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German Pages 430 [442] Year 1996
KANT-FORSCHUNGEN VII
KANT-FORSCHUNGEN Herausgegeben von Reinhard Brandt und Werner Stark
Band 7
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
HEINER F. KLEMME
Kants Philosophie des Subjekts Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Verhältnis von Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
F E LI X M EI N E R V E R L AG
Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprüng lichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. isbn 978-3-7873-1294-8 ISBN eBook: 978-3-7873-2543-6
© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1996. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de
VORWORT
Das vorliegende Buch stellt die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die im November 1995 vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philosophie der Philipps-Universität Marburg angenommen worden ist. Die Untersuchungen, deren Resultate hier vorgelegt werden, nahmen ihren Ausgang von der Thematik der personalen Identität in Kants Kritik der reinen Vernunft. Es zeigte sich jedoch schon bald, daß das Verständnis von Kants Auseinandersetzung mit dieser Problematik die Würdigung eines umfassenderen Kontextes voraussetzt. Der Weg der Untersuchung führte dabei von seiner Kritik der rationalen Psychologie über die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe zurück in die siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts. Nach der Publikation seiner Inauguraldissertation von 1770 hat Kant in immer neuen Anläufen und im Rahmen unterschiedlicher Problemkonstellationen Aufschluß darüber zu erlangen versucht, welche epistemischen und praktischen Funktionen einem Ich-Subjekt zuzuschreiben sind, auf das wir uns als Person und Intelligenz, als Mensch und Seele beziehen. Es gibt jedoch keine Ausführungen des Königsherger Philosophen, in denen er auch nur den Versuch unternommen hätte, konzentriert alle die Probleme und Aspekte einer Theorie zu erörtern, die mit seinem im umfassenderen Sinne verstandenen Subjektbegriff verbunden sind. Kants Philosophie des Subjekts stellt den Versuch dar, die weitverzweigten Verpflechtungen herauszuarbeiten, die dem denkenden, fühlenden und handelnden Subjekt Konturen verleihen. Unter Einbezug der Reflexionen Kants, seines Briefwechsels und der Nachschriften seiner Vorlesungen können in dieser Weise vor der Folie des Verhältnisses von Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis Brüche und Unebenheiten in seinem Denken ebenso nachgewiesen, wie systematisch tragende Zusammenhänge verschiedener Theorieelemente herausgestellt werden, an denen er seit 1770 immer festgehalten hat. Ohne die wohlwollende UnterstützlU1g zahlreicher Personen hätte die Arbeit in der vorliegenden Form nicht geschrieben werden können. Meinem akademischen Lehrer Reinhard Brandt bin ich zu großem Dank für die ungezählten Gespräche, Anregungen und kritischen Stellungnahmen verpflichtet, mit denen er diese und andere Arbeiten von mir unterstützte. Mein Dank gilt ferner Werner Stark (Marburg) für zahlreiche Hinweise und klärende Gespräche über Vorlesungsnachschriften sowie Manfred Kuehn (Lafayette, Indiana), Rolf-Peter Horstmann (Berlin), Wolfgang Carl (Göttingen), Piero Giordanetti (Mailand) und Michael Pauen (Marburg), die eine frühere Fassung des Manuskripts oder Teile daraus gelesen haben, für ihre Verbesserungsvorschläge und kritischen Anmerkungen. Gideon Stiening und Uli Vogel (beide Marburg) danke ich für die Durchsicht der Druckvorlage, Jiri Chotas (Wuppertal) und Jan Kunes (Göttingen) für zahlreiche Diskussionen, die wir über das Paralogismuskapitel geführt haben. Einzelne Abschnitte
VI
Vorwort
des Buches waren Gegenstand von Vorträgen an Universitäten und Instituten in Prag, Wuppertal, Karlsbad und Blacksburg I Virginia. Den einladenden Personen und den Diskussionsteilnehmern bin ich ebenfalls zu Dank verpflichtet. - Meinen Eltern und Ilva Fabiani widme ich dieses Buch für ihr Verständnis und für vieles mehr.
Marburg, im Februar 1996
Reiner F. Klemme
INHALT
EINLEITUNG ......................................................................................................... .
TEIL I Der Subjektbegriff zwischen Dissertation und Kritik der reinen Vernunft KAPITEL I. Psychologie und Anthropologie in der Schulmetaphysik ... ..... .. . 1. Einteilung und Gegenstände der Metaphysik nach Wolff I Baumgarten 2. Drei Varianten des 'analytischen' Modells der Selbsterkenntnis ............ 3. Die Geburt der Anthropologie aus dem Geist der Metaphysik. Die Beispiele Johann Andreas Fabricius und Immanuel Kant ................ KAPITEL II. Kants Begriff des Subjekts in den siebziger Jahren (I): Die Wende zum Ich-Subjekt ................................................................... 1. Kants Erwachen aus dem »dogmatischen Schlummer« .......................... 2. Empirische und rationale Psychologie in der Inauguraldissertation ....... 2.1 Der Ort der Seele .. .......... .. .... ....... ....... .. ..... .. .... .... .... ... ..... .... .. ..... ... .... 3. Marcus Herz, Moses Mendelssohn und der Beginn der Kantischen Ich-Theorie .............................................................................................. KAPITEL III. Kants Begriff des Subjekts in den siebziger Jahren (II): Selbstbewußtsein, Selbstanschauung, Selbsterkenntnis .......................... 1. Der Ich-Begriff in den Anthropologienachschriften ............................... 2. Praktische und transzendentale Freiheit .. ..... ...... ..... .... ...... .. ... .. ..... .......... 3. Die Persönlichkeit der Seelensubstanz .................................................... 4. Das Subjekt in der empirischen und rationalen Psychologie der Metaphysik-Pölitz .............................................................................. 5. Was heißt es, eine Anschauung seiner selbst zu haben? ......................... 6. Selbstbewußtsein und Ich-Substanz in den Reflexionen des Duisburg-Nachlasses ........................................................................
13 15 24 32
38 38 46 50 55
76 76 82 95 102 118 126
TEIL II Der kritische Subjektbegriff KAPITEL I. Der Begriff des Subjekts in der Kritik der reinen Vernunft (I): Das Subjekt in der transzendentalen Analytik ........................................
139
VIII
1. 2. 3. 4.
Inhalt
Kants Programm einer Deduktion der reinen Verstandesbegriffe und die Beweisstruktur der Deduktion A ...... .. ........ .. .. ....... .. ..... .... .. ....... ........ Die Beweisstruktur der Deduktion B ...... ....... ............. .. ... ..... ......... ...... .. . Subjektive und objektive Einheit des Bewußtseins. Das Problem der Meinigkeit von Vorstellungen ......... .. . ...... ..... .. .. ....... .. . Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis (I): Empirische Selbsterkenntnis und das Problem des Verhältnisses von empirischer und rationaler Psychologie ........................................... 4.1 Das Vermittlungsmodell der empirischen Selbsterkenntnis von 1787 4.2 Das Modell der' als-ob' -Substanz in der Kritik von 1781 ................ 4.3 Die Kritik an der psychologia rationalis in den Anfangsgründen ..... 4.4 Das Problem der inneren Erfahrung in der Anthropologie ...............
140 157 180 214 221 229 234 240
KAPITEL li. Die metaphysische Dimension der Erkenntnis: Transzendentaler Gegenstand, Ding an sich und Noumenon
245
KAPITEL III. Gebrauch und Bedeutung der Kategorien .. ......... ..... .. ... ...... ...... 1. Zum Verhältnis von Urteilsfunktionen und Kategorien .......................... 2. Der praktische Gebrauch der Kategorien ... .... .. ........ ........... ........... .........
271 271 278
KAPITEL IV. Der Begriff des Subjekts in der Kritik der reinen Vernunft (li): Das Subjekt in der transzendentalen Dialektik ................... ........ ............ 1. Der systematische Ort der rationalen Seelenlehre in der transzendentalen Dialektik ... ... .... .. ... ..... ....... .. ........... ........ ...... ...... 2. Die zwei Fassungen des Paralogismuskapitels ...... .. ............ ....... ...... ... .. . 3. Die Kritik der rationalen Psychologie in der Fassung von 1781 ............. 3.1 Die Struktur des Paralogismus .......................................................... 3.2 Das 'Ich denke' als Gegenstand der rationalen Psychologie ............ 3.3 Kants Selbstkritik: Die Hypostasierung des reinen Selbstbewußtseins .... .. ...... ........ .. .... .... ....... ...... ......... ... .. ... ..... ... ... ...... 4. Die Durchführung der Kritik an der rationalen Seelenlehre 1781 .......... 4.1 Der Paralogismus der Substantialität .............................. .................. 4.2 Der Paralogismus der Simplizität ...................................................... 4.3 Der Paralogismus der Personalität .................................................... 4.4 Der Paralogismus der Idealität und die »Widerlegung des Idealismus« ....................................................................................... 5. Die Neufassung des Paralogismuskapitels .............................................. KAPITEL V. Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis (li): Existenz und Selbstbestimmung .............................................................
285 285 289 293 293 298 308 312 312 316 329 339 361
375
Inhalt
IX
SCHLUSS
405
BIBLIOGRAPHIE ... .. ................ ........ ............ .. ....... ..... ....... .. ... ... ... ... ..... ...... ..... .. ... ...
411
PERSONENREGISTER ... ... ..... ....... ....... ... ......... ... ..... ... .. .... ... ... ... ..... .... ..... .... .... ... .. .
427
EINLEITUNG »Und die Erkenntniß des Subjekts ist der wahre Gegenstand der Philosophie.« Logik-Philippi (Sommer 1772)
Seit der griechischen Antike ist das Subjekt unseres Denkens, Fühlens und Handeins in der Philosophie in unterschiedlicher Weise thematisiert worden. Auch wenn sich bedeutende Ansatzpunkte insbesondere schon bei Augustinus finden, wird für gewöhnlich mit Rene Descartes' Meditationes de prima philosophia ( 1641) der eigentliche Beginn einer Philosophie der Subjektivität angesetzt. Dieser sah im 'cogito [ergo] sum' die 'prima propositio' einer Philosophie, die alle tradierten Gewißheitsansprüche auf der Grundlage eines methodisch verstandenen Zweifels hinterfragt. Ist es aber das denkende Subjekt, dessen Existenz nicht bezweifelt werden kann, weil dieses selbst Grund allen Zweifels ist, dann stellt sich mit Nachdruck die Frage nach seinem Wesen und seiner Natur. Descartes nennt es in seinen Schriften unter anderem Seele (anima), Verstand (intellectus), denkende Substanz (substantia cogitans) und Ich (Je Moy). 1 Dabei fällt es ihm nicht schwer, sich über die substantielle Natur des denkenden Subjekts zu äußern: Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis fallen im Aktus der Selbstvergewisserung zusammen. Descartes' 'prima propositio' ist bekanntlich nicht unbestritten geblieben. Von den Fragen, die seine Kritiker und Interpreten gestellt haben und noch immer stellen, seien nur die folgenden genannt: Wird die eigene Existenz in einem Schluß begründet, oder fallen der Akt des Denkens und die Existenzgewißheit unmittelbar zusammen? Welche Folgen hat es für meine Existenz, wenn ich - z. B. im Schlaf- nicht denke? Existiere ich dann nicht mehr? In welchem Verhältnis steht das denkende Subjekt zu den beiden anderen Substanzen, die Descartes unterscheidet, Gott und res extensa? Unterläuft Descartes sein eigenes Prinzip nicht, wenn er in der dritten Meditation die dauernde Gewißheit der eigenen Existenz schließlich doch auf die Güte Gottes zu gründen scheint? Muß die Wirklichkeit der äußeren Gegenstände nicht ebenso gewiß sein wie die der eigenen Existenz? Wie immer diese Fragen im einzelnen beantwortet werden mögen, das denkende Ich fungiert bei Descartes sicherlich nicht als eine Erkenntnis allererst stiftende Instanz. Er erörtert keinesfalls die subjektiven Bedingungen, denen jeder Erkenntnisanspruch unterworfen ist und durch die er damit zugleich restringiert wird. Dies wird besonders eindringlich in der fünften Meditation vor Augen geführt, in der Descartes die Gewißheit und Wahrheit jeder Wissenschaft von der Erkenntnis des wahren Gottes abhängig macht. In der Auseinandersetzung mit Descartes und mit John Lockes im Essay concerning Human Understanding (1690) eingeschlagenen »way of ideas«, durch den Descartes' Annahme eingeborener Ideen einer fundamentalen Kritik unterzogen
Vgl. unten S. 22-25 und 218. Zur Zitierweise siehe die Vorbemerkung zur Bibliographie.
2
Einleitung
wird, führt Leibniz zwar den dann für die weitere Philosophiegeschichte zentralen Terminus der Apperzeption in die Diskussion2 ein; doch auch er begreift das IchSubjekt nicht als das archimedische Zentrum aller Erkenntnisurteile. Apperzeption wird von ihm als das Bewußtsein einer Monade verstanden, welches sich durch dieses seiner Perzeptionen bewußt wird. Die Apperzeption erhellt den Vorrat an Perzeptionen, die die Monade 'hat', fungiert aber nicht als ein Bewußtsein, welches unhintergehbarer Grund aller Erkenntnisleistungen ist. Leibniz' Konzeption einer Welt 'fensterloser' Monaden beruht auf ontologischen Annahmen, die nicht durch einen Rekurs auf ein Ich-Subjekt gerechtfertigt werden. Im Anschluß an Lockes Lehre von den Handlungen des Geistes (»Acts of the Mind«)3 wird demgegenüber bei Autoren wie Charles Bonnet und Jean-Jacques Rousseau von einem Ich gesprochen, welches gerade insofern den letzten Grund aller Erkenntnisse darstellt, als es eben als ein Subjekt von Urteilen verstanden wird, mit denen allein ein Wahrheitsanspruch erhoben wird. Die Grenzen der Erkenntnis fallen auf diese Weise mit den Bedingungen zusammen, unter denen ein derart begriffenes Subjekt überhaupt erst sinnvoll urteilen kann. Locke leugnet zwar die Ich-Substanz nicht, vertritt aber im Gegensatz zur rationalen Metaphysik die These ihrer Unerkennbarkeit. Die von ihm vorgenommene Auflösung der traditionellen Substanzmetaphysik zeitigt weitreichende Folgen für die Frage nach der Erkennbarkeit der Welt und des denkenden Subjekts. Der aufgrundder Kritik an der Konzeption einer denkenden Seelensubstanz frei werdende Systemort wird nun von einem Subjekt eingenommen, welches sich im Medium des Selbstbewußtseins4 auf sich selbst bezieht. Lockes Erkenntnispsychologie wird in ausdrücklicher Abgrenzung zur Metaphysiktradition entwickelt, womit sich aber die Notwendigkeit ergibt, einen Ersatz für die als unerkennbar deklarierte Ich-Substanz zu entwickeln. Während er selbst 1694 in der zweiten Auflage seines Essay auf den Bewußtseinsbegriff Bezug nimmt, um das Problem der personalen IdentitätS zu lösen, macht David Hume in seinem Treatise of Human Nature ( 1739/40) auf Probleme aufmerksam, die sich aus einem konsequent durchgeführten Ideenempirismus auch für diese Theorie personaler Identität ergeben. 6 Mit Locke weiß sich Hume zwar darin einig, daß sich das Problem der personalen Identität in dieser Form überhaupt nur für ein solches Subjekt stellt, welches nicht mehr als einfache Substanz erkannt werden kann.? Doch Hume hält gegenüber Locke selbst die über den Begriff des Selbstbewußtseins definierte Konzeption personaler Identität für unbegründet. Tatsächlich ist der menschliche Geist (»human mind«) nämlich nichts anderes als ein >>bundle or collection of difV gl. unten S. 18, 25-26, 127 und 188. Vgl. unten S. 59 (Anm. 65) und 61 (Anm. 73). Der Ausdruck >>consciousnessvollkommenste, noch nicht erreichte Muster von Ausführlichkeit, Methode und Bestimmtheit der Begriffe>VorberichtEin so scharfsinniger Weltweiser, als Herr Kant, der in der gegenwärtigen Metaphysik, wie er sich ausdrückt, nur noch lauter analytische Ortheile findet, und noch viele Anforderungen an dieselbe erfüllt haben will, ehe er sich, ihr mit der reinen Mathematik einerley wissenschaftlichen Rang anzuweisen getrauet, erkennet doch in A. G. Baumgarten den ersten philosophischen Analysten. Ich kann hier nicht die Gründe angeben, warum ich überzeugt bin, daß der Königsbergische Weltweise dem Frankfurtischen mehr Verdienst um die Metaphysik zugestehe, als er selbst zu glauben scheint.>Handbuch>Die Psychologie theile ich in zwey Theile ein. Der eine handelt von demjenigen, was man von der Seele des Menschen aus der Erfahrung erkennet: der andere aber erkläret alles aus der Natur und dem Wesen der Seele und zeiget von dem, was man observiret, den Grund darinnen. Den ersten Theil nenne ich Psychologiam empiricam, den andern aber Psychologiam rationalem. Die Psychologia empirica ist eigentlich eine Historie von der Seele und kan ohne alle übrige Disciplinen erkandt werden: hingegen die Psychologia rationalis setzet die Cosmologie als bekandt voraus.«9 Erst mit Wolff wird der Terminus >>Psychologia« geläufig. 10 Als >>Historie von der Seele« thematisiert die empirische Psychologie Einzelfakten. Grundlegend in der lateinischen Logik ist die Unterscheidung zwischen historischer und philosophischer Erkenntnis, zu denen sich noch die mathematische Erkenntnisart gesellt. II Während die Historie ihre Aufmerksamkeit auf das Partikulare lenkt, stößt die Philosophie zu dem Universellen vor.I2 Der Status der Psychologia empirica wird von Wolff nicht mit aller Deutlichkeit geklärt. Sie ist ein Teil der Metaphysik, die ihrerseits zur Philosophie als einer
Über die Geschichte der Menschheit. Neue und verbesserte Auflage. Zürich 1768: 361. Im Gegensatz zu Frankreich blieben Wolffs Schriften in der englischsprachigen Philosophie nahezu wirkungslos. Eine gewisse Ausnahme stellt Thomas Reid dar, der Wolffs Psychologia empirica und die Ontologia kannte (vgl. Haakonssen 1990: 91). Zum Einfluss der schottischen Philosophie auf die deutschsprachige Philosophie nach dem Tode Wolffs vgl. Kuehn 1987: 36-51. 8 Vernünfftige Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt; die Anmerkungen erschienen 1724 in einem separaten Band. 9 § 79: 231. Baumgarten schreibt in seiner Metaphysica: »PSYCHOLOGIA asserta sua I) ex experientia propius, EMPIRICA, 2) ex notione animae longiori ratiociniorum serie deducit, RATIONALIS.« (§ 503) 10 Vgl. Lapointe 1973: 147 u. 149. Wenn Kant in der Kritik der reinen Vernunft die Seelenlehre als eine >>Physiologie des inneren Sinnes[ ... ] so habe ich den einen Theil von der Psychologie, nehmlich die Empiricam, vor die Cosmologie geseszet, weil sie leichter als diese ist und Anfängern anmuthiger fället, denen der Verdrusz dadurch benommen wird, den sie bey der Ontologie gehabt, indem sie auf verschiedenes genauer haben acht geben müssen, als sie zu thun etwan gewohnet sind.>Systemata Psychologica«, in denen er die drei möglichen Theorien des Kommerziums zwischen Leib und Seele (anima) erörtert, also den influxus physicus, den Okkasionalismus und die Theorie der prästabilierten Harmonie.3 4 In Abschnitt (Sectio) III diskutiert er diverse Theorien des Ursprungs der menschlichen Seele. Die Abschnitte IV und V bringen die Erörterung der menschlichen Seele mit den Themen ihrer Unsterblichkeit und ihres Zustandes nach dem Tode zu einem Abschluß. Die beiden verbleibenden Abschnitte fragen nach den Seelen der Tiere Die Unterscheidung geht auf Leibniz zurück. In der Theodicee lesen wir: »Sie [sc. Senner! und Sperling] verwechselten nämlich die Unvergänglichkeit [l'indestructibilite] mit der Unsterblichkeit [l'immortalite], worunter man beim Menschen versteht, daß nicht nur die Seele, sondern auch die Persönlichkeit fortbestehe, d. h. wenn man sagt, die Seele des Menschen ist unsterblich, so läßt man dasjenige fortbestehen, was eben diese Person ausmacht, die dadurch, daß sie das Bewußtsein oder das innere reflektierende Gefühl auf das, was sie ist, behält, ihre moralischen Eigenschaften bewahrt, das, was sie für Strafe und Belohnung empfänglich macht. Bei den Seelen der Tiere findet jedoch diese Erhaltung der Persönlichkeit nicht statt, und eben deshalb nenne ich sie lieber unvergänglich als unsterblich.>Et ayant remarque qu'il n'y a rien du tout en cecy: ie pense, donc ie suisego cogito, ergo sum>Üf personal identity>Appendix>Wie ich meyne, hat unser Leibnitz weit tiefer, schärfer und richtiger die Natur des menschlichen Verstandes, seine Denkarten, und insbesondere die transcendenten Vernunfterkenntnisse eingesehen, als der mit mehr Beflissenheit beobachtende Locke. Er hat weiter gesehen, als der sonst scharfsinnige Hume, als Reid, Condillac, Beattie, Search und Home.Et comme je con~ois que d' autres Estres peuvent aussi avoir Je droit de dire moy, ou qu'on pourroit Je dire pour eux, c'est par Ia que je con~ois ce qu'on appelle Ia substance en general, et c'est aussi Ia consideration de moy meme, qui me foumit d'autres notions de metaphysique, comme de cause, effect, action, similitude etc., et meme celles de Ia Logique et de Ia Morale. Ainsi on peut dire qu'il n'y a rien dans I'entendement, qui ne soit venu des sens, excepte l'entendement meme, ou celuy qui entend.Endlich, wir sind uns aller dieser Dinge bewußt. Wir empfinden, daß sie in uns, in unserem Ich vorgehen.>Sentiment du moy>le sentiment du moi>Profession de foi du vicaire Savoyard>le sentiment du moiJe sens mon ame; je Ia connois par le sentiment et par Ia pensee; je sais qu' eile est, sans avoir quelle est son essence; je ne puis raisoner sur des idees que je n' ai pas.ich bin mir itzt bewußt, und mein klares Selbstgefühl sagt mir, daß ich noch der nämliche Ich bin, der sich jemals bewußt gewesen ist. Nun ist aber das, was sich bewußt ist, eine Substanz. (§ 55) Also ist das, was sich bewußt ist, beständig die nämliche Substanz, die es jemals war.>Wenn die Gegenstände unsere Aufmerksamkeit anziehen: so verbinden sich die Perzeptionen, die sie in uns erzeugen, mit der Empfindung unsers Ich, und mit allem, was auf uns einige Beziehung haben kann. Daher kömmt es, daß uns das Bewußtseyn nicht blos die Kenntniß unserer Perzeptionen verschaft; [ ... ].>Wir fühlen nämlich, daß unsere Seele nicht nur Eines sondern auch beständig Dieselbige sey. Zu dem erstem gehört, daß sich das Wesen, welches in uns denkt, als das alleinige Subjekt, aller seiner Veränderungen, seines Denkens, Empfindens, Handelns, Leidens u.s.w. vorstelle. Dies kann nicht geschehen, wofern es nicht Eines ist, das den Grund aller dieser unzertrennlichen und in Einem zusammenkommenden Bestimmungen enthält.>Ohne diese innige und wesentliche Einfachheit der Urkraft kann sich hiernächst auch die Seele nicht als Ebendasselbige Wesen die ganze Dauer seines Daseyns hindurch denken. Die Seele kann nicht das nämliche Ich, ebendieselbige Person bleiben, ohne die genauesie Einfachheit ihrer Kraft. Denn die Erhaltung des Ichs und der Persönlichkeit hängt schlechterdings von dem Bewustseyn ihrer ununterbrochnen Fortdauer ab.>einen wichtigen UmstandDer Mensch fühlt zuerst, daß er ist. Mit diesem Gefühle ist auch ein dunkles Gefühl dessen, was er ist, verbunden. Zum Glücke für ihn hat die Natur allen empfindenden Dingen dieses Geschenk gemacht, daß sie das Gefühl ihres eigenen Wesens vergnügt. [... ] Empfinden selbst ist Glückseligkeit. So bald das erste Bewustseyn erwacht, gefällt sich schon der Mensch, so wie jedes anderes Ding, das Empfindung und Seele hat.>Selbst>Vorbericht des Herausgebers>Werk die erste auf Beobachtung gegründete Seelengeschichte>Idee von sich selbst>Le Sentiment du Moi ne n!side donc pas dans Ia Substance materielle.>Anthropologia philosophica«, die zweite >>Anthropometria«93. Die Aufwertung bzw. Verselbständigung der Anthropologie im Metaphysikverbund der Wolff-Schule läßt sich gut bei Johann Andreas Fabricius dokumentieren. Seine knapp gefaßten Ausführungen veranschaulichen auch sehr klar den Unterschied der verschiedenen Disziplinen, die die 'Seele' zum Gegenstand haben. Fabricius gibt in der Vorrede seines Auszugs Aus den Anfangsgründen der Allgemeinen Gelehrsamkeit oder Weltweißheit (Wolfenbüttel 1746) zu erkennen, daß
1778:4;vgl. 1773:4. Zwei Jahre später erschien Amhropologiae pars II, hoc est, de fabrica corporis. Lapointe schreibt: >>Casmann had the merit of first giving the name Anthropologia to the science of man in general, which he divided in two parts: the first, Psychologia, the doctrine of the Human Mind, the second, Somatologia, the doctrine of the Human Body [... ].>Es ist zu bewundern, daß die Alten nicht mehr mit Erkenntniß des Menschen sich beschäftiget haben, ob sie gleich diese Bemühung für die nützlichste erklärt haben.« (Anthr.-Collins p. 2; vgl. Anthr.-Parow p. I) In der Logik-Philippi heißt es zudem: >>Und die Erkenntniß des Subjekts ist der wahre Gegenstand der Philosophie. Denn wir haben alle unsre Erkenntnisse nur dadurch daß wir uns erkennen.« (XXIV: 438) 96 Vgl. 1746: 114, § 274. 97 Vgl. 1746: 117, § 296. 98 >>Endlich kann man Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen betrachten, und das ist es, was ich Anthropologie nenne.« (Piatner 1772: XVI-XVII) 94 95
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Teil!. Kap. I. Psychologie und Anthropologie in der Schulmetaphysik
Auf die Darlegung der Anthropologie folgt die der Psychologie und Pneumatologie, die Fabricius »aus gewissen gründen«99, die nicht genannt werden, jedoch zusammen erörtert. Die Wissenschaft von der Seele nennt er Psychologia rationalis, womit klar ist, daß die Anthropologie diejenige Wissenschaft ist, die an die Systemstelle tritt, die bei Wolff (und Baumgarten) die empirische Psychologie einnimmt. Der Unterschied zwischen Geist und Seele besteht nach Fabricius darin, daß der Geist »ein vor sich bestehendes einfaches ding [ist], das da verstehen und wollen kan.«too Die Seele ist demgegenüber ein Geist, »der zur vereinigung mit einem organischen cörper bestimmt ist.durch die häufige Fälle der Anwendung im Leben brauchbar>Die Kentniß des Menschen nennen wir mit einem allgemeinem Nahmen Antropologie. Dies Wort kan im scholastischen und pragmatischen Verstande genommen werden. Wir tractiren hier die pragmatische Anthropologie als ein organon der Klugheit. Sie soll also unsere Klugheit befördern, auf Menschen, unsern Absichten gemäß, Einfluß zu haben. Nach diesem Plan existiret keine Antropologie, und wird auf keiner andern Universität gelesen. Platner hat eine scholastische Antropologie geschrieben.«I09 Die Kantische Anthropologie ist also spätestens 1775 im Gegensatz zur empirischen Psychologie der Wolff-Schule (und Fabricius' Anthropologie) keine spekulative Wissenschaft, sie vermittelt keine Schulkenntnis, sondern wie die physische Geographie ein für das menschliche Handeln nützliches Weltwissen.IIO
In der Vorlesungsankündigung für dieses Semester heißt es über die Anthropologie: »Diese Weltkenntniß ist es, welche dazu dient, allen sonst erworbenen Wissenschaften und Geschicklichkeiten das Pragmatische zu verschaffen, dadurch sie nicht bloß für die Schule, sondern für das Leben brauchbar werden, und wodurch der fertig gewordene Lehrling auf den Schauplatz seiner Bestimmung, nämlich in die Welt, eingeführt wird.>wird gesehen, was in denn [!] Menschen pragmatisch ist und nicht speculativ. Der Mensch wird darinnen nicht physiologisch, daß man die Quellen der phaenomönen unterscheiden sollte, sondern Cosmologisch betrachtet. - Es fehlet noch immer an Unterweisung, alte Erkänntniße die man erworben hat, in Ausübung zu bringen und einen, seinem Verstande und dem Verhältniß gemäß, worinne Man in der Wellt steht, nützlichen Gebrauch zu machen, oder unsern Erkänntnißen das pragmatische zu geben, und dieses ist die Känntniß der Wellt.>Die Anthropologie ist nun zur pragmatischen Geschichte unumgänglich nöthig.>Eine Lehre ist pragmatisch, sofern sie uns klug und in öffentlichen Dingen brauchbar macht, wo wir nicht bloß die Theorie, sondern auch die Praxis nöthig haben.>Schulkenntnis>(Die pragmatische Anthropologie soll nicht psychologie seyn: um zu erforschen, ob der Mensch eine Seele habe oder was von dem denkenden und empfindenden Princip in uns (nicht vom Korper) herrühre, auch nichtphysiologiedes Arztes: um das Gedachtnis aus dem Gehirn zu erklären, sondern Menschenkentnis.)>Praktisch oder pragmatisch (historia pragmatica)« sind (XVI: 863). Und weiter lesen wir: »Wenn die Historie pragmatisch und ausführlich zu gleicher Zeit sein soll, so muss sie dergestalt vorgetragen werden, dass eine Absicht erreicht werde, die praktisch genung ist.«(§ 521) (2) Orientieren wir uns an Kants Vorlesungsankündigung vom Wintersemester 1765/66, dann mutet es überraschend an, daß er in den frühen Anthropologievorlesungen aus den siebziger Jahren eingangs nicht nur die Existenz der menschlichen Seele, sondern auch deren Substantialität, Einfachheit usw. auf eine Art und Weise thematisiert, die, wie zu zeigen sein wird, an der beobachtenden oder analytischen Methode 11 3 ausgerichtet ist und zum Ausgangspunkt das Ich-Bewußtsein hat. Die Anthropologie stellt sich, insofern die bloße Tatsache gemeint ist, daß sie dieses Thema überhaupt aufgreift, in die Tradition der psychologia empirica, geht aber zugleich mit ihren Urteilen über die Existenzweise der Seele über diese hinaus auf das Gebiet der im Sinne der Schulmetaphysik verstandenen psychologia rationalis. Nach der Aufgabe dieser Subjektkonzeption Ende der siebziger Jahre wird Kant noch in der von ihm selbst zur Publikation gebrachten Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) bemüht sein, die spekulativen Fragen der empirischen Psychologie aus der Anthropologie auszugrenzen. (3) Die Anthropologie wird noch von Fabricius ganz im Sinne der WolffSchule innerhalb der »Hauptwissenschaft«, also der Metaphysik, thematisiert. Kant dagegen gliedert die empirische Psychologie bzw. Anthropologie im Unterschied zur rationalen Psychologie Anfang der siebziger Jahre aus dem Metaphysikkanon aus. 114 An dieser Position wird er zeitlebens festhalten. Die Tatsache,
Kant 1986: 115. In der Reflexion 6823 (datiert 1776-80) wird folgende Einteilung erwogen: >>Practisch ist alles, was Geschickt macht; Pragmatisch, was klug macht; Moralisch, was weise macht. Jenes betrifft blos die Form der Handlung, das zweyte den allgemeinen Zwek derselben: Glükseeligkeit, das dritte die ideeder Einheit der Einstimmung dieser Zweke mit sich selbst.>nicht als nothwendig erkennet, so gehören sie nicht in die Metaphysic.>große Licht>Sowohl Kuehn wie auch Kreimendahl müssen den Humeschen Zweifel exakt mit dem Widerspruch der Vernunft identifizieren, der bei Kant als 'An12
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Teil I. Kap. I!. Kants Wende zum Ich-Subjekt
von der Antinomie im Brief an Garve so zu verstehen, wie Kant selbst in den sechziger und Anfang der siebziger Jahre die Urteile, die dann in der Kritik als Antinomie gefaßt werden, verstanden hat, nämlich als antithetische Beweise. 14 Gegenüber der eigentlichen Antinomie liegt damit ein entscheidender Unterschied vor, denn antithetische Beweise in dem hier verstandenen Sinne sind nicht solche, die eine (scheinbare) antinomische Struktur der Vernunft bezeichnen, sondern solche, die auf einen Konflikt zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstand verweisen. Ganz in diesem Sinne spricht Kant in § 1 der Dissertation von einem »dissensus inter facultatem sensitivam et intellectualem« 15 • Dieser »zeigt nur an, daß die Erkenntniskraft die abgesonderten Vorstellungen, die sie vom Verstand erhalten hat, oftmals nicht in concreto ausführen und in Anschauungen umwandeln kann. Dieses subjektive Widerstreben aber täuscht, wie meist, irgendeinen objektiven Widerstreit vor und führt Unbehutsame leicht in die Irre; indem die Schranken, von denen die menschliche Erkenntniskraft umschlossen wird, für diejenigen genommen werden, von denen das Wesen der Dinge selbst umfaßt wird.« (W V: 19) Die neue Raum- und Zeittheorie der Dissertation vermag zu zeigen, daß kein objektiver, sondern nur ein subjektiver Widerstreit zwischen Sinnlichkeit und Verstand vorliegt. Damit ist aber gerade keine Antinomie im Sinne der Kritik behauptet. Geht man davon aus, daß es antithetische Beweise sind, deren Auflösung Kant in der Zeit vor 1770 beschäftigt haben, dann ist es naheliegend, das >>große Licht« von 1769 auf die Entdeckung der neuen Raum- und Zeittheorie mit ihrer strikten Trennung von Sinnlichkeit und Verstand zu beziehen. 16 Mit ihr ist ein erster Schritt in Richtung der Vernunftkritik der Kritik der reinen Vernunft getan; die transzendentale Ästhetik steht in der Schrift von 1781 nicht nur systematisch, sondern auch entwicklungsgeschichtlich an erster Stelle. In den Blick gerät zu dieser Zeit jedoch nicht die Kritik des epistemischen Subjekts der Erkenntnis
tinomie der reinen Vernunft' bezeichnet wird- ohne diese Identifikation fällt die historische Konstruktion in sich zusammen.Alle Vorstellungen, welche die Sinne uns liefern, sind in uns blos durch die Gegenwart der Gegenstände, da sie die Sinne treffen, entstanden. Die sinnliche Vorstellungen sind von Verstandes Vorstellungen dem Ursprunge nach unterschieden, und nicht bloß der Form nach, wie man gemeiniglich glaubt z. B. Mendelson, denn die Deütlichkeit oder Undeütlichkeit bestimmt Vorstellungen nicht, ob sie aus dem Verstande sind, oder aus der Sinnlichkeit, sondern ihr Ursprung bestimmt es. Es können sinnliche Vorstellungen sehr deütlich seyn und Verstandes-Vorstellungen dagegen ganz verworren, denn was im Begriff deütlich ist, kann in der Anschauung höchst undeütlich und verworren seyn.>dogmatischen Schlummer>is based on Kant's logic lectures in the early 1770s.« (1992: xix). 19 Gemeint sind die Vermischten Schriften über die Handlung, die Manufacturen und die atrdern Quellen des Reichthums und der Macht eines Staats (Hamburg I Leipzig 1754 ), also die deutsche Übersetzung der Political Discourses (1752).
Teil I, Kap. II. Kants Wende zum Ich-Subjekt
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aus. Es findet sich aber in diesen Schriften des Hume eine sanfte, gelaßne, und vorurtheilsfreye Prüfung. Er betrachtet nemlich darinnen zu forderst von einer Sache die eine Seite; er suchet alle möglichen Gründe vor dieselbe auf, und trägt dieselben mit dem besten Redner-Styl vor. Denn nimt er auch die andere Seite vor, stellet dieselbe gleichfals gantz unpartheyisch zur Beurtheilung dar, trägt alle gegengründe widerum mit eben der beredsamkeit vor, am Ende, und beym Schluß aber erscheinet er in seiner wahren Gestalt, als ein eigentlicher Sceptiker, er klagt über die Ungewisheit aller unserer Erkenntniße überhaupt, zeiget, wie wenig denenselben zu trauen sey, und zweifelet zu lezt, anstatt zu schlüßen, und aus zu machen, welche Erkenntniß denn von diesen Beiden wahr, und welche falsch sey.« Kant macht sodann darauf aufmerksam, woran es Hume mangelte: »Er wäre aber gewiß einer von den besten und leBenswürdigsten Autoren, wofern er nur nicht den Überwiegenden hang hätte an allem zu zweifeln, sondern vermittelst der Prüfung und Untersuchung der Erkenntniße zu einer wahren Gewisheit zu gelangen suchen möchte.«2o Humes- richtig verstandene- 'skeptische Methode' vermag uns also zur Gewißheit und zwar der metaphysischen Sätze21 zu führen. Auffällig ist, daß Kant die Person Hume mit keinem Wort mit seiner »Wende zu einer subjektivistischen Philosophie« in Verbindung bringt. Hume firmiert nur als besonders herausragendes Beispiel eines Skeptikers. Kreimendahl, der aus der Logik-Biomberg zitiert, läßt jedoch gerade den Passus, in dem Kant die Philosophischen Versuche erwähnt, aus.22 Dies mag dadurch zu erklären sein, daß nach Kreimendahl das »Material« der Logik-Biomberg (und der Logik-Philippi) >>aus den ersten Jahren des siebten Jahrzehnts« (1990: 11) stammt. Akzeptieren wir zunächst die Datierung Kreimendahls, ergibt sich die paradoxe Situation, daß Kant nach Kreimendahl 1768/6923 durch den Treatise 'erweckt' worden ist, seine Studenten Anfang der siebziger Jahre aber nicht auf die deutsche Übersetzung von Treatise I, 4, 7 verweist, sondern auf die Philosophischen Versuche, die nach Kreimendahl zudem aufgrunddes in ihnen vertretenen 'mitigated' Skeptizismus gar nicht geeignet scheinen, Kant zu einer derartigen Einschätzung des Rumeschen Skeptizismus zu bewegen.24 Wenn man die oben
XXIV: 217; vgl. XVI: 456 Anm. (Refl. 2660), wo Adickes diese Textstelle zitiert. Die Reflexion 2660 (XVI: 455-457) stammt aus den Jahren 1755-56. 21 In der Kritik wird Kant schreiben, daß die >>skeptische Methode[ ... ] nur der Transzendentalphilosophie allein wesentlich eigen>nicht die Enquiry war, der schließlich den Anstoß zur Entwicklung der kritischen Philosophie gab>Um es gleich vorweg zu sagen und möglichen Mißverständnissen vorzubeugen: Ein zwingender Beweis für die in diesem Kapitel aufgestellte These läßt sich nicht erbringen.>Man findet in den Schriften der Philosophen recht gute Beweise, darauf man sich verlassen kann: daß alles, was da denkt, einfach sein müsse, daß eine jede vernünftig denkende Substanz eine Einheit der Natur sei, und das uniheilbare Ich nicht könne in einem Ganzen von viel verbundenen Dingen vertheilt sein. Meine Seele wird also eine einfache Substanz sein.>Herr Kant zählt zu dieser Art von Erschleichungssätzen folgendes hinzu, daß alles Unmögliche a und nicht-a zugleich sei, und folglich dasjenige, in welchem nicht-a und nicht-a zugleich vorhanden ist, möglich sei. Ich muß gestehen, liebster Freund, daß, obgleich ich in Ansehung der Falschheit dieses Satzes vollkommen seiner Meinung bin, ich dennoch in Ansehung der Art von Vorurteilen, zu welcher er ihn zählt, von ihm abweiche. Herr Kant hält dafür, daß zum Satz des Widerspruchs der Begriff der Zeit nötig sei. A und nicht-a, sagt er, widersprechen sich nur, wenn sie zu einer Zeit sind, zu verschiedenen Zeiten aber können sie gar wohl stattfinden. Da also mit dem Begriff des Widerspruchs ein Begriff der sinnlichen Erkenntnis verbunden werden muß, so wird er zu dieser Klasse gehören und folglich nach der festgesetzen Regel, wenn er in einem Satz das Prädikat ausmacht, bei dem Subjekt nur eine subjektive Gültigkeit haben. Allein es scheint nicht, daß der Begriff der Zeit zum Satz des Widerspruchs durchaus notwendig sei, wenn er auf folgende Art ausgedrückt wird: Kein Subjekt a kann nicht-a sein; [... ].« (1990: 58-59) In seinem Brief an Herz vom 7. Juni 1771 berichtet Kant, gegenwärtig mit einem Werk beschäftigt zu sein, >>welches unter dem Titel: Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft das Verhältnis der vor die Sinnenwelt bestimmten Grundbegriffe und Gesetze zusamt dem Entwurfe dessen, was die Natur der Geschmackslehre, Metaphysik und Moral ausmacht, enthalten soll, etwas ausführlich auszuarbeiten.«9o Kant fährt fort: >>Ich erfahre mit Vergnügen, daß Sie im Begriffe sind eine Ausarbeitung von der Natur der spekulativen Wissenschaft in Druck zu geben. Ich
88 Vgl. Sectio III, § 15: >>[ ... ]so kann ich über das, was unmöglich ist, nur urteilen, wenn ich von demselben Subjekt zu derselben Zeit [eodem tempore] A und Nicht-A aussage.>Dies Verhältnis der Ursache ziehen wir aus unseren eignen Handlungen und appliciren es auf das, was beständig in den Erscheinungen äußerer Dinge ist. Wir finden aber endlich alles am obiect accidentia zu seyn. Das erste subiect ist also ein etwas, wodurch die accidentia sind. Es entspringen also iudicia synthetica.«II3 Eine Kritik der reinen Vernunft wird spätestens seit 1772 immer auch als Kritik der gesamten menschlichen Subjektivität verstanden: >>In den Wissenschaften der reinen Vernunft ist die philosophiejetziger Zeit mehr critisch 1' 4 als dogmatisch, eine Untersuchung des subiects und dadurch der moglichkeit, sich ein obiect zu denken.« 115 Und in der Reflexion 4465 lesen wir: >>Die transscendentalphilosophie ist critick der reinen Vernunft. studium des subiects, Verwechslung des subiectiven mit obiectivem, Verhütung.>Nicht nur die Fragestellung von 1772 entsprang einer gewissermaßen internen Theoriekonstellation, sondern auch seine Versuche, eine Antwort zu finden, lassen keine externen Beeinflussungen erkennen.« (1989: 178)
3. Herz, Mendelssohn und der Beginn der Kantischen Ich-Theorie
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bald: daß der Begriff der Verknüpfung von Ursache und Wirkung bei weitem nicht der einzige sei, durch den der Verstand a priori sich Verknüpfungen der Dinge denkt, vielmehr daß Metaphysik ganz und gar daraus bestehe. Ich suchte mich ihrer Zahl zu versichern, und da dieses mir nach Wunsch, nämlich aus einem einzigen Princip, gelungen war, so ging ich an die Deduction dieser Begriffe, von denen ich nunmehr versichert war, daß sie nicht, wie Hume besorgt hatte, von der Erfahrung abgeleitet, sondern aus dem reinen Verstande entsprungen seien.human mindDen Begriff der Existenz haben wir noch unmittelbarer aus dem Bewußtseyn, daß wir sind, weil wir ohne zu seyn kein Bewußtsein haben können. Cartesius hatte daher sein: Cogito, ergo sum, zum ersten Grundsatze angenommen, und eben dieses hat auch Wolf in seiner deutschen Metaphysik gethan.>Wer denkt, der ist.>ich existiere ist ein analytisch Urtheil; ein Körper existirt, ein synthetisch.>etwas Wirkliches, was den Bestimmungen der Dinge an sich selbst anhängt«?5 Warum, so fragt Kant nun, kann dieses Argument nicht auf den äußeren Raum übertragen werden, so daß der Raum als etwas »Objektives und Reales« vorgestellt wird, >>was den Dingen selber inhäriert? Die Ursache liegt darin, weil man wohl bemerkt, daß man in Ansehung äußerer Dinge aus der Wirklichkeit der Vorstellungen auf die der Gegenstände nicht schließen kann, bei dem inneren Sinne aber ist das Denken oder das Existieren des Gedankens und meiner selbst einerlei.«6 Damit ist eine entscheidende Disparallelität zwischen äußerem und innerem Sinn herausgestellt. Veränderungen im inneren Sinne, derer ich mir im Denken bewußt werde, sind ein Beweis dafür, daß ich selbst existiere. Sie sind aber kein Beweis für die äußere Realität dieser Vorstellungen, deren ich mir be-
XXIX: 44; zur Datierung vgl. unten S. 103-104 (Anm. 97). Im zweiten Paralogismus der Kritik vertritt Kant - ohne weitere Begründung - die Auffassung, daß ich »den an Inhalt gänzlich leeren Ausdruck Ich [... ] auf jedes denkende Subjekt anwenden kannoccasione experientiaeVon der Amphibolie der Reflexionsbegriffe>Es ist kein Gedancke der andern zum Grunde liegt als der Gedancke vom Ich. Diese Vorstellung vom Ich und das Vermögen den Gedancken zu faßen, ist der wesentliche Unterschied des Menschen von allen Thieren. 13 Dieses ist die Persönlichkeit sich seiner selbst bewust zu seyn.« (Anthr. -Ms-400 p. 17) Sodann leitet Kant aus dem »Begrif vom Ich« die Substantialität der Seele (»Die Seele ist das eigentliche IchDie Identitaet des Selbst ist sehr unvollkommen. SI Jemand kann, wenn er etwas übels gethan hat, nach dem er sich gebessert, wozu aber keine kurtze Zeit gehört, nicht mehr deswegen mit rachenden Strafen belegt werden, weil er jetzt nicht mehr derselbe ist, (aber doch mit exemplarischen Strafen.).«82 Der Mensch kann als Per-
XXVII: 344 (Moralph.-Collins). XXVII: 345 (Moralph.-Collins). 79 V gl. u. a. Praktische Philosophie Powalski XXVII: 187 ff. und speziell zum Gegensatz von Person und Sache VII: 127. 80 XXVII: 343 (Moralph.-Collins). Bt »Die Identität der Person betrift das lntelligibele Subject bey aller Verschiedenheit des empirischen Bewustseyns. Das letztere kan sehr verandert werden. Aber so fern es zusammenhangend bleibt, ist es die Erkentnis seiner selbst als derselben Person und wird zur imputation erfordert.Person ist dasjenige Subject, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen (die psychologische aber bloß das Vermögen, sich der Identität seiner selbst in den verschiedenen Zuständen seines Daseins bewußt zu werden), woraus dann folgt, daß eine Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst giebt, unterworfen ist.>ihrer selbst bewußt« (XXVIII: 295) ist. Nach der Metaphysik-Pölitz kann jedoch ein >>geistiger Schlummer« (XXVIII: 296) der Seele nicht bewiesen werden, so daß davon auszugehen ist, daß auch die Persönlichkeit des Menschen kontinuiert. 85 Er unterscheidet auch zwischem einem tierischen und einem geistigen Leben des Menschen, wobei das letztere mit der Persönlichkeit identifiziert und von der Fortdauer der Seelensubstanz abgegrenzt wird.S6 Die Identität der Person als eines bloß psychologisch gefaßten Subjekts beruht also auf dem >>innern Sinn«, der in der Metaphysik-Pölitz mit dem Selbstbewußtsein der Seele gleichgesetzt bzw. als Grund des Bewußtseins und der Identität der Person gefaßt wird. In scharfem Kontrast zu der Theorie der Kritik ist also nicht nur die Seele, sondern gewissermaßen auch der innere Sinn unsterblich: >>Der innere Sinn aber bleibt doch auch noch ohne den Körper, weil der Körper kein Princip des Lebens ist, also auch der Persönlichkeit.« (XXVIll: 296) Mit dem Menschen vergeht das >>thierische Leben« in ihm; als Seele erleidet er jedoch keinen >>geistigen Tod«87.
Nach Maßgabe der kurz nach der Kritik entstandenen Metaphysik-Mrongovius werden in der rationalen Psychologie drei Lehren bewiesen: >> 1. die Beharrlichkeit der Seele als Substanz, 2. die Fortdauer dieser nach dem Tode, als Intelligenz, 3. ihre Fortdauer als Person.« (XXIX: 912) Kant wiederholt hier seine Idee, dergemäß wir zwei Seiten der Unsterblichkeit zu unterscheiden haben, wobei auf der einen Seite die bloße Fortdauer der Substanz als Substanz gemeint ist, auf der anderen Seite aber die Person, welche auf dem Selbstbewußtsein beruht und Grund der personalen Identität des Subjekts ist.SS >>Unsterblichkeit ist die Unmöglichkeit zu sterben. Sterben ist das Ende des Lebens. Das Leben ist thierisch im Commercium und geistig ohne Commercium mit dem Körper. Das thierische Leben kann daher wohl aufhören, das geistige aber nicht. Das Leben des denkenden Wesens besteht in der Persönlichkeit, da es sich seiner selbst bewußt ist. Unsterblichkeit wird die nothwendige Fortdauer vor diese Persönlichkeit sein, nicht die vita bruta. Wenn die Seele ihre Persönlichkeit verliert oder eine andre Person würde, so wäre sie nicht mehr dieselbe und man könnte nicht sagen, daß sie ihr Leben continuirte. [... ] Wenn die Seele in der andern Welt sich nichts von dem bewußt wäre, was mit ihr hier vorgegangen wäre, so würde wohl ihre Substanz, aber nicht ihre Person fortdauern.« (XXIX: 913) Auf den Unterschied der Unsterblichkeit der Seele und der Persönlichkeit macht bereits Leibniz in § 89 seiner Theodicee aufmerksam. Unter der Unsterblichkeit des Menschen versteht man >>non seulement que l'ame, mais encore que Ia personalite subsiste [... ] en conservant Ia conscience ou le sentiment reflexif interne de ce qu'elle est.>abhängig ist«95. Carl spricht von einer »'vermögenstheoretischen Wende', die sich in Kants Entwürfen zu einer Deduktion der Kategorien nach 1775 [sc. nach den Aufzeichnungen des DuisburgNachlasses] feststellen läßt und die die erste Auflage [der Kritik] geprägt hat.« (1989: 115) Heinze hatte schon aufgrundder Nähe einzelner Lehrstücke der Ontologie von L1 mit der Kritik für eine Datierung der Vorlesungsnachschrift »auf den Ausgang der siebziger Jahre«96 plädiert. Diese Vorlesung, aus der wir bereits ausführlich zitiert haben, verdient aus verschiedenen Gründen unsere besondere Aufmerksamkeit. Zunächst äußert sich Kant in ihr zu allen Bereichen der Metaphysik, der Metaphysica generalis und specialis, und zwar nach dem Leitfaden von Baumgartens Metaphysica. Dabei ist zu beachten, daß Kant sowohl Positionen Baumgartens referiert und kritisiert als auch seine eigenen Vorstellungen zu den diversen Theorien entwickelt. In der Metaphysik-Pölitz thematisiert Kant wie in seiner ebenfalls im Winterhalbjahr gelesenen Anthropologie die empirische Psychologie. Wir haben damit die einmalige Situation, an zwei verschiedenen Orten Äußerungen Kants über diesen Bereich der Schulmetaphysik zu finden, die vielleicht sogar aus demselben Semester stammen, ohne daß Kant in seiner Anthropologievorlesung auf die Metaphysikvorlesung und vice versa verweisen würde. Anders die Philosophische Enzyklopädie 97 ; in ihr wird der Teil der »Wißenschaft der denkende Natur, das ist
Carl 1989: 118; vgl. 115-116 und 119-138. Diese Abhängigkeit reduziert sich bei Carl aber schließlich darauf, daß es >>gut möglich [ist], daß die transzendentale Theorie der Erkenntnisvermögen durch Kants Lektüre von Tetens' 1777 erschienenen 'Philosophische Versuche über die menschliche Natur' beeinflußt wurde. Kant hat deutlich gesehen, daß er und Tetens verschiedene Fragen stellten und unterschiedliche Ziele verfolgten. Insofern kann der Einfluß nur darin bestanden haben, daß Kant sich genötigt sah, diese Differenzen durch Betonung des transzendentalen Charakters seiner Theorie der Erkenntnisvermögen stärker herauszustellen.Demnach werden wir den Satz merken: sensus non fallunt. Dieses geschiehet nicht deßwegen, weil sie richtig urtheilen, sondern weil sie gar nicht urtheilen, aber in den Sinnen liegt der Schein. Sie verleiten zum urtheilen, obgleich sie nicht betrügen.Phylosophische=Encyclopedie oder ein kurtzer Inbegriff aller philosophischen 95
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Teil I. Kap. III. Se1bstbewußtsein, Selbstanschauung, Selbsterkenntnis
der Seele,« der die Seele empirisch betrachtet, Anthropologie98 oder empirische Psychologie genannt.99 Zudem behandelt Kant natürlich in seiner Metaphysikvorlesung auch die rationale Psychologie, deren Seelenerörterung wir bisher im Rahmen der Kantischen Vorlesungen über Anthropologie aus den siebziger Jahren nur beiläufig diskutiert haben. Schon Heinze hatte mit Blick auf diesen Abschnitt der Metaphysikvorlesung festgestellt, daß Kant noch in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre nicht von Paralogismen der reinen Seelenlehre spricht.IOO Wir werden uns fragen müssen, in welchem Verhältnis Kants Ausführungen über das Ich-Bewußtsein und die Seele in der empirischen zu der in der rationalen Psychologie stehen. Es wird sich zeigen, daß die von ihm in der empirischen Psychologie (wie in der Anthropologie) thematisierte Selbsterkenntnis, die auf einer Selbstanschauung des Ich beruht, aus methodischen und inhaltlichen Erwägungen heraus keinesfalls mit der Wesenserkenntnis der Seele, die in der rationalen Psychologie vorgetragen wird, verwechselt oder gar explizit mit ihr identifiziert werden darf, obgleich in beiden der Sache nach von der Seele als einer res cogitans gesprochen wird. Die Argumente, die für diese klare Trennung der beiden Zugangsweisen zur Wesenserkenntnis der menschlichen Seele angeführt werden können, sind so zwingend, daß es schwer fällt zu verstehen, warum sie bisher, soweit ich sehe, noch von keinem Kant-lnterpreten gewürdigt worden sind.IOI
Wißenschaften aus den Vorlesungen des Herrn Profeßors lmmanuel Kant>Halbjährige Tabelle Von den im Sommerhalbenjahre von Ostern biß Michaelis, 1775 auf der Vniversität zu Königsberg wirklich zu stande gekommenen und gelesenen Collegiis. In Facultate philosophica.>Encyclopaedie aller philos. Wissenschaften I [nach] Feder I privatim I [vor] 20 [Studenten].>von dem guten Gebrauch der Freyheit in Ansehung des Menschen>diejenige Störung des Gemüths, da alles, was der Verrückte erzählt, zwar den formalen Gesetzen des Denkens zu der Möglichkeit166 einer Erfahrung gemäß ist, aber durch falsch dichtende Einbildungskraft selbstgemachte Vorstellungen für Wahrnehmungen gehalten werden.«I67 Die Unsinnigkeit ist demgegenüber nach Kant das >>Unvermögen, seine Vorstellungen auch nur in den zur Möglichkeit der Erfahrung nöthigen Zusammenhang zu bringen. In den Tollhäusern ist das weibliche Geschlecht seiner Schwatzhaftigkeit halber dieser Krankheit am meisten unterworfen: nämlich unter das, was sie erzählen, so viel Einschiebsel ihrer lebhaften Einbildungskraft zu machen, daß niemand begreift, was sie eigentlich sagen wollten.«I68 Ein Subjekt, dem wir
einem Bewußtsein nur dadurch, daß sie unter, nicht neben einander (wie Empfindungen) gedacht werden.)>auf die besondere Lage des Subiects>(überhaupt (nicht blos meinem))Der Gebrauch der Verstandesbegriffe war immament, der Ideen als Begriffe von obiecten ist transscendent; aber als regulative principien der Vollendung und dabey zugleich der Schrankenbestimung unserer Erkentnis sind sie critisch immanent.>unabhängig von der Einleitung der Dialektik niedergeschrieben>Eine genaue Analyse der Funktion des Idealismus in der transzendentalen Dialektik hätte der Tatsache Rechnung zu tragen, daß verschiedene Konzeptionen vorliegen und daß der größte Teil bereits sehr früh ausgearbeitet wurde, so daß die erkenntnistheoretische Deutung der Ideen als regulative Prinzipien, die in der Einleitung II der Dialektik skizziert wird, auf die innere Gestaltung der Dialektik nur geringen Einfluß hatte.>daß die erkenntnistheoretische Deutung der Ideen als regulative PrinzipienAs to those impressions, which arise from the senses, their ultimate cause is, in my opinion, perfectly inexplicable by human reason, and 'twill always be impossible to decide with cer34 35
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Teil Il, Kap. II. Die metaphysische Dimension der Erkenntnis
blematik angesehen werden. Hume verabschiedet in wenigen Worten diese Frage der alten Metaphysik; für Kant ist sie ein zentraler Gegenstand seiner Philosophie. Neben dem Problem der Ermöglichung synthetischer Urteile a priori können soweit zwei zusätzliche Motive namhaft gemacht werden, aus denen heraus Kant unter der Perspektive einer Theorie der Erfahrung ein essentielles Interesse an einem Reich noumenaler Gegenstände haben mußte. Das erste Motiv, welches für die 'Kultivierung' des Dinges an sich in Anschlag gebracht wird, ist eng mit der Widerlegung des Idealismus verknüpft. Zwar werden wir von den wirklichen empirischen Gegenständen im Raum affiziert, doch da es sich bei diesen Gegenständen um Erscheinungen handelt, 'gibt' es einen Gegenstand im transzendentalen Sinne.36 Das zweite Motiv ist das der Grenzbestimmung. Nur dann, wenn wir einen Begriff von Gegenständen bilden, die nicht innerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung erkennbar sind, können wir einen gesicherten Begriff davon haben, welches die Gegenstände möglicher Erkenntnis sind. Die Rede vom transzendentalen Gegenstand als Ursache der Erscheinungen ist dabei als Grenzziehung der Anmaßungen der Sinnlichkeit durch den Verstand zu verstehen. 37 Damit das Ding an sich aber die genannten Funktionen übernehmen kann, muß es in einer epistemisch relevanten Beziehung zur Welt der Erkenntnis stehen. Welche epistemisch relevante Funktion das für uns unbekannte Objekt unserer Gemütsaffektionen für die Erkenntnis hat, kann sich also nicht in dem bekannten Bescheid seiner Unerkennbarkeit, oder der positiven Auskunft, daß es dieses ist, welches uns affiziert, aufgehen. Es geht darüber hinaus. Um dies gebührend zu würdigen, muß man verstehen, in welchem konkreten Verhältnis das Ding an sich und der transzendentale Gegenstand zu einander stehen. Wenn unsere Erfahrungsobjekte niemals die Dinge oder Gegenstände an sich selbst sein können, weil uns in Raum und Zeit Gegenstände nur so gegeben werden, wie sie uns erscheinen, Erscheinungen also nur Bestimmungen »unseres Gemüts« 38 sind, dann stellt sich mit Nachdruck die Frage, welches denn eigentlich der Gegenstand ist, auf den wir Erscheinungen im Erkenntnisurteil beziehen. Es folgt aus der Kantischen Bestimmung der Erscheinungen als dem rezeptiv in Raum und Zeit Gegebenen, daß es sich bei dem gesuchten Gegenstand nun seinerseits um den Begriff eines Gegenstandes handeln muß.39 Dies macht verständlich, warum zwar die Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung in der transzendentalen Ästhetik, der Terminus 'transzendentaler Gegenstand' aber erst
tainty, whether they arise immediately from the object, or are produce'd by the creative power of the mind, or are deriv'd from the author of our being. Nor is such a question any way matenal to our present purpose. We may draw inferences from the coherence of our perceptions, whether they be true or false; whether they represent nature justly, or be mere illusions of the senses.>dort draußen« bezieht, weil sich in ihm Kategorien auf Erscheinungen beziehen, welche letzteren ihrerseits Erscheinungen von etwas sind, welches uns unbekannt ist und von Kant als Ding an sich bezeichnet wird. Nun kann man versucht sein, nach den Eigenschaften dieses Tisches, so wie er an sich selbst betrachtet beschaffen sein mag, zu fragen. Wir wissen, seine Anschauungsqualitäten sind nicht diejenigen des Dinges an sich. Die einzige für uns offenstehende Möglichkeit besteht demnach darin, ihn durch ein reines Denken zu erkennen. Abstrahieren wir aber von seinen Anschauungsqualitäten, ist uns der Tisch nicht so gegeben, wie er an sich selbst beschaffen ist, sondern überhaupt nicht. Was wir denken, ist nichts anderes als der transzendentale Gegenstand, der bei aller Erkenntnis immer nur ein Etwas bezeichnet. Er ist ein unbestimmter Gegenstand, weil wir die Kategorien, mittels derer wir ihn denken, nicht auf Anschauungen beziehen. Selbstverständlich - und darauf kommt es hier an - schließt dieses Ausschlußverfahren nicht aus, zu sagen, daß wir diesen transzendentalen Gegenstand als Ding an sich nicht erkennen können. Mit gleichem Recht kann von ihm gesagt werden, daß er mich affiziert. Ich kann dies sinnvoll sagen, weil es dieser Gegenstand ist, auf den ich in einem Erkenntnisurteil meine Anschauungen beziehen muß. Wenn nun ein Gegenstand in >>einer Beziehung« als Phänomen betrachtet wird, heißt dies nicht, daß, wenn wir von den epistemischen Bedingungen absehen, wir von eben diesem Gegenstand sprechen können. Erscheinungen sind keine Bestimmungen des Dinges an sich; abstrahiere ich also von ihnen, rede ich nicht von einem Ding an sich selbst, welches numerisch identisch ist mit dem Erfahrungsgegenstand. Ohne Bedingungen der Sinnlichkeit kann ich überhaupt nicht von Gegenständen der Erfahrungss sprechen, weil dies die kategoriale Bestimmung des Etwas, das im transzendentalen Gegenstand gedacht wird, voraussetzt. Aus der Tatsache aber, daß es nach Kant zum Begriff der Erscheinung gehört, Erscheinung von etwas59 zu sein, wo der Erscheinungsbegriff uns auffordert, uns nach einem intelligiblen Gegenstand umzusehen, werden wir dazu geführt, dem transzendentalen Gegenstand Kausalität zuzuschreiben und damit - scheinbar gegen die Einsicht, daß der Grundsatz der Kausalität außerhalb der Erfahrung keinen Gebrauch hat, zu verstoßen: >>Denn da diesen [sc. den Erscheinungen], weil sie an sich keine Dinge sind, ein transzendentaler Gegenstand zum Grunde liegen muß, der sie als bloße Vorstellungen bestimmt, so hindert nichts, daß wir diesem transzendentalen Gegenstande, außer der Eigenschaft, dadurch er erscheint, nicht auch eine Kausalität beilegen sollten, die nicht Erscheinung ist, obgleich ihre Wirkung dennoch in der Erscheinung angetroffen wird.«60 Diese bloß 'nominelle' Kausalität wird an einer anderen Stellen sehr eindringlich formuliert: >>Die nicht58 59 60
Vgl. A 492, A 494, A 567, A 582. Vgl. A 251-252, A 566/B 594. A 538-539/B 566-567; vgl. A 636.
Teil li, Kap. li. Die metaphysische Dimension der Erkenntnis
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sinnliche Ursache dieser Vorstellungen ist uns gänzlich unbekannt, und diese können wir daher nicht als Objekt anschauen[ ... ]. Indessen können wir die bloß intelligible Ursache der Erscheinungen überhaupt, das transzendentale Objekt nennen, bloß, damit wir etwas haben, was der Sinnlichkeit als einer Rezeptivität korrespondiert. Diesem transzendentalen Objekt können wir allen Umfang und Zusammenhang unserer möglichen Wahrnehmungen zuschreiben, und sagen: daß es vor aller Erfahrung an sich selbst gegeben sei.«6t Hieraus ergibt sich auch ein perspektivischer Unterschied zwischen der Verwendung der Ausdrücke 'Ding an sich' und 'transzendentaler Gegenstand'. Sage ich, das Ding an sich ist für Menschen nicht erkennbar, heißt dies: Er wird mir in meiner Sinnlichkeit nicht gegeben. Weil die Bedingungen, unter denen mir ein Gegenstand in meiner Sinnlichkeit gegeben wird, nicht diejenigen der Dinge an sich selbst sind, habe ich keine Möglichkeit, diesen Gegenstand theoretisch zu erkennen. Eine Erkenntnis des Dinges an sich wäre nur unter der - für uns Menschen - hypothetischen Annahme eines anschauenden Verstandes vorstellbar. Aus diesem Grunde ist die Bestimmung des Etwas des transzendentalen Objektes auch vorstellbar, wenn auch - für uns Menschen - undurchführbar. Sage ich demgegenüber, ich erkenne den transzendentalen Gegenstand nicht, bedeutet dies: Ich erkenne diesen Gegenstand nicht, weil das reine Denken keine Erkenntnis des Gegenstandes darstellt. Objekterkenntnis ist immer begriffliche Erkenntnis. Also muß, weil mir Objekte nur in uneigentlicher Rede in der Sinnlichkeit gegeben werden, das Objekt, welches ich erkenne, seiner begrifflichen Struktur nach ein Verstandesbegriff sein. Der transzendentale Gegenstand affiziert mich dann auch nur in uneigentlicher Rede, nämlich im Sinne eines den Erscheinungen korrespondierenden, bloß gedachten Gegenstandes. Dieser ist nicht das Ding an sich, weil wir dessen Einheit nicht aus der Einheit unseres Bewußtseins erschließen können. Während das Ding an sich im Kontext der Thematisierung der Rezeptivität unserer Sinnlichkeit verhandelt wird, ist der transzendentale Gegenstand sein Gegenüber auf der Seite der Spontaneität. Aber wird nicht von der Kategorie der Kausalität ein unrechtmäßiger Gebrauch gemacht, wenn Kant dem transzendentalen Gegenstand (und dem Ding an sich) im Begriff der Affektion Kausalität bezüglich unseres Anschauungsvermögens zuspricht? Kant war sich dieses Problems sehr wohl bewußt. Es kann kein Kausalverhältnis im strengen Sinne des Wortes vorliegen, weil die zweite Analogie nicht anwendbar ist, Kausalität nur im Felde der Erscheinungen62 gültig ist; andererseits aber schreiben wir dem Ding an sich bzw. dem transzendentalen Gegenstand gerade diese Kausalität zu. Die Lösung, die der Kritik zu entnehmen ist, wird nur dann verständlich, wenn wir die dem Ding an sich bzw. dem transzendentalen Gegenstand zugeschriebene Kausalität auf ein Vernunftbedürfnis zurückführen. Die Vernunft, nicht aber der
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A 494/B 522-523; vgl. A 277/B 333; A 288/B 344; A 393. Vgl. A 636.
Transzendentaler Gegenstand, Ding an sich und Noumenon
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Verstand mit seinen synthetischen Grundsätzen, hat ein Bedürfnis, das Unbedingte alles Bedingten zu erkennen. So auch bezüglich der in Raum und Zeit bestimmbaren Erscheinungen. In der »Schlußanmerkung zur ganzen Antinomie der reinen Vernunft« schreibt Kant: Das »in sich selbst ganz und gar nicht gegründete, sondern stets bedingte, Dasein der Erscheinungen fordert uns auf: uns nach etwas von allen Erscheinungen unterschiedenem, mithin einem intelligiblen Gegenstande umzusehen, bei welchem diese Zufälligkeit aufhöre. Weil aber, wenn wir uns einmal die Erlaubnis genommen haben, außer dem Felde der gesamten Sinnlichkeit eine für sich bestehende Wirklichkeit anzunehmen, Erscheinungen nur als zufällige Vorstellungsarten intelligibler Gegenstände, von solchen Wesen, die selbst Intelligenzen sind, anzusehen: so bleibt uns nichts anderes übrig als die Analogie, nach der wir die Erfahrungsbegriffe nutzen, um uns von intelligiblen Dingen, von denen wir an sich nicht die mindeste Kenntnis haben, doch irgend einen Begriff zu machen.«63 Intelligibel ist dabei »dasjenige an einem Gegenstand der Sinne, was nicht selbst Erscheinung ist« (A 538/B 566). So wie wir bezüglich eines Subjekts berechtigt sind, von einer Kausalität aus Freiheit zu sprechen, so kann allgemein dem transzendentalen Gegenstand eine Kausalität zugeschrieben werden.64 Der transzendentale Gegenstand muß den Erscheinungen »in Gedanken zum Grunde« (A 540/B 568) gelegt werden. An einer anderen Stelle schreibt Kant unmißverständlich: »Indessen können wir die bloß intelligible Ursache der Erscheinungen überhaupt, das transzendentale Objekt nennen, bloß, damit wir etwas haben, was der Sinnlichkeit als einer Rezeptivität korrespondiert. Diesem transzendentalen Objekt können wir allen Umfang und Zusammenhang unserer möglichen Wahrnehmungen zuschreiben, und sagen: daß es vor aller Erfahrung an sich selbst gegeben sei.«65 Ich möchte nun auf einen für unsere Überlegungen wichtigen negativen Befund eingehen. Gleichsetzungen oder Identifikationen von Ding an sich und transzendentalen Gegenstand finden sich zwar an diversen Stellen der Kritik, jedoch nicht in der Deduktion A. Dieser Umstand hat die Kant-Kommentatoren, wie erwähnt, dazu veranlaßt, von zwei verschiedenen Bedeutungen des transzendentalen Gegenstandes zu sprechen, wobei seine genuine Bedeutung diejenige sei, die im Deduktionskapitel zur Sprache kommt. Meines Erachtens kann diesem Befund jedoch gerade ein Argument dafür entnommen werden, daß Kant sich sehr wohl darüber im klaren gewesen sein muß, daß den verschiedenen Bedeutungen des transzendentalen Gegenstandes kein Argument gegen die Kohärenz seiner Theorie zu entnehmen ist. In der transzendentalen Deduktion wird der transzendentale Gegenstand im Kontext einer sehr spezifischen Problemstellung aufgenommen. Es soll die objektive Gültigkeit der Kategorien aufgezeigt werden. In einem ersten 63 A 566/B 594. Wie im Falle der empirischen Selbsterkenntnis verwendet Kant 1781 also auch hier den Ausdruck der 'Analogie'. 64 Vgl. A 538-539/B 566-567. 65 A 494/B 522-523.
Teil II, Kap. II. Die metaphysische Dimension der Erkenntnis
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Beweisschritt wird gezeigt, was es heißt, durch Kategorien einen Gegenstand der Erkenntnis zu denken.66 Es ist nun ein an sich nicht inkohärentes Verfahren, wenn Kant an späteren Stellen seiner Schrift den so bestimmten Begriff eines Gegenstandes semantisch erweitert oder vertieft. Da die im Deduktionskapitel gemeinte Bedeutung auch in allen späteren, den zweiten Bedeutungsgehalt des transzendentalen Gegenstandes aufnehmenden Kontexten nicht aufgegeben wird, ist nicht einsichtig zu machen, inwiefern Kant inkohärent argumentieren würde. Eine Austauschbarkeit dieser Begriffe in allen in Frage kommenden Kontexten, die Voraussetzung dafür ist, Ding an sich und transzendentaler Gegenstand als identisch anzusehen, ist sicherlich nicht gegeben. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen mutet die lapidare Feststellung von Stephen Houlgate, die Begriffe Ding an sich, Noumena und transzendentales Objekt seien »in effect interchangeable«67, recht verblüffend an. In welchem Verhältnis stehen nun aber die Erkenntnisobjekte zum Ding an sich? Handelt es sich bei ihnen, wie Prauss und Allison herausstellen, um zwei verschiedene Betrachtungsweisen ein und desselben Gegenstandes? Oder bezeichnet Kant mit ihnen zwei unterschiedliche Objektbereiche? Unter Voraussetzung unserer obigen Überlegungen muß sich die Zwei-Perspektiven-Interpretation als falsch erweisen. Abgesehen von den zahlreichen Textstellen, denen diese Auffassung diametral entgegensteht,6S kann ihre philosophische Unhaltbarkeit im Sinne Kants durch einen relativ einfachen Gedankengang aufgezeigt werden. Unter welchen episternischen Voraussetzungen können wir überhaupt von Erkenntnisobjekten sprechen? Dies können wir nach Kant nur dann, wenn wir berücksichtigen, daß uns Gegenstände immer nur in Raum und Zeit, also als Erscheinungen, gegeben sind. Raum und Zeit sind aber keine Eigenschaften der Dinge an sich selbst. Ferner liegt ein Erkenntnisurteil immer nur dann vor, wenn wir Kategorien auf Anschauungen beziehen, die für den Menschen immer sinnlich sein müssen. Eine kategoriale Bestimmung der Dinge an sich ist demnach nicht möglich. Unter diesen, und nur unter diesen Bedingungen können wir also von einem Objekt der Erkenntnis sprechen. Der transzendentale Gegenstand, so hatten wir gesehen, ist gerade deshalb in die Erörterung der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe eingeführt worden, weil das Ding an sich kein Ding für uns ist. Also müssen wir strikt zwischen einem Reich phänomenaler und einem gedachten Reich noumenaler Gegenstände unterscheiden, wobei wir in theoretischer Hinsicht überhaupt keinen positiven Begriff eines noumenalen Gegenstandes bilden können. Aber auch wenn wir - um des Argumentes willen - zugestehen, daß wir einen derartigen Begriff bilden können, wie könnte es möglich sein, von zwei Betrachtungsweisen eines numerisch identischen Gegenstandes zu sprechen? Die
Vgl. oben Kap. I, I. Houlgate 1993: 121; vgl. 122. 68 Vgl. etwa A 566/8 594: »Weil aber, wenn wir uns einmal die Erlaubnis genommen haben, außer dem Feld der gesamten Sinnlichkeit eine für sich bestehende Wirklichkeit anzunehmen 66 67
[ ... ].>der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena« ein, nachdem er im abschließenden 3. Abschnitt des 2. Hauptstücks eine >>Systematische Vorstellung aller synthetischen Grundsätze« des reinen Verstandes gegeben hatte. Warum ist es sinnvoll, ja notwendig, neben den Erfahrungsgegenständen, Phaenomena, noch solche Gegenstände anzunehmen, die wir zwar denken, aber nicht erkennen können? Was genau heißt es, von der Existenz eines noumenalen Gegenstandes zu sprechen, wenn Kant zugleich behauptet, daß wir von nicht-sinnlichen Gegenständen keine >>Erkenntnis (weder Anschauung, noch Begriff) jemals haben können« (A 286/ B 342)? Wäre mit dem reinen kategorialen Denken eines Gegenstandes der Erkenntnis zugleich seine Erkenntnis verknüpft, dann wäre das bloße Denken eines Gegenstandes = X seine bestimmte Erkenntnis. Transzendentaler Gegenstand, Ding an sich und Noumenon wären in der Tat identisch. Weil wir mit nicht-schematisierten Kategorien keine Objekte erkennen können, können diese drei Begriffe im strengen Sinne aber nicht semantisch identisch sein. Wären sie identisch, müßten sie in allen Kontexten austauschbar sein, was die Kantische Erkenntniskritik ganz offensichtlich sprengen würde. Jedem von ihnen wird eine spezifische Funktion oder Rolle innerhalb der Kantischen Erkenntniskritik zugeschrieben. Kant orientiert sich der Sache nach am Unterschied zwischen der analytischen und der synthetischen Möglichkeit des Begriffs von einem Objekt.69 Auf der Ebene der bloßen Urteilsformen, d. h. der allgemeinen, formalen Logik können wir Gegenstände denken, ohne darüber Auskunft eingeholt zu haben, ob den so gedachten Gegenständen auch eine >>reale Möglichkeit« (A 244/B 302) zukommt. Wird die Definition von Möglichkeit, Dasein und Notwendigkeit »lediglich aus
Vgl. A 602/B 630, wo er dem »analytischen Merkmal der Möglichkeit>Merkmal der Möglichkeit synthetischer Erkenntnis>Von der Endabsicht der transzendentalen Dialektik« eine Deduktion der Ideen gegeben, in der gezeigt wird, daß die drei transzendentalen Ideen der spekulativen Vernunft (Ich, Welt, Gott) »einige, wenn auch nur unbestimmte, objektive Gültigkeit haben, und nicht bloß leere Gedankendinge (entia rationis ratiocinantis) vorstellen« (A 669/B 697). Diese objektive Gültigkeit ergibt sich aus ihrem Gebrauch »als regulativer Prinzipien der systematischen Einheit des Mannigfaltigen der empirischen Erkenntnis überhaupt [... ].« (A 671/B 699) So wird das eigentliche Problem von Denken und Erkennen eines Gegenstandes an der Stelle virulent, an welcher Kant vom bloßen Denken eines transzendentalen Gegenstandes spricht, welches ja einen transzendentalen Kategoriengebrauch beinhaltet. »Das Denken ist die Handlung, gegebene Anschauung auf einen Gegenstand zu beziehen. Ist die Art dieser Anschauung auf keinerlei Weise gegeben, so ist der Gegenstand bloß transzendental, und der Verstandesbegriff hat keinen anderen, als transzendentalen Gebrauch, nämlich die Einheit des Denkens eines Mannigfaltigen überhaupt. Durch eine reine Kategorie nun, in welcher von aller Bedingung der sinnlichen Anschauung, als der einzigen, die uns möglich ist, abstrahiert wird, wird also kein Objekt bestimmt, sondern nur das Denken eines Objekts überhaupt, nach verschiedenen modis, ausgedrückt.«72 Wird von den Kategorien ein transzendentaler Gebrauch gemacht, stellen diese nichts anderes als die »reine Form des Verstandesgebrauchs in Ansehung der 70 >>Crusius (alles, was ich denken kan, ist möglich) nahm angebohrne Grundgesetze an (obgleich nicht platonische ideen); [... ].>ohne dazu der Bedingungen der empirischen Anschauung zu bedürfen; [... ].Kritik der praktischen Vernunft>[ ... ] auch wird, zu der in der ersten Auflage enthaltenen Kritik der reinen speculativen Vernunft, in der zweyten noch eine Kritik der reinen praktischen Vernunft hinzukommen, die dann eben so das Princip der Sittlichkeit wider die gemachten oder noch zu machenden Einwürfe zu sichern, und das Ganze der kritischen Untersuchungen, die vor dem System einer Philosophie der reinen Vernunft vorhergehen müssen, zu vollenden dienen kann.