisch auf. Während bei den ersten beiden Antinomien sowohl die These als auch die Antithese als falsch zurückgewiesen werden, 39 stellt sich bei der dritten und vierten Antinomie heraus, daß sowohl die These als auch die Antithese, wenn sie ihren Geltungsbereich einschränken, beide wahr sein können. Wie kommt es zu dieser Veränderung des Auflösungsergebnisses? Man hat Kant unterstellt, das der dritten und vierten Antinomie anhängende Problem, nämlich die Angst vor den fatalen Konsequenzen für Moral und Religion, habe ihn zur Veränderung seiner Auflösungsstrategie veranlaßt (Höffe 52000, £ 148 f.; Gunkel, 1989, S. 66; Strawson 1981, S. 180-84). Dieser Vorwurf ist unvollständig, weil mit der Zurückweisung beider Positionen nicht nur Moral und Religion, sondern auch die Möglichkeit einer systematischen Wissenschaft dem Skeptizismus anheim fallen (Röttges 1974, S. 42). Wer diese
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Dieses Ergebnis der Auflösung der ersten beiden Antinomien ist auf den ersten Blick verwunderlich. Obwohl die Behauptungen einander kontradiktorisch entgegengesetzt sind, weist Kant sowohl die These als auch die Antithese als falsch zurück. Bei einem kontradiktorischen Gegensatz kann nur eine der beiden Aussagen wahr sein. Es wäre folglich unmöglich, daß beide wahr oder beide falsch sind. Nun läßt Kant aber keine Zweifel daran, daß in der Auflösung sowohl die These als auch die Antithese als falsch zurückgewiesen werden sollen (KrV, Β 556; Pro!., § 53). Wer hierin glaubt, einen formalen Fehler notieren zu können, übersieht, daß Kant sich im Rahmen der Aristotelischen Logik bewegt, die singulare Urteile als Allaussagen behandelt (vgl. FalkenbuTQ 2000, S. 219). Insofern liegen hier also eine bejahende Allaussage und eine verneinende Allaussage vor, die sich — dem Quadrat der Gegensätze folgend — konträr zueinander verhalten und somit beide falsch sein können.
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Veränderung der Auflösung nicht nur für ein ideosynkratisches Produkt eines in Argumentationsnot geratenen Philosophen hält, der wird sich nach den systematischen Gründen umsehen, die Kant zu jener Veränderung veranlaßt haben.40 Grundlegend hierfür ist, daß das erste Antinomienpaar aus der Totalisierung der mathematischen Verstandesbegriffe entspringt und beim zweiten Antinomienpaar die dynamischen Verstandesbegriffe totalisiert werden. Erst eine Erörterung dieser Unterscheidung ermöglicht es, über die Veränderung des Auflösungsergebnisses zu urteilen. Obgleich Kant auf diesen Unterschied in seiner „Schlußanmerkung" und „Vorerinnerung", die er zwischen die Auflösungsabschnitte der beiden Antinomienpaare piaziert, eindringlich hinweist, hat man es kaum für notwendig befanden, diese zentrale Unterscheidung eigens zu thematisieren.41 Bevor die dritte Antinomie aufgelöst wird, gilt es ihren spezifischen Unterschied zu den ersten beiden Antinomien herauszuarbeiten. Erst von hier aus wird verständlich, warum Kant bereit ist, eine absolut spontane Ursache für denkmöglich zu halten. Die transzendentalen Ideen sind nichts anderes „als bis zum Unbedingten erweiterte Kategorien". In der ersten Antinomie werden die „ursprünglichen Quanta" Raum und Zeit totalisiert (KrV, Β 438), indem durch die „absolute Vollständigkeit der Zusammensetzung" die raumzeitliche Endlichkeit (These) bzw. Unendlichkeit (Antithese) der Weltgröße 40
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Röttges weist daraufhin, daß sich die Unterscheidung zwischen mathematisch und dynamisch in der A-Auflage des Kategorienkapitels noch nicht fand und glaubt daher, daß diese Unterscheidung für die Kategorien unerheblich sei. Kant habe diese Unterscheidung nachträglich eingeführt, um sie später auch in bezug auf die Freiheitsantinomie, wo sie ihre eigentliche Funktion habe, anwenden zu können (Röttges 1974, S. 42). Doch auch wenn Kant diese Unterscheidung bei den Kategorien erst in der zweiten Auflage ergänzt hat, wird sie bei den Grundsätzen bereits in der ersten Auflage ausführlich eingeführt. Davon abgesehen, lädt Röttges sich die Beweisschuld auf, daß diese Unterscheidung der Sache nach unberechtigt sei. Einen solchen Beweis bleibt er schuldig. Von Longuenesse kann man lernen, warum diese Unterscheidung gerade auch für die Kategorien grundlegend ist (Lenguenesse 1998). Ebenso wie Röttges glaubt auch Strawson, Kant gehe stillschweigend über die eigentlich „kritische Lösung" hinweg und versuche, indem er den Unterschied zwischen ,mathematisch' und ,dynamisch' bloß postuliert, dem Interesse an der Moralität zu entsprechen (Strawson 1981, S. 183 f.). Leider unternimmt Strawson nicht einmal den Versuch, den Unterschied zwischen mathematischen und dynamischen Antinomien zu rekonstruieren, von einer sorgfältigen Prüfung der Argumente gar nicht zu reden. Höffe ist der Auffassung, daß der „Unterschied zwischen den mathematischen und den dynamischen Antinomien [...] nicht aus den Antinomien selbst, sondern aus einem ihnen angehangen Problem [folgt]" (Höffe 52000, S. 148 f . Hervorhebung ]. B.). Dabei ist nicht unmittelbar offenkundig, welches Problem gemeint ist. Es ist naheliegend, daß auch hier das moral- und religionsphilosophische Problem gemeint ist. Allison wendet diese Unterscheidung zwar an, erklärt sie aber nicht aus ihren Prinzipien heraus (Allison 1990, S. 22-25).
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bestimmt werden soll (KrV, Β 443). In der zweiten mathematischen Idee wird nach den Bedingungen der Realität (Materie) gefragt und es soll mit der Idee der „absolute [n] Vollständigkeit der Teilung", das absolut Unteilbare (These) bzw. die unendliche Teilbarkeit (Antithese) bestimmt werden. Auch wenn in der ersten Antinomie die raumzeitlichen Momente bzw. Teile zusammengesetzt (compositio) werden und in der zweiten Antinomie eine Dekomposition der Teile des Ganzen vollzogen wird, geht es in beiden Antinomien darum, die Größe zu bestimmen. Weil die Mathematik die Wissenschaft von der Konstruktion von Größen (quanta) und der bloßen Größe (quantitatem) ist (KrV\ Β 745), heißt das erste Paar der Kategorien, Grundsätze und Ideen, die alle mit der Bestimmung von Größen befaßt sind, „mathematisch". Mit dem zweiten Ideenpaar soll jeweils die Erkenntnis von Gründen und Folgen hinsichtlich ihrer kausalen und modalen Beziehung abgeschlossen werden. Die erste Idee des dynamischen Ideenpaares totalisiert (wie im ersten Kapitel dargelegt) den Verstandesbegriff der Kausalität, indem sie die „absolute Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung" zu bestimmen versucht (KrV, Β 443). In der zweiten dynamischen Idee wird die Grund-Folge-Beziehung hinsichtlich ihrer modalen Verknüpfung totalisiert. Dabei unterstellt die These, daß eine schlechthin notwendige Ursache als Daseinsgrund der Welt existiert, dagegen behauptet die Antithese das kontradiktorische Gegenteil. Insofern die zweite dynamische Idee nach dem schlechthin notwendigen Daseinsgrund fragt und die erste danach, ob die Kausalkette durch eine Erstursache abgeschlossen werden muß, damit sich in der Welt etwas ereignet, sind beide dynamischen Ideen wie auch die dynamischen Grundsätze und Kategorien im Unterschied zu den mathematischen nicht auf die Größe, sondern auf das Dasein (Existenz) der Erscheinungen gerichtet (KrV, Β 110; Β 199; Β 201; Β 447). Genauer gesagt sind sie auf das kausale bzw. modale „ Verhältnis" einer existierenden Erscheinung gerichtet (KrV, Β 220 ff.). Die Dynamik ist die Lehre von den Kräften und Wechselwirkungen und denen von ihnen hervorgerufenen Bewegungs- oder Zustandsänderungen. Deshalb nennt Kant das zweite Paar der Kategorien, Grundsätze und Antinomien, „dynamisch" (ebd.). Aus dieser Unterscheidung zwischen mathematischen und dynamischen Ideen ergibt sich nun „eine ganz neue Aussicht in Ansehung des Streithandels, darin die Vernunft verflochten ist" (KrV, Β 557), weil die Synthese bei den mathematischen Ideen „gleichartig", dagegen bei den dynamischen Ideen „ungleichartig" ist. Kants Systematik der unterschiedlichen Arten der Verbindung läßt sich folgendermaßen schematisieren (KrV, Β 201 f.):
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Verbindung I Zusammensetzung (mathematisch, gleichartig) I Aggregation (Axiome)
'
'
1 Koalition (Antizipationen)
1 Verknüpfung (dynamisch, ungleichartig) I Physisch (Analogien)
I Metaphysisch (Postulate)
Diese Systematik, die Kant im Rahmen der Grundsätze des reinen Verstandes entwickelt, gilt nun analog auch für die Vernunftideen. Die mathematischen Ideen haben es immer nur mit der „Xusammenset^ung" von Raumteilen und Momenten der Zeit zu tun. Die Teile, die hier zu einem Ganzen „aggregiert" bzw. „koaliert" werden, müssen als Teile dieses raumzeitlich erstreckten Ganzen auch selbst immer raumzeitlich strukturiert sein. Deshalb spricht Kant davon, daß bei den mathematischen Ideen ausschließlich eine „Synthesis des Gleichartigen" stattfindet (KrV, Β 202, Β 558, Hervorhebung J. B.). Kants zentrale Einsicht der transzendentalen Ästhetik war, daß Raum und Zeit subjektive Anschauungsformen sind und daher nur den Dingen insofern zukommen, als sie Gegenstände unserer sinnlichen Anschauung sind und nicht etwa an sich selbst. Raum und Zeit haben empirische Realität, aber sie sind „transzendental ideal" (KrV, Β 44). Weil die mathematischen Ideen die raumzeitliche Totalität fordern, stellen sowohl These als auch Antithese zwangsläufig Behauptungen über die Welt in Raum und Zeit auf. Daher können auch immer nur raumzeitlich strukturierte Bedingungen, d. h. Erscheinungen, zugelassen werden, die aber prinzipiell keinen raumzeitlichen Abschluß bzw. kein unteilbares Teil bilden können. Auf der einen Seite impliziert „Erscheinung", daß es Gegenstand der Erfahrung sein kann, auf der anderen ist aber ein raumzeitliches Abschlußmoment bzw. Abschlußteil den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung gerade zuwider. Deshalb wird in den ersten beiden Antinomien weder der These noch der Antithese stattgegeben. 42
42
Worin das eigentliche Skandalon von 1781 besteht, weil er hiermit, nicht aber mit den Auflösungen der dritten und vierten Antinomie seiner früheren Lösung widerspricht (vgl. Falkenburg 2000).
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Wenn man nun aber nach dem kausalen oder modalen Verhältnis des Bedingten zu seinen Bedingungen fragt, kann man „von der Größe der Reihe der Bedingungen abstrahieren" (KrV, Β 563). Denn da hier nicht nach der Größe, sondern dem Dasein einer Erscheinung gefragt wird, geht es nicht darum, die Erscheinung aus allen ihren raumzeitlichen Teilen zusammenzusetzen, sondern um den Grund des Daseins der Erscheinung. Die Gültigkeit des Kausalprinzips in bezug auf Erscheinungen hatte Kant bereits mit der ^weiten Analogie der Erfahrung bewiesen (s. da%u Kap. 6a). Aber damit ist nicht auch bereits gesagt, daß Naturkausalität die einzig denkbare Kausalität ist, durch die Erscheinungen hervorgebracht werden. Die primäre Frage ist in der Auflösung der dritten Antinomie daher nicht, ob der Regreß endlich oder unbestimmt ist, sondern, was Kant zunächst zu beantworten hat, ist erstens: „ob Freiheit überall [überhaupt] möglich sei" und zweitens, „ob, wenn sie es ist, [wie] sie mit der Allgemeinheit des Naturgesetzes zusammen bestehen könne" (KrV, Β 564). Die Auflösung der dritten Antinomie soll also Auskunft darüber geben, „ob es ein richtig disjunktiver Satz sei, daß eine jede Wirkung in der Welt entweder aus Natur oder aus Freiheit entspringen müsse, oder ob nicht vielmehr beides in verschiedener Beziehung bei einer und derselben Begebenheit zugleich stattfinden könne" (ebd.). Kants entscheidendes Argument ist nun, daß es bei dem dynamischen Verhältnis von Grund und Folge nicht von vornherein schon ausgemacht ist, daß es sich um das Verhältnis zweier gleichartiger, raumzeitlich strukturierter Bedingungen handelt, sondern es ist widerspruchsfrei auch eine nicht-empirische Bedingung denkbar. Auch wenn sich eine Kausalursache nur durch gegebene Sinnesdaten vermittels der raumzeitlichen Anschauungsformen positiv bestimmen läßt, ist eine sich selbst verursachende Ursache nicht ausgeschlossen. Das heißt: Wir können zwar keine sachhaltdge Erkenntnis einer spontanen Ursache machen, damit ist aber nicht auch bereits über die prinzipielle Unmöglichkeit einer derartigen Ursache entschieden. Es ist zwar richtig, daß Erfahrung als die bestimmende Erkenntnis eines Objektes (KrV, Β 218) nur durch die notwendige Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich ist (ebd.), doch bedeutet das noch nicht, daß alle Kausalursachen raumzeitlich-strukturiert, d. h. Erscheinungen sind. Im Unterschied dazu ließ die Frage nach der Weltgröße und der Teilbarkeit, weil sie nach der raum^eitlichen Erstreckung fragt, nur Erscheinungsartiges und nicht etwa eine intelligible Bedingung zu. Während die Teile als Bedingungen eines Körpers selbst Erscheinungen sein müssen und deshalb „keine andere als sinnliche Bedingung hinein kommen" kann, müssen nicht notwendigerweise auch alle kausalen Bedingungen dieses Körpers
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Erscheinungen sein (KrV, Β 558; vgl. auch Logik, § 3.). Weil bei der dynamischen Verknüpfung eine nicht-empirische Bedingung denkbar ist, „die nicht Teil der Reihe ist, sondern als bloß intelligibel außer der Reihe liegt [...]" (ebd.), ist bei den dynamischen Antinomien möglich, was bei den mathematischen unmöglich war, nämlich daß sowohl die These als auch die Antithese, wenn sie sich auf ihren Geltungsbereich einschränken, „alle beide wahr sein können" (KrV, Β 560). Für die dynamischen Antinomien will Kant zeigen, daß These und Antithese je zwei verschiedene Bedingungen zugrunde gelegt werden können, in welchem Fall sie beide wahr sind. Seine Lösung besteht genau darin, daß er der These und Antithese verschiedene Geltungsbedingungen zuweist. Damit verwandelt er die kontradiktorischen Gegensätze nicht wie bei den mathematischen Antinomien in konträre, sondern in subkonträre. Er schränkt den Geltungsbereich der Antithese (Naturkausalität) auf die Erscheinungen ein und weist die These (Freiheitskausalität) dem Noumenon zu. Zu diesem Schritt ist Kant (wie oben gezeigt wurde) legitimiert, weil bei den dynamischen Ideen nicht notwendig die Verknüpfung von Erscheinungen vorausgesetzt werden muß, sondern sie auch die Möglichkeit einer absolut spontanen Ursache zulassen. Auf diese Weise wird der Widerspruch zwischen These und Antithese vermieden (KrV, Β 558f.; vgl. auch Prol, J 55 (A 151)).n Mit dieser Auflösung macht Kant dem Irrglauben beider Streitparteien, sie würden sich auf dieselbe abgeschlossene Sinnenwelt beziehen, ein Ende. Die Auflösung der dritten Antinomie wird also nicht etwa so vollzogen, daß Kant neben der These und Antithese nun eine dritte Position verteidigen würde,44 sondern er erkennt, daß die Natur als dynamisches Ganzes uns niemals gegeben ist, sondern ein ens rationis, ein leerer Begriff, ist. Der transzendentale Realismus, der von beiden Streitparteien unterstellt wurde, hatte die absolute Realität der Erscheinungen behauptet. Mit seinem transzendentalen Idealismus glaubte Kant nun, die bloß empirische Realität der Erscheinungen etabliert und so die logische Denkmöglichkeit eines Noumenon gesichert zu haben. Erscheinungen erweisen sich als bloße Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen, aber „selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind" (ebd.). 43
44
Der subkonträre Gegensatz besteht in dem Widerspruch eines bejahenden und eines verneinenden partikularen Urteils. Dem Beispiel oben folgend besteht der subkonträre Gegensatz also in der Behauptung, daß (a) einige Schweden blond sind und (b) einige Schweden nicht blond sind. In diesem Fall können (a) und (b) beide wahr sein. So wie sich die Positionen: (a) alle Schweden sind blond, (b) kein Schwede ist blond, beide durch die dritte Position: (c) einige Schweden sind blond, zurückweisen ließen.
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Damit ist nun auch jener positive Nutzen der Vernunftkritik angezeigt, den Kant in der Vorrede zunächst rhetorisch in Zweifel gezogen hatte (KrV, Β xxv). Die transzendentalphilosophische Differenz erlaubt es, Dinge als Erscheinungen und nicht als Erscheinungen, sondern an sich selbst zu betrachten, und kann auf diese Weise dem „Fatalismus" und „Skeptizismus" „die Wurzel abschneide [n]" (KrV, Β xxxiv). Der transzendentale Idealismus greift als „Polizei" in den Streit der beiden Kontrahenten ein, um ihm für immer „einen Riegel vorzuschieben" und ermöglicht es, daß beide Parteien „ihre Angelegenheiten ruhig und sicher treiben können" (KrV, Β xxv). Er eröffnet damit nicht nur dem Glauben, sondern auch der Moral erst ihren Raum (KrV, Β xxx). Der theoretische Gebrauch der Vernunft wird durch die logische Möglichkeit der Freiheit nicht angetastet. Vielmehr gilt hier jener regulative Grundsatz, der einen Regreß gebietet und es also nicht erlaubt, bei einem Unbedingten stehen zu bleiben (KrV, Β 589, Β 592). Die transzendentalphilosophische Differenz zwischen Ding an sich und Erscheinung ist also das Theoriestück, auf dem Kant die Auflösung der Antinomie zwischen universeller Naturdetermination und absoluter Spontaneität gründet. Die Überzeugungskraft der Auflösung hängt damit auch von der Schicksalsfrage des transzendentalen Idealismus ab. „Denn sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten" (KrV, Β 564).
(c) Das Noumenon als Grenzbegriff Mit der Einführung eines „Noumenon", der als „Grenzbegriff' die Endlichkeit menschlicher Erkenntnis kennzeichnen soll, gibt Kant das Prinzip an, mit dem die scheinhaften Grundsätze einer sich gänzlich verselbständigenden Vernunft zurückzuweisen sind. Damit schafft er den Platz, der es erlaubt, gegen die empiristische Skepsis an der Denkmöglichkeit der absoluten Freiheit festzuhalten. Wer gute Gründe beizubringen weiß, Kants Argument für die Annahme eines Noumenon zurückzuweisen, wird auch seine Scheinverdrängungsstrategie in der transzendentalen Dialektik nicht befriedigend finden. Die Unterscheidung zwischen „Noumena" und „Phaenomena" oder, was für viele identisch ist, zwischen „Ding an sich" und „Erscheinung", ist seit der Veröffentlichung der ersten Kritik auf heftigen Widerspruch gestoßen (vgl. Jacobi 1787). Manch einer meint sogar, Kant habe sie nur eingeführt, um den Widerspruch der dritten Antinomie auflösen zu können (Silber 1966, J. ä) Sowohl in der gegenwärtigen Kant-Literatur als auch in
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der Literatur zur Willensfreiheit wird der Vorwurf erhoben, Kant habe mit der behaupteten Trennung zweier ontologisch distinkter Objekte letztlich doch wieder Transzendentalphilosophie gegen transzendente Metaphysik eingetauscht. Der Mangel dieser Theorie bestehe darin, daß sie mit dem „Ding an sich" eine Behauptung über eine jenseitige Wirklichkeit aufstelle, deren Gültigkeit prinzipiell nicht verifizierbar sei. Mehr noch: Indem Kants Theorie auch in sich inkonsistent sei, verfehle sie bereits die Grundvoraussetzung für ihre Gültigkeit. Während Kant zum einen mit seiner Restriktionsthese behaupte, daß die Verstandeskategorien nur auf sinnlich Erfahrbares angewendet werden dürfen, wendet er sie andererseits doch etwa mit der Behauptung der Existen% (Dasein) eines erfahrungstranszendenten Gegenstandes oder einer „causa noumenon" (Kausalität) schließlich auf erfahrungstranszendente Gegenstände an (Held 2001, S. 125 ff.; Walter 1998, S. 22; Honderich 1995, S. 147; Steinvorth 21994, S. 178; Wimmer 1990, S. 101; Gunkel 1989, S. 156; Schmitt 1989; Gujer 1987; Dennett 1986, S. 43;. Pothast 1980, S. 14; Schlick 1978, S. 157; Stramon 1966; Silber, 1960; Hegel 1836, S. 341j« 45
Die Art der Zurückweisung von Kants Freiheitstheorie nimmt bei diesen Kritikern nicht selten kuriose Züge an. So heißt es etwa, bei seinem Versuch, „die Möglichkeit menschlicher Willensfreiheit zu erklären" entwerfe Kant zwei Argumente, die „wohlbekannt" seien, weshalb sie „in bloßen Stichworten wiedergegeben werden [dürfen]". Das erste Argument beruhe auf Kants „Unterscheidung von Erscheinungen und Dingen-an-sich", das zweite Argument werde von Kant bloß angedeutet, wenn er das Sollen als „Faktum der Vernunft" vorausgesetzt und daraus auf unser Können und damit auf die „Wirklichkeit von Willensfreiheit" schließe (Held 2001, S. 125). Erstens wird hier vorausgesetzt, daß für die Rekonstruktion der Argumente, weil sie „wohlbekannt" sind, bloße „Stichworte" genügen. Doch die Argumente sind die Argumente eines bestimmten Textes. Die Bekanntheit von Texten führt gerade nicht dazu, daß wir uns über die darin verhandelten Argumente einig wären, weshalb wir gerade ständig über die wohlbekanntesten Texte die differenziertesten Auseinandersetzungen austragen. Diese Voraussetzung, daß die Argumente ohne die Texte zu haben wären, offenbart nur allzu deutlich, daß in Wahrheit nicht über den Text, sondern über den Mythos gesprochen wird, wie er über Generationen von Interpreten tradiert worden ist. Zweitens wird das Explanandum nicht nur unscharf formuliert und in der Konklusion des zweiten Arguments auch beiläufig noch verändert, es wird zugleich behauptet, daß die beiden Argumente dieselbe Funktion hätten. Doch das erste Argument dient genauer gesagt zunächst nur dazu, die logische Denkmöglichkeit von Erstursächlichkeit und nicht etwa die „Möglichkeit von menschlicher Willensfreiheit" zu beweisen. Um die Möglichkeit von menschlicher Willensfreiheit zu beweisen ist die transzendentalphilosophische Differenz allein nicht ausreichend, sondern es sind noch weitere Argumente erforderlich, die Kant im Rahmen der Auflösung der dritten Antinomie erst bei der Einführung des regulativen Prinzips entwickelt (s. da%u Kap. 6). Das zweite Argument ist trivial: Sollen impliziert Können. Dieses Argument kann und soll aber gerade nicht erklären, wie Freiheit trotz Determinismus möglich ist. Kant will damit nicht die deterministische Skepsis aus dem Weg räumen, er analysiert lediglich den uneingeschränkten Sollensanspruch reiner praktischer Vernunft, den, so würde Kant argumentieren, auch der Skeptiker als Vernunftwesen einräumen muß
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Gegen eine Zwei-Welten-Interpretation ist geltend gemacht worden, daß bereits die genauere Analyse des Kantischen Sprachgebrauchs ergebe, daß „Ding an sich" nur die Kurzform von „Ding an sich selbst betrachtet' ist und Kant jene Kurzform nur in einer geringen Anzahl der Fälle benutze (Prauss 31989, S. 16). Was bei Kant jedoch die seltene Ausnahme sei, gerate den Kantinterpreten zur Regel. Damit entgehe ihnen jedoch, daß „an sich selbst" keine nähere Bestimmung von „Ding" oder „Objekt" ist, sondern eine adverbiale Bestimmung zu „betrachtet". Anstelle jenes Reflexionsausdrucks trete bei den meisten Interpreten die Kurzform „Ding an sich". Doch die transzendentalphilosophische Reflexion bedeute gerade nicht die Hypostasierung jenes Dinges zu einem quasi-wirklichen Ding mit dem Quasi-Eigennamen „Ding-an-sich" (Prauss 31989, 5. 23-26; Allison 1978, S 48-54)* Die Vertreter beider Interpretationen müssen allerdings zugestehen, daß sich im Kantischen Text auch Aussagen finden lassen, die Anlaß für die jeweils andere Lesart geben. Von diesem Befund ausgehend, soll hier
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(s. da^u Kap. 3c). Es ist also noch nicht einmal „wohlbekannt", welchen Anspruch diese Argumente überhaupt rechtfertigen sollen, weshalb bereits hinsichtlich der Fragestellung nicht bloß „Stichworte" ausreichend sind. Dasselbe gilt aber auch drittens für Kants Argumente. Die Zwei-Welten-Interpretation an den zitierten Stellen ist rhetorisch erzwungen (Held 2001, S. 127) und es wird im Folgenden gezeigt, wie diese sinnvoll verständlich zu machen sind. Doch selbst wenn die ZweiWelten-Interpretation an diesen Stellen zuträfe, gesteht Held im Rückgriff auf Prauss selbst ein, daß der „ursprüngliche Sinn" von Kants Unterscheidung ein anderer gewesen ist. Was also spricht dagegen, bei diesem „ursprünglichen Sinn" anzuknüpfen? Hier fehlen die prinzipiellen Argumente. Kurz: Kants Fragestellung wird verfehlt, die Funktion und Bedeutung der Argumente falsch rekonstruiert und die Textstellen belegen nicht, was sie belegen sollen. Wenn aber die Rekonstruktion in keinem Punkt zutreffend ist, bedeutet das, daß die Suche nach einer anderen Freiheitstheorie voreilig ist. Kant selbst, so Held, biete eine alternative „Theorie" mit einem Satz in den Prolegomena an. Es zeigt sich, daß dieser Satz lediglich eine Behauptung ist. Zudem sei diese Behauptung auch noch präzisierungsbedürftig. Kant selbst liefert weder die Präzisierung noch eine Begründung dieser „Freiheitstheorie" (den., S. 132 f.). Man fragt sich, warum der Aufsatz „Kant (und nicht etwa .Held") über Willensfreiheit und Moralität" heißt und warum der Aufsatzband in dem der Text erscheint, den Titel trägt: „Systematische Ethik mit [und nicht etwa ,gegen^ Kant". Hat man die Theorie auf dieses Niveau heruntergeschraubt, fällt die Überwindung nicht schwer und es wird verständlich, warum man Kants Lösung für das Determinismusproblem als die „Allerbilligste" bezeichnet (Schlick 1978, J. 157 f.). Bescheidenheit wäre hier angemessener: Was es zunächst zu überwinden gilt, sind die eigenen Verständnisprobleme. Dann bemerkt man, daß sich diese Theorie nicht kurzerhand auf drei oder vier Seiten disqualifizieren läßt, sondern man letztlich bis zu den Prinzipien des transzendentalen Idealismus und einer universalistischen Moralphilosophie vordringen muß, um mit der Kritik anzusetzen. Ahnliche Mißverständnisse und Entstellungen von Kants Freiheitstheorie kann man auch bei Walter (1998, S. 20-23) und Wimmer (1990, S. 97-108) studieren. In dieser Verwendung findet man es ζ. B. noch bei Chipman (1992).
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zunächst gezeigt werden, wie die Einsicht der transzendentalen Ästhetik, daß Raum und Zeit subjektive Anschauungsformen eines endlichen Vernunftsubjektes sind, zu jener kritischen Differenz zwischen Erscheinungen und Dingen an sich selbst führt. Anschließend sollen die Argumente der Analytik rekonstruiert werden, die begründen, warum trotz der Einführung reiner Verstandesbegriffe keine sachhaltige Erkenntnis jenes transzendentalen Objektes möglich ist, auf das Kant mit seinem reduktiven Verfahren in der transzendentalen Ästhetik gestoßen war. Es wird sich herausstellen, daß alles, was eine kritisch geläuterte Vernunft zulassen darf, die widerspruchsfreie Denk- und nicht etwa Realmöglichkeit nicht-sinnlicher Objekte ist. Kant nennt sie „Noumena", „Verstandeswesen", mit der spezifischen Einschränkung „in negativer Bedeutung" (KrV, Β 306). Das Noumenon erhält als „Grenzbegriff' die Funktion (KrV, Β 310 f.), den Bereich anzuzeigen, der prinzipiell außerhalb der Erkenntnismöglichkeit eines endlichen Vernunftwesens liegt. Von entscheidender Bedeutung wird es sein, die Modalität bzw. den epistemischen Status des Noumenon festzuhalten: Als „problematischer Begriff ermöglicht er es, sowohl die Totalisierung der Position des Rationalismus (These) als auch die des Empirismus (Antithese) zurückzuweisen und damit ihren Anspruch auf Alleingültigkeit einzuschränken. Diese Einsicht leistet zugleich auch einen wichtigen Beitrag zur Beilegung jenes Interpretationsstreits: Wenn Kant in der Dialektik den Kategoriengebrauch ausweitet, so nicht, um einen Gegenstand zu bestimmen oder zu erkennen. Er behauptet nicht etwa die reale Möglichkeit oder die Wirklichkeit einer causa noumenon bewiesen zu haben und damit das Verhältnis von einem erfahrungsjenseitigen Ding an sich zu einer erfahrungsdiesseitigen Erscheinung bestimmt zu haben. Vielmehr wird, nachdem die Denkmöglichkeit der Freiheit gesichert ist,, mit analytischen und nicht etwa synthetischen Argumenten gezeigt, was wir implizieren, wenn wir den Menschen als Vernunftwesen denken. Dabei wird Kant tatsächlich Aussagen über Dinge machen, die jenseits möglicher Erfahrung sind, doch beansprucht er damit nicht etwas zu „erkennen", sondern lediglich zu „denken". Freiheit bleibt damit für die theoretische Vernunft immer nur eine regulative Idee, die keinen Anspruch auf Wahrheit erheben kann. Kant geht von der Voraussetzung aus, daß unser Erkenntnisvermögen aus zwei heterogenen Stämmen besteht: Verstand und Sinnlichkeit. Durch die Sinnlichkeit werden uns Gegenstände gegeben, durch den Verstand werden sie gedacht (KrV, Β 29). Ein solches Erkenntnisvermögen nennt Kant „endlich", weil es die Gegenstände, die es erkennt, nicht selbst hervorbringt und das Gegebene erst durch die Verstandesbegriffe (Kategorien) zu einer
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Einheit bringen muß. Nur dadurch, daß sich Begriffe und sinnliche Anschauung vereinigen, ist Erkenntnis möglich (KrV, Β 75 f.). Für die Einteilung der Dinge in Noumena und Phaenomena ist nun der Kontrastbegriff eines unendlichen Verstandes von fundamentaler Bedeutung. Ein derartiges Erkenntnisvermögen wäre nicht auf Gegebenes angewiesen, sondern würde die Gegenstände, die es erkennt, durch den Verstand selbsttätig hervorbringen und so unmittelbar anschauen. Bei einem unendlichen Erkenntnisvermögen entspränge Erkenntnis nicht durch die Vermitdung der Produkte jener zwei heterogener Quellen, Verstand und sinnlicher Anschauung, vielmehr gelangt es durch eine selbst produzierende „intellektuelle Anschauung" unmittelbar zur Erkenntnis. Bei einem solchen Verstand würden also das begriffliche Erfassen des Allgemeinen und der anschauliche bezug auf den Gegenstand zusammenfallen, indem er den Gegenstand, den es erkennt, auch selbst hervorbringt (KrV, Β 42 ff; Β 69; Β 72, Β 145, Β 311 f., Β 333 f ; KU, V 401-404 β 339B 344); 406 ff. (Β 348 ff.)). Doch das unendliche Erkenntnisvermögen dient Kant nur als Kontrastfolie zur endlichen Subjektivität. Wir können es lediglich widerspruchsfrei denken, aber seine reale Möglichkeit nicht erkennen (KrV, Λ 252, Β 310). Die Kritik eines solchen Erkenntnisvermögens wäre also nicht nur unnötig, da es als unendliches Vermögen seine Grenzen nicht zu überschreiten droht, sie ist auch unmöglich, weil wir über dieses Erkenntnisvermögen keine sachhaltigen Aussagen machen können. Die KrV beschränkt sich daher auf die Kritik der endlichen Erkenntnisart. Die Einteilung in Phaenomena und Noumena erhält ihr Fundament in der transzendentalen Ästhetik. Dort arbeitet Kant in reduktivem Verfahren die Prinzipien der Sinnlichkeit heraus, die notwendig jeder Anschauung zu Grunde liegen (KrV, Β 36). Wenn man von allen zufälligen subjektiven Beschaffenheiten und Inhalten der Anschauung absieht, bleiben Raum und Zeit als notwendige Formen der Anschauung zurück. Weil sie notwendige Bedingungen sind, können sie nicht aus der Erfahrung abgeleitet werden, sondern müssen ihr, damit sie überhaupt möglich ist, erkenntnislogisch vorausgehen (KrV, Β 37, Β 46). Die menschliche Sinnlichkeit ist also keine tabula rasa und erwirbt die Anschauungs formen nicht erst durch die Erfahrung. Vielmehr sind Raum und Zeit subjektive Formen. Wären sie objektiv, dann wären auch keine synthetischen Urteile α priori über äußere Objekte möglich. Dem setzt Kant die geometrische Erkenntnis entgegen, die einen Beweis dafür liefere, daß synthetische Urteile a priori über äußere Objekte nicht nur möglich, sondern sogar wirklich sind (KrV, Β 66). Dieses Ergebnis der transzendentalen Ästhetik hat nun weitreichende Konsequenzen: Wenn man in einem weiteren reduktiven Schritt nicht nur
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von den zufälligen Bedingungen der Gegenstandswahrnehmung „abstrahiert", sondern auch noch von den notwendigen Konstitutionsbedingungen, dann ergibt sich, daß Raum und Zeit „keine Eigenschaft irgend einiger Dinge an sich" darstellen. Sie sind nur die Anschauungsformen endlicher Vernunftsubjekte (KrV, Β 42, Β 49). Sie haben nur „empirische Realität"; transzendental betrachtet, unabhängig von einer sinnlichen Anschauung, kommt ihnen „Idealität" zu, d. h., daß sie nichts sind, wenn man von den Bedingungen endlicher Subjektivität absieht (KrV, Β 43 f., 51 f.). Aus diesem Grund weist Kant die Behauptung zurück, daß alle Dinge in Zeit und Raum sind. Vielmehr müsse dieser Satz auf die „Gegenstände der sinnlichen Anschauung" eingeschränkt werden und also lauten: Alle Dinge als Gegenstände der sinnlichen Λnschauung sind im Raum oder in der Zeit (ebd.). Die Konsequenz der transzendentalen Ästhetik ist daher jene kritische oder trans^endentalphilosophische Differenz zwischen Ding an sich und Erscheinung. In ihr kommt zum Ausdruck, daß die Gegenstände unserer Anschauung immer relativ auf uns als endliche Vernunftsubjekte sind und nicht etwa unabhängig davon erkannt werden können. Kant grenzt sie explizit von der „empirischen" Differenz zwischen Ding an sich und Erscheinung ab, die wir in vorphilosophischer Reflexion immer schon vollzogen haben (KrV, A 28 f., Β 44 f., Β 62 f., Β 69 f.; Fortschritte, XX 269 (Λ33)). Wenn wir einem empirischen Ding eine bestimmte Eigenschaft zusprechen, dann kommt das, „was in der allgemeinen Erfahrung, unter allen verschiedenen Lagen und Sinnen [...] so und nicht anders bestimmt ist", dem Gegenstand „an sich selbst zu". Das Ding an sich ist dasjenige an einem Gegenstand, was ihm „wesentlich anhängt und für jeden menschlichen Sinn überhaupt gilt" (KrV, Β 62 f.). Dagegen ist eine Erscheinung im empirischen Sinne dasjenige, was dem Ding „zufälliger Weise zukommt, indem es nicht auf die Beziehung der Sinnlichkeit überhaupt, sondern nur auf eine besondere Stellung oder Organisation dieses oder jenes Sinnes gültig ist". Mit der empirischen Differenz sind wir also dazu aufgefordert, nicht den ersten unserer Sinneseindrücke auch unvermittelt dem empirischen Gegenstand an sich selbst zuzuschreiben, sondern zu überprüfen, ob dieser Eindruck auch mit allen anderen Sinneswahrnehmungen zur Dekkung kommt. (Es geht also nicht um die Übereinstimmung mit anderen Subjekten, sondern mit meinen eigenen unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen). Dieses Vorgehen führt uns beispielsweise zu der Entdekkung, daß der Stab im Wasser, der uns optisch gebrochen erscheint, bei entsprechender taktiler Gegenprobe glatt ist.
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Man verläßt diese empirische Reflexionsart und tritt in die transzendentalphilosophische über, wenn man auf das „Empirische überhaupt"reflektiert und, „ohne [sich] an die Einstimmung desselben mit jedem Menschensinne zu kehren", fragt, „ob auch dieses einen Gegenstand an sich selbst [...] vorstelle" (KrV, Β 63, Hervorhebung J. B.j. Mit dem „Empirische[n] überhaupt" sind nun nicht mehr bestimmte empirische Eigenschaften, sondern Raum und Zeit gemeint als diejenigen subjektiven Bedingungen unter denen alle Erfahrungsgegenstände a priori notwendig stehen. Erst also wenn man sich fragt, ob diese apriorischen Bedingungen auch dem Gegenstand unabhängig von seiner Relation zu einem endlichen Vernunftsubjekt zukommen, hat man das transzendentale Reflexionsniveau erreicht. Der spezifische Unterschied zwischen transzendentalphilosophischer und empirischer Reflexion liegt also nicht darin, daß es sich ausschließlich bei der transzendentalphilosophischen um die „Beziehung der Vorstellung auf den Gegenstand" handelt. Auch geht es Kant hier, entgegen einer weit verbreiteten Meinung, nicht darum, daß auf der einen Seite zwei Objekte, das objektiv-physische und das subjektiv-psychische, als numerisch distinkt voneinander unterschieden sind, während es sich auf der anderen Seite um das numerisch identische Objekt handelt, das aus zwei Perspektiven betrachtet wird (Prauss 31989, S. 52; Allison 1983, S. 239; Pogge, 1991, S. 492). Vielmehr besteht der spezifische Unterschied schlicht darin, daß es auf der einen Seite um bestimmte empirische Eigenschaften von empirischen Gegenständen geht, auf der anderen um empirische Gegenständlichkeit überhaupt. Die empirische Frage fragt danach, ob eine bestimmte empirische Eigenschaft einem bestimmten Gegenstand der Erfahrung nur aufgrund einer bestimmten Relation zum Subjekt zukommt oder ob diese Eigenschaft sich auch durch alle anderen möglichen Sinneswahrnehmungen bestätigen läßt. Auch bei der transzendentalphilosophischen Differenz geht es um die Beziehung der Vorstellung, nämlich Raum und Zeit, auf den Gegenstand. Die Frage ist hier allerdings, ob die nicht-empirischen Bedingungen von empirischen Objekten ihnen auch unabhängig von ihrer Relation zu einer sinnlichen Anschauung zukommen. Kants Antwort auf diese Frage ist bekannt. Sowohl im empirischen als auch im transzendentalphilosophischen Urteil entsteht die Unbescheidenheit und Falschheit, wenn man sie nicht „auf ein bestimmtes Verhältnis dieser Gegenstände zum Subjekt" einschränkt (KrV, Β 70). Das empirische Urteil wird falsch, wenn man etwas dem Objekt an sich zuschreibt, was „diesem nur in Verhältnis auf die Sinne, oder überhaupt aufs Subjekt zukommt", das transzendentalphilosophische Urteil, wenn man, wie oben vorgeführt, den Satz: Alle Dinge
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sind in Raum und Zeit, nicht auf ihre Subjektrelation, die sinnliche Anschauung, einschränkt. Die transzendentalphilosophische Differenz ist also das Ergebnis einer kritischen Einschränkung des Geltungsbereiches der Aussagen und nicht etwa der Versuch, über ein erfahrungstranszendentes Jenseits positive Erkenntnisse zu machen. Wenn man nun wissen möchte, was der transzendentale Gegenstand sei, der nicht Gegenstand unserer sinnlichen Anschauung sein kann, dann ist die Analytik der KrV der Ort, an dem man sich nach einer Auskunft umhören muß. Die Auskunft fällt negativ aus: Eine Erkenntnis des Übersinnlichen bleibt für uns aus prinzipiellen Gründen unmöglich. Kant will in der transzendentalen Analytik beweisen, daß unsere reinen Verstandesbegriffe nur funktional in be^ug auf die sinnliche Anschauung sind. Genau dieses Ergebnis wird von ihm eigens hervorgehoben, um „eine schwer zu vermeidende Täuschung" zu verhindern: Auch wenn die Kategorien nicht empirischen Ursprungs sind, sondern aus der Spontaneität des Verstandes entspringen und nicht erst durch die Erfahrung erworben werden, können wir mit ihnen nicht auch sachhaltige Erkenntnis von übersinnlichen Gegenständen machen (KrV, Β 305). Positive, sachhaltige Erkenntnis würde voraussetzen, daß wir die reinen Verstandeskategorien auf einen schematisierten Gegenstand anwenden können. Doch alles, was der Verstand aus reiner Selbsttätigkeit hervorbringt, hat nur in bezug auf mögliche Erfahrung eine Bedeutung. Die Grundsätze des Verstandes enthalten nur das reine Schema möglicher Erfahrung, unabhängig von dieser sind sie leer. Die objektive Realität der Verstandesbegriffe läßt sich nicht bereits durch die „lahme Berufung" auf das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs beweisen. Für die objektive Realität eines Begriffes ist die Widerspruchsfreiheit nur eine notwendige, nicht aber auch schon hinreichende Bedingung. Wenn nach der realen Möglichkeit (und nicht etwa nur nach der Denkmöglichkeit) der Verstandesbegriffe gefragt wird, dann muß gezeigt werden, daß sie sich auf ein Objekt beziehen (KrV, Β 299, Β 349). Die objektive Realität etwa von „Größe", „Realität", „Substanz" und „Ursache" läßt sich also nicht durch analytische Erkenntnis a priori beweisen. Sie werden als Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrungsgegenständlichkeit überhaupt ausgewiesen. Versucht man nun die Kategorien auf nicht-empirische Gegenstände anzuwenden, stellt man fest, daß jenes „Dritte", die sinnliche Anschauung (KrV, Β 194), fehlt, die allein es ermöglicht, Gegenstände unter einen Begriff zu subsumieren. Daher muß der Begriff intelligibler Gegenstände immer leer bleiben und kann nicht positiv bestimmt werden (KrV, Β 315). Für eine positive Bestimmung müßten wir über eine nicht-sinnliche, intellektuelle Anschauung verfügen. Weil wir Menschen aber nicht intellektuell
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anschauen, „kann auch der Gebrauch der Kategorien keineswegs über die Grenze der Gegenstände der Erfahrung hinausreichen [...]" (KrV, Β 308). Kants entscheidende Einsicht der Analytik ist also, daß diese Begriffe objektive Realität haben, nicht insofern ihnen eine konkrete Materie korrespondiert, sondern indem sie die Anschauung (mathematische Grundsätze) oder Erfahrung (dynamische Grundsätze) als Formen eines Dinges überhaupt erst möglich machen (KrV, Β 301 f.). Sie sind insofern die notwendigen formalen Bedingungen von Erfahrungsgegenständen. Als Menschen erkennen wir Gegenstände nicht intuitiv in einer nichtsinnlichen Anschauung, sondern diskursiv durch Kategorien. Die Kategorien erschaffen nicht den Gegenstand, sondern sind immer auf eine sinnliche Anschauung bezogen (KrV, Β 311). Nur wenn wir unsere Verstandesbegriffe auf sinnlich Gegebenes beziehen und nicht etwa auf erfahrungstranszendente Gegenstände, stehen wir — Kants Metaphorik aufgreifend — auf „festem Boden" und befinden uns im „Land der Wahrheit" (KrV, Β 295). „Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung' (KrV, Β 34). Im Unterschied dazu nennt Kant „Erscheinungen, so fern sie als Gegenstände der Einheit der Kategorien gedacht werden [...] Phaenomena" (KrV, A 248). Kant unterscheidet also zwischen unbestimmten und bestimmten Erscheinungen, indem er die bestimmten Phaenomena nennt. Diese terminologische Unterscheidung führt auch auf einen wichtigen Unterschied in der Sache: Das Objekt, das durch den Verstandesbegriff bestimmt wird, ist die in der sinnlichen Anschauung gegebene Erscheinung. Der Gegenbegriff zu „Phaenomenon" ist „Noumenon". Und so wird strukturanalog auch das Objekt des Noumenon als das „Objekt einer »^/sinnlichen Anschauung" bestimmt (KrV, Β 307, Hervorhebung J. B.). Doch dies ist nur der Begriff des Noumenon „in positiver Bedeutung" (ebd.). Da wir als endliche Vernunftwesen nur über eine sinnliche Anschauung verfugen, ist uns die Erkenntnis des Objektes einer nichtsinnlichen Anschauung unmöglich. Genau dieser Sachverhalt wird gedacht, wenn Kant vom Noumenon „im negativen Verstände" spricht, das er - entgegen einer verbreiteten Meinung (Allison 1978, S. 54; Willaschek 1998, S. 337f.) - auch bereits in der ersten Auflage vom Noumenon in positiver Bedeutung unterschieden hat (KrV, 252, A 255). Mit diesem Begriff denken wir ein Ding, „sofern es nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist" (ebd.). Die zentrale zusammenfassende These der Analytik lautet daher: Der Verstand kann immer nur die „Form zu einer möglichen Erfahrung überhaupt" hervorbringen. Seine „Schwärmerei" läßt sich nur verhindern, indem der Verstandesgebrauch auf die sinnliche Anschauung einge-
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schränkt bleibt und ihm untersagt wird, die „Schranken der Sinnlichkeit" zu überschreiten (KrV, Β 303).47 Damit ist jeglicher nicht-empirischer Gebrauch der Verstandeskategorien sinnlos, weil es zu ihrer Anwendung immer der Funktion der Urteilskraft bedarf, die erst das Besondere unter den allgemeinen Begriff subsumiert. Wenn jedoch die sinnliche Anschauung ausbleibt, dann ist uns auch alle Subsumtion unmöglich, weil nichts gegeben wird, was sich unter einen Begriff subsumieren ließe (KrV, Β 304). Deshalb haben die reinen Verstandeskategorien keinen „transzendentalen Gebrauch" und sind ohne ein raum-zeitliches Schema nur leere „Gedankenformen". Erkenntniserweiternde (synthetische) Urteile lassen sich allein aus den Kategorien nicht gewinnen (KrV, Β 305). Doch damit — und hierin liegt Kants Einschränkung des Empirismus und sein positiver Anschluß an seine eigene philosophische Herkunft gibt er nicht auch schlechthin jede Rede von einem Noumenon auf. Die Einsicht, daß Raum und Zeit Anschauungsformen endlicher Vernunftsubjekte sind, und die widerspruchsfreie Denkmöglichkeit einer Anschauung, die nicht sinnlich, sondern intellektuell-schöpfend ist, ermöglicht den Gedanken, daß den raumzeitlich strukturierten Erscheinungen etwas zu Grunde liegt, was selbst nicht Erscheinung ist. Auf dieses Etwas stoßen wir also, wenn wir in transzendental-reduktivem Verfahren von den Bedingungen der Sinnlichkeit „abstrahieren" (KrV, Β 307). Dieses „Etwas", der „transzendentale Gegenstand", denkt der Verstand sich mit dem Begriff des „Noumenon in negativer Bedeutung'. Das transzendentale Objekt heißt „Noumenon", „Verstandeswesen", „weil die Vorstellung von ihm nicht sinnlich ist". Und weil die Vorstellung dieses Gegenstandes leer bleibt, dient der Begriff lediglich dazu, „die Grenzen unserer sinnlichen Erkenntnis zu bezeichnen" (KrV, Β 345). Wenn wir die Erkenntniseinheit von Begriff und Anschauung aufbrechen und von der Anschauung absehen, „so bleibt doch noch die Form des Denkens, d. i. die Art, dem Mannigfaltigen einer möglichen Anschauung einen Gegenstand zu bestimmen". Verstandeskategorien gehen also insofern über die sinnliche Anschauung hinaus, als sie „Objekte überhaupt denken", ohne sich dabei auf die sinnliche Anschauung einzuschränken (KrV, Β 309, Hervorhebung], B.). Auch wenn die reinen Kategorien also nicht von „transzendentalem Gebrauch" sind, haben sie doch „logische Bedeutung"
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Indem Kant den Verstandesgebrauch auf die sinnliche Anschauung einschränkt, ist aber zugleich auch die Möglichkeit einer Ontologie, die ihre sachhaltigen Aussagen nicht auf Erscheinungen eingrenzt, verwirkt. An ihre Stelle tritt nun die von Kant durchgeführte „Analytik des Verstandes" (KrV, Β 303). Damit erweist sich die „Revolution der Denkart" zugleich auch als die Revolution der herkömmlichen metaphysica generalis.
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(KrV, Β 186).48 Das Objekt kann jedoch nicht bestimmt werden, weil „bestimmen" heißt: synthetisch zu urteilen (Fortschritte, XX 268 (A 30)). Mit dem Begriff des „Noumenon in negativer Bedeutung" wird also nur jenes transzendentale Objekt gedacht (das sich immer gemäß den Kategorien vollzieht) aber nicht bestimmt. Doch dieser Begriff markiert nicht nur die Grenze der Sinnlichkeit, er steht auch zugleich für Kants Vermitdungsversuch von rationalistischer und empiristischer Philosophie. Zwar nimmt Kant den Begriff des „Noumenon" aus der rationalistischen Tradition auf, setzt sich aber, indem er ihn bloß noch in negativer Bedeutung zulassen will, zugleich von ihr ab. Er übt damit nicht nur fundamentale Kritik an Leibniz' platonisierender Monadenlehre, sondern auch an seiner eigenen vorkritischen Position von 1770 (De Mündt, II § 9.). Jede Rede von einem „Noumenon in positiver Bedeutung" muß Kant nun aus der Sicht der KrV als sinnlos zurückweisen. In aller Deutlichkeit bringt Kant dieses Negative seiner Reflexionsart zum Ausdruck, wenn er sagt, daß der Verstand, „Dinge an sich selbst (nicht als Erscheinungen betrachtet) Noumena nennt" (KrV, Β 312, Hervorhebung J. B.). Diese Noumena, die reinen Verstandeswesen, sind „nicht willkürlich erdichtet", sie sind, wenn man Kants Tafel des Nichts folgt, kein nihil negativum (Unding) (KrV, Β 348), vielmehr sind sie das Produkt einer philosophischen Reflexionsleistung, die, nachdem sie sich der subjektiven Konstitutionsmomente bewußt geworden ist, von ihnen auch wieder „abstrahieren" kann.49 Die kritische Absicht dieser Reflexion besteht darin, den Bereich wahrheitsfähiger Aussagen auf mögliche Anschauung einzuschränken. Hierin liegt auch der positive Nutzen der Transzendentalphilosophie, den Kant selbstkritisch in Zweifel gezogen hatte (KrV, Β 296): Denn aus der Erfahrung läßt sich die Grenze der Erkenntnis nicht bestimmen. Vielmehr läuft gerade der „bloß mit seinem empirischen Gebrauche beschäftigte Verstand" immer wieder Gefahr, seinen Anwendungsbereich zu verlassen und sich so in „Wahn" und „Blendwerk" zu verirren. Doch was 48
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Kant spricht auch davon, daß den Kategorien zwar „transzendentale Bedeutung" aber kein „transzendentaler Gebrauch" zukommt (KrV, Β 305). Kurz darauf heißt es jedoch, daß da, wo die „Zeiteinheit nicht angetroffen werden kann [...] alle Bedeutung der Kategorien völlig auffhört]" (KrV, Β 308, Hervorhebung], B.). Da Kant „Bedeutung" oft (und auch an dieser Stelle) gerade in dem Sinne verwendet, daß einem Begriff eine sinnliche Anschauung korrespondiert, was ja von den Kategorien in ihrem nicht-empirischen Gebrauch gerade nicht gesagt werden kann, muß „Bedeutung" hier in einem weiteren Sinne verstanden werden. Der Begriff der „logischen Bedeutung" macht deutlich, daß hier lediglich die widerspruchsfreie Denkmöglichkeit gemeint ist. Zur logischen Operation der Abstraktion vgl. Logik, § 6.
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empirischem Vernunftgebrauch verwehrt bleibt, eröffnet sich in trans^endentalphilosophischer Perspektive. Von hier aus erhellt sich, daß reine Verstandesbegriffe nur in bezug auf empirische Gegenstände objektive Gültigkeit besitzen. Damit gibt die Transzendentalphilosophie dem empirischen Verstand seinen Aufgabenbereich: Die Erkenntnis der Erscheinungen. Auf diese Weise gelingt Transzendentalphilosophie, was empirischem Verstand prinzipiell nicht gelingen kann: den Geltungsbereich der Verstandesgrundsätze zu definieren und damit das Wißbare vom prinzipiell nicht Wißbaren zu unterscheiden. Damit werden auch zugleich die Totalisierungsansprüche des Vertreters der These und des Vertreters der Antithese eingeschränkt. Erst ein derartig „geläuterter Verstand" kann sich seiner „Ansprüche" und seines „Besitzes" sicher sein (KrV] Β 297). Der transzendentalphilosophischen Reflexion ihren positiven Nutzen abzusprechen „wäre daher — wie Kant in der Vorrede treffend bemerkt — eben so viel als zu sagen, daß Polizei keinen positiven Nutzen schaffe" (KrV, Β xxv). Nun könnte man meinen, es sei „ganz willkürlich", daß Kant die Erkenntnisgegenstände eines endlichen Vernunftwesens „Phaenomena" nennt, weil sie nicht bloß von der Sinnlichkeit, sondern auch von unseren Verstandesbegriffen abhängig sind. Demnach hätte Kant ebenso gut mit umgekehrter Einseitigkeit verfahren und jene empirischen Dinge als „Noumena" bezeichnen können, „da sie ja gerade nach Kant nicht nur etwas sinnlich Angeschautes, sondern ebenso sehr auch etwas begrifflich Gedachtes sind" (Prauss 31989, S. 59, Hervorhebung]. B.). Doch mit diesem Einwand verkennt man gerade, daß ein „realer", ein sachhaltiger Gebrauch der Kategorien nur in be^ug auf die sinnliche Λη5ώαuung möglich ist. Kategorien „sind nur Regeln für einen Verstand, dessen ganzes Vermögen im Denken [und nicht etwa im Anschauen] besteht" (KrV, Β 145). Der Verstand leistet bei der Erkenntnis eines endlichen Wesens nur die Synthese des sinnlich-anschaulich Gegebenen und ist nicht etwa — um kontrastierend die Wendung aus der praktischen Philosophie aufzugreifen — für sich selbst theoretisch. Der Verstand ist bei seiner Erkenntnis immer auf die sinnliche Anschauung und nicht etwa auf sich selbst gerichtet. Deshalb ist das Produkt seiner Erkenntnis nicht ein reines Verstandesprodukt, eine positive sachhaltige Erkenntnis des Noumenon, sondern eine sachhaltige Erkenntnis dessen, was ihm durch sinnliche Anschauung vermittelt ist. Kant nennt den „unbestimmte [n] Gegenstand einer empirischen Anschauung [...] Erscheinung" (KrV, Β 34). Nun wird die Erscheinung dadurch, daß sie durch den Verstand bestimmt wird, nicht etwa zum
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Noumenon, sondern sie wird als Erscheinung erkannt. Genau darum heißt die erkannte Erscheinung nicht Noumenon, sondern Phaenomenon. Auch wenn der Verstand die Struktur von Gegenständlichkeit denken kann („Objekte überhaupt denken") (KrV, Β 309), geht er damit zwar über die sinnliche Anschauung hinaus, doch die logische Möglichkeit eines Begriffes bedeutet nicht auch schon, daß ihm ein Gegenstand korrespondiert; dies kann nur in bezug auf sinnliche Anschauung behauptet werden. Die Kategorien sind nur „Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung [und nicht etwa der Noumena]" (KrV, Β 197, Hervorhebung % T. aufgehoben J. B.j. Sie sind allerdings, so kann man ergänzen, durchaus Bedingungen der logischen Möglichkeit von Noumena. Der Begriff eines Noumenon in negativer Bedeutung ist also das Ergebnis einer Theorie vom endlichen Verstandessubjekt, dessen Verstand von seiner Art anzuschauen unabhängig ist. Wenn der einzig haltbare Begriff eines Noumenon negativ ist, ist auch verständlich, warum wir den transzendentalen Gegenstand nicht in irgendeiner Weise „bestimmen" oder „erkennen" können. Mit den Kategorien werden nicht positiv irgendwelche Eigenschaften erkannt, vielmehr wird mit ihnen nur die allgemeine Struktur von Gegenständlichkeit gedacht. Damit billigt Kant dem Noumenon weder den Status eines assertorischen oder gar apodiktischen Begriffs zu, vielmehr ist er lediglich dazu legitimiert, ihn als „problematischen Begriff" auszuweisen: als einen Begriff, der sich selbst nicht widerspricht (KrV, Β 310).50 Auf diesen problematischen Status des Noumenon stößt man auch, wenn man sich einmal der bisher ungestellten Frage zuwendet, warum Kant auf der einen Seite das Noumenon in negativer Bedeutung ein unbekanntes „Etwas" nennt, es aber auf der anderen Seite in der Tafel des „Nichts" als „ens rationis" klassifiziert (KrV, Β 348). Ein ens rationis ist ein „Leerer Begriff ohne Gegenstand", es ist „der Gegenstand eines Begriffs, dem gar keine anzugebende Anschauung korrespondiert" (KrV, Β 347). Genau ein solches Nichts ist ζ. B. ein Noumenon, wie Kant an selber Stelle ausdrücklich erklärt. Die Frage ist also, wie Noumena etwas und zugleich nichts sein können.
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Eine ausführliche Analyse der Begriffe „Ding an sich selbst", „Noumenon" und „transzendentaler Gegenstand" findet sich bei Willaschek, der eine Beschreibung des Kantischen Sprachgebrauchs im Noumena-Kapitel unternimmt (Willaschek 1998, S. 333-338). Allerdings will er den Text der ersten Auflage so verstehen, daß, wenn dort von „Noumenon" die Rede ist, immer das „Noumenon in positiver Bedeutung" gemeint sei (ders., S. 337f.). Kant spricht jedoch bereits in der ersten Auflage von dem Begriff eines Noumenon „der aber gar nicht positiv [ist]" (KrV, A 252) und sagt auch noch, daß das Noumenon als Grenzbegriff nur von „negativem Gebrauche" sei (KrV, A 255, Hervorhebung]. B.).
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Teil II. Sind Freiheit und Pradeterminisrnus vereinbar?
Eine Antwort ergibt sich, wenn man im Gegenzug zur Tafel des Nichts einmal versucht, die Tafel des Etwas zu entwickeln, die nach Kants Angaben „von selber folgt" (KrV, Β 348). Dabei macht man den bemerkenswerten Fund, daß jene vierte Klasse des Nichts, das nihil negativum, in seiner positiven Form als Etwas ein ens rationis ist. Das ens rationis (und im vorliegenden Fall das Noumenon) würde also sowohl in der Tafel des Nichts als auch in der des Etwas seinen Platz haben. Für dieses zweifache Auftreten des ens rationis gibt es einen sachlichen Grund. Ein nihil negativum ist „der Gegenstand eines Begriffs, der sich selbst widerspricht", ζ. B. der quadratische Kreis. Wenn man nun die vierte Klasse des Nichts in eine Klasse des Etwas umformt, geht man nicht etwa soweit, daß man diesem Begriff einen Gegenstand in der Anschauung korrespondieren läßt. In diesem Falle würde es sich um ein ens realis handeln, das sich bereits bei entsprechender Umformung aus der ersten Klassen des Nichts, dem ens rationis, ergibt. Vielmehr hebt man jene Widersprüchlichkeit des Begriffes auf und formt ihn in einen widerspruchsfreien Begriff um, ohne ihm auch schon einen Gegenstand in der Anschauung korrespondieren zu lassen. Damit hat man die Frage aber nur verschoben: Wie kann das ens rationis sowohl in der Tafel des Etwas als auch in der Tafel des Nichts seinen logischen Ort haben? Um diese Frage zu beantworten, muß man sich Klarheit darüber verschaffen, was es heißt, daß ein Begriff etwas und nicht nichts ist. Damit er als etwas bezeichnet werden kann, ist es ausreichend, daß ihm eine mögliche Anschauung korrespondiert. Dies kann bei einem widersprüchlichen Begriff wie dem quadratischen Kreis prinzipiell nicht der Fall sein. Bei einem ens rationis dagegen ist es möglich, daß ihm etwas in einer nicht-sinnlichen Anschauung korrespondiert. Deshalb kann er im Unterschied zum nihil negativum „nicht für unmöglich ausgegeben werden" (KrV, Β 347) Das nihil negativum unterscheidet sich also vom ens rationis darin, daß der Begriff widersprüchlich ist, weshalb es auch „der [realen] Möglichkeit entgegengesetzt [ist]" (KrV, Β 348). Formt man nun das nihil negativum in ein Etwas um, so erhält man ein ens rationis, einen Begriff, der sich selbst nicht widerspricht und damit der realen Möglichkeit nicht entgegengesetzt ist. Die Tatsache, daß das ens rationis sowohl in der Tafel des Nichts als auch in der Tafel des Etwas vorkommt, macht sehr gut deutlich, was es heißt, daß der Begriff des Noumenon problematisch ist. Es gibt in der sinnlichen Anschauung keinen ihm entsprechenden Gegenstand. Der Begriff ist aber in sich widerspruchsfrei denkbar und ebenso die Vorstellung von einer nichtsinnlichen Anschauung. Deshalb kann er „nicht unter die [realen] Mög-
5. Kapitel: Urteilsverkündung im Vemunftstreit
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lichkeiten gezählt werden [...], obgleich auch darum nicht für unmöglich ausgegeben werden" (KrV, Β 347). Von hier aus läßt sich nun auch eine Antwort auf die Frage geben, wie das Verhältnis zwischen Erscheinung und Ding an sich selbst zu bestimmen ist. Sind sie numerisch-existentiell different oder identisch? Zwei Aspekte desselben Gegenstandes oder zwei Dinge, eine Erscheinung und ein Ding an sich? Um behaupten zu können, daß sie identisch sind, müßte es möglich sein, mindestens ein identisches Prädikat ausweisen zu können. Doch weil mehr als der negative Begriff des Noumenon prinzipiell nicht zugelassen werden kann, ist es auch vollkommen aussichtslos, eine Identität assertorisch oder gar apodiktisch behaupten zu wollen. 51 Das bedeutet nun nicht etwa, daß die Gegenstände numerisch distinkt wären. Vielmehr ist es auch hier aus demselben Grund unmöglich, eine Verschiedenheit auszumachen. Wenn wir einem Gegenstand keine positiven Eigenschaften zuschreiben können und seine Existenz bloß problematisch angenommen wird, ist auch die Frage nach Identität und Ver51
Allison hat in seiner „Antwort auf seine Kritiker" dieses Problem erkannt und sieht sich dadurch zu einer Ergänzung seiner Interpretation genötigt. Er gesteht zu, daß die ZweiPerspektiven-Lesart „keinen Raum zu lassen scheint für die Konzeption eines einzelnen zugrundeliegenden Dinges, das betrachtet wird" (Allison 1996a, S. 16, Übersetzung], B.). Seiner neuen Einsicht, daß die beiden Reflexionsweisen (etwas als Erscheinung und an sich selbst zu betrachten) einen Gegenstand voraussetzen, der diesen zwei Perspektiven zugrunde liegt, will er damit Rechnung tragen, daß er zwischen dem Ding an sich selbst betrachtet auf der einen und dem transzendentalen Gegenstand auf der anderen Seite unterscheidet. Dieses Ding, auf das sich beide Perspektiven beziehen, sei das „transzendentale[n] Objekt = x". Damit weist er dann nicht etwa auch die Verbindung zwischen dem Ding an sich selbst und dem transzendentalen Objekt zurück, vielmehr wird nur eine weitere Differenzierung erforderlich zwischen: (a) Dem transzendentalen Objekt und (b) dem Ding an sich selbst, das durch reine Kategorien gedacht wird. Der Unterschied zwischen (a) und (b) bestehe darin, daß das transzendentale Objekt für unseren endlichen Verstand immer unzugänglich bleibt, wir das Ding an sich selbst dagegen immerhin problematisch denken können (ebd.). Diese „Interpretation" kann aber bereits deshalb nicht überzeugen, weil sie so gut wie keine Basis im Text findet. Die einzige Passage, in der Kant explizit zwischen Noumenon und transzendentalem Gegenstand unterscheidet, ist von Kant nicht in die zweite Auflage übernommen worden (KrV, A 249A 253). Weit wichtiger jedoch: Bei genauerer Lektüre dieser Passage stellt sich heraus, daß Kant hier nicht das Noumenon in negativer, sondern in positiver Bedeutung gemeint haben muß. Denn nur vom Noumenon in positiver Bedeutung würden wir wissen, „was es an sich selbst sei". Das Noumenon in negativer Bedeutung oder wie Kant auch sagt, die „Dinge an sich selbst (nicht als Erscheinungen betrachtet)", sind nur ein „unbekanntes Etwas" (KrV, Β 312). Nichts anderes wird auch über den transzendentalen Gegenstand ausgesagt, nämlich daß er „der gänzlich unbestimmte Gedanke von etwas überhaupt [ist]" (KrV, A 253). Es ist daher naheliegend, den Text zu ergänzen und „Noumenon" durch „in positiver Bedeutung" näher zu bestimmen. Dafür spricht auch, daß Kant genau diese Ergänzung von „Noumenon" im darauffolgenden Absatz tatsächlich vornimmt, den er ansonsten unverändert in die zweite Auflage übernommen hat.
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schiedenheit sinnlos. „Man kann zwar auf die Frage, was ein transzendentaler Gegenstand für eine Beschaffenheit habe, keine Antwort geben, nämlich, was er sei, aber wohl, daß die Frage selbst nichts sei, darum, weil kein Gegenstand derselben gegeben worden" (KrV, Β 506). Damit ist ein schnelles Wort über jenen Konflikt zwischen „ZweiPerspektiven oder Zwei-Welten" gesprochen: Er ist prinzipiell unentscheidbar, weil bereits die Frage nicht sinnvoll gestellt werden kann (vgl. Pogge 1991, 496f.). Die widerspruchsfreie Denkmöglichkeit eines Noumenon ermöglicht es jedoch, daß wir uns etwa einen Gott denken können, auf dem als „ens extramundanum" „alle empirische Realität ihre höchste und notwendige Einheit gründet" (KrV, Β 703). Aber nicht nur Gott sowie die Unsterblichkeit der Seele, sondern auch das dritte metaphysische Grundproblem, der absolute (transzendentale) Freiheitsbegriff als Erstursächlichkeit, läßt sich widerspruchsfrei verständlich machen und erhält aus theoretischer Perspektive den Status eines problematischen Begriffs. Bei der Willensfreiheit des Menschen (als einem Fall von möglicher Erstursächlichkeit) ergibt sich nun allerdings noch das besondere Problem, daß wir uns ein Wesen denken, das nicht als ens extramundanum, sondern als ein Wesen in der Welt eine Ursachenkette aus absoluter Spontaneität anfängt. Dieser Gedanke hat Kant im Rahmen der Auflösung der dritten Antinomie Explikationsleistung abgefordert, die den Umfang der Auflösungen der anderen drei Antinomien um ein vielfaches übersteigt; dieses besondere Problem, der Anwendung des regulativen Prinzips der Freiheit in dieser Welt, wird das Thema des nächsten Kapitels sein. Hier gilt es bilanzierend festzuhalten, daß durch die problematische Annahme eines Noumenon nicht etwa die Erkenntnis über mögliche Erfahrung ausgedehnt wird. Das Noumenon hat vielmehr selbst eine erkenntniskritische Schutzfunktion: Als Gn?»^egriff zeigt es jenen Bereich an, der uns prinzipiell für positive Erkenntnis versperrt bleiben muß. Damit verhindert es, daß wir „die sinnliche Anschauung [...] bis über die Dinge an sich selbst aus[...jdehnen" und schränkt so die „Anmaßungen der Sinnlichkeit" ein (KrV, Β 310 f.). Auf diese Weise bewahrt uns das Noumenon als Grenzbegriff vor der irrtümlichen Meinung — und das ist für die Auflösung der dritten Antinomie von fundamentaler Bedeutung —, wir könnten unsere Erkenntnis auch noch auf alles das ausdehnen, was die Vernunft zu denken vermag. Das ist im Fall der dritten Antinomie:. eine absolut spontane Ursache und eine unendliche Ursachenkette.
6. Kapitel: Empirischer Gebrauch des regulativen Prinzips
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6. Kapitel: Empirischer Gebrauch des regulativen Prinzips: Die Vereinigung von Freiheit und Prädeterminismus Die Leitfrage, die der Auflösung der einzelnen Antinomien zugrunde liegt, zielt auf die genaue Spezifizierung des regulativen Prinzips, das sich aus den vier kosmologischen Ideen für den empirischen Gebrauch der Vernunft gewinnen läßt. Während Kant die Frage nach dem empirischen Gebrauch des regulativen Prinzips bei der ersten und vierten Antinomie in einem ungefähr sechsseitigem und bei der \weiten sogar nur in einem vierseitigen Textstück beantwortet, ist die Antwort bei der dritten Antinomie selbst noch einmal in drei Teile gegliedert und erreicht mit sechsundzwanzig Seiten den vier- bzw. sechseinhalbfachen Umfang. Dieses quantitative Ungleichgewicht hat manch einen zu der Behauptung veranlaßt, Kants primäres Interesse habe bei der dritten Antinomie gelegen. Etwas vorsichtiger und sachlich angemessener kann man sagen, daß sich bei der dritten Antinomie eine Schwierigkeit ergibt, die sie von allen anderen fundamental unterscheidet. Diese Schwierigkeit hat Kant eine ausführliche Erklärungsleistung abverlangt. Tatsächlich spricht Kant auch in bezug auf die ersten beiden Teile dieser Auflösung von dem „Schattenriß", bei dem er lediglich die Umrisse genau herausarbeitet, um ihm im dritten Abschnitt eine genaue „Erläuterung" folgen zu lassen, in der er sich den Details zuwendet (KrV, Β 570). Die Auflösung der dritten Antinomie unterscheidet sich von der Antinomie der Weltgröße und der Teilbarkeit insofern, als hier sowohl der These als auch der Antithese stattgegeben wird. Daraus resultiert die besondere Schwierigkeit, wie beide scheinbar widersprüchliche Prinzipien zugleich auf dieselbe Erscheinung angewendet werden können. Hinzu kommt - und darin liegt der Grund, warum sie sich auch von der vierten Antinomie in signifikanter Weise unterscheidet, - daß die Spontaneität nicht einem Wesen zugeschrieben wird, das als „ens extramundanum" außerhalb der Sinnenwelt angesetzt wird (KrV, Β 589). Vielmehr soll es möglich sein, Freiheit in der Welt widerspruchsfrei zu denken. Damit ist auch bereits das eigentliche Beweisziel für die Auflösung der dritten Antinomie benannt: Es soll gezeigt werden, „daß Natur der Kausalität aus Freiheit [...] nicht widerstreite" (KrV, Β 586). Das exklusive „Oder" in dem Satz „eine jede Wirkung in der Welt [ist] entweder ms Natur oder aus Freiheit" soll in ein inklusives umgewandelt werden, so daß „beides in verschiedener Beziehung bei einer und derselben Begebenheit zugleich stattfinden könne" (KrV, Β 565). Kant läßt keinen Zweifel daran, daß er mit der Auflösung weder die Wirklichkeit noch die reale Möglichkeit der
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Freiheit beweisen will (KrV, Β 586). Beides schließt er aus prinzipiellen Gründen aus. Die Wirklichkeit der Freiheit zu beweisen hieße, aus der Erfahrung auf eine Kausalität schließen zu wollen, die prinzipiell nicht in der Naturerfahrung anzutreffen ist. Dem transzendentalen Ansatz folgend die reale Möglichkeit der Freiheit zu beweisen, ist ebenso erfolglos, weil der Freiheit gerade keine Funktion in bezug auf die Naturerfahrung zukommt. Die Freiheitskausalität ist, pointiert gesagt, der Bedingung der Möglichkeit von Naturerfahrung gerade zuwider. Im Unterschied zu den Kategorien des Verstandes ließ sich Freiheit nicht durch „eine korrespondierende Anschauung beleg[en]". Allein durch Begriffsanalyse, durch analytische Urteile a priori, läßt sich die Möglichkeit der Freiheit nicht erkennen. Weder die Wirklichkeit noch die reale Möglichkeit der Freiheit läßt sich also theoretisch beweisen. Daher schränkt Kant sein Beweisziel dahingehend ein, daß sich neben der Naturkausalität auch noch eine Kausalität aus Freiheit widerspruchsfrei denken läßt. Damit erhält Freiheit den Status eines problematischen und nicht etwa assertorischen oder gar apodiktischen Begriffs. Aber mit welchem Recht setzt Kant die Gültigkeit der Naturkausalität voraus? Es wird erforderlich sein, sich Kants Beweis des Grundsatzes der Kausalität genauer anzusehen. Dieser Grundsatz nämlich scheint es zu sein, mit dem Kant Freiheit als Erstursächlichkeit vereinbaren will. Auf ihn jedenfalls bezieht er sich im speziellen Auflösungskapitel der dritten Antinomie, wenn er sagt, daß die „Richtigkeit jenes Grundsatzes, von dem durchgängigen Zusammenhange aller Begebenheiten der Sinnenwelt, nach unwandelbaren Naturgesetzen [...] als ein Grundsatz der transzendentalen Analytik fest [steht]" (KrV, Β 564, Hervorhebung]. B.). Die Frage der Auflösung der dritten Antinomie ist, ob trotz der Gültigkeit dieses Grundsatzes bei „eben derselben Wirkung, die nach der Natur bestimmt ist, auch Freiheit stattfinden könne, oder diese durch jene unverletzliche Regel völlig ausgeschlossen sei" (ebd.). Dieser Grundsatz „scheint" es zu sein, weil an anderer Stelle es so aussieht, als wolle Kant die Freiheit nicht mit seinem Grundsatz der Transzendentalphilosophie, sondern mit den speziellen Kausalgesetzen der Psychologie bzw. einem psychologischen Determinismus vereinbaren (vgl. Ζ Β. KrV, Β 577f.; KpV, A 177f.). Man hat Kant vorgeworfen, daß er, indem er es versäumt, im Auflösungsabschnitt die speziellen Kausalgesetze der empirischen Wissenschaften und das Kausalprinzip seiner Transzendentalphilosophie auseinanderzuhalten, nicht hinreichend deutlich mache, von welcher Instanz die Bedrohung der Freiheit letztlich ausgehe (Ertl 1998, S. 140 f.).
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Ein noch tiefgreifenderer Einwand setzt beim Kausalprinzip selbst an: Demnach beruhe der Beweis der ^weiten Analogie auf einem „non-sequitur von betäubender Grobheit" (Strawson 1981, S. 115, Lovejoj 1967). Wenn dieser Einwand Recht behielte, dann würde Kant ungerechtfertigter Weise den Grundsatz der Kausalität in Anspruch nehmen, dessen Gültigkeit er doch bei der Auflösung voraussetzt und der das Problem der Vereinbarkeit überhaupt entstehen läßt. Wenn es zutrifft, daß jener Grundsatz der Kausalität unhaltbar ist, dann würde sich auch das Auflösungsproblem in anderer Weise stellen. Es wäre dann unklar geworden, womit Freiheit überhaupt vereinbart werden soll. Man kann allerdings nicht schon aus dem vermeintlichen Scheitern des Beweises der ^weiten Analogie die Konsequenz ziehen, daß damit die Wahrheit der absoluten Freiheit bewiesen wäre und Kant nun von jeglichen VereinbarkeitsObligationen dispensiert wäre (Ortwein 1983, S, 113 f.). Zum einen bedeutet das faktische Scheitern des Beweises noch nicht dessen prinzipielle Unmöglichkeit, zum anderen ist auch gar nicht ausgemacht, ob nicht auch andere Determinismuskonzepte in Frage kämen, mit denen die Vereinbarkeit der Freiheit erst noch zu beweisen wäre. Es ist von entscheidender Bedeutung sich klarzumachen, daß Kant nicht wie gegenwärtige Kompatibilisten einen relativen Freiheitsbegriff, der lediglich die Fähigkeit anders handeln zu können impliziert (Handlungsfreiheit), mit einem auf psychologischen, physiologischen oder psychophysischen Gesetzen beruhenden Determinismus vereinbaren will. Kants Kompatibilismus setzt einen transzendentalen Determinismus voraus, um diesen mit einem absoluten Freiheitsbegriff zu vereinbaren. Es ist daher naheliegend anzunehmen, daß Kant die Vereinbarkeit mit einem Determinismus, der auf die Kenntnis spezieller empirischer Gesetze setzt, gar nicht bewiesen hat. Doch genau diesen Anspruch erhebt Kant und glaubt ihn ohne weitere Zusatzargumente aufrechterhalten zu können. Es ist unklar, wie Kant überhaupt zu der Annahme eines empirischen Determinismus kommen konnte, und es ist vielfach behauptet worden, Kant würde zu Unrecht mit der Gültigkeit seines Grundsatzes der Kausalität auch zugleich das Bestehen eines empirischen Determinismus voraussetzen. Wie Kant dennoch der Meinung sein konnte, Freiheit auch mit einem psychologischen Determinismus vereinigt zu haben, wird sich im Rahmen dieser Untersuchung zeigen. Um den Anspruch und die Reichweite von Kants Grundsatz der Kausalität richtig beurteilen zu können, muß hier in einem ersten Abschnitt (a) geklärt werden, welches „Naturgesetz" Kant eigentlich bewiesen hat. Erst von hier aus kann verständlich werden, wie sich für Kant das Problem der Vereinbarkeit überhaupt stellt. Der zweite Abschnitt (b) wird dann, die
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Chronologie des Kantischen Textes aufnehmend, in einer detaillierten Rekonstruktion Kants Vereinigungsstrategie darlegen. Auf diese Weise läßt sich zeigen, daß ein großer Teil der Kritik, die sich gegen Kants Argumentation gerichtet hat, keine Basis im Text hat. (a) Der transzendentale Grundsatz der Kausalität Die Grundsätze des Verstandes sind Bedingungen der Möglichkeit dafür, daß wir überhaupt Erkenntnis von einem Gegenstand machen können. Damit sind sie keine empirischen Grundsätze, werden nicht durch die Erfahrung erkannt, sondern gehen logisch und nicht etwa zeitlich jeder Erkenntnis voraus. So wie Raum und Zeit die notwendigen Formen unserer sinnlichen Anschauung sind, liegen die Grundsätze des Verstandes als notwendige Fundamentalaussagen der empirischen Erkenntnis zugrunde. Der Kategorientafel folgend entwickelt Kant vier epistemische Klassen: Anschauung, Wahrnehmung, Erfahrung und empirisches Denken überhaupt. Diese Klassen bestehen nicht unabhängig voneinander, sondern bauen in der Reihenfolge aufeinander auf. Wir können also beispielsweise sehr wohl Wahrnehmungen machen ohne Erfahrung, nicht aber Erfahrung ohne Wahrnehmung. Um den „Unterschied in Ansehung der Evidenz und der Ausübung" der Klassen der Grundsätze anzuzeigen, hat Kant ihnen eine nähere Bestimmung hinzugefügt: Ein Grundsatz der Anschauung ist ein „Axiom", ein Grundsatz der Wahrnehmung eine „Antizipation", die der Erfahrung heißen „Analogien" und die des empirischen Denkens „Postulate" (KrV', Β 200). Man kann die vier Klassen hinsichtlich ihrer Anwendung auf mögliche Erfahrung wiederum in zwei Paare einteilen: Das erste Grundsatzpaar heißt „mathematisch", weil es die Anwendung der Mathematik auf Erscheinungen legitimiert. Mit Hilfe der Mathematik läßt sich in reiner Anschauung a priori die Größe von Gegenständen konstruieren. Kants zentrale These in diesem Zusammenhang ist, daß Erscheinungen, die nicht als Größen konstruierbar sind, keine objektiven Gegenstände sind. Das zweite Grundsatzpaar heißt „dynamisch"und hat es nicht mit der Größe, sondern mit dem Dasein (Existenz) einer Erscheinung zu tun. Das Dasein läßt sich nicht in reiner Anschauung a priori berechnen. Um das Dasein einer Erscheinung zu bestimmen, bedarf es der „Empfindung" und also empirischer und nicht etwa reiner Anschauung (KrV] Β 266). Das bedeutet aber noch nicht, daß Kant hinsichtlich des Daseins der Erscheinungen seinen Anspruch auf eine nicht-empirische Wissenschaft aufgeben
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müßte. Vielmehr läßt sich a priori feststellen, in welchem „1Verhältnis" Erscheinungen zueinander stehen müssen, wenn sie Gegenstand der Erfahrung sein sollen (KrV, Β 220). Der für die Auflösung der dritten Antinomie entscheidende Grundsatz ist der „Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität". Er gehört als zweiter von drei Grundsätzen zu den Analogien der Erfahrung. Bereits die klare Explikation dessen, was „Analogie der Erfahrung" heißt, wird zeigen können, welchen Anspruch Kant mit seinem ,Grundsatz der Kausalität' erhebt: In der Mathematik ist eine Analogie die „Gleichheit zweener quantitative[r] [...] Verhältnisse" (KrV', Β 222): Vier verhält sich zu zwölf wie sechs zu achtzehn. Die transzendentalphilosophische Analogie drückt dagegen die Gleichheit zweier „qualitative[r] Verhältnisse" aus. Während ich bei einer Analogie in der Mathematik bei drei gegeben Faktoren den vierten berechnen und so erkennen kann, ist dies bei dem Grundsatz der Erfahrung nicht möglich. Er gibt uns nur eine „Regel'\ nach der wir das „Verhältnis" zu jenem nicht unmittelbar in der Wahrnehmung gegebenen Relatum bestimmen können, nicht aber auch dieses Relatum selbst. Daher ist die Analogie der Erfahrung „nur eine Regel [...], nach welcher aus Wahrnehmungen Einheit der Erfahrung [...] entspringen soll" (ebd.). Darin besteht auch zugleich der wesentliche Evidenzunterschied zu dem ersten Grundsatzpaar, den mathematischen Grundsätzen. Denn nur den mathematischen Grundsätzen konnte „apodiktische" oder unbedingte Notwendigkeit zugesprochen werden, weil Erscheinungen hinsichtlich ihrer raumzeitlichen Erstreckung (extensive Größe) und ihrer Empfindungsstärke (intensive Größe) „nach Regeln einer mathematischen Synthesis erzeugt werden [können]" (KrV, Β 221). Aus diesem Grund, weil wir die Erscheinungen als Größen a priori erzeugen können, sind die mathematischen Grundsätze „konstitutive" und nicht etwa regulative Grundsätze. Dies gilt nun nicht — und das ist entscheidend — für die dynamischen Grundsätze und damit nicht für die Analogien der Erfahrung. Auch sie sind zwar a priori notwendig, „aber nur unter der Bedingung des empirischen Denkens in einer Erfahrung [...]" (KrV, Β 199). Wir können die Wahrnehmung der Ursache nicht in reiner oder gar empirischer Anschauung konstruieren. Vielmehr können wir aus den „drei gegebenen Gliedern nur das Verhältnis zu einem vierten, nicht aber dieses vierte Glied selbst erkennen und a priori geben [...]". Die zweite Analogie der Erfahrung stellt lediglich eine „Regel" bereit, nach der wir dieses vierte Glied „in der Erfahrung [...] suchen und ein Merkmal, es in derselben aufzufinden". Weil anhand dieser Regel sich die Erscheinungen nicht erzeugen lassen, wie es bei den mathematischen Grundsätzen der Fall ist, ist der
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Grundsatz der Analogie „nicht konstitutiv, sondern bloß regulativ" (KrV, Β 222f.). Die Auffindung der Ursachen, auf die das Dasein (Existenz) einer Erscheinung zurückzuführen ist, ist nicht die Sache reiner Anschauung, sondern empirischer Forschung. Es ist von großer Wichtigkeit, sich dieses Ergebnis zu notieren, damit man nicht fälschlich unterstellt, Kant habe mit seinem Grundsatz der Kausalität auch bereits das Bestehen spezieller Kausalgesetze bewiesen. Spezielle Kausalgesetze lassen sich nicht aus transzendentalphilosophischer Reflexion ableiten. „Es muß Erfahrung dazu kommen", um sie zu erkennen. Aber wie Erfahrung überhaupt zustande kommen kann, davon „geben allein jene Gesetze a priori Belehrung" (KrV, Β 165). Es wäre falsch, wenn man meinte, Kant würde behaupten, daß wir im Besitz spezieller Kausalgesetze sein müßten, um ein Urteil, das eine objektive Zeitfolge ausdrückt, treffen zu können (Guyer 1987, S. 252). Kant sagt vielmehr, daß, wenn wir ein Ereignis erfahren, wir voraussetzen müssen, daß es eine Ursache hat. Die speziellen Kausalgesetze müssen erst noch aufgesucht werden. Damit ist nicht auch schon garantiert, daß wir derartige Gesetze finden werden. 52 Indessen sind die Grundsätze der Analogien der Erfahrung (wie auch die Postulate des empirischen Denkens) in einer anderen Beziehung ebenfalls konstitutiv. Denn, indem sie die Begriffe der Erfahrung möglich machen, sind sie konstitutiv in bezug auf unsere Erfahrung (KrV, Β 692). Die Analogien geben eine Regel, wie „aus Wahrnehmungen Einheit der Erfahrung (nicht wie Wahrnehmung selbst, als empirische Anschauung überhaupt) entspringen soll" (KrV, Β 222). Die Grundsätze der Analogien sind also regulativ in bezug auf die Anschauung und konstitutiv in bezug auf die Erfahrung. Weil die dynamischen Grundsätze durch Begriffe konstitutiv sind, sagt Kant, daß ihre Gewißheit „diskursiv" sex und nicht etwa „intuitiv", wie es bei den mathematischen Grundsätzen der Fall ist, die konstitutiv durch reine Anschauung sind (KrV, Β 199 ff, Β 223). Soviel zum ersten Teil des Titels Analogie der Erfahrung. Wenn Kant im Zusammenhang mit den Analogien von „Erfahrung" spricht, dann meint er nicht den weiten Begriff von Erfahrung, der alle empirischen Urteile umfaßt, sondern nur die Teilklasse der objektiven Urteile. Mit einem bloßen Wahrnehmungsurteil wie ,,[w]enn ich einen Körper trage, fühle ich einen Druck der Schwere" (KrV, Β 142) wird keine objektive Erkenntnis ausgedrückt. Die Verknüpfung von Subjekt und Prädikat ist nicht notwendig, sondern zufällig, weil sie von den subjektiven Bedingungen abhängig ist. 52
Einen hilfreichen Forschungsbericht zur Kausalitätsdebatte bei Kant findet man bei Ertl 1998, i. 36-86.
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Im Unterschied dazu wird bei Urteilen, die eine Erfahrung im engeren Sinne ausdrücken, ein Anspruch auf objektives Wissen erhoben: „Der Körper ist schwer". Die Beziehung, die zwischen Subjekt und Prädikat behauptet wird, ist nicht subjektiv zufällig, sondern objektiv notwendig (ebd.). Das erste entscheidende Argument liefert Kant, wenn er das Prinzip beweist, das allen drei Analogien gleichermaßen zugrunde liegt: „Erfahrung ist nur durch die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich" (KrV, Β 218). Kant beweist dieses Prinzip in vier Schritten (KrV, Β 218 f.): In einem ersten Schritt erläutert er den Begriff der Erfahrung in jenem oben gemeinten engeren Sinne als eine „Erkenntnis, [die] durch Wahrnehmungen ein Objekt bestimmt". Die in ihrer zeitlichen Ordnung unbestimmten Wahrnehmungen müssen noch in einen zeitlichen Zusammenhang gebracht werden, der notwendig (unumkehrbar) ist, damit wir davon sprechen können, eine Erfahrung gemacht zu haben. Von dieser Bestimmung ausgehend argumentiert er in einem zweiten Schritt, daß die Erfahrung nicht auf dem bloßen Vernehmen von Sinnesdaten beruhen kann, weil Wahrnehmungen „nur zufälliger Weise zu einander [kommen]". Das heißt, daß aus den Wahrnehmungen keine „Notwendigkeit ihrer Verknüpfung" abgeleitet werden kann. Daraus ergibt sich, daß Erfahrung ohne nicht-empirische Begriffe nicht auskommt, denn, so Kants dritter Argumentationsschritt, die Erkenntnis eines Objektes soll gerade das Verhältnis der Wahrnehmungen nicht bloß wiedergeben, wie es in der Zeit zufällig zusammengestellt wird, sondern „wie es objektiv in der Zeit ist". Nun kann aber die „Zeit selbst [...] nicht wahrgenommen werden", weshalb es unmöglich ist, daß die zeitliche Ordnung bereits in der Wahrnehmung mitgegeben ist. Wenn also eine zeitliche Ordnung der Objekte möglich sein soll, dann muß sie „durch a priori verknüpfende Begriffe [...] geschehen". Damit ist Kants Beweis des Prinzips, das allen Analogien der Erfahrung zugrunde liegt, nahezu abgeschlossen. In einem vierten und letzten Schritt muß er nur noch auf die in jenen „a priori verknüpfende[n] Begriffen" implizierte „Notwendigkeit" hinweisen, um schließen zu können, daß „Erfahrung nur durch eine Vorstellung der notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich [ist]" (KrV, Β 218 f.). Von diesem Ergebnis ausgehend kann Kant nun die drei Modalitäten, nach denen die objektive Bestimmung des Zeitverhältnisses vollzogen wird, thematisieren. Die drei Modalitäten sind: „Beharrlichkeit", „Folge" und „Zugleichsein". Damit sind auch die Themen der drei Erfahrungsgrundsätze ihrer Reihenfolge nach benannt. Der Grundsatz der Kausalität lautet: „Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüp-
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fung der Ursache und der Wirkung" (KrV, Β 232). Dieser Grundsatz setzt den ersten Grundsatz der „Beharrlichkeit der Substanz" voraus. Denn der Begriff der „Veränderung" beinhaltet, daß „eben dasselbe Subjekt mit zwei entgegengesetzten Bestimmungen als existierend, mithin als beharrend1 gedacht wird (KrV, Β 233, Hervorhebung J. B.). Die Beharrlichkeit der Substanz ist insofern die notwendige Bedingung dafür, daß überhaupt eine objektive Zeitfolge möglich ist. Aus der Tatsache, daß unsere subjektiven Wahrnehmungen „jederzeit sukzessiv" sind, können wir nicht schließen, daß diese Sukzession auch objektiv ist (KrV, Β 225). Vielmehr müssen wir, um ein Ereignis E2 als die Folge von Ei zu identifizieren, etwas voraussetzen, das als Identisches beiden Ereignissen zugrunde liegt. Deshalb sagt Kant, daß prinzipiell ,,[n]ur in dem Beharrlichen [...] Zeitverhältnisse möglich [sind]" (KrV, Β 226). Kants Beweis des Grundsatzes der Kausalität erfolgt in fünf Schritten (KrV, Β 233 f.): Kant setzt erstens voraus, daß wir Veränderung an einem Gegenstand wahrnehmen. Wir bemerken etwa, daß ein Körper sich bewegt, der sich vorher nicht bewegt hat. Hier werden also demselben Körper an zwei unterschiedlichen Zeitpunkten zwei entgegengesetzte Prädikate zugeschrieben. In einem zweiten Schritt will Kant nun zeigen, daß „durch die bloße Wahrnehmung das objektive Verhältnis der einanderfolgenden Erscheinungen unbestimmt [bleibt]": Die Einbildungskraft, die die Verknüpfung der Wahrnehmungen leistet, ist bei der Reihenfolge der Verknüpfung nicht festgelegt. Sie kann das Ruhen des Körpers auf die Bewegung folgen lassen oder die Bewegung auf das Ruhen. Die empirische Anschauung der Gegenstände weist den Erscheinungen nicht auch unmittelbar ihre Zeitstelle zu, weil die Zeit selbst nicht auch in der empirischen Anschauung wahrgenommen wird. Damit dieses Zeitverhältnis „als bestimmt erkannt wird" — so Kants dritter Argumentations schritt —, muß das Verhältnis der beiden Zustände so gedacht werden, daß dadurch „als notwendig bestimmt wird, welcher der Zustände vorher, welcher nachher und nicht umgekehrt müsse gesetzt werden". Wenn Kant also im Rahmen der ^weiten Analogie von „Notwendigkeit" spricht, ist damit die relationale Notwendigkeit der Zustände einer Erscheinung gemeint (s. άαψ Höffe 42004, S. 190 ff; Koch 2004, S. 228 ff). Kant will nicht behaupten, daß eine spezielle Kausalbeziehung in einer anderen möglichen Welt nicht hätte anders sein können. Über die modale Verfassung der speziellen Kausalgesetze macht Kant mit der 3weiten ΛηαΙοgie keine Aussage. Vielmehr argumentiert er dafür, daß, wenn eine Erscheinung hinsichtlich ihres Zeitverhältnisses als bestimmt gelten soll, das Verhältnis der wahrgenommenen Zustände nicht von der Willkür des
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Erkenntnissubjekts abhängen kann, sondern das Zeitverhältnis als unumkehrbar (notwendig) gedacht werden muß. Der vierte und entscheidende Schritt besteht nun darin, die Konsequenzen daraus zu ziehen, was es heißt, daß das Zeitverhältnis als objektiv unumkehrbar (notwendig) und nicht etwa als zufallige Wahrnehmungsfolge durch den Verstand gedacht wird. Aus der Erfahrung kann die Notwendigkeit der Zeitfolge nicht entspringen, denn auch wenn Erfahrung uns „Fälle an die Hand [gibt], aus denen eine Regel möglich ist, nach der etwas gewöhnlicher maßen geschieht, [lehrt sie doch] niemals, daß der Erfolg notwendig sei" (KrV, Β 124). Daher kommt dem Verhältnis von Ursache und Wirkung eine „Dignität" zu, „die man gar nicht empirisch ausdrücken kann". Kant läßt keinen Zweifel daran, daß allen „empirische [n] Regeln", weil sie durch „Induktion" gewonnen werden, immer nur „komparative Allgemeinheit" zukommen kann (ebd., Hervorhebung J. B.J. Nur ein „reiner Verstandesbegriff' impliziert Notwendigkeit. Im Fall der Kausalbeziehung ist dieser Begriff „der Begriff des Verhältnisses der Ursache und Wirkung' (KrV, Β 233). Damit hat Kant sein Beweisziel erreicht: Würden wir nicht alle Veränderung dem reinen Verstandesgrundsatz der Kausalität unterwerfen, wäre überhaupt keine objektive Bestimmung des Verhältnisses der Wahrnehmungen möglich. Positiv gewendet: ,,[N]ur dadurch, daß wir die Folge der Erscheinungen [...] dem Gesetze der Kausalität unterwerfen, [ist] empirisches Erkenntnis von denselben möglich". Der Grundsatz der Kausalität ist also die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß die Folge (bzw. Veränderung) ein Gegenstand der Erfahrung sein kann, d. h., daß dadurch überhaupt erst die Bestimmung eines Gegenstandes in der Zeit möglich ist (ebd.). Den Unterschied zwischen subjektiver Wahrnehmungsfolge und objektivem Ereignis („Geschehnis") hat Kant an jeweils einem Beispiel illustriert und sie kontrastierend einander gegenübergestellt. Für die subjektive Wahrnehmungsfolge wählt er das Beispiel der Wahrnehmung eines Hauses: Wenn wir ein Haus betrachten, ist „die Apprehension des Mannigfaltigen in der Erscheinung eines Hauses, das vor [uns] steht, sukzessiv" (KrV, Β 235). Die Wahrnehmungs ab folge erfolgt jedoch nicht in einer bestimmten Zeitordnung, die der Erscheinung zukommt, vielmehr ist es der Willkür des Subjekts überlassen, in welcher Reihenfolge es das Haus wahrnimmt. Wir müssen nicht „von der Spitze [des Hauses] anfangen, und beim Boden endigen, [sondern können] „auch von unten anfangen, und oben endigen, imgleichen rechts oder links das Mannigfaltige der empirischen Anschauung apprehendieren" (KrV, Β 237 f.). Kant spricht
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deshalb in einem solchen Fall der Wahrnehmung auch von einer bloß „subjektiven Folge" (KrV, Β 238). Dieser bloß subjektiven Folge von Wahrnehmungen setzt Kant den Fall der „objektiven Folge" gegenüber (ebd.), den er am Beispiel eines flußabwärts treibenden Schiffes illustriert: Auch hier folgt auf unsere Wahrnehmung des Schiffes flußö«/wärts die Wahrnehmung des Schiffes flußa^wärts. Doch was wir hier „bemerken" - und das ist für den Grundsatz der Kausalität entscheidend —, ist, daß wir die Wahrnehmungsfolge als unumkehrbar denken (KrV, Β 237). Nicht wir haben unsere Wahrnehmungen anders angeordnet, sondern die beharrende Substanz, das Schiff, hat ihren Zustand geändert. Es ist in diesem Fall nicht in das Belieben des Subjekts gestellt, in welcher zeitlichen Folge die Wahrnehmungen zu ordnen sind. Durch den Kontrast dieser beiden Fälle will Kant zeigen, daß wir nur dann von einem Ereignis, einer Zustandsveränderung am Objekt (Erscheinung) und nicht etwa am Subjekt sprechen können, wenn wir die zeitliche Ordnung der Zustände als bestimmt voraussetzen und sie nicht der subjektiven Willkür überlassen ist. Nur dadurch, daß wir das Zeitverhältnis im zweiten Fall als unumkehrbar denken, können wir „von der Erscheinung selbst, und nicht bloß von [unserer] Apprehension, berechtigt sein zu sagen: daß in jener eine Folge anzutreffen sei [...] (KrV, Β 238). Man hat dieses Beispiel als „unzureichend" bezeichnet, weil Kant es versäumt habe, eine Kraft zu integrieren „z. B. den Wind in den Segeln". Richtig hätte Kant sagen müssen, daß die Bewegung des Schiffes nur als Veränderung erfahren werden kann, wenn man sie mit der Kraft des Windes verknüpft. Diese Verknüpfung sei notwendig, weil das Schiff ohne Wind oder eine vergleichbare Kraft nicht wechseln würde und unumkehrbar, „weil der Wind zwar etwas am Schiff, nicht aber das Schiff am Wind etwas bewirkt" (Figal 20003, S. 107). Bei genauer Lektüre zeigt sich jedoch nicht nur, daß Kant bei einem Schiff, das „den Strom hinab treib [t]" sehr wohl eine Kraft, nämlich die Strömung, vorausgesetzt hat. Darüber hinaus wird auch verständlich, warum Kant nicht den Kraftbegriff zum Ausgangspunkt seiner Argumentation macht, wenn er die nicht-empirischen Bedingungen herausarbeitet, die erfüllt sein müssen, damit wir davon sprechen können, daß sich etwas ereignet („ein Zustand werde, der vorher nicht war"). Um sagen zu können, daß das Schiff sich in einem Zustand befindet, in dem es sich vorher nicht befand, müssen wir nicht etwa „die Bewegung [...] mit der Kraft verknüpfen" (ebd.), was wir vielmehr verknüpfen müssen, sind die beiden Zustände, und zwar so, daß sie als der Zeit nach unumkehrbar gedacht werden. Nicht die Verknüpfung von Bewegung und Kraft ist notwendig
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oder unumkehrbar, sondern die beiden Zustände sind unumkehrbar und d. h. notwendig und nicht etwa subjektiv-zufällig (wie im Fall der HausWahrnehmung), weil nur so überhaupt ein Ereignis, eine objektive Zustandsveränderung an einem Objekt, möglich ist. Man kann zeitliche Sukzession auf zweierlei Weise verstehen. Zum einen als eine Sukzession von Ereignissen und zum anderen als Sukzession von Zuständen. Kant geht es allein um die Frage, was in einem Urteil über die Sukzession von Zuständen vorausgesetzt werden muß, damit wir diese Veränderung an einem Gegenstand als objektives Geschehen, als Ereignis, bezeichnen können. Indem man Kant immer wieder so verstanden hat, als würde er über die Sukzession von Ereignissen sprechen, hat man zugleich die gesamte Problemstellung der ^weiten Analogie verschoben fc. B. auch Friedman 1992, S. 164, 169, 168). Sowohl in dem Beweis als auch in dessen Illustration sucht man vergeblich danach, daß Kant von der Notwendigkeit einer Folge von Wahrnehmungen in einem einzelnen Fall auf die Existenz eines allgemeinen Gesetzes schließt, das allen Folgen dieser Art zugrunde liegt (Strawson 1981, S. 115 f.; hove/oy 1967). Insofern hier überhaupt kein Schluß vorliegt, läuft auch die Non-Sequitur-Diagnose ins Leere (vgl. Buchdahl 1969, S. 661-665; Allison 1996b, 80 f.). Kant hat nicht versucht, das Prinzip, daß gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben, zu begründen. Vielmehr ging es ihm alleine darum zu beweisen, daß überhaupt nur ein objektives Ereignis („Geschehen") möglich ist, weil wir den Grundsatz der Kausalität voraussetzen (vgl. Buchdahl 1969, S. 670 f.; Beck 1978b, S. 147-153). Das Prinzip, das Kant begründen wollte, war also nicht, daß gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben, sondern das Prinzip, daß jedes Ereignis eine Ursache hat (vgl. Beck 1978a, S. 126).
(b) Die Vereinbarkeit des transzendentalen Kausalprinzips mit absoluter Freiheit Wenn man das Ergebnis der"zweitenAnalogie vor Augen hat, wird verständlich, was es überhaupt heißt, wenn Kant Naturkausalität mit Freiheitskausalität vereinbaren will. Der Grundsatz der Kausalität der ^weiten Analogie besagt, daß Erfahrung (im engeren Sinne) von Erscheinungen nur möglich ist, wenn wir den Grundsatz der Kausalität voraussetzen und d. h., daß wir objektive Veränderungen nur dann feststellen können, wenn wir das Verhältnis zweier Wahrnehmungen in ihrer zeitlichen Ordnung als bestimmt denken. Diese Regel ist nicht das Produkt wirklicher Erfahrung, sondern es ist eine Regel des reinen Verstandes, die notwendig ist, damit wir über-
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haupt Erfahrung machen können. Kant beweist ihre Gültigkeit also in bezug auf mögliche Erfahrung (KrV, Β 794). Er hat damit aber auch zugleich gezeigt, daß Erscheinungen als unbestimmte Gegenstände unserer sinnlichen Anschauung nicht anders als nach dem Grundsatz der Kausalität bestimmt werden können. Von hier aus ergibt sich nun das Problem, wie wir in bezug auf dieselben Erscheinungen (Handlungen) sagen können, daß sie aus absoluter Freiheit entstanden sind. Die Vereinbarkeit des Grundsatzes der Kausalität mit der Idee der absoluten Freiheit besorgt Kant in einem dreiteiligen Textstück. Im ersten Teil will Kant nur das „Verfahren [...] näher bestimmen", das der Auflösung der dritten Antinomie zugrunde liegt. Kants zentrale Einsicht ist, daß der Grundsatz der Kausalität, daß alle Erscheinungen eine Ursache haben, „alle Freiheit notwendig umstürzen müßte, wenn man der [absoluten (und nicht etwa empirischen)] Realität der Erscheinungen hartnäckig anhängen wollte" (KrV, Β 565, Konjektur J. B.J. Im ^weiten Teil entwirft Kant den „Schattenriß" der Auflösung, indem er, jener fundamentalen Einsicht folgend, die Umrisse oder - begrifflich gewendet — die Auflösungsprinzipien darlegt, um sich dann im dritten Teil den Details zuzuwenden, d. h. eine ausführliche „Erläuterung" und Durchführung der Auflösung folgen zu lassen (KrV, Β 570). Dieses Textstück hat größtes Unverständnis und Kritik provoziert: Folgt man den Kritikern, dann verstößt Kant mit der Annahme einer Kausalität aus Freiheit gegen seine Vorgabe aus der Analytik. Analytik und Auflösung, so heißt es, geben zusammen keine konsistente Theorie. Eine zweite Kritik behauptet, daß Kants Argumentation letztlich darauf hinauslaufe, daß wir berechtigt sind, alle Ereignisse als die Wirkung eines Dinges an sich anzusehen. Auch wenn Kant ein anderes Ergebnis angestrebt habe, ergebe dies sich notwendig aus seiner Argumentation (% B. Beck 1974, S. 179; Bennett 1974, X 201). Ein dritter Kritikpunkt betrifft die Art und die Reichweite der Kantischen Argumentation: Kant habe bei seiner „Deduktion der Freiheit" fälschlicherweise von der „Freiheit zu denken" auf die „Freiheit zu handeln" geschlossen. Daher müsse sein „Beweis der Willensfreiheit" über die reine Apperzeption scheitern (Gunkel 1989, S. 86; Henrich 1973, S. 247; Böversen 1962, S. 22). Gegen Kants Auflösung hat man viertens geltend gemacht, daß er zu Unrecht von seinem Grundsatz der Transzendentalphilosophie auf die speziellen Kausalgesetze der empirischen Wissenschaften schließe. Deshalb sei er am Ende irrtümlich der Meinung, Freiheit auch mit einem psychologischen Determinismus vereinbart zu haben. Mit dieser Kritik ist auch die Behauptung verbunden, Kants Annahme eines psychologischen Determinismus im Rahmen der Freiheitsdiskussion sei nicht mit seiner prinzipiellen Kritik an der Mög-
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lichkeit psychologischer Gesetze, die er in anderen Zusammenhängen zum Ausdruck bringt, zu vereinbaren (Ertl 1998, 143 ff.). Der letzte und zugleich am meisten verbreitete Kritikpunkt behauptet, daß Kants Auflösungsstrategie auf eine Zwei-Welten-Theorie hinauslaufe, die nicht erklären könne, warum wir den „phänomenalen Menschen" bestrafen, wenn wir lediglich die Freiheit des „noumenalen Menschen" voraussetzen können (Z. B. Beck, 1998, S. 190). Aufgrund dieser umfassenden Kritik wird es notwendig sein, Kants Vereinigungsstrategie Stück für Stück auseinanderzulegen. Die Reihenfolge der Kantischen Argumentation aufnehmend, wird sich zeigen, daß, wenn man den Anspruch, den systematischen Aufbau und Zusammenhang der Argumente angemessen analysiert, alle fünf Kritikpunkte revidiert werden müssen. i. Denkmöglichkeit der Freiheit Kant will im ersten Teil begründen, warum man unter der Voraussetzung eines transzendentalen Realismus nicht an absoluter Freiheit festhalten kann. Er setzt dabei voraus, daß die „Richtigkeit jenes Grundsatzes, von dem durchgängigen Zusammenhange aller Begebenheiten in der Sinnenwelt, [...] schon als ein Grundsatz der transzendentalen Analytik fest [...] steht" (KrV, Β 564). Diesen Grundsatz hatte Kant nur in bezug auf Erscheinungen bewiesen, d. h. in bezug auf die unbestimmten Gegenstände unserer sinnlichen Anschauung (KrV, Β 34). Nun sagt Kant, daß, wenn Raum und Zeit keine subjektiven Anschauungsformen wären, sondern den Gegenständen an sich selbst, d. h. unabhängig von einer sinnlichen Anschauung zukommen würden, allein der Grundsatz der Kausalität gültig und die Idee der Freiheit damit nicht kompatibel wäre: ,,[S]ind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten" (KrV, Β 564). Dagegen könnte man einwenden, daß Kant den Grundsatz der Kausalität auch nur in bezug auf Erscheinungen bewiesen hat und er ebenso seine Gültigkeit verlöre, wenn man von dem Erscheinungscharakter der Dinge absieht und sie nicht als raumzeitlich strukturierte Gegenstände denkt. Doch wenn Kant in jenem hypothetischen Satz erwägt, ,was wäre, wenn Erscheinungen Dinge an sich wären', dann ist damit gemeint, daß Raum und Zeit nicht bloß subjektive Anschauungsformen sind, sondern den Dingen an sich zukommen. Hier wird ,Dinge an sich' also gerade nicht im Sinne des transzendentalen Idealismus, sondern des transzendentale Realismus verstanden. Wenn Kant,Dinge an sich' hier im Sinne eines Noumenon in negativer Bedeutung dächte, würde er von dem raumzeitlichen
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Charakter der Erscheinungen gerade abstrahieren, weil Raum und Zeit nur subjektive Anschauungsformen sind, und sie nicht etwa auch noch den Dingen an sich als Eigenschaften positiv zugesprochen werden können. Doch wenn man „Dinge an sich" im Sinne des transzendentalen Realismus versteht, dann sind Raum und Zeit keine subjektiven Bedingungen einer sinnlichen Anschauung, sondern Eigenschaften der Dinge an sich selbst. Damit wäre dann der Grundsatz der Kausalität, dessen Gültigkeit in bezug auf Ereignisse in der Zeit bewiesen worden ist, nicht mehr auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung eingeschränkt, sondern in bezug auf alle möglichen Gegenstände gültig. Dagegen setzt Kant seine transzendentalphilosophische Differenz, die das Ergebnis der transzendentalen Ästhetik gewesen ist. Ihr zufolge sind Raum und Zeit nur die Formen einer sinnlichen Anschauung. Ihnen kommt nur empirische Realität zu. Transzendental betrachtet, unabhängig von einer sinnlichen Anschauung, sind sie ideal, d. h. nichtig (KrV, Β 43 f., 51 f.). Auf diese Weise ist der Grundsatz der Kausalität, der eine objektive Zeitordnung vorschreibt und dessen Gültigkeit daher nur in bezug auf Ereignisse in der Zeit beweisbar ist, auf die Gegenstände einer sinnlichen Anschauung eingeschränkt: die Erscheinungen. Um Mißverständnisse zu vermeiden, hätte Kant daher auch sagen können: „Wenn Raum und Zeit nicht subjektive Anschauungsformen wären, sondern den Gegenständen an sich selbst zukämen, wäre Freiheit nicht zu retten". Die Konsequenz des transzendentalen Realismus wäre, daß „Natur die vollständige und an sich hinreichend bestimmende Ursache jeder Begebenheit [wäre]" und die Bedingung jedes Ereignisses „nur in der Reihe der Erscheinungen enthalten [sind]" (KrV, Β 564, Hervorhebung], B.j. Doch der transzendentale Idealismus macht es möglich, die Kompatibilität von Natur und Freiheit denken zu können. Denn wenn Erscheinungen „bloße Vorstellungen [sind], die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen, so müssen sie selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind" (KrV, Β 565). Auch wenn Kant hier sehr verkürzt, ist doch sein Argument zu erkennen: Wenn Raum und Zeit nur die Anschauungsformen einer sinnlichen Anschauung sind, kommen sie den Gegenständen unabhängig von dieser Art anzuschauen nicht zu. Daher hatte Kant die Behauptung zurückgewiesen, daß alle Dinge in Zeit und Raum sind, und den Satz eingeschränkt: Alle Dinge als Gegenstände der sinnlichen Anschauung sind im Raum oder in der Zeit (KrV, Β 43 f., 51 f.). Das bedeutet aber weder, daß alle Gegenstände überhaupt in Raum und Zeit sind noch daß jeder Gegenstand empirisch hinreichend bestimmt wäre. Vielmehr können wir uns Widerspruchs-
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frei eine intellektuelle Anschauung denken und mit ihr einen Gegenstand oder etwas an einem Gegenstand, das empirisch nicht erkannt werden kann, weil die Grundsätze des Verstandes prinzipiell nur auf Gegenstände in Raum und Zeit angewendet werden können. In bezug auf das Kausalverhältnis heißt das, daß wir uns Ursachen denken können, „die nicht durch Erscheinungen bestimmt [sind], obzwar ihre Wirkungen erscheinen" (KrV, Β 565). Als Erscheinungen stehen die Wirkungen im Verhältnis zu anderen Erscheinungen, und sollen sie als eine objektive Zustandsveränderung an einem Gegenstand behauptet werden, müssen sie hinsichtlich ihres Zeitverhältnisses zu anderen Erscheinungen bestimmt (d. h. erkannt) werden. Wir können also dieselbe Wirkung in zweifacher Weise betrachten: Zum einen als das Produkt anderer Erscheinungen, mit denen sie in einem unumkehrbaren Zeitverhältnis steht, zum anderen aber auch als Produkt einer nur gedachten Ursache: „Die Wirkung kann also in Ansehung ihrer intelligibelen Ursache als frei, und doch zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der Notwendigkeit der Natur, angesehen werden (ebd.)". Auf diese Weise gelingt dem transzendentalen Idealismus, was transzendentalen Realisten prinzipiell nicht gelingen kann: Die Vereinigung von Natur und absoluter Freiheit. Bereits hier also und nicht erst in der zweiten Kritik gebraucht Kant den Begriff der Kausalität in bezug auf Gegenstände, die nicht-sinnlich gegeben sind. Damit vollzieht er hier einen Schritt, den bereits einer der ersten Rezensenten für inkonsistent gehalten hat und den die KantKritiker seitdem nicht müde geworden sind zu wiederholen (Pistorius 1786, S. 110-113). Noch in der Analytik habe Kant die Kategorie der Kausalität auf Erscheinungen eingeschränkt. Indem er sie in der Auflösung der dritten Antinomie und ebenso in seiner Moralphilosophie auf Nicht-Empirisches anwendet überschreite er die von ihm selbst errichteten „Grenzen der Sinnlichkeit" und damit die Grenzen dessen, was sich sinnvoll behaupten läßt. Doch Kant hat schon in der ersten Kritik keinen Zweifel daran gelassen, daß man sehr wohl auch Noumena denken kann, und da sich unser Denken immer gemäß den Kategorien vollzieht, können wir sie auch als kausal wirksam denken. Kant konnte die Verstandeskategorien als reine Verstandesbegriffe deduzieren. Als solche haben sie ihren Ursprung nicht in der Erfahrung, sondern gehen als formale Prinzipien der Erfahrung voraus. Wenn nun beim Gebrauch der Kategorie von „aller Bedingung der sinnlichen Anschauung [...] abstrahiert wird, wird also kein Objekt bestimmt, sondern nur das Denken eines Objekts überhaupt [also nicht
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ausschließlich eines empirischen Objekts; J. B.], nach verschiedenen Modis, ausgedrückt" (KrV, Β 304). Deshalb hat der transzendentale und nicht etwa empirische Gebrauch der Kategorien nicht einen inhaltlich, sondern „nur der Form nach, bestimmbaren Gegenstand" (ebd.) und alle reinen Verstandesbegriffe müssen ohne Anschauung leer bleiben (KrV, Β 75). Mit dem Begriff der „causa noumenon" soll nun nicht etwa eine freie Handlung erkannt, sondern bloß als frei gedacht werden. Und weil Kant den Begriff der Kausalität als reinen und nicht etwa empirischen Begriff deduzieren konnte, ist er dazu legitimiert, ihn nicht nur auf Erscheinungen, sondern auch auf Dinge, sofern sie nicht Gegenstand der sinnlichen Anschauung sind, auszudehnen. Damit ist Kants Deduktion der Kausalität als eines reinen Verstandesbegriffs zugleich die Grundlage für die Möglichkeit einer Kausalität aus Freiheit. Wenn der Satz gelten würde, daß alles, was kausal wirksam ist, Erscheinung ist, wäre der Begriff einer „causa noumenon" selbstwidersprüchlich. Indem Kant den Begriff der Kausalität gerade nicht als einen Begriff deduziert, der seinen Ursprung in der Erfahrung, sondern im Verstand hat, ist der Begriff einer „causa noumenon" kein „Unding", sondern widerspruchfrei denkbar. Um die Idee der Freiheit als regulatives Prinzip annehmen zu dürfen, ist dieses Ergebnis ausreichend. Kant muß weder ihre reale Möglichkeit noch ihre Wirklichkeit beweisen. Es gibt sehr wohl einen Unterschied zwischen der ersten und zweiten Kritik hinsichtlich des epistemischen Status der Freiheit. Doch er besteht gerade nicht darin, daß Kant seine Theorie in der zweiten Kritik nun dahingehend modifiziert, daß der Begriff einer causa noumenon widerspruchsfrei denkbar ist. Er hat auch nicht nachträglich, nachdem er die Ergebnisse seiner Moralphilosophie vor Augen hatte, versucht, die erste Kritik daraufhin umzuschreiben. Er hat lediglich in der zweiten Auflage eindringlicher darauf hingewiesen, daß mit der Deduktion der Verstandeskategorien nicht auch Freiheit unmöglich geworden ist. Bereits im Rahmen der Deduktion der Verstandesbegriffe adressiert er nun den Einwand, der sich auf die „besorglichen und nachteiligen Folgen" richtet, wenn man die Erkenntnis auf Gegenstände möglicher Erfahrung einschränkt. Mit den Folgen sind hier zweifellos Moral und Religion gemeint. Doch alle „Sorge" sei unangemessen, denn die Kategorien sind im „Denken [nicht] durch die Bedingungen unserer sinnlichen Anschauung [...] eingeschränkt". Sie haben vielmehr ein „unbegrenztes Feld" und nur die "Erkenntnis des Gegenstandes, den wir uns denken, ist ohne Anschauung unmöglich (KrV, Β 166; vgl. auch Β 148). An dieser Stelle kann nun der entscheidende Fortschritt der zweiten Kritik benannt werden. Anhand des Begriffs der „causa noumenon" wird auch zugleich der systematische Zusammenhang der dritten Antinomie auf
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der einen Seite und der Moralphilosophie auf der anderen dargestellt werden müssen. Der Fortschritt der zweiten Kritik besteht nicht darin, daß hier zum ersten Mal eine causa noumenon gedacht würde, sondern darin, daß sie positiv bestimmt wird und auf diese Weise dem Begriff, der theoretisch leer blieb (und bleiben muß), praktisch einen Gehalt zu geben. Kant hat die Erweiterung der Vernunfterkenntnis im praktischen Vernunftgebrauch in einem gesonderten Abschnitt im Rahmen der Analytik der zweiten Kritik erläutert. Er hat damit selbst noch auf jenen Einwand seines Rezensenten reagiert, den er zu den „erheblichsten" gezählt hat (KpV, V 6 (A 10)). Diejenigen, die sich heute mit Kants Freiheitstheorie auseinandersetzen und lediglich Pistorius' Vorwurf wiederholen, demzufolge Kants Annahme einer „causa noumenon" nicht konsistent sei mit den Vorgaben der Analytik, beweisen nicht etwa Kritikfähigkeit, sondern Ignoranz. Eine Kritik an Kants Freiheitstheorie muß bei den Argumenten ansetzen, die Kant erstens für die Denkmöglichkeit und zweitens für die positive Bestimmung einer „causa noumenon" aufbietet, statt erneut unmittelbar die Rätselhaftigkeit dieser Konzeption zu behaupten. Um den Begriff einer „causa noumenon" zu legitimeren, argumentiert Kant zunächst gegen Humes These, daß der Begriff der „Ursache" nur auf Gewohnheit beruhe und ihm daher bloß subjektive Notwendigkeit zukomme (KpV, V 50 ff. (A 88-91)). Dagegen wendet Kant seine Deduktion der Verstandesbegriffe, mit der er zum einen beweisen konnte, daß der Begriff der Ursache objektive Realität in bezug auf Erscheinungen hat und zum anderen, daß er ein reiner Verstandesbegriff ist (KpV, V 52 f . (A 92 f.)). In der zweiten Kritik soll nicht etwa gegen Humes Skepsis die objektive Notwendigkeit des Kausalverhältnisses bewiesen werden. Vielmehr referiert Kant die Ergebnisse der ersten Kritik ausschließlich deshalb, weil die Deduktion der Kausalität als eines rinen Verstandesbegriff zugleich die Möglichkeit eröffnet, diesen Begriff nicht bloß auf Empirisches, sondern auch auf Nicht-Empirisches anzuwenden. Die Tatsache, daß Kant die reinen Verstandesbegriffe nur „in Ansehung der Gegenstände möglicher Erfahrung" und nicht etwa wirklicher Erfahrung deduzieren konnte,53 verleiht ihnen ihren nicht-empirischen Status und sichert ihnen 53
Genau hier liegt der entscheidende Unterschied zu Hume, der stillschweigend davon ausgeht, daß wir unsere Vorstellungen grundsätzlich als möglichen Ausdruck von objektiven Sachverhalten auffassen. Dabei übersieht er jedoch, daß in dieser Voraussetzung ein Problem liegt. Dieses Problem macht Kant zum Thema, wenn er nach möglicher und nicht etwa nach wirklicher Erfahrung fragt. Wenn Hume die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori erkannt hätte, hätte ihn dies vor seinem Skeptizismus bewahrt: Auch wenn wir nicht a priori erkennen können, daß die Sonne das Wachs zum Schmelzen bringt, folgt daraus nicht, daß wir nicht α priori erkennen können, daß etwas vorausgegangen sein muß, worauf das Schmelzen des Wachses nach einer Regel folgt. Der Grundsatz der Kausalität kann in
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einen „Platz im reinen Verstände". Insofern sie reine Verstandesbegriffe sind, ist es möglich, sie „auf Objekte überhaupt (sinnliche, oder nicht sinnliche) zu beziehen". Damit hat der Begriff der „Kausalität" objektive Realität nicht nur in bezug auf Erscheinungen, sondern in bezug auf Gegenstände überhaupt (KpV, V54 (A 95), Hervorhebung T. J. B.). Nun war die „Bedingung der Anwendung" der reinen Verstandeskategorien die Anschauung. Weshalb dort, wo keine Anschauung gegeben ist, auch die Anwendung der Verstandesbegriffe, sofern etwas durch sie erkannt und nicht etwa nur gedacht werden soll, untersagt ist. Der Begriff einer „causa noumenon"muß daher in der theoretischen Erkenntnis leer und unbestimmt bleiben, auch wenn er widerspruchsfrei denkbar ist. Doch die Analytik der zweiten Kritik hatte ergeben, daß die Freiheit des Willens darin besteht, daß er „für sich selbst" praktisch ist und nicht etwa für seine Handlungswirksamkeit erst anderer Einflüsse bedarf. „Wille" impliziert als „eine Art von Kausalität" den Begriff des „Gesetzes". Ein freier Wille kann für Kant daher kein zufälliger oder gesetzloser Wille sein. Wenn der Wille also nicht durch ein spezifisches Freiheitsgesetz bestimmt werden könnte, sondern Freiheit in einem zufälligen Ausbleiben naturkausaler Determination bestünde, wäre ein freier Wille ein „Unding" — unmöglich widerspruchsfrei zu denken (GMS, IV 446 (BA 98); vgl. KpV, V 55 (A 96 f.)). Kant konnte zeigen, daß das Moralgesetz als formales Gesetz von allen materialen Motivationsgründen abstrahiert und insofern nicht nur allgemein verbindlich ist, sondern auch — und das ist in diesem Zusammenhang entscheidend —, daß das Moralgesetz die positive Bestimmung eines freien Willens, einer Kausalität aus Freiheit ist. Genau darin liegt der Fortschritt der zweiten Kritik. Ohne die theoretische Erkenntnis zu erweitern, wird hier die Möglichkeit der Freiheit, „die vorher nur Problem war, [...] Assertion". Sie wird weder wie die anderen Vernunftideen in der ersten Kritik hypothetisch vorausgesetzt, um die Einheit der Erkenntnis herzustellen, noch ist sie bloß eine Voraussetzung in bezug auf die Beurteilung menschlicher Handlungen. Die Annahme der Freiheit ist nicht willkürlich, sondern beruht auf einem normativem Gesetz der Vernunft: Ihre Wirklichkeit wird in dem Moralgesetz behauptet, insofern es gebietet, alle sinnlichen Motivationsgründe dem Moralgesetz bezug auf ein Drittes, nämlich mögliche Erfahrung, eingesehen werden (KrV, Β 792-796, J·. da%u auch Prot., § 27.). Wie Kants Projekt der KrV als ein systematisches Anknüpfen an Humes Zweifel hinsichtlich des Kausalitätsbegriffs verstanden werden kann, arbeitet Hoppe in herausragender Deutlichkeit heraus. Dabei zeigt er, wie Kant, der mit Hume durchaus Grundannahmen teilt, im Ausgang von Humes Skepsis seine spezifische Fragestellung entwickelt, die es ihm schließlich ermöglicht, auch Humes Skeptizismus zu überwinden (Hoppe 1982).
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unterzuordnen und vernünftig (d. h. aus reinem Willen) zu handeln (KpV, V4 f . (Λ 6 f.)). Damit ist gesichert, daß der Begriff einer „causa noumenon" nicht leer ist, sondern ihm auch ein Gehalt zukommt. Der Begriff einer „causa noumenon", dessen Annahme theoretisch bloß denkbar ist, erhält durch das Moralgesetz seine objektive Realität in praktischer Hinsicht. Auch wenn wir keine Anschauung haben, „die ihm seine objektive theoretische Realität bestimmte", läßt sich seine praktische Realität doch „in Gesinnungen oder Maximen, [wenn sie auf das Uneingeschränkt-Gute gerichtet sind] darstellen". (KpV, 56 (Λ 98f.), j·. da%u Kap. 3 b). In dieser positiven Bestimmung der causa noumenon liegt also der zentrale Fortschritt der zweiten Kritik. Es ist das Theoriestück des Vernunftfaktums, das diese Erweiterung ermöglicht. Doch damit wird die Auflösung der Antinomie nicht überflüssig. Das Ziel der Auflösung ist vielmehr zu zeigen, wie aus theoretischer Perspektive eine Handlung widerspruchsfrei zugleich nach dem Grundsatz der Kausalität und als Wirkung einer causa noumenon gedacht werden kann. Diese Aufgabe wird durch die zweite Kritik nicht überflüssig. Ihre Auflösung bleibt fester Bestandteil des Kantischen Argumentationshaushalts, wenn er gegen den Moralskeptiker und Deterministen aus theoretischer Perspektive argumentieren muß (GMS, IV 455f. ßA 115); KpV, V 30 (A 53), 48 ff. (A 83-87), 94-106 (A 169191); KU, V175 (xviii); Rel, VI 39 f . β 39 f.), Β 49 f . (58 f.)).
iL Möglicher Gegenstand der Freiheit als regulatives Prinzip Mit dem ersten Teil der Auflösung hat Kant das „Verfahren" bestimmt, mit der er die Antinomie auflöst. Gegen dieses Verfahren ist geltend gemacht worden, daß Kant damit zu viel „bewiesen" habe. Diesem Einwand zufolge könne nun jedes Ereignis frei genannt werden. Auch der Stein, der zu Boden fällt, sei die Ursache irgendeines Dinges an sich (Vgl. £ B. Beck 1974, S. 179; Bennett, 1974, S. 201). Doch wer so argumentiert, übersieht eine entscheidende Einschränkung, die Kant im zweiten Teil des Auflösungskapitels vornimmt: Nicht bei allen Wesen haben wir Grund „ihre Kausalität auf zwei Seiten zu betrachten", sondern nur, ,,[w]enn [...] dasjenige, was in der Sinnenwelt als Erscheinung angesehen werden muß, an sich selbst auch ein Vermögen hat, welches kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung ist, wodurch es aber doch Ursache von Erscheinungen sein kann" (KrV, Β 566, Hervorhebunggeändert J. B.). Das gilt nun etwa gerade nicht für Steine. Denn — wie Kant im dritten Teil, der Anwendung dieses Prinzips auf die Erfahrung klarstellt — finden wir weder bei der „leblosen" noch bei der „tierischbe-
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lebten Natur" einen „Grund, irgend ein Vermögen uns anders als bloß sinnlich bedingt zu denken" (KrV, Β 574). Doch im Unterschied zu lebloser Materie und zu den Tieren ist der Mensch ein Vernunfh/a.sen. Vernunft impliziert analytisch, daß sie selbst die „Urheberin ihrer Prinzipien" ist (GMS, IV 448 (BA 101); vgl. auch KrV, Β 356) und ist insofern „von allen empirischbedingten Kräften unterschieden" (KrV, Β 575). Damit ist nun aber noch nicht gesagt, daß die Vernunft auch Kausalität hat, d. h., daß sie „Ursache der Wirklichkeit ihrer Objekte" ist (vgl. Kants Noti% ψ Β 575 in seinem Handexemplar. Abgedruckt in der von Timmermann besorgten Neuausgabe der KrV von 1998). „Daß' wir uns eine Kausalität der Vernunft „vorstellen", ist in den Sollensätzen impliziert, den „Imperativen", die wir uns selbst auferlegen. Dieses „Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt". Der Begriff des „Sollens" hat in bezug auf die Natur „ganz und gar keine Bedeutung", weil wir dort den Verstandesgrundsätzen gemäß immer nur beschreiben können, was der Fall ist, aber nicht, was der Fall sein soll (KrV, Β 575, Hervorhebung % T. J. B.). Der Einwand liegt nahe, daß Kant mit diesem Argument das Beweisziel schon voraussetzt: Es mag ja so sein, daß wir uns erstens den Menschen als Vernunftwesen vorstellen und zweitens in den Imperativen eine Kausalität dieser Vernunft impliziert ist. Kant beantwortet damit aber nicht die eigentliche Frage, nämlich ob Vernunft auch tatsächlich Kausalität hat. Diese Frage müßte er beantworten, wenn er behaupten will, daß wir mit Recht den Menschen sowohl als frei als auch der Naturkausalität unterworfen denken. Dieser Einwand hat Recht mit dem, was er behauptet, ist jedoch im Unrecht mit dem, was er unterstellt. Für die Auflösung der Antinomie ist es von entscheidender Bedeutung, sich klarzumachen, daß Kant hier keinen Anspruch auf synthetische Grundsätze a priori erhebt, sie sogar prinzipiell ausschließt. Mit synthetischen Urteilen a posteriori, im Rahmen der empirischen Psychologie die Vernunftkausalität zu beweisen, hieße nicht die Antinomie aufzulösen, sondern sie von neuem zu entfachen. Beide Kandidaten für eine Erkenntniserweiterung scheiden damit aus. Es ist zweifellos richtig, daß Kant die Kausalität der Vernunft im gesamten Auflösungskapitel nicht bewiesen hat. Er hat aber auch an keiner Stelle den Versuch unternommen, einen solchen Beweis zu erbringen, vielmehr ist er theoretisch grundsätzlich ausgeschlossen. In der Auflösung geht es allein darum, ob und wie wir widerspruchsfrei neben dem Grundsatz der Kausalität auch noch Freiheitskausalität denken können. Es wäre daher verfehlt, wenn man bei dem Versuch, die widerspruchsfreie Denkmöglichkeit von Freiheit und Naturkausalität zu beweisen, mehr als analyti-
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sehe Argumente a priori erwarten würde. Noch einmal: Dem Freiheitsbegriff wird im Rahmen des Auflösungskapitels nur der Status eines problematischen Begriffs verschafft, das ist ein Begriff, „der keinen Widerspruch enthält" (KrV, Β 310). Damit ist aber über seine „Wahrheit", d. h., daß dem Begriff ein Gegenstand korrespondiert, er objektive Realität hat und nicht nur ein widerspruchsfrei denkbarer Begriff ist, nichts gesagt (KrV, Β 100 f.). Ein Großteil der Mißverständnisse, die das Auflösungskapitel der dritten Antinomie hervorgerufen hat, läßt sich aufklären, indem man den analytischen Status der Argumente bemerkt und darüber hinaus auch noch erkennt, daß sie in diesem Zusammenhang ausreichend sind. Die zentrale These des zweiten Teils des Auflösungskapitels ist also, daß nur dann, wenn einem Gegenstand der Sinne auch ein Vermögen zukommt, das nicht Gegenstand der sinnlichen Anschauung ist und dennoch Ursache von Erscheinungen sein kann, er auch ein Kandidat dafür ist, ihm eine Kausalität aus Freiheit zuzusprechen. Wir können dann „die Kausalität dieses Wesens auf zwei Seiten betrachten": Auf der einen Seite können wir die Kausalität als „sensibel" betrachten, weil sie eine „Wirkung" in der Sinnenwelt ist. Auf der anderen Seite können wir sie aber auch von der „Handlung" her betrachten (KrV, Β 566), d. h. nach dem „Verhältnis des Subjekts [...] zur Wirkung" (KrV, Β 250). Alsdann ist die Kausalität nicht sensibel, sondern „intellegibel", weil sie nicht Gegenstand der Sinne, sondern bloß des Denkens ist (KrV, Β 566). Daß der transzendentale Idealismus uns berechtigt, Ursachen zu denken, „die nicht durch Erscheinungen bestimmt [sind], obzwar ihre Wirkungen erscheinen" (KrV, Β 565), dafür hatte Kant bereits im ersten Teil argumentiert. Was Kant aber noch nicht erklärt hat, ist, was es heißt, daß ein Wesen Kausalität hat. „Jede wirkende Ursache [muß] einen Charakter haben, d. i. ein Gesetz ihrer Kausalität, ohne welches sie gar nicht Ursache sein würde." Damit eine Ursache bewirken kann, was sie bewirkt, und so überhaupt sinnvoll von „Ursache" die Rede sein kann, muß ihr ein bestimmtes kausales Potential zukommen. Sie muß in der Weise disponiert sein, daß aus ihr die entsprechende Wirkung auch entspringen kann. So gehört es etwa nicht zur Disposition eines Steines, auf dem Wasser zu schwimmen, während Holz sehr wohl dafür disponiert ist. Wenn Kant also in diesem Zusammenhang von „Gesetz" spricht, ist damit nicht ein Gesetz gemeint, das indifferent in bezug auf die Gegenstände ist. Vielmehr drückt dieses Gesetz eine Disposition eines bestimmten Gegenstandes als Ursache aus. Die spezifische kausale Disposition einer Sache, das „Gesetz ihrer Kausalität", unterscheidet sie von anderen Ursachen und stellt so ihren spezifischen „Charakter" dar. Bei einem Wesen, dem wir ein Vermögen zu-
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schreiben, mit dem es „die Ursache von Erscheinungen sein kann", ohne daß dieses Vermögen ein „Gegenstand der sinnlichen Anschauung ist", denken wir uns nicht nur die Ursache, die Kausalität, in zweifacher Weise, sondern auch das Gesetΐζ seiner Kausalität, seinen Charakter, der ihm als Ursache zukommt: Bei einem solchen Wesen denken wir uns, daß seine Vernunft Ursache von Erscheinungen ist. Wir können daher durch Beobachtungen der von ihm hervorgebrachten Erscheinungen eine „Regel" formulieren, mit der sich die kausale Disposition dieses Wesens empirisch beschreiben läßt. Wenn wir in dieser Weise die kausale Disposition dieses Wesens von den Wirkungen her, wie sie als Erscheinungen in der Sinnenwelt auftreten, bestimmen, dann betrachten wir es hinsichtlich seines „empirischen Charakters". Als Erscheinungen sind die Handlungen dieses Wesens raumzeitlich strukturierte Gegenstände und unterliegen als solche „dem Gesetze aller Zeitbestimmung", dem Grundsatz der Kausalität, den Kant in der ^weiten Analogie der Erfahrung bewiesen hatte. Seine „Handlungen, als Erscheinungen, [stehen] durch und durch mit anderen Erscheinungen nach beständigen Naturgesetzen im Zusammenhang [...] und [können] von ihnen, als ihren Bedingungen, abgeleitet werden [...]" (KrV, Β 567). Auf der anderen Seite betrachten wir ein solches Wesen aber auch als „Ursache jener Handlungen als Erscheinungen", ohne daß es „selbst unter Bedingungen der Sinnlichkeit steht, und selbst nicht Erscheinung ist". Als solches ist es dem Grundsatz der Kausalität nicht unterworfen, weil es „unter keinen Zeitbedingungen steh[t]". In diesem Fall ist das spezifische Gesetz seiner Kausalität, der Charakter seiner Ursache, nicht empirisch, sondern intelügibel, weshalb Kant vom „intellegiblen Charakter" spricht (ebd.). Indem Kant demselben Wesen zugleich beide Charaktere zuschreibt, gelingt es, Freiheit und Naturkausalität widerspruchsfrei zu vereinigen. Wenn der intellegible Charakter eines solchen Wesens „unter keinen Zeitbedingungen steh[t]", dann ist es in seinen Handlungen „unabhängig [...] von aller Naturnotwendigkeit" und damit „frei". Kant muß mit dieser Freiheit also nicht auf ein principium internum zurückgreifen. Vielmehr kann man einem Wesen Freiheit zusprechen, „ohne daß die Handlung in ihm selbst anfängt" (KrV, Β 569, Hervorhebung T. J. B.). Hiermit wendet sich Kant bereits in der ersten Kritik und nicht erst in der zweiten gegen jenes Konzept, das er dort als die „Freiheit eines Bratenwenders" bezeichnen wird (KpV, V 97 (A 174)). Auch wenn der Bratenwender seine Bewegungen von selbst verrichtet, nachdem er einmal aufgezogen worden ist, kann ihm doch niemals Freiheit im absoluten Sinne (als Erstursächüchkeit) zugesprochen werden. Ob inneres oder äußeres
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Prinzip, sofern etwas Erscheinung ist, steht es notwendig unter dem Grundsatz der Kausalität. Kants Lösung besteht gerade darin, daß der intelligible Charakter nicht Erscheinung, sondern „Noumenon" ist und als solcher nicht dem Grundsatz der Kausalität unterliegt, aber als intelligible Ursache, die selbst nicht Erscheinung ist, Erscheinungen verursacht. Diese Erscheinungen unterliegen dem Grundsatz der Kausalität. An ihnen lesen wir den empirischen Charakter dieses Wesens ab und betrachten es als den Naturgesetzen unterworfen. Auf diese Weise kann „Freiheit und Natur, jedes in seiner vollständigen Bedeutung, bei eben denselben Handlungen, nachdem man sie mit ihrer intelligibelen oder sensibelen Ursache vergleicht, zugleich und ohne allen Widerstreit angetroffen werden" (KrV, Β 569). Damit wird deutlich, in welchem Sinne Kant als „Kompatibilist" bezeichnet werden kann: Er will nicht einen schwachen Freiheitsbegriff, der nur die Fähigkeit impliziert, dem eigenen Willen oder einem inneren Prinzip gemäß handeln zu können, mit einem empirischen Naturdeterminismus, vereinigen. Vielmehr denkt Kant beide Begriffe in ihrer „vollständigen [d. h. starken] Bedeutung". Freiheit impliziert die Fähigkeit, „eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen" (KrV, Β 582), und Prädeterminismus, daß „alle Veränderungen [...] nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung [geschehen]" (KrV, Β 232, Hervorhebung geändert J. B.). Kant geht es also um die gedankliche Vereinigung der absoluten Freiheit als Erstursächlichkeit mit dem Grundsatz der Kausalität, der keine Erstursächlichkeit zuläßt. In diesem Sinne kann man Kant als „Kompatibilisten" bezeichnen, auch wenn er in der gegenwärtigen Debatte als Inkompatibilist und genauer als ein Vertreter eines absoluten oder indeterministischen Freiheitsbegriffes gelten muß (s. oben 15 f.).
iii. Menschliche Freiheit Mit dem Abschluß des zweiten Teils ist auch der „Schattenriß der Auflösung" fertiggestellt. Kant macht sich nun an die „Erläuterung" (und nicht etwa Erweiterung) der skizzierten Prinzipien, indem er „die Momente [...] auf die es eigentlich ankommt" auseinandersetzt (KrV, Β 570). Das erste „Moment", dem Kant sich zuwendet, ist der Grundsatz der Kausalität: Kant argumentiert gegen die Strategie, Freiheit als Erstursächlichkeit dadurch etablieren zu wollen, daß man manche Erscheinungen vom Grundsatz der Kausalität ausnimmt. Das „Naturgesetz, daß alles, was geschieht, eine Ursache habe, [...] ist ein „Verstandesgrundsatz, von welchem es unter keinem Vorwande erlaubt ist abzugehen [...]". Würde man
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es zulassen, daß einige Erscheinungen nicht unter dem Grundsatz der Kausalität stünden, würde man sie „außerhalb aller möglichen Erfahrung setzen" und damit in ein „Hirngespinst" verwandeln (ebd.). Doch Erscheinungen sind als raumzeitliche Gegenstände immer selbst „entstanden" und also das Produkt einer Veränderung, die sich an einem Gegenstand vollzieht. Damit unterliegen Erscheinungen immer — wie Kant mit der ^weiten Analogie der Erfahrung bewiesen hat — jenem Grundsatz der Kausalität und sind mögliche Gegenstände empirischer Erkenntnis und nicht etwa bloß Hirngespinste. Das Problem der Totaüsierung des Kausalverhältnisses ist das zweite „Moment", dem Kant sich zuwendet: Daß die Idee der absoluten Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung für den Verstandesbegriff als Erstursächlichkeit zu klein und als infiniter Regreß zu groß ist und insofern die „absolute Totalität" der Bedingungen im Regreß nicht zu erreichen ist, hat Kant schon „in der allgemeinen Beurteilung", dem siebten und achten Abschnitt des Zweiten Hauptstückes der Dialektik, aufgelöst. Das Ergebnis war, daß unter Voraussetzung eines „transzendentalen Realismus" nicht nur Freiheit, sondern auch Naturnotwendigkeit dem Skeptizismus überlassen sind (KrV, Β 571). Indem Kant mit seinem transzendentalen Idealismus den Grundsatz der Kausalität auf Erscheinungen einschränkt und die Freiheit dem Noumenon zuwies, konnte er an beiden Prinzipien festhalten. Von diesem Ergebnis ausgehend ergibt sich nun jedoch ein neues Problem, nämlich wie man „eben dieselbe [Begebenheit], die einer Seits bloß Naturwirkung ist, doch anderer Seits als Wirkung aus Freiheit [ansehen kann]" (ebd.). Kurz: Kant will erklären, wie wir in bezug auf dieselbe Erscheinung sagen können, sie unterliege dem Grundsatz der Kausalität und sei zugleich das Produkt absoluter Spontaneität. Genau dies ist die Aufgabe, die Kant sich im speziellen Auflösungskapitel der dritten Antinomie gestellt hat. Mit dem dritten „Moment" geht Kant nun zur Lösung dieser Aufgabe über: Er fragt zunächst nach der Funktion, die der Grundsatz der Kausalität hat. Seine Antwort lautet: Um bei allen Ereignissen „Ursachen in der Erscheinung, zu suchen und angeben zu können" (KrV, Β 572). Seine fundamentale Einsicht besteht nun darin, daß, auch wenn man in bezug auf die Erklärung dieser Ereignisse eine absolut spontane Ursache ausschließt, es durchaus damit vereinbar ist, wenn man manchen Ursachen ein kausales Vermögen zuschreibt, das nicht auf empirischen Bedingungen, sondern auf „Gründen des Verstandes" beruht. Die Möglichkeit der Vereinbarkeit beruht auf der transzendentalphilosophischen Differenz von Ding an sich und Erscheinung. Als Erschei-
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nung ist die Handlung des Subjekts „allen Gesetzen der empirischen Kausalität gemäß [...] und nur das [noumenon (sie!)] (Konjektur, Hartenstein) dieses Subjekts [...] würde gewisse Bedingungen enthalten, die, wenn man von dem empirischen Gegenstande zu dem transzendentalen aufsteigen will, als bloß intellegibel müßten angesehen werden" (KrV, Β 573). Nun will Kant die Freiheit der Handlung nicht etwa assertorisch beanspruchen. Er läßt keinen Zweifel daran, daß er dem Subjekt, als Noumenon gedacht, die Eigenschaft der absoluten Spontaneität nur problematisch zuschreibt, insofern dieser intellegible Grund „bloß das Denken im reinen Verstände [betrifft]"(KrV, Β 573). Wieso Kant legitimiert ist, dem Noumenon problematisch Eigenschaften zuzuschreiben, ist hinreichend gezeigt worden. Demnach kann man, wenn es um die theoretische Erkenntnis einer Handlung zu tun ist, von den Gründen des Verstandes gänzlich absehen und sie „aus ihrer Ursache in der Erscheinung nach Naturgesetzen vollkommen erklär[en]" und sie dennoch zugleich als die Wirkung eines intellegiblen Grundes betrachten. Kant referiert hier also bloß noch einmal jene Argumente, die er bereits im zweiten Teil, beim „Schattenriß" der Auflösung, erörtert hat. Darüber hinaus wird er nun jedoch auch noch dieses Ergebnis „auf Erfahrung anwenden". Diese Anwendung auf Erfahrung ist oben in ihren wesentlichen Zügen skizziert worden. Folgt man einer verbreiteten Meinung, dann will Kant an dieser Stelle von dem Ich-Bewußtsein des Menschen ausgehend eine „Deduktion der Willensfreiheit" durchführen (Gunkel 1989, S. 86, vgl. auch Böversen 1962, 5. 22). Indessen sei der „Schluß" von der „Freiheit zu denken" auf die „Freiheit zu wollen" ungültig, weil er gerade den spezifischen Unterschied zwischen theoretischem Verstand und praktischer Vernunft, den Kant erst in der zweiten Kritik deutlich gesehen habe, einebne. Deshalb müsse auch Kants „indirekte Deduktion" der Sittlichkeit aus der Einheit der Apperzeption scheitern (Henrich 1973, S. 247). Aufgrund dieser schweren Mißverständnisse, die das Verhältnis von Ich-Bewußtsein und Willensfreiheit produziert hat, wird es notwendig sein, an dieser Stelle noch einmal genauer zu untersuchen, welches Beweisziel Kant anstrebt, mit welchen Argumenten er es zu erreichen versucht und welchen Anspruch er dabei eigentlich erhebt. Kant will an Gegenständen der Erfahrung zeigen, wie mit dem in nicht-empirischer Reflexion gewonnenen Prinzipiendualismus des Grundsatzes der Kausalität und der Idee der Freiheit umzugehen ist. Es ist also nicht zu erwarten, daß Kant diese Prinzipien begründen oder beweisen wird, sondern, daß er uns zeigt, wie wir mit ihnen in bezug auf konkrete Erfah-
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rungsgegenstände umzugehen haben. Kants These ist, daß der Mensch ein Wesen ist, das ein angemessener Adressat zur Anwendung beider Prinzipien ist. In einem ersten Schritt wird die Grundvoraussetzung genannt, die ein Erfahrungsgegenstand erfüllen muß, damit ihm die Fähigkeit zugesprochen werden kann, eine Wirkung als Erscheinung aus absoluter Freiheit hervorzubringen: er muß eine „Naturursache" sein. Dies gilt nun für alle drei Arten von Erfahrungsgegenständen, die Kant in Erwägung zieht: leblose Natur, tierisch belebte Natur und Mensch. Als „Naturursachen" kommt ihnen allen ein „empirischer Charakter" zu, der unter dem Grundsatz der Kausalität steht (KrV, Β 574). In einem zweiten Schritt wird überprüft, ob die Kausalität dieser Gegenstände auch unter der Idee der absoluten Freiheit beurteilt werden kann. Dabei stellt er fest, daß ausschließlich der Mensch einen Grund dafür bietet: „Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich durch die Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption" (ebd.). Der Ausdruck „Ich denke" impliziert, daß es meine Vorstellung ist und mir die Vorstellung nicht etwa von außen zufällt. Andernfalls müßten wir mit Lichtenberg sagen, „es denkt in mir". Das ist nun freilich kein Beweis meiner Freiheit, erst Recht nicht der Willensfreiheit, sondern nur eine Explikation dessen, was in dem Ausdruck „ich denke" liegt. Kant will zunächst nur dafür argumentieren, daß wir als Wesen mit Ich-Bewußtsein immer schon voraussetzen, daß wir nicht alle Vorstellungen aus der Erfahrung gewinnen. Daß die Vorstellung eines „ich denke" alle meine Vorstellungen begleiten können muß und so als spontane Leistung des Subjekts nicht aus der Erfahrung gewonnen wird, sondern die Einheit der Erfahrung überhaupt erst herstellt, dafür hatte Kant in der Analytik argumentiert (KrV, Β 129-139). Hier soll nun nicht etwa nachträglich im Gegenzug zur Konzeption der Analytik eine inhaltliche Bestimmung des reinen Ichs als eines Subjekts mit Willensfreiheit unternommen werden (Gunkel 1989, S. 86). Kant will nur einen Grund dafür angeben, warum der Mensch im Unterschied zu anderen Gegenständen unter der Idee der Freiheit betrachtet werden kann. Und auch wenn Kant anschließend die Vermögen der Spontaneität des Subjektes benennt und die Spontaneität des Verstandes von der Spontaneität der Vernunft darin unterscheidet, daß jener immer auf Sinnesdaten angewiesen ist, während die Vernunft ihre Gegenstände „bloß nach Ideen" erwägt, ist Kant noch nicht bei der Freiheit des Willens angelangt (KrV, Β 575). Bis hierher sollen ausschließlich Gründe dafür angegeben werden, warum der Mensch nicht nur ein rezeptives Wesen ist, das auf Sinnesein-
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drücke angewiesen ist. Wenn wir den Menschen als ein verniinßiges Wesen denken, denken wir, daß er selbst Urheber seiner Prinzipien ist. Dieser Schritt ist für Kant analytisch, weil in dem Begriff „Vernunft" impliziert ist, daß sie Urheberin ihrer Prinzipien ist und andernfalls aufhörte Vernunft zu sein. Wenn Kant in diesem Zusammenhang von „Vernunft" spricht, ist die Vernunft überhaupt und nicht etwa ausschließlich die theoretische Vernunft gemeint. Theoretischer und praktischer Vernunft ist gemeinsam, daß ihre Vorstellungen nicht rezeptiv, sondern spontan hervorgebracht sind. Als theoretische Vernunft hat sie Vorstellungen davon, was der Fall ist., als praktische davon, was der Fall sein soll. Erst im dritten Schritt kommt nun die Freiheit des Willens ins Spiel. Vorher war es lediglich um die spontane Hervorbringung von Vernunfivorstellungen überhaupt gegangen, doch jetzt geht es darum, ob „Vernunft auch Kausalität habe", das bedeutet, ob sie auch „Ursache von Objekten" ist (ebd.). Damit ist Kant bei der Freiheit des Willens angelangt, die das eigentliche Thema des Auflösungskapitels ist. Schließlich soll hier geklärt werden, ob manche Ereignisse in der Sinnenwelt auch so gedacht werden können, daß sie aus einer Freiheitskausahtät entsprungen sind. Mit der Vernunft als „Ursache von Objekten" geht es um Vernunft, sofern sie unser Handeln und nicht etwa unser Erkennen bestimmt. Es geht um die Vernunft in praktischer und nicht etwa theoretischer Anwendung. Daß wir uns beim Menschen eine solche Freiheitskausalität denken, ist nicht bereits darin impliziert, daß er ein apperzipierendes Wesen ist, das über Verstand und Vernunft verfügt. Damit haben wir nur einen Grund, dem Menschen auch ein Vermögen zuzuschreiben, das nicht-sinnlich ist, sondern mit dem er selbst Vorstellungen hervorbringt. Daß dieses Vermögen auch Kausalität hat, liegt analytisch in den Imperativen., die wir uns qua Vernunft als Handlungsregeln auferlegen. Das „Sollen", das in diesen Imperativen zum Ausdruck kommt, kann nicht auf theoretische Erkenntnis zurückgeführt werden, weil der theoretische Verstand immer nur erkennen kann, „was da ist, oder gewesen ist, oder sein wird. Es ist unmöglich, daß etwas darin anders sein soll [...]". Sollen hat in bezug auf theoretische Erkenntnis, sei es empirische oder mathematische, „gar keine Bedeutung" (ebd.). Wenn wir denken, daß wir etwas sollen, dann implizieren wir damit, daß es möglich ist, daß der Grund unseres Handelns ein „bloßer Begriff' und nicht etwa eine Erscheinung sein kann. Unabhängig davon, ob die Vernunft uns moralische oder pragmatische Handlungsregeln vorschreibt, wir sind davon überzeugt, daß der Vernunftgrund „Kausalität haben könne", andernfalls hätten wir den Begriff des Sollens nicht richtig verstanden (KrV, Β 575f.). Insofern impliziert das Sollen (die Imperative, die wir uns
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vorschreiben) eine Kausalität der Vernunft, und das ist identisch mit der Freiheit unseres kausalen Vermögens, nämlich der Freiheit des Willens. Damit hat Kant sein Ziel erreicht. Er hat bewiesen, daß wir den Menschen als Vernunftwesen mit einem Willen als frei denken und dieser Gedanke legitim ist. Daß die Vernunft tatsächlich Kausalität hat, hat Kant nicht bewiesen und einen theoretischen Beweis prinzipiell ausgeschlossen. Er will es nur „als möglich annehmen·, die Vernunft habe wirklich Kausalität" (KrV, Β 576, Hervorhebung J. B.) und setzt ihre Kausalität hypothetisch voraus (KrV, Β 579). Er beweist, daß dieser Gedanke widerspruchsfrei ist. Mehr ist für den Status der Freiheit als eines problematischen Begriffes nicht erforderlich. Kant hat nicht von der „Freiheit des Denkens" auf „die Freiheit des Willens" geschlossen (Gunkel 1989, S. 87). Er hat auch nicht versucht, moralische Verpflichtung aus der Apperzeption indirekt zu deduzieren, um damit praktische Vernunft auf theoretische zurückzuführen (Henrich, 1973, S. 245 ff)·54 Es handelt sich hier um analytische Argumente, mit denen Kant erstens deutlich machen will, daß wir uns den Menschen (als Vernunftwesen) als ein spontanes Wesen denken, und zweitens, daß diese Spontaneität in Sollenssätzen als praktische Vernunft kausal mrksam gedacht wird. Wo kein Schluß vorliegt, kann es auch keinen Fehlschluß geben, und eine Deduktion, die nicht existiert, kann auch nicht scheitern. Daß die absolute Spontaneität der Vernunft eine notwendige Bedingung für sittliche Verpflichtung ist, ist unbestritten. Denn die Verpflichtung, die Kant in seiner Ethik meint, tritt mit dem Anspruch uneingeschränkter Notwendigkeit auf. Doch damit soll die Wirklichkeit dieser Verpflichtung in keiner Weise deduziert werden. Beide Einwände verfehlen schon die Eingangsvoraussetzung ihrer Gültigkeit: Sie haben keine Basis im Text. Der Mensch ist also ein Wesen, bei dem wir einen Grund haben, ihn in seinen Handlungen nicht nur nach dem Grundsatz der Kausalität, sondern auch nach der Idee der Freiheit zu beurteilen und ihm so einen doppelten Charakter zuzusprechen. Damit ist das vierte Moment angespro54
Man mißversteht die Kantische Argumentation, wenn man unterstellt, er habe von der „theoretischen Selbstgewißheit darauf geschlossen, „daß der sittliche Anspruch etwas Wirkliches ist" (Henrich 1973, S. 245). Kant will die Spontaneität der Vernunft nur als eine notwendige, nicht aber auch hinreichende Bedingung für sittliche Verpflichtung verstanden wissen. Noch einmal: „Vernunft" impliziert absolute Spontaneität (Freiheit des Denkens) und die Sollenssätze, die die Vernunft in praktischer Anwendung vorschreibt, implizieren, daß Vernunft Kausalität hat (Freiheit des Willens). Auch die Vorlesung-Völit\ und die Reflexionen 4220 und 4338, auf die Henrich sich in erster Linie bezieht (ohne Gründe dafür anzugeben, warum er die kryptischen Bemerkungen der ausgearbeiteten Argumentation der ersten Kritik vorzieht), können problemlos so verstanden werden.
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chen, dem Kant sich im Rahmen seiner Erläuterung des „Schattenrisses" zuwendet. Kant setzt hypothetisch voraus, daß die Vernunft Ursache von Erscheinungen sein kann. Wenn das der Fall ist, dann kann man an den Erscheinungen, die durch die Vernunft bewirkt werden, den empirischen Charakter der Vernunftkausalität ablesen. Wenn wir den empirischen Charakter eines Menschen beurteilen, beschreiben wir die „Kausalität seiner Vernunft, so fern diese an ihren Wirkungen in der Erscheinung eine Regel zeigt [...]". Diese Regel wird aus der Erfahrung gewonnen, indem wir den Menschen „beobachten". Wir schließen von dieser Regel auf die Vernunftgründe, die wir in „ihrer Art und ihren Graden" bestimmen, um auf diese Weise die „subjektiven Prinzipien" der Willkür (als dem kausalen Vermögen) des Subjekts zu beurteilen (KrV] Β 577). Wir schließen also von den Erscheinungen auf die kausale Disposition seiner Vernunft, auf seine „Denkungsart", weil wir voraussetzen, daß Vernunft die Ursache der Erscheinungen ist. Einen unmittelbaren, intuitiven Zugang zu der Denkungsart des Handelnden haben wir nicht. Wir sind angewiesen auf das, was sich uns in seinem Verhalten in der Erfahrung zeigt. So schließen wir von dem empirischen Charakter, der „Sinnesart" des Menschen, auf seinen intellegiblen Charakter, seine „Denkungsart" (KrV, Β 579). Sinnesart und Denkungsart verhalten sich zueinander wie „Zeichen" und „ [B] ezeichne [tes]" (KrV, Β 574, Β 579). Nun sagt Kant, daß „alle Handlungen des Menschen in der Erscheinung aus seinem empirischen Charakter und den mitwirkenden anderen Ursachen nach der Ordnung der Natur bestimmt [sind]". Seine Begründung lautet verkürzt: „Weil dieser empirische Charakter selbst aus den Erscheinungen [...] gezogen werden muß". Der empirische Charakter ist die kausale Disposition des Subjekts, wie es sich uns in seinen Handlungen in der Erfahrung zeigt. Diese kausale Disposition zusammen mit „den mitwirkenden anderen Ursachen", heute sprechen wir von „Umweltereignissen", stellen die Basis dar, das Verhalten eines Menschen „zu bestimmen", d. h., es auf Begriffe zu bringen. Als Erscheinungen stehen die Handlungen notwendig unter dem Grundsatz der Kausalität, und es ist die Aufgabe der empirischen Forschung, nachdem sie festgestellt hat, daß sich etwas ereignet und es sich nicht etwa nur um eine subjektive Wahrnehmung handelt, die Ursachen dieses Ereignisses aufzusuchen. Doch Kant scheint an dieser Stelle über sein transzendentales Prinzip hinausgehen zu wollen und auch noch das Bestehen spezieller psychologischer Gesetze, ja einen psychologischen Determinismus zu behaupten: ,,[W]enn wir alle Erscheinungen seiner Willkür bis auf den Grund erforschen könnten, so würde es keine einzige menschliche Handlung geben, die wir nicht
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mit Gewißheit vorhersagen und aus ihren vorhergehenden Bedingungen als notwendig erkennen könnten" (KrV, Β 577f.). In der zweiten Kritik hat Kant diese These wiederholt, sie sogar noch zugespitzt, indem er nun die Gesetze der Psychologie näher spezifiziert und sie analog zu den Gesetzen der (Astronomie) konzipiert. Dort sagt er, daß, „wenn es für uns möglich wäre, in eines Menschen Denkungsart, so wie sie sich durch innere sowohl als äußere Handlungen zeigt, so tiefe Einsicht zu haben, daß jede auch die mindeste Triebfeder dazu uns bekannt würde, imgleichen alle auf diese wirkende äußere Veranlassungen, man eines Menschen Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis, ausrechnen könnte, und dennoch dabei behaupten, daß der Mensch frei sei" (KpV, V 99 (A 177f.), Hervorhebung J. B.). Diese Auffassung ist Gegenstand größter Kritik gewesen. In diesen Aussagen bekunde sich Kants allgemeine Nachlässigkeit, den transzendentalen Grundsatz der Kausalität hinreichend klar von den speziellen Kausalgesetzen zu unterscheiden, und so glaube er am Ende, mit dem Theoriestück der zweiten Analogie der Erfahrung auch die Existenz spezieller Kausalgesetze bewiesen zu haben (Ertl 1998, 143 ff.). Darüber hinaus und weit folgenreicher bringe Kant seine Freiheitstheorie mit diesen Aussagen in eine Position, von der aus es unmöglich sei, den Menschen für sein Handeln verantwortlich zu machen. Kant könne nicht zugleich behaupten, daß jede Handlung eines Menschen vorherbestimmt sei und dennoch in Anspruch nehmen, daß er für sein Handeln verantwortlich sei (Beck 31995, S. 182). Eine dritte noch grundsätzlichere Kritik setzt bei der These des psychologischen Determinismus selbst an: In den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zählt Kant die Psychologie nicht mit zu den „eigentlichen Wissenschaften", weil „Mathematik auf die Phänomene des inneren Sinnes und ihre Gesetze nicht anwendbar ist". Kant liefert damit ein Argument, warum es keine speziellen Kausalgesetze, die im eigentlichen Sinn Gesetze genannt werden können, geben kann. Diese Theorie hat Anlaß dafür gegeben, Kant als einen Vorläufer eines anomalen Monismus, wie er von Davidson vertreten wird, zu interpretieren (Meerbote 1984a und b; Hudson 1994). Wie Kant dennoch von einem psychologischen Determinismus sprechen kann, muß von hier aus rätselhaft erscheinen (Brandt 2002, S. 162 f.). Ein erster Verteidigungsversuch will die beiden Behauptungen des psychologischen Determinismus auf der einen Seite und den Ausschluß der Psychologie aus dem Bereich eigentlicher Wissenschaft miteinander vereinbaren, indem dieser Ausschluß nur als aktual, nicht aber auch als prinzipiell verstanden werden muß. Folgt man diesem Ansatz, dann bedeutet allein die Tatsache, daß sich keine psychologischen Gesetze im 18.
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Jahrhundert formulieren ließen, nicht auch, daß sich prinzipiell keine psychologischen Gesetze finden lassen. Kant sagt ja ausdrücklich von der Chemie, die er ebenfalls nicht als „eigentliche Wissenschaft" gelten lassen will, daß „so lange [...] noch für die chymischen Wirkungen [...] kein Gesetz der Annäherung oder Entfernung der Teile [sich] angeben läßt, nach welchem [sich] ihre Bewegungen samt ihrer Folgen a priori anschaulich machen und darstellen lassen, kann Chymie nichts mehr als systematische Kunst, oder Experimentallehre, niemals aber eigentliche Wissenschaft werden [...]" (MAN, IV470f.(Axf.)). Positiv gewendet: Wenn für die Chemie solche Gesetze gefunden werden sollten, kann man ihr auch den Status einer „eigentlichen" Wissenschaft zusprechen. Was Kant für die Chemie in Anspruch nimmt, daß — so glaubt man — gelte mutatis mutandis auch für die Psychologie (Allison 1990, S. 34). Doch zum einen hat Kant bereits hinsichtlich der Chemie seine größten Zweifel, daß sie sich jemals als eigentliche Wissenschaft etablieren lasse, weil die mathematische Formulierung ihrer Gesetze eine Anforderung sei, die von der Chemie „schwerlich jemals erfüllt werden wird" (MAN, IV 471 (Α χ f.)). Zum anderen und entscheidend, gibt es einen prinzipiellen Unterschied zwischen Chemie und Psychologie, der eine Analogie in dieser Hinsicht ungültig macht. Dieser prinzipielle Unterschied ist der Grund dafür, daß die Psychologie ,,[n]och weiter [...] als [die] Chymie [...] von dem Range einer eigentlich so zu nennenden Naturwissenschaft entfernt bleiben [muß]" (ebd). Kant liefert in bezug auf die Psychologie drei Argumente, wovon bereits das erste ihre Konstitution als eigentliche Wissenschaft prinzipiell ausschließt: Mathematik ist nicht auf die Phänomene des inneren Sinnes anwendbar, weil der innere Sinn nur zeitliche und nicht etwa auch räumliche Anschauung bietet (MAN, IV 471 (Α χ f.)). Nun ist die Mathematisierbarkeit aber gerade das Kriterium, das darüber entscheidet, ob eine Wissenschaft zur „eigentlichen Wissenschaft" gezählt werden kann. Denn, „Eigentliche Wissenschaft kann nur diejenige genannt werden, deren Gewißheit apodiktisch ist; Erkenntnis, die bloß empirische Gewißheit enthalten kann, ist ein nur uneigentliches Wissen" (MAN, IV 468 (Α νj). Eine Wissenschaft, deren Gesetze nur „Erfahrungsgesetze" sind, hat den Namen einer Wissenschaft im starken Sinne nicht verdient. Nun ist etwas nur dann apodiktisch notwendig, wenn die Möglichkeit eines Dinges (Gegenstand der Physik, Psychologie) nicht aus der Erfahrung, sondern a priori erkannt werden kann. Die Möglichkeit eines Naturdinges a priori zu erkennen heißt aber, daß die dem Begriff korrespondierende Anschauung α priori und nicht etwa empirisch gegeben wird. Der Begriff muß also in reiner Anschauung a priori konstruiert werden. Mathematik ist diejenige
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Wissenschaft, die ihre Begriffe in reiner Anschauung a priori konstruiert. Aus diesem Grund behauptet Kant, daß eine „bestimmte Naturlehre" (Physik, Chemie, Psychologie) nur dann eigentliche Wissenschaft heißen darf, wenn sie „vermittels der Mathematik" die Möglichkeit ihrer Gegenstände erkennt (MAN, IV 470 (A ix)). Damit ist dann auch zugleich über den wissenschaftlichen Status der Psychologie entschieden: Weil psychologische Erkenntnis prinzipiell nicht mathematisierbar ist, erlangt sie nicht den Rang einer eigentlichen Wissenschaft. Die Systematik der Wissenschaften, die Kant in der Vorrede in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft entwickelt und in der er psychologisches Wissen aus der Menge des „eigentlichen" Wissens ausschließt, läßt sich folgendermaßen schematisieren. Naturlehre (material) Seelenlehre
Körperlehre
Historische Naturlehre
Reiner
Metaph. d. Natur (reine Phil. aus Begriffen)
Naturwissenschaft
Historische Naturlehre
Eigentliche Naturwissenschaft
Uneigentliche Naturwissenschaft
— • ? ? ?
Angewandter Teil
Mathematik (Konstruktion der Begriffe)
Allgemeiner (transz.) Teil
Besonderer Teil
Physik
C
ie
Naturwissenschaft Uneigentliche
(empirisch; nicht möglich, weil
nichtma_
thematisierbar)
(empirisch; „Wissenschaft", weil systematisch)
Dies ist der Ort, wo sich die Debatte um die Frage nach der Grundlegung der speziellen Kausalgesetze durch Transzendentalphilosophie entzündet.
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Bereits das erste jener drei Argumente ist hinreichend für den prinzipiellen Ausschluß strukturanaloger Gesetze von Psychologie und Physik (Astronomie). Die anderen beiden begründen dann bloß noch, warum die Psychologie im Unterschied zur Chemie nicht einmal als „systematische Zergliederungskunst" bzw. „Experimentallehre", sondern lediglich als eine „Naturbeschreibung der Seele" gelten kann. Das bedeutet aber auch, daß überhaupt nicht die Rede davon sein kann, daß es in der Psychologie möglich wäre, das Verhalten des Menschen mit Gewißheit vorher [zu] sagen" (KrV, Β 578), erst Recht nicht voizuszuberechnen wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis (KpV, V 99 (A 177)). Wer hier einwenden wollte, daß auch die gegenwärtige Psychologie ihre Aussagen mit statistischer Wahrscheinlichkeit auf eine mathematische Basis stellt, übersieht, daß gerade die Wahrscheinlichkeit es war, gegen die Kant mit seinem Anspruch auf apodiktische Notwendigkeit sich polemisch gewendet hat (Prol.,§ 31). Es ist dieser prinzipielle Ausschluß der Psychologie aus dem Bereich eigentlicher Wissenschaft, der in provokativem Widerspruch zur Voraussetzung psychologischer Gesetze steht, die der Physik (Astronomie) in ihrer Gewißheit in nichts nachstehen. Doch dieser Widerspruch ist nur scheinbar. In beiden Kritiken spricht Kant nämlich im Irrealis, wenn er über die Möglichkeit sicherer psychologischer Voraussagen spricht. In der ersten Kritik heißt es: Wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkür bis auf den Grund erforschen könnten [...]" (KrV, Β 577f., Hervorhebung]. B.). Dasselbe liest man auch in der zweiten Kritik. ,,[W|enn es für uns möglich wäre, in eines Menschen Denkungsart so tiefe Einsicht zu nehmen [...]" (KpV, 177, Hervorhebung J. B.) Nun könnte man darauf entgegnen, daß damit aber nicht auch bereits die prinzipielle Unmöglichkeit behauptet ist. Beide Formulierungen lassen sich auch so verstehen, daß sie lediglich die aktuelle Unmöglichkeit behaupten, nicht aber, daß Kant sich nicht auch eine fortgeschrittene Psychologie vorstellen kann, die zu absolut gewissen Prognosen in der Lage ist. Diese Spitzfindigkeit hilft nun den Kantischen Anspruch und die Reichweite seiner Argumentation genauer zu verstehen: Obwohl er in den Metaphysischen Anfangsgründen seine begründete Kritik an einer Psychologie als präzise prognostische Wissenschaft äußert, macht er doch von diesem Argument, wenn es um die menschliche Freiheit geht, keinen Gebrauch. Aus diesem Grund kann auch eine Rekonstruktion, die diese Kritik zu ihrem Ausgangspunkt macht, nicht mit Recht in Anspruch nehmen, Kants Freiheitstheorie zu rekonstruieren (Meerbote 1984a und b; Hudson 1994). Dabei wird ein Argument für einen Zweck funktionalisiert, den es im Rahmen der Kantischen Texte nachweislich nicht einnimmt. Kant wendet
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gegen die Vertreter eines psychologischen Determinismus gerade nicht seine prinzipielle Kritik an der Psychologie als eigentlicher Wissenschaft. Selbst wenn man aus Kants Aussagen einen anomalen Monismus zusammensetzen kann, um die menschliche Freiheit zu verteidigen, macht Kant keinen Gebrauch davon. Man muß Kant vielmehr so verstehen, daß er zu den Vertretern eines psychologischen Determinismus sagt: „Ich gebe euch einen psychologischen Determinismus gerne zu. Ich will euch sogar psychologische Gesetze einräumen, die mit dem gleichen Gewißheitsanspruch wie die Gesetze der Newtonischen Physik auftreten können. Ich könnte zwar gegen euch argumentieren, daß derartige Gesetze für die Psychologie aus prinzipiellen Gründen unmöglich sind, aber von diesem Argument muß ich gar keinen Gebrauch machen. Denn auch wenn es deterministische Naturgesetze für menschliches Verhalten gäbe, kann ich 'dennoch dabei behaupten, daß der Mensch frei sei'" (KpV, V 99 (A 177f.)). Das bedeutet, daß, wenn Kant im Irrealis voraussetzt, daß, wenn wir die Erscheinungen der Willkür eines Menschen „bis auf den Grund erforschen könnten", die Rede von „auf den Grund" so verstanden werden muß, daß wir nicht nur faktisch wissen, was diese Person für Motive und Antriebe verfolgt, sondern auch in welchem Zusammenhang diese Motive und Antriebe stehen. „Auf den Grund erforschen" kann hier so verstanden werden, daß damit ein Wissen über die speziellen Kausalgesetze vorliegt. Läge das Wissen über das Verhältnis der Erscheinungen zueinander nicht vor, könnte man nicht mit Recht sagen, sie „auf den GrunaF erforscht zu haben. Kant leitet an dieser Stelle nicht etwa einen psychologischen Determinismus aus seinem allgemeinen Kausalprinzip ab, vielmehr setzt er voraus, daß wir in empirischer Forschung auf der Grundlage des Kausalprinzips nach Ursache und Wirkungsverhältnissen geforscht haben und dabei auf spezielle psychologische Gesetze gestoßen sind, die uns eine sichere Prognose des menschlichen Verhaltens ermöglichen. Der Grundsatz der Kausalität bedeutet nicht auch schon die Wirklichkeit psychologischer Gesetze; sie zu finden ist die Aufgabe der empirischen Wissenschaft. Es kann daher auch keine Rede davon sein, daß Kant aus dem Grundsatz der Kausalität das Bestehen eines psychologischen Determinismus ableitet. Seine These ist vielmehr, daß Freiheit als Erstursächlichkeit nicht nur mit dem Grundsatz der Kausalität, sondern auch mit einem psychologischen Determinismus vereinbar ist, dessen Gesetze mit dem gleichen Gewißheitsanspruch auftreten können wie die Gesetze der Physik. Es scheint vergleichsweise unproblematisch zu sein, den regulativkonstitutiven Grundsatz der Kausalität mit der Idee der Freiheit zu ver-
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einbaren. Aber wie es möglich sein soll, auch an der Freiheit und damit an der Zurechenbarkeit des Menschen festzuhalten, obgleich sein Handeln wie eine Mondfinsternis vorauszuberechnen ist, das ist es, was einige dazu veranlaßt hat, Kants Anspruch abzuschwächen (Buchdahl 1992) und seine Freiheitstheorie einer grundlegenden „Revision" zu unterziehen (Beck 31995, S. 184). Kant ist indessen davon überzeugt, mit der Vereinigung des Grundsatzes der Kausalität und der Idee der Freiheit zugleich auch die Grundlage für die Vereinigung mit einem psychologischen Determinismus gelegt zu haben. Er geht unmittelbar von dem einen zum anderen über, ohne ein zusätzliches Argument geltend zu machen. Das hat folgenden Grund: Der Grundsatz der Kausalität beweist, daß man von keiner gegebenen Handlung sagen kann, daß sie aus Erstursächüchkeit entstanden ist. Vielmehr ist sie als gegebene Erscheinung etwas Bedingtes. Nun konnte Kant aber zugleich beweisen, daß dies nicht das einzige Prinzip ist, nach dem wir die Kausalität von Erscheinungen denken müssen, sondern wir bei einem Vemunftwesen auch noch einen Grund haben, ihm eine Kausalität aus Freiheit (Erstursächüchkeit) zuzuschreiben. Wenn es jedoch zutrifft — und das ist entscheidend für die Vereinbarkeit von psychologischem Determinismus und der Idee der Freiheit —, daß die empirische Forschung immer bei gegebenen Handlungen ansetzen muß, dann beruhen ihre Voraussagen nicht auf etwas Unbedingtem, sondern auf etwas, das selbst bedingt ist. Auch wenn wir also von einer gegebenen Handlung (Erscheinung) ausgehend durch Berechnungen exakte Prognosen anstellen können, ist damit noch nicht die Freiheit des Menschen ausgeschlossen. Vielmehr können wir ihn selbst als den Urheber jenes Gegebenen ansehen, als jemanden, der sein kausales Potential selbst schöpft.55 Wenn man also voraussetzt, daß die Vernunft „Kausalität in Ansehung der Erscheinung [habe]", dann kann man den Menschen zugleich als frei und naturkausal determiniert betrachten. Betrachten wir ihn lediglich hinsichtlich seiner Handlungen, wie sie uns raumzeitlich gegeben sind, stehen sie alle unter dem Grundsatz der Kausalität, der keine unbedingte Bedingung zuläßt. Als solcher ist der Mensch Gegenstand der theoretischen Erkenntnis. Denken wir aber die Vernunft als Ursache der Erscheinung, dann betrachten wir den Menschen in „praktischer Absicht". Die 55
Deshalb ist im Rahmen der Auflösung die Diskussion, ob Kant von seinem transzendentalen Kausalprinzip auf das Bestehen spezieller Kausalgesetze schließt, die notwendig gültig sind, überflüssig. Ob in der %weiten Analoge ein derartiger Schluß vorliegt, kann hier sogar dahingestellt bleiben. Im Rahmen der Auflösung wird ein Prädeterminismus in der Natur lediglich hypothetisch vorausgesetzt, um zu beweisen, daß er die Möglichkeit einer Freiheit als Erstursächüchkeit nicht ausschließt.
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Regel, die uns bei dieser Beurteilung leitet, ist normativ und nicht etwa deskriptiv. Sie ist praktisch und nicht theoretisch. Indem wir dem Menschen eine Sollensregel vorschreiben, setzen wir voraus, daß der Mensch als Vernunftwesen eine „Reihe von Wirkungen zuerst anfängt". Die Vernunft ist „selbst keine Erscheinung und gar keinen Bedingungen der Sinnlichkeit unterworfen". Sie unterliegt daher auch nicht dem Grundsatz der Kausalität und kann so als die beharrliche Bedingung gelten, die allen willkürlichen Handlungen des Menschen zugrunde liegt (KrV, Β 581). Als eine empirisch unbedingte Kausalität ist Vernunft nicht nur „unabhängig von empirischen Bedingungen", sondern, wenn man sie als kausales Vermögen denkt, muß sie selbst eine Ursache sein. Als Ursache kann man sie positiv als das Vermögen bestimmen, „eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen" (KrV, Β 582). Damit ist die Erörterung des vierten Moments abgeschlossen und aus dem „Schattenriß" eine detaillierte Zeichnung geworden. Es folgen nun nicht noch zusätzliche Argumente für die Vereinbarkeit von Natur und Freiheit, vielmehr soll das „regulative Prinzip der Vernunft durch ein Beispiel aus dem empirischen Gebrauch" dieses regulativen Prinzips erläutert und nicht etwa erweitert werden (ebd.).56 Das Beispiel, an dem Kant die Anwendung des regulativen Prinzips erläutert, ist eine „boshafte Lüge", wobei die Boshaftigkeit ursprünglich kein empirisches Prädikat ist. Betrachtet man diese Handlung nämlich hinsichtlich des empirischen Charakters, ist so etwas wie Bosheit nicht zu erkennen. In der empirisch-anthropologischen Forschung werden nämlich lediglich die empirischen Motivationsgründe, die „Bewegursachen" untersucht, auf die die Handlung zurückzuführen ist. Kant nennt fünf Faktoren, nach denen der empirische Charakter eines Menschen zu beurteilen Arstens muß untersucht werden, auf welche Art jener Lügner erzogen worden ist. Damit ist zweitens die Untersuchung des Milieus, der „Gesellschaft", verbunden, zu der er gehört und in der er groß geworden ist. Drittens richtet sich die Forschung auf sein „Naturell". Das Naturell ist eine Naturanlage, die das Gefühl der Lust oder Unlust zum Ausdruck
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Damit wird auch erkenntlich, daß Kant im Rahmen der Auflösung der dritten Antinomie nur die Grundlagen für die Vereinbarkeit von menschlicher Freiheit und göttlicher Schöpfung darlegt, sie aber nicht auch ausarbeitet. Wenn es ihm um den empirischen Gebrauch der regulativen Prinzipien zu tun ist, muß diese Frage auch nicht sein Thema sein. Dem Problem der Vereinbarkeit von menschlicher Freiheit und göttlicher Schöpfung stellt Kant sich jedoch im Rahmen der kritischen Beleuchtung der zweiten Kritik und nimmt auch damit, wie Schulz plausibel macht (Schuld 1975, S. 146), einen Einwand von Pistorius auf (KpV, 100103 (A 179-185). Für eine erste Annäherung an diese Problematik s. Kaehler 1991).
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bringt, „wie ein Mensch vom andern affiziert wird". Wenn wir jemanden hinsichtlich seines Naturells beurteilen, bezeichnen wir ihn ζ. B. als „gutmütig", weil er „nicht störrisch, sondern nachgebend [...], leicht besänftigt [werden kann] und „keinen Groll [hegt]". (ApH, VII285 β 254)). Negativ gewendet erhält man das Naturell eines „bösartigen" Menschen. Kant spricht bei der Analyse des empirischen Charakters des boshaften Lügners von seinem „Leichtsinn" und seiner „Unbesonnenheit". Damit ist viertens sein Temperament angesprochen, das Kant in der pragmatischen Anthropologie allgemein, in „sanguinisch", „melancholisch", „cholerisch" und „phlegmatisch" einteilt (ApH, VII 286-290 (B 255-263)). Sowohl das Temperament als auch das Naturell sind von der „habituellen Disposition" zu unterscheiden. Eine habituelle Disposition ist nicht eine Naturanlage, sondern eine Veranlagung, die „durch Gewohnheit %uge%ogen" ist. Gewohnheiten entstehen nicht aus sich selbst, sondern nur wenn „Gelegenheitsursachen" sie ermöglichen. Wäre etwa jemand nicht mehrfach in die Situation gekommen, sich durch eine bestimmte Handlung einen Vorteil zu verschaffen, hätte er auch nicht die Gewohnheit zu dieser Handlung entwickelt. Deshalb dürfen fünftens bei der Untersuchung des empirischen Charakters eines Menschen die „veranlassenden Gelegenheitsursachen nicht aus der Acht" gelassen werden, weil sie Einfluß auf das gesamte Potential des empirischen Charakters haben (KrV, Β 582). Dieselbe Handlung kann aber nicht nur in empirisch-theoretischer, sondern auch in nicht-empirisch praktischer Perspektive betrachtet werden. In diesem Fall sieht man von allen sinnlichen Ursachen ab und „tadelt" das Verhalten des Lügners. Nun sind es nicht die sinnlichen Ursachen, die die Handlung bestimmen, sondern sie wird dem Subjekt der Handlung selbst „zugerechnet". Man setzt dabei voraus, daß die Tat „gänzlich unbedingt in Ansehung des vorigen Zustandes [sei], als ob der Täter damit eine Reihe von Folgen ganz von selbst anhebe" (KrV, -B 583, Hervorhebung J. B.). Man unterstellt also nicht die Freiheit theoretisch zu erkennen, sondern die Idee der Freiheit bleibt ein problematischregulatives Prinzip und die Handlung wird so betrachtet, „als ob" sie aus absoluter Freiheit geschieht. Die Zurechnung des Täters erfolgt in bezug auf ein „Gesetz der Vernunft". Mit diesem Gesetz ist offenbar auch in der ersten Kritik ein kategomc^-gebietendes Mo ra/ge setz gemeint. Denn das Gesetz wird so vorgestellt, daß in ihm eine Kausalität der Vernunft gedacht wird, „welche das Verhalten des Menschen, unangesehen aller genannten empirischen Bedingungen, anders habe bestimmen können und sollen" (ebd., Hervorhebung J. B.). Dieses Gesetz: impliziert, daß wir alle bloß subjektiven Motive suspendieren und sie unter seine einschränkende Bedingung stellen können. Auch wenn unsere
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sinnlichen Motivationsgründe gegen die moralische Handlung gerichtet sind, dieses Gesetz setzt mit seinem uneingeschränkten Sollensanspruch voraus, daß die Kausalität der Vernunft „an sich selbst vollständig" ist, so daß es für das Zustandekommen der Handlung keiner sinnlichen Motive bedarf, sondern allein die Vernunftgründe hinreichend sind.57 Wenn wir die boshafte Lüge nach dem Moralgesetz zurechnen, unterstellen wir, daß ein nicht-empirischer Vernunftgrund Ursache der Handlung hätte sein können. Der Lügner hätte sich dem Vernunftgrund, dem Moralgesetz, entsprechend verhalten und „die Lüge [...] unterlassen können". Auf dieser „Unterlassung" einer vernünftigen Handlung beruht seine „Schuld" und unser Tadel (KrV, Β 583f.). Der Grund dafür, daß wir Menschen ihre Handlungen zurechnen und nicht andere Ursachen geltend machen, ist also, daß wir eine Kausalität der Vernunft unterstellen, die Einfluß auf das Handeln des Subjekts nehmen kann. Die spezifische kausale Disposition des intellegiblen Charakters, der Denkungsart eines Menschen, bleibt für uns jedoch unzugänglich, weil wir nicht wie Gott über eine intellektuelle Anschauung verfügen, mit der wir als „Herzenskündiger" (ReL, VI 67 (B 85), VI 99 β 139); MS/TL, VI 430 (A 86), 439 (A 101)) den intellegiblen Charakter eines Menschen unmittelbar erkennen könnten. Wir können nur von dem Verhalten des Menschen, wie es sich uns in der Erfahrung zeigt, auf seine Denkungsart schließen. Der Grad der Zurechnung muß daher nach dem empirischen Charakter, der Sinnesart, bestimmt werden und ,,[d]ie eigentliche Moralität der Handlungen [...], selbst die unseres eigenen Verhaltens, [uns] gänzlich verborgen [bleiben]". In welchem Maße die Handlung eine „reine Wirkung der Freiheit" ist oder „dem unverschuldeten Fehler des Temperaments" zukommt, „kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten" (KrV, Β 579). Wenn wir in einem bestimmten Fall, wie dem der boshaften Lüge, den Grad der Zurechnung bestimmen, kommen beide Perspektiven zur Anwendung. Wir verurteilen das Verhalten des Lügners in bezug auf das moralische Gesetz, das diese Handlung kategorisch ausschließt und unterstellen damit, daß der Lügner ein geeigneter Adressat für kategorische Gesetze ist. Anschließend wenden wir uns dem konkreten Fall zu und untersuchen den empirischen Charakter des Handelnden gemäß den oben angeführten Kriterien. Je geringer seine Freiheit ist, desto weniger ist ihm 57
Bemerkenswert ist, daß hier reine Vernunft hinnichend für den Vollzug der Handlung ist und es keinerlei sinnlicher Triebfedern bedarf. Auch wenn Kant in der KrV noch das Theoriestück der „Achtung vor dem Gesetz", gefehlt hat, scheint er sich bereits darüber im Klaren zu sein, daß mit sinnlichen Triebfedern die Moralität der Handlung undenkbar ist (s. da%u Exkurs).
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die Tat zuzurechnen (Ethik, 71; MS-Vigilantius, XXVII 567): „Je mehr einer von außen zu einer Handlung gezwungen wird, desto weniger wird ihm die Handlung imputiert; überwindet er aber den Zwang und unterläßt doch die Handlung, so wird es ihm desto mehr imputiert" (Ethik, 72). Gleichwohl unterstellen wir, daß es dem Handelnden möglich gewesen ist, sich dem Moralgesetz entsprechend zu verhalten und die Lüge zu unterlassen. Wenn wir den Grad der Zurechnung bestimmen und den empirischen Charakter des Handelnden beurteilen, legen wir also den relativen und nicht etwa den absoluten Begriff der Freiheit zugrunde. Wir beurteilen die Stärke der äußeren und inneren Zwänge und damit seine Handlungsfreiheit. Damit wird seine Willensfreiheit (theoretisch verstanden) als das Vermögen, „eine Reihe von selbst anzufangen", nicht angezweifelt. Als ein Adressat eines kategorischen Vernunftgesetzes wird vielmehr vorausgesetzt, daß dem Handelnden, sofern er ein Vernunftwesen ist, dessen Vernunft Kausalität hat, ihm die Fähigkeit zukommt, dem Moralgesetz entsprechend zu handeln und er seinen Willen anders hätte bestimmen können und damit die unmoralische Handlung auch hätte unterlassen können. Wir unterstellen damit, daß der empirische Charakter ein anderer hätte sein können, wenn der intellegible Charakter ihn anders bestimmt hätte. Und so entschuldigen wir nicht etwa das Verhalten des Lügners, sondern wir schließen von dem Charakter, dem kausalen Potential des Handelnden, das wir durch Erfahrung erkennen können, auf die Denkungsart, den intellegiblen Charakter, der den Handlungen zugrunde liegt, auch wenn wir ihn nicht mit Sicherheit erkennen können. Damit ist die Auflösung der dritten Antinomie abgeschlossen. Kant hat gezeigt, wie wir dieselbe Erscheinung nach zwei scheinbar sich ausschließenden Prinzipien beurteilen können. Kants erste entscheidende Einsicht bestand darin, daß die Vernunft über keine synthetischen Grundsätze verfügt, weil die absolute Vollständigkeit in der Reihe der Ursachen im empirischen Regreß prinzipiell nicht zu erreichen ist. Aus diesem Grund hat er den synthetischen Grundsatz auf ein bescheideneres ,analytisches Postulat' eingeschränkt, das als eine Regel dient, die uns sagt, wie wir den empirischen Regreß anstellen müssen, um zur größtmöglichen Vollständigkeit der Erkenntnis zu gelangen. Da im Fall des Verhältnisses von Grund und Folge der Regreß sich unbestimmbar weit erstreckt, dürfen wir mit der empirischen Forschung nicht aufhören, sondern müssen immer nach weiteren Ursachen fragen. Der Idee der absoluten Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung liegt der Begriff des „Unbedingten" zugrunde. Dieser kann einmal
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als Erstursächlichkeit aber auch als infiniter Regreß verstanden werden. Beide Begriffe des Unbedingten sind Vernunftideen, denen kein Gegenstand in der Erfahrung korrespondiert. Dem Unbedingten als infinitem Regreß kommt objektive Realität zu in bezug auf die systematische Einheit der Erkenntnis. Es ist eine „notwendige Maxime" der Vernunft in der Erklärung gegebener Erscheinung so zu verfahren, als ob die Reihe an sich unendlich wäre, d. i. in indefinitum [...]" (KrV, Β 713). Die objektive Realität dieses regulativen Prinzips wird also relativ auf die Einheit der Erkenntnis etabliert. Die Vernunft kann die „systematische Einheit nicht anders denken, als daß sie ihrer Idee zugleich einen Gegenstand gibt, der aber durch keine Erfahrung gegeben werden kann" (KrV, Β 709). Nun war dieses regulative Prinzip im Fall der dritten Antinomie nicht das einzig denkmögliche. Grundlegend hierfür war, daß im dynamischen Verhältnis von Grund und Folge, wo es um die Erklärung des Oaseins, der Existenz einer Erscheinung zu tun ist, im Unterschied zum mathematischen Verhältnis, das mit der Bestimmung der Größe befaßt ist, auch ein im Verhältnis zur Folge ungleichartiger Grund möglich ist. Deshalb konnte im Fall der dritten Antinomie beiden Streitparteien, nachdem sie den Geltungsbereich ihrer Aussagen auf Noumena bzw. auf Erscheinungen eingeschränkt hatten, stattgegeben werden. Wenn man von dem Erscheinungscharakter der Gegenstände abstrahiert und sie nicht als Erscheinungen, sondern an sich selbst betrachtet, ist es auch erlaubt, sie als frei zu denken. Damit wird nicht behauptet, daß wir die Freiheit der Gegenstände tatsächlich erkennen könnten, so daß der Idee der Freiheit ein Objekt in der Wahrnehmung korrespondieren würde. Freiheit als eine unbedingte Ursache, als Erstursächlichkeit, ist ebenfalls ein Fall der Idee der absoluten Vollständigkeit der Erscheinungen, die im empirischen Regreß nicht erreicht werden kann. Anders als die Annahme eines potentiell infiniten Regresses hat die Idee einer unbedingten Ursache in bezug auf die systematische Einheit der Naturerkenntnis keine Funktion. Doch auch die Freiheit kann relativ angenommen werden. Sie übernimmt ihre Funktion in bezug auf praktische Prinzipien. Denn in unseren praktischen Prinzipien als Sollenssätzen betrachten wir „die Vernunft selbst als bestimmende Ursache" und setzen so „die Bedingung nicht mehr in die Reihe der Erscheinungen". Wir müssen daher, wenn wir die Handlung eines Vernunftwesens beurteilen, sie so betrachten, „als ob sie schlechthin (durch eine intelligible Ursache) angefangen würde" (KrV, Β 713). Wir haben es also im Fall der dritten Antinomie nicht nur mit einem Prinzip zu tun, das uns als heuristisches Prinzip der empirischen Forschung dient und als solches in bezug auf die systematische Einheit der Naturer-
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kenntnis objektive Realität hat, sondern mit zwei Prinzipien. Von hier aus ergibt sich nun das Problem, wie beide Prinzipien in bezug auf dieselbe Erscheinung (Handlung) angewendet werden sollen. Mit der 3weiten Analogie der Erfahrung ist die objektive Realität des Grundsatzes der Kausalität in bezug auf Erscheinungen bewiesen worden. Ohne über die absolute Totalität der Bedingungen eine Aussage gemacht zu haben, stand doch damit bereits fest, daß in der objektiven Naturerkenntnis so etwas wie Erstursächlichkeit prinzipiell nicht angenommen werden kann. Die Frage ist, wie wir dennoch in bezug auf dieselben Ereignisse, die dem Grundsatz der Kausalität unterliegen, behaupten können, daß sie frei sind. Es scheint, als müßten sich beide Prinzipien exklusiv zueinander verhalten, so daß eine Erscheinung nicht zugleich als frei und naturkausal determiniert betrachtet werden kann. Diese beiden Prinzipien in bezug auf dieselbe Erscheinung zu vereinbaren und so den empirischen Gebrauch der regulativen Prinzipien zu erklären, ist das Problem, dem Kant sich in der Auflösung der dritten Antinomie zuwendet und das ihm eine so außerordentlich große Erklärungsleistung abgefordert hat. Kants Lösung besteht nun darin, daß die transzendentalphilosophische Differenz von Ding an sich und Erscheinung uns dazu berechtigt, Gegenstände zu denken, die selbst nicht verursacht sind, aber zugleich Ursache von Erscheinungen sein können. Bei diesen Wesen denken wir uns ein kausales Vermögen, das selbst nicht Gegenstand der sinnlichen Anschauung ist. Nun gibt der Mensch als Vernunftwesen uns Anlaß, ihn nicht nur als Erscheinung zu betrachten. Die Sollenssätze, die er sich auferlegt, implizieren, daß die Vernunft ein kausales Vermögen ist, das Ursache von Objekten in der empirischen Welt sein kann. Diese Objekte unterliegen aber zugleich als Erscheinungen dem Grundsatz der Kausalität. Selbst wenn in der empirischen Psychologie deterministische Gesetze möglich wären, mit denen man das Verhalten des Menschen vorausberechnen könnte, ist damit die Freiheit des Willens nicht ausgeschlossen. Vielmehr müssen die empirischen Wissenschaften, auch wenn sie mathematisierbar sind, immer von gegebenen Erscheinungen ausgehen. Wir können daher das Vernunftwesen mit seiner nicht-empirischen Kausalität als den Urheber der Erscheinungen ansehen, der sein kausales Potential selbst hervorbringt. Auf diese Weise ist der Mensch zum einen Gegenstand der empirischen Forschung. Seine Handlungen gehören als Erscheinungen in eine Ursachenkette, die so betrachtet werden muß, als ob [sie] an sich unendlich wäre [...]". Zum anderen muß die Ursachenkette aber auch so gedacht werden „als ob [sie] schlechthin (durch eine intelligible Ursache) angefangen würde" (KrV', Β 713). Der Mensch wird dann als ein moralisch ver-
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pflichtetes Wesen, bei dem die Vernunft die Handlung bestimmen kann, gedacht. Daß wir berechtigt sind, dem Menschen eine derartige Kausalität zuzusprechen, kann nicht positiv bewiesen werden. Der Grundsatz der Kausalität ist jedoch auf Erscheinungen eingeschränkt. Erscheinungen sind nur eine Teilklasse der Gegenstände überhaupt, und wir sind daher berechtigt, dem Menschen als einem Vernunftwesen, das Sollensansprüchen unterliegt, eine Freiheitskausalitätproblematisch zuzusprechen. Damit hat Kant nicht auch eine Deduktion der uneingeschränkt gebietenden Sollensansprüche selbst geliefert. Er setzt deren Gültigkeit in der ersten Kritik vielmehr hypothetisch voraus (KrV, Β xxviii, Β 835) und will in der Auflösung der dritten Antinomie lediglich beweisen, daß Freiheit als notwendige Bedingung uneingeschränkter Verpflichtung sich widerspruchsfrei denken läßt. Denn „ohne Voraussetzung der Freiheit" wären „ursprüngliche Grundsätze" (d. h. nicht die aus der Erfahrung abgeleiteten pragmatischen, sondern die moralischen Grundsätze der reinen Vernunft) „schlechterdings unmöglich". Hätte die Kritik der spekulativen Vernunft bewiesen, „daß [Freiheit] sich gar nicht denken lasse, so muß notwendig [...] Sittlichkeit dem Naturmechanism den Platz einräumen" (Kr]/, Β xxviii f.). Mit der Lösung der dieses Problems entscheidet sich also, ob Freiheit, die wir in unseren moralisch-praktischen Lebensvollzügen immer schon voraussetzen, überhaupt mit Naturkausalität vereinbar ist. Man kann von hier aus nicht noch einmal zurückfragen: „Aber muten wir dem ,Täter' mit einem kategorischen Anspruch nicht etwas zu, was er gar nicht erfüllen kann?" Die Diskussion um einen absoluten Naturdeterminismus ist abgeschlossen mit dem Ergebnis, daß der Grundsatz der Kausalität auf Erscheinungen eingeschränkt werden muß und wir legitimiert sind, Freiheit als Erstursächlichkeit problematisch zu denken. Es gibt in der sinnlichen Anschauung keinen Gegenstand, der dem Begriff der Freiheit entspricht, und sie konnte auch nicht als Bedingung der Möglichkeit der Gegenstandserfahrung etabliert werden. Kant hat nicht versucht, über die Kritik unseres theoretischen Erkenntnisvermögens die Gültigkeit moralischer Verpflichtung zu rechtfertigen. Sein Versuch muß vielmehr so verstanden werden, daß er zeigen wollte, warum absolute Freiheit als notwendige Bedingung dieser Verpflichtung denkmöglich ist. Darüber hinaus ist prinzipiell keine weitere Aussage möglich. Damit hat Kant den Moralskeptiker, der daran zweifelt, daß der Mensch ein angemessener Adressat für uneingeschränkt gebietende Sollensansprüche ist, in die prinzipiell uneinlösbare Position gebracht, selbst einen positiven Beweis für einen universellen und nicht etwa nur empirischen Naturdeterminismus erbringen zu müssen (vgl. KrV, Β 804).
Exkurs: Kants Freiheitstheorie Eine genealogische Skizze Wie doch ein einiger Reicher so viele Bettlerin Nahrung Set^t! Wenn die Könige baun, haben die Kärrner tun. (Johann Wolfgang Goethe) Eine umfassende genealogische Arbeit zu Kants Freiheitsbegriff sucht man in der Kantliteratur vergeblich. Arbeiten, die sich teilweise mit diesem Thema befassen oder angrenzende Themen behandeln, sind meist nicht an der Entwicklung innerhalb der kritischen Zeit, sondern von der sogenannten vorkritischen zur kritischen Periode interessiert, (ίζ. Β. Schwaiger, 1999, Kawamura 1996; Henrich 1957; ders. 1963; Schmucker 1961). Dabei wäre es verkehrt, wenn man behaupten wollte, daß sich nach der Veröffentlichung der ersten Kritik in Kants Theorie der Freiheit nichts geändert hätte. Diese Änderungen betreffen allerdings, wie sich zeigen wird, nicht den theoretischen, sondern den praktischen Freiheitsbegriff. Ein Grund für das Fehlen einer solchen Arbeit ist sicherlich, daß rezeptionsgeschichtlich nicht alle Teile der ersten Kritik die gleiche Beachtung erhalten haben und man die praktische Philosophie darin oft gar nicht zur Kenntnis nimmt. Vielmehr hat sich eine einseitige Lektüre durchgesetzt, die, wenn sie überhaupt über die Analytik hinausgeht, nur in sehr seltenen Fällen auch noch über die Dialektik hinaus bis zur Methodenlehre vordringt.58
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Dementsprechend wenig kommentiert sind denn auch die Entwürfe zu einer praktischen Philosophie, die Kant in der ersten Kritik entwickelt. Es ist daher auch nicht verwunderlich, wenn auch textkundige Interpreten Kants Rede von „praktischer Freiheit" in der Dialektik unmittelbar auf die ,.Autonomie" seiner moralphilosophischen Hauptschriften und nicht etwa auf den Kanon der ersten Kritik beziehen (Heidegger 21994, S. 264f.). Und dort, wo man sich dann doch diesem Textstück zuwendet, ist der Blick ebenfalls durch die späteren Schriften verstellt. Die Behauptung, die praktische Freiheit habe in bezug auf Gott und Unsterblichkeit eine „fundierende Sonderstellung" (Recki 1998, S. 602), hat sehr wohl in bezug auf die zweite Kritik ihre Berechtigung (KpV V, 3 f . (A 4 ff.)), doch für das KanonKapitel der ersten Kritik gilt, daß praktische Freiheit durch Erfahrung bewiesen werden kann
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Doch auch mit der Veröffentlichung der Grundlegung nach der ersten Kritik ist die Entwicklung von Kants Moralphilosophie und damit seines Freiheitsbegriffs nicht an ihr Ende gekommen. Auch wenn sich wesentliche Teile der Grundlegung auch in der zweiten Kritik wiederfinden, gilt dies gerade nicht für Kants Deduktion des Moralgesetzes und damit auch nicht für seine Deduktion der Freiheit. Die zweite Kritik ist hinsichtlich des Freiheitsbegriffs der epistemische Höhepunkt der Kantischen Philosophie. Erst die Deduktion der Freiheit aus dem Moralgesetz als Faktum der reinen Vernunft erlaubt es Kant, der transzendentalen Freiheit objektive Realität zu verschaffen und sie zu den Gegenständen des Wissens zu zählen (KpV, V3f. (A 4 f.), 47f. (A 82f.)). Auch wenn sich Kants praktische Philosophie von der ersten zur zweiten Kritik gewandelt hat,59 sind wesentliche Theoriebausteine aus der Grundlegung und selbst aus dem Kanon auch in der zweiten Kritik noch systembildend. Es lassen sich sogar moralphilosophische Grundüberzeugungen und begriffliche Distinktionen über den Kanon hinaus bis in die sogenannte vorkritische Zeit zurückverfolgen. Daß beispielsweise das Moralgesetz ein reines Vernunftgesetz ist und voraussetzungslos, kategorisch gebietet, das hat Kant nicht nur bereits im Kanon (KrV, Β 835), sondern sogar bereits in den sechziger Jahren behauptet (vgl. Schmucker, 1961, S. 62 f.; Henrich, 1963, S. 406f.). Allerdings hat Kant nicht immer auch aus dieser Grundüberzeugung schon alle systematischen Konsequenzen gezogen. Im Zuge der Ausarbeitung seiner praktischen Philosophie ergänzt er sie nicht nur, sondern es kommt dabei auch zu sachlichen Korrekturen. Es wäre nicht viel damit gewonnen, wenn man bloß die Entwicklung und Veränderungen beschreiben würde, die Kant in der Ausarbeitung seiner praktischen Philosophie vorgenommen hat. Es gilt vielmehr, die systematischen Motive dieser Entwicklung freizulegen und sie aus ihnen heraus zu erklären. Erst anschließend läßt sich rechtfertigen, warum bestimmte Probleme und Argumente im Rahmen des veränderten Theorieentwurfs übernommen oder ersetzt worden sind. Mit diesem Exkurs wird dafür argumentiert, daß der Textkorpus, der für die Rekonstruktion von Kants Freiheitstheorie zugrunde gelegt wer-
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und deshalb gerade nicht in den Kanon der reinen Vernunft aufgenommen werden kann. Dies sind nur zwei Beispiele dafür, daß eine Gefahr besteht, Kants praktische Philosophie von 1781 mit seinen späteren Schriften zu identifizieren. Für einen Versuch, die Wandlungen von Kants praktischer Philosophie von der ersten Kritik zur Grundlegung aufzuklären s. Förster 1992. Förster vertritt im Rückgriff auf Reich die These, daß Kants Wandel sich in Auseinandersetzung mit Garves Cicero-Ausgabe vollzogen hat (Reich, 1935). Für eine Kritik an Förster s. Kraft; Schönecker 1999.
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den muß, sich um die Grundlegung und den Kanon reduzieren läßt. Damit wird gerechtfertigt, warum in dieser Untersuchung kein Gebrauch von Argumenten gemacht worden ist, die sich allein im Kanon oder der Grundlegung finden lassen. Kants Theorie der Freiheit aus der Grundlegung und dem Kanon wird durch seine Freiheitstheorie der zweiten Kritik überflüssig gemacht. Zum einen deshalb, weil Kant die Probleme und Argumente aus seinen früheren Texten übernimmt, zum anderen darum, weil er sie systematisch konsequenten Korrekturen unterzieht. Es besteht kein Zweifel daran, daß auch die Aussagen der früheren Texte Kant zugeschrieben werden müssen. Das gilt freilich auch für alle vorkritischen Schriften. Es soll hier nicht etwa die naive Auffassung vertreten werden, daß die chronologisch späteste Schrift auch notwendig die systematisch stärkste ist. Und selbst wenn sich herausstellt, daß Kant nach 1788 an seiner Theorie der zweiten Kritik festgehalten hat (s. da^u Teil III), könnte darin freilich ein Fehler liegen. Man könnte Kant und auch dieser Untersuchung entgegenhalten, daß die Freiheitstheorie im Kanon oder die Deduktionsvariante des Moralgesetzes und mit ihr sein Beweis der Freiheit in der Grundlegung im Ansatz überzeugender ist als die Theorie vom Vernunftfaktum und der Deduktion der Freiheit in der zweiten Kritik. In einem wesentlichen Punkt gibt dieser Einwand der hier vertretenen Auffassung Recht: Wir müssen bei der Auswertung dieser Texte vorsichtig sein und können nicht ohne genaue Analyse des Problemzusammenhangs und ein Wissen um die Funktion der Argumente von einem Text auf den anderen übergehen. Genau aus diesem Grund stützt sich diese Untersuchung nicht auf die Grundlegung oder den Kanon. Auch wenn in manchen Fragen ein Rückgriff auf die beiden Texte naheliegt, ja sogar unproblematisch erscheint, ist in dieser Arbeit darauf verzichtet worden, um damit zu zeigen, daß die zweite Kritik und der theoretische Teil der ersten bereits hinreichend sind. Gerade weil in bestimmten Punkten diese Schriften unvereinbar sind, ist in dieser Untersuchung ganz darauf verzichtet worden, diejenigen scheinbar geeigneten Theoriestücke aus diesen Texten in die systematisch ausgereifte Freiheitstheorie zu importieren. Wenn dennoch %usät%lich Belegstellen aus diesen Texten beigebracht werden, dann nur, um die starken Kontinuitätslinien anzudeuten, die zweifellos bestehen. Doch für die Vollständigkeit dieser Freiheitstheorie braucht man diese Texte nicht, sondern kann sich allein auf die zweite Kritik und den theoretischen Teil der ersten stützen. Auch wenn nun alle diese Texte und die zuweilen unterschiedlichen, einander widersprechenden Positionen Kant zugeschrieben werden müssen, ist in dieser Arbeit doch von Kants Freiheitstheorie im Singular die Rede. Darin drückt sich die Überzeugung aus, daß wesentliche Momente
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dieser Theorie konstant sind und dies dort, wo Kant seine Theorie korrigiert, systematisch gut begründet ist, so daß man nicht am Ende mit gleichrangigen Fragmenten dasteht, sondern es eine sachliche Hierarchie in den Entwicklungsstufen gibt. Freilich kann man auch die korrigierten Positionen noch Kant zuschreiben, nur muß man dann immer dazu sagen, daß dies eben nicht sein letztes Wort in der Sache gewesen ist. Bei einer derartigen Betrachtung der Kantischen Texte zeigt sich rasch, daß die Begriffe „kritisch", „vorkritisch" oder auch „semikritisch" (Allison 1986) nicht fein genug eingestellt sind, um die Wandlungen angemessen begreifen zu können. Die Aufgabe einer umfassenden genealogischen Arbeit wäre es auch, die Vorlesungsnachschriften, die sogenannten Vorarbeiten (AA Bde. XX, XXIII), Reflexionen (AA XIV-XIX), das Opus Vostumum (AA XX, S. 255351, XXI, XII) und nicht zuletzt Kants Briefwechsel (AA X-XIII) einzubeziehen.60 Wer sich in diese Texte und fragmentarischen Notizen einarbeitet, bemerkt rasch, daß man auf ihrer Grundlage Kant sehr viele (vielleicht sogar beliebig viele) Positionen zuweisen kann. Es ist weit verbreitet, diese Texte gleichrangig mit den veröffentlichten Schriften zu behandeln, zuweilen ihnen sogar die Priorität zu geben fy B. Allison 1990, S. 59-70; Schmitt 1989, Henrich 1973). Indessen ist bei diesen Texten oft der Problemkontext der Gedanken unklar. Man weiß häufig nicht, ob Kant sich nur in eine bestimmte philosophische Position schriftlich hineinzudenken versucht, eine Vorlesung vorbereitet, in der er etwa die Position Baumgartens vorträgt, oder ob er selbst auch diese Position behaupten will. Darüber hinaus weiß jeder, der schreibend denkt, wie viele Versuche es oft braucht, bis man zu einer Position durchgedrungen ist, die man selbst für akzeptabel hält. Diese Art des Schreibens wird von Kant als ein Selbstverständigungs^ro^e/? verstanden (Logik Philippi, XXIV 484). Bis zur Veröffentlichung des Inhaltes dieser Gedanken haben sie noch viele Bewährungsproben zu überstehen. Wenn man Abweichungen zwischen den Reflexionen und den Haupttexten feststellt, gilt es, dies nicht bloß als „Schwankung" oder „Widersprüchlichkeit" zu konstatieren. Vielmehr muß nach den Gründen gesucht werden, warum dieses Argument oder Problem, das Kant in seinen Reflexionen traktiert, nicht auch in den veröffentlichten Text übernommen worden ist. Das ist eine systematisch sehr anspruchsvolle Aufgabe und zeigt nicht selten, daß die Reflexionen in ihrer Zusammenhangslosigkeit argumentativ nicht sehr ergiebig sind und über eine Behauptung nicht hi60
Ein einführender Überblick zum handschriftlichen Nachlaß und den Vorlesungen findet sich bei Irrlit^ 2002, X 482-503.
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nauskommen. Diese Aufgabe ist aber nicht nur anspruchsvoll, sie ist auch sehr umfangreich. Allein die 'Reflexionen zur Metaphysik belaufen sich auf 1200 Seiten Text. Hier eine Auswahl zu treffen, die bloß von dem Interesse geleitet ist, eine bestimmte Interpretationsthese zu stützen, ist willkürlich. Noch komplizierter stellt sich die Sache bei den Vorlesungsnachschriften dar (AA XXIV-XXIX).61 Ihnen liegt ein Textbuch des sogenannten „Autors" zugrunde. Für Kants Freiheitstheorie sind vor allem die Vorlesungen zur Metaphysik und Moralphilosophie einschlägig. Die Moralphilosophie besteht aus zwei Teilen: der Philosophiapractica universalis und der Ethica. Ihnen liegt Baumgartens Initia philosophiae practiae primae bzw. Εthica philosophica zugrunde. Auch in den Vorlesungen zur Metaphysik ist der „Autor" der Metaphysica Baumgarten. Manchmal äußert Kant seine Kritik am „Autor", oft referiert er auch nur dessen Position. In den späteren Jahren nach der ersten Kritik trägt Kant verstärkt seine eigene Philosophie vor. Um Kant jedoch einigermaßen zuverlässig eine bestimmte Position zuschreiben zu können, wäre es notwendig, sich einem komplizierten Interpretationsverfahren zu unterwerfen, das in etwa so aussehen müßte: Am Beginn dieses Verfahrens stünde die Lektüre und Analyse des Vorlesungstextes. In einem zweiten Schritt müßten die Ergebnisse mit dem Text des „Autors", der dieser Vorlesung zugrunde liegt, vergleichen und eventuelle Abweichungen und Gemeinsamkeiten festgehalten werden. Drittens müßten dann auch Kants veröffentlichte Schriften hinzugezogen und daraufhin überprüft werden, ob Kant dort dieselbe Position vertreten hat wie in der Vorlesungsnachschrift. Es sind also drei Texte, die hier miteinander verglichen werden müßten, um einigermaßen zuverlässige Ergebnisse über Kants Positionen zu erhalten. Hinzu kommt auch noch die Prüfung der Vertrauenswürdigkeit der Vorlesungsnachschriften, die nicht selten voneinander abweichen. Es lassen sich vier aussagekräftige Konstellationen denken. Erstens ist es denkbar, daß alle drei Texte in einer bestimmten Sachfrage übereinstimmen. In diesem Fall dürfte man darauf schließen, daß Kant an die Tradition (den Autor) anschließt. Zweitens ist es möglich, daß nur der Haupttext und die Vorlesung übereinstimmen. In diesem Fall ist es gerechtfertigt zu behaupten, Kant habe sich bewußt von dem Textbuch des „Autors", das seiner Vorlesung zugrunde liegt, distanziert. Man müßte die
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Ein ausführliches chronologisches Verzeichnis aller von Kant gehaltenen oder auch nur angekündigten Vorlesungen Endet sich bei Arnoldt 1909, S. 173-543.
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Gründe für Kants Widerspruch herausarbeiten und prüfen, welche Position der Sache nach die angemessenere ist. Drittens ist der Fall denkbar, daß der Vorlesungstext und der Text des „Autors" übereinstimmen aber von Kants Haupttext abweichen. In diesem Fall, der häufig auftritt, ist es unangemessen, den Vorlesungstext gegen den Haupttext auszuspielen. Auch wenn Kant sich beim Referat des „Autors" des kritischen Kommentars enthalten hat, bedeutet das nicht auch schon, daß er ihm in der Sache gefolgt wäre. Die Texte, die hier in Konkurrenz zueinander stehen, sind der Text des >yAutors" und Kants veröffentlichte Schrift. Wer hier unkritisch verfährt und die Vorlesungsschriften auch mit Kants eigener Position identifiziert, erhält viele Widersprüchlichkeiten, die zuweilen sehr lehrreich sein können, aber eben nicht zu Kants Theoriebestand gezählt werden dürfen (als Beispielfür diesen unkritischen und verfälschenden Umgang mit den Vorlesungsnachschriften vgl. Schmitt 1989). Erst in der vierten Konstellation erhalten die Vorlesungsnachschriften einen eigenständigen systematischen Rang, nämlich wenn alle drei Texte in einer bestimmten Sachfrage voneinander abweichen. Wenn man einmal davon ausgeht, daß die Nachschrift Kants mündlichen Vortrag angemessen wiedergibt, darf man hier tatsächlich davon ausgehen, daß Kant im Rahmen der Vorlesung eine Position entwickelt, die in Konkurrenz zu seinen veröffentlichten Schriften steht und er nicht etwa nur dem Vorlesungstext folgt, ohne ihn kritisch zu kommentieren. Bei diesem Verfahren kommt nun noch erschwerend hinzu, daß in der deutschen und anglo-amerikanische Kantforschung (in Italien sieht es etwas besser aus) die Texte und Autoren, die Kants Vorlesung zugrunde liegen, kaum noch gelesen und gekannt werden. Man kann sogar sagen, daß die Kenntnis dieser Texte fast in dem Maße abgenommen hat, wie das zur Verfügung stehende Vorlesungsmaterial von Kant angewachsen ist. Nur ein flüchtiger Blick in die Kant-Studien genügt, um zu bemerken, daß Baumgarten heute im Unterschied zum Beginn des letzten Jahrhunderts in der Kantforschung kaum eine Rolle spielt; dies hat nicht etwa systematische, sondern historisch-kontingente Gründe. So erhellend also eine vergleichende Studie dieser Texte sein kann,62 so sehr geht sie doch über das hinaus, was im Rahmen dieses Exkurses geleistet werden kann. Doch wenn man dem hier angezeigten Verfahren
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Untersuchungen zu diesem Thema bringen es meist nicht zu einer systematischen Ausarbeitung des Materials, sondern belassen es bei verstreuten Hinweisen, deren Bedeutung letztlich unklar bleiben muß fe B. hehmann 1967). Für die Demonstration einer textkritischen und systematisch ertragreichen genealogischen Arbeit s. Schwaiger (1999).
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folgt, erkennt man auch, daß die ausschließliche Konzentration auf die Haupttexte nicht etwa bloß eine pragmatische, sondern sachlich gut begründete Grenze ist. Erst wenn wir uns über den Kant der veröffentlichten Schriften hinreichend Klarheit verschafft haben, kann überhaupt über die Bedeutung der Vorlesungsnachschriften und Reflexionen geurteilt werden. Kants Position in den veröffentlichten Schriften ist die Grundlage und das Richtmaß, an denen sich eine umfassende genealogische Arbeit zu orientieren hat. Insofern kann dieser Exkurs als eine 1Vorarbeit zu einer solchen umfassenden Arbeit verstanden werden.63 In den folgenden beiden Abschnitten gilt es zunächst, Kants Freiheitstheorie des Kanon-Kapitels und anschließend die der Grundlegung 3ur Metaphysik der Sitten zu analysieren. Es wird sich zeigen, daß Kant im Kanon noch nicht alle Konsequenzen aus einem kategorisch-gebietenden Imperativ gezogen hat. Das wirkt sich in der Weise auf seinen Freiheitsbegriff aus, als er nicht nur dem Wort nach nicht über „Autonomie" verfügt, sondern auch der Sache nach noch nicht bis zu der Konzeption einer reinen Vernunft, die „für sich selbst praktisch sein kann", vorgedrungen ist. Dennoch knüpft Kant mit der Grundlegung durchaus an seine moralphilosophischen Überlegungen aus dem Kanon-Kapitel der ersten Kritik an. Dort hatte er „reine moralische Gesetze" nur vorausgesetzt, indem er zum einen auf die „Beweise der aufgeklärtesten Moralisten" verweist und sich zum anderen auf das „sittliche Urteil eines jeden Menschen [...], wenn er sich ein dergleichen Gesetz deutlich denken will", beruft. In der Grundlegung versucht Kant nun selbst einen Beweis der Gültigkeit des Moralgesetzes durchzuführen. Im Rahmen dieser „Deduktion" muß Kant auch die Voraussetzung des Moralgesetzes, die Freiheit, rechtfertigen. Es wird sich allerdings zeigen, daß die Argumente, die Kant bei diesem Beweis entwikkelt, nicht über das Auflösungskapitel der dritten Antinomie hinausgehen. Dies gelingt ihm erst in der zweiten Kritik, wo Freiheit zu einem Gegenstand des Wissens wird und in der Kants Theorie der Freiheit damit auch ihren epistemischen Höhepunkt erreicht. 63
Auch Hinske argumentiert dafür, daß, bevor entwicklungsgeschichtliche Fragen geklärt werden können, zunächst einmal die Frage nach dem Gewicht der verschiedenen Quellentypen geklärt sein muß (Hinske 1995, S. 117). Dabei kommt er ebenfalls zu dem Ergebnis, daß die von Kant selbst veröffentlichten Schriften den Vorrang erhalten und als entwicklungsgeschichtlicher Leitfaden dienen müssen (Hinske 1995, J". 110). Auf Hinskes Aufsatz (leider an etwas abseitigem Ort veröffentlicht) wurde ich erst kurz vor der Drucklegung aufmerksam gemacht. Er hat mit seiner Kreimendahl-Kritik exemplarisch gezeigt, welche Konsequenzen ein unkritischer Umgang mit den Quellen haben kann. Das textkritische Verfahren, daß ich hier entwickle, verstehe ich nun als Anschluß an Hinskes Grundüberlegungen.
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(a) Die „praktische Freiheit" im Kanon der reinen Vernunft Im zweiten Hauptstück der Methodenlehre, dem Kanon der reinen Vernunft, hat die „demütigende" und zugleich „erhebende" Selbstdisziplinierung der spekulativen Vernunft ein Ende (vgl. KrV, Β 823). Kant entwickelt hier die Grundzüge einer praktischen Philosophie, die an die Stelle der „zertrümmerten" metaphysica specialis treten soll. Damit gelangt das kritische Geschäft in sein eigentliches Ziel. Der Vernunft in praktischer Anwendung gelingt, was ihr im spekulativen Gebrauch prinzipiell verwehrt bleiben mußte: die Formulierung ihrer synthetisch-apriorischen Grundsätze. Kant hatte in der Analytik mit den synthetisch-apriorischen Grundsätzen einen Kanon des reinen Verstandes begründet (KrV, Β 171). Die Dialektik hatte dann gezeigt, daß im spekulativen Vernunftgehz&uch jene Kanonbildung prinzipiell untersagt werden muß, weil dort allenfalls nur scheinbare synthetische Grundsätze zu erringen sind. Der Nutzen der Vernunftkritik ist daher nur negativ, sie dient zur „Grenzbestimmung" (KrV, Β 823) und „anstatt Wahrheit zu entdecken", vermag sie lediglich „Irrtümer zu verhüten". Die Vernunft wird daher einer „Züchtigung" unterworfen (KrV, Β 738), die Kant im Rahmen der Methodenlehre im ersten Hauptstück, der Disziplin der reinen Vernunft, durchführt. Mit diesem bloß negativen Ergebnis bleiben indessen jene drei metaphysischen Grundfragen, ob Gott existiert, der Wille frei und die Seele unsterblich ist, unbeantwortet. Aus spekulativer Perspektive hatte Kant nur beweisen können, daß alle drei widerspruchsfrei denkbar sind und sie als regulative Prinzipien etabliert (KrV, Β 586, Β 701 f., Β 710-714). Mit der Zuwendung zum reinen praktischen Vernunftgebrauch gelingt es Kant nun auch für die Vernunft, reine synthetische Grundsätze zu begründen. Allerdings werden lediglich zwei der drei Ideen, die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele, denen die Vernunftkritik durch die „Aufhebung des Wissens" „Platz bereitet" hatte (KrV, Β xxx), zu „Glaubensartikeln" erhoben (KrV, Β 858). Im ^weiten Abschnitt des Kanon zeigt Kant, daß sie für eine praktische Verbindlichkeit aus reiner Vernunft notwendige „Voraussetzungen" sind (KrV, Β 839), um ihnen dann im dritten Abschnitt als „Glaubenszitskel" ihren spezifischen epistemischen Status zuzuweisen. Im ersten Abschnitt, der hier im Zentrum des Interesses steht, zeigt Kant hingegen, wieso der dritte Gegenstand, die Freiheit, im praktischen Vernunftgebrauch unproblematisch ist, aber nicht in den Kanon der reinen Vernunft aufgenommen wird, weil praktische Freiheit „durch Erfahrung bewiesen werden [kann]" (KrV, Β 830, Hervorhebung J. B.). Im Zentrum des Interesses steht hier nicht der systematische Ort des Kanons als Ganzem. Vielmehr muß gezeigt werden, daß der praktische
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Freiheitsbegriff und sein Verhältnis zum moralischen Gesetz, wie Kant ihn in der ersten Kritik ansetzt, trotz systematischer Überschneidungen mit seinen späteren moralphilosophischen Schriften, nicht seiner Konzeption in der zweiten Kritik entspricht. Es gilt, die systematischen Motive freizulegen, die Kant bei der Überarbeitung seines Freiheitsbegriffs geleitet haben. In einem ersten Schritt soll Kants Begriff der „praktischen Freiheit" aus dem Kanon expliziert werden. Anschließend muß das Verhältnis zum transzendentalen Freiheitsbegriff im Rahmen der ersten Kritik bestimmt werden. Es muß die Frage beantwortet werden, wie Kant auf der einen Seite im Kanon behaupten kann, daß der Begriff der transzendentalen (absoluten) Freiheit, „wenn es um das Praktische zu tun ist [...] gleichgültig sei und durch Erfahrung bewiesen werden kann, und er auf der anderen Seite in der Dialektik in Anspruch nimmt, daß die praktische Freiheit auf der transzendentalen Freiheit „gründet". Man hat beide Behauptungen als unvereinbar, die erste Kritik als „Patchwork", den Freiheitsbegriff des Kanon-Kapitels als „vorkritisch" oder empiristisch disqualifiziert (Gunkel 1989, S. 94; Gueroult 1963, S. 436 443f.; Schweitzer 1899, S. 22). Auch wenn sich zeigen wird, daß Kant im Kanon keinen relativen, sondern einen absoluten Freiheitsbegriff ansetzt, Dialektik und Kanon konsistent sind, gibt es doch einen für Kants spätere Theorie der Freiheit entscheidenden Unterschied. Kant hat sich erst in seinen moralphilosophischen Hauptschriften vollkommene Klarheit verschafft über die Implikationen der Unterscheidung zwischen einem reinen Moralgesetz und den empirisch-pragmatischen Gesetzen, die er bereits in der ersten Kritik getroffenen hat. Erst die Klarheit über diese Unterscheidung und mit ihr die Einführung einer „Handlung aus Pflicht" ist es, die ihn dazu legitimiert, für die menschliche Praxis einen absoluten Freiheitsbegriff in Anspruch zu nehmen. Kant zieht in seinen moralphilosophischen Hauptschriften auch noch die folgerichtige moralpsychologische Konsequenz aus seinem Anspruch auf ein kategorisch-gcbictcndc^ Moralgesetz und führt daher das Theoriestück der „Achtung vor dem Gesetz" als einer vernunftgewirkten Triebfeder ein. Erst beides zusammen, die Fähigkeit, uns aus reiner Vernunft selbst ein Gesetz zu geben und dieses Gesetz auch um seiner Gesetzlichkeit willen befolgen zu können, macht uns im vollen Sinn zu autonomen, der Moral fähigen Wesen; Wesen, bei denen reine Vernunft für sich selbst praktisch, d. h. handlungswirksam sein kann. Für diesen Schritt mußte Kant seine Freiheitstheorie um das moralische Gefühl der „Achtung vor dem Gesetz" ergänzen. Ohne dieses Theoriestück wäre Kants positiver Freiheitsbegriff, die Autonomie, verstanden als Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein, unvollständig.
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i. Praktische Freiheit als empirische Freiheit Der praktische Freiheitsbegriff aus dem Kanon ist als „vorkritisch" klassifiziert worden. Tatsächlich erhält man den Eindruck, daß Kant, so wie er den Freiheitsbegriff im Kanon einführt, glaubt, mit einem relativen, empirischen Freiheitsbegriff auskommen zu können. Bevor er im ^weiten Λ bschnitt aufdeckt, daß Gott und Unsterblichkeit notwendige Voraussetzungen moralischer Verbindlichkeit sind, wendet er sich im ersten Abschnitt der Freiheit zu und mahnt zur „Behutsamkeit": Mit der Moralphilosophie wird der Bereich der Transzendentalphilosophie verlassen und so besteht die Gefahr, „in Episoden auszuschweifen", die in die empirischen Wissenschaften gehören. Es wird sich zeigen, daß es gerade der praktische Freiheitsbegriff ist, den Kant aus der reinen Philosophie ausscheiden will. Die Unterscheidung zwischen Moral- und Transzendentalphilosophie rechtfertigt Kant in einer Anmerkung und nimmt damit einen Gedanken aus der Umleitung (KrV', Β 28 f.) wieder auf: Die Moralphilosophie ist auf das Handeln des Menschen und damit auf sein Begebrungs- und nicht etwa Erkenntnisvermögen gerichtet. Kants Theorie des Begehrungsvermögens zu Folge kommt menschliches Handeln nicht unmittelbar durch ein Vernunft«?^, sondern nur vermittels einer „Triebfeder" zustande (vgl. Kap. 1c). Die Moralphilosophie hat daher im Unterschied zur Trans^endentalphilosophie, „welche lediglich mit reinen Erkenntnissen a priori zu tun hat", auch die „Gefühle" zum Gegenstand, „welche zu empirischen Erkenntnisquellen gehören" (KrV] Β 29, Hervorhebung J. B.). Man kann von hier aus die Frage stellen, ob Kant, der seine Moralp hilosophie nicht als Transzendentalphilosophie verstanden hat, auch noch nach der Abfassung seiner moralphilosophischen Schriften diese Trennung von Moralphilosophie und Transzendentalphilosophie vertreten muß. Die Anmerkung im ^weiten Abschnitt des Kanons läßt diese Frage unbeantwortet, weil Kant hier lediglich sagt, ,,[a]lle praktische Begriffe gehen auf Gegenstände des Wohlgefallens oder Mißfallens" (KrV, Β 829, Hervorhebung ]. B.j. Die Rede von „gehen a u f läßt offen, in welchem Verhältnis die moralischen Begriffe zu Lust und Unlust stehen. Wenn „gehen a u f bedeutet: ,sind auf Lust und Unlust bezogen', besteht hier kein Widerspruch zu Kants späteren Überzeugungen. Denn auch Kants Moralgesetz der späteren Schriften ist ein Imperativ und hat als solcher eine nötigende Funktion gegenüber unserer sinnlich affizierten Willkür. Versteht man aber das „Gehen a u f im Sinne von „voraussetzen", dann wird jene Uneingeschränktheit des moralischen Imperativs der späteren Schriften zu-
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nichte gemacht. Genau dies hat Kant 1787 deutlich gesehen und korrigiert daher in der Einleitung seine Ausführungen. Hatte er in der A-Auflage noch geschrieben, daß die „Grundsätze der Moralität [...] die Begriffe der Lust und Unlust [...] voraussetzen (KrV, Λ 14 f., Hervorhebung J. B.), schreibt er nun in der zweiten Auflage, daß die Begriffe der Lust und Unlust den Grundsätzen der Moralität „zwar selbst nicht %um Grunde ihrer Vorschriften l[ie]gen, aber doch im Begriffe der Pflicht [...] notwendig" mit hineingezogen würden (KrV, Β 29, Hervorhebung]. B.). Doch wichtiger als diese Korrektur ist, daß Kant auch in der zweiten Auflage daran festhält, daß sich praktische Philosophie nicht als Transzendentalphilosophie durchführen läßt. „Denn alles Praktische, so fern es Triebfedern enthält, bezieht sich auf Gefühle, welche zu empirischen Erkenntnisquellen gehören" (ebd.). Damit fällt aber auch ein Licht auf den notorisch unklaren Begriff „transzendental". Dieser Begriff impliziert nicht nur notwendig, daß Bedingungen der Möglichkeit von etwas auseinandergelegt werden, sondern, daß es apriorische, d. h. nicht-empirische Bedingungen der Möglichkeit sind (KrV, Β 25). Für die zentrale Kategorie der Moralphilosophie, den Begriff der „Pflicht", gilt aber, daß er sich sowohl aus empirischen als auch aus nichtempirischen Bedingungen konstituiert.64 Wenn Kant im Kanon nun, trotz dieses Ausschlusses der praktischen Philosophie aus der Transzendentalphilosophie, bekundet, er wolle sich, „so nahe als möglich am Transzendentalen halte [n]" (KrV, Β 829), ist das wohl so zu verstehen, daß, — obgleich die Moralphilosophie notwendig die Begriffe von Lust und Unlust impliziert - er sich dennoch nicht auf empirische Psychologie und die Untersuchung unseres sinnlich affizierten Begehrungsvermögens einlassen will. Vielmehr geht es ihm in Anbetracht seines Ziels, der Kanonbildung, darum, jenen Teil der moralischen Verpflichtung herauszuarbeiten, der aus reiner Vernunft entspringt. Daß auch in der Moralphilosophie ein nicht-empirisches Moment auszuweisen ist, daran bestand für Kant auch 1781 kein Zweifel, denn das Moralgesetz beruht auf „bloßen Ideen der reinen Vernunft" und kann „a priori erkannt werden" (KrV, Β 834). Diese Unterscheidung von Transzendental- und Moralphilosophie ist für den praktischen Freiheitsbegriff des Kanons von fundamentaler Bedeu64
Dem Selbstverständnis von Kant könnte man entgegenhalten, daß er, insofern er in den Paragraphen 2-8 der KpV nach den apriorischen Bedingungen der Möglichkeit von Moralität fragt, seine Moralphilosophie jedenfalls in diesem engeren Sinne transzendentaler Natur sei (vgl. Höffe s2000, I. 197). Zum Begriff „Transzendental" bei Kant J. Höffe !2000, X 6570. Für eine Kritik an der Unterscheidung zwischen Transzendental- und Moralphilosophie s. auch Griinewald 1988.
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tung. Von hier aus wird nämlich verständlich, was damit gemeint ist, wenn Kant im ersten Abschnitt sagt, er wolle sich „vorjetzt des Begriffs der Freiheit nur im praktischen Verstände bedienen, und den in transzendentaler Bedeutung [...] bei Seite setze[n]" (KrV] Β 829f., Hervorhebung], B.). Diese Anmerkung schließt unmittelbar an jene Erklärung an, daß alles, was „psychologisch, d. i. empirisch sein möchte, gänzlich bei Seite" gesetzt werden soll (KrV, Β 829). Es ist nicht etwa so, daß Kant nun die nichtempirischen Bedingungen der Freiheit darlegen würde, vielmehr ist es der Begriff der Freiheit selbst, den er als empirisch „bei Seite setz[t]". Denn anders als Gott und Unsterblichkeit kann Freiheit aus praktischer Perspektive durch „ E r f a h r u n g bewiesen werden" (KrV, Β 830, Hervorhebung J. B.). Der Begriff der transzendentalen Freiheit ist nur für die spekulative Vernunft ein Problem. Wenn wir handeln, stellen wir uns die spekulative Frage nach der transzendentalen Freiheit nicht. 65 Kant greift bei der Definition der praktischen Freiheit auf die empirische Psychologie der Schulphilosophie zurück. Die „menschliche Willkür" („arbitrium liberum") ist im Unterschied zur „tierischen Willkür" („arbitrium brutum"), die „durch sinnliche Antriebe, d. i. pathologisch bestimmt [wird], unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin [kann sie] durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellet werden, bestimmet werden [...]" (KrV, Β 830, vgl. auch Β 562). „Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden. Denn, nicht bloß das, was reizt, d. i. die Sinne unmittelbar affiziert, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden·, diese Überlegungen aber, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswert, d. i. gut und nützlich ist, beruhen auf der Vernunft. Diese gibt daher auch Gesetze, welche Imperativen, d. i. objektive Gesetze der Freiheit sind, und welche sagen, was geschehen soll" (ebd., Hervorhebungen verändert J. B.).
Wir können durch Selbstbeobachtung an uns feststellen, daß wir in der Lage sind, unsere unmittelbaren Handlungsimpulse durch Vorstellungen zu überwinden. Wir können beispielsweise unser unmittelbares Verlangen nach Karamelbonbons durch unsere Vorstellung davon, was „auf entferntere Art nützlich [...] ist", etwa die Vorstellung, unsere Gesundheit erhalten zu wollen, suspendieren und so jenen unmittelbar mit Lust begleiteten
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Die These, Kant würde mit dieser Erfahrung neben der Naturerfahrung eine „neue Erfahrung" finden und damit seine These vom Vernunftfaktum im Kanon bereits vorwegnehmen (Funke 1981, S. 210, 216), hat keine Basis im Text. Die Freiheit wird aus dem Kanon der reinen Vernunft gerade deshalb ausgeschieden, weil sie empirisch ist. Das Faktum der Vernunft ist dagegen eine unmittelbare und apodiktisch gewisse Einsicht.
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Handlungsimpuls „überwinden". Dabei machen wir von unserem Wissen Gebrauch, daß Karamelbonbons raffinierten Zucker enthalten und raffinierter Zucker Karies verursacht. Allgemeiner ausgedrückt: Wir können unsere unmittelbaren Handlungsimpulse propositionalisieren und sie mit unseren Grundsätzen vergleichen, um sie anschließend entweder aufzuhalten oder gewähren zu lassen. Wenn wir uns über die Folgen oder das Prinzip der Handlung Rechenschaft ablegen, sind wir bereit, unsere Entscheidung an Gründe zu binden. Wir machen unsere Entscheidung von den Urteilen, die wir treffen, abhängig. Diese Urteile beruhen auf unserer Vernunft, und unsere Macht über uns selbst liegt darin, daß wir unser Wollen so ausrichten können, wie wir es vernünftigerweise für richtig halten. Diese „praktische" oder „psychologische" Freiheit können wir uns durch Erfahrung beweisen.66 Mit der praktischen Vernunft haben wir die Fähigkeit, Vorschriften aufzustellen, die zum Ausdruck bringen, was der Fall sein soll. Diese Vorschriften sind „Imperative", die Kant auch als „objektive Gesetze der Freiheit" bezeichnet. Man könnte meinen, daß ein „objektives Gesetz der Freiheit" nur ein moralisches Gesetz sein kann. Der Text allerdings schließt ein solches Verständnis aus. Es geht um Vorstellungen von dem, was „nützlich oder schädlich" ist. Kurz darauf heißt es dann „gut und nützlich" (KrV, Β 830, Hervorhebung J. B.). Kant meint hier sowohl moralische als auch pragmatische Imperative. Bereits zuvor hatte Kant in groben Zügen das neue Untersuchungsfeld, die Praxis, definiert und die Gesetze der Praxis grob in zwei Arten aufgeteilt: „reine praktische" und „pragmatische" (KrV, Β 828). Bei den pragmatischen Gesetzen hat unsere Vernunft nur eine regulative Funktion. Hier gebrauchen wir unsere Vernunft nur dazu, um eine „kluge" Lebensstrategie zu entwickeln, mit der wir unsere verschiedenen, zuweilen sich sogar einander ausschließenden, immer aber empirisch-kontingenten Bedürfnisse aufeinander abstimmen und die uns am sichersten erscheinenden Mittel für ihre Verwirklichung festlegen. Diese Vernunftgesetze sind regulativ, weil sie nur unserem Handeln eine Regel geben, der Zweck der Handlung hingegen auf ein subjektives Bedürfnis zurückführbar, nicht 66
Zum Begriff der „praktischen Freiheit" bzw. zur „freien Willkür" vgl. Kawamura, 1996, S. 162-169. Kawamura versucht in seinem Buch die Frage zu beantworten, warum Kant in der KrV zwei unterschiedliche Freiheitsbegriffe verwendet hat. Durch eine begriffsgeschichtliche Darstellung von „Willkür" und „Spontaneität", wie sie in der Schulphilosophie verwendet werden, erhofft Kawamura sich Klarheit zu verschaffen. Das Buch ist jedoch leider mehr eine Stellenfundgrube als eine problemgeschichtliche Analyse. Eine derartige Arbeit steht noch aus.
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selbst ein Produkt der Vernunft ist. Für die Erkenntnis dieser Gesetze ist empirische Selbst- und Weltkenntnis vorausgesetzt. Deshalb sind pragmatische Gesetze empirische Gesetze. Doch auch in der ersten Kritik weiß Kant um nicht-empirische, „reine praktische Gesetze"; dieses sind die „moralischen Gesetze", die „schlechthin gebieten" und „Produkte der reinen Vernunft" sind (B 828, Hervorhebung J. B.). Auch wenn Kant in der Grundlegung und KpV die Rede von „pragmatischen Gesetzen" fallen läßt, weil sie nicht für den Willen eines jeden vernünftigen Wesens verbindlich sind und er sie nun auch sprachlich erkennbar zu „Ratschlägen"bzw. „Regeln"herabsetzt (GMS, IV416 ßA 43); KpV, V 20 (A 37), 26 (A 47 f.), 36 (A 63 f.)), gesteht er ihnen dennoch als „hypothetische Imperative" objektive Gültigkeit zu (KpV, V 19 (A 36)). In der KrV muß „praktisches Gesetz der Freiheit' als Gattungsbegriff zu seinen Arten „reines praktisches Gesetz" und „pragmatisches Gesetz" gelesen werden (KrV, Β 828; Β 834 f.).61 Praktische Gesetze bringen zum Ausdruck, auf welche Weise wir erfolgreich unsere Zwecke verwirklichen können, aber auch wie wir handeln müssen, um moralisch zu sein. In seinen moralphilosophischen Hauptschriften hat Kant die empirisch-praktischen Handlungsvorschriften ihrerseits noch einmal in Klugheitsratschläge und Geschicklichkeitsregeln differenziert und hinsichtlich dieser Handlungsvorschriften die Rede von „Gesetz" für unzulässig erklärt. Doch auch in der ersten Kritik gilt — und das ist entscheidend - ausschließlich vom moralischen (und nicht etwa dem pragmatischen) Imperativ, daß er „schlechterdings (nicht bloß hypothetisch unter Voraussetzung anderer empirischer Zwecke)" gebietet (KrV, Β 835). Aber so sehr sich Kant bereits 1781 über die unterschiedliche Herkunft und den daraus resultierenden unterschiedlichen Geltungsstatus von moralischem und pragmatischem Gesetz im Klaren ist, so wenig hat Kant, wie sich im nächsten Unterabschnitt zeigen wird, daraus auch bereits alle Konsequenzen für seinen Freiheitsbegriff gezogen. iL Praktische Freiheit als transzendentale
Freiheit
Eine Inkonsequenz besteht nach einer verbreiteten Meinung darin, daß Kant im Kanon mit jener „praktischen Freiheit", die „durch Erfahrung bewiesen werden kann", einen relativen Freiheitsbegriff vertreten habe, der nicht nur mit seinen reifen moralphilosophischen Schriften unvereinbar
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Ein Blick in Kants Ethik-Vorlesung, die Menzer auf die Zeit zwischen 1775 und 1780 datiert, bestätigt diese Interpretation: „Die objektiven [Gesetze] sind wieder zweifach: pragmatische und moralische" (Ethik,, S. 44).
Die „praktische Freiheit" im Kanon
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sei, sondern sogar zu einer Widersprüchlichkeit innerhalb der ersten Kritik führe. Die vermeintliche Widersprüchlichkeit betrifft das Verhältnis von „transzendentaler" und „praktischer Freiheit". In der Dialektik hatte Kant noch behauptet, daß auf der transzendentalen Idee der Freiheit „der praktische Begriff derselben gründe, und jene in dieser das eigentliche Moment der Schwierigkeit ausmache [...]" (KrV, Β 561, Hervorhebung], B.). Im Kanon erklärt Kant hingegen, daß die Frage nach der transzendentalen Freiheit bloß das spekulative Wissen betreffe, welche man daher „als ganz gleichgültig beiseite setzen könne, wenn es um das Praktische zu tun ist" (KrV, Β 831 f . , Hervorhebung]. B.). Wenn sich Widersprüchlichkeiten in der ersten Kritik ergeben, ist die „Patchwork-Theory" der Deus ex machina der Kantforschung. Vertreter dieser Theorie haben geltend gemacht, daß gerade weil Kant im Kanon noch den spezifischen Zusammenhang von transzendentaler und praktischer Freiheit leugne, er sich hier noch auf einem „vorkritischen Reflexionsniveau" befinde (Gunkel, 1989, .i. 94, 105), Der Kanon spiegle insofern noch vollkommen Kants Position der siebziger Jahre wieder (Gueroult, 1963, 435 ff). Diese Kritiker berufen sich auf die Vorlesungsnachschriften, in denen Kant offenbar eine solche Position vertreten hat.68 Nun könnte man versuchen, die „Patchwork-Erklärung" damit zurückzuweisen, daß Kant auch noch 1783 in seiner Rezension von Schulz' Sittenlehre ein ähnliches Verhältnis von praktischer und transzendentaler Freiheit wie im Kanon vertreten hat, wenn er schreibt, daß „der praktische Begriff der Freiheit [...] in der Tat mit dem spekulativen, der den Metaphysikern überlassen bleibt, gar nichts zu tun [hat]" (Schufy VII113). Darüber hinaus kann man geltend machen, daß Kant den Kanon auch in der 2. Auflage von 1787 - abgesehen von stilistischen und orthographischen Veränderungen — unverändert gelassen hat. Doch beide Einwände lösen das sachliche Problem nicht und können als systematische Argumente nicht überzeugen. 69 Sie können lediglich
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„Da wir aber in der empirischen Psychologie die praktische Freiheit erwiesen haben, nach dem wir frei sind von der necessitatione a stimulis, so können schon dadurch die practischen Sätze statt finden; mithin ist in Ansehung dessen die Moral sicher" (XXVIII, J. 267). Wolfgang Ertl etwa argumentiert, wenn tatsächlich ein Widerspruch zwischen Kanon und dem kritischen Denken Kants bestünde, dann hätte Kant diesen Widerspruch in der 2. Auflage auch ausgeräumt. Die Tatsache aber, daß Kant den Kanon in der 2. Auflage nahezu unverändert übernommen hat, unterminiere die Patchwork-Lesart vollständig (Ertl 1998, J". 126). Es lassen sich jedoch leicht Gründe denken, warum Kant den Kanon auch in der 2. Auflage unverändert ließ: (a) Kant hat auch in der 2. Auflage 1787 nicht erkannt, daß er sich mit seinen neuen Schriften im Widerspruch zum Kanon befand, (b) Kant glaubte, die
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Anlaß sein, das Verhältnis von Kanon und Dialektik einer genaueren Untersuchung zu unterziehen und dem Text nicht vorschnell Inkonsistenz zu unterstellen. Die entscheidende Frage lautet, was genau gemeint ist, wenn es heißt, daß die praktische Freiheit auf der transzendentalen Idee der Freiheit „gründet".10 In der Dialektik wird dieses Abhängigkeitsverhältnis der praktischen von der transzendentalen Freiheit von Kant noch genauer bestimmt: „Man siehet leicht, daß, wenn alle Kausalität in der Sinnenwelt bloß Natur wäre, so würde jede Begebenheit durch eine andere in der Zeit nach notwendigen Gesetzen bestimmt sein, und mithin, da die Erscheinungen, so fern sie die Willkür bestimmen, jede Handlung als ihren natürlichen Erfolg notwendig machen müßten, so würde die Aufiebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen. Denn diese setzt voraus, daß, obgleich etwas nicht geschehen ist, es doch habe geschehen sollen, und seine Ursache in der Erscheinung also nicht so bestimmend war, daß nicht in unserer Willkür eine Kausalität liege, unabhängig von jenen Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluß etwas hervorzubringen, was in der Zeitordnung nach empirischen Gesetzen bestimmt ist, mithin eine Reihe von Begebenheiten ganζ von selbst anzufangen" (KrV] Β 562, Hervorhebung £ T. ]. B.).
Kant bringt hier jenes Problem zur Sprache, das er zutreffend das Problem des „Pradeterminismus" genannt hat (Kel., VI 49 (B 58)) und entwikkelt ein Argument, das in der gegenwärtigen Freiheitsdiskussion unter dem Titel „Konsequenzargument" neu erfunden worden ist (inwagen 1983, S. 16; s. da^u Kap. 9b): Wenn alle gegenwärtigen Handlungen durch Ereignisse hervorgebracht sind, die nicht in unserer Macht, sondern in der Macht der Naturgesetze liegen, sind unsere Handlungen die Produkte der Naturgesetze und der Ereignisse einer entfernten Vergangenheit. Was geschehen ist, bevor wir geboren sind, liegt aber nicht in unserer Macht; und auch die Beschaffenheit der Naturgesetze ist jenseits unseres Einflusses. Daraus folgt, daß alle Folgen dieser Dinge (unsere momentanen Handlungen eingeschlossen) nicht in unserer Macht liegen (KpV94 f . (A
169)).
Wenn diese Voraussetzung wahr ist, wäre der Mensch nicht frei. Denn Freiheit — davon ist Kant überzeugt — setzt voraus, daß die Ursachen
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Revision des Kanons mit seinen neuen moralphilosophischen Schriften leisten zu können, (c) Kant mußte aus Zeitgründen von einer Revision des Kanons absehen (vgl. KrV, Β xliv). Martin Heidegger identifiziert hier fälschlicherweise „praktische Freiheit" und „Autonomie". Damit stellen sich für ihn die hier aufgeworfenen Probleme nicht. Auch wenn seine Interpretation in diesem Punkt am Text vorbeigeht, ist sie nicht vollkommen unbegründet: Nur weil die Idee der transzendentalen Freiheit denkmöglich ist, kann Autonomie wirklich sein (Heidegger; S. 264f.).
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„nicht so bestimmend" sind, daß wir „unabhängig von jenen Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt" eine Wirkung in der Natur hervorbringen können. Hätten wir diese Fähigkeit nicht, lägen alternative Möglichkeiten jenseits unseres Einflusses. Wir mögen dann zwar immer noch die Erfahrung machen, daß wir durch Vorstellungen „von dem, was auf entferntere Art gut und nützlich ist", unsere unmittelbaren Handlungsimpulse suspendieren können, doch sind es dann nicht im strengen Sinne wir, sondern „höhrere und entfernter wirkende Ursachen", die Vorschriften machen und Suspensionsleistungen vollbringen (KrV, Β 831). Jene Erfahrung der Freiheit, die Kant im Kanon meint, könnte also bloß illusionär sein. Es müßte sich zeigen lassen, daß unsere Handlungen uns und nicht etwa der Natur oder Gott zuzuschreiben sind. Erst dann verschwindet der Schein, der über jener Freiheits er fahrung zu liegen scheint. Sind aber unsere Vernunftvorstellungen selbst auch nur die Wirkungen „entfernter liegender Ursachen", gäbe es keine transzendentale Freiheit, und so würde mit ihr „zugleich auch alle praktische Freiheit vertilg[t]" werden. Was wir daher brauchen, scheint ein Beweis der transzendentalen Freiheit zu sein. Kant hat einen theoretischen Beweis für die Idee der transzendentalen Freiheit als einen Fall von Erstursächlichkeit nicht erbracht, ihn mit Recht für prinzipiell unmöglich gehalten, und es ist wichtig, sich in diesem Zusammenhang zu notieren, daß er jenen in extenso zitierten spekulativen Gedanken vor seiner Auflösung der dritten Antinomie entwickelt, so als wolle er seinen Leser noch einmal daran erinnern, wie folgenreich die Sache ist, über die er den Richterspruch zu treffen hat. Diese Passage suggeriert eine Existenzbeziehung von transzendentaler und praktischer Freiheit, die sich als kompliziert erweist. In einem ersten Verständnis könnte man meinen, Kant behaupte, wenn er davon spricht, daß die Aufhebung der transzendentalen Freiheit auch alle praktische Freiheit „vertilgen" würde, daß die Wirklichkeit der transzendentalen Freiheit (d. h., daß wir wirklich das Vermögen haben, einen Zustand „ganz von selbst anzufangen") eine notwendige Bedingung für die Wirklichkeit der praktischen Freiheit ist β eck 1998, S. 189 ff.). Ist es dies, was der Text sagt, dann wären nicht nur Dialektik und Kanon unvereinbar, sondern die Dialektik wäre auch in sich inkonsistent. Denn wenn die transzendentale Freiheit eine notwendige Bedingung der praktischen Freiheit ist, könnte man von der Wirklichkeit der praktischen Freiheit, die „durch Erfahrung bewiesen werden" kann, auf die Wirklichkeit der transzendentalen Freiheit zurückschließen. Tatsächlich hat Kant aber, wie er am Ende der Auflösung noch einmal hervorhebt, nur die logische Denkmöglichkeit und nicht etwa die Wirklichkeit der transzendentalen Frei-
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heit beweisen wollen. Die transzendentale Idee Freiheit ist ein problematischer und nicht etwa assertorischer Begriff (KrV, Β 586). Diese Lesart vergrößert also die Widersprüchlichkeiten innerhalb der KrV noch anstatt sie aufzulösen. Kant gibt in der ersten Kritik selbst eine andere Antwort, wie man sich genau dieses Fundierungsverhältnis zu denken hat. Die praktische Freiheit „setzt voraus, daß „obgleich etwas nicht geschehen ist, es doch habe geschehen sollen". Dieses Sollen impliziert, daß wir die Fähigkeit haben, eine Reihe von Begebenheiten gan% von selbst anzufangen" (KrV, Β 562). Im Praktischen betrachten wir Vernunft und nicht etwa Naturkausalität als gesetzgebend. Wenn sich allerdings aus spekulativer Perspektive herausstellen sollte, daß diese Erfahrung von Freiheit, die wir in unseren praktischen Lebensvollzügen machen, sich nicht auch als ein Fall von Erstursächlichkeit denken ließe, änderte sich nichts an dieser Erfahrung von Freiheit, sie müßte jedoch als illusionär bezeichnet werden. Die Frage, die sich mit der Auflösung der dritten Antinomie und der Denkmöglichkeit der transzendentalen Freiheit entscheidet, ist also, ob das, was wir in unseren praktischen Lebensvollzügen erfahren, auch „praktische Freiheit' heißen darf, oder ob sich aus spekulativer Perspektive beweisen läßt, daß es „praktische Illusion von Freiheit" heißen muß. Genau aus diesem Grund ist es ungültig, von jener praktischen Erfahrung auf die Wirklichkeit der transzendentalen Freiheit zurückzuschließen. Die widerspruchsfreie Denkmöglichkeit der transzendentalen Freiheit ist eine notwendige Bedingung dafür, daß jene Erfahrung nicht der deterministischen Skepsis anheimfällt und nicht bloß als ein Fall von „Illusion der praktischen Freiheit" zu gelten hat. Dies ist die Antwort auf die Frage, wie das Verhältnis von transzendentaler und praktischer Freiheit zu bestimmen ist (ßir einen anderen Versuch, dieses Verhältnis bestimmen, vgl. Allison 1982, S. 279f. und Allison 1986, S. 100). Die Wirklichkeit von absolut freien Handlungen als einem Fall in unserer Anschauung oder als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung läßt sich prinzipiell nicht demonstrieren und führt zu jenem Widerstreit der Vernunft, der sich nur durch die transzendentale Differenz auflösen läßt, mit dem Ergebnis, daß Freiheit widerspruchsfrei denkbar ist. Die Wirklichkeit der transzendentalen Freiheit wird von Kant auch in der KrV nicht beansprucht (KrV, Β 585f., Hervorhebung J. B.). Die transzendentale Freiheit ist „eine bloße Idee, und wird [...] nicht schlechthin als an sich
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selbst als etwas Wirkliches angenommen, sondern nur problematisch zum Grunde gelegt" (KrV, Β 709, Hervorhebung], B.).7i Kant glaubt, daß, wenn man den Begriff der „praktischen Freiheit" analysiert, man letztlich auf den Anspruch stößt, daß unsere Handlungen nicht ausschließlich der Naturkausalität unterworfen sind, sondern sich nach unseren Vernunfteinsichten richten können. Auf die Frage, was uns daran hindert, „diese Gesetze — und folglich diesen freien Willen — als Schimären auszudeuten, indem man die Gebote durch einen verborgenen sinnlichen Determinismus erklärt" (Gueroult 1963, 440), lautet die Antwort: die Auflösung der dritten Antinomie?'1 Die Pointe der Kantischen Argumentation (nicht nur in der ersten Kritik) ist gerade, daß sich das Prädeterminismusproblem vom Standpunkt der praktischen Vernunft aus überhaupt nicht stellt. Sie erläßt Sollensgesetze, die jene absolute Freiheit immer schon voraussetzen, ohne sie beweisen zu können. Das Problem, ob eine solche Freiheit möglich ist, stellt sich erst vom Standpunkt der theoretischen Vernunft, wenn sie danach fragt, wie sich dieses Konzept mit ihrem notwendigen Grundsatz der Kausalität vereinbaren läßt. Damit wäre also gezeigt, warum Kant von der Wirklichkeit der Freiheitserfahrung nicht auch auf die Wirklichkeit der transzendentalen Freiheit zurückschließen kann. Es ist aber damit nicht auch erklärt, warum Kant im Kanon mit Recht behaupten kann, daß die transzendentale Freiheit für die Erfahrung der praktischen Freiheit „gleichgültig" sei. Vielmehr „gründet" doch die praktische Freiheit als ein wirklicher Fall von Freiheit und nicht etwa Scheinfreiheit gerade auf der transzendentalen Idee der Freiheit als Erstursächlichkeit. Doch Kant fügt im Kanon gerade einschränkend hinzu: „wenn es um das 'Praktische zu tun ist" (KrV, Β 831 f . , Hervorhebung J. B.). Gleichgültig ist die Frage nach der transzendentalen Freiheit vom Standpunkt des Handelnden, der sich unter dem Anspruch von pragmatischen und moralischen Gesetzen in Entscheidungskonflikten vorfindet. Sie ist nicht schlechthin gleichgültig und bleibt relevant - obgleich unentscheidbar aus spekulativer Perspektive. Denn wollte der Verfechter des Prädeterminismus, wenn er einmal nicht handelt und im Lehnstuhl sitzt, gegen jene praktische Freiheit von spekulativer Perspektive aus argumentieren, hält 71
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Entscheidend ist, daß „transzendentale Freiheit" ihrer Begriffsart nach eine Idee der Vernunft ist (vgl. Höffe 2002, J". 75). Die Interpretationsprobleme entstehen, wenn man annimmt, Kant habe die Wirklichkeit der transzendentalen Freiheit angenommen. Gueroult scheint den Perspektivenwechsel in diesem Fall übersehen zu haben. Er stellt hier eine spekulative Frage, auf die nicht der Kanon, sondern die transzendentale Dialektik die Antwort gibt: Freiheit ist problematisch denkmöglich und darf als regulative Vernunftidee angenommen werden.
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Kant für ihn zur Abwehr seine dritte Antinomie bereit, mit der er ihm die logische Denkmöglichkeit der absoluten Freiheit und die prinzipielle Unbeweisbarkeit seines Beweisziels vor Augen führt. Seinem Einwand, daß jene Praxis zwar wirklich, aber unberechtigt sei, begegnet Kant mit dem Argument, daß jeder Beweis eines universellen Determinismus an der transzendentalen Differenz von Ding an sich und Erscheinung prinzipiell scheitern muß. Die Kritik, die damit als „Polizei" (KrVj Β xxv) dem „Fatalismus" (KrV', Β xxxivj den „Riegel vorschiebt" (KrV, Β xxv), kann selbst keinen positiven Beweis der transzendentalen Freiheit erbringen, weil sie damit jene selbst errichtete „Grenze" überschreiten würde und auf diese Weise ebenso wie der Fatalist dem Irrglauben anheimfiele, daß die Welt einem endlichen Vernunftwesen als Ganzes gegeben wäre. Damit wird verständlich, warum auch der praktische Freiheitsbegriff im Kanon nicht als relativ, sondern absolut gedacht werden muß (vgl. Allison 1990, 57 f f . ) . Freilich will Kant nicht beanspruchen, daß die empirische Selbsterfahrung von Sollensansprüchen und Suspensionsvermögen ein hinreichender Beweis von absoluter Freiheit wäre. Aber Kants Konsequenzargument in der Dialektik macht deutlich, daß jene Erfahrung der Freiheit aus spekulativer Perspektive als ein Fall von transzendentaler Freiheit gedacht werden muß, damit sie als Freiheit und nicht nur als Illusion von Freiheit bezeichnet werden darf. Die Auflösung der Antinomie beweist, daß uns dieser Anspruch auf Freiheit und nicht etwa Scheinfreiheit, den die praktische Vernunft immer schon erhoben hat, aus spekulativer Perspektive nicht abgestritten werden kann. Was Kant allerdings in der ersten Kritik noch nicht gesehen hat, ist, daß er über den Sollensanspruch der praktischen Vernunft der Idee der transzendentalen Freiheit objektive Realität in praktischer Hinsicht verschaffen kann. Das Faktum der Vernunft, dessen wir uns unmittelbar und apodiktisch gewiß sind, dient ihm hier als Ausgangspunkt jener Deduktion der absoluten Freiheit (s. dasgt Kap. 3). Es ist — und auch in diesem Punkt arbeitet Kant seine praktische Philosophie in den folgenden Jahren weiter aus — nicht jede Art von Sollensanspruch, sondern nur jener kategorisch gebietende Imperativ, der einen absoluten Freiheitsbegriff voraussetzt, denn nur er gebietet ohne Voraussetzung eines empirischen Bedürfnisses und nimmt damit in Anspruch, daß reine Vernunft für sich selbst und nicht etwa unter Voraussetzung einer sinnlichen Triebfeder praktisch sein kann. Für bloß hypothetische Verpflichtung ist der absolute Freiheitsbegriff nicht erforderlich. Obwohl Kant in der ersten Kritik sehr deutlich den Geltungsstatus von Moralgesetz und pragmatischen Gesetzen unterscheidet, ist er sich
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noch nicht über die freiheitstheoretischen Voraussetzungen vollkommen im Klaren und setzt für beide Formen einen absoluten und nicht, wie man bei isolierter Betrachtung des Kanon meinen könnte, einen relativen Freiheitsbegriff an. Auch in der ersten Kritik weiß er, daß das Moralgesetz ein reines Vernunftgesetz ist und pragmatische Gesetze nur empirisch sind. Kant ist jedoch noch nicht zu jener folgenschweren moralphilosophischen Unterscheidung von Legalität (bzw. Pflichtmäßigkeit) und Moralität vorgedrungen. Nicht „Achtung vor dem Gesetz", sondern Gott und Unsterblichkeit sind in der ersten Kritik noch die Triebfedern für die moralisch gute Handlung: „Ohne also einen Gott, und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung [...]" (KrV, Β 841). Deshalb darf es auch nicht verwundern, wenn Kant in der ersten Kritik bei moralisch guten Handlungen bloß davon spricht, daß sie „den sittlichen Vorschriften gemäß [sind]" (KrV, Β 835, Hervorhebung]. B.).73 Mit der Handlung aus „Achtung vor dem Gesetz" gelingt es Kant, in seinen moralphilosophischen Hauptschriften einen Handlungstyp zu etablieren, bei dem die Handlung auch umwillen der Gesetzlichkeit befolgt wird und für die Befolgung nicht etwa ein externes Interesse vorausgesetzt werden muß. Damit ist die Handlung nicht nur einem Gesetz gemäß, das wir uns aus reiner Vernunft selbst auferlegen, sondern der Handlung liegt auch ein Gefühl als Triebfeder zugrunde, das selbst „vernunftgewirkt" ist. Dieser Handlungstyp ist die „Handlung aus Pflicht". Kants positiver Freiheitsbegriff seiner reifen Moralphilosophie setzt nicht allein die Fähigkeit voraus, uns aus reiner Vernunft Gesetze aufzuerlegen. Es kommt vielmehr noch die Fähigkeit hinzu, diese Gesetze um ihrer Gesetzlichkeit willen befolgen zu können. Man kann mit Recht dafür argumentieren, daß Kant bereits in der ersten Kritik gesehen hat, daß die prak73
Hermann Schmitz, einer der wenigen Kant-Interpreten, der sich auf das Verhältnis von Kanon zu Kants reifer Moralphilosophie einläßt, hat diese Veränderung in Kants Triebfedernkonzept bemerkt und bindet daran seinen unbegründeten Vorwurf, Kant habe in der ersten Kritik noch einen „zynischen Eudämonismus" vertreten (Schmitt^ 1989, S. 81-124). Diese Konsequenz ist zurecht kritisiert worden (Brandt 1994, 89f.). Birgit Recki glaubt, daß auch im Kanon bereits „programmatische Klarheit" über die moralische Triebfeder bestanden habe und macht zurecht darauf aufmerksam, daß Kant an anderer Stelle sagt, daß wir „Handlungen nicht darum für verbindlich halten, weil sie Gebote Gottes sind, sondern sie darum als göttliche Gebote ansehen, weil wir dazu innerlich verbunden sind" (KrV, Β 847). Doch nur wenige Zeilen zuvor bekräftigt Kant noch einmal, daß diese Gesetze „zu der Voraussetzung eines weisen Weltregierers führete, um jenen Gesetzen Effekt zu geben" (KrV, 846, Hervorhebung J. B.). Um die Konsistenz des Kanon-Kapitels zu wahren, muß man das erste Textstück wohl im Sinne der Legislation bzw. Dijudikation und nicht der Exekution lesen, die immer Gott als Triebfeder voraussetzt.
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tische Vernunft allein bei der moralischen Gesetzgebung konstitutiv ist, ihr bei der pragmatischen Gesetzgebung aber nur eine „regulative" Funktion zukommt (KrV', Β 828). Was Kant damit vorwegnimmt, ist die Behauptung, daß nur moralische Gesetze ihrem Ursprung nach auf das Subjekt selbst zurückgehen, während jede Form von pragmatischer Gesetzlichkeit einen subjektiv-zufalligen Zweck voraussetzt und Vernunft insofern immer nur als „Diener der Neigungen" fungiert (GMS, 441 (BA 89); KpV, V 24 (A 44 f.); Rel VI, 45 (B 50)). Er hat damit bereits in der ersten Kritik ein wesentliches Moment des Autonomiegedankens entwickelt. Doch die Fähigkeit, sich aus reiner Vernunft ein Gesetz selbst aufzuerlegen, ist nicht, wie oft behauptet wird, schon hinreichend, um ein autonomer Mensch zu sein. Kant zieht in seinen moralphilosophischen Hauptschriften auch noch die folgerichtige moralpsychologische Konsequenz aus seinem Anspruch auf ein kategorisch gebietendes Moralgesetz: die Notwendigkeit der Achtung vor dem Gesetz als einer vernunftgewirkten Triebfeder. Erst beides zusammen, die Fähigkeit uns aus reiner Vernunft selbst ein Gesetz zu geben und dieses Gesetz auch um seiner Gesetzlichkeit willen befolgen zu können, macht uns im vollen Sinn zu autonomen, der Moral fähigen Wesen; Wesen bei denen reine Vernunft für sich selbst praktisch, d. h. handlungswirksam, sein kann. Für diesen Schritt mußte Kant seine Freiheitstheorie um das moralische Gefühl als „Achtung vor dem Gesetz" ergänzen. Ohne dieses Theoriestück bliebe Kants zentraler Begriff seiner Moralphilosophie, die Autonomie, als „Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein", in bezug auf den Menschen unvollständig (s. άαψ Kap. 1c).14 Aber auch hinsichtlich des Beweises der praktischen Realität der Freiheit ermöglicht es die Theorie vom Vernunftfaktum in der zweiten Kritik, einen stärkeren Anspruch zu erheben. Während Kant sich in der ersten Kritik noch auf die Selbsterfahrung von Suspensionsvermögen und Sollensansprüchen im allgemeinen beruft, verfügt Kant seit der zweiten Kritik mit dem Moralgesetz als einem unmittelbar gewissen Bewußtseinsfaktum über eine Deduktionsgrundlage der Freiheit. Die Selbsterfahrung dient nur noch dazu, um die „Ordnung der Begriffe zu bestätigen" (erst Bewußtsein des Moralgesetzes, dann Freiheit), sie wird aber nicht auch für den Beweis der Freiheit selbst in Anspruch genommen.
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Reinhard Brandt hat darauf hingewiesen, daß „Achtung" dem Namen nach auch in Kants Vorlesungen zur Anthropologie aus den 70er Jahren bereits präsent ist (Brandt 1994, S. 90). Es gelte auch hier entwicklungsgeschichtlich den Begriffsinhalten vergleichend nachzugehen.
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Statt dessen kann Kant nun aus dem sicheren Wissen des uneingeschränkten Anspruches des Moralgesetzes die absolute Freiheit ableiten und ihr auf diese Weise objektive Realität in praktischer Hinsicht verschaffen. In praktischer Hinsicht und nicht etwa theoretischer, weil ihr weder ein Gegenstand in der sinnlichen Anschauung korrespondiert noch sie Konstitutions- oder Regulationsbedingung der Naturerfahrung ist, sondern als Seinsgrund („ratio essendi") des Moralgesetzes Konstitutionsbedingung der moralischen Praxis ist (s. da^u Kap. 3a). Der moralischen Praxis und nicht etwa der pragmatischen Praxis, weil hierfür die transzendentale als absolute Freiheit keine notwendige Bedingung ist, sondern auch ein relativer Freiheitsbegriff ausreicht. Das bedeutet freilich nicht, daß wir, wenn wir als autonome Vernunftwesen pragmatisch (heteronom) handeln, unsere absolute Freiheit aufgeben würden. Es bedeutet vielmehr, daß wenn wir ausschließlich pragmatische Wesen und keine moralische Wesen wären, wir nicht des Begriffes der absoluten Freiheit bedürften und uns nur dem Grad, aber nicht der Art nach von den Tieren unterscheiden würden (KpV, V 61 f . (A 108)). Im Kanon noch hatte Kant die Wirklichkeit von reinen moralischen Gesetzen nur vorausgesetzt, wobei er sich nicht nur „auf die Beweise der aufgeklärtesten Moralisten, sondern auf das Urteil eines jeden Menschen berufe [n]" hatte. An diese Voraussetzung wird Kant, wie sich im folgenden Abschnitt zeigen wird, mit seinen moralphilosophischen Hauptschriften anknüpfen und diesen Anspruch nach seinem Deduktionsversuch in der Grundlegung schließlich mit seiner Theorie vom Vemunftfaktum rechtfertigen. Er wird begründen, warum moralische Verpflichtung ein Fall unmittelbarer Vernunfterkenntnis ist und sein muß (s. da^u Kap. 2). Doch auch wenn Kant im Kanon moralische Verpflichtung nur vorausgesetzt hat, hätte er, wenn er sich über das Verhältnis von absoluter Freiheit und moralischer Verpflichtung hinreichend Klarheit verschafft hätte, bereits hypothetisch jene Deduktion der zweiten Kritik vorwegnehmen können. Denn daß man einem Begriff objektive Realität auch in praktischer Hinsicht verschaffen kann, ist nicht erst eine Einsicht der zweiten Kritik gewesen (KrV, Β 836). Was ihn indessen systematisch daran gehindert haben mag, ist vermutlich die bis in die Grundlegung reichende Uberzeugung, daß Freiheit nicht aus dem moralischen Gesetz, sondern andersherum das moralische Gesetz aus der Freiheit abgeleitet werden muß. Bei seiner Deduktion in der Grundlegung ist absolute und nicht etwa relative Freiheit die Voraussetzung kategorisch gebietender Imperative. Die Freiheit, die Kant zur Legitimation des Moralgesetzes benötigt, ist „kein Erfahrungsbegriff' (GMS, IV 455
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(BA 113)). Er kann sich daher bei seiner Deduktion nicht auf die Selbsterfahrung, die er im Kanon geltend macht, berufen. Erst die Einsicht der zweiten Kritik, daß das Moralgesetz als apodiktisch gewisses Bewußtseinsfaktum als Erkenntnisgrund {„ratio cognoscendi") der Freiheit fungieren kann, auch wenn absolute Freiheit selbst der Seinsgrund („ratio essendi") dieses Gesetzes ist, hat für diese Deduktion den Weg frei gemacht. In der zweiten Kritik erkennt Kant schließlich, daß erst das Sittengesetz uns dazu legitimiert, absolute Freiheit in die Wissenschaft einzuführen (KpV, V 30 (A 54)).
(b) Die Freiheitsbeweise in der Grundlegung Neben dem Kanon wird auch der Grundlegung im Rahmen dieser Rekonstruktion von Kants Freiheitstheorie ihre eigenständige systematische Funktion abgesprochen. Das mag überraschen, ist doch die Grundlegung mit ihrem provokativem Auftakt und ihrer einladenden Kürze nicht nur wirkungsgeschichtlich einflußreicher gewesen als Kants zweite Kritik, vielmehr ist auch die Grundlegung das Werk, in dem Kant zum ersten Mal das Konzept der positiven Freiheit als Autonomie entwickelt. Dieser Anspruch soll jedoch nicht für Kants Moraltheorie als Ganze erhoben werden, sondern nur in bezug auf seine Freiheitstheorie gelten. Darüber hinaus wird der Grundlegung ihr innovativer Charakter hinsichtlich des positiven Freiheitsbegriffes durchaus nicht abgesprochen. Doch indem Kant jenen positiven Begriff der Freiheit in die zweite Kritik übernimmt und ^usät^lich es ihm erstmals gelingt, der absoluten Freiheit objektive Realität zu verschaffen, hat er die Grundlegung im Rahmen seiner Freiheitstheorie systematisch überflüssig gemacht. Ein großer Teil der Interpreten hält den dritten Abschnitt der Grundlegung für mißlungen. Entlang der gegenwärtigen Forschungsliteratur ließen sich rasch einige Argumente gegen Kants Deduktion des kategorischen Imperatives und dem mit ihr verbundenen Beweis der Freiheit anführen. Im Zentrum dieser Kritik steht ein Vorwurf, der bereits im Rahmen des Auflösungsabschnitts der dritten Antinomie erhoben worden ist: Demnach habe Kant fälschlich von der Spontaneität der theoretischen Vernunft auf die Freiheit der praktischen Vernunft bzw. des Willens geschlossen, ohne dabei das verbindende Prinzip ausweisen zu können. Ein „irreführendes Halbdunkel" herrsche über diesem Schluß, weshalb auch Kants „Deduktion der Freiheit" und mit ihr auch die Deduktion des Moralgesetzes in der Grundlegung als gescheitert gelten müsse (Henrich 1975, S. 72; ders. 1973, S. 245 ff., im Anschluß daran Schönecker 1999, S. 209f., 299f.). Dieser Kritik
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folgend könnte man versuchen, Kants Argumentation in der Grundlegung als systematisch unhaltbar zu disqualifizieren, seine Theorie des Vernunftfaktums als die Konsequenz dieser argumentativen Ungereimtheiten zu werten und damit die Grundlegung aus Kants Freiheitstheorie auszugrenzen. Doch so einfach ist die Sache nicht. Bei genauer Analyse des dritten Abschnitts der Grundlegung zeigt sich nämlich, daß ein derartiger Schluß von der Spontaneität der theoretischen Vernunft auf die Freiheit des Willens überhaupt nicht vorliegt. Kants „Deduktion des Begriffs der Freiheit" erweist sich als unproblematisch, weil sie bescheidener ausfällt, als jene Kritiker unterstellen. Auch Kants Zirkelauflösung kommt ins Ziel, so daß man nicht etwa wegen der Unschlüssigkeit einzelner Argumente der Grundlegung im Rahmen von Kants Freiheitstheorie ihre systematische Funktion absprechen könnte. Der Grund dafür ist vielmehr, daß der epistemischen Status der Freiheit in der Grundlegung unverändert bleibt. Kant revidiert seine Deduktion des kategorischen Imperativs in der zweiten Kritik nicht etwa, weil er die vermeintliche Unschlüssigkeit seiner einzelnen Argumente erkannt hätte. Was Kant vielmehr erkennt, ist der prinzipielle Unterschied zwischen der Erkenntnis von theoretischen und praktischen Grundsätzen. Damit wird ihm auch zugleich bewußt, daß eine Deduktion des kategorischgebietenden Imperativs, die sich an seiner theoretischen Philosophie orientiert, wie es noch in der Grundlegung der Fall gewesen ist, verfehlt ist. In der zweiten Kritik ist Kant nun über das Moralgesetz als „Faktum der Vernunft" andersherum in der Lage, eine Deduktion der Freiheit durchzuführen. Diese Deduktion schließt nicht jene Deduktion der Freiheit in der Grundlegung aus. Es wird sich vielmehr herausstellen, daß Kant in der Grundlegung bloß analytisch argumentiert bzw. mit seiner transzendentalphilosophischen Differenz auf die Di«/£möglichkeit der Freiheit hinauswill. Die Deduktion in der zweiten Kritik ist dagegen nicht nur bloß eine Analyse des Begriffs „rein praktische Vernunft". Sie erlaubt es, Kant in der Vorrede zur zweiten Kritik verkünden zu lassen, daß Freiheit „die einzige unter allen Ideen der spek. Vernunft [ist], wovon wir die Möglichkeit a priori wissen [...]" (KpV, V 4 (A 5)). Damit ist Freiheit seit der zweiten Kritik eine Vernunftidee, die zu den „Tatsachen" gezählt werden kann (vgl. auch KU §91). Auch in der zweiten Kritik ändert sich nichts daran, daß die Freiheit des Willens die Voraussetzung, der Seinsgrund {„ratio essendi') des Moralgesetzes (KpV, V 4 (A3)) ist. Doch im Unterschied zur Grundlegung versucht Kant nun nicht mehr, zunächst die Voraussetzung des Moralgesetzes zu rechtfertigen, um von dort darauf zu schließen, daß wir als freie Wesen
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immer auch das Moralgesetz wollen, sondern er schließt andersherum vom Moralgesetz als einem unmittelbar gewissen Vernunftfaktum auf unsere Freiheit. Damit ist erst in der zweiten Kritik die Freiheit als abolute Freiheit nicht nur widerspruchsfrei denkbar, sondern ihr kommt auch in praktischer Hinsicht objektive Realität zu. Bevor Kants „Deduktion der Freiheit" in der Grundlegung im Detail analysiert wird, ist es notwendig, sich ihren Kontext, nämlich die Deduktionsproblematik des kategorisch-gebietenden Imperativs, die das primäre Problem des dritten Abschnitts in der Grundlegung ist, zu vergegenwärtigen. Die beiden ersten Abschnitte der Grundlegung sind analytisch. Sie haben lediglich „durch Entwicklung des einmal allgemein im Schwange gehenden Begriffs der Sittlichkeit [gezeigt]; daß eine Autonomie des Willens demselben unvermeidlicherweise anhänge oder vielmehr zum Grunde liege" (GMS, IV 445 (BA 95 f.)). Doch mit der bloßen Explikation des Konzepts uneingeschränkter Verpflichtung ist die Gültigkeit dieses Konzepts noch nicht bewiesen. Nur derjenige, der „Sittlichkeit für Etwas, und nicht für eine chimärische Idee ohne Wahrheit hält, muß das angeführte Prinzip derselben zugleich einräumen" (GMS, IV 445 (BA 95)). Der Moralskeptiker wird sich damit jedoch nicht zufrieden geben. Er verlangt eine Rechtfertigung des moralischen Gesetzes als eines synthetischen Satzes a priori. Er möchte wissen, warum wir uns als sinnlich-vernünftige Wesen diesem reinen Vernunftgesetz unterwerfen sollen. Im ersten Beweisschritt der Deduktion stellt Kant eine Behauptung auf, die im Rahmen des achten Kapitels dieser Untersuchung genau erörtert wird. Hier wird diese Behauptung (Kants „Identitätsthese") so verstanden, daß ein freier Wille als ein vernünftiges Begehrungsvermögen, der keinen sinnlichen Einflüssen unterliegt, das Moralgesetz will, so daß die Moralität analytisch in einem freien Willen enthalten ist. Analytizität läßt sich bei Kant bekanntlich auf Identität zurückführen, so daß er sagen kann, daß „ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei [ist]" (GMS, 447 (BA 98)). Nun ist aber das Moralgesetz für uns Menschen ein Imperativ. Das bedeutet, daß der menschliche Wille offenbar nicht immer ausschließlich das will, was moralisch gut ist, denn ein Imperativ ist nur genau dann sinnvoll, wenn wir nicht immer schon unmittelbar und von selbst das tun, was geboten ist. Mit der Rechtfertigung des Moralgesetzes für den menschlichen Willen versucht Kant nun Gründe geltend zu machen, warum jenes Gesetz, das für heilige Wesen ein Indikativ ist, für uns Menschen ein kategorisch gebietender Imperativ ist und es nicht etwa in das Belieben jedes Menschen gestellt ist, ob er ihm folgen will oder nicht.
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Die Verbindlichkeit der hypothetisch-gebietenden Imperative erwies sich als unproblematisch. Hypothetisch-gebietende Imperative geben uns Handlungsanweisungen, wie wir die von uns selbst gewollten Zwecke erfolgreich verwirklichen. Der Gebotscharakter entsteht, weil die unmittelbaren Bedürfnisse mit den für die Verwirklichung des ursprünglichen Zwecks erforderlichen Handlungen konfligieren oder wir aus Unwissenheit Mittel ergreifen können, die nicht zur Verwirklichung des gewollten Zwecks führen. Der Imperativ verliert jedoch seine nötigende Funktion, sobald wir den Zweck, der ihm zugrunde liegt, aufgeben und andere Zwecke höher bewerten. Hypothetisch-gebietende Imperative waren in bezug auf das Wollen analytisch, weil derjenige, der den Zweck wirklich will und nicht etwa nur wünscht, auch das zur Verwirklichung dieses Zweckes als notwendig erkannte Mittel billigen muß (s. άαψ Kap. 1b). Das Moralgesetz ist dagegen ein kategorisch-gebittendzt Imperativ. Dieser Imperativ setzt für seine Verbindlichkeit nicht einen bestimmten Handlungszweck voraus, sondern gebietet voraussetzungslos. Er ist in bezug auf unser Wollen nicht analytisch, sondern synthetisch, weil er den Willen des Menschen, der als sinnliches Wesen nicht immer schon ausschließlich das Gute will, mit einem Willen verknüpft, der ausschließlich das Gute will. Genau diesen Unterschied hatte Kant im ^weiten Abschnitt hervorgehoben und deshalb erklärt, daß nur der kategorisch-geb\&te.t\dz Imperativ auch eine Deduktion erfordert (GMS, IV 417-420 (BA 44-50)). Mit seiner Deduktion der Verbindlichkeit des Moralgesetzes will Kant eine Strukturanalogie zwischen hypothetisch- und kategorisch-gebietenden Imperativen herausarbeiten. Ein Teil seiner Strategie besteht genau darin, daß dem kategorisch-gebietenden Imperativ ebenso wie den hypothetischgebietenden Imperativen unser Wollen zugrunde liegt. Grob gesagt will Kant Gründe dafür beibringen, daß wir auch dem Menschen als einer Art von Vernunftwesen die Freiheit zusprechen dürfen und legitimiert sind, „zwei Standpunkte" einzunehmen, die es uns erlauben, ihn als frei und naturdeterminiert zu denken. Damit will der Mensch auch, obgleich nicht ausschließlich, immer schon das Moralgesetz. Auf diese Weise erreicht Kant die gewünschte Konklusion: daß das Sollen eigentlich ein Wollen aus Vernunftperspektive ist und das Moralgesetz insofern ein Anspruch, den wir selbst an uns stellen (GMS, IV455 (BA 113)). Die Voraussetzung für diese Konklusion ist die von Kant bereits im ersten Unterabschnitt angekündigte „Deduktion des Begriffs der Freiheit". Ohne den Gesamtzusammenhang der Deduktion aus den Augen zu verlieren, gilt es die für Kants Freiheitstheorie entscheidenden Momente detailliert zu analysieren, um über den Status des Freiheitsbegriffs im Rahmen der Grundlegung entscheiden zu können.
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Über den genauen Argumentationsverlauf der Deduktion besteht große Verwirrung und Uneinigkeit bei den Interpreten (für einen Forschungsbereicbt s. Schönecker 1999, S. 389-395). Daher gilt es hier zunächst, einen Uberblick über den komplexen Gedankengang der Deduktion als Ganzes zu gewinnen, bevor dann die für die „Deduktion des Begriffs der Freiheit" und die Einführung der „zwei Standpunkte" zentralen Schritte im Detail auseinandergelegt werden: Die Deduktion des kategorisch gebietenden Imperativs verteilt sich auf die ersten vier Unterabschnitte des dritten Abschnitts der Grundlegung. Jeder der Unterabschnitte ist von Kant mit einer Überschrift versehen worden, die den Gedankengang gliedern sollen. Kant argumentiert in einem ersten Schritt für die Identität eines ausschließlich freien Willens und eines moralisch guten Willens (GMS, IV 446 f . (BA 97 ff.)) Anschließend analysiert er den Begriff der „praktischen Vernunft" und zeigt, daß wir dem Willen eines Vernunftwesens überhaupt problematisch die Idee der (transzendentalen) Freiheit zusprechen dürfen und damit auch die praktischen Gesetze für ein solches Wesen gültig sind (GMS, IV 447 f . (BA 100 f.)). Mit seinem dritten Schritt wendet Kant sich dann dem Menschen als sinnlich-vitmünftigem Wesen zu und räumt die Zweifel aus, die Freiheit sei dem Menschen ohne Argument, nur wegen der Wichtigkeit des moralischen Gesetzes zugesprochen worden (GMS, IV 449f. (BA 102 ff.)). Auf der Grundlage seiner transzendentalphilosophischen Differenz von Ding an sich und Erscheinung, die jeder Mensch „dunkel" immer schon vollzogen hat, zeigt er, daß der Mensch berechtigt ist, „zwei Standpunkte" einzunehmen, und legitimiert auf diese Weise die Freiheitsvoraussetzung, ohne dabei das Moralgesetz nur wegen seiner „Wichtigkeit" vorausgesetzt zu haben (GMS, 451 ff. (BA 105-109)). Damit ist nun andersherum der Schluß von der Idee der Freiheit auf das moralische Gesetz begründet, so daß Kant im vierten und letzten Schritt alleine noch das Sollensmoment des kategorisch gebietenden Imperativs, die Priorität des Moralgesetzes gegenüber unseren subjektiv-privaten Interessen, rechtfertigen muß (GMS, 453 ff. ßA 110-113)).
i. Die „Deduktion des Begriffs der Freiheit" Es ist der zweite Unterabschnitt, der mit „Freiheit muß als Eigenschaft des Willens aller Vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden" überschrieben ist, über den behauptet wird, Kant habe hier die Freiheit des Willens aus der Spontaneität der theoretischen Vernunft beweisen wollen. Es wird sich jedoch herausstellen, daß Kant einen solchen Beweis nicht erbracht
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hat, sondern lediglich den Begriff der „reinen praktischen Vernunft" analysiert. Kants Beweisziel in diesem Abschnitt ist, daß der Wille eines vernünftigen Wesens „nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein [kann]" und diese Idee „in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden [muß]". Zunächst schließt Kant einen Beweis der Freiheit „aus gewissen vermeintlichen Erfahrungen von der menschlichen Natur" aus zwei Gründen aus (GMS, IV447f. ßA 100), Hervorhebung]. B.). Erstens ist ein solcher Erfahrungsbeweis der absoluten Freiheit „schlechterdings unmöglich", weil absolute Freiheit „kein Erfahrungsbegriff' ist (vgl. GMS, IV 455 ßA 113)). Zweitens soll Freiheit als Eigenschaft aller vernünftigen Wesen und nicht nur für den Menschen als eine Art von Vernunftwesen bewiesen werden, denn das Moralgesetz, das analytisch im freien Willen enthalten ist, ist das Gesetz eines Vernunftwesens überhaupt und nicht etwa nur für sinnlich-vernünftige Wesen. Deshalb strebt Kant einen Beweis der Freiheit „a priori" und „als zur Tätigkeit vernünftiger und mit einem Willen begabter Wesen überhaupt' an (GMS, IV 448 ßA 100), Hervorhebung]. B.). Diesen Beweis beginnt Kant mit einer Behauptung: ,,[E]in jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist ebendarum in praktischer Rücksicht wirklich frei, d. i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, ebenso als ob sein Wille, auch an sich selbst und in der theoretischen Philosophie gültig, für frei erklärt würde" (ebd., Hervorhebung % T. J. B.). Auf den ersten Blick kann man meinen, diese Behauptung sei zu anspruchsvoll. Man möchte einwenden, was wäre, wenn der „Prädeterminismus" wahr wäre und die Idee der Freiheit bloß eine Illusion? Wäre dann nicht der Anspruch eines kategorisch-gebietenden Moralgesetzes überzogen, weil so etwas wie eine „Handlung aus Pflicht" überhaupt nicht möglich ist? Die unmittelbar an diese Behauptung anschließende Anmerkung scheint diesen Einwand noch zu bestärken. Dort wiederholt Kant nämlich noch einmal, das „für ein Wesen, das nicht anders als unter der Idee seiner eigenen Freiheit handeln kann, [dieselben Gesetze gelten], die ein Wesen, das wirklich frei wäre, verbinden würden" (ebd., Hervorhebung J. B.). Der Irrealis bestärkt die Meinung, Kant würde in Anspruch nehmen, daß dieselben praktischen Gesetze gelten würden, auch wenn der Prädeterminismus wahr und der Mensch nicht absolut frei wäre. Damit hätte dann die dritte Antinomie, die gerade die Vereinbarkeit von Freiheit und Prädeterminismus denkmöglich macht, in bezug auf Kants Moralphilosophie keine legitimierende Funktion und das entgegen Kants eindeutigen Beteuerungen im Rahmen der dritten Antinomie der ersten Kritik (KrV, Β 561 f.), in
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Exkurs: Eine genealogische Skizze
der Vorrede zur zweiten Auflage (KrV, xxviii f.), ebenso in der zweiten Kritik (KpV, V 30 (A 53), V 48 ff. (A 83-87), V 94-106 (A 168-191)), und auch die dritte Kritik hat nicht etwa, wie mancher meint, die Auflösung der dritten Antinomie überflüssig gemacht (KU, V 175 (xviii)), so daß sie auch noch in der Rßligionsschriß von Kant gegen das Prädeterminismusproblem eingesetzt wird (Rel., VI 39 f . β 39 f.), Β 49 f . (58 f.)). Schließlich rekurriert Kant auch in der Grundlegung selbst in aller nur wünschenswerten Deutlichkeit auf dieses Theoriestück (GMS, IV455f. ßA 115))™ Doch noch in derselben Anmerkung findet sich auch ein klarer Hinweis darauf, daß Kant auch an der hier verhandelten Textstelle die Funktion der dritten Antinomie für seine Moralphilosophie nicht in Zweifel gezogen hat, sondern an sie anschließt. Nimmt man nämlich den Anfang jenes zur Hälfte zitierten Satzes aus der Anmerkung mit hinzu, in dem Kant sagt: ,,[d]enn wenn dieses letztere [die Freiheit in theoretischer Hinsicht] auch unausgemacht gelassen wird [...]" (GMS, IV 448 ßA 100), Hervorhebung J. B.), ergibt sich so, daß der Beweis des Prädeterminismus gerade nicht erbracht ist, sondern lediglich „unausgemacht" ist, ob es so etwas wie Erstursächlichkeit tatsächlich gibt. Die Wirklichkeit der absoluten Freiheit zu beweisen, hat Kant auch mit der Auflösung der dritten Antinomie nicht in Anspruch genommen, sondern ihr Ergebnis war genau, daß es „unausgemacht" ist, ob es einen wirklichen Fall von Erstursächlichkeit gibt, aber daß er widerspruchsfrei denkmöglich ist. Dieses Ergebnis ermöglichte es, dem Menschen problematisch die Idee der Freiheit zuzusprechen und seine Handlungen so zu betrachten „als ob" sie frei sind (KrV, Β 713). Diesen problematischen Begriff der Freiheit greift Kant hier in der Grundlegung an dieser Stelle mit seinem „als ob" wieder auf. Kant behauptet nur, daß, wenn auch kein Beweis eines Falls von Erstursächlichkeit in der sinnlichen Anschauung demonstriert werden kann und offen bleiben muß, ob es einen solchen Fall tat-
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Daß die Antinomie der Urteilskraft (!) nicht etwa die dritte Vernunftxatinorcae aus der ersten Kritik ablöst oder mit ihr identisch ist (so £ B. Hegel 1816, S. 158; Silber 1960, S. et), bringt Kant in der Einleitung zur KU unmißverständlich zum Ausdruck. Das Problem, dem Kant sich in der dritten Kritik zuwendet ist, nicht mehr ob Freiheit und Naturnotwendigkeit zusammen widerspruchsfrei denkbar sind, es geht auch nicht mehr darum, die Rechmäßigkeit der transzendentalen Idee der Freiheit als regulatives Prinzip für die Beurteilung menschlicher Handlungen zu etablieren, sondern es geht um den Grund der Einheit des Natur- und Freiheitsbegriffs auf dem Feld des Übersinnlichen. Die Antinomie, die sich hier entzündet ist die von kausalmechanischer und teleologischer Erklärungsform, die in bezug auf Organismen überhaupt als vereinbar gedacht werden müssen fcum systematischen Ort von Kants Teleologie s. Bartuschat 1972; Uiw 1980, S. 191 -216; für eine kritische Ausarbeitung des kantischen Programms s. Rühs 1990).
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sächlich gibt, für Wesen, die unter der Idee der Freiheit handeln, die praktischen Gesetze ihre Gültigkeit haben. Mit seinem ersten Beweisschritt hat Kant also die Gültigkeit der praktischen Gesetze für ein Wesen, das unter der Idee der Freiheit handelt, sichergestellt.76 Kants zweiter Beweisschritt besteht nun darin, nachzuweisen, daß wir „jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, notwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen" (GMS, IV 448 (BA 100 f.)). Kants Begründung dafür hat Anlaß zu einem fundamentalen Mißverständnis gegeben. Diesem Mißverständnis zufolge schließt Kant hier von der Freiheit der theoretischen Vernunft („Freiheit zu denken") auf die Freiheit der praktischen Vernunft („Freiheit zu handeln") und will auf diese Weise die Freiheit des Willens beweisen (Henrich 1975, i". 72; ders. 1973, S. 245 ff, im Anschluß daran Schönecker 1999, S. 209f., 299f.). Wenn diese Behauptung zuträfe, hätten wir hier einen Freiheitsbeweis, der offenbar mit jener Deduktion der zweiten Kritik in Konkurrenz stünde, und man müßte das Verhältnis dieser Deduktionen untersuchen. In Anbetracht dieser Konsequenzen ist es gerechtfertigt, Kants Begründung einmal in voller Länge zu zitieren: „Denn in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, die praktisch ist, d. i. Kausalität in Ansehung ihrer Objekte hat. Nun kann man sich unmöglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewußtsein in Ansehung ihrer Urteile anderwärtsher eine Lenkung empfinge, denn alsdann würde das Subjekt nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe die Bestimmung der Urteilskraft zuschreiben. Sie muß sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unabhängig von fremden Einflüssen, folglich muß sie als praktische Vernunft oder als Wille eines vernünftigen Wesens von ihr selbst als frei angesehen werden; d. i. der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein und muß also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden" (GMS, IV 448 ßA 101)).
Bei einem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, „denken wir uns eine Vernunft, die praktisch ist" (Hervorhebung J. B). Kant argumentiert hier analytisch und will lediglich aufklären, was wir im Begriff eines Vernunftwesens mit einem Willen immer schon implizit vorausgesetzt haben. Dafür analysiert er zunächst den Begriff der „Vernunft" in der Weise, daß es unmöglich sei, „eine Vernunft zu denken, die mit ihrem eigenen Bewußtsein in Ansehung ihrer Urteile anderwärtsher eine Lenkung empfinge". Es liegt in dem Begriff „Vernunft", daß sie ursprünglich, produktiv und nicht etwa rezeptiv ist. Kant gibt damit kein synthetisches Argument dafür, ob dieser Begriff von „Vernunft" auch berechtigt ist. 76
Diese argumentative List wird oft übersehen, freilich auch deshalb, weil die Auswirkung der dritten Antinomie nicht immer zur Kenntnis genommen wird fy B. Prauss 21993, S. 254).
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Exkurs: Eine genealogische Skizze
Es ist unbegründet zu meinen, Kant würde hier allein den Begriff der „theoretischen Vernunft" analysieren, um dann im nächsten Schritt auf die Freiheit der praktischen Vernunft zu schließen. Den Begriff, den Kant hier vielmehr zunächst analysiert — und das ist entscheidend — ist der Begriff einer ,Vernunft überhaupt(!)'. ,Vernunft überhaupt wird von Kant in diesem Zusammenhang als ein Vermögen gedacht ursprünglich Vorstellungen hervorzubringen. Vernunft hat nicht etwa immer ausschließlich theoretische Vorstellungen, vielmehr lassen sich diese Vorstellungen in zwei Arten unterteilen, theoretische und praktische. Theoretische Vorstellungen handeln davon, was der Fall ist, praktische davon, was der Fall sein soll. Um behaupten zu können, daß Vernunft überhaupt nicht rezeptiv, sondern spontan ist, muß Kant kein einheitliches Prinzip von theoretischer und praktischer Vernunft deduzieren. Die beiden Gebrauchsweisen der Vernunft sind Theorie und Praxis. Als praktische Vernunft stellt die Vernunft Sollenssätze auf, die den Willen bestimmen. Solange Kant jedoch wie in diesem zweiten Unterabschnitt ausschließlich über ein Vernunftwesen überhaupt und nicht über die spezielle Art eines sinnlich-vetnünftigen Wesens spricht, muß man sogar sagen, daß jene Sollenssätze aus reiner Vernunftperspektive Wollenssätze sind. Der Inhalt dieser praktischen Vorstellungen sind die Handlungsabsichten eines reinen Vernunftwesens, die für ein .«»/wM-vernünftiges Wesen Handlungs^eAö/ί sind. Wenn Kant also sagt, daß die Vernunft „sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen [muß] folglich [...] als praktische Vernunft oder als Wille von ihr selbst als frei angesehen werden [muß]", liegt hier kein Schluß von der Freiheit der theoretischen auf die Freiheit der praktischen Vernunft vor. Vielmehr analysiert Kant in einem ersten Schritt den Begriff ,Vernunft überhaupt' und geht dann auf die Vernunft in praktischer Anwendung über. Diejenigen, die behaupten, Kant schließe von der Freiheit zu denken auf die Freiheit zu handeln, unterstellen, daß dieses Denken immer schon theoretisch ist und nicht auch praktisch sein kann.77 77
Diejenigen, die im zweiten Unterabschnitt der Grundlegung einen Schluß von der Freiheit der theoretischen Vernunft auf die Freiheit der praktischen Vernunft entdecken wollen, haben versucht, dies im Rückgriff auf Kants Recension von Schuirs Versuch einer Anleitung %ur Sittenlehre (1783) plausibel zu machen fc B. Henrich 1973, S. 245 f.; Brandt 1988, S. 184, Schönecker 1999, S. 218-233). In dieser Rezension hatte Kant dem „Fatalisten" Johann Heinrich Schulz, der mit seiner Schrift einen Erkenntnisznvpruch erhebt, einen performativen Selbstwiderspruch vorgeworfen. Schulz habe damit, „obgleich er es sich selbst nicht gestehen wollte, vorausgesetzt, daß der Verstand nach objektiven Gründen, die jederzeit gültig sind, sein Urteil zu bestimmen das Vermögen habe und nicht unter dem Mechanism der bloß subjektiv bestimmenden Ursachen, die sich in der Folge ändern können, stehe; mithin nahm er immer Freiheit zu denken an, ohne welche es keine Vernunft gibt. Ebenso muß er
Die Freiheitsbeweise in der Grundlegung
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Die ganze Freiheitsproblematik ergibt sich für Kant als das Problem, ob so etwas wie eine erste Ursache in der Sinnenwelt möglich ist. Die „Idee der transzendentalen Freiheit" ist positiv verstanden die Idee der Mitursächlichkeit. Auch wenn die theoretische Vernunft bzw. der Verstand für die Gegenstandserkenntnis konstitutiv ist und Kant auch von „Handlungen" (actio) und „Funktionen" (fungi) des theoretischen Verstandes spricht, ist die Spontaneität, diese Selbsttätigkeit gerade nicht ein dynamisches Verhältnis von Grund und Folge. Während die Vernunft in theoretischer Anwendung „für sich selbst gar nichts erkennt" und bei der Erkenntnis immer auf etwas sinnlich Gegebenes angewiesen ist (KrV, Β 145), bringt die praktische Vernunft den Gegenstand des Willens und mit ihm zugleich auch die „Triebfeder" zur Handlung, die „Achtung vor dem Gesetz" selbsttätig hervor (s. da^u Kap. 1c). Praktische Vernunft ist „für sich selbst praktisch" und kann so aus sich heraus nicht nur eine Regel zur Erreichung eines vorausgesetzten Zwecks hervorbringen, sondern bringt auch diesen Zweck und mit ihm die Triebfeder zur Handlung selbst noch hervor (GMS, IV 410 ßA 33), 461 ßA 124 f.); KpV, V 24 f . (A 44), 91 (A 163); KU, V174 f . β xvüf.)) Doch wie auch immer man erkenntnistheoretisch argumentiert, unbestritten ist, daß bei Kant theoretische Vernunft nicht auf den Willen, sondern auf die Anschauung gerichtet ist. Als theoretisch erkennende stellt sie keine präskriptiven, sondern deskriptive Sätze auf. Indem sie nicht auf unseren Willen als Kausalvermögen bezogen ist, kann sie auch nicht Ursache von der Wirklichkeit von Gegenständen sein. Dieser Wille, so schließt Kant seine Argumentation im zweiten Unterabschnitt ab, „kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein
auch Freiheit des Willens im Handeln voraussetzen, ohne welche es keine Sitten gibt, wenn er in seinem, wie ich nicht zweifle, rechtschaffenen Lebenswandel den ewigen Gesetzen der Pflicht gemäß verfahren und nicht ein Spiel seiner Instinkte und Neigungen sein will, ob er schon zu gleicher Zeit sich selbst diese Freiheit abspricht [...]" (Schutt^ VIII 14). Das „Ebenso" zeigt, daß es sich bei diesem Argument um eine Analogie handelt. Im ersten Teil wird behauptet, daß ohne Freiheit zu denken, es keine Vernunft gebe und im zweiten Teil, daß es „ebenso", ohne Freiheit des Willens, keine Sitten gibt. Indem Schulz selbst mit seiner Schrift einen Erkenntnis?.nspruch erhebt, hat er implizit die Freiheit zu denken vorausgesetzt. Aber auch der zweite Teil setzt etwas voraus, nämlich, „wenn er in seinem, wie ich nicht zweifle, rechtschaffenen Lebenswandel verfahren und nicht ein Spiel der Instinkte und Neigungen sein will". Kants „wie ich nicht zweifle" bedeutet, daß diese Voraussetzung wahr ist, d. h., daß „er" (Schulz) selbst moralische Grundsätze hat. Für diese Grundsätze ist nun die Freiheit des Willens „ebenso" sine notwendige Voraussetzung, wie die Freiheit zu denken eine Voraussetzung für Vernunft ist. Auch hier in dieser Rezension liegt also kein Schluß von der Freiheit der theoretischen Vernunft auf die Freiheit des Willens vor. Deshalb ist es auch nicht „erstaunlich" (Schönecker 1999, S. 292), daß Kant diesen Zusammenhang nicht weiter thematisiert.
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und muß also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden". Kurz: Ein Vernunftwesen ist Urheber seiner Vorstellungen. Als praktisches Vernunftwesen bringt es Handlungsabsichten bzw. Handlungsvorschriften selbsttätig hervor, die den Willen bestimmen und so eine freie Handlung hervorbringen. Ein praktisches Vernunftwesen würde aufhören praktisches Vemunftwesen zu sein, wenn ihm die Fähigkeit verlorenginge, seinen Willen durch seine Vernunft zu lenken und statt dessen durch andere Ursachen gelenkt würde. Dies also ist Kants angekündigte „Deduktion des Begriffs der Freiheit". Es ist, um die Verkürzung des Zitats aufzulösen, eine „Deduktion des Begriffs der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft' (GMS, IV 447 (BA 99), Hervorhebung J. B.). Es gehört zu den Eigenarten der Kantforschung, die auf der einseitigen Akzentuierung des ersten Teils der ersten Kritik beruht, „Deduktion" immer im Sinne einer „transzendentalen Deduktion" mißzuverstehen. Der Argumentationsgang im zweiten Unterabschnitt des dritten Abschnitts der Grundlegung zeigt deutlich, daß Kant „Deduktion" hier nicht im Sinne von „Rechtfertigung", sondern im Sinne von ,Ableitung"meint. Kant stellt hier in bezug auf die Freiheit nicht die QuidIuris-Frage (s. da^u KrV, Β 116-119). Vielmehr beweist er, daß wir aus dem Begriff eines „praktischen Vernunftwesens" durch Begriffsanalyse, durch analytische Erkenntnis a priori, die Idee der Freiheit ableiten bzw. deduzieren können. Dieser Beweis ist ausreichend, weil Kant im ersten Argumentationsschritt bewiesen hatte, daß für ein Wesen, das unter der Idee der Freiheit handelt, praktische Gesetze Gültigkeit haben, auch wenn aus theoretischer Perspektive offen bleiben muß, ob ein Fall von Freiheit als Erstursächlichkeit real möglich ist. Alle Versuche, in Kants veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften einen Beweis der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft ausfindig zu machen, um so einen Schluß von der „Freiheit zu denken" auf die „Freiheit zu handeln" zu legitimieren (so etwa bei Schönecker 1999, S. 233-309), sind in bezug auf diese Deduktion überflüssig. Zu diesen Nachforschungen ist man nur veranlaßt, wenn man praktische Vorstellungen aus dem Bereich des Denkens ausschließt oder sie irrtümlich für einen Fall von theoretischen Vorstellungen hält.
iL Zirkelauflösung: Ein Beweis der menschlichen
Freiheit?
Man könnte meinen, daß damit der Beweis der Gültigkeit des kategorischen Imperativs abgeschlossen wäre. Doch Kant hat in diesem zweiten Unterabschnitt ausdrücklich nur das Vernunftwesen überhaupt und nicht
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den Menschen als eine besondere Art Vernunftwesen thematisiert. Kant hat erstens noch nicht bewiesen, warum wir auch dem Menschen als sinnlichvernünftiges Wesen die Idee der Freiheit zusprechen dürfen und zweitens, warum das Moralgesetz für den Menschen ein Imperativ ist und es nicht etwa in sein Belieben gestellt ist, ob er ihm Folge leistet oder nicht. Die erste dieser beiden Aufgaben löst Kant im dritten Unterabschnitt, der die Überschrift, ,,[v]on dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt", trägt. Kant faßt zunächst das Ergebnis des zweiten Unterabschnitts zusammen, indem er sagt, daß er die Idee der Freiheit „nicht als etwas Wirkliches nicht einmal in uns selbst und in der menschlichen Natur beweisen [konnte]". Es habe sich lediglich gezeigt, daß „wir sie voraussetzen müssen, wenn wir uns ein Wesen als vernünftig und mit Bewußtsein seiner Kausalität in Ansehung der Handlungen [...] denken wollen" (GMS, IV 448f. ßA 101 f.)). Kants zentrales Problem in diesem dritten Unterabschnitt ist nun, einen Grund ausfindig zu machen, der es erlaubt, auch bei uns Menschen die Idee der Freiheit voraussetzen, ohne sich dabei bloß auf die „Wichtigkeit" des Moralgesetzes zu berufen. Wofür im ersten und zweiten Unterabschnitt noch nicht argumentiert wurde, ist die These, warum der Mensch seine Handlungen auch unter der Idee der Freiheit denken muß. Solange Kant dies nicht gezeigt hat, bleibt auch die Gültigkeit des praktischen Gesetzes ungewiß. Würde man unseren Status als Vemunftwesen und damit die Idee der Freiheit nur wegen der „ Wichtigkeit" des Moralgesetzes voraussetzen, hätte man damit auch die Gültigkeit des kategorisch gebietenden Imperativs nicht etwa bewiesen, sondern bloß vorausgesetzt. Genau in diesem Zusammenhang tritt jene „Art von Zirkel" auf, über dessen Bedeutung so große Uneinigkeit herrscht (für einen Forschungsbereicht χ Schönecker 1999, S. 349-356). Dieser Zirkel ist eine drohende Gefahr, vor der Kant warnt, und die er selbst auf der Grundlage seiner transzendentalphilosophischen Differenz auflöst. Der Zirkel besteht darin, daß wir auf der einen Seite die Freiheit des Willens voraussetzen, „um uns [...] unter sittlichen Gesetzen zu denken" und uns auf der anderen Seite „nachher" als diesen Gesetzen unterworfen denken, weil wir die Freiheit des Willens vorausgesetzt haben (GMS, IV 450 ßA 104), Hervorhebung J. B. vgl. Schönecker 1999, S. 333). Die Gefahr, vor der Kant damit warnen will, ist die, daß wir die Freiheit des Willens bloß voraussetzen, ohne ein Argument für ihre Annahme zu liefern. „Gutgesinnte Seelen" werden diese Voraussetzung zwar „gerne einräumen", nicht aber der Moralskeptiker, der als Prädeterminist diese Voraussetzung bestreitet. Kant will die Gültigkeit des Moralgesetzes nun gerade nicht voraussetzen, sondern beweisen. Für diesen Beweis muß er mit
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Exkurs: Eine genealogische Skizze
Recht behaupten können, daß der Mensch sich die Idee der Freiheit zusprechen kann. Solange aber diese Voraussetzung nur von „gutgesinnten Seelen" umwillen des Moralgesetzes zugestanden wird, handelt es sich bloß um die „Erbittung eines Prinzips" und nicht um eine Begründung (GMS, IV 453 ßA 109), Hervorhebung]. B.). Die Gültigkeit des Moralgesetzes als dasjenige, was es zu begründen gilt, hinge von einer Voraussetzung ab, die selbst unbegründet ist. Für Kants Theorie der Freiheit ist diese „Art von Zirkel" nun genau deshalb von Bedeutung, weil seine Auflösung einen Freiheitsbeweis in bezug auf den Menschen zu versprechen scheint, der nicht mehr wie jene „Deduktion des Begriffs der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft" bloß eine Begriffsanalyse von „reiner praktischer Vernunft" ist. Mit bloßer Begriffsanalyse, das hatte Kant schon im ^weiten Abschnitt der Grundlegung gesagt, kommt man bei der Deduktion des kategorisch gebietenden Imperativs als eines synthetischen Satzes nicht zum Ziel. Vielmehr muß man „über die Erkenntnis der Objekte und zu einer Kritik des Subjekts, d. i. der reinen praktischen Vernunft hinausgehen" (GMS, IV 440 (BA 87)). Mit der Auflösung des Zirkels ist nun genau der Wendepunkt in der Grundlegung erreicht, an dem Kant sich der „Kritik des Subjekts" zuwendet (vgl. Brandt 1988, S. 179 f.). Wie also argumentiert Kant bei der Auflösung des Zirkels für die Voraussetzung der Freiheit? Im Prinzip nicht anders als in der ersten Kritik. Seine These ist: ,,[W]enn wir uns durch Freiheit als a priori wirkende Ursachen denken", nehmen wir einen „anderen Standpunkt" ein, „als wenn wir uns selbst nach unseren Handlungen als Wirkungen, die wir vor unseren Augen sehen uns vorstellen" (GMS, IV 450 (BA 105), Hervorhebung geändert J. B.). Um diese Behauptung der zwei Standpunkte zu rechtfertigen, greift Kant auf seine erkenntniskritische Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung zurück, beruft sich in der Grundlegung aber auch noch auf den „gemeinen Verstand", der diesen Unterschied, wenn auch bloß „dunkel", ebenfalls immer schon vollzogen habe. Genau wie in der ersten Kritik argumentiert Kant zunächst dafür, daß wir die Dinge als Erscheinungen erkennen, aber von ihrem Erscheinungscharakter auch abstrahieren und sie nicht als Erscheinungen, sondern an sich selbst denken können. Und genau wie in der ersten Kritik ist diese Voraussetzung allein noch nicht ausreichend, um einen Grund zu haben, hinsichtlich der Eigenschaften eines Dinges „zwei Standpunkte" einzunehmen. Die transzendentalphilosophische Differenz macht uns nur bewußt, daß wir die empirische Perspektive nicht verabsolutieren dürfen, weil uns als sinnliche Vernunftwesen eine Abschlußerkenntnis prinzipiell unmöglich ist (s da^u Kap. 5a).
Die Freiheitsbeweise in der Grundlegung
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Doch weder bei der „leblosen" noch bei der „tierischbelebten Natur" finden wir einen „Grund, irgend ein Vermögen uns anders als bloß sinnlich bedingt zu denken" (KrV, Β 574). Dazu haben wir nur Grund, „wenn [...] dasjenige, was in der Sinnenwelt als Erscheinung angesehen werden muß, an sich selbst auch ein Vermögen hat, welches kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung ist, wodurch es aber doch Ursache von Erscheinungen sein kann" (KrV, Β 566, Hervorhebung geändert J. B. Für die Rechtfertigung der Redeweise von „Ursache"in diesem Zusammenhang s. Kap 6bi). Nun ist der Mensch im Unterschied zu lebloser Materie und zu den Tieren ein Vernunfhf&s&a. Mit diesem Schritt hatte Kant schon in der ersten Kritik die Einführung der Freiheit als regulatives Prinzips vorbereitet (vgl. Kap. 6bii). Entsprechend folgt in der Grundlegung auf die transzendentalphilosophische Differenz derselbe Argumentationsschritt: „Nun findet der Mensch in sich wirklich ein Vermögen, dadurch er sich von allen anderen Dingen, ja von sich selbst, sofern er durch Gegenstände affiziert wird, unterscheidet, und das ist die Vernunft' (GMS, IV 452 (BA 108)). Kant unterscheidet anschließend — ebenfalls analog zur ersten Kritik - die Selbsttätigkeit („Spontaneität") des Verstandes, der immer auf gegebene Sinnesdaten angewiesen ist, von der Spontaneität der Vernunft, die „unter dem Namen der Ideen eine so reine Spontaneität zeigt, daß sie dadurch weit über alles, was ihr Sinnlichkeit nur liefern kann, hinausgeht" (ebd.). In der ersten Kritik führt Kant nun die „Imperative" als Vernunftprodukte ein, die (dort noch hinsichtlich des Freiheitsbegriffes undifferenziert) eine Kausalität der Vernunft und damit lF///i»rfreiheit implizieren. Diese Imperative sind es letztlich, die uns beim Menschen im Unterschied zur „leblosen" und „tierischbelebte [n] Natur" einen Grund geben, seine „Kausalität auf %wei Seiten zu betrachten" (KrV, Β 566). Diesen letzten Schritt läßt Kant in der Grundlegung aus. Doch man kann mit Recht geltend machen, daß er in der Einführung der Vernunft als Vermögen der Ideen schon enthalten ist, weil die Ideen der Vernunft nicht nur theoretisch, sondern auch, wie bereits die Überschrift jenes dritten Unterabschnitts zeigt, praktisch sein können. Praktische Vernunftideen sind bei reinen Vernunftwesen bloß Willensakte, für sinnlich-vernünftige Wesen sind es zugleich Imperative. Als Willensakte sind sie ein Fall von Willensfreiheit, als kategorisch gebietende Sollenssätze implizieren sie diese. Tatsächlich schließt Kant auch in der Grundlegung nicht etwa von der theoretischen Vernunftanwendung auf die Freiheit des Willens. Er geht vielmehr ebenso wie im zweiten Unterabschnitt von der Vernunft überhaupt aus, um dann auf den für die Freiheit des Willens entscheidenden Anwendungsbereich der Vernunft überzugehen: die Praxis. Diesen Über-
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gang vollzieht Kant im vorletzten Absatz: „Als ein vernünftiges, mithin zur intelligiblen Welt gehöriges Wesen kann der Mensch die Kausalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken" (GMS, IV 452 ßA 109), Hervorhebung J. B.). Damit ist Kant beim praktischen Vernunftgebrauch angelangt. Er kann hier auf jene „Deduktion des Begriffs der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft" zurückgreifen und nun auch für den Menschen als sinnlich-vernünftiges Wesen beweisen, daß auch er nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann. Damit endet Kants Beweis: Nicht auch die Deduktion des kategorisch gebietenden Imperativs, die erst mit dem vierten Unterabschnitt abgeschlossen ist, sondern der Beweis, daß Kant Freiheit nicht bloß umwillen des Moralgesetzes voraussetzt hat. Kant hat zunächst mit seiner erkenntnis- und subjektkritischen Differenz dafür argumentiert, daß wir Gegenstände als Erscheinung und nicht als Erscheinung, sondern an sich selbst betrachten können. Er hat damit einen Bereich angezeigt, der sich prinzipiell unserer Erkenntnis als endlicher Vernunftwesen entzieht, der aber denkmöglich ist, und damit Platz für die Anwendung regulativer Vernunftideen geschaffen (s. da%u Kap 5b). Im zweiten Argumentationsschritt wendet Kant diese Unterscheidung auf das Subjekt selbst an und zeigt, daß es als Vernunftwesen Grund dazu bietet, „zwei Standpunkte" einzunehmen: Es kann sich sowohl als sinnliches Wesen, das unter „Naturgesetzen (Heteronomie)" als auch als intellegibles Wesen „unter Gesetzen, die, von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sind", betrachten. In einem letzten Argumentationsschritt kann Kant nun auf seine Begriffsanalyse aus dem zweiten Unterabschnitt zurückgreifen, so daß auch für den Menschen als praktisches Vernunftwesen gilt, daß er „die Kausalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken [kann]". Von diesem Beweis nun erhofft Kant sich, jene „Art von Zirkel" auflösen und auf das Moralgesetz schließen zu können, ohne die Voraussetzung (die Idee der Freiheit) unbegründet zu lassen und sie „nur um des sittlichen Gesetzes willen zum Grunde [zu legen]" (GMS, IV 453 (BA 109)). Denn mit der Idee der Freiheit, das hatte bereits der erste Unterabschnitt ergeben, ist „der Begriff der Autonomie unzertrennlich verbunden, mit diesem aber das allgemeine Prinzip der Sittlichkeit" (GMS, IV 452 (ΒΛ 109)). Ist Kant damit die Auflösung des drohenden Zirkels gelungen? Tatsächlich hat er die Freiheit des Willens nicht bloß wegen der „Wichtigkeit" des Moralgesetzes, die ihm „gutgesinnte Seelen" einräumen, vorausgesetzt, sondern durch eine erkenntniskritische Analyse menschlicher Subjektivität für diese Voraussetzung argumentiert. Doch wie weit trägt ihn
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diese Argumentation? Kant scheint in Schwierigkeiten zu geraten, weil er nicht ohne die Vorausset2ung praktischer Vernunftideen auskommt. Die Einführung der „zwei Standpunkte" beruht auf seiner transzendentalphilosophischen Differenz und dem Wissen um uns selbst als Vernunftwesen. Um nun aber einem Vernunftwesen auch die Idee der Freiheit als Εtstursächlichkeit zuzuschreiben, muß Kant praktische Vernunftideen voraussetzen. Damit ist aber letztlich der Sollensanspruch des Moralgesetzes (der aus reiner Vernunftperspektive ein Wollen ist) der Grund für die Voraussetzung der Idee der Freiheit. So gesehen scheint es Kant nicht gelungen zu sein, die Annahme der Idee der Freiheit zu begründen, ohne das Moralgesetz vorausgesetzt zu haben, nämlich in Form jener „Ideen der Sittlichkeit". Die „Schlußbemerkung" mahnt zur Vorsicht: Kant erkennt sehr deutlich, daß er keinen positiven Beweis der Freiheit geliefert hat, sondern nur ihre Widerspruchsfreiheit mit dem Prädeterminismus („Naturnotwendigkeit") als bewiesen annehmen darf. „Es ist also kein Tadel für unsere Deduktion des obersten Prinzips der Moralität, sondern ein Vorwurf, den man der menschlichen Vernunft überhaupt machen müßte, daß sie ein unbedingtes praktisches Gesetz (dergleichen der kategorische Imperativ sein muß) seiner absoluten Notwendigkeit nach nicht begreiflich machen kann" (GMS, IV 463 ßA 128)). „Begreifen" setzt voraus, daß wir die Bedingung von etwas erkennen können. Aber Freiheit läßt sich nicht als ein Fall absoluter Spontaneität in unserer Anschauung demonstrieren, weil wir als sinnlich-vernünftige Wesen prinzipiell nicht zu einer abgeschlossenen Welterkenntnis gelangen können. Deshalb ist es unmöglich, die Bedingung des Moralgesetzes zu erkennen und damit die praktische Notwendigkeit des Moralgesetzes zu begreifen. „Und so begreifen wir zwar nicht die unbedingte Notwendigkeit des moralischen Imperativs, wir begreifen aber doch seine Unbegreiflichkeifheißt es einschränkend in jener Schlußanmerkung (GMS, IV 463
(BA 128)). Damit ist der Anspruch, den Kant mit seiner Deduktion des kategorischen Imperativs erhebt, formuliert: Kant geht es auch in der Grundlegung nicht darum, die absolute Freiheit des Menschen zu erkennen. Vielmehr will er auf der Grundlage seiner Erkenntniskritik beweisen, daß wir die empirische Perspektive auf den Menschen nicht verabsolutieren dürfen, sondern berechtigt sind, in bezug auf den Menschen „zwei Standpunkte" einzunehmen. Von daher ist es, obwohl wir sinnliche Wesen sind und aus dieser Perspektive unsere Handlungen aus ihren Ursachen erklärt werden können, widerspruchsfrei denkmöglich, daß wir frei sind. Die „reine Spontaneität", die die Vernunft durch ihre Ideen beweist, ist nicht etwa
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Exkurs: Eine genealogische Skizze
ein Beweis der Freiheit als Erstursächlichkeit. Sie ist vielmehr der Anlaß dafür, den empirischen Standpunkt zu verlassen und sich als nichtempirisches, vernünftiges Wesen zu betrachten. Daß wir zu diesem Standpunktwechsel legitimiert sind, dafür steht Kants transzendentaler Idealismus ein. Sobald Kant die zwei Standpunkte etabliert hat, kann er auf seine „Deduktion des Begriffs der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft" aus dem zweiten Unterabschnitt zurückgreifen und mit analytischen Argumenten a priori darauf schließen, daß der Mensch sich beim Vernunftgebrauch in praktischer Anwendung nicht anders als unter der Idee der Freiheit denken kann. Kant kann also mit Recht für sich in Anspruch nehmen, die Idee der Freiheit nicht bloß umwillen des Moralgesetzes beim Menschen vorausgesetzt zu haben. Er hat vielmehr dafür argumentiert, warum auch bei einem sinnlich-v&rnünftigen Wesen die Voraussetzung der Freiheit mit dem Prädeterminismus vereinbar ist und es als Vernunftwesen seine Handlungen jederzeit so betrachten muß, „als ob"sie frei sind. Mehr als dieses „als ob", auch das hatte Kant im zweiten Unterabschnitt bewiesen, ist für die Gültigkeit praktischer Gesetze nicht erforderlich. Im Rückblick auf die gesamte Zirkelproblematik gilt es ein Ergebnis festzuhalten, das für die Rekonstruktion von Kants Freiheitstheorie von vorrangiger Bedeutung ist: Kant greift mit seinen drei Argumentationsschritten für die Voraussetzung der Idee der Freiheit auf die Auflösung der dritten Antinomie zurück und geht nicht über sie hinaus. Allerdings sind in der Auflösung der dritten Antinomie nicht nur die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Vereinbarkeit von Freiheit und Pärdeterminismus, die in der Grundlegung nur schemenhaft angedeutet werden, im Detail ausgearbeitet, das gleiche gilt vielmehr auch für die Einführung der Idee der Freiheit als regulatives Prinzip. Auch wenn Kant also mit der Grundlegung im Unterschied zum Kanon der ersten Kritik die Konsequenzen aus dem Anspruch eines kategorischgebietenden Imperativs gezogen hat, bleibt der epistemische Status der Freiheit derselbe. In der Tat hat Kant in der Grundlegung den fundamentalen Begriff seiner Moralphilosophie, die Autonomie, als Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein, entdeckt. Er hat sogar im Unterschied zum Kanon mit der „Achtung vor dem Gesetz" und der „Handlung aus Pflicht" die systematischen Konsequenzen aus einem kategorisch-gebietenden Moralgesetz gezogen und damit überhaupt erst die theoretische Grundlage dafür gelegt, daß reine Vernunft als für sich selbst praktisch gedacht werden kann. Diese Einsichten, daran besteht kein Zweifel, haben sich nachhaltig auf seine Moralphilosophie ausgewirkt. Sie
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gehören von dort an auch über die zweite Kritik hinaus zum festen Theoriebestand seiner praktischen Philosophie. Doch weder mit der „Deduktion des Begriffs der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft" noch mit seiner Theorie der „zwei Standpunkte" und der damit verbundenen Rechtfertigung, daß wir als Menschen uns unter der Idee der Freiheit denken müssen, geht Kant im dritten Abschnitt der Grundlegung über die erste Kritik hinaus. Zieht man nun auch noch die zweite Kritik mit hinzu, muß man sogar zu dem Schluß gelangen, daß Kant, so grundlegend seine Erweiterung der Freiheitstheorie um ihren positiven Begriff in der Grundlegung auch ist, mit der Veröffentlichung der zweiten Kritik, in die er jenes positive Konzept der Freiheit übernimmt, aber hinsichtlich der Rechtfertigung des Moralgesetzes und damit des Beweises der Freiheit einen anderen Weg einschlägt, die Grundlegung in bezug auf seine Freiheitstheorie, systematisch gesehen, überflüssig gemacht hat. Für diese Auffassung gilt es hier abschließend zu argumentieren. Ein großer Teil von Kants Interpreten erweckt den Eindruck, Kant habe in der zweiten Kritik die Beweisfehler in seiner Deduktion erkannt und daher das Moralgesetz kurzerhand als Faktum angesetzt. Doch es sind nicht etwa Widersprüchlichkeiten oder Beweisfehler, die ihn zu dieser Korrektur veranlassen, sondern, wie im ersten Teil dieser Arbeit gezeigt worden ist, prinzipielle Gründe gegen die Möglichkeit einer Deduktion selbst.78 Kants Deduktion im dritten Abschnitt der Grundlegung ist an seiner
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Das gilt auch für Kants vierten Deduktionsschritt des kategorisch gebietenden Imperatives, der für seine Freiheitstheorie nur von untergeordneter Bedeutung ist. Mit diesem Schritt muß Kant noch beweisen, warum das Moralgesetz für uns Menschen ein Imperativ ist. Indem Kant im dritten Unterabschnitt gezeigt hatte, daß der Mensch als Vernunftwesen nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, hat er damit auch bewiesen, daß das moralisch Gute ein Wollen des Menschen selbst, nämlich aus Vernunftperspektive ist. Kant hat aber noch nicht gezeigt, wodurch der Ge/wÄtharakter des Moralgesetzes entsteht. Man hat Kant vorgeworfen, daß er in diesem Beweis mit seiner Rede davon, daß die „Verstandeswelt der Grund der Sinnenwelt" ist (GMSIV, 453 (BA 111)), die Vernunft das, „was zur bloßen Erscheinung gehört [...] notwendig der Beschaffenheit der Sache an sich selbst unterordnet" (GMS J F , 461 (BA 123)) und schließlich vom „eigentlichen Selbst" (GMS IV, 457 (BA 118), 461 (BA 125)) eine platonistische Zwei-Welten-Ontologie einführe. Kant wende, indem er die Ergebnisse seines transzendentalen Idealismus selbst mißverstehe, diese Zwei-Welten-Ontologie auf den Menschen an, um damit dem intelligiblen Selbst eine „höhere ontologische Valenz" zusprechen zu können. Diese Wertdifferenz benötige Kant, um das Imperativische Moment des Moralgesetzes rechtfertigen zu können. Der Mensch als Ding an sich selbst habe eine höhere „ontologische Valenz" als der Mensch als Erscheinung. Kant begründe also den Imperativischen Charakter des Moralgesetzes mit der „Superiorität des ontologischen Status der Verstandeswelt" (Scbönecker 1999, S. 397). Dieser letzte Deduktionsschritt spielt für Kants Freiheitstheorie lediglich mittelbar eine Rolle, insofern er als Grund für die Einführung des „Faktums der Vernunft" angeführt
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Exkurs: Eine genealogische Skizze
theoretischen Philosophie orientiert. Er versucht, die synthetische Verknüpfung eines heiligen Willens und eines sinnlich-vernünftigen Willens und damit den kategorisch-gebietenden Imperativ über ein „Drittes", die intellegible Welt, 2u legitimieren. Wenn Kant also in der zweiten Kritik erkennt, daß die Erkenntnis der Gültigkeit des Moralgesetzes als eines praktischen Grundsatzes nicht analog zur Rechtfertigung theoretischer Grundsätze konzipiert werden darf und dort nun den Unterschied zur theoretischen Vernunfterkenntnis ausarbeitet (s. da%u Kap. 2b), übt er damit auch Selbstkritik an seiner Deduktion in der Grundlegung, nicht weil er die einzelnen Argumentationsschritte als unschlüssig zurückweist, sondern weil eine solche Deduktion praktische Erkenntnis im Ansät% mißversteht.79 Der Unterschied in bezug auf Kants Freiheitstheorie zwischen Grundlegung und seiner zweiten Kritik besteht genau darin, daß Kant in der Grundlegung noch versucht, daß Moralgesetz über dessen Seinsgrund, die Freiheit, zu deduzieren, in der zweiten Kritik dagegen für einen prinzipiellen Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Erkenntnis argu-
werden könnte. Eine Verteidigung dieses letzen Schritts der Deduktion, damit aber nicht auch des Ansatzes der Deduktion selbst, muß folgende Überlegungen ausarbeiten: Worüber im Rahmen der Kantischen Voraussetzungen überhaupt keine Uneinigkeit bestehen kann, ist, daß wir als Vernunftwesen einen reinen Vernunftzweck wollen, nämlich das moralisch Gute. Dem stehen unsere besonderen Bedürfnisse, die auf unsere Sinnlichkeit zurückzuführen sind, gegenüber. Auch der Zweck der Glückseligkeit, obgleich sie ein notwendiger Zweck eines sinnlich-ve.rnünfflgen Wesens ist, ist letztlich subjektiv different (s. da^u Kap. 1b, KpV, § 4 Anmerkung II). Empirische Zwecke bilden sich im Laufe unserer Lebensgeschichte heraus und sind von der empirischen Konstitution des Subjekts und dessen Lebensumständen abhängig. Diese Zwecke können dem Universalisierungstest der Vernunft nicht standhalten und sind insofern dem höchsten Vernunftzweck untergeordnet. Kants Rede vom „eigentlichen Selbst" hat seinen Grund nun genau darin, daß das Moralgesetz als Vernunftzweck eines jeden Vernunftwesens dasjenige ist, was wir a priori und nicht etwa erst unter bestimmten Lebensumständen wollen. Dem „eigentlichen Selbst" unsere partikularen Interessen und Begehrungen zuzuordnen, setzt einen empirischen Begriff des Selbst voraus, der durchaus nicht selbstverständlich ist. Vielmehr kann man mit Kant argumentieren, daß jene Bedürfnisse, die sich erst im Laufe unseres Lebens herausbilden, im emphatischen Sinne zufällig und insofern gerade nicht zum eigentlichen Selbst des Menschen zu zählen sind.
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Die Wertdifferenz zwischen Vernunftzweck und empirischen Zwecken bemerkt man bei konsequentem Vernunftgebrauch. Man kann von hier nicht noch einmal zurückfragen, warum diese Vernunftperspektive höherwertig ist. Als sinnlich-vernünftige Wesen können wir unsere Vernünftigkeit nicht aufgeben. Das bedeutet freilich nicht, daß wir uns nicht auch für einen unvernünftigen Zweck entscheiden können. Aber es bedeutet, daß vernünftigerweise wir selbst sagen müssen, daß diese Zwecke sich nicht verallgemeinern lassen und sie einen engeren Geltungsbereich haben Für eine Verteidigung des Ansatzes der Grundlegung s. Grunewald 1988 und Genova 1978, die in ihren Aufsätzen für die Möglichkeit einer „transzendentalen Deduktion" des Moralgesetzes argumentieren.
Die Freiheitsbeweise in der Grundlegung
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mentiert und das Moralgesetz auf diese Weise zu einem Fall unmittelbarer Vernunfterkenntnis wird (s. da%u Kap 2a), ohne daß Kant zunächst die Freiheit legitimieren müßte. Vielmehr kann Kant nun aus dem „apodiktisch gewissen" Moralgesetz auf dessen Ermöglichungsbedingung, die Freiheit, schließen. Die Auflösung der dritten Antinomie verliert damit nicht ihre Funktion für die Moralphilosophie; sie fungiert als Abwehr der theoretischen Skepsis des Prädeterministen. Auch in der Grundlegung nimmt Kant die Skepsis des Prädeterministen auf. Sie bildet die Grundlage des fünften Unterabschnitts, in dem Kant die ,,äußerste[n] Grenze aller praktischen Philosophie" aufzeigt. Als eine „unnachlaßliche Aufgabe der spekulativen Philosophie" bezeichnet er es, den Widerspruch zwischen Freiheit und Naturnotwendigkeit als „Scheinwiderspruch" zu endarven und zu beweisen, wie beide in einem Subjekt vereinigt werden können. Es ist nicht etwa „in das Belieben des Philosophen gesetzt, ob er den scheinbaren Widerstreit heben oder ihn unangerührt lassen will; denn im letzteren Falle ist die Theorie hierüber bonum vacans, in dessen Besitz sich der Fatalist mit Grunde setzen und alle Moral aus ihrem ohne Titel besessenen vermeinten Eigentum verjagen kann". Indem also die spekulative Philosophie jenen Widerspruch als Scheinwiderspruch entlarvt, „[schafft] sie der praktischen Philosophie freie Bahn", die damit „Ruhe und Sicherheit für äußere Angriffe habe, die ihr den Boden, worauf sie sich anbauen will, streitig machen könnten" (GMS, IV 456 f . ßA 116))™ Im Unterschied zur Grundlegung gelingt es Kant in der zweiten Kritik, über das „Faktum der reinen Vernunft" die Freiheit in praktischer Hinsicht zu deduzieren und ihr objektive Realität zu verschaffen. Diese Deduktion ist nicht etwa eine bloße Begriffsexplikation. Der Beweis der Freiheit in der zweiten Kritik ist synthetisch, eine Erkenntniserweiterung, weil wir das Moralgesetz, aus dem die Freiheit deduziert wird, wissen. Auf diese Weise ändert sich in der zweiten Kritik auch ihr epistemischer Status und sie erhält durch das Moralgesetz objektive Realität - nicht in theoretischer, sondern in praktischer Hinsicht (s. άαψ Kap. 3). Damit ist Freiheit seit der zweiten Kritik eine Vernunftidee, die zu den Tatsachen gezählt werden kann (vgl. auch KU J 91). 80
Auch in der Grundlegung ist die Auflösung der dritten Antinomie und nicht etwa der performative Selbstwiderspruch, den Kant in seiner Schulz-Rezension geltend gemacht hat, sein Argument gegen den Prädeterminismus. Ein „Selbstwiderlegungsargument gegen den Determinismus" (als eine Position, die einen Enkenntnisaaspruch erhebt) läßt sich im Anschluß an die Grundlegung entwickeln, doch dieses Argument aus der Schulz-Rezension in die Grundlegung hineinzutragen, verfälscht die tatsächliche Struktur der Deduktion (Schönecker 1999, S. 218-233 im Rückgriff auf Pothast 1980, 251 f.).
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Exkurs: Eine genealogische Skizze
Nachdem Kant in der ersten Kritik nur die Denkmöglichkeit der transzendentalen Freiheit beweisen konnte, weil die Erfahrung der Freiheit, die Kant im Kanon geltend macht, den absoluten Freiheitsbegriff prinzipiell nicht beweisen kann, erreicht Kants Freiheitstheorie in der zweiten Kritik mit der objektiven Realität der Freiheit ihren Höhepunkt. Theoretisch betrachtet hat sich die Situation seit der ersten Kritik nicht verändert. Transzendentale Freiheit bleibt in theoretischer Hinsicht nicht nur in der Grundlegung, sondern auch in zweiten Kritik ein problematischer Begriff, und daran kann und wird sich auch in Zukunft für endliche Vernunftwesen nichts ändern.
Teil III. Scheitert das Autonomiekonzept an der Unmöglichkeit moralisch böser Handlungen? „Das Phänomen nun: daß der Mensch auf dem Scheidewege [...] mehr Hang %eigt der Neigung als dem Geset\ Gehör zugeben, ψ erklären ist unmöglich " (Immanuel Kant) Kants Theorie der Autonomie hat ihre Interpreten und Rekonstrukteure zu einer Anklage veranlaßt, die so schwerwiegend ist, daß, im Falle ihrer Gültigkeit, Kants Theorie als inkonsistent zurückgewiesen werden muß. Die vermeintliche Inkonsistenz bestehe darin, daß Kant auf der einen Seite in Anspruch nimmt, daß der Mensch für seine bösen Handlungen verantwortlich sei, auf der anderen Seite aber seine Theorie der Autonomie impliziere, daß nur moralisch gute Handlungen als freie Handlungen bezeichnet werden können (Reinhold 1792; Sidgmck 1888; Silber 1960; Körner 1967; Wolff 1973; Prauss 1983; Gerhardt 1986; Konhardt 1986; Schmitt 1989; Sullivan 1989; Rang 1990; Oorschel 1992, S. 26 f.; Steinvorth 21994, S. 197; ders. 2002, S. 232f.; Schönecker 1999, S. 188-195). Kant hat diese Kritik mit seiner Identitätsthese herausgefordert, die besagt, daß „ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei" sind (GMS, IV447 (RA 98); vgl auch KpV, V 29 (A 32); 33 (A 59)). Diese Aussage ist immer wieder so verstanden worden, daß Kant damit impliziere, daß ein böser Wille unfrei sei. Kants fundamentaler Irrtum bestehe darin, daß er behaupte, daß der Wille dann und nur dann frei sei, wenn sein Wirken durch einen reinen Vernunftzweck bestimmt ist. Folgt man Kants Kritikern, dann ist es genau diese Behauptung, die Kants Theorie vor absurde Konsequenzen stellt. Die Identität von einem moralisch guten Willen und einem freien Willen führe dazu, daß nur noch im Falle von guten Handlungen auch mit Recht davon gesprochen werden könne, daß der Wille frei sei. Alle anderen menschlichen Verhaltungen rutschten dagegen ab zum bloßen Ausdruck naturkausaler Determination. Doch obgleich Kant die Wirklichkeit moralisch böser Handlungen faktisch in seinen Texten nicht anzweifle, könne seine Theorie unmöglich erklären, wie wir mit Recht auch noch von bösen Handlungen und nicht etwa von bloßen Naturereignissen sprechen dürfen.
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Teil III. Autonomie und die Möglichkeit moralisch bösen Handelns
Damit haben die Kritiker aber noch nicht die letzte Konsequenz gezogen: Wären sie konsequent, müßten sie — dem Prinzip des verlorenen Gegensatzes folgend - Kant nämlich gleichzeitig auch noch vorwerfen, daß, wenn er den Begriff der moralisch bösen Handlung aufgibt, damit zugleich jede Rede von einer moralisch guten Handlung ihren Sinn verliert. Das Problem der Möglichkeit von moralisch bösen Handlungen entpuppt sich somit als das Problem der moralischen Zurechenbarkeit überhaupt. Wer keine guten Gründe aufzubieten weiß, um die oben erhobene Anklage zurückzuweisen, muß gestehen, daß die Kantische Freiheitstheorie an ihrem höchsten Punkt — der Autonomie — gerade die Prinzipien zerstört, von denen sie ihren Ausgang nimmt. Mit der Anklage, Kant könne die Möglichkeit moralisch böser Handlungen nicht erklären, steht also nicht nur seine Freiheitskonzeption zur Disposition, sondern auch die Möglichkeit seiner Moraltheorie. Was also liegt näher als mit Reinhold und seinen Nachfolgern den Versuch zu unternehmen, Kants Identitätsthese zu korrigieren und damit seine Freiheitstheorie vor ihrer Inkonsistenz zu bewahren? Ob eine solche Korrektur tatsächlich erforderlich ist, hängt wesentlich davon ab, wie man Kants Konzeption der Autonomie versteht. Es soll daher im folgenden siebten Kapitel sowohl Reinholds Kritik, in der ihm Generationen von Kantinterpreten gefolgt sind, als auch sein Revisionsversuch, mit dem er glaubte, den „Geist" der Kantischen Philosophie getroffen zu haben und den man heute oft als Kants eigenen Lösungsvorschlag ausgibt, rekonstruiert werden. Im achten Kapitel wird dann dafür argumentiert werden, daß diese Kritik auf einem MißVerständnis von Kants Bestimmung der positiven Freiheit beruht und seine Theorie in der KpV nicht die fatalen Konsequenzen mit sich bringt, die jene Kritiker ihr nahelegen. Schließlich soll im letzten Kapitel überprüft werden, wie dieser Freiheitsbegriff der zweiten Kritik mit Kants Religionsschriß vereinbar ist, in der er nach einer verbreiteten Meinung seine Theorie der Zurechenbarkeit entwickelt hat. Im Gegenzug dazu wird gezeigt, daß Kant in der Keligionsschrifi keine Zusatzargumente für die Zurechnung der moralisch bösen Handlung entwickelt, sondern systematisch sowohl auf der Auflösung der dritten Antinomie als auch auf seinem praktischen Freiheitsbeweis aufbaut.
7. Kapitel: Die Reinholdkritik: Autonom aber unzurechenbar! Carl Leonard Reinhold hat in dem zweiten Band seiner Briefe über die Kantische Philosophie nachhaltige Kritik vor allem an den Interpretationen der sogenannten „Freunde der Kantischen Philosophie" geübt. Die Interpre-
7. Kapitel: Die Reinholdkritik: Autonom aber unzurechenbar!
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tationen dieser „Freunde" führen notwendig zu der absurden Konsequenz, daß ausschließlich die moralisch gute Handlung eine freie Handlung sei. Ausgangspunkt für Reinholds Kritik an Kants Freiheitskonzeption sind also nicht Kants Schriften, sondern die Schriften seiner Kritiker, deren Interpretationen das Verständnis von Kants Freiheitstheorie eher erschwert als erleichtert hätten (Reinhold 1792, 263 (1975a, S. 252)). Reinholds Briefe an Kant sind die eines Schülers, der sich mit Enthusiasmus für die gemeinsame Sache einsetzt und der seinem Lehrer bei der Verbreitung seiner Lehre gegen alle Anfeindungen zur Seite stehen will (vgl. z.B. Briefe X, 497-500 (12.10.1787), 523-27 (19.01.1788), 529 f . (01.03.1788), Briefe XI, 59-63 (14.06.1789), 409 ff. (21.01.1793)). Kant auf der anderen Seite schätzt Reinholds Interpretationen und erhofft sich von Reinhold „diejenige Ergänzung und lichtverbreitende Darstellung [...], die er selbst seinen Arbeiten nicht geben kann" (Briefe XI, 111 (01.12.1789)). So darf Reinhold sich durchaus von Kant autorisiert fühlen, wenn er eine Ausarbeitung dessen vornimmt, was von Kant erst „vorbereitet" worden ist (Reinhold 1792, S. 285 (1975a, S. 263)). Nun ist es aber nicht etwa so, daß Reinhold in der Debatte um Kants Freiheitstheorie gegen seine Gegner behaupten wollte, daß ihre Interpretation überhaupt keine Grundlage in den Kantischen Texten habe. Sein Vorwurf besteht vielmehr darin, daß sie diese Texte allzu wörtlich nehmen. Denn auch wenn Kants Schriften dem „Buchstaben " nach ein derartiges Verständnis nahelegen, könne dieses Verständnis doch unmöglich dem „Geist"dieser Schriften entsprechen, mündet es doch in jener Konsequenz, die letztlich Kants Moraltheorie ad absurdum führt (ebd.). Reinholds Vorhaben im achten Bre'i/besteht also darin, den Kantischen „Geist" gegen jene sogenannten „Freunde" zu verteidigen, indem er Kants Theorie des freien Willens, die dieser in seinen Schriften nur „angedeutet" habe, genau ausarbeitet. Auf diese Weise will er den „Nebel", der über dem Begriff der Freiheit liegt, lichten und Kants Moraltheorie vor ihren absurden Konsequenzen bewahren (Reinhold 1792, S. 263 f . , (1975a, S.252f.)). Wer sind jene ,,Freunde[n] der Kantischen Philosophie", wenn es um das Problem der Willensfreiheit geht? In einem Brief an Kant rügt Reinhold seinen Jenaer Kollegen Ulrich, der mit seiner Eleutherologie Kants „Lehre von der Freiheit [...] gemißhandelt" habe (Briefe, 339, 19.01.1788). Ulrich arbeite ihm, Reinhold, der sich, wie gesagt, als Schüler und Verbreiter von Kants Kritizismus versteht, „aus allen Kräften entgegen", und seine Vorlesungen seien „nichts als Kampfübungen gegen die Kr. d. V." (Briefe X, 530 (01.03.1788)). Auch wenn Ulrichs Name in Reinholds Schrift von
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Teil III. Autonomie und die Möglichkeit moralisch bösen Handelns
1792 nicht ausdrücklich genannt wird, so läßt Reinhold der Sache nach keinen Zweifel daran, an wen seine Kritik adressiert ist. Ulrich hatte Kants Theorie der Freiheit als Autonomie der reinen praktischen Vernunft zurückgewiesen, weil die Identifizierung von Willensfreiheit und Wirksamkeit der reinen praktischen Vernunft Oeterminismus und nicht etwa Freiheit impliziere (Ulrich 1788). Zu der gleichen Konsequenz gelangt auch Ulrichs Schüler Schmid, auf dessen Wörterbuch %um leichteren Gebrauch der Kantischen Schriften sich Reinhold auch ausdrücklich bezieht, der aber im Unterschied zu Ulrich auf der Grundlage seiner Kantinterpretation einen „intellegiblen Fatalismus" vertritt (Schmid31998 feuerst 1786), S. 250). Es ist eine verbreitete Auffassung, daß Kant in der Religionsschrift seine Freiheitstheorie modifiziert habe. Manche Interpreten meinen in diesen Schriften sogar einen fundamentalen Widerspruch und damit eine Verabschiedung der Freiheitskonzeption seiner moralphilosophischen Grundlegungsschriften entdecken zu können. Wenn Kant tatsächlich in dieser Schrift eine Wende vollzogen haben sollte, kann sie nicht durch Reinholds Kritik ausgelöst worden sein. Der hier einschlägige zweite Band seiner Briefe über die Kantischen Philosophie erscheint erst, nachdem Kant seinen Aufsatz über das radikal Böse in der menschlichen Natur, der dann später das erste Stück seiner Religionsschrift bilden wird, veröffentlicht hatte. Auf welche der Kantischen Schriften konnte Reinhold zurückgreifen, als er seinen Text schrieb? Der achte Brief über Kants Theorie der Willensfreiheit befindet sich im zweiten Band, der 1792 erschienen ist. Mit der zweiten Kritik war Reinhold seit 1788 vertraut und auch die dritte Kritik lag Reinhold seit 1790 vor. Ob er auch das erste Stück der Religionsschrift einbezogen hat, ist unsicher. Das Vorwort vom zweiten Band der Briefe ist auf den 1. Oktober datiert (Reinhold 1792, xii). Im April desselben Jahres ist in der Berlinischen Monatsschrift das erste Stück der Religionsschrift erschienen. Nun ist Reinholds Schrift wahrscheinlich nicht innerhalb von fünf Monaten entstanden, und auch die Tatsache, daß Reinhold die für die Freiheitsdiskussion wesentlichen Gedanken bereits in einem Aufsatz im Juni äußert, macht es, historisch betrachtet, eher unwahrscheinlich, daß er mit seinem Konzept auch das erste Stück der Religionsschrift bereits mit einbezieht, oder sogar seine Gedanken von ihr erst ihren Anstoß erhalten haben (vgl. Prauss 1983, S. 84). Während letzteres mit großer Sicherheit ausgeschlossen werden kann und seine Kritik wohl eher auf die Auseinandersetzung mit Schmid und Ulrich zurückzuführen ist, läßt sich doch im achten Brief zeigen, daß Reinhold einen für die Freiheitsdiskussion zentralen Gedanken der Religionsschrift aufnimmt. Systematisch gesehen ist es
7. Kapitel: Die Reinholdkritik: Autonom aber unzurechenbar!
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daher naheliegend, daß auf Reinholds Arbeit auch die Religionsschrift noch Einfluß genommen hat.81 Reinholds Argumente genießen den Vorzug intuitiver Plausibilität. Seine Kritik und sein Lösungsvorschlag haben an Aktualität in nichts eingebüßt. Sowohl diejenigen, die die Auffassung vertreten, Kant sei mit seiner Theorie der Freiheit als Autonomie fundamental gescheitert, als auch diejenigen, die an der Kantischen Theorie grundsätzlich festhalten, können sich auf Reinhold berufen. Die einen, weil er die absurden Konsequenzen der Kantischen Texte in aller Deutlichkeit vor Augen geführt hat, die anderen, indem sie zeigen, daß Reinholds Lösungsvorschlag tatsächlich auch Kants eigene Lösung ist. Seine Kritik und sein Lösungsvorschlag des Imputabiütätsproblems ist so gesehen das erste und letzte Wort der Kantforschung. In diesem Kapitel soll zunächst Reinholds Kritik an einer deterministischen Interpretation oder dem, was er den Kantischen „Buchstaben" nennt, rekonstruiert werden. Anschließend gilt es Reinholds Lösungsvorschlag zu untersuchen, mit dem er meinte, dem „Geist" der Kantischen Philosophie entsprochen zu haben. Schließlich sollen dann zwei prototypische Verteidigungsversuche der Kantischen Theorie dargestellt und diskutiert werden. Dabei wird sich herausstellen, daß jene Verteidigungsversuche letztlich wieder auf Reinholds Lösung hinauslaufen und sich nur gegen den Kantischen Text durchführen lassen. Diese Verteidigungsversuche entpuppen sich letztlich als eine Verteidigung von Reinholds und nicht etwa von Kants Theorie der Freiheit. Im achten Kapitel soll dann anhand der Kantischen Texte gezeigt werden, warum Reinhold und seine gegenwärtigen Gefolgsleute mit ihrer Theorie die erkenntniskritischen Grenzen verlassen haben und wie Kant im Rahmen dieser Grenzen das Zurechnungsproblem aufzulösen weiß.
(a) Das Zurechnungsproblem Man kann Reinholds Kritik auf drei Argumente reduzieren: Mit seinem ersten Argument wendet er sich, vollkommen in Übereinstimmung mit Kant, gegen einen bloß relativen Freiheitsbegriff. Reinhold argumentiert 81
Es mangelt an Arbeiten, die den Einfluß der kleineren und in Vergessenheit geratenen Schriften von Kants philosophischen Zeitgenossen auf seine Schriften untersuchen. Auch Kants kritische Auseinandersetzung mit seinen Rezensenten wird zu wenig berücksichtigt. Oft aber wird die Stoßrichtung von Kants Argumentation nur vor dem Hintergrund dieser Subtexte verständlich. Eberhard Günter Schulz' Untersuchung gehört noch immer zu den wenigen wertvollen Versuchen in diese Richtung (,Schul£ 1975).
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Teil III. Autonomie und die Möglichkeit moralisch bösen Handelns
zweitens gegen eine Verwechslung von „Selbsttätigkeit der Vernunft" mit „Freiheit". Das dritte Argument soll schließlich zeigen, warum das Freiheitsverständnis jener „Freunde" letztlich bedeutet, daß moralisch gutes und böses Handeln dem Zufall., aber nicht einem handelnden Subjekt zuzurechnen sind. Reinholds Kritik am relativen Freiheitsbegriff setzt bei einem bloß instrumentellen Verständnis von Vernunft an. Wenn man unter Freiheit bloß eine „Äußerung des durch Denkkraft geleiteten Triebes" versteht, hat man damit stillschweigend vorausgesetzt, daß „das Vergnügen den Grund enthielte, durch den die Person bestimmt [ist]". Der Unterschied zwischen einer freien und unfreien Handlung bestünde dann lediglich darin, ob die Person „mittelbar" oder „unmittelbar" von ihrer Lust bzw. Unlust abhängig ist (Reinhold 1792, S. 264f. (1975a, S. 253f.)). Kant teilt diese Auffassung. Gegen eine solche Konzeption der „psychologischen Freiheit" wendet er sich, wenn er in der zweiten Kritik den Empirismus „in der ganzen Blöße seiner Seichtigkeit" entlarven möchte. Diese Konzeption ist nicht falsch, aber sie unterläuft das Problemniveau, weil mit jenem relativen Freiheitsbegriff keine Moral zu rechtfertigen ist, die uneingeschränkte Soüensansprüche erhebt. Kant nennt diese Freiheit auch die „Freiheit eines Bratenwenders", der ebenfalls seine Bewegungen zwar selbsttätig verrichtet, aber erst, „wenn er einmal aufgezogen worden [ist]". Insofern kann seine Spontaneität nicht als absolut, sondern immer nur als relativ bezeichnet werden (KpV, V97 (173f.)). Mit seinem zweiten Kritikpunkt liefert Reinhold eine Analyse dafür, warum die deterministischen „Freunde der Kantischen Philosophie" dem absoluten Freiheitsbegriff keinen Sinn abgewinnen konnten. Wenn man sich eine Vernunft denkt, die nicht nur als Instrument der Neigungen fungiert, die nicht nur eine regulative Funktion hat, sondern selbst konstitutiv ist, indem sie ein Moralgesetz unabhängig von Lust und Unlust hervorbringt, dürfe man mit dieser Selbsttätigkeit der Vernunft nicht die Freiheit des Willens identifizieren. Der Fehler, der hier vorliegt, beruht darauf, daß man die Selbsttätigkeit der praktischen Vernunft, die als legislative Instanz lediglich das Gesetz vorschreibt, mit der Handlung des Willens verwechselt. Es ist eben diese „Verwechslung", die dazu führt, daß die unmoralische Handlung nicht mehr als freie Handlung gelten könne (Reinhold 1792, S. 267 (1975a, S. 255)). Genauer gesagt ergibt sich diese Konsequenz aus der folgenden Überlegung: Man setzt erstens voraus, daß das Moralgesetz als ein reines Vernunftprodukt selbst hervorgebracht ist, Lust und Unlust dagegen auf Erfahrung zurückzuführen sind und damit nicht zur Spontaneität, sondern zur Rezeptivität des Subjekts gezählt werden müssen. Wenn man Reitens
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folgert, daß der Wille sich aus Lust und Unlust zur unsittlichen Handlung, aus reiner Vernunft aber zur sittlichen Handlung bestimmt, dann erhält man drittens, daß nur die moralisch guten Handlungen frei, die bösen dagegen unfrei sind (Reinhold 1792, S. 274 (1975a, S. 257)). Der Fehler dieser Überlegung liegt Reinhold zufolge darin, daß „ein einzelne[s] Merkmal der Freiheit [...] für die ganze Freiheit gehalten wird". Doch die Freiheit der Vernunft ist ausschließlich „negativ", insofern nämlich die Vernunft bei der Genese des Moralgesetzes „von allen Bestimmungsgründen durch Lust und Unlust [unabhängig] ist". Die Vernunft ist dabei nicht selbst kausal wirksam und Freiheit keine Eigenschaft des Willens als Kausalvermögen. Die Freiheit des Willens ist nicht dadurch zu retten, daß man ihn von der „Sklaverei des Instinktes" befreit und ihm zum „Sklaven der Denkkraft" macht (Reinhold 1792, S. 294 (1975a, 5. 268)). Die Vernunftbestimmung nach dem Moralgesetz ist zwar das Produkt der Spontaneität der Vernunft, aber nicht der freien Wahl des Subjekts überlassen. Die Bestimmung nach dem Moralgesetz erfolgt notwendig, weshalb Schmid und auch Reinhold den (unangemessenen) Begriff eines „uneigennützigen Triebes" verwenden. Aus dieser Verwechslung „der zwar selbsttätigen, aber nichts weniger als freien Handlung der praktischen Vernunft [...] muß nichts geringeres als die Unmöglichkeit der Freiheit für alle unsittlichen Handlungen erfolgen" (Rsinhold 1792, S. 271 (1975a, S. 255)). Nur „Einer" jedoch sei konsequent genug gewesen, auch diese Konsequenz zu ziehen (Reinhold 1792, S. 296 (1975a, S. 269)). Damit ist offenbar Carl Christian Ehrhard Schmid gemeint, der in seinem Wörterbuch „frei Handeln" und „sittlich gut handeln" für Synonyme erklärt hat (Schmid 31998 (querst 1786), S. 84). Doch auch mit diesem Schritt sei Schmid noch nicht konsequent genug gewesen. Denn — so lautet Reinholds drittes Argument - wenn die moralisch gute Handlung nicht etwa nur von der Vernunftbestimmung abhängt, die jederzeit vorliegt, ist sie von der Abwesenheit naturaler Hindernisse abhängig. Die moralisch böse Handlung bestünde demnach in der Anwesenheit dieser Hindernisse. Damit hängt dann aber beides, „das sittliche sowohl als das unsittliche Wollen zuletzt von einer und eben derselben Naturnotwendigkeit ab" (Reinhold 1792, S. 301 (1975a, S. 271)). Nicht wir entscheiden darüber, ob sich ein naturaler Antrieb verwirklicht, sondern die zufällige Anwesenheit oder Abwesenheit der Naturnotwendigkeit. Sowohl das moralisch gute als auch das böse Handeln wären nicht uns, sondern dem Zufall zuzurechnen. Es wäre vom Zufall abhängig, ob wir unabhängig von der Natur und frei handeln oder ihr unterworfen sind und unsere Handlungen unfrei sind. Damit aber
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Teil III. Autonomie und die Möglichkeit moralisch bösen Handelns
wäre es sinnlos geworden, überhaupt noch von guten und bösen Handlungen zu sprechen. Reinhold hat vollkommen zu Recht behauptet, daß eine solche Konsequenz, zu der die sogenannten „Freunde der Kantischen Philosophie" gelangen müssen, nicht im Sinne der Kantischen Moraltheorie sein kann. Zugleich hat er diesen Freunden jedoch zugestanden, daß die zweite Kritik tatsächlich zuweilen ein solches Verständnis nahelege, wenn Kant dort das Verhältnis von Willen und praktischer Vernunft bestimmt. Reinholds Versuch muß daher so verstanden werden, dieses Verhältnis in einer Weise zu interpretieren, mit der nicht die Freiheit der bösen Handlung bzw. die moralische Differenz überhaupt preisgegeben wird.
(b) Reinholds Revisionsvorschlag: Selbstbestimmung für oder gegen das Moralgesetz Reinholds Revisionsvorschlag beruht auf der Einsicht, daß die Bestimmung des Willens durch reine praktische Vernunft nur eine notwendige, aber nicht auch eine hinreichende Bedingung für die Freiheit des Willens ist. Kant habe völlig zurecht behauptet, daß sich die Freiheit des Willens „nur unter der Voraussetzung denken lasse, daß die Vernunft bei der sittlichen Gesetzgebung praktisch sei". Damit dürfe nun aber nicht gemeint sein, daß die moralisch gute Handlung die Wirkung der Selbsttätigkeit praktischer Vernunft ist. Was Kant lediglich gemeint habe, sei, „daß der Wille nicht ohne das Praktische der Vernunft (keineswegs aber lediglich durch dieselbe) frei sein könne" (Reinhold 1792, S. 285f. (1975a, S. 263f.)). Die moralische Gesetzgebung macht also für Reinhold nur ein negatives Moment der Freiheit aus. Denn könnte der Wille nicht durch das Moralgesetz bestimmt werden, „würde er von dem bloßen Naturgesetze des Begehrens abhängen [...]". Es ist nur „««"negatives Moment, weil der Wille „ohne die Naturgesetze des Begehrens [...] von dem bloßen praktischen Gesetz abhängen [würde]". Insofern sei es zwar richtig, wenn Kant sage, daß die Freiheit des Willens vom Bewußtsein des Moralgesetzes abhänge, das dürfe aber nicht heißen, „daß die Realität der Freiheit von dem Bewußtsein des Sittengesetzes allein abhänge". Wir sind nicht nur durch den „uneigennützigen Trieb" vom „eigennützigen" unabhängig, sondern wir sind auch andersherum durch den „eigennützigen Trieb" vom „uneigennützigen" unabhängig. Nicht nur der „Vernunfttrieb", sondern auch der „eigennützige Trieb" sind für Reinhold also konstitutive Momente der Freiheit des Willens. Doch beide Momente machen nur die
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negative Bestimmung dieser Freiheit aus (Reinhold 1792, i". 278 (1975a, S. 259)). Die Reduzierung der Moralgesetzgebung auf ein bloß negatives Moment der Freiheit ist Reinholds erster Schritt für seine Lösung des Zurechnungsproblems. Der zweite und entscheidende Schritt besteht nun darin, daß Reinhold zusätzlich zu diesen beiden negativen Momenten noch ein Entscheidungsmoment des Willens installiert, das selbst auf keinen Grund als „die Freiheit selbst" zurückgeführt werden kann (Reinhold 1792, S. 282 (1975a, S. 261 f.)). Reinhold nimmt damit das Konzept der „Äquilibristen", der Vertreter der Indifferenzfreiheit, auf, die auf der „Spur des richtigen Begriffes von der Freiheit" gewesen sind, jedoch die Abhängigkeit des Willens in seinem Wirken von den beiden Forderungen des eigennützigen und uneigennützigen Triebes übersehen hätten (Reinhold 1792, S. 277 (1975a, S. 258f.)). Das positive Moment der Freiheit des Willens besteht nun genau darin, daß der Wille das Vermögen hat, sich durch „Selbstbestimmung [...] für oder gegen das praktische Gesetz [zu bestimmen]" (Reinhold 1792, S. 272 (1975a, S. 256)). Die Realität der Freiheit hängt nach Reinhold also nicht nur von dem Bewußtsein der Forderung des „uneigennützigen" und „eigennützigen Triebes" ab, vielmehr ist uns auch noch bewußt, daß wir die Befriedigung oder Nichtbefriedigung dieses Triebes selbst bestimmen können. Während das Bewußtsein der beiden Gesetzesarten, denen wir unterworfen sind, nur ein Bewußtsein der „veranlassenden Gründe" ist, ist das Bewußtsein, daß wir zwischen diesen beiden Arten von Gesetzen wählen können, ein Bewußtsein des „durch sich selbst bestimmenden Grundes" (Reinhold 1792, S. 276 f . (1975a, S. 258)). Das Bewußtsein der Freiheit besteht darin, daß wir unserem unwillkürlichen Streben nur insofern unterworfen sind, als wir uns ihm unterwerfen wollen (Reinhold 1792, 293 (1975a, S. 267)). Das Vermögen der Selbstbestimmung des Willens ermächtigt uns, einen der veranlassenden Gründe zum bestimmenden Grund zu erheben. Indem Reinhold die „Selbsttätigkeit der Person beim Wollen" von der „Selbsttätigkeit der Vernunft oder durch Vernunft" unterscheidet, versucht er jenem Determinismus zu entgehen, in den Schmid und Ulrich notwendig geraten mußten, wenn sie in ihrer Interpretation die Selbsttätigkeit der Vernunft mit der positiven Freiheit identifizierten. Diese Identifikation führte letztlich dazu, daß Ulrich und Schmid erstens die „unwillkürliche Forderung der praktischen Vernunft" mit der „willkürlichen Befriedigung dieser Forderung" verwechselten, daß sie zweitens, „das Bestimmtwerden durch das Gesetz mit der Selbstbestimmung nach demselben" verwechselten und schließlich drittens die „Forderung an den Willen
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mit der Handlung des Willens" verwechseln mußten (Reinhold 1792, S. 302 (1975a, S. 272)). Indem nun Reinhold diese Identität aufbricht und die Gesetzgebung der Vernunft von der Ausführung dieses Gesetzes durch den Willen unterscheidet, hat er mit dem sich selbst bestimmenden Willen eine Instanz geschaffen, auf deren freie Entscheidung es ankommt, ob die Handlung moralisch gut oder böse ist. Ist der Wille gut, nennt Reinhold ihn einen „reinen Willen", ist der Wille böse, heißt er „unreiner Wille". Reiner und unreiner Wille sind aber beides gleich mögliche Realisierungen des freien Willens. „Sowohl bei dem einen als auch bei dem anderen bindet die Person sich selbst an eine dieser Handlungsweisen [...]". Absolute Freiheit kommt also dem Willen weder allein als reinem oder unreinem Willen zu, „sondern in wie ferne er in beiden Eigenschaften handeln kann" (Reinhold 1792, S. 272f. Hervorhebung J. B. (1975a, S. 256)). Auch wenn die böse Handlung also auf die Willkür des Subjekts zurückzuführen ist, läßt Reinhold sie nicht in dieser Willkür aufgehen. Vielmehr unterstreicht er die „Unentbehrlichkeit der Vernunft zum Akt der Selbstbestimmung". Damit kann nun keinesfalls Vernunft im moralischen, d. h. absoluten Sinne gemeint sein, sondern lediglich als ein funktionales Vermögen. (Kant würde, wenn es ihm auf den Unterschied ankäme, in diesem Zusammenhang von „Verstand" sprechen). Der Wille hänge, so Reinhold, in bezug auf die Maximen des Subjekts „von der Vernunft, nicht weniger als von der Willkür ab". Seine Begründung ist: Auch wenn die Willkür „der Grund zu diesen Vorschriften ist", lasse sie sich doch ohne den Gebrauch, den sie bei der Maximenbildung von der Vernunft macht, nicht als „Bestimmungsgrund der Willenshandlung" denken. Reinhold unterscheidet in diesem Absatz zwischen „Wille" und „Willkür". Der Wille wird hier als eine bestimmte Strebensrichtung gedacht, während er unter Willkür als einem Wahlvermögen eine Entscheidungsinstanz versteht. Um sich selbst ein subjektives Prinzip des Handelns, eine „Vorschrift" auferlegen zu können, bedarf es der Vernunft bzw. des Verstandes. Doch kann der Grund dafür, daß die Willkür sich für oder gegen das Moralgesetz entscheidet, nach Reinhold nicht in der Vernunft gesucht werden. Auch wenn die Vernunft an der Maximenbildung beteiligt ist, hängt es allein von der „Sanktion der Willkür" ab, daß eine Maxime zum handlungsleitenden Prinzip des Willens wird. Die „Tatsache der Freiheit" ist nicht etwa die Selbsttätigkeit des Verstandes, sondern der Akt der Willkür. In diesem Akt beschließt die Willkür „entweder das praktische Gesetz, oder die demselben entgegengesetzten Reize der Lust oder Unlust in den Willen [aufzunehmen]"; sie macht damit die „bloß veranlassenden zu
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bestimmenden Gründen der Handlung [...]" (Reinhold 1792, S. 279 (1975a, S. 260)). Mit dieser Erklärung, der Maximenbildung und der aus ihr resultierenden Qualität der Handlung bringt Reinhold einen Gedanken zum Ausdruck, den Kant im ersten Stück der Religionsschrift formuliert hat (Rel., VI 23 f . (B 11 f.)) und der vielen Interpreten zum Anfangsgrund eines alternativen Freiheitskonzepts zur Autonomie geworden ist (Beck 31995; Allison 1990; Willaschek 1992). Bereits Reinhold ist in seiner Revision diesen Weg gegangen. Ob er damit das spezifische der Kantischen Freiheitstheorie getroffen hat, wird im folgenden Kapitel verhandelt werden. Die Selbsttätigkeit der Willkür ist „der einzige subjektive und durch sich selbst bestimmende Grund". Auch die Selbsttätigkeit der praktischen Vernunft als Konstitutionsinstanz des Moralgesetzes gehört ebenso wie die Neigungen zu den „objektiven bloß veranlassenden Gründen". Die Frage nach dem äußeren, objektiven Grund der Freiheit läßt sich nach Reinhold überhaupt nicht sinnvoll stellen. Sie würde lauten: Worin liegt der objektive Grund dafür, von objektiven Gründen unabhängig zu handeln? Reinhold muß diese Frage als widersprüchlich zurückweisen. Er schließt deshalb, daß der Grund der Freiheit nicht ein von ihr verschiedener Grund, sondern nur „die Freiheit selbst" sein kann. Wenn man voraussetzt, der Wille bedürfe zum Handeln eines von ihm selbst verschiedenen Grundes, hieße das zugleich, ihm seine Freiheit abzusprechen (Reinhold 1792, S. 280 ff- (260 ff.)). Es sind also drei notwendige Bedingungen, die zusammen hinreichend sind, die den Willen als freien Willen konstituieren. Der Wille ist frei, weil uns jeweils der eine Trieb vom anderen unabhängig macht. In dieser zweifachen Unabhängigkeit besteht die negative Freiheit. Die positive Freiheit, die den Willen als Kausalvermögen zum Wirken bestimmt, ist das Vermögen, sich selbst gemäß einer der beiden Forderungen des „eigennützigen" oder „uneigennützigen Triebes" zu bestimmen (R^inbold 1792, S. 307 (1975a, S. 274)).
(c) Inkorporationsthese + Wille und Willkür: Kants Lösungsversuch? Es mangelt nicht an Versuchen, Kants Theorie der Freiheit als Autonomie zu rehabilitieren. Die Verteidiger setzten schon seit längerem bei einer Behauptung an, die in jüngerer Zeit „Inkorporationsthese" genannt worden ist (Allison 1990). Wenn man ihnen folgt, dann ist es diese These, die Kants Freiheitstheorie in den Stand setzt, die moralisch bösen Handlungen zu erklären:
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,,[D]ie Freiheit der Willkür ist von der ganz eigentümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat [...]; so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen" (Rel, VI 23 f . (B 11 f.)).
Der von Kant selbst hervorgehobene Konzessivsatz ist hier entscheidend. Nur unter der Bedingung, daß wir eine Triebfeder in unsere Maxime aufnehmen, und nicht etwa, indem sie unvermittelt als Naturtrieb durchschlägt, bestimmt sie unser Handeln. Für die moralisch böse Handlung bedeutet das, daß sie uns genau deshalb zugerechnet wird, weil wir aus Freiheit eine Maxime wählen, die dem Moralgesetz zuwider ist. Doch auch bei moralisch guten Handlungen bestimmt nicht etwa reine Vernunft unvermittelt unser Handeln, vielmehr kann uns auch die moralisch gute Handlung allein deshalb zugerechnet werden, weil wir uns aufgrund freier Will -kür (mhd. küren = wählen) für die moralisch gute Maxime entschieden haben. Mit dieser These habe Kant jenem Problem seiner moralphilosophischen Grundlegungsschriften Rechnung getragen und die fehlende Entscheidungsinstanz integriert. Ein neues Problem entsteht jedoch, wenn man danach fragt, wie diese Form der Wahlfreiheit sich zu Kants Konzeption der Freiheit als Autonomie verhält. Kant hatte in der Grundlegung und der zweiten Kritik, keinen Zweifel daran gelassen, daß Freiheit Autonomie ist. Autonomie aber heißt, daß dem Gesetz unseres Handelns nicht etwa ein subjektiv-privater, sondern ein reiner Vernunftzweck zugrunde liegt. Nach seiner Konzeption der Freiheit als Wahlfreiheit ist man nun aber auch berechtigt, diejenigen Handlungen als frei zu bezeichnen, denen nicht ein reiner Vernunftzweck zugrunde liegt. Wenn man dem Willen in diesem Fall seine Freiheit abstreiten wollte, hätte das, wie Reinhold es vorgeführt hat, fatale Konsequenzen. Die Strategie, mit der jene Verteidiger der Kantischen Freiheitstheorie dieses Problem angehen, beruht auf einer Unterscheidung, die Kant in der 'Einleitung der Metaphysik der Sitten von 1797 eingeführt hat. Demnach muß das Begehrungsvermögen intern differenziert werden: „Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen" (MS/Ε, VI 226 (AB 26)). Mit dieser Unterscheidung glauben jene Interpreten nun das Zurechnungsproblem lösen und damit auch an Kants Theorie der Autonomie festhalten zu können. Während der Wille als legislative Instanz lediglich die Gesetze gibt, kann die Willkür als Exekutive sich immer noch „so oder so" zu diesen Gesetzen verhalten. Um nicht in eine absurde ZweiVermögen-Theorie zu geraten, dürften Wille und Willkür freilich nicht als
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zwei getrennte Vermögen verstanden werden, vielmehr sind sie zwei Aspekte ein und desselben Willens (Beck 31995, S. 190 und Beck 1993, S. 46). Die gute oder böse Handlung bestehe in der freien Wahl der Maxime durch die Willkür und sei Ausdruck nicht der Autonomie, sondern absoluter Spontaneität. Autonomie komme auf der anderen Seite nur der legislativen Instanz, dem Willen zu, der als Moralgesetzgeber ein reiner Wille ist und ein Gesetz hervorbringen kann, das nicht wie Geschicklichkeitsregeln und Klugheitsratschläge auf Weltkenntnis beruhe, sondern das Produkt reiner praktischer Vernunft sei (Hudson 1994; Willaschek 1992; Allison 1990; Carnois 1987; Beck 31995). Nun spricht Kant in der MS nicht von der Freiheit des Willens im Sinne der gesetzgebenden Instanz, vielmehr sagt er, daß nur die Willkür eigentlich frei genannt werden könne (MS/Ε, VI 226 (AB 26 f.)). Nimmt man diese Aussage ernst, brächte sie jene Interpreten in erhebliche Argumentationsprobleme, wollen sie doch die Autonomie des Willens und nicht nur die Spontaneität der Willkür als einen Fall von Freiheit verstehen. Um diese Schwierigkeit aus dem Weg zu räumen, berufen jene Interpreten sich auf eine Aussage aus Kants Vorarbeiten zur MS, in der sie glauben, für ihre Aussage Bestätigung zu finden: „Die Willkür ist also frei zu tun oder zu lassen, was das Gesetz befiehlt. Aber der Wille ist auf eine andere Art frei, weil er gesetzgebend nicht gehorchend ist [...]" (MS-Vorarbeiten, XXIII 249, Hervorhebung, J. B.). Mit dieser „anderefn] Art" der Freiheit sei genau jene Autonomie, jener positive Begriff der Freiheit gemeint. Die positive Freiheit der Autonomie besteht dabei nicht in der Fähigkeit, „eine neue Kausalreihe zu beginnen, sondern es geht um den Ursprung des Gesetzes, das das Subjekt dabei beachtet." Positive Freiheit bestünde demgemäß in nichts anderem als der ursprünglichen Genese des Moralgesetzes, während die Freiheit der Willkür als negative Freiheit die kausale Fähigkeit ist, eine Ursachenkette in der Welt neu anzufangen (Beck Ί995, S. 172 (Anmerkung 10), 186, Hervorhebung]. B.). Auch wenn Kant diese beiden Freiheitskonzepte in seinen früheren Werken nicht immer explizit gemacht habe und seine Verwendung von „Wille" bzw. „Willkür" dort äquivok gewesen sei (Beck Ί995, S. 169), habe er mit der Inkorporationsthese in der Religionsschrifl auf der einen Seite und seiner Unterscheidung von Wille und Willkür in der MS auf der anderen Seite den Schlüssel für die Auflösung des Zurechnungsproblems geliefert und die Widerspruchsfreiheit seiner Freiheitstheorie sichergestellt. „Nur weil man glaubte, mit einer Funktion des Willens und einer Art von Freiheit auskommen zu können, verfiel man in den Irrtum, zu glauben, die Kritik identifiziere freie und moralische Akte" (23eck 31995, 193).
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Spätestens hier wird deutlich, wie wenig dieser Lösungsversuch sich von Reinholds Lösung unterscheidet. Reinhold hatte Kants „Buchstaben" so verstanden, daß er die Selbsttätigkeit der Vernunft mit der Handlung des Willens verwechsle. Reinhold hatte diese Verwechslung aufgelöst, indem er zwischen der Freiheit des Willens auf der einen Seite und der Selbsttätigkeit der Vernunft auf der anderen Seite unterschieden hat (Reinhold 1792, S. 281 (1975a, S. 261)). Reinholds Versuch wird nun Kants Position nicht nur insofern gerechter, weil Kant in der MS das Prädikat „Freiheit" für die Willkür reserviert, er entspricht damit auch Kants systematischem Motiv, dem menschlichen Βegehrungsvermögen nur dann Freiheit zuzusprechen, wenn es um eine „Handlung" und das bedeutet: um das Verhältnis von Ursache und Wirkung geht. ,,[D]er Wille [...] kann weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen [...] geht" (MS/Ε, VI 226 (AB 27)). Wenn man dem Willen als bloß legislativer Instanz Freiheit zusprechen will, übersieht man gerade den Unterschied zwischen einer absolut spontanen Ursache und einer absolut spontanen Vorstellung. Eine differenziertere Interpretation der Kantischen Unterscheidung von Wille und Willkür, die aber ebenfalls an der Unterscheidung von Spontaneität der Willkür und Autonomie des Willens festhält, schlägt einen anderen Weg ein: Wenn man Wille und Willkür als zwei Aspekte ein und desselben Willens denkt, müsse man noch einen Schritt weiter gehen und zwischen einem Willen im engeren Sinne, der gesetzgebenden Instanz, und einem Willen im weiteren Sinne, dem Willen als dem gesamten Begehrungsvermögen, das auch die Willkür noch umfaßt, unterscheiden. Nur dann könne man sinnvoll sagen, Wille und Willkür seien zwei Aspekte ein und desselben Willens (Allison 1990, S. 130 f.). In bezug auf den Begriff der „Autonomie" ist dieses Ergebnis entscheidend. Denn nur von dem Willen im weiten Sinne, sowohl als gesetzgebender als auch als ausführender Instanz, sei man berechtigt mit Kant zu sagen, daß er sich selbst ein Gesetz ist (Allison 1990, 131, vgl. 3 B. GMS, IV447 ßA 98)). Probleme treten nun auf, wenn man Kants Definition der Freiheit der Willkür betrachtet. Kant unterscheidet zwischen dem negativen und positiven Freiheitsbegriff der Willkür: Die negative Freiheit besteht in der Abwesenheit von sinnlicher Determination, die positive Freiheit dagegen ist „das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein" (MS/E, VI 213 f . (AB 6)). Die Schwierigkeit, in die Kant sich mit dieser Definition bringe, bestehe darin, daß er damit der Willkür nicht nur Spontaneität, sondern auch Autonomie zuweise. Doch die Freiheit der Willkür
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sei gerade ihre Spontaneität und nicht ihre Autonomie. Diese Unterscheidung wieder aufzulösen, würde bedeuten, ins Zurechnungsproblem zurückzufallen. Statt also zu sagen, positive Freiheit sei das „Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein", hätte Kant besser daran getan zu sagen, „daß der positive Begriff der Freiheit der Willkür in ihrem Vermögen besteht, auf der Basis der Befehle der reinen Vernunft bzw. des reinen Willens zu handeln" (Allison 1990, S. 132, Übersetzung J. B.). Damit habe man lediglich in Anspruch genommen, daß die Willkür die Fähigkeit besitzt, ihre Maximen nach dem Moralgesetz auszuwählen. Wenn die Willkür sich dann tatsächlich entscheidet, ihre Maximen nach dem Moralgesetz zu richten, ist reine Vernunft praktisch und der Wille als das gesamte Βegehrungsvermögen autonom. Für die Zurechnungsproblematik ist entscheidend, daß es die Spontaneität der Willkür ist, die darüber entscheidet, ob reine Vernunft für sich selbst praktisch wird oder nicht (Allison 1990, S. 133; vgl. auch Allison 1996d). Auch dieser Lösungsversuch kommt also letztlich nicht ohne eine Korrektur des Kantischen „Buchstabens" aus und vertritt implizit die Position, daß Kants Freiheitstheorie, so wie sie ist, sich nicht aufrechterhalten läßt. Auch sie teilt den entscheidenden Gedanken Reinholds, Freiheit als absolute Spontaneität der Willkür zu bestimmen, aus der wir uns für oder gegen das moralische Gesetz entscheiden können (Reinhold 1792, S. 281 (1975a, S. 261)). Es gibt andere Lösungsversuche, die bei der Unterscheidung von Wille und Willkür ansetzten (Willaschek 1992; Hudson 1994, Carnois 1987). Doch in der' einen entscheidenden Hinsicht unterscheiden auch sie sich nicht von Reinholds Strategie. Ein Defizit dieser Ansätze ist zweifellos, daß sie nicht in Kants moralphilosophischen Hauptschriften, sondern in Kants Religionsschrifi und bei einer Begriffsklärung aus der Einleitung der MS ansetzen. Zudem unternehmen sie nicht den Versuch, die gewonnene begriffliche Differenzierung in den Schriften genau auseinanderzusetzen, in denen Kant seine Theorie der Autonomie entwickelt. 82 Eine solche Auseinandersetzung wird um so dringender, wenn man bedenkt, daß Kant in der MS keinen Hinweis darauf gibt, daß die Unterscheidung von Wille und Willkür auch die Unterscheidung zweier Frei82
Eine Ausnahme ist die Untersuchung von Hudson, der in der Nachfolge von Beck die Unterscheidung von Wille und Willkür in den entscheidenden Paragraphen der zweiten Kritik ausfindig zu machen versucht. Hudson stößt dabei auf vier Freiheitsbegriffe: Jeweils positive und negative Willens- und Willkürfreiheit. Das Problem an Hudsons Differenzierung ist, daß er sie nicht wirklich aus dem Text gewinnt (Hudson 1991; ders. 1994, S. 149182). Im folgenden Kapitel wird ein anderer Rekonstruktionsversuch gemacht, der mit genau den Freiheitskonzepten auskommt, die Kant auch explizit geltend macht.
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heitskonzepte von Spontaneität und Autonomie impliziert. Im Gegenteil: Seine Definition der positiven Freiheit der Willkür entspricht offenbar dem, wie er bereits in der Grundlegung und in der zweiten Kritik positive Freiheit als Autonomie verstanden wissen wollte. Ferner ist es gerade dieser positive Begriff, wie Kant bereits in der Vorrede zur zweiten Kritik unmißverständlich erklärt, mit dem er dem Begriff der „transzendentalen Freiheit" seine „objektive Realität" verschafft (KpV, V3f. (A4f.)). Mit „transzendentaler Freiheit", daran besteht kein Zweifel, ist jene Freiheit gemeint, die ihn im Rahmen der dritten Antinomie beschäftigt hat. Diese Freiheit ist nun nicht etwa bloß das Vermögen, Vorstellungen absolut spontan hervorzubringen, sondern in der Welt „eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen, so, daß in ihr selbst nichts anfängt [...]" (KrV, 582, vgl. auch Β 561). Es kann also gar kein Zweifel daran bestehen, daß Kant davon überzeugt war, mit jenem positiven Freiheitsbegriff dem Begriff der absoluten Spontaneität als Mitursächlichkeit objektive Realität verschafft zu haben. Auch in der MS hat Kant an dem Freiheitsbegriff, den er in der zweiten Kritik deduziert hat (s. da%u Kap. 8), noch festgehalten. Kants Beharren auf seinem positiven Freiheitsbegriff hat zu folgender Charakterisierung seiner Position Anlaß gegeben: Nachdem Kant bemerkt habe, daß seine Theorie der Autonomie in seinen moralphilosophischen Grundlegungsschriften das Problem der Zurechenbarkeit nicht habe lösen können, hat er in der Religionsschrift seine Freiheitstheorie revidiert und im Gegenzug zu seiner Theorie der Autonomie eine Theorie der Wahlfreiheit entwickelt. Damit habe er zum ersten Mal eine adäquate Theorie der Möglichkeit moralisch bösen Handelns vorgelegt. Diese Revision habe er in der MS nun durch seine positive Definition der Freiheit wieder rückgängig gemacht, weil er das analytische Verhältnis von Moralgesetz und Freiheit nicht habe aufgeben können. Die Unterscheidung von Wille und Willkür, die er am gleichen Ort entwickelt, führe letztlich dazu, daß er sich nun auch innerhalb derselben Schrift selbst widerspreche und könne nur noch als eine „Verzweiflungstat" gelten, die letztlich zur „Sprengung seiner Konzeption" führe (Prauss 1983, S. 111-114). Diese Schwierigkeiten, der Kantischen Theorie der Autonomie einen Sinn abzugewinnen, können ihrerseits Anlaß sein, sich noch einmal genauer diese Theorie vorzunehmen und zu überprüfen, ob man mit Reinhold und seinen Nachfolgern tatsächlich gezwungen ist, sie zu revidieren. Dabei soll nun nicht ein weiterer Versuch unternommen werden, an Kants Theorie selbst Hand anzulegen und die fehlenden Theoriebausteine zu ergänzen. Vielmehr gilt es, die systematischen Motive herauszuarbeiten, die Kant zur Bestimmung seines positiven Freiheitsbegriffes geführt ha-
8. Kapitel: Kants Identitätsthese. Eine Restauration
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ben. Dabei wird sich zeigen, daß Kant, kritischer als seine Kritiker, sich streng an die Vorgaben der ersten Kritik gehalten hat: Sein Begriff der positiven Freiheit ist gerade das Resultat erkenntnistheoretischer Bescheidenheit und schließt zugleich die Möglichkeit einer moralisch bösen Handlung nicht aus.
8. Kapitel: Kants Identitätsthese. Eine Restauration Kant hat auf die Vorwürfe, die gegen seine Freiheitstheorie erhoben worden sind, reagiert. Auch wenn er in der Einleitung der MS Reinholds Namen nicht nennt, nimmt er der Sache nach pünktlich jenen Einwand auf, den Reinhold an seinen Freiheitsbegriff herangetragen hatte: „Die Freiheit der Willkür aber kann nicht durch das Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln (libertas indifferentiae), definiert werden — wie es wohl einige versucht haben [...]" (MS/Ε, VI 226 (AB 27)). Nicht nur wollte Reinhold Freiheit genau als dieses Vermögen ansetzten, auch hatte er explizit an jenen Begriff der Indifferenzfreiheit angeknüpft. Es lassen sich aber nicht nur systematische, sondern auch historisch gute Gründe dafür beibringen, daß Kants Kritik sich in der Einleitung der MS auf Reinhold bezieht: Kant hatte zunächst im Dezember 1792 in einem kurzen Brief den Erhalt des zweiten Bandes von Reinholds Briefen bestätigt, sich aber darin nicht über deren Inhalt geäußert (Briefe XI, 399f. (21.12.1792). Er war allerdings zuvor bereits in einem Schreiben von Salomon Maimon über Reinholds Interpretation unterrichtet worden. Darin hatte Maimon auch die zentrale These Reinholds zitiert: Die Freiheit des Willens bestehe darin, sich „'der Forderung des Uneigennützigen Triebes gemäß oder derselben zuwider zu bestimmen'". Und schon Maimon wird dieses Vorgehen mit einem Argument kritisieren auf das es Kant später auch selbst ankommen wird. Er warf Reinhold vor, diese Definition der Willensfreiheit zu geben, ,,[o]hne sich um den Bestimmungsgrund im mindesten zu bekümmern" β riefe XI, 390 (30.11.1792)). Aber nicht nur Maimon auch Reinhold selbst hat Kant informiert. Er bittet Kant in seinem Antwortschreiben ausdrücklich darum, seine Schrift zu lesen. Besonders an Kants Urteil über jenen siebten und achten Brief war Reinhold gelegen. Er erhoffte sich für seine eigene Theorie des Begehrungsvermögens ,,[e]in paar Winke, in ein paar Zeilen hingeworfen", die ihn „über das Protonpseudos belehren und gegen das Unglück auf einem Unrichtigen Wege weiter fortzugehen bewahren, oder falls der Weg nicht verfehlt ist, Herzstärkung [...] sein [würden]" β riefe XI, 410 (21.01.1793)).
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Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß Kant Reinhold jemals eine briefliche Replik auf seinen siebten und achten Brief zukommen lassen hat. Vielmehr läßt sich nachweisen, daß Kant sich in seinem über ein Jahr später verfaßten Antwortschreiben mit seinem fortgeschrittenen Alter für das Ausbleiben einer Kritik von Reinholds Briefen entschuldigt hat. Kant ist zu dieser Zeit siebzig Jahre alt und er erklärt, daß es ihm mit zunehmendem Alter immer mehr Schwierigkeiten bereite, sich „in die Verkettung der Gedanken eines anderen hineinzudenken und so dessen System, bei beiden Enden gefaßt reiflich beurteilen zu können". Genau dies sei der Grund, warum er „wohl allenfalls Abhandlungen aus [s] einem eigenen Fonds herausspinnen kann" (Briefe XI, 494f. (04.03.1794)).™ Wenn Kant nun in der Einleitung der MS zunächst seinen Begriff des Begehrungsvermögens, den er in den früheren Schriften immer nur beiläufig entwickelt hat, systematisch expliziert (MS/Ε, VI 211-214) und, nachdem er seine eigenen Prinzipien dargelegt hat, auch noch auf die positive Bestimmung der Freiheit seiner Kritiker zu sprechen kommt, ist es historisch gesehen wahrscheinlich und systematisch zwingend, daß Kant hiermit Reinhold jenen „Wink" geben wollte, den dieser sich für seine Theorie des Begehrungsvermögens erhofft hatte. 84 83
Kant deutet an, daß sich seine Kritik nicht nur auf einen, sondern auf „einige" bezieht. Neben Reinhold könnte auch Johann Benjamin Erhard gemeint sein, der nicht nur mit Kant, sondern vor allem auch gut mit Reinhold befreundet war und in seiner Schrift Apologie des Teufels einen Großteil der Kritik Reinholds aufgenommen hat. Nachdem auch Erhard die Unterscheidung zwischen einem legislativen und einem exekutiven Vermögen gefordert hatte, damit „Moralität und Tugend kein leerer Name [ist]", definiert er die Freiheit jener Exekutivinstanz als „das Vermögen des moralischen Entschlusses [...] sich für und wider das moralische Gesetz entschließen [zu können]" (Erhard, 21970, S. 120f.). Die Ähnlichkeit mit Kants Formulierung, wenn er die Position seiner Kritiker wiedergibt, ist möglicherweise kein Zufall.
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Bernd Ludwig hat in seiner Neuedition der MS u. a. die Einleitung in die Metaphysik der Sitten (und nicht etwa in die Rechts- oder Tugendlehre) erweitert und auch die Reihenfolge der Abschnitte umgestellt (s. datqi Ludivig. Die neue Reihenfolge der Abschnitte ist: II, I, IV, III. Auch in bezug auf Kants Erörterung des Freiheitsbegriffs erweist sich diese Umstellung als plausibel. Nach der alten Reihenfolge setzt Kant in der Einleitung unmittelbar mit der Explikation des menschlichen Begehrungsvermögens an und kommt von dort auch auf den negativen und positiven Begriff der Freiheit zu sprechen. Nach der alten Einteilung läßt Kant dann seinen Gedanken über die Freiheit wieder fallen: Im ehemals zweiten Abschnitt, spricht er über die Idee einer Metaphysik der Sitten überhaupt und nimmt im ehemals dritten Abschnitt dann bereits die Einteilung der MS vor, bevor er im ehemals letzten Abschnitt dann erneut den Begriff der „Freiheit" aufgreift. Nach der neuen Einteilung eröffnet Kant die Schrift mit der Idee der MS und an den jetzt zweiten Abschnitt über das Begehrungsvermögen, der mit Kants Erörterung des positiven und negativen Freiheitsbegriffs endet, schließt nun unmittelbar der ehemals vierte Abschnitt an, in dem Kant nun seine Erörterung des Freiheitsbegriffes direkt fortführt. Doch auch die Umstellung von Ludwig vermag nicht alle Unebenheiten des Textes zu beheben. Vielmehr muß man damit in Kauf nehmen, daß Kant im nun dritten Abschnitt da-
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Eine Verteidigung der Kantischen Freiheitstheorie setzt gewöhnlich bei seiner Unterscheidung von Wille und Willkür aus der Einleitung der MS an. Doch es läßt sich nicht nur zeigen, daß diese Unterscheidung durchaus nicht den Sinn hat, der ihr üblicherweise zugesprochen wird, vielmehr läßt sich auch über die Berechtigung der Kritik an Kants moralphilosophischen Grundlegungsschriften nicht von der MS aus urteilen. Damit hat man immer schon vorausgesetzt, daß Kants Theorie, so wie er sie in der Grundlegung und KpV entwickelt, nicht haltbar ist und zumindest einer systematischen Differenzierung bedarf. Um also über die Rechtmäßigkeit der Kritik und über die Notwendigkeit einer Revision der Kantischen Freiheitstheorie entscheiden zu können, gilt es, die Aussagen der Grundlegung und der zweiten Kritik ausfindig zu machen, die Reinhold und insbesondere auch Schmid und Ulrich zu ihrer Kritik veranlaßt haben. Man muß sich dabei für eine Interpretation offenhalten, die jene absurden Konsequenzen vermeiden kann. Erst von hier aus kann entschieden werden, ob Kant seine Theorie in der MS modifiziert hat und welche systematischen Motive eine solche Modifikation erforderlich gemacht haben. Wenn man die beide frühen Texte hinsichtlich dieser Problematik auswertet, bezieht sich die Kritik in der Grundlegung höchstwahrscheinlich auf den Eröffnungsteil des dritten Abschnitts, in dem Kant das Verhältnis von Freiheit und Autonomie entwickelt und die Argumentation ihren Höhepunkt erreicht, wenn Kant schreibt: ,,[A]lso ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei" (GMS, IV 446f. (BA 98)). In der der zweiten Kritik entwickelt Kant das Verhältnis von Willensfreiheit und Moralgesetz in den Paragraphen 5 und 6 und gelangt dann in der Anmerkung zu dem Schluß, daß „Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz [...] wechselweise aufeinander zurück [weisen]". Anschließend übergeht Kant zunächst explizit die Frage, ob positive Freiheit und reine praktische Vernunft „ganz einerlei" sind. Doch genau in dieser Weise wird er dann später in § 8 das Verhältnis von Freiheit und Moralgesetz bestimmen: „[Ejigene Gesetzgebung aber der reinen, und als solche, praktische Vernunft ist Freiheit im positiven Verstände". Der Grundkonzeption dieser
von spricht, daß „[fjolgende Begriffe [...] der Metaphysik in ihren beiden Teilen gemein [sind]", obwohl Kant die Einteilung der MS in diese zwei Teile nach der umgestellten Einleitung erst im darauffolgenden Abschnitt vornimmt Auch jene Passage innerhalb des nun dritten Abschnitts, in der Kant sich gegen die hybride Freiheitsdefinition wendet, will sich nicht in den Gesamtzusammenhang dieses Abschnitts einfügen, in dem es doch eigentlich bloß um „Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten" gehen soll und abgesehen von diesem Einschub auch tatsächlich nur geht. Das aber ändert nichts daran, daß der Text, wie Ludwig ihn präsentiert, bahnbrechend ist und die bisher plausibelste Lösung darstellt.
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Arbeit folgend werden Kants Argumente aus der zweiten Kritik und nicht die Grundlegung der Ausgangspunkt der folgenden Analyse sein (s. da%u Exkurs). Bereits im ersten Teil dieser Untersuchung sind die §§ 5 und 6 behandelt worden. Bereits dort wurde gezeigt, wie Kant die Freiheit des Willens aus dem Bewußtseinsfaktum unserer moralischen Verpflichtung deduzierte (vgl. Kap. 3b). Hier müssen sie nun unter der Fragestellung untersucht werden, ob Kant damit tatsächlich impliziert, daß nur die moralisch guten Willensakte frei sind. Es wird sich zeigen, daß die Kritik von Reinhold und seinen Nachfolgern auf einem grundlegenden Mißverständnis von Kants Identitätsthese beruht: Kant hat nicht behauptet, daß ein Willensakt dann und nur dann frei ist, wenn er das moralisch Gute will, vielmehr hat er behauptet, daß das Begehrungsvermögen eines Vernunftwesens als ein freier Wille bzw. eine frei Willkür „allein notwendig" dem Moralgeset^ und nicht etwa Geschicklichkeitsregeln oder Klugheitsratschlägen unterworfen ist. Das Moralgesetz als „Faktum der Vernunft" ist der einzige nicht-empirische Definitionsgrund, den wir für die positive Definition der absoluten Freiheit des Willens haben, die als nicht-empirische Eigenschaft nicht etwa durch Erfahrung definiert werden kann. Über das apriorische Bewußtseinsfaktum des Moralgesetzes gelingt es Kant, einen Fall, nämlich denjenigen der moralisch guten Willensbestimmung, als Fall absoluter Freiheit zu bestimmen. Auf diese Weise bekommt der Begriff der absoluten Freiheit, den Kant in der ersten Kritik nur widerspruchsfrei denken konnte, objektive Realität, d. h. einen Inhalt. Damit ist aber nicht gesagt, daß ein böser Willensakt, in dem reine Vernunft nicht für sich selbst praktisch ist, mittelbar oder unmittelbar durch Naturkausalität auf eine Weise determiniert wäre, daß eine reine Vernunftbestimmung unmöglich gewesen wäre. Für dieses Verständnis der Kantischen Freiheitstheorie soll in diesem Kapitel argumentiert werden. Es wird zunächst gezeigt, warum das Verhältnis von Freiheit und Moralgesetz, wie Kant es in den §§ 5 und 6 bestimmt, nicht beinhaltet, daß nur die moralisch guten Willensakte frei sind. Anschließend gilt es die systematischen Motive herauszuarbeiten, die zu Kants positiver Definition der Willensfreiheit führen. Damit wird es schließlich möglich sein, Kants Replik auf Reinhold nicht als einen Revisionsversuch, sondern als systematische Konsequenz seiner moralphilosophischen Grundlegungsschriften zu begreifen. Auf diese Weise wird sich herausstellen, daß Kants Bestimmung der positiven Freiheit nicht das Produkt moralphilosophischer Unvorsichtigkeit, sondern erkenntniskritischer Vorsicht und Bescheidenheit ist.
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(a) Das Moralgesetz als einziger notwendiger Bestimmungsgrund eines freien Begehrungsvermögens In § 5 hatte Kant sich die Aufgabe vorgelegt, die Beschaffenheit des Willens (als Βegehrungsvermögen) ausfindig zu machen, für dessen Bestimmung die Form des Gesetzes allein hinreichend ist. Dabei war er zu dem Ergebnis gelangt, daß ein solcher Wille absolutfrei sein muß: Wenn für den Willen als Kausalvermögen die Form des Gesetzes ein hinreichender Grund seines Wirkens sein soll, dann dürfen keine materialen Motivationsgründe für die Wirksamkeit des Willens notwendig sein. Von materialen Motivationsgründen unabhängig zu sein, heißt, negativ frei zu sein. Damit ist auch die Qualität des Willens bestimmt, für dessen Wirkung die Form des Gesetzes hinreichend ist. Ein solcher Wille muß absolut frei sein (KpV, V 29 (A52)). Der § 5 ist für die Frage nach der Zurechenbarkeit moralisch böser Handlungen offenbar unproblematisch, weil Kant hier lediglich behauptet, daß der Wille negativ frei ist, wenn die Form sein hinreichender Bestimmungsgrund ist. Das heißt freilich nicht, daß ein W i l l e n s ^ dann und nur dann negativ frei ist, wenn er durch ein formales Gesetz bestimmt ist. Die negative Freiheit des Willens wird hier also nicht auf den moralisch guten Willensakt eingeschränkt. Der S 6 ist komplizierter und für die Identitätsthese entscheidend: Kant setzt die negative Freiheit des Willens als gegeben voraus und fragt nun nach dem Gesetz das diesen Willen „allein notwendig" bestimmen kann. Kants Ergebnis ist, daß dieses Gesetz ein formales Gesetz sein muß (ebd.). Wie gelangt er zu diesem Schluß? Dem Willen liegen als Prinzipien seines Wirkens Maximen zugrunde. Die Maximen sind auf einen bestimmten Gegenstand gerichtet. Den Gegenstand, dessen Wirklichkeit begehrt wird, nennt Kant die „Materie" der Maximen (KpV, V 21 (A 38)). Nimmt man beispielsweise an, die Maxime sei: „mein Vermögen durch alle sicheren Mittel zu vergrößern" (KpV, V 27 (A 49)), dann ist die Vergrößerung des Vermögens der Gegenstand, dessen Wirklichkeit begehrt wird und die Materie der Maxime. Diese Materie, so argumentiert Kant, „kann niemals anders als empirisch gegeben werden", denn wir können nicht a priori einsehen, ob die Vorstellung dieses Gegenstandes Lust, Unlust oder Indifferenz beim Subjekt hervorrufen wird (KpV, V 29 (A 52)). Es hängt von der empirisch-zufälligen Beschaffenheit des Subjekts ab, ob es diesen Gegenstand begehrt oder nicht. Die Lust oder Unlust gegenüber diesem Gegenstand ist insofern das Produkt unserer zufälligen Konstitution und Lebensbedingungen.
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Zweifellos kann ein materialer Bestimmungsgrund notwendig sein, wenn man „notwendig" im „physischen " und nicht etwa „praktischen" Sinne versteht. Die Wirkung des Willens würde ihm dann „durch die Neigung ebenso unausbleiblich abgenötigt, als das Gähnen, wenn wir andere gähnen sehen" (KpVV 26 (A 47)). Ein Gesetz, das praktische Notwendigkeit ausdrückt, handelt dagegen davon, was der Fall sein soll, und zwar unabhängig davon, worauf unserer Wille empirisch gerade gerichtet ist. Ein notwendiges praktisches Gesetz sagt uns nicht, wie wir handeln müssen, um unsere Bedürfnisse zu verwirklichen. Worin jeder seine Lust und Unlust setzt, ist subjektiv-different. Und selbst wenn wir darin übereinstimmen würden, wäre diese Übereinstimmung immer empirisch, d. h. zufällig und nicht etwa formal notwendig (ebd.). Die Verbindlichkeit dieser Gesetze, die auf die Verwirklichung unserer Glückseligkeit ausgerichtet sind, ist daher nicht etwa kategorisch (notwendig), sondern hypothetisch, d. h., das Gesetz ist dann und nur dann verbindlich, wenn ein bestimmtes Bedürfnis als gegeben vorausgesetzt wird. Dieses Handlungsgesetz ist also nur „subjektiv notwendig" und daher „ein gar sehr zufälliges praktisches Prinzip" (KpV, V25 (A 46), Hervorhebung]. B.). Für diese Art der rationalen Ausrichtung des Willens brauchte man keinen Begriff der absoluten Freiheit vorauszusetzen. Die Vernunft wäre als „Diener der Neigungen" ein bloß funktionales (regulatives) Vermögen und würde uns bei der Verwirklichung unserer empirischen Zwecke leiten. Dabei kann es erforderlich sein, unmittelbare Handlungsimpulse zu überwinden und sie den langfristigen Zielen unterzuordnen, doch diese Freiheit ist nur relativ. Die langfristigen Ziele sind von jenen unmittelbaren Handlungsimpulsen nicht kategorial, sondern nur dem Grad nach unterschieden. Unserer Intellekt leitet uns hier bloß an, wie wir diejenigen Zwecke verwirklichen, von denen wir uns die größte Lustbefriedigung versprechen (vgl. KpV, V23f. (A 43)). Nun setzt Kant aber die absolute Freiheit des Willens voraus. Er meint dabei nicht die Freiheit eines einzelnen Willensaktes, sondern die Freiheit des Willens im allgemeinen als das Vermögen des Menschen, nach Vorstellungen bzw. Begriffen zu handeln. Er fragt, was für ein Gesetz diesen freien Willen allein notwendig bestimmen kann. Jene t^weckrationalen Handlungsanweisungen kommen nicht in Betracht. Sie setzen immer ein bestimmtes Begehren als gegeben voraus, um verbindlich zu sein. Als praktisch notwendiges Handlungsprinzip kommen sie daher nicht in Frage. Nun ist es naheliegend zu vermuten, daß ein absolut freier Wille als solcher keinen Gesetzen unterliegt. Doch diese Möglichkeit scheidet für Kant aus guten Gründen aus. Die Vernunft ist nicht nur in der Lage, zweckrationale Prinzipien vorzuschreiben, vielmehr ist sie auch die Auf-
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deckungsinstanz, ob eine Maxime (als Handlungsprinzip des Willens) überhaupt zum Gesetz und zwar nicht bloß zum subjektiven, sondern objektiven Handlungsgesetz tauglich ist. Dieses Gesetz ist „allein notwendig", weil es kein empirisch-zufälliges Begehren voraussetzt, sondern a priori erkannt werden kann. Es ist allgemein (objektiv) verbindlich und nicht etwa subjektiv, weil die Vernunft im Unterschied zu den Begehrungen bei allen Vernunftwesen gleich ist — nicht in ihrem Geschick und ihrer Fertigkeit, aber in ihren Prinzipien. Um von diesem Anspruch der Vernunft frei zu sein, müßten wir unseren Status als Vernunftwesen aufgeben können. Der Anspruch der Vernunft ist nicht etwas, das gewissermaßen von außen an uns herangetragen wird. Der Wille als Vermögen nach Vorstellung bzw. nach Begriffen zu handeln, ist notwendig auf die Vernunft bezogen, und das Moralgesetz als Faktum a priori ist das einzige, das unseren Willen als Vernunftwesen notwendig bestimmt. Wenn man von allen empirisch-zufalligen Bestimmungsgründen abstrahiert, bleibt noch die formale Gesetzmäßigkeit, die die Vernunft gebietet. Das bedeutet freilich nicht, daß wir als sinnlichvernünftige Wesen immer ausschließlich das Gute wollen. Doch es bedeutet, daß allein das formale Gesetz notwendig, d. h. kategorisch den Willen bestimmt und nicht etwa erst ein bestimmtes Begehren des Willens vorausgesetzt werden muß, damit der Imperativ seine Verbindlichkeit erhält. Deshalb ist allein ein formales Gesetz zum objektiven Gesetz und nicht etwa bloß zur subjektiven Regel tauglich. Auch mit der Lösung der zweiten Aufgabe wird also die Freiheit des Willens nicht auf die moralisch gute Handlung eingeschränkt und die Möglichkeit einer moralisch bösen Handlung ausgeschlossen. Dieses Ergebnis wird durch eine genaue Interpretation der Schlußfolgerung, mit der Kant in der Anmerkung das Ergebnis der beiden Paragraphen zusammenfaßt, bestätigt: „Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz weisen also wechselweise auf einander zurück" (KpV, V 29 (A 52)). Das unbedingte praktische Gesetz ,weist auf die Freiheit, insofern dieses Gesetz nicht funktional auf die Verwirklichung eines empirischen Bedürfnis gerichtet ist, sondern unabhängig von allen Bedürfnissen die reine Vernünftigkeit, d. h. die formale Stimmigkeit der Maximen gebietet. Ein Wille, bei dem die Form des Gesetzes der Bestimmungsgrund seines Wirkens sein soll, muß ein absolut freier Wille sein. Die Freiheit des Willens auf der anderen Seite ,weist auf das unbedingte praktische Gesetz, insofern nur ein absolut freier Wille Adressat eines notwendigen (und nicht etwa bloß subjektiv-zufälligen) praktischen Gesetzes sein kann, das keinen materialen Bestimmungsgrund des Willens als empirisch gegeben voraussetzt. Es ist nicht zu sehen, wie dieses Wech-
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selverhältnis von Freiheit und Moralgesetz implizieren soll, daß unser Wille, wenn er aktual nicht das moralisch Gute, sondern das (moralisch) Böse will, unfrei ist. Kant nimmt hier etwas ganz anderes in Anspruch, nämlich: dann und nur dann, wenn der Wille absolut frei ist, ist er einem notwendigen und nicht etwa nur subjektiv-zufälligen Vernunftgesetz unterworfen. Genau hier hat jene Frage ihren systematischen Ort, in der Kant danach fragt, „wovon unsere Erkenntnis des unbedingt-Praktischen anhebe, ob von der Freiheit, oder dem praktischen Gesetze". Naheliegend wäre es, daß Kant, nachdem er in § 6 bewiesen hat, daß ein freier Wille allein notwendig einem formalen Gesetz unterworfen ist, nun ein Argument dafür anführen würde, daß wir absolut frei sind. Noch in der Grundlegung hatte Kant diesen Weg eingeschlagen. Dort hatte er zunächst behauptet, daß „ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei [sind]" (GMS, 447 (BA 98)) und dann versucht, über den problematischen Begriff der Freiheit (GMS, 448 (BA 100 f.)), den er bereits in der ersten Kritik etabliert hatte (KrV, Β 585f.), die Möglichkeit der sittlichen Verpflichtung zu beweisen (GMS, 454; ψηι Verhältnis von Grundlegung undKpVs. Exkurs). In der zweiten Kritik erkennt Kant, daß das Moralgesetz ein „apodiktisch gewisses" Faktum der reinen Vernunft ist (KpV, V 3 (A4), 47 (A 81), 135 (A 243), 142 (A 257); vgl. auch MS/E, VI 225 (AB 26)), dessen wir uns bewußt werden, „sobald wir uns Maximen des Willens entwerfen" (KpV, V 29 (A 53)). Als Vernunftwesen sind wir immer schon über die Singularität des Einzelfalls hinaus und streben die Gründung allgemeiner Grundsätze an. Unserer Vernunft kann dabei die Widersprüchlichkeit unserer Maximen nicht entgehen und sie fordert von uns, im Konflikt zwischen Vernunft und Neigung vernünßig zu handeln. Dieses Bewußtsein kategorischer Verpflichtung nennt Kant ein „Faktum der reinen Vernunft" (s. da%u Kap. 2). Das Argument aus der ersten Kritik ist damit nicht überflüssig geworden, es dient immer noch dazu, die theoretische Skepsis an einem absoluten Freiheitsbegriff zurückzuweisen. Dieses Faktum der Vernunft ist es, „wovon unsere Erkenntnis des unbedingt-Praktischen anheb[t]". Und wir können von diesem Faktum auf seinen Ermöglichungsgrund (Seinsgrund, ratio essendi), die absolute Freiheit des Willens, schließen. Das Moralgesetz ist der Erkenntnis nach das Erste und die Freiheit ist als dessen Ermöglichungsgrund („Realwesen") das Erste der Sache nach. Insofern ,,entdeck[t] Sittlichkeit uns zuerst den Begriff der [absoluten] Freiheit" (KpV, V 30 (A 53)), der für ausschließlich zweckrationales Verhalten gar nicht vorausgesetzt werden muß. Hierbei wäre die Voraussetzung jener relativen ,Bratenwenderfreiheit' durchaus
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hinreichend, weil Vernunft nur als „Administrator der Neigungen" und nicht etwa für sich allein als praktisch gedacht werden muß. Damit ist aber nicht auch gesagt, daß wir im Fall der moralisch bösen Handlung, bei der wir ebenfalls umwillen der Verwirklichung eines zufalligen Interesses handeln, bloß relativ frei oder unsere Handlung unmittelbar durch unsere Neigungen bewirkt wäre. Doch von einer moralisch bösen Handlung kann überhaupt erst dann gesprochen werden, wenn bewiesen ist, daß der Mensch moralischen Gesetzen verpflichtet ist. Genau darauf aber zielt Kants Argumentation der Analytik in der zweiten Kritik. Er arbeitet den kategorialen Unterschied zwischen einem Willen, der dem Moralgesetz unterworfen ist, und einem Willen, dessen einzigen „Gesetze" Klugheitsratschläge und Geschicklichkeitsregeln sind, heraus und erkennt, daß ein Wille, der dem Moralgesetz unterworfen ist, ein absolut freier Wille sein muß. Dagegen kommt ein Wille, verstanden als eine bestimmte Art von Begehrungsvermögen und nicht etwa als einzelner Willensakt, der nur Geschicklichkeitsregeln und Klugheitsratschlägen unterworfen ist, mit einem relativen Freiheitsbegriff aus. Ein Wesen mit einem derartigen Willen wäre ein Wesen, bei dem der Verstand nur als ein Instrument der Neigung fungiert, und hätten wir tatsächlich nur ein solches Begehrungsvermögen, würden wir uns nur dem Grad aber nicht der Art nach vom Tier unterscheiden (KpV, V 61 f . (A 108)). Mit dem Theoriestück des Vernunftfaktums hat Kant gezeigt, daß wir berechtigt sind, in bezug auf menschliche Handlungen nicht nur von „wohl" und „übel", sondern auch von „gut" und „böse" zu sprechen (KpV, V 60 (A 105)). Solange aber moralische Verpflichtung im allgemeinen noch zur Disposition steht, ist von Kant keine Aussage über den besonderen Fall der moralisch bösen Handlung zu erwarten. Um mit Recht von moralisch bösen Handlungen sprechen zu können, muß Kant nicht alleine für die menschliche Freiheit argumentieren, er muß zeigen können, daß wir überhaupt moralischen Gesetzen unterworfen sind und worin die moralische Verpflichtung besteht. Der Grund dafür, warum Kant zunächst die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und reiner praktischer Vernunft offenläßt, liegt genau darin, daß er sich von der Bestimmung dieses Verhältnisses keinen Aufschluß über die Rechtmäßigkeit der beiden Voraussetzungen in den Aufgaben der §§ 5 und 6 verspricht. Es gilt daher zunächst einen Erkenntnisgrund für diese beiden Voraussetzungen zu finden. Mit dem Moralgesetz als Faktum der Vernunft hat er ein Fundament gefunden, von dem er dann auch die andere Voraussetzung, die Freiheit des Willens, ableiten kann.
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(b) Positive Freiheit als Autonomie Wie steht es nun mit jener Frage, die Kant in der Form einer praeteritio stellt, indem er über diese Frage sagt, daß er sie nicht stellen wolle und mit deren Formulierung er auch bereits eine Antwort nahelegt, die für die Zurechnungsproblematik fatal zu sein scheint: „Ich frage hier nun nicht: ob sie [Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz, J. B.] auch in der Tat verschieden sein, und nicht vielmehr ein unbedingtes Gesetz bloß das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft, dieses aber ganz einerlei mit dem positiven Begriffe der Freiheit sei" (KpV, V 29 (A 52), Hervorhebung]. B.). Daß dieses Verhältnis von positiver Freiheit und reiner praktischer Vernunft tatsächlich Kants Position entspricht, bestätigt er zwei Paragraphen später in § 8, nachdem er in § 7 den kategorisch gebietenden Imperativ als Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft eingeführt hat. ,,[E]igene Gesetzgebung aber der reinen, und, als solche, praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven Verstände" (KpV, V 33 (A 59)). Genau dieses Verständnis der positiven Freiheit muß Reinholds Revisionsbestrebungen herausgefordert haben, weil damit offenbar kein Platz für eine freiheitliche Willensbestimmung zur bösen Handlung bleibt. Unproblematisch ist der erste Teil jener Frage. Das Moralgesetz ist tatsächlich als Faktum der Vernunft das „Selbstbewußtsein" einer reinen praktischen Vernunft. Unter dem Anspruch des Moralgesetzes werden wir uns eines Handlungsgesetzes bewußt, das von allen empirischen Bestimmungsgründen abstrahiert und dem Willen ein formales Handlungsprinzip vorschreibt. Eine solche Vernunft ist praktisch, insofern sie aufs Handeln gerichtet ist und ein „Sollen" gebietet. Sie ist „rein", insofern dieses Handlungsgesetz keinen materialen Bestimmungsgrund voraussetzt, sondern kategorisch gebietet. Schwierigkeiten bereitet hingegen der zweite Teil des Satzes, in dem Kant jene Identität von reiner praktischer Vernunft und Freiheit in Erwägung zieht, die er dann später auch behaupten wird. Man muß sich verdeutlichen, wieso für Kant an dieser Stelle ein IdentitätsVerhältnis überhaupt naheliegt. Dabei ist es wichtig zu sehen, daß Kant hier nicht die Identität zwischen reiner praktischer Vernunft und Freiheit im allgemeinen, sondern zwischen reiner praktischer Vernunft und dem „positiven Begriffe" der Freiheit im besonderen meint. Was ist der positive Begriff der Freiheit? Es geht hier offenbar nicht um eine positive Bestimmung des Freiheitsbegriffes, die bloß analytisch wäre. Eine solche analytische Definition hat Kant in der ersten Kritik gegeben. Dort ging es um die Vernunftidee der „transzendentalen Freiheit". Der Gegenbegriff von „transzendental"
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ist „empirisch". Empirische Freiheit ist relative Freiheit, transzendentale Freiheit ist absolut. Das Definiendum war also der zusammengesetzte Begriff einer „Kausalität aus (absoluter) Freiheit". In dem Begriff der „Kausalität" liegt das Verhältnis einer Ursache zur Wirkung. Im Begriff der Freiheit liegt, daß die Ursache „unabhängig von empirischen Bedingungen" wirkt. Nun kann man dieses Verhältnis auch positiv bestimmen als eine Ursache, die ein Vermögen hat, „eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen, so, daß in ihr selbst nichts anfängt, sondern sie eine unbedingte Bedingung [ist]" (KrV, Β 581 f.). Solange Kant ausschließlich mit Erstursächlichkeit überhaupt befaßt ist und die Frage traktiert, ob Erstursächlichkeit mit dem Kausalprinzip bzw. mit den speziellen Kausalgesetzen vereinbar ist, stellt er die Freiheitsfrage ausschließlich auf theoretischer Ebene. Ob diesem widerspruchsfreien Begriff auch ein „Inhalt", „objektive Realität", eine „Bedeutung" zukommt, ist auf der theoretischen Ebene aufgrund der Endlichkeit (Sinnlichkeit) unseres Erkenntnisvermögens prinzipiell nicht zu bestimmen. Wenn Kant nun über das Kausalvermögen des Menschen, den Willen, spricht, ist dies zum einen aus theoretischer Perspektive möglich. Über einen freien Willen als einen möglichen Fall jener Kausalität aus Freiheit läßt sich dann analog sagen: Ein (absolut) freier Wille ist ein Wille, der „unabhängig von [...] Naturursachen" wirkt (negative Freiheit) und „eine Reihe von Begebenheiten gan^ von selbst [anfangen kann]" (positive Freiheit) (KrV, Β 562). Doch damit hat man bloß eine analytische Definition der Willensfreiheit gegeben. Mit der bloßen Analyse des Begriffes „Kausalität aus (absoluter) Freiheit" ist noch nicht darüber entschieden, ob diesem Begriff auch ein Gegenstand korrespondiert. Die erste Kritik konnte immerhin beweisen, daß dieser Begriff aus theoretischer Perspektive sich selbst nicht widerspricht. Es war aber weder möglich einen Fall von absoluter Freiheit in der sinnlichen Anschauung zu demonstrieren, noch konnte Freiheit als Bedingung der Möglichkeit von Natur er fahrung gelten. Die objektive Realität dieses Begriffes konnte nur problematisch angenommen werden und nicht etwa assertorisch oder gar apodiktisch behauptet werden (s. Kap. 6bi.). Deshalb sagt Kant im Rückblick auf die erste Kritik, daß er dort nur den „negativen" Begriff der Freiheit sichern konnte (KpV, V 42 (A 73)). „Negativ" bedeutet nun in diesem Zusammenhang nicht, daß Kant mit der Auflösung der dritten Antinomie nur einem relativen Freiheitsbegriff, Handlungsfreiheit, Denkmöglichkeit verschafft hat. In der dritten Antinomie ging es ausdrücklich um „absolute" und nicht etwa relative Spontaneität (.KrV] Β 560). „Negativ" bedeutet in diesem Zusammenhang, daß der
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Begriff einer „Kausalität aus Freiheit" nicht positiv bestimmt werden konnte, so daß ihm „objektive Realität", eine „Bedeutung", zukommen würde (KpV, 49f. (A 86/.)). Nun hat Kant in der Grundlegung und in der zweiten Kritik ein Gesetz ausfindig gemacht, das dem Willen als Kausalvermögen eines vernunftbegabten Wesens notwendig zugrunde liegt. Das heißt, wenn der Wille als Begehrungsvermögen eines vernünftigen Wesens frei ist, ist er nicht gesetzlos, sondern ist notwendig diesen Gesetzen unterworfen. Das bedeutet nicht, daß er auch immer schon diesem Gesetz entspricht, sondern nur, daß dieses Gesetz für alle vernünftigen Wesen verbindlich ist. Damit ist auch zugleich die Möglichkeit für eine positive Definition nicht einer Kausalität aus Freiheit überhaupt, sondern der Willensfreiheit eines Vernunftwesens im besonderen gegeben. Diese Definition bleibt nicht etwa bloß analytisch, sondern sie ist synthetisch. Synthetisch kann hier freilich nicht meinen, daß Kant einen Fall von absoluter Freiheit in der inneren Anschauung als empirische Wahrnehmung beibringen würde und damit einen Definitionsgrund der Freiheit gefunden hätte. Die Freiheit des Willens als absolutem und nicht etwa relativem Vermögen kann nicht durch die Erfahrung, sondern muß von einem nicht-empirischen Definitionsgrund aus bestimmt werden. Das Moralgesetz als Faktum α priori, dessen wir uns unmittelbar bewußt sind, kann als Definitionsgrund den Begriff eines „absolut freien Willens" bestimmen. Das Moralgesetz sieht von allen materialen Bestimmungsgründen ab und gebietet kategorisch. Indem es fordert, daß die Form und nicht etwa die Materie der Maximen zum Bestimmungsgrund des Willens werden soll, impliziert es, daß reine Vernunft ohne Voraussetzung eines empirisch-zufälligen Bestimmungsgrundes praktisch werden kann. Eine solche Willensbestimmung ist eine Kausalität aus Freiheit im absoluten und nicht etwa relativen Sinne. Die positive Definition der Freiheit des Willens gelingt Kant also, indem er über das Moralgesetz, dessen wir uns „apodiktisch gewiß" sind, eine Kausalität entdeckt, die jedem Willen eines Vernunftwesens notwendig zugrunde liegt. Die Kausalität besteht in der Praktizität der reinen Vernunft, die ohne ein vorausgesetztes Begehren „für sich selbst" praktisch sein kann. Damit ist zugleich auch ein Merkmal des freien Willens eines Vernunftwesens gefunden, das ihm notwendig und nicht etwa bloß zufallig zukommt. Doch ist die Bedeutung, die dem Begriff eines „freien Willens" auf diese Weise gegeben worden ist, praktisch und nicht etwa theoretisch (ebd.). Mit dieser positiven Definition ist nicht auch gesagt - und das ist für die Frage nach der Zurechenbarkeit von moralisch bösen Handlungen entscheidend —, daß der Wille, als einzelner Willensakt verstanden, dann
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und nur dann frei ist, wenn er das moralisch Gute will. Vielmehr gelingt es damit, nur einen Fall, nämlich denjenigen der moralisch guten Willensbestimmung als Fall absoluter Freiheit ψ bestimmen, den Kant in der ersten Kritik nur widerspruchsfrei denken konnte. Das heißt aber nicht, daß dies der einzige Fall von absoluter Freiheit ist. Es heißt lediglich, daß dies der einzige Fall ist, den wir als solchen durch das Moralgesetz erkennen können. Dadurch wird aber ein böser Willensakt, in dem reine Vernunft nicht für sich selbst praktisch ist, nicht zu einem Willensakt, der mittelbar oder unmittelbar durch Naturkausalität determiniert ist, so daß eine reine Vernunftbestimmung unmöglich gewesen wäre. Die Möglichkeit zur Vernunftbestimmung ist bereits durch den negativen Freiheitsbegriff sichergestellt. Doch wir haben für die Willensbestimmung zur bösen Handlung nicht (und können es auch nicht haben) ein apodiktisch gewisses Gesetz, von dem aus es möglich wäre, die Freiheitskausalität ψ bestimmen. Es bleibt der unbestimmte, aber ebenfalls nicht relative negative Freiheitsbegriff, der bereits in der ersten Kritik die Möglichkeit der bösen Handlung sicherte (KrV', Β 583f.; s. άαψ Kap. 6biii, Kap. 9b). Aus praktischer Perspektive ist es das Moralgesetz, das uns unsere absolute Freiheit versichert. Im Konflikt zwischen Vernunft und Neigung gebieten wir uns ein uneingeschränktes Sollen und werden uns dadurch bewußt, durch keine sinnlichen Motivationsgründe zum Handeln genötigt zu sein. Die Skepsis der Deterministen kommt aus theoretischer Perspektive und wird von Kant zurück an die Auflösung der dritten Antinomie verwiesen.
(c) Kants Replik auf Reinhold Von hier aus wird nun auch Kants Argumentation aus der Umleitung der MS verständlich. Dort hatte Kant den Vorschlag Reinholds und seiner Anhänger kritisiert, die Freiheit der Willkür als das „Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln [...]" zu definieren (MS/Ε, VI 226 (AB 27)). Kant gesteht seinen Kritikern zunächst zu, daß es tatsächlich „in der Erfahrung häufige Beispiele gibt", in denen Menschen nicht dem Moralgesetz entsprechend handeln. Die Illegalität der Handlungen ist eine empirische Tatsache, die Kant nicht abstreitet (ebd.). Kants Kritik richtet sich vielmehr dagegen, diese Erfahrungsbeispiele zum Definitionsgrund der Freiheit der Willkür zu machen. Dieses Vorgehen weist Kant aus zwei Gründen zurück:
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Erstens geht jene Definition leichtfertig über den spezifischen epistemischen Status der Freiheit als eines nicht-empirischen Objektes hinweg. Die Freiheit der Willkür als ein absolutes Vermögen ist kein empirisches, sondern ein „übersinnliches Objekt" (ebd.). Was wir durch die Erfahrung über die Freiheit als absolutes Vermögen kennen, ist nur ihre „negative Eigenschaft [...], nämlich durch keine sinnlichen Bestimmungsgründe genötigt zu werden". Diese negative Eigenschaft wird uns unter dem uneingeschränkten Anspruch des Moralgesetzes als Bewußtseinsgrund der absoluten (negativen) Freiheit bewußt. Die positive Eigenschaft läßt sich theoretisch, aufgrund der Endlichkeit unseres Erkenntnisvermögens, nicht darstellen. Deshalb ist die absolute Freiheit der Willkür nicht Gegenstand der empirischen Psychologie, sondern der Metaphysik. Es muß daher auch prinzipiell mißlingen, durch „Erscheinungen [k]ein übersinnliches Objekt [...] verständlich [zu] machen", so daß Kant es als illegitim zurückweist, Freiheit als „übersinnliches Objekt" durch jene Erscheinungen (Erfahrungsbeispiele) zu definieren (ebd.). Eine solche Definition, die den nicht-empirischen Begriff der Freiheit der Willkür durch eine Erfahrung zu bestimmen sucht, nämlich die „Ausübung" der Willkür, „wie sie die Erfahrung lehrt", nennt Kant eine „Bastarderklärung (definitio hybrida)". Diese Erklärung ist hybrid, insofern Definiens und Definiendum von unterschiedlicher Herkunft sind. Auf diese Weise stellt das Definiens als Erfahrungssatz das Definiendum, die Freiheit der Willkür, „im falschen Lichte dar[...]", indem es den Anschein erweckt, die absolute Freiheit der Willkür wäre ein sinnliches und nicht etwa übersinnliches Vermögen (MS/Ε, VI 227 (AB 28)). Wenn Kant daher sagt, die Freiheit, „in Beziehung auf die innere Gesetzgebung der Vernunft, ist eigentlich allein ein Vermögen; die Möglichkeit, von dieser abzuweichen, ein Unvermögen", ist damit also gerade nicht gesagt, daß eine böse Handlung unmöglich oder unfrei wäre (so etwa Prauss 1983, S. 111-115). „Unvermögen" bedeutet hier nicht Unmöglichkeit, sondern „Schwäche" (s. άαψ MS/TL, VI 390 (A 21), 396 (A 31-33); 405 (A 46 f.)). Kant wendet sich lediglich dagegen „jenes aus diesem [zu] erklären]", d. h. die Abweichung vom Moralgesetz, die wir aus der Erfahrung kennen, zum Erklärungsgrund der Freiheit der Willkür zu machen. Solange das systematische Motiv unklar ist, warum Kant auf der einen Seite sehr wohl zugesteht, daß wir die Erfahrung von moralgesetzwidrigen Handlungen machen, auf der anderen Seite diese Erfahrung aber nicht als Definitionsgrund der Freiheit zuläßt, muß es rätselhaft bleiben, wieso Kant daran festhält, daß die „Freiheit nimmermehr darin gesetzt werden kann, daß das vernünftige Subjekt auch eine wider seine (gesetzgebende)
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Vernunft streitende Wahl treffen kann" (MS/E, VI 226 (AB 27 f.); ^um Vorwurf der Rätselhaftigkeit vgl. exemplarisch Steinvorth (2002, 5. 233)). Kants ^weiter Grund setzt beim modalen Erfordernis einer vollkommenen Definition an: Von einer solchen Definition wäre zu erwarten, daß das Merkmal notwendig und nicht etwa zufällig zum Begriff gehört. Nun ist es aber eine Erfahrung, daß wir eine Wahl gegen das Moralgesetz treffen. Dieses Merkmal kann daher nicht als „Erklärungsprinzip" und allgemeines „Unterscheidungsmerkmal (vom arbitiro bruto s. servo)", d. h. als Unterscheidungsmerkmal zur tierischen oder sklavischen Willkür dienen, weil es aus der Erfahrung geschöpft ist und nach Kant daher nicht als notwendiges, sondern bloß zufälliges Merkmal gelten kann (ebd.; vgl. auch Logik, § 107). Kants Bestimmung der freien Willkür dagegen hat als Definitionsgrund das Moralgesetz, das als Faktum a priori kein empirischer Definitionsgrund ist. Es ist, wie Kant in § 6 der zweiten Kritik gezeigt hat, das einzige Gesetz, das dem absolut freien Begehrungsvermögen eines Vernunftwesens notwendig und nicht etwa zufällig zugrunde liegt. Deshalb ist auch allein dieses Gesetz ein legitimer Definitionsgrund für die Freiheit der Willkür als absolutem Vermögen. „Auf diesem (in praktischer Rücksicht) positiven Begriffe der Freiheit gründen sich unbedingte praktische Gesetze [...]" (MS/E, VI221 (AB 19), Hervorhebung]. B.). Reinhold hat 1797 in einer Rezension wiederum auf diese Kritik reagiert und beharrlich an seiner Theorie festgehalten. Diese Reaktion offenbart sehr deutlich Reinholds Mißverständnis und erkenntniskritische Unvorsichtigkeit. Es könne „dahin gestellt bleiben", so Reinhold, ob die Freiheit durch seine Theorie „definiert, oder nur exponiert oder expliziert" sei. Es könne auch offen bleiben, „ob sich die Freiheit des Willens definieren lasse". Die entscheidende Frage für Reinhold ist vielmehr: „Ob uns durch das moralische Gesetz [...] die Freiheit als ein bloßes Vermögen der Vernunft angekündigt werde oder nicht? Ob durch das moralische Gesetz lediglich demselben angemessene moralischgute oder auch demselben widersprechende, moralischböse Handlungen denkbar sind und denkbar sein müssen oder nicht?" (Reinhold 1975b (querst 1797), S. 317). Kant hat auch in der Einleitung der MS nicht behauptet, daß wir uns der positiven Freiheit durch das Moralgesetz bewußt werden. Vielmehr sagt er ausdrücklich gerade in jener Passage, in der er Reinhold kritisiert, daß wir die „Freiheit [...] nur als negative Eigenschaft [kennen]". Sie wird uns „durchs moralische Gesetz allererst kundbar" und besteht darin, durch keine sinnlichen Bestimmungsgründe zum Handeln genötigt zu werden" (MS/E, VI 226 (AB 27), Hervorhebung £ T. J. B.). Reinholds erstes Mißverständnis besteht also darin, daß er glaubt, wir würden uns durch das Moralgesetz der positiven Freiheit bewußt. Dieses Positive der Freiheit ist aber
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erst das Ergebnis philosophischer Reflexionsleistung. Dabei kann man die Frage, ob Freiheit sich definieren lasse, nicht wie Reinhold „dahingestellt lassen", denn von dieser Frage hängt es ab, welchen Begriff von Freiheit man überhaupt in Anspruch nimmt. Weil Kant sich über seine Prinzipien einer positiven Definition vollkommen im Klaren ist, kommt er auch gar nicht auf die Idee, die Freiheit der Willkür durch Erfahrungstatsachen definieren zu wollen. Reinhold dagegen denkt die Frage nach der positiven Definition der Freiheit nicht von ihren Prinzipien, sondern von ihren Konsequenzen her. Er glaubt, daß durch Kants Definition böse Handlungen ausgeschlossen sind, verwirft sie deshalb und plädiert für eine Revision. Doch es folgt aus Kants Definition nicht, daß eine Wahl nur dann frei ist, wenn sie das moralisch Gute will, sondern nur, daß es möglich ist, daß das menschliche Begehrungsvermögen nach einem reinen Vernunftzweck handelt. Genau darin liegt der Unterschied zwischen einem tierischen und einem menschlichen Begehrungsvermögen. Der spezifische Unterschied besteht darin, daß bei einem menschlichen Begehrungsvermögen reine Vernunft für sich selbst praktisch werden kann. Dieses Vermögen ist etwas, das diesem Begehrungsvermögen notwendig und nicht etwa zufallig zukommt. Wir wissen dies durch ein Faktum a priori, einer unmittelbaren Vernunfteinsicht, die nicht aus der Erfahrung gewonnen worden ist. Die Frage, die Reinhold beschäftigt, ist, ob durch Kants Definition auch moralisch böse Handlungen „denkbar" sind oder ob nicht (Reinhold 1975b (querst 1797), S. 317). Damit kann offenbar nur gemeint sein, daß Kants positive Definition selbst die Möglichkeit von bösen Handlungen ausschließt, denn daß Freiheit aus theoretischer Perspektive widerspruchsfrei denkbar ist, steht seit der ersten Kritik bereits fest. Doch Kants Definition impliziert nicht, daß bei einem Begehrungsvermögen, bei dem reine Vernunft für sich selbst praktisch sein kann, ein Willensakt, der nicht durch reine Vernunft bestimmt ist, die prinzipielle Fähigkeit zur Vernunftbestimmung aufheben würde. Vielmehr besagt die weitere negative Definition ja gerade, daß dieses Begehrungsvermögen durch keine sinnliche Triebfeder genötigt ist und also immer das Vermögen gehabt hätte, sich anders zu bestimmen (MS/E, VI 213 (A 5 f.); KpV, V 100 (A 179); KrV, Β 583). Daß diese Unabhängigkeit als absolut und nicht etwa relativ gedacht werden darf, verbürgt aus theoretischer Perspektive die Auflösung der dritten Antinomie. Wir können den Willensakt, der nicht durch reine Vernunft bestimmt ist, nicht als absolut freien Willensakt bestimmen, weil wir keine Definitionsgrundlage haben, aber wir dürfen ihn mit Recht als frei denken und die Handlung so betrachten, als ob sie frei sei. Aus praktischer Perspektive ist es der unein-
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geschränkte Anspruch des Moralgesetzes, der uns unserer absoluten (negativen) Freiheit bewußt werden läßt. Es ist entscheidend, daß Reinholds Kritik von Kant nicht, wie viele gemeint haben, durch die Unterscheidung zweier Freiheitsbegriffe, der „Autonomie" und der „absoluten Spontaneität" zurückgewiesen wird, die er den Instanzen Wille und Willkür zugewiesen hat. Vielmehr ist „absolute Spontaneität" der theoretische Begriff von Erstursächlichkeit überhaupt. Dagegen ist Autonomie die Kausalität eines Vernunftwesens, die wir erkennen können und sein Begehrungsvermögen in praktischer und nicht etwa physiologischer Hinsicht spezifisch von dem eines Tieres unterscheidet. Dieser Begriff der Autonomie des Willens impliziert notwendig auch dessen absolute Spontaneität. Jene begriffliche Differenzierung von „Wille" und „Willkür" als Lösung des Zurechnungsproblems in Anspruch zu nehmen, heißt, ihr eine Funktion zuzusprechen, die ihr nachweislich im Text nicht zukommt. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß Kant mit dieser Unterscheidung das Zurechnungsproblem lösen wollte. Mit ihr werden der positive und negative Begriff der Freiheit, den Kant in seinen moralphilosophischen Grundlegungsschriften entwickelt hatte, weder revidiert noch differenziert. Nur gegen den Text läßt sich behaupten, daß der Sinn der Unterscheidung zwischen Wille und Willkür darin liege, ihnen zwei Freiheitsbegriffe zuzuweisen, um damit das Problem der Zurechenbarkeit lösen und zugleich an den Ergebnissen der Grundlegung und zweiten Kritik festhalten zu können. Indem jene Interpreten entweder Autonomie nur dem Willen als legislativer Instanz zusprechen wollen oder Kants Begriff der positiven Freiheit modifizieren, haben sie Reinhold in einem entscheidenden Punkt Recht gegeben, nämlich darin, daß die Sache um den Kantischen Buchstaben verloren ist und seine Theorie, so wie sie ist, die Möglichkeit moralisch böser Handlungen ausschließt. Kant sagt in der MS ausdrücklich, daß der Wille als legislative Instanz „weder frei noch unfrei genannt werden [kann]". Und sein Argument dafür lautet: ,,[W]eil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen [...] geht" (MS/Ε, VI 226 (AB 27)). „Handlung" bedeutet für Kant das Verhältnis eines Subjekts der Kausalität zur Wirkung (KrV, Β 250). Freiheit im absoluten Sinne versteht Kant als ein Prädikat, das das Verhältnis einer Ursache zur Wirkung in der Weise bestimmt, daß die Ursache selbst eine erste, unverursachte Ursache ist. Indem die Willkür über die Maximen entscheidet, legt sie das kausale Potential der handelnden Ursache fest. Es ist nur ein kausales 'Potential und nicht auch schon die konkrete Handlung, weil die Willkür nicht auch die Situationsbedingungen selbst
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hervorbringt, in deren Rahmen die Maximen zur Anwendung kommen. So ist es beispielsweise denkbar, daß zwei Menschen mit derselben Maxime in unterschiedliche Umstände geraten und so einer der beiden eine moralisch böse Handlung verübt, dagegen das Handeln des anderen bei gleicher Maxime legal bleibt. Wenn nur die Willkür das Handeln des Subjekts bestimmt, „Handlung [...] das Verhältnis des Subjekts der Kausalität zur Wirkung" bedeutet und Freiheit ein Prädikat ist, das einer bestimmten Art von Ursächlichkeit zugesprochen wird, ist nur die Willkür ein möglicher Anwärter auf das Prädikat „Freiheit", weil der Wille als legislative Instanz selbst nicht ursächlich ist. Gesetzgebung alleine als einen Fall von Freiheit zu bezeichnen widerspricht dem Begriff der Freiheit als TLtstursächlichkeit, um den es Kant eigentlich zu tun ist. Wer positive Freiheit als Autonomie nur als „Gesetzgebung" verstehen will, kann nicht erklären, wieso es gerade dieser Begriff ist, mit dem Kant dem der transzendentalen Freiheit als YLtstursächlichkeit objektive Realität verschafft hat (KpV, V 3-6 (A 4-11)). Doch dies sind keine Probleme der Kantischen Freiheitstheorie, sondern die seiner Interpreten.
9. Kapitel: Absolute Freiheit und das radikal Böse Das vorhergehende Kapitel hat gezeigt, daß Kants Begriff der Freiheit als Autonomie die Möglichkeit der moralisch bösen Handlungen nicht ausschließt. Die Behauptung, Kant müsse seine Theorie der Autonomie mit der Religionsschrift revidieren, um die Möglichkeit moralisch böser Handlungen erklären zu können fy B. Prauss 1983, S. 92-100), erweist sich von daher als unbegründet. Darüber hinaus zeigte sich, daß Kant auch in der Umleitung der MS, in der er auf die Reinhold-Kritik reagiert hat, keinen Gebrauch von Argumenten macht, die er erst in der Religionsschrift entwikkelt, sondern daß er auch dort an seiner Position der zweiten Kritik festhält. Dennoch kann gar kein Zweifel daran bestehen, daß Kant in der Religionsschrift im Unterschied zu seinen moralphilosophischen Grundlegungsschriften primär das moralisch Böse und nicht etwa das moralisch Gute zum Thema macht. In aller Deutlichkeit bringt Kant hier zum Ausdruck, daß das Böse nur darin bestehen kann, daß wir aus Freiheit das gebotene Ordnungsverhältnis in unseren Maximen umkehren. Wer zudem davon überzeugt ist, daß zwischen der Häufigkeit der Verwendung eines Begriffs und dem thematischen Schwerpunkt eines Textes ein Zusammenhang besteht, der wird die Religionsschrift für einen Text halten, in dem Kant
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seine Theorie moralischer „Zurechnung" entwickelt hat (Rel, VI 26 (B 15), 31 β 25), 35 β 33), 41 β 42 f.), 140 β 212)). Auch wenn Kants Theorie der Freiheit als Autonomie die Möglichkeit der moralisch bösen Handlung nicht ausschließt, ist es doch denkbar, daß sie einer Ergänzung bedarf, um erklären zu können, welche Bedingungen notwendig sind, damit moralisch böse Handlungen möglich sind. Demnach verhielten sich Kants moralphilosophische Grundlegungsschriften und die Religionsschrift nicht exklusiv, sondern komplementär zueinander. Es wäre dann allerdings noch genauer zu untersuchen, wie diese Komplementarität zu verstehen ist. Hat die Zurechnungskonzeption der Religionsschrifi einen eigenständigen systematischen Rang oder kommt ihr lediglich eine explikative Funktion zu, so daß sie das, was in jenen Schriften nur angedeutet, belichtet, aber nicht entwickelt war, nun detailliert analysieren würde. Es ergeben sich also drei Möglichkeiten, um das Verhältnis der Freiheitskonzeptionen in jenen Schriften zu bestimmen: Gegen die erste Möglichkeit, daß die Konzeption der Autonomie die Möglichkeit moralisch böser Handlungen ausschließt und Kant für ihre Möglichkeit erst in der Religionsschrift die Grundlagen entwickelt, ist in den vorhergehenden Kapitel argumentiert worden. Die zweite Möglichkeit wäre, daß beide Konzeptionen vereinbar sind, aber jeweils einen anderen Theoriebaustein der Freiheitstheorie liefern. Die dritte Möglichkeit, für die in diesem Kapitel argumentiert werden soll, ist, daß Kant seine Theorie der Zurechenbarkeit der moralisch bösen Handlung in ihren Grundzügen bereits in der ersten und in ihrem vollen Umfang in der zweiten Kritik entwickelt hat. Diese Konzeption wird Kant in der Religionsschrift nicht etwa rechtfertigen, sondern voraussetzen. Kant bietet in der Religionsschrift nicht noch — und das ist entscheidend — Zusatzargumente für die Zurechenbarkeit der moralisch bösen Handlung, vielmehr setzt er im Unterschied zur zweiten Kritik sein „Schutzschild" gegen den „prädeterministischen" Moralskeptiker, die Auflösung der dritten Antinomie, voraus, ohne ihren systematischen Stellenwert im Rahmen der Zurechnungsdiskussion genauer zu bestimmen. Dieses Kapitel unterteilt sich in drei Abschnitte: In den ersten beiden Abschnitten wird der Argumentationsgang des ersten Stückes der R£ligionsschrift rekonstruiert. Viele haben geglaubt, daß Kant dort die Frage beantwortet, ob dem Menschen seine moralisch bösen Handlungen zuzurechnen sind. Doch es wird sich herausstellen, daß die Frage, um die es Kant dort tatsächlich zu tun ist, vielmehr die ist, ob der Mensch als Gattung von Natur aus gut oder böse ist. Im ersten Abschnitt wird daher zunächst gezeigt, wie das Konzept des radikal Bösen als eines ursprünglich selbst zugezogenen Hanges sinnvoll verständlich gemacht werden kann. Im zweiten Ab-
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schnitt wird dann dafür argumentiert, warum Kant mit Recht behaupten darf, daß der Mensch als Gattung als radikal böse bezeichnet werden muß, er aber in einem Akt absoluter Freiheit, „den natürlichen Hang zum Bösen" durch eine „Revolution der Gesinnung" immerhin überwiegen kann. Wenn man die eigentliche Fragestellung und den Argumentationsgang des ersten Stücks der Religionsschrift vor Augen hat, wird deutlich, daß dieses Projekt zwar eine bestimmte Freiheitstheorie voraussetzt, Kant es aber unterläßt, diese dort eigens zu rechtfertigen. Daß er die Rechtmäßigkeit dieser Theorie in Anspruch nehmen darf, weil er sie bereits in der zweiten Kritik hinreichend abgesichert hat, dafür wird im dritten und letzten Abschnitt argumentiert werden. Kant entwickelt dort in einem Textstück, auf dessen Wichtigkeit er bereits in der Vorrede hingewiesen hatte, sehr genau, in bezug worauf der empirische Freiheitsbegriff nur ein „elender Behelf" ist und warum er in der für das Problem der Zurechenbarkeit entscheidenden Hinsicht der „Freiheit eines Bratenwenders" gleichkommt. Anschließend bündelt er die Ergebnisse seiner freiheitstheoretischen Überlegungen der ersten und zweiten Kritik zu einer Rechtfertigung seines absoluten Freiheitsbegriffs, der Zurechenbarkeit eines moralisch bösen Charakters und damit der moralisch bösen Handlung. Dieses letzte Kapitel zielt nicht in erster Linie auf den systematischen Ort der Religionsschrift im Rahmen der Kantischen Freiheitstheorie, es zielt vielmehr darauf, die theoretischen Mittel auseinanderzulegen, mit denen Kant der moralisch bösen Handlung, die er als einen Fall absoluter Freiheit denken muß, begegnet. Ein Nebenprodukt dieser Untersuchung ist die Einsicht, daß Kants Konzeption des Bösen als radikal Böses, wie er es im ersten Stück der Religionsschrift entwickelt, von den freiheitstheoretischen Interessen überdeckt ist, die man an sie herangetragen hat. Die Klarheit darüber, welche Elemente Kant für seine Theorie menschlicher Zurechenbarkeit benötigt und das Bewußtsein davon, daß sie in der kritischen Beleuchtung bereits präsent sind, kann zugleich den Blick für das eigentlich ethikotheologische Vorhaben in der Religionsschrift freigeben.
(a) Das radikal Böse Kant versteht das moralisch „Böse" ebenso wie dessen Gegenbegriff, das „Gute", als einen absoluten Begriff. Damit grenzt er sie scharf vom „Wohl" bzw. „Übel" ab, die nicht etwa auf Vernunft, sondern auf die Empfindung der „Annehmlichkeit" und „Unannehmlichkeit" zurückzuführen sind. Woran die Menschen Lust und Unlust empfinden, ist subjektiv-different, so daß man immer nur von einem relativ Angenehmen bzw. Unangeneh-
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men sprechen kann. Der Verstand, hat in bezug auf diese Empfindungen immer nur eine regulative Funktion. Er gibt das Mittel für den gegebenen Zweck an. Diese Mittel können sich als relativ gut, d. h. nützlich oder schlecht, d. h. unnützlich, erweisen. Im Unterschied zu dieser Differenz zwischen nützlich und unnützlich, die man die utilitarische nennen kann, läßt sich die moralische Differenz zwischen gut und böse nicht auf eine Empfindung zurückführen; sie beruht auf reiner Vernunft. Die reine Vernunft bringt das Moralgesetz und damit nicht nur ein Mittel für einen subjektiven Zweck, sondern den Zweck selbst hervor. Die moralische Qualität einer Maxime bemißt sich nicht daran, ob der Zweck der ihr zugrunde liegt, von Lust oder Unlust begleitet ist, sondern hängt allein davon ab, ob sie vernünftig, d. h. für den Willen eines jeden Vernunftwesens unabhängig von subjektiv-privaten Interessen verbindlich ist oder nicht. Eine Maxime, die diesem Anspruch nicht gerecht wird, wird „schlechthin (und in aller Absicht ohne weitere Bedingung)" böse, d. h. absolut böse genannt (KpV, V 58-61 (A 102107)). Auch in der Religionsschrift wird „böse" in diesem einstelligen, absoluten Sinne gedacht. Freilich wird dies nicht durch das Adjektiv „radikal" ausgedrückt. „Radikal" ist vielmehr wörtlich zu verstehen und meint, daß das Böse bis zu den Wurzeln hinabreicht, genauer, zu den Wurzeln der „menschlichen Natur". Wenn Kant also das Erste Stück seiner Religionsschrift mit „Über das radikale Böse in der menschlichen Natur" betitelt, hat man eine Erörterung zu erwarten, die sich mit den gesetzwidrigen Grundsätzen des Menschen befaßt, sofern sie bis auf die Wurzln seiner Natur zurückgehen. Kants Ausgangspunkt in der Religionsschrift ist nicht die Frage, ob dem Menschen seine bösen Handlungen zuzurechnen sind, sondern ob die Menschheit als „Gattung"(!) von Natur aus als gut oder böse angesehen werden muß (Rel., VI 20 (BA 5)). Diese Frage führt Kant unmittelbar zu der Begründung seines Rigorismus. Das „Oder" in dieser Frage läßt zwei Möglichkeiten zu: Versteht man es exklusiv, ist der Mensch entweder gut oder böse, versteht man es inklusiv, ist er beides: sowohl böse als auch gut. Kant erwägt auch noch eine dritte Möglichkeit, nämlich, daß dieser Satz falsch ist und der Mensch weder gut noch böse ist (Rel, VI 19 f., VI 22 f . (BA 3 ff, BA 8 f.)). Indem Kant sowohl den „Synkretismus" (sowohl gut als auch böse) als auch den „Indifferentismus" (weder gut noch böse) ausscheidet, gibt er bereits eine Teilantwort auf die Frage nach der moralischen Beschaffenheit des Menschen: Die moralische Natur des Menschen muß „rigoristisch" beurteilt werden, sie ist entweder gut oder böse.
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Gegen die beiden anderen Möglichkeiten entwickelt Kant zwei Argumente, denen jeweils seine sogenannte „Inkorporationsthese" zugrunde liegt (vgl. Kap. 7c). Sie besagt, daß die Willkür des Menschen nicht nach dem Reiz-Reaktions-Schema unmittelbar von einer Triebfeder zur Handlung bestimmt wird, vielmehr entscheidet der Mensch selbst, ob er diese Triebfeder in seine Maxime aufnimmt. Weder das moralische Gefühl, die Achtung, noch eine sinnliche Triebfeder bestimmen die Wirkungsweise des Willens unmittelbar, so daß es nicht widersprüchlich ist, daß ein Wille nach Triebfedern wirkt und man ihm zugleich absolute Freiheit zusprechen kann (Ret, VI 23 f . β 11 f.)). Kants Argument gegen den „Indifferentesten" lautet daher: Als sinnlich-vernünftige Wesen empfinden wir ein Gefühl der Achtung gegenüber dem Anspruch des Moralgesetzes. Wenn nun das Moralgesetz unser Handeln nicht bestimmt, kann es nicht an der Abwesenheit einer moralischen Triebfeder liegen, vielmehr muß eine „entgegengesetzte Triebfeder" auf unsere Willkür einen Einfluß haben. Diesen Einfluß erhält sie weder, indem sie als Naturtrieb unsere moralische Triebfeder dominiert, noch, wie viele geglaubt haben, in Form einer Privation (Leibni%), einem „Mangel" der moralischen Triebfeder, sondern weil wir aus Freiheit der sinnlichen Triebfeder diesen Einfluß einräumen und d. h. uns gegen die moralische Triebfeder richten. Deshalb kann die Natur des Menschen niemals moralisch indifferent, weder gut noch böse sein (Rel'., VI 22 f . β 9 f.), VI 24 β 12 f.)). Die „synkretistische" Position, der Mensch sei %um Teil gut und %um Teil böse, weist Kant als selbstwidersprüchlich zurück: Wenn der Mensch gut ist, hat er das Moralgesetz in seine Maxime aufgenommen. Das Moralgesetz ist allgemein und gebietet uneingeschränkt. Demnach müßte die Maxime desjenigen, der das Moralgesetz in seine Maxime aufgenommen hat und dennoch zugleich böse sein soll, allgemein (denn das heißt es, das Moralgesetz aufzunehmen) und besonders, d. h. eingeschränkt, sein. Beides zugleich ist unmöglich. Also kann der Mensch nicht zum Teil gut und zum Teil böse sein, sondern ist entweder gut oder böse (Rel., VI 24 β 13)). Beide Argumente scheinen für Kants Freiheitstheorie nicht von besonderer Bedeutung zu sein. Sie zeigen indessen, welche Funktion der Inkorporationsthese eigentlich zukommt. Kant argumentiert nicht etwa dafür, daß uns moralisch böse Handlungen nur zugerechnet werden können, weil wir aus absoluter Freiheit einen unmoralischen Zweck in unsere Maxime aufgenommen haben. Vielmehr soll die Inkorporationsthese seinen Rigorismus in der Beurteilung der menschlichen Gesinnung rechtfertigen (kontrastiere dagegen Allison 1990, J. 40; Beck 31995, i". 193). Damit ist hier nicht eine spezielle Maxime gemeint, die auf einen bestimmten Bereich von
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Handlungen eingeschränkt ist, vielmehr geht es um ,,de[n] erste[n] subjektive [n] Grund der Annehmung der Maximen" (ReL, VI 22 ßA 8), VI 25 (B 14)). Kants eigentliches Beweisziel besteht also darin, daß die Gesinnung und damit die Natur des Menschen im allgemeinen nur entweder gut oder böse sein kann. Nicht weil Kant hier die Zurechenbarkeit der bösen Handlung sicherstellt, sondern weil sein moralischer Rigorismus auf der Inkorporationsthese gründet, spricht er bei ihrer Einführung von einer „für die Moral wichtigen Bemerkung" (ReL, VI 23 β 11)). Bevor man über die moralische Qualität, die der Gattung Mensch ihrer Natur nach zukommt, eine inhaltliche Aussage macht, kann man die Bedingungen aufklären, unter denen der Gedanke überhaupt sinnvoll ist, daß der Mensch von Natur aus gut oder böse ist. Die Frage historisch zu beantworten, indem man das Verhalten des Menschen in der Weltgeschichte beschreibt, muß solange unzureichend bleiben, wie man nicht auch eine Theorie hat, die es legitimiert, von gesetzwidrigen Handlungen auf eine Beschaffenheit des Subjektes zu schließen (Rel., VI 20 ßA 5)). Kants Lösung besteht darin, die moralische Qualität der menschlichen Natur nicht in seinem empirisch sichtbaren Verhalten, sondern in seinem „subjektiven Grund", seiner „obersten Maxime", anzusetzen. Kant gelangt zu dieser Lösung durch eine genaue Analyse dessen, was es heißt „von Natur aus böse zu sein": Wenn eine gesetzwidrige Handlung gut oder böse sein soll, muß sie absichtlich herbeigeführt worden sein. Das bedeutet im Rahmen der Kantischen Theorie des menschlichen Begehrungsvermögens, daß die Handlung auf Grundsätzen, auf Maximen, beruhen muß. Um nun aber nicht von einer bestimmten Handlung zu sagen, daß sie böse ist, sondern den ganzen Menschen von Natur aus böse zu nennen, ist es nicht nur nicht ausreichend, gesetzwidriges Verhalten zu beobachten, es genügt auch nicht, von diesem Verhalten auf eine besondere Maxime zu schließen, die dieser Handlung zugrunde liegt, vielmehr muß man von dieser besonderen Maxime noch auf eine höhere Maxime schließen können, die der logische und nicht etwa kausale Grund für die Wahl der besonderen Maxime ist. Diese oberste Maxime ist es, die Kant als den „subjektiven Grund" aller besonderen moralisch-bösen Maximen bezeichnet (ReL, VI 20 f . ßA 6)). Nur wenn wir einen solchen obersten Grund aller besonderen Maximen unterstellen, können wir überhaupt davon sprechen, daß ein identisches moralisches Subjekt und damit der ganze Mensch den besonderen Handlungen zugrunde liegt. Das Konzept einer logisch höchsten Maxime ist das Fundament, auf dem Kant seine Theorie des radikal Bösen in der menschlichen Natur gründet. Wenn Kant in diesem Zusammenhang von der „Natur des Menschen" spricht, sind damit nicht seine angeborenen psychophysischen Ei-
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genschaften gemeint. Denn diese Eigenschaften hat er nicht selbst zu verantworten, und so wäre bereits die Redeweise „von Natur aus gut oder böse" in sich widersprüchlich. Darüber ist Kant sich vollkommen im Klaren: Wenn der subjektive Grund moralisch qualifizierbar sein soll, darf er nicht auf einen Naturtrieb zurückführbar sein, vielmehr muß er auf einem „Actus der Freiheit", auf einer frei angenommenen und als solcher unbedingten Maxime beruhen, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer Freiheit macht (Rel, VI 21 ßA 7)). Wenn Kant also von der „Natur des Menschen" in moralischer Hinsicht spricht, meint er gerade nicht seine angeborenen psychophysischen Eigenschaften, sondern den „ersten Grund der Annehmung guter, oder der Annehmung böser (gesetzwidriger) Maximen". Diesen ,,erste[n] subjektivein] Grund der Annehmung der Maximen" nennt Kant „Gesinnung" (Rel, VI 25 β 14)). Als ein Akt absoluter Freiheit ist dieser erste Grund uns „unerforschlich", weil er nicht auf eine Ursache zurückgeführt werden kann (Rel., VI 21 ßA 7)). Genau deshalb, weil wir den „obersten Grund nicht von irgend einem ersten Zeit-Actus der Willkür ableiten können, so nennen wir sie [die Gesinnung] eine Beschaffenheit der Willkür, die ihr [...] von Natur zukömmt" (Rel, VI 25 β 14), Hervorhebung J. B.). Nur genau insofern kann dieser subjektive Grund auch als „angeboren" und in der menschlichen Natur „verwurzelt", d. h. als „radikal" betrachtet werden. Damit ist weder gemeint, daß die Geburt die Ursache dieses subjektiven Grundes ist noch, daß er analytisch (notwendig) im Gattungsbegriff des Menschen enthalten wäre (Rel, VI 32 β 27)). Vielmehr ist der Mensch selbst der Urheber, und diese Urheberschaft geht auf einen Akt der Freiheit zurück, der logisch und nicht etwa zeitlich betrachtet der Annahme der besonderen Maximen vorausgeht. Die genaue qualitative Bestimmung der menschlichen Natur kann Kants Rigorismus zufolge nur eine eindeutige sein. Kant behauptet, daß der Mensch einen „Hang zum Bösen" hat. Dennoch nimmt er zugleich auch eine „Anlage zum Guten" in Anspruch. Eine genaue Analyse beider Konzepte wird zeigen, warum Kant mit dieser differenzierten These von einem „Hang zum Bösen" und einer „Anlage zum Guten" dennoch seinen Rigorismus nicht aufweicht. Sie wird darüber hinaus — gegen die verbreiteten Mißverständnisse — den Anspruch und die Beweisführung aufklären, die mit der These eines allgemeinen Hanges des Menschen zum Bösen verbunden sind und schließlich erklären können, wie jene Differenzierung zwischen einer „Anlage zum Guten" und einem „Hang zum Bösen" die Möglichkeit für eine Revolution der Gesinnung und damit die Gründung eines guten Charakters offen läßt.
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Ein Hang ist „der subjektive Grund der Möglichkeit einer Neigung (habituellen Begierde, concupiscentia), sofern sie für die Menschheit zufällig ist". Im Unterschied zur Neigung setzt der Hang gerade nicht voraus, daß wir bereits einen bestimmten Gegenstand begehren. Der Hang ist nur die „Prädisposition" zum Begehren eines Gegenstandes. Kant unterscheidet zwischen einem physischen und einem moralischen Hang. Der physische Hang betrifft uns Menschen als sinnliche Wesen. Als solche haben wir beispielsweise einen Hang zu „Rauschmitteln". Dieser Hang ist der „Grund der Möglichkeit" dafür, daß wir sie, sobald wir mit ihnen in Kontakt kommen, begehren und eine Neigung für sie ausbilden. Im Fall von Drogen haben wir zwar die Handlungsfreiheit, den Kontakt mit ihnen zu vermeiden, sofern jedoch ein solcher Kontakt vorliegt, liegt es jenseits unseres Einflusses, ob wir eine Neigung dazu ausbilden oder nicht; die Neigung entsteht mit Naturnotwendigkeit. Der Hang zum Konsum von Drogen geht aber gerade ihrer ώ/sächlichen Einnahme voraus. Er ist eine physiologische Gegebenheit, die uns gerade nicht zugerechnet werden kann βel., VI 28 β 20), 31 (Β 24 f.)). Der Hang zum Bösen darf kein physiologischer Hang sein. „Böse" ist ein nicht-empirisches, moralisches Prädikat. Wäre der Hang zum Bösen auf Naturursachen zurückzuführen, könnte er nicht böse genannt werden. Moralisch zurechenbar ist nur dasjenige, was wir aus Freiheit ins Werk gesetzt haben. Der Hang geht aber gerade jeder Tat voraus, so daß ein „Hang zum Bösen" einen Selbstwiderspruch zu beinhalten scheint. Kant löst dieses Problem, indem er zwei Arten von „Taten" unterscheidet und neben der empirisch sichtbaren noch eine nicht-empirisch denkbare, eine intellegible Tat ansetzt. Diese Tat besteht genau darin, daß wir in unserer obersten Maxime die Achtung den sinnlichen Triebfedern unterordnen und damit das gebotene Ordnungsverhältnis der Triebfedern umkehren ß e l , VI 31 β 25 f.)). Kant erkennt damit, daß der Grund des Bösen weder in der „Sinnlichkeit des Menschen, und den daraus entspringenden natürlichen Neigungen" noch in einer „ Verderbnis der moralisch-gesetzgebenden Vernunft" liegen kann. Das Dasein unserer natürlichen Bedürfnisse haben wir nicht zu verantworten, weil wir nicht ihre Urheber sind. Den Anspruch des Moralgesetzes aufkündigen und uns zu „teuflischen Wesen" machen ist unmöglich, weil wir über unseren Status als Vernunftwesen prinzipiell nicht disponieren können βel., VI 34 f . β 31 ff.)). Als sinnlich-vernünftige Wesen stehen wir weder dem Moralgesetz noch unseren sinnlichen Bedürfnissen indifferent gegenüber und nehmen sie beide in unsere Maxime auf. Da nun, Kants Rigorismus vorausgesetzt, unsere Maximen nicht sowohl gut als auch böse sein können, kann das Böse
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des Menschen nicht in dem Gehalt der Triebfedern gesucht werden, die er in seine Maxime aufnimmt, sondern muß im Ordnungsverhältnis der beiden Triebfedern liegen. „[Djer Mensch (auch der beste) [ist] nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern, in der Aufnehmung derselben in seine Maximen, umkehrt". Diese „Umkehrung der Triebfedern", mit der der Mensch „die Triebfeder der Selbstliebe [...] zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht", ist sein natürlicher Hang zum Bösen, der auf einem freien Akt der Willkür beruht (Rel.'., VI 36 f . β 34/.)). Warum in unserer obersten Maxime das Bedingungsverhältnis von Achtung und empirischen Triebfedern verkehrt ist, davon können wir weiter keine Ursache angeben, gerade weil es ein Akt der Freiheit ist und nicht auf Naturursachen zurückgeführt werden kann. Kant gibt in der Religionsschrift keine Zusatzargumente, warum er legitimiert ist, diese Freiheit anzunehmen. Im Hintergrund steht sowohl das Vernunftfaktum und der damit verbundene Schluß vom Sollen aufs Können als auch das Theoriestück der dritten Antinomie, die die Denkmöglichkeit des theoretischen Begriffs der „Freiheit" als Erstursächlichkeit sichert (s. da%u Kap. 3c, 6ai.). (b) Die menschliche Natur als radikal böse Obwohl der Hang zum Bösen, damit er als böse zurechenbar ist, aus Freiheit zugezogen worden sein muß und damit „zufällig" ist, will Kant gleichwohl daran festhalten, daß dieser Hang dem Menschen „allgemein", der „Gattung" nach zukommt und nicht etwa nur einige Menschen einen Hang zum Bösen haben und andere nicht (Rel, VI 30 β 23), 32 β 27)). Nachdem Kant sein Rigorismus-Argument entwickelt hat, sagt er, daß die Berechtigung, die gan^e Gattung und nicht etwa den einzelnen gut oder böse zu nennen, „nur weiterhin bewiesen werden [kann], wenn es sich in der anthropologischen Nachforschung zeigt, daß die Gründe, die uns berechtigen, einem Menschen einen von beiden Charakteren als angeboren beizulegen, so beschaffen sind, daß kein Grund ist, einen Menschen davon auszunehmen, und er also von der Gattung gelte" (Rel., VI 25 β 14 f.), Hervorhebung], B.). Im Rahmen der Religionsschrift bleibt dies nicht eine unbewiesene „empirische Hypothese" (Willaschek 1992, S. 153), vielmehr zeigt sich bei näherer Untersuchung des Argumentationsverlaufs, daß „weiterhin" sich auf den dritten Abschnitt im ersten Stück der Religionsschrift selbst und nicht auf eine zukünftig erst noch zu unternehmende anthropologische Untersu-
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chung bezieht. Denn in jenem dritten Abschnitt wird Kant mit historischanthropologischen Gründen die Allgemeinheit dieses Hanges bestätigen. Dieses Verfahren ist auf Unverständnis und Ablehnung gestoßen. Indem Kant in Anspruch nimmt, daß die Bösartigkeit der Gattung zukommt, beansprucht er Allgemeingültigkeit. Was er jedoch zum Beweis dieser Allgemeingültigkeit anbiete, seien nur einige — wie er es nennt — „schreiende Beispiele" davon, wie sich der Mensch unter den unterschiedlichen historisch-gesellschaftlichen Situationen verhalten hat (Rel., VI 32 f . (B 27 f.)). Selbst die längste Liste empirischer Beispiele sei jedoch prinzipiell nicht in der Lage, die „Universalität", die Kant für den Hang zum Bösen behauptet, zu rechtfertigen. Kant mache sich insofern mit seiner Universalitätsbehauptung einer „sweeping generalization" schuldig (Michalson 1990, S. 37, S. 67 f.). Alles, was wir von den bösen Handlungen ableiten können, sei eine „harmlose Tautologie", nämlich „daß der Mensch zu bösen Handlungen fähig, und nicht etwa daß der Mensch radikal böse ist" (0'Conner 1985, S. 298). Genau wegen der „Universalität" dieses Hanges sei Kants Behauptung keine Erfahrungstatsache, sondern gelte a priori, und da sie offensichtlich nicht analytisch ist, müsse sie synthetisch sein. Ein synthetisches Apriori erfordere aber eine transzendentale und nicht etwa empirische Deduktion. Nun führt Kant selbst eine solche Deduktion nicht durch, weshalb es gelte, diese argumentative Lücke zu schließen und selbst eine solche transzendentale Deduktion nachzuliefern (Allison 1990, S. 154-157; Timmons 1994, S. 136-140). Gegen diese Kritik kann eine genaue Analyse des Kantischen Beweises zeigen, daß sein Verfahren nicht nur systematisch konsequent, sondern auch dem Anspruch der Behauptung eines natürlichen Hanges des Menschen zum Bösen gerecht werden kann. Zunächst muß man sich klar machen, welchen modalen Status die Aussage hat, daß der Mensch von Natur aus böse ist. Es bedeutet gerade nicht, daß man das Böse aus dem Gattungsbegriff des Menschen ableiten könnte. Wäre dies der Fall, würde das Böse dem Menschen notwendig zukommen und eine Anlage darstellen (Rel.'., VI 32 (B 27)). Indessen läßt sich zeigen, daß aus systematischen Gründen nur eine Anlage zum Guten aber nicht zum Bösen in Frage kommt: Das Moralgesetz ist ein Faktum a priori, dessen wir uns unmittelbar bewußt sind und dessen Gültigkeit apodiktisch gewiß ist (s. da%u Kap. 2). Im Unterschied zu heiligen Wesen entspricht unser Handeln nicht immer schon dem Anspruch dieses Gesetzes. Einen guten Charakter muß jedes menschliche Individuum sich erst erwerben. Dies geschieht, indem wir Maximen bilden, bei denen wir die Verwirklichung des eigenen Glücks
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unter die Bedingung der Moralität stellen. Mit diesen Maximen machen wir uns bereit, im Konfliktfall zwischen Vernunft und Neigung vernünftig zu handeln. Die Triebfeder, die eine moralische Handlung, eine Handlung aus Pflicht ermöglicht, ist die Achtung. Daß wir das Potential haben, nicht nur die Achtung zur Triebfeder in unsere Maxime aufzunehmen, sondern sie auch Bedingung der sinnlichen Triebfeder machen können, ist unsere Anlage zum Guten. Wir haben dadurch, daß uns diese Anlage zukommt, nicht bereits einen guten Charakter, aber wir haben damit das Potential, uns einen solchen zu verschaffen (Rel., VI 27f . β 18 f.)). Die Situation beim Bösen unterscheidet sich davon fundamental. Wir können nicht auf ein „Faktum der Vernunft" zurückgreifen, das wir in unmittelbarer Vernunfterkenntnis erkennen. Es wäre deshalb vollkommen unbegründet, die Fähigkeit, die Ordnung der Triebfedern zu verkehren, als unsere Λnlage zum Bösen auszugeben. Wir stellen nur immer wieder in der Erfahrung fest, daß es gesetzwidrige Taten gibt, mehr noch, daß Menschen aus „ungereizter Grausamkeit" dem Gesetz zuwider handeln. Kants Anspruch, dem Menschen keine Anlage zum Bösen zuzusprechen, ist insofern nicht das Resultat eines beliebig gewählten Menschenbildes, sondern eine folgerichtige Konsequenz aus seinen systematischen Voraussetzungen. Deshalb sieht Kant sich lediglich legitimiert, dem Menschen einen Hang und gerade nicht eine „Anlage zum Bösen" zuzusprechen (so etwa Höffe 1994, S. 103). Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn Kant, um den Hang zum Bösen zu bestätigen, sich auf die Erfahrung beruft. Er unterscheidet drei gesellschaftliche Zustände: Den „Naturzustand", den „gesitteten Zustand" und den „aus beiden auf wunderliche Weise zusammengesetzten [...] äußeren Völkerzustand". In allen drei Zuständen haben wir Kant zufolge Grund dazu, dem Menschen einen Hang zum Bösen und nicht etwa zum Guten zuzuschreiben. Für den „Naturzustand" verweist Kant auf einige Naturvölker, bei denen wir „Mordszenen", die mit „ungereizter Grausamkeit" verübt werden, beobachten können (Rel., VI 33 (B 28)). Im „gesitteten Zustand" sind es die „geheime Falschheit, selbst bei innigsten Freunden" und jene Laster der Kultur, „die ihrer gar nicht hehl haben, weil uns der schon gut heißt, der ein böser Mensch von der allgemeinen Klasse ist" (Rel., VI 33 β 29); vgl. MS/TL, §§ 42-44). Im „Völkerzustand" schließlich beobachtet man, wie in sich „zivilisierte Völkerschaften" dennoch in der ständigen Bereitschaft sind, gegeneinander Krieg zu führen und also untereinander im „Verhältnis des rohen Naturzustandes" stehen (Rel, VI 33 β 29)). Doch was kann Kant mit diesen Beispielen tatsächlich beweisen? Scheinbar nicht mehr, als daß es in der Welt nicht immer moralisch zugeht
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und Menschen in ihrem Handeln nicht immer dem Moralgesetz folgen. Denn „Maximen kann man nicht beobachten" und daher „das Urteil, daß der Täter ein böser Mensch sei, nicht mit Sicherheit auf Erfahrung gründen" (Ilel, VI 20 (BA 6)). Bereits seit der Grundlegung weist Kant darauf hin, daß es unüberwindliche epistemische Hindernisse bei der Identifikation moralisch guter Handlungen gibt. Denn, so lautet Kants Argument, es lasse sich „in keinem Beispiel mit Gewißheit dartun, daß der Wille hier ohne andere Triebfedern bloß durchs Gesetz bestimmt werde". Vielmehr sei es „immer möglich, daß insgeheim Furcht vor Beschämung, vielleicht dunkle Besorgnis anderer Gefahren Einfluß auf den Willen haben mögen". Daher lautet Kants rhetorische Abschlußfrage: „Wer kann das Nichtsein einer Ursache durch Erfahrung beweisen, da diese nichts weiter lehrt, als daß wir jene nicht wahrnehmen" (GMS, IV 419 (BA 49); vgl. auch KpV, V 33 (A 58), 85 (A 152); MS/ TL, VI 392f. (A 24 f.), 447 (A 114))} Doch so sehr Kants Erkenntnisskepsis hinsichtlich der moralisch guten Handlung überzeugt, so wenig überzeugend ist es, sie analog auch auf die moralisch böse Handlung zu übertragen (so ΐζ. Β., Höffe 2001, S. 96; Allison 1990, S. 177; Wimmer 1990, S. 118). Das Entscheidende bei der Differenz von Moralität und Legalität ist ja gerade, daß die moralisch gute Handlung ebenso wie die bloß legale hinsichtlich ihres Ergebnisses keine Differenz aufweisen. Der Unterschied liegt vielmehr auf der Subjektseite: Bei moralisch guten Handlungen handeln wir aus Pflicht, bei bloß legalen umwillen einer sinnlichen Triebfeder. Deshalb ist bei einer bloß legalen Handlung nur „der empirische Charakter gut, der intelligibele aber immer noch böse [...]" (Rel., VI 37 (B 35)). Bei einer bloß legalen Handlungen ist entweder die Achtung für sich genommen keine hinreichende Triebfeder zur Handlung („Unlauterkeit") oder sie ist sogar dem Prinzip der Selbstliebe untergeordnet, ohne daß dabei die Handlung illegal würde, weil zufällig das moralisch Gebotene mit dem, was nach dem subjektiven Prinzip der Selbstliebe zu tun ist, koinzidiert („Bösartigkeit"). Wir können aber im Einzelfall nicht verifizieren, ob eine bestimmte Handlung bloß legal und nicht etwa moralisch gut ist. Alleine vom Ergebnis der Handlung her betrachtet könnte der legalen Handlung eine verallgemeinerbare Maxime zugrunde liegen und sie umwillen der Gesetzlichkeit zustande gekommen sein. Nimmt man nun neben der moralisch guten Handlung und der bloß legalen auch den dritten Fall der illegalen Handlung mit hinzu, so bemerkt man, daß sie sich bereits von der Objektseite her klar von einer legalen oder auch moralisch guten Handlung unterscheidet. Es ist aber darüber hinaus auch aussichtslos, mit Recht behaupten zu wollen, jemand hätte beispiels-
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weise jenes „Depositum" aus Achtung vor dem Gesetz unterschlagen. Insofern die Handlung auf eine Maxime zurückzuführen ist, kann diese nicht widerspruchsfrei und also nicht gesetzmäßig sein (s. da^u Kap. 2). Ein Mensch, der sich fremdes Eigentum unerlaubt aneignet und sich dabei selbst einredet, er handele aus Achtung vor dem Gesetz, macht sich selbst „blauen Dunst" vor oder ist bar jeder Vernunft (Rel., VI 38 (B 38)). Andere kann er nur so lange täuschen, wie sein illegales Handeln nicht entdeckt wird oder seine Maxime auf keinen Anwendungsfall trifft und sein Handeln legal bleibt. Die Selbsttäuschung und Täuschung anderer ändert aber nichts daran, daß wir, sofern eine Handlung im moralischen Sinne illegal ist, auf eine böse Gesinnung zurückschließen dürfen. Es ist daher systematisch zwingend, wenn Kant gleich zu Beginn der Religionsschrift sagt, es „müßte sich aus einigen, ja aus einer einzigen mit Bewußtsein bösen Handlung, a priori auf eine böse zum Grunde liegende Maxime, und aus dieser auf einen in dem Subjekt allgemein liegenden Grund aller besonderen moralisch-bösen Maximen [...] schließen lassen, um einen Menschen böse zu nennen" (ReL, VI 20 (BA 6), Hervorhebung J. B.), diesen Konjunktiv nicht als irrealis, sondern als potentialis zu verstehen. Auch wenn die illegalen Handlungen, die wir beobachten, nur „Erfahrungen" sind, kann doch das Zustandekommen dieser Handlungen nach Kants Freiheitstheorie, seiner Theorie des menschlichen ΒegehrungsVermögens und seinem Rigorismus nicht anders gedacht werden, als daß ein Subjekt die sinnliche Triebfeder über das Moralgesetz gestellt hat; dies ist keine Erfahrung, sondern das Ergebnis von Kants nicht-empirischer Wissenschaft. Grob gesagt, beruht es auf der dritten Antinomie, dem Faktum uneingeschränkter Verpflichtung und seinem moralisch-praktischen Freiheitsbeweis. Diese Voraussetzungen legitimieren uns „a priori" und nicht etwa aus Erfahrung, von einer illegalen Handlung auf eine böse Maxime des Handelnden zu schließen (ReL, VI 20 (BA 6)). Nun geht Kant aber noch einen Schritt weiter und möchte von der besonderen Maxime wiederum auf einen „in dem Subjekt allgemein liegenden Grund" dieser Maxime schließen. Warum hat Kant es nicht dabei belassen und gesagt, daß wir sowohl eine moralische als auch sinnliche Triebfedern haben und mit der Wahl unserer besonderen Maximen darüber entscheiden, in welchem Ordnungsverhältnis wir die Triebfedern arrangieren? Die böse Handlung bestünde demnach darin, daß wir in unserer besonderen Maxime das Moralgesetz unter die Bedingung unserer subjektiv-privaten Interessen gestellt haben. Statt dessen führt Kant nun das Konzept eines selbst zugezogenen Hanges ein, der als oberster Grund aller besonderen Maximen durch eine „intelligibele Tat" frei gewählt worden ist. Dieses Konzept hat Kants Kritiker einmal mehr zu der Behaup-
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tung verleitet, Kant habe damit ein „zweites Selbst hinter dem Selbst" angesetzt (Michalson 1990, 58 ff, Übersetzung J. B.). Doch Kant ist im Unterschied zu seinen Kritikern nicht entgangen, daß man von den besonderen Maximen ausgehend noch nach einem logisch und nicht etwa kausal höheren Grund fragen kann. Dieser allgemeinere Grund ist nicht auf einen bestimmten Bereich von Handlungen eingeschränkt, sondern gibt Auskunft darüber, wie wir es im allgemeinen mit dem Moralgesetz bewenden lassen. Dieser logisch höchste Grund bekundet sich in unseren besonderen Maximen und diese wiederum in unseren illegalen Handlungen. Wenn unsere besonderen Maximen gesetzwidrig sind, kann der oberste Grund der Maxime nicht so beschaffen sein, daß er die uneingeschränkte Gültigkeit des Moralgesetzes anerkannt hätte, und wenn unsere Handlungen illegal sind, können die ihnen zugrunde liegenden Maximen nicht moralisch gut sein. Insofern der oberste Grund die Möglichkeit der Unterordnung des Moralgesetzes in den besonderen Maximen eröffnet, ist er der formale Grund aller gesetzwidrigen [empirischen] Tat" (RßL, VI 31 β 25)). Was nun die Allgemeinheit dieses Hanges betrifft, so zeigen die anthropologischen Befunde, daß unangesehen der historisch-gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen der Mensch sich befindet, einzelne Menschen illegal handeln. Insofern die gesellschaftlichen Verhältnisse verschieden sind, jedoch die Illegalität der Handlungen bleibt, spricht dieser Befund dafür, eine Konstante auf der Seiten des Menschen anzunehmen. Außerdem können wir in der Erfahrung prinzipiell nur legales, niemals aber moralisch gutes Handeln erkennen. Ist Handeln bloß legal, liegt eine „radikale Verkehrtheit im menschlichen Herzens" vor, weil man noch einer anderen nicht-moralischen Triebfeder (ζ. B. der Angst vor Strafe) bedarf (Rel., VI 37 (B 36)). Deshalb dürfen wir von legalem Handeln nicht auch auf eine moralisch gute Maxime schließen. Die Annahme eines Hanges zum Guten ist daher aus empirisch-anthropologischer Perspektive nicht zu rechtfertigen. Kant sagt also zu Recht, daß die Gründe, die uns berechtigen, dem Menschen einen Hang zum Bösen zuzusprechen „so beschaffen [sind], daß kein Grund ist, einen Menschen davon auszunehmen, und er also von der Gattung gelte" (Rel., VI 25 β 15), Hervorhebung J. B.). Damit ist gerade nicht gesagt, daß die Allgemeinheit des Hanges positiv bewiesen worden wäre, sondern nur, daß wir aus empirisch-anthropologischer Perspektive keinen Grund haben, einem Menschen einen Hang zum Guten zuzusprechen. Wir sehen immer nur legale oder illegale Handlungen. Von den illegalen Handlungen dürfen wir auf eine moralisch böse Maxime schließen aber nicht von legalen auf eine moralisch gute.
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Kants Beweis des „Daseins" eines Hanges zum Bösen nimmt von der Erfahrung seinen Ausgang. Er kommt aber nicht ohne nicht-empirische Voraussetzungen aus. Die epistemische Asymmetrie zwischen moralisch guten und moralisch bösen Handlungen erlaubt es, nur bei illegalen Handlungen a priori auf einen Hang zum Bösen zu schließen. Wer eine „transzendentale Deduktion" dieses Hanges zum Bösen fordert (Timmons 1994, S. 136-140) und sogar den Versuch unternimmt, sie selbst durchzuführen (Allison 1990b, 64 ff.), mißversteht nicht nur die spezifischen Erkenntnisbedingungen des Hanges zum Bösen als radikal Böses, vielmehr übersieht er, daß Kants Argumentation die Beweislast, die sie sich auflädt, auch selbst tragen kann. ,Der Mensch ist von Natur aus böse' bedeutet nur soviel, daß er „nach dem, wie man ihn durch Erfahrung kennt, nicht anders beurteilt werden [kann]" (Rel., VI 32 (B 27), Hervorhebung J. B.). Auch wenn wir dem Menschen, so wie wir ihn durch Erfahrung kennen, nur einen Hang zum Bösen zuschreiben können, unterliegt er doch dem Sollensanspruch des kategorischen Imperatives, der ihm uneingeschränkt gebietet, die subjektiv-privaten Interessen dem Moralgesetz unterzuordnen. Dieser uneingeschränkte Sollensanspruch versichert ihm aus Vemunftperspektive, daß er auch kann (Rel, VI 41 β 43), 45 β 50), 47 β 54), 49 (Β 58), 62 β 76), 67 β 85)). Deterministische Moralskeptiker sind an die Auflösung der dritten Antinomie verwiesen (KrV, Β xxviii f., Β 561 f.; GMS, IV 455f. ßA 115); KpV, V 30 (A 53), 48 ff (A 83-87), 94106 (A 169-191); KU, V175 β xviii); Rel, VI 39 f . β 39 f.), Β 49 f . (58 f.)). Nun ist es freilich möglich, daß der Mensch seinen Charakter „reformiert" und seine Handlungen nach dem Moralgesetz richtet, ohne daß dabei auch die Achtung als Triebfeder hinreichend wäre. In diesem Fall kehrt ζ. B. der „Lügenhafte zur Wahrheit um der Ehre, der Ungerechte zur bürgerlichen Ehrlichkeit um der Ruhe oder des Erwerbes willen [...] zurück" (Rel, VI 47 β 53)), und aus dem unsittlichen Menschen wird ein „Mensch von guten Sitten" (Rel, VI 30 β 23)). Eine solche „Reform der Gesinnung" läßt sich auch mit einem relativen Freiheitsbegriff denken. Doch Kants Moralphilosophie ist anspruchsvoller: Solange „die Grundlage der Maximen unlauter bleibt" (Rel., VI 47 β 54), Hervorhebung J. B.), ist der Mensch noch kein „sittlich gute[r] Mensch" (Rel, VI 30 β 23)). Erst wenn ein kategorial anderes Prinzip, die Achtung vor dem Gesetz, und nicht länger empirisch-zufällige Interessen der oberste Grund für die Annahme der besonderen Maximen ist, sind moralisch gute und nicht bloß legale Handlungen möglich. Um nicht nur ein „Mensch von guten Sitten", sondern ein „sittlich guter Mensch" zu werden, muß die richtige Ordnung der Triebfedern wiederhergestellt werden. Dazu bedarf es einer „Umwandlung der Den-
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kungsart" und nicht etwa eines partikularen Ausmerzens von schlechten Angewohnheiten durch Einübung. Indem der Mensch die Verkehrtheit der obersten Maxime wieder zurückdreht, vollzieht er buchstäblich eine ,.Revolution in der Gesinnung". Diese Revolution ist ein Bruch in der moralischen Identität der Person, die damit „einen neuen Menschen anzieht" (Rel, VI 48 β 54f.)). Ob der Mensch tatsächlich eine Revolution vollzogen und eine gute Gesinnung angenommen hat, läßt sich wegen jener prinzipiellen Erkenntnisunsicherheit hinsichtlich der moralisch guten Gesinnung nicht behaupten. Deshalb und nicht etwa, weil ,,[d]ie absolute Spontaneität der menschlichen Willkür an diesem Punkt [...] an ihre Grenzen [gelangt]" (Klemme, 1999, S. 140), ist die Revolution der „Denkungsart" nicht auch schon eine Revolution der „Sinnesart". Doch je häufiger der Handelnde in einer moralisch dilemmatischen Entscheidungssituation zwischen Vernunft und Neigung sich für das Moralgesetz entscheidet, desto sicherer darf er sein, daß er sich auf dem „Wege eines beständigen Fortschreitens vom Schlechten zum Bessern befinde" (Rel, VI 48 (B 55)).
(c) Kants Freiheitstheorie als Grundlage einer qualitativen Bestimmung der menschlichen Natur Wer den Argumentationsgang des ersten Stückes der Religionsschrift klar vor Augen hat, den muß die Behauptung verwundern, Kant wolle hiermit die Möglichkeit der moralisch bösen Handlung „erklären" (% B. Prauss 1983, 98 f.). Die Rekonstruktion im ersten Abschnitt hat gezeigt, daß diese Redeweise streng genommen unzulässig ist, denn insofern wir keine Ursache für die freie Annahme der Maxime angeben können, ist es prinzipiell unmöglich, die Möglichkeit der moralisch bösen Handlung zu erklären (Rel, VI 43 (B 46 f.), 59 (B 71)). Präzise gesprochen, begründet Kant gerade die Unerklärlichkeit der moralisch bösen Handlungen. Wenn man hier sinnvoll von „Erklärung" sprechen will, kann damit also nicht das Zurückführen auf Ursachen, sondern nur eine Explikation der notwendigen Bedingungen einer moralisch bösen Handlung gemeint sein. Doch Kants Projekt hat sich darüber hinaus als sehr viel anspruchsvoller erwiesen: Er geht zunächst von der Frage aus, ob der Mensch von Natur gut oder böse ist und expliziert die Voraussetzungen, unter denen dieser Gedanke überhaupt sinnvoll ist. Anschließend argumentiert er unter Zugrundelegung seiner Inkorporationsthese für einen Rigorismus, wonach der Mensch nur entweder gut oder böse sein kann und beweist schließlich, daß der Mensch nach dem, „wie man ihn durch Erfahrung
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kennt", nicht anders beurteilt werden kann, als daß er von Natur aus böse ist. Der zweite Teil der Argumentation des ersten Stücks ist mit der Beantwortung der Frage befaßt, warum der Mensch, der nicht nur die Anlage zum Guten hat, sondern auch die Pflicht, ein guter Mensch zu sein, nur durch eine Revolution der Denkungsart und nicht etwa eine Reform der Sinnesart ein moralisch guter Mensch werden kann. Damit steuert Kant auf den zentralen Gedanken der gesamten Religionsschrift zu, nämlich: der Begründung eines Gottesstaates im Sinne einer Gemeinschaft, die unter Tugendgesetzen steht als eines regulativen Prinzips unseres Handelns, das auf die Uberwindung des ethischen Naturzustandes abzielt fcur Ausarbeitung dieser eigentlichen Fragestellung der Religionsschrift j. Klemme 1999, S. 127 f . , 148) Wer dagegen einwenden wollte, daß nur weil Kants primäres Argumentationsziel anders geartet ist, damit nicht ausgeschlossen sei, daß Kant in der Religionsschrift nebenbei auch noch einen neuen Freiheitsbegriff einführt, der die Zurechenbarkeit der moralisch bösen Handlung rechtfertigt, den widerlegt der Text. Alle drei Theoriestücke, die hierfür in Frage kommen, sind keine originellen Beiträge der Religionsschrift und Kant liefert uns hier auch keine neuen Argumente, um sie mit Recht in Anspruch nehmen zu können. Vielmehr hat Kant über ihre Rechtmäßigkeit bereits vor der Rsligionsschrift entschieden. Erstens: Der Schluß vom Sollen aufs Können ist trivial und die ganze Zeit fester Bestandteil des Kantischen Argumentationshaushaltes (KrV, Β 562, Β 835; KpV, V 30 (A 54); MS/TL, VI 380 (A 3), 383 (A 9)). Seine vollständige Berechtigung erhält er durch den Nachweis des Moralgesetzes, das unbedingt gebietet (s. da%u Kap. 3c). Zweitens: Die Unterscheidung von intellegibler und sensibler Tat beruht auf zwei Begriffen von „Ursprung", dem „Vernunftursprung" und dem „Zeitursprung", die ihrerseits wiederum auf jenen Unterschied zurückgehen, der schon die Auflösung der dritten Antinomie ermöglichte: Beim Vernunftursprung wird nicht das „Geschehen", sondern nur das „Dasein" der Wirkung betrachtet (ReL, VI 39 β 39 f.)). Gerade weil beim Kausalverhältnis Ursache und Wirkung „ungleichartig" sein können, kann die „Bestimmung der Willkür [...] nicht als mit ihrem Bestimmungsgrund in der Zeit, sondern bloß in der Vernunftvorstellung verbunden gedacht [werden]" (Rel., 39 (B 40); vgl. auch KrV, Β 557-560; %um dynamischen Verhältnis von Grund und Folge s. Kap. 5b). Drittens: Die Inkorporationsthese ist, wie der Name schon sagt, nur eine These. Daß diese Inkorporation als ein Akt absoluter Freiheit gedacht werden darf, dafür hat Kant eben mit jener Auflösung der dritten Antinomie Platz geschaffen. Daß die Bösartigkeit eines Charakters und einer Hand-
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lung in der freien Verkehrung des Ordnungsverhältnisses der Maxime beruht, ist, wie sich noch in aller wünschenswerten Deutlichkeit zeigen wird, nicht erst die Errungenschaft von Kants Theorie des radikal Bösen. Die Konsequenz aus diesem Befund sollte sein, daß man die Religionsschrifl und Kants Lehre vom radikal Bösen nicht zu den Voraussetzungen seines Freiheitsbegriffes zählt. Kants Theorieentwurf des radikal Bösen begründet gerade nicht die Zurechenbarkeit der moralisch bösen Handlung, sondern setzt sie ihrerseits voraus. Zu unterstellen, die in der Religionsschrift verhandelten Theoriebausteine seien nicht auch in der zweiten Kritik schon präsent, bedeutet nichts Geringeres, als daß Kant die Religionsschrift nicht als eine Konsequenz seiner Moral- und Freiheitstheorie begreift, sondern als eine Korrektur oder Ergänzung an deren Fundamenten. Daß Kant, dem es nach einer verbreiteten Auffassung auf die moralische Zurechenbarkeit nicht so sehr angekommen sei (χ. Β. Schmitt 1989, S. 134), bereits in der zweiten Kritik hinreichend Rechenschaft darüber abgelegt hat, soll hier nun abschließend bewiesen werden und damit die gesamte gewonnene begriffliche Differenzierung noch einmal zur Anwendung gebracht werden. Bereits in der Vorrede zur zweiten Kritik fordert Kant seinen Leser mit Nachdruck dazu auf, „das, was zum Schlüsse der Analytik über [den Begriff der Freiheit] gesagt wird, nicht mit flüchtigem Auge zu übersehen". „Freiheit", so schreibt er in jener Vorrede, im absoluten Sinne verstanden, sei nicht nur „der Schlüssel zu den erhabensten praktischen Grundsätzen für kritische Moralisten", sondern auch „der Stein des Anstoßes für alle Empiristen" (KpV, V 7 f . (A 13)). Kant, der im ersten Hauptstück der KpV jene „erhabensten Grundsätze" etabliert hat, versteht sich selbst als „kritischen Moralisten". Am Schluß der Analytik, in der kritischen Beleuchtung, will er nun jenen absoluten Begriff der Freiheit rechtfertigen, welcher der „Stein des Anstoßes" des Empirismus ist, und dessen relativen Freiheitsbegriff „in der ganzen Blöße seiner Seichtigkeit" endarven (KpV, V 94 (A 168)). Im Rahmen dieser Kritik entwickelt Kant zugleich auch in Anknüpfung an die Auflösung der dritten Antinomie seine Theorie der Zurechenbarkeit moralisch böser Handlungen. Kant legt sich dabei wie schon in der ersten Kritik den verschärften Fall eines scheinbar „geborenen Bösewichts" vor: Wie lassen sich unsere moralischen Verurteilungen auch bei jenen Menschen rechtfertigen, die „von Kindheit auf, selbst unter einer Erziehung, die [...] anderen ersprießlich war, dennoch so frühe Bosheit zeigen, und so bis in ihre Mannesjahre zu steigen fortfahren, daß man sie für geborne Bösewichter, und gänzlich, was die Denkungsart betrifft, für unbesserlich hält" (KpV, V99 (A 178)).
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Dieser Fall thematisiert nicht die Zurechenbarkeit von menschlichen Handlungen überhaupt, sondern den besonderen Fall moralisch böser Handlungen. Er stellt insofern noch eine Verschärfung dar, als Kant einen Menschen wählt, dessen Biographie so beschaffen ist, daß er „von frühester Kindheit an" bösartig ist und bleibt und das, obgleich er unter denselben Erziehungsbedingungen wie andere aufgewachsen ist, bei denen man kein illegales Verhalten beobachten kann. In diesem Fall ist es naheliegend, die Illegalität der Handlungen jenes „Bösewichts" auf einen Naturfehler („Naturbeschaffenheit des Gemüts", KpV, V 100 (A 179)) zu schieben, womit man freilich von der Qualifizierung „Bösewicht" Abstand nehmen müßte. Gleichwohl sagt Kant, daß man, trotz dieser offenbar ungünstigen Voraussetzungen mit Recht, das Verhalten dieser Menschen „eben so richtet, ihnen ihre Verbrechen eben so als Schuld verweiset [...], als ob sie eben so verantwortlich blieben, als jeder andere Mensch". Bei dieser Verurteilung setzen wir voraus, daß unangesehen der besonderen Voraussetzungen und Lebensbedingungen, unter denen jemand aufgewachsen ist, die Handlung, „die aus seiner Willkür entspringt [...], eine freie Kausalität zum Grunde habe". Auch wenn bei einem scheinbar „geborene [n] Bösewicht" sich „wegen der Gleichförmigkeit [seines] Verhaltens ein Naturzusammenhang kenntlich mach[t], der sich „von der frühen Jugend an [...] in [...] Erscheinungen (den Handlungen) ausdrückt", wird durch diesen Naturzusammenhang doch nicht „die arge Beschaffenheit des Willens notwendig |ge]macht". Vielmehr ist diese „arge Beschaffenheit" auch in der zweiten Kritik das Ergebnis einer Inkorporation der sinnlichen Triebfeder in die Maxime und also „die Folge der freiwillig angenommenen bösen und unwandelbaren Grundsätze, welche ihn nur noch um desto verwerflicher und strafwürdiger machen" (ebd.). Wie immer der menschliche Charakter beschaffen sein mag, er wird durch die vorausgehenden Ursachen nicht notwendig gemacht und es stand in der Macht des Subjekts, daß er hätte anders sein können. Doch damit hat Kant die Freiheit des Menschen nur behauptet. Im Unterschied zur Religionsschrifi geht Kant in der zweiten Kritik aber auch noch den entscheidenden Schritt der Rech fertigung. Auch wenn der Schluß vom Sollen aufs Können uns aus praktischer Perspektive unsere absolute Freiheit beivußt macht, ist nicht er es, der letztlich auch die Zurechenbarkeit der bösen Handlung legitimiert. Vielmehr zieht Kant gerade zunächst die Rechtmäßigkeit dieses Schlusses in Zweifel und legt sich selbst kritisch genau jene Frage vor, die in der gegenwärtigen Diskussion von deterministischen Moralskeptikem an Kant herangetragen wird: Wie kann die Beurteilung nach dem moralischen Gesetz daran etwas ändern, daß ζ. B. ein „Diebstahl" das notwendige Ereignis aus vorauslie-
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genden Ursachen war und nicht unterbleiben konnte, [...] und voraussetzen, „daß [er] doch habe unterlassen werden können, weil das Gesetz sagt, [er] hätte unterlassen werden sollen" (KpV, V 95 (A 171), Hervorhebung J. B.). Gegen die Moralskepsis des Prädeterministen reicht allein der Verweis auf den uneingeschränkten Anspruch nicht aus. Kant sieht das und greift deshalb auf die Auflösung der dritten Antinomie und damit auf die zentralen Bausteine seiner theoretischen Philosophie zurück (KpV, V 30 (A 53), 48 ff. (A 83-87), 94-106 (A 169-191)). Dies zeigt sich bereits daran, daß er jene Frage, wie die Beurteilung nach dem Moralgesetz an der Notwendigkeit des Eintretens der Handlung eine Änderung machen könne, mit jener, die der Auflösung der dritten Antinomie zugrunde lag, identifiziert: ,,[W]ie kann derjenige, in demselben Zeitpunkte, in Absicht auf dieselbe Handlung, ganz frei heißen, [...] und in derselben Absicht [...] doch unter einer unvermeidlichen Naturnotwendigkeit stehfen]?" (KpV, V95f. (A 171)). Bevor Kant nun dieses Problem mit einer Kurzfassung der Auflösung der dritten Antinomie aus dem Weg räumt, kritisiert er nun seinerseits die empiristischen Kritiker. Diese Kritik teilt sich in vier Sätze, die von der Art sind, über die Wölmer gesagt hat, daß ihm die Finger fehlten, um den Reichtum an Klammern und Vorbedingtheiten im Auge behalten zu können (Vorländer 31992, S. 99). Doch nirgendwo sonst wie in dieser Kritik arbeitet Kant so klar und deutlich heraus, warum ein „komperativeirj " Freiheitsbegriff genau jenes Problem nicht aufzulösen vermag und nur Freiheit als transzendentaler Begriff die Beweislast tragen kann, daß wir rechtmäßige Adressaten uneingeschränkter moralischer Gesetze sind. Von dieser Kritik werden meist nur die polemischen Höhepunkte, nicht aber die Begründungen zitiert. Alles kommt hier auf die Frage an, warum der komparative Freiheitsbegriff letztlich nur die „Freiheit eines Bratenwenders" ist und wofür er ein „elender Behelf ist. Dem komparativen Freiheitsbegriff zufolge sind Handlungen dann frei, wenn die Ursache der Handlung nicht außen, sondern „innerlich im wirkenden Wesen liegt". Wir können demnach ζ. B. auch einem „geworfenen Körper" Freiheit zusprechen, wenn er während des Fluges nicht von außen abgelenkt wird. Ebenso verhält es sich etwa auch mit einer „Uhr", weil sie „ihren Zeiger selbst treibt", ohne im Moment der Bewegung „äußerlich geschoben" zu werden (KpV, V96 (A 171 f.)). Dasselbe Prinzip der inneren Ursache werde nun vom Empirismus auch für die Handlungen des Menschen geltend gemacht. Auch wenn die Handlungen durch vorausliegende Ursachen notwendig sind, können sie dennoch frei heißen, weil sie auf ,,innere[n] durch unsere eigene[n| Kräfte hervorgebrachte [n] Vorstellungen" beruhen. Wenn diese inneren Vorstellungen nun auf „veranlassende Umstände" oder — wie wir heute sagen
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würden — „Umweltereignisse" treffen, ergibt sich eine „Begierde". Die Handlungen, die aus dieser Kombination von „veranlassenden Umständen" und „inneren Vorstellungen" hervorgehen, dürfen dann schließlich genau deshalb frei genannt werden, weil es „nach unserem eigenen Relieben bewirkte Handlungen" sind (KpV, V 96 (A 172), Hervorhebung]. B.). Diesen komparativen Freiheitsbegriff be2eichnet Kant nun deshalb als einen „elenden Behelf, weil es „bei der Frage nach derjenigen Freiheit, die allen moralischen Gesetzen und einer ihnen gemäßen Zurechnung[(!)]" nicht darauf ankomme, ob die Bestimmungsgründe „im" oder „außerhalb" des Subjekts liegen. Selbst wenn mit „im Subjekt" gemeint sei, daß der Handlungsgrund durch „Vernunft" vorgestellt werde („psychologische Kausalität"), und „außerhalb des Subjekts" bedeute, daß er auf den Instinkt zurückzuführen sei („mechanische Kausalität"), bleibt mit dieser Differenzierung das entscheidende Problem gerade ungelöst: Die Frage, die der Empirist zu beantworten hat, ist vielmehr, ob der Grund des Daseins (Existenz) jener Handlungsgründe auf einen „vorigen Zustand[e]" in der Zeit zurückgeführt werden könne oder nicht. Solange auch die Vernunftvorstellungen „nach dem Geständnisse eben dieser Männer [der Empiristen] selbst, den Grund ihrer Existenz doch in der Zeit [haben] und zwar dem vorigen Zustande", steht das Subjekt immer „unter notwendigmachenden Bedingungen der vergangenen Zeit, die also, wenn das Subjekt handeln soll, nicht mehr in seiner Gewalt sind' (KpV, V 96 (172f.)). Genau dieses Problem, daß „die willkürlichen Handlungen als Begebenheiten ihre bestimmenden Gründe in der vorhergehenden Zeit haben, ist es, das Kant in einer Fußnote, wahrscheinlich mit einem kritischen Blick auf Christian Wilhelm Snells Buch (Snell 1790), in der 'Religionsschrift treffend als das Problem des „Pradeterminismfus]" und nicht etwa „Determinismus" bezeichnet (Rel., VI 49 f . (B 58), Hervorhebung 3 T. J. B.). Mit der Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Ursachen ist also gerade kein absoluter, sondern lediglich ein relativer Freiheitsbegriff gewonnen. Das Vermögen nach inneren Vernunftvorstellungen zu handeln ermöglicht es, daß wir unsere instinktiven Handlungsimpulse zugunsten langfristiger G^ckseligkeitswrf/e//«»^» suspendieren können und demgemäß unser Verhalten ausrichten. Doch allein mit dieser Konzeption der „psychologischen Freiheit" ist nun gerade „kein moralisch Gesetz, keine Zurechnung nach demselben, möglich" (KpV, V 97 (A 173)), weil das Moralgesetz unbedingt, d. h. gänzlich ohne ein vorausgesetztes empirisches Begehren gebietet. Zurechnung nach einem kategorischen Gesetz impliziert insofern das Vermögen, aus reiner und nicht etwa empirischer Vernunft handeln zu können und damit die absolute und nicht etwa relative Freiheit. Wir halten jenen Bösewicht,
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wenn wir ihn in der Erfahrung betrachten, „was die Denkungsari betrifft, für unbesserlich [...]" (KpV, V99 (A 178)). Damit wird gerade nicht bezweifelt, daß er seiner Sinnesart nach durch entsprechend harte Strafen oder Strafandrohungen verbessert werden kann. Konditionierung als Mittel der Verbesserung setzt keinen absoluten Freiheitsbegriff voraus. Der kategorische Anspruch des Moralgesetzes impliziert dagegen nicht empirische, sondern „transzendentale" (absolute) Freiheit, d. i. die „Unabhängigkeit von allem Empirischen" (KpV, V 96f . (A 173), Hervorhebung J. B.). Jene Konzeption der psychologischen Freiheit, wie Kant sie dem Empirismus zuweist, bedeutet lediglich eine Unabhängigkeit von sogenannten „äußeren" Ursachen und nicht etwa auch eine „Unabhängigkeit von allem Empirischen". Vielmehr sind diese „Vernunftvorstellungen" selbst empirisch und unterliegen als solche der Naturnotwendigkeit. Daher ist auch der psychologische Freiheitsbegriff nicht hinreichend für eine Zurechnung nach kategorischen Gesetzen. Selbst wenn man also zugibt, daß es sich bei psychologischen und mechanischen Wirkungen um zwei unterschiedliche Arten von Kausalität handelt, kommen sie doch beide in der hier entscheidenden Hinsicht überein: Ihre Wirkungen können auf der empiristischen Theoriegrundlage nicht absolut frei sein. Deshalb unterscheidet sich in dieser Hinsicht die psychologische Freiheit nicht von der Freiheit einer Maschine, der „Freiheit eines Bratenwenders", wie Kant sagt, „der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet". Aus diesem Grund geht er letztlich soweit, diesbezüglich beide Arten der Kausalität unter den ,JSdechanismus der Natur" zu subsumieren (KpV, V97 (A 173 f.)). Das Problem, das der relative psychologische Freiheitsbegriff nicht zu lösen vermag, ist also kurz gesagt folgendes: Wenn wir ausschließlich der Naturnotwendigkeit unterworfen wären, folgt jede Handlung notwendig aus zeitlich ihr vorausliegenden Ursachen. Nun ist die vergangene Zeit nicht in unserer Gewalt, also ist jede Handlung, die wir vollziehen, durch Ursachen bestimmt, die nicht in unserer Gewalt liegen. Daraus folgt, daß wir zum Zeitpunkt der Handlung nicht frei sind (KpV, V95f. (A 169f.)). Dieses Argument, das bereits Kant in aller Klarheit entwickelt hat, hat in der gegenwärtigen Freiheitsliteratur unter dem Titel „KonsequenzArgument" eine heimliche Renaissance erlebt und ist damit nach wie vor der Ausgangspunkt inkompatibilistischer Freiheitstheorien (Inwagen 1983, S. 16; s. da%u Kane 2002a, S. 9-12). Kant begegnet diesem Problem nicht etwa, indem er seinen Schluß vom uneingeschränkten Sollen des Moralgesetzes auf das Können geltend macht, vielmehr muß man sich dafür „an das erinnern, was in der Kritik der reinen Vernunft gesagt war" (KpV, V 97 (A 174)). Und so löst Kant die Frage, wie die Handlungen des Men-
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sehen sowohl nach einem kategorischen Moralgesetz zugerechnet werden können als auch der Naturnotwendigkeit unterworfen sind, durch den Rekurs auf die dritte Antinomie auf, deren zentralen Ergebnisse er in der zweiten Kritik noch einmal reformuliert hat und die hier in dieser Untersuchung im \weiten Teil detailliert analysiert worden ist. Durch die transzendentale Differenz von Ding an sich und Erscheinung sichert Kant die Möglichkeit, daß dieselbe Handlung widerspruchsfrei als naturkausal determiniert und als das Produkt einer absolut spontanen Ursache gedacht werden kann. Vermutlich liegt der entscheidende Unterschied zwischen der ersten und zweiten Kritik darin, daß Kant in der zweiten Kritik erkennt, daß uns nicht jede Art von Sollensansprüchen einen Grund gibt, uns transzendentale Freiheit zuzusprechen, sondern nur der uneingeschränkte Anspruch des Moralgesetzes (s. da^u Exkurs). Das bedeutet freilich nicht — und hierin liegt wohl das Mißverständnis der Reinhold-Kritik —, daß wir beim Befolgen von hypothetisch-gebietenden Imperativen unsere transzendentale Freiheit ablegen würden. Doch wären wir Wesen, die ausschließlich nach Klugheitsratschlägen und Geschicklichkeitsregeln handeln könnten, wären wir nur Verstandes- und keine Vernunftwesen, hätten wir keinen Grund., uns jenen theoretisch problematischen Begriff einer Kausalität aus absoluter Freiheit zuzuschreiben. Nur insofern wir moralische Wesen sind, erhält dieser theoretisch denkmögliche Begriff objektive Realität. Als moralisches Wesen betrachtet sich das Subjekt „nur als bestimmbar durch Gesetze, die es sich durch Vernunft selbst gibt". Diese Gesetze, daran hat Kant in seinen moralphilosophischen Hauptschriften keinen Zweifel gelassen, sind allein moralische Gesetze (GMS, IV 420 (BA 50), 425 (BA 60); KpV, V §§ 14). „In diesem Betracht nun kann das vernünftige Wesen, von einer jeden gesetzwidrigen Handlung, die es verübt [...] mit Recht sagen, daß er sie hätte unterlassen können". Aus moralischer Perspektive muß die Handlung so betrachtet werden, daß sie „zu einem einzigen Phänomen seines Charakters [gehört], den er sich selbst verschafft, und nach welchem er sich [...] die Kausalität jener Erscheinungen selbst zurechnet" (KpV, V98 (A 175)). Diese Konzeption der Charaktergründung ist die Grundlage für Kants Theorie des radikal Bösen in der Religionsschrift. Dies wird besonders im vierten Abschnitt des ersten Stücks deutlich, in dem Kant dem „Ursprünge des Bösen in der menschlichen Natur" nachgeht. Bei dieser Frage nach dem Ursprung des Bösen sagt Kant ausdrücklich, daß er „anfänglich noch nicht den Hang dazu in Anschlag bring[t]". Er beginnt vielmehr mit dem ,,wirkliche[n] Bösen gegebener Handlungen" und fragt von dort „nach seiner inner[e]n Möglichkeit" (Rel., VI 40 β 42)). Wenn Kant nun fest-
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stellt, das dem Menschen als Gattung „so, wie wir ihn aus der Erfahrung kennen", ein Hang zum Bösen zukommt, ändert das gerade nichts daran, daß „jede böse Handlung [...], wenn man den Vernunftursprung derselben sucht, so betrachtet werden [muß], als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie geraten wäre". Denn — so lautet Kants einhellige Begründung seit der ersten Kritik — wie auch immer das Verhalten eines Menschen vor einer anstehenden Handlung gewesen sein mag, „so ist seine Handlung doch frei, und durch keine dieser Ursachen bestimmt, kann also und muß immer als ursprünglicher Gebrauch seiner Willkür beurteilt werden" (Rel, VI 41 β 42)). Auf der individuellen Ebene greift Kant in der Religionsschrift erneut auf das verschärfte Beispiel eines Menschen zurück, von dem er nun sagt, daß er in seinem Leben „bis zur Gewohnheit als anderer Natur" böse gewesen ist. Und ebenso wie in den ersten beiden Kritiken läßt Kant auch die Gewohnheit nicht etwa als Entschuldigungsgrund der bösen Handlung gelten. Auch für diesen, wie Kant in der KpV sagt, „geborenen Bösewicht" gilt: „Er sollte sie [die böse Handlung] unterlassen haben, in welchen Zeitumständen und Verbindungen er auch immer gewesen sein mag." Und auch hier schließt Kant davon, daß es seine Pflicht gewesen sei, „sich zu bessern" darauf, daß er „es also auch können [muß]" (Hervorhebung J. B.). Dieser Mensch ist „der Zurechnung in dem Augenblick der Handlung eben so fähig und unterworfen, als ob er, mit der natürlichen Anlage zum Guten [...] begabt aus dem Stande der Unschuld zum Bösen übergeschritten wäre" (Rel., VI 41 (B 43)). Weder ist die gesamte Gattung noch sind einzelne Individuen aufgrund ihres Hanges zum Bösen von der gebotenen Gesinnungsrevolution dispensiert. Seit der Grundlegung weiß Kant, daß nur der Sollensanspruch des Moralgesetzes die absolute Freiheit des Menschen voraussetzt. Das bedeutet freilich nicht, daß wir, nur wenn wir aktual das moralisch Gute wollen, auch absolut frei sind. Die Theorie vom Vernunftfaktum zeigt, daß wir als Vernunftwesen ein unmittelbares Wissen unserer moralischen Verpflichtung haben. Der sich daran anschließende Schluß vom Sollen aufs Können ist aus Vernunftperspektive trivial (s. da^u Kap. 3c). Von ihm macht Kant in der Religionsschrift mehrfach Gebrauch, und selbst die These, daß „der Begriff der Freiheit der Willkür nicht vor dem Bewußtsein des moralischen Gesetzes in uns vorhergehe", die er bereits in der zweiten Kritik vertreten hatte (KpV, V 4 (A 5), 29 f . (A 53); j·. da^u Kap. 3b), wird nicht nur wiederholt, sondern auch mit einem strukturanalogen Beispiel begründet (Rel., VI 49 Β (58); vgl. auch MS/TL, VI 380 (A 2 f.), 483 (A 173 f.)). Doch darüber, ob dieser absolute Begriff der Freiheit zusammen mit der Naturnotwendigkeit logisch denkmöglich ist, kann nicht
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moralisch-praktische Vernunft entscheiden. Gegen die Moralskepsis der „Prädeterministen", daß Vernunft uns Vorschriften macht, denen wir in einer prädeterminierten Welt nicht entsprechen können, muß Kant auch in der Religionsschriß die Ergebnisse der dritten Antinomie vorausset2en. Wer glaubt, Kant würde mit seiner „Inkorporationsthese" einen neuen positiven Freiheitsbegriff einführen, begibt sich nicht nur entwicklungsgeschichtlich ins Unrecht (KrV, Β 562; GMS, IV457f. (BA 118); KpV, V 60 (A 105), 82 (A 147), 100 (A 179)), sondern, was weit gravierender ist, ihm entgeht gerade Kants Argument dafür, warum die freie Wahl einer Maxime prinzipiell nicht als Definitionsgrund der Freiheit als absolutem Vermögen dienen kann (s. da^u Kap. 8c). Die Religionsschrift stellt insofern keinen originellen Beitrag zu Kants Freiheitstheorie dar. Sie setzt vielmehr die Freiheitstheorie der ersten beiden Kritiken voraus. Auf dieser Grundlage entwickelt sie nicht nur eine Theorie der moralischen Natur des Menschen, sondern auch eine Theorie davon, wie diese Natur durch eine „Revolution der Gesinnung" und Begründung eines Gottesstaates im Sinne einer Gemeinschaft unter Tugendgesetzen überwogen werden kann. Man hat den Verlust des Bösen als moralphilosophische Kategorie beklagt und darüber hinaus auch noch jede Freiheitstheorie als „unzureichend" bezeichnet, die das Böse nicht thematisiert, weil das Böse „als Möglichkeit [...] zum Kern der Freiheit [gehöre]". Dieser Verlust des Bösen in der philosophischen Diskussion beruhe nicht etwa auf guten Argumenten, sondern auf einer bloßen „Gedankenlosigkeit", weshalb eine „Wiedergewinnung" dieses Themas dringend geboten sei ( H ö f f e 2001,
S. 94; ders. 1995, S. 25). Nicht jeder Freiheitstheoretiker würde dem zustimmen. Sowohl harte Deterministen als auch Kompatibüisten würden mit Spinoza und Nietzsche den Begriff des Bösen für gegenstandslos erklären und der absoluten Differenz von Gut und Böse die relative von Gut und Schlecht entgegensetzen (Spinoza 1677, S. E1 App., E4 Praef., D1, 2; Nietzsche 1883, S. 61, 74, 78; ders., 1886, S. 107, 122 f.; ders., 1887, S. 261 f . , 274). Der Verlust des Bösen als moralische Kategorie hat seinen systematischen Grund in der allgemeinen Skepsis an einem absoluten Freiheitsbegriff. Kant hat uns in aller Deutlichkeit gezeigt, daß das unmittelbare Bewußtsein uneingeschränkter moralischer Verpflichtung allein für die rechtmäßige Inanspruchnahme des moralisch Bösen nicht ausreicht. Wir müssen zusätzlich gegen jene Skeptiker auch noch die Denkmöglichkeit einer Kausalität aus Freiheit sichern. Die Voraussetzung für die Wiedergewinnung des „Bösen" als moralphilosophische Kategorie ist daher die Wiedergewinnung eines absoluten Freiheitsbegriffes. Auch dies können wir von Kant lernen.
Bibliographie Die Kritik der reinen Vernunft wird nach der Paginierung der zweiten Auflage zitiert (KrV, Β 310 = Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage, S. 310). Wird nur die erste Auflage angegeben, ist der zitierte Passus in der Form nicht in die zweite Auflage übernommen worden. Bei allen anderen Texten wird (wie üblich) die Seiten^ählung der Akademie-Ausgabe zugrunde gelegt. Dahinter steht jeweils in Klammern die Seitenzahl der Originalausgabe. Ζ. B.: KpV V, 48 (A 83 f.) = Kritik der praktischen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Bd. 5, Seite 48 (Originalausgabe, S. 83 f.). Die Tkv/grundlage bei nahezu allen veröffentlichten und unveröffentlichten Werken Kants ist die Edition von Wilhelm Weischedel. Das gilt auch für die Zitierung der Metaphysik der Sitten, obgleich die Tzxtiwrdnung, so wie sie in der Neuausgabe von Bernd Ludwig umgestaltet worden ist, prinzipiell unterstützt und empfohlen wird. Allein der Grundlegung %ur Metaphysik der Sitten liegt der Text in der von Karl Vorländer besorgten Ausgabe zugrunde. Der Briefwechsel wird nach der Ausgabe von Otto Schöndörfer und Rudolf Malter zitiert. Für die sogenannten Reflexionen und beinahe alle Vorlesungsnachschriften war die Textgestaltung der Akademie-Ausgabe maßgebend. Ausgenommen ist eine Vorlesung über Ethik, die auf der Grundlage von Vorlesungsnachschriften, die ζ. T. auch in der Akademie-Ausgabe enthalten, ζ. T. aber auch nicht mehr erhalten sind, zunächst von Paul Menzer erstellt worden ist und hier in der überarbeiteten Fassung von Gerd Gerhardt zitiert wird.
Abkür2ungen ApH De Mundi Eberhard Ethik Fortschritte
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht De mundi sensibilis atque inteUigibilis forma et principiis Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere Entbehrlich gemacht werden soll. Eine Vorlesung über Ethik Über die von der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1791 ausgesetzte Preisfrage: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolfs Zeiten in Deutschland gemacht hat?
288 Gemeinspruch GMS KpV KrV KU Logik Logik Philippi MAN MS/E MS/RL MS-Vorarbeiten MS/TL Nova Päd. PrPh-Powalski Prol. Rel. Schulz Theodizee MS-Vigilantius
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Personenregister AL-AZM, Sadik J. 105, 106Fn, 109Fn
DESCARTES, Rene 6
ALLISON, H e n r y Ε . X I , X I I I , 7 , 1 8 , 27,
DLMKER, Hennig 94, 98Fn, 101 f., 104, 109 DORSCHEL, Andreas 44Fn, 229
59, 77Fn, 91Fn, 104, 106,122Fn, 130,133,135,141Fn, 153,173,188, 202, 204, 239, 241 ff., 266, 271, 273, 276 ARENDT, Hanna 30
AYER, Alfred Jules 8 AQVIST, L e n n a r t 8 8 ARNOLDT, E m i l 189
BARNES, Jonathan 4
EBBINGHAUS, Julius 44 f.
ERHARD, Johann Benjamin 246, ERTL, Wolfgang 144, 148Fn, 155, 172 199Fn FALKENBURG, Brigitte XIII, 106,121Fn, 125Fn
BARTUSCHAT, Wolfgang XII, 214Fn BAUMGARTEN, Alexander Gottlieb 188 ff. BECK, Lewis White 20, 52, 59, 61Fn, 68, 78 f.Fn, 153 ff., 161, 172, 177, 201, 239, 241, 243Fn, 266 BENNETT, Jonathan 93, 98Fn, 100Fn, 106,119,154,161
FLGAL, G ü n t e r 152
BERLIN, Isaiah 17
GARVE, C h r i s t i a n 186
BLERI, P e t e r 6, 9, 11, 108 f.Fn
GEISMANN, Georg 44 f.Fn GENOVA, A. C. 226Fn
BIITNER, Rüdiger 37 f.Fn BRAMHALL, John 6
BRANDT, Reinhard 18, 172, 205 f.Fn., 216Fn, 220 BRANDT, Richard 54Fn BRUCKER, Jacob 106
BUCHDAHL, Gerd 153,177
FÖRSTER, Eckart 186 FRANKFURT, Harry G. 6, 9 , 1 1 FREUD, Sigmund 69 FRIEDMAN, Michael 153
FUNKE, Gerhard 196Fn GALVIN, Richard 54Fn
GENSLER, Harry 88Fn GERHARDT, Volker 103Fn, 229 GLNET, C a r l 5
GOETHE, Johann Wolfgang 185 GOWANS, Christopher 88Fn GRÜNEWALD, Bernward 59, 195Fn, 226Fn
CARNOIS, B e r n a r d 27, 2 4 1 , 2 4 3
GUEROULT, M a t i a l 193, 199, 2 0 3
CHIPMAN, Lauchlan 130Fn
GUNKEL, Andreas 27, 78Fn, 94, 103Fn, 119, 121, 128 GUYER, Paul 128,148
CHISHOLM, R o d e r i c k 6
CLARKE, Samuel 105 f. CRAMER, Konrad 63 D'HOLBACH, Henry Th. 5
DAVIDSON, Donald 6,21,172 DAWKINS, R i c h a r d 1
DENNETT, Daniel 6,9,108Fn, 128
HARTENSTEIN, Gustav 80,167 HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich 18, 101, 128, 214Fn HEIDEGGER, Martin 185Fn, 200Fn HEIMSOETH, H e i n z 100
Personenregister
306
HELD, Carsten XII, 89Fn, 128 f. HENRICH, Dieter 18, 59,154,167,170, 185£, 188, 208, 215 f.
LUDWIG, Bernd XIII, 39 f., 57 f.Fn, 246 f.Fn, 287
HLNSKE, N o r b e r t 19, 1 9 1 F n HOBBES, T h o m a s 6
ΜΑΙΜΟΝ, Salomon 245 MARCUS, Ruth Barcan 88 MARX, Karl 69 MEERBOTE, Ralf 7,15,18,172,175 MLCHALSON, Gordon Elliot 271, 274 MILL, John Stuart 6 MOORE, George Edward 30
HÖFFE, Otfried XII, 38Fn, 40, 44Fn, 63, 119,121,122Fn, 150,195Fn, 203Fn, 272 f., 286 HOME, H e n r y 1
HONDERICH, Ted 1, 5 , 1 5 , 1 2 8
HOPPE, Hansgeorg 160Fn HORN, Christoph 7, 15 HORSTMANN, Rolf-Peter 7,15,108Fn HORTY, John 88 HOSPERS, John 1, 5 HOSSENFELDER, M a l t e 5 9
HUDSON, Hud 7 , 1 5 , 1 8 , 2 7 , 1 7 2 , 1 7 5 ,
241, 243 HUFNAGEL, Erwin 31
HUME, David 6, 9,102,106,159 f.
MUNZEL, Felicitas G. 31
NIETZSCHE, Friedrich 13, 69,286 Daniel 271 ORTWEIN, Birger 27,104Fn, l l l F n , 145 O'CONNER,
PLSTORIUS, Hermann Andreas 157, 159, 178Fn PLATON 6 , 1 0 6
IRRLITZ, G e r d 188
POGGE, Thomas 133,142 PRAUSS, Gerold XII, 32Fn, 58, 64, 71, 129, 130, 133,138, 215Fn, 229, 232, 244, 258, 262, 277
JACOBI, Friedrich Heinrich 128
PRIESTLEY, Joseph 1 PUTNAM, Hilary 1
ILTING, Karl-Heinz 59, 64Fn I N W A G E N , Peter van 200, 283
JAKOBS, G ü n t h e r 4 5 JAMES, W i l l i a m 5
RANG, Bernhard 229 RECKI, Birgit 185Fn, 205Fn
KAEHLER, Klaus Erich 178 KANE, Robert 6, 11,283
REIBENSCHUH, G 59
KAWAMURA, K a t s u t o s h i 19, 185
REINHOLD, Karl Leonard 18, 25, 229240, 242-248, 259-262, 284
KLEMME, Heiner F. XIII, 277 f. KOCH, Anton Friedrich 150 KÖHL, Harald 38Fn KONHARDT, K l a u s 2 2 9 KÖRNER, S t e p h a n 2 2 9
KRAFT, Bernd 94, 98Fn, 101 f., 104,109, 186, 214 Fn
REICH, Klaus 186
RößLER, Beate 11
ROHS, Peter 214 ROTH, G e r h a r d 1, 11, 15 RÖTTGES, H e i n z 1 2 2
ROXIN, Claus 2, 44 f. SAKA, P a u l 8 8 f . F n
LA METTRIE, Jullien Offray de 5 LEHMANN, Gerhard 19, 62
SAPONTZIS, Steve 88Fn SARTRE, Jean Paul 6
LEIBNIZ, Gottfried Wilhelm 266
SCARANO, Nico XII, 52
LLBET, B e n j a m i n 15
SCHILLING, Christof 37Fn SCHUCK, Moritz 3, 6,129Fn SCHMID, Carl Christian Erhard 232, 235, 237, 247
LOCKE, John 6,30,61 LONGUENESSE, Beatrice 74Fn, 122Fn LOVEJOY, Arthur O. 145,153 Low, Reinhard 214Fn
Personenregister
307
SCHMITZ, Hermann 128, 188, 190, 205Fn, 229, 279 SCHMUCKER, Josef 99,185 f. SCHÖNECKER, Dieter XIII, 94,98Fn, 101 f., 104,109, 186Fn, 208, 212, 215 ff., 218 f., 225Fn, 227Fn, 229 SCHOPENHAUER, Arthur 18, 98Fn, llOFn SCHULZ, Eberhard Günter 178, 233 SCHULZ, Johann Heinrich 1 f., 9, 13, 199, 216 f., 227 SCHWAIGER, Clemens 19,185,190Fn
TIMMERMANN,Jens 162
SCHWITZER, Albert 193
SILBER, John 128, 214Fn, 229 SINGER, Wolf 1 SNELL, Christian Wilhelm 282 SPINOZA, Bendictus de 6,13, 286
WAGNER, Friedrich 106 f. WALTER, Henrik 1, 3 , 1 2 8 WLLLASCHEK, Marcus XI, XIII, 27, 32, 59, 62, 135,139Fn, 239, 241, 243, 270 WIMMER, Reiner 119,128 f., 273 WOLM', Robert Paul 229
STEINVORTH, U l r i c h X I I I , 2 2 9 , 2 5 9
WOOD, A l l e n W . 7
SEEL, G e r h a r d 3 9 SIOGWICK, H e n r y 2 2 9
STEKELER-WEITHOI;ER, P i r m i n 3 1 F n
STRAWSON, Peter F. 6, 44Fn, 93, 98Fn, 100
Fn, 1 2 1 f., 1 2 8 , 1 4 5 , 1 5 3
SULLIVAN, Roger J . 229
TLMMONS, M a r k 271, 276 TRETTER, Friedrich 45 TUGENDHAT, Ernst 12
ULRICH, Johann August Heinrich 231 f., 237, 247 VAN FRAASSEN, B a s 8 8
VON WRIGHT, Georg Henrik 88 VORLÄNDER, Karl 281
ZIMMERMANN, Michael 88
Sachregister Achtung 11, 34, 46, 49-55, 193, 205 f., 271 ff. Analytisch 57 f., 65, 75 - -es Postulat 115, 119 Anlage zum Guten 268, 271 f., 277, 285 Anschauung 69, 95, 105, 114 - intellektuelle - (s. a. göttliche Vernunft) 115,131,134,157, 161,180 - sinnliche - 34, 66 f., 82, 98, 118, 131-140,142,148,150,155, 157 f., 160,173 f., 184, 256 Anschauungsformen (s. a. Raum, Zeit) 83,124,130,132,146,155 f. Anthropologie 10, 45,178 f., 270, 275 Antinomie 13, 116 - dritte - 14, 117, 120 f., 125, 142 f., 181 ff., 204, 213 f., 224 - dynamische/mathematische 113, 121-126 Apperzeption 154, 167-170 Astronomie 2, 15, 75 f., 172, 175 Autonomie (s. Freiheit als Autonomie) Bestimmen (,deftnitio) 74-77, 137, 139, 159 146,171 Bewegungsgrund (motivum) 50 ff. Begriffe - empirische - 81 f. - Verstandes-13, 61, 81 f., 95,115, 120,122 f., 134,136 ff. - Vernunft- (Ideen) 67, 81, 83, 96, 123 f. Bewußtseinsgrund (s. ratio cognoscendi) Böse 13, 44, 46, 81, 229 f., 235, 240, 251 f., 254, 257-264, 277, 285 - radikal - 265-269, 277, 279, 284 ff. - Hang zum -en 269-272, 275 f.
Causa noumenon (s. a. Freiheit als Erstursächlichkeit, theoretische Freiheit) 128,130,158 f., 161 Charakter 163 f. 171, 179, 181, 271, 276, 284 Deduktion - der Freiheit (s. Freiheit) - des Moralgesetzes 58-61, 68 ff., 78 f., 83 - transzendentale - 60 f. 66 f., Denkungsart 171, 276 ff. Determinismus (Prädeterminismus) 5 ff., 13, 56, 200, 203 f , 213, 227, 232, 237, 282 - harter - 5 - inkompatibilistischer - 5 - kompatibilistischer - 5 - metaphysischer - 2, 6, 16 - Natur- (s. a. psychologischer -) 1 f., 6, 15 f., 184 - psychologischer - 144 f., 171-177 - weicher - 5 Dialektik 117 f. - dialektisches Argument 97, 114 - dialektische Opposition 117 Ding an sich (s. a. Erscheinung, Noumenon, Phaenomenon, transzendendentale Differenz) - in empirischer Bedeutung 132 f., - in transzendentaler Bedeutung 129,132,155 f. - in transzendenter Bedeutung 127, 130 - Verhältnis zur Erscheinung 130, 141 Dogmatismus (s. a. Empirismus, Rationalismus) 27, 91 f., 98 f., 105 ff., 112
310
Sachregister
Endlichkeit - theoretische - 16, 24, 67, 92, 113, 115,127,130 ff, 135 f., 138 f., 204, 222, 228, 255, 258 - praktische - 24 Eigendünkel 54 Empirismus (s. a. Dogmatismus) 93, 106,108, 279, 281 f. Ens rationis 105, 126, 140 Ens realis 140 Ens extramundanum (s. a. Gott) 14, 142 f. Erfahrung 68, 82,104, 147 ff., 152,196 Erkenntnis - Einheit der 83 - -grund (s. ratio cognoscendi) - theoretische - 34, 64-67, 69, 83, 131, 209, 226 - praktische - 34, 59 f., 64 ff., 69, 73, 207, 209, 226, 252 Erkenntnisvermögen (s. a. Anschauung, Vernunft, Verstand) 130 f., 194 Erhabenheit 54 Erscheinung (s. a. Ding an sich, Noumenon, Phaenomenon, transzendentale Differenz) 96, 113 ff., 124 f., 127,136 ff. 141, 146 f., 150-161, 165 ff., 181 f., 222, 258 - als Handlung 84,183, 280 - als Bedingtes 117 f., 119, 177 - als Phaenomenon 139 - als Teilklasse der Gegenstände überhaupt 14, 184 - als Wirkung 14, 164, 168, 171 f., 176 f., 183 - Definition von - 135 - im empirischen Sinne 132 - Verhältnis zum Ding an sich 130, 141 - versus Handlungsgrund Faktum der Vernunft 58-70, 73, 79, 204, 252, 256 Freiheit - als absolute - (a. - als Erstursächlichkeit, transzendentale -) 5-17, 28 ff., 33, 35, 37, 43 f., 56, 71-73, 76 f., 83, 85-90, 93,107,
-
-
-
109 f., 165 f., 181, 201, 210, 228, 249 f., 255, 258, 261, 282-286 als Autokratie (innere -) 9 f. als Autonomie 37 f., 44 f., 191, 206, 230, 241-244, 247, 261 f. als bedingte - (s. a. relative -) 9 als Entscheidungsfreiheit (s. a. Wahl-) 237 f., 240 als Erstursächlichkeit (s. a. theoretische -, transzendentale -) 14 ff., 21,93, 97 f., 106,111,120,142 ff., 196, 244, 261 f. als Handlungsfreiheit (s. a. relative -) 29 ff. als Illusion 202, 213 als Indifferenzfreiheit 237, 245 als innere - (s. - als Autokratie) als komparative - (s. a. relative, bedingte, psychologische -) 281 als negative - 72, 237 ff., 241, 249, 255, 258, 261 als positive - 72, 237 ff., 241, 254 f., 259 als praktische - (s. a. Autonomie) 21,27,185, 261 als praktische - (in KrV) 193-198, 198-208 als psychologische - (s. bedingte, relative -) als regulative Idee 84 f., 142, 158, 163, 167 f., 170 f., 177 f., 179, 184, 213 ff., 224, 284 als relative - (s. a. bedingte -, - des Bratenwenders) 5-17, 28 f., 33, 43 f., 56, 77, 145, 180 f., 197 f., 207, 234, 255, 283 als Tatsache 227 als theoretische - (s. a - als Erstursächlichkeit) 27 f., 53, 56, 71 als transzendentale - (a. absolute -, theoretische -, Erstursächlichkeit) 102-109 als Wahlfreiheit (s. a. Entscheidungsfreiheit) 11, 30, 56, 86-90, 240 als Willensfreiheit 1, 29 ff., 43
Sachregister
- Deduktion der - 78 ff., 206-212, 227 - Definition der - 30, 37, 254-260 - des Bratenwenders (a. relative -, bedingte -) 164 f., 234, 252 f., 283 - epistemischer Status der - 60, 85, 79,158,192, 209, 224, 227, 258, - zu denken 154, 167 f., 170, 215 f., 218 - z u handeln 155, 215 f., 218 - zu wollen 167 f., 170 Gesinnung (oberste Maxime) 264, 267 f., 274-277, 285 f. Gefühle 194 Geometrie 131 Gesetze - a priori 148 - astronomische - (s. a. physikali sehe Gesetze) 15 - der Kausalität (s. Kausalität) - empirische - (s. a. physikalische, psychologische Gesetze) 8, 145, 148 pragmatische - (s. a. Regeln der Geschicklichkeit, Ratschläge der Klugheit) 8, 197 f., 204 f. - (reine) praktische - (s. a. kategorischer Imperativ) 8, 31, 42, 57, 197 f., 212 f., 215, 250 f., 259, 284 - physikalische - (s. a. astronomische Gesetze) 175 f. - positive - 12 - prognostische - 15, 175 ff. - psychologische - 155, 171 ff., 175 f., 183 Glaube 127, 192 Glückseligkeit 36, 41, 68, 76 f. Göttliche Vernunft (s. Vernunft, intellektuelle Anschauung Gott 84,120,142, 205 Gottesstaat 278, 286 Grundsätze der Vernunft (s. a. - der Y^ausalitäi) 66-69, 118 - dynamische/mathematische 146 f. Handeln 34,103,177,180, 242, 262
311
Handlungsfreiheit (s. Freiheit) Handlungsspielraum 10, 33 Hang 269 f. Hang zum Bösen (s. Böse) Herzenskündiger 180 Heteronomie 37 ff., 45, 207, 222 Hypothetischer Imperativ 36, 39-42, 45, 57 f., 70, 88 f., 198, 211,250 - und relative Freiheit 28, 43, 87 f., 204, 284 Idee (s. Begriffe) Identitätsthese (Reziprozitätsthese) 229 f., 237 f., 247 ff., 254 Imperativ (s. a. kategorischer, hypothetischer-) 169,197, 210 f., 219, 221 - Rechts- 44,107 Imputation (s. Zurechnung) Indefiniter Regreß (s. Regreß) Indifferentismus 265 f., 269 Indeterminismus 8, 16 Infiniter Regreß (s. Regreß) Inkompatibilismus 4-16, 283 - Kants - 15 f., 165 Inkorporationsthese 239, 241, 266, 278, 280, 286 Innerer Sinn 173 Intellektuelle Anschauung (s. Anschauung) Kategorien des Verstandes - als Formen des Denkens 137, 139 Anwendung auf Übersinnliches 128,130,134 ff., 138 f., 157 f., 160, - Deduktion der - 60, 83 - dynamische/mathematische 123 f. - Totalisierung der - 95 ff., 122 - Ursprung der - 134 Kategorischer Imperativ (kategorische Verpflichtung, Moralgesetz, s. a. praktische Gesetze) 11, 28 f., 35 ff., 39, 42 ff., 55-59, 61, 67, 70 f., 73, 76-79, 86, 211,223 - Beurteilung nach dem kategorischen Imperativ 180
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Sachregister
- Geltung des kategorischen Imperativs 213, 215, 218, 224 - in der ersten Kritik 191, 197 - Deduktion des kategorischen Imperativs 208, 211, 220, 223, 225 f. Kausalität 37, 99-105,109 f., 160,168 - Gesetze der - (s. a. Gesetze) 99, 172 - Grundsatz der - weite Analogie) 13-16, 93, 95,120,125,144-154. 157,166 f., 172,176,183 - Kategorie der - (s. a. Kategorien des Verstandes) 96 f., 128, 157 f., 160 Kompatibilismus (s. a. relative Freiheit), 4-16, 23, 25, 28 ff, 91, 286 - Kants - 15 f , 94,145,156, 165 Konsequenzargument 200, 283 Kontingenz 11, 37 Kopernikanische Wende 45 Kraft 152 Kritische Differenz (s. transzendentalphilosophische Differenz) Legalität 45, 46, 47 f , 51, 205, 273, 275 Libertarier (s. a. absolute Freiheit) 5 Logik -Aristotelische -121 - deontische - 88 - der Wahrheit 95 - d e s Scheins 13, 92, 95 - in der zweiten Kritik 55 Lüge 87,178,180 f , 276, Lustprinzip 33 f , 36, Maxime 249, 262, 267, 272 - Widersprüchlichkeit der - 48 f , 63 f. - Moralisch gute - 49 f. Metaphysik - Freiheit als Grundthema der - 3, 199, 258 - transzendente - 128 - Totalitäts- 29 Monismus 172, 176 Moralität (s. a. Handlung aus Pflicht) 37, 47 f , 51, 205, 273, 275
Motiv (s. Bewegungsgrund) Naturgesetze 99 f , 109, 112, 125, 144 f , 164 f , 167,172,176, 200, 222, 236 Neurobiologie 1,15 Nichts (Tafel des) 139-142 Nihil negativum 105, 140 Normativität 38-42, 57, 88,162,169, 197, 211,216 Notwendigkeit - apodiktische - 147 - modale - 150 - objektive - 42 - praktische - 8, 72, 250 - physische - 250, 283 - relationale - 150, 153 - subjektive - 41 - theoretische - 8 Noumeno» - als ens rationis 139 f. - als Grenzbegriff (s. a. - in negativer Bedeutung) 92, 127, 130 - als unbekanntes Etwas 139 f. - in negativer Bedeutung (s. a. als Grenzbegriff) 24, 85, 113, 126 f , 135 ff, 139-142,155,167 - in positiver Bedeutung 135, 137 f , 141 - intellegibler Charakter als - 165 Objektive Realität 163 - in praktischer Hinsicht 60, 71, 78 f , 81, 85 f , 108, 161, 186, 204, 207 f , 210, 227, 244, 248, 262, 284 - in theoretischer Hinsicht 27, 60, 65 ff, 69, 81 ff, 134 f , 159 f , 182 f , 255 Patchwork-Theory 193, 299 ff. Persönlichkeit 11 Pflicht 45, 195 - Handlung aus - 45 ff, 86, 205, 213 - -mäßige Handlung 46 ff, 205 - -widrig 47
Sachregister
Vhaenomenon 135, 138 f. Prädeterminismus (s. Determinismus) Praxis 38-43, 59, 216 Psychologie - empirische - 1, 35, 55, 162, 172175,183,195,199 - rationale - 55 - Moral- 46, 52 Quadrat der logischen Gegensätze 88, 116, 126 Ratio essendi (Seinsgrund) 71 f., 77, 207 f. Ratio cognoscendi (Bewußtsseinsgrund, Erkenntnisgrund) 71 ff., 76 f., 207 f. Rationalismus (s. a. Dogmatismus) 105 f. Ratschläge der Klugheit (s. a. pragmatische Gesetze) 10, 33, 35 ff., 41,43, 68, 73,198, 241, 248, 253, 284 Raum (s. a. Anschauungsformen) 124, 131 Rechtsimperativ (s. Imperativ) Regeln der Geschicklichkeit (a. pragmatische Gesetze) 10, 33, 35 ff., 41, 43, 68, 73,198, 241,248, 253, 284 Regreß -indefiniter - 98,113,119,181 f. -infiniter - 98, 113, 115, 119, 181 f. Regulativ 14, 34 f., 66 f., 83 ff., 88, 114, 118-121, 130,142 f, 148, 158, 161, 170, 176,178 f. 182 f., 192,197, 206, 221 f., 224, 234, 250, 265, 278 Rekonstruktionsprinzipien für Kants Freiheitstheorie 3 f., 17-22, 128, 187-191 Revolution 277 f. Reziprozitätsthese (s. Identitätsthese) Rigorismus 265 f., 269 Satz vom zureichenden (bestimmenden) Grund 74 ff. Schuld 180 Seinsgrund (s. ratio essendi)
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Selbstliebe 46, 48, 54, 70 Selbstsucht 54 Selbstbilligung 54 Selbstzufriedenheit 55 Sinnesart 171, 277 Skepsis (prädeterministische -, prädeterministische Moral-) 13, 23, 71, 93,112, 122,128,184, 202, 210, 219, 227, 257, 276, 280 f., 284 ff. - H u m e s 159 f. Skeptische Methode 94 Sollen (s. Normativität) Soziobiologie 1 Spontaneität (s. a. theoretische Freiheit) 168 - absolute - 24, 90, 92 f. 102,107, 217, 221, 223, 234 f, 240, 244, 255, 261 - der Vernunft 168 - d e r Willkür 241-244, 261 - des Verstandes 168 - Grenzen der - 277 - reine - 223 - relative - 102, 107, 234, 255 - theoretische - 27, 67, 208 f., 212, 217, 221, 261 - und Autonomie 241-244, 261 Strafe 12, 44, 51, 282 f. Strafrecht 1 f., 44 Suspensionsfahigkeit 33, 45, 282 Synkretismus 265 f. Synthetisch 57 f., 65, 75 f. - -e Sätze a priori 56-60, 66, 68 Teleologie 84, 214 Temperament 179, Theorie 59, 216 Tiere 207, 221, 261 Totalität 29, 83, 97, 101, 112, 117 f., 119 f., 124,166,183 Totalitätsmetaphysik (s. Metaphysik) Transzendentalphilosophische Differenz s. a. Ding an sich, Erscheinung, Noumenon, Phaenomenon) 14, 105, 132,167,183, 204, 212, 220, 284 Triebfeder {elater animt) 30, 34, 45 ff., 49-55,194, 205 f.
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Sachregister
Transzendentalerldealismus 127, 163, 224 Transzendentalphilosophie 195 Unbedingtes 97, 110 f., 113, 115, 118, 182 Universalismus 29, 36 f., 43, 63 Unsterblichkeit 3, 108, 142, 192, 194, 196, 205 Unterlassung 181, 248 Ursache 163, 168, 182, 221, 242 Verantwortung (s. Zurechenbarkeit) Vernunft 34, 118, 169, 215 f. - begriff (s. Begriffe) - göttliche - (s.a. intellektuelle Anschauung) 62, 131 - praktische - 34 f., 37, 66, 162, 169 ff., 213, 215 f., 217, 250 f. - theoretische - 34, 66, 169. 216 f. Vernunftinteresse 107 f. Vernunftschluß 95 f., 114 Verstand 65, 67, 116, 130 f., 134-139, 151, 167, 169, 217 - gemeiner 220 - in praktischer Anwendung 33 ff., 36, 41, 63, 88, 238, 253, 265 Verhältnis zur Vernunft 95, 118 Wahrnehmug 118, 146-153, 171 Wahrscheinlichkeit 15, 175 ff., Willkür 32, 171 f., 175 f., 194,196, 247 f., 266, 268, 270, 278, 285 - bei Reinhold 238 f. - Definition der freien - 257-262 - Verhältnis zum Willen 240-245, 261 f. Wille (Begehrungsvermögen, s. a. Willkür) 11, 32-37, 46, 55, 57, 70, 73,160,194,196, 217, 249 ff., 260
- als Kausalvermögen 30, 32, 162, 164 - als intentionales Vermögen 32 - als legislative Instanz 240 ff., 247 - als Wahlvermögen 30 - eigentlicher - 70, 211, 226 - freier -72 - heiliger - 38, 46, 210, 226 - tierischer - 33, 35, 196, 260 - Verhältnis zur Willkür 240-245, 261 f. - widersprüchlicher - 40 Willensfreiheit (s. Freiheit) Wissenschaft 173 f. Wunsch 32 f. Zeit (s. a. Anschauungsformen) 124, 131 f., 149 f. Zirkel - in der Antithese der dritten Antinomie 104 - in der These der dritten Antinomie 101 f. - in GMS III 219 f., 222 Zufall 7, 12, 16, 102, 109, 234 f. Zurechenbarkeit (Verantwortung) 1 , 7 , 9 , 29, 44,106 f., 109, 172, 177, 180 f., 229 f., 233 f., 237, 243, 249, 254, 256 f , 261-264, 267, 278 ff., 282, 285 Zweckrationalität 36, 38-44, 63 Zweite Analogie (s. Kausalität) Zwei-Welten-Theorie (s. a. Ding an sich, Erscheinung, Noumenon, Pbaemenon) 7, 14, 113, 129, 142, 155