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German Pages 488 Year 2018
Ana-Carolina Gutiérrez-Xivillé Kants ethischer Autonomiebegriff
Kantstudien-Ergänzungshefte
Im Auftrag der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Heiner F. Klemme
Band 205
Ana-Carolina Gutiérrez-Xivillé
Kants ethischer Autonomiebegriff Eine genetische Rekonstruktion von 1762 bis 1785
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Carl & Charlotte Schott Stiftung (Philipps-Universität Marburg)
ISBN 978-3-11-058268-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-058428-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-058289-5 ISSN 0340-6059 Library of Congress Control Number: 2018951278 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Als meus petits, Héctor i Édgar, que el 13 de desembre de 2010 iniciaren el seu camí cap a l’autonomia.
„So wie die Fruchte wenn sie reif genug ist sich vom Baume trennt sich der Erde nähert um ihre eigenen Saamen wurtzeln zu lassen, so trennt sich auch der mündige Mensch von seinen Eltern verpflanzet sich selbst und wird die Wurzel eines neuen Geschlechts“. I. Kant, Bemerkungen in den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“, 22
Inhalt Vorwort
XIII
Zitierweise Einleitung . .
XIX 1 1 Ausgangspunkt und Fragestellung Stand der Forschung 2 6 Ziele Quellen 10 Kants handschriftlicher Nachlass und Vorlesungen 15 Andere literarische Kant-Quellen Struktur und Methode 19 23 Grenzen
11
I Das Rezeptionsstadium: Der Standpunkt der Moralkonzeption Kants in der ersten Hälfte der 1760er Jahre . .. .. .. . .. .. . . .. .. .. . ..
Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1764 [1762]) 27 27 Analytischer Teil Passagen 27 Struktur des Textes 29 30 Kants Darstellung der moralischen Begriffe Exegetischer Teil 36 36 Kants Absicht 40 Kritische Rekonstruktion der Moralkonzeption Schluss 43 Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen 46 (1764) 46 Analytischer Teil Passagen 47 47 Struktur des Textes 50 Kants Darstellung der moralischen Begriffe Exegetischer Teil 54 54 Kants Absicht
VIII
.. . .
. .. .. .. . .. .
Inhalt
Kritische Rekonstruktion der impliziten Moralkonzeption Schluss 65
61
Bemerkungen in den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ (ca. 1764 – 65) 69 69 Einleitung 71 Exkurs: Zur Datierungsdiskussion Forschungsziele 77 79 Analytischer Teil Passagen 79 Die auf Latein niedergeschriebenen Bemerkungen 80 92 Die auf Deutsch niedergeschriebenen Bemerkungen Exegetischer Teil 98 Kritische Anmerkungen 105 109 Schluss
Schlüsse zum Ersten Teil
113
II Das kritisch-reflexive Stadium: Kants Bruch mit dem moralischen Gefühl und die Suche nach einem reinen moralphilosophischen Fundament . .. .. .. . .. .. .
Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766) 119 Analytischer Teil 119 119 Passagen 119 Struktur des Textes Kants Darstellung der moralischen Begriffe 120 124 Exegetischer Teil 124 Kants Absicht Kritische Rekonstruktion der Moralkonzeption 128 134 Schluss
. .. .. ..
Vorlesung zur Moralphilosophie (1774/75) 139 139 Analytischer Teil Passagen 142 Struktur des Textes 142 150 Kants Darstellung der moralischen Begriffe
Inhalt
. .. .. .
Exegetischer Teil 193 Kants Absicht 193 Kritische Rekonstruktion der Moralkonzeption 213 Schluss
194
Schlüsse zum Zweiten Teil 217 Exkurs: Überblick über Kants wechselnde Einstellung zum moralischen Gefühl als Paradebeispiel und Schlüssel zur 218 Eröffnung einer neuen Dimension in der Ethik
III Das Stadium der Methode: Kants Propädeutik von 1781 . .. .. . .. .. ..
.. . .. .. .. ..
Der Ort der Moralität in der Kritik der reinen Vernunft (1781): die „dritte Antinomie“ und der „Kanon der reinen Vernunft“ 235 Einleitung 235 237 Der Ort der Moralität in der Kritik der reinen Vernunft Debatte und Ausgangspunkt 240 Analytischer Teil 250 250 Passagen 250 Das Praktische: Der moralische Charakter des „Kanons“ Das höchste Gut als der höchste Zweck der menschlichen Vernunft und Kants Exklusion der transzendentalen Freiheit aus dem „Kanon“ 256 Die Bedeutungen der Freiheit in der „Dialektik“ und dem „Kanon“ 266 279 Exegetischer Teil 280 Das höchste Gut Die Gesetze des Handelns und der Begriff der Notwendigkeit 288 290 Wille: arbitrium liberum versus arbitrium brutum Die zweifache Freiheitskonzeption in der KrV 293
Schluss zum Dritten Teil: Mit einem Blick auf die Grundlegung
298
IX
X
Inhalt
IV Das Stadium der Metaphysik: Die Genese des ethischen Autonomiebegriffs
. .. .. . .. .. .
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) 303 Das Projekt einer reinen Moralphilosophie. System und Implikationen 303 308 Analytischer Teil Struktur des Werks 308 316 Kants Darstellung der moralischen Begriffe Exegetischer Teil 389 Kants mehrfache Absicht 389 391 Kritische Rekonstruktion Schluss: Die GMS, ein unglücklich geschlossenes Werk?
409 Ertrag des Ganzen Die Metapher „Entwicklung“ 409 410 Kants gedankliche Phasen . Das Rezeptionsstadium: 1762 – 1765 410 . Das kritisch-reflexive Stadium: 1766 bis Ende der 1770er Jahre 412 . Das Stadium der Methode: Kants Propädeutik von 1781 . Das Stadium der Metaphysik: Die Genese des ethischen Autonomiebegriffs 1785 417 Schluss 419
Anhänge zu verschiedenen Zwecken Anhang 1: Untersuchung über die Deutlichkeit (1762)
425
426 Anhang 2: Beobachtungen (1764) A Inhaltliches Schema des 2. Abschnitts 426 426 B Schema der moralischen Konzeption Kants Anhang 3: Bemerkungen in den „Beobachtungen“ (1764 – 65) 427 Bemerkungen zum Begriff des „Willens“ Bemerkungen zum Begriff der „Notwendigkeit“ Bemerkungen zum Begriff der „Freiheit“ 434 Anhang 4: Träume eines Geistersehers (1766)
436
427 431
398
414
Inhalt
Anhang 5: Grundlegung (1785) 437 Die Klassifikation der Handlungsprinzipien auf der Basis des moralisch Guten 437 Literaturverzeichnis 442 442 Quellen 442 . Immanuel Kant . Andere Autoren 443 445 Sekundärliteratur Materialien 453 . Wörterbücher zur Deutschen Sprache . Wörterbücher zur Spanischen Sprache Sachregister Namensregister Exzerpt
467
454 464
453 453
XI
Vorwort Der vorliegende Band ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich gemäß einem binationalen Promotionsverfahren an der federführenden Universität Marburg in Zusammenhang mit der Universitat de Barcelona angefertigt habe.¹ Das Anliegen, die Dissertation zu schreiben, geht auf eine persönliche, zur heutigen Gesellschaft gar nicht passende Überzeugung zurück, nämlich: Kant legte mit seinem Prinzip der Autonomie des Willens und seinem Vorschlag einer reinen Moralphilosophie nicht bloß die systematischen Grundlagen zur Begründung einer Lebensoption fest, sondern er fand eine „Formel“ für ein Menschen gemäßes Entwickeln, Erziehen und Ausbilden, also für den Vollzug des Guten durch Freiheit. Die ethische Autonomie schien mir die Bedingung sowohl für eine bewusste Verantwortung gegenüber dem eigenen Handeln als auch für den Vollzug des Guten durch Freiheit zu sein. Darüber hinaus könnte eine fundierte Untersuchung und Kenntnis derselben einer Moralforscherin erlauben, einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Ein Ziel der Arbeit ist, den alltagssprachlich verkehrten, aus dem Utilitarismus rezipierten Autonomiebegriff in Hinblick auf die Vorteile, Bedürfnisse, Fortschritte und Mängel unserer heutigen Gesellschaft zu rehabilitieren. Die ethische Autonomie wird oft falsch verstanden, und zwar als Freiheit, willkürliche Entscheidungen zu treffen. So bezieht sie sich nicht mehr auf ein normatives Handeln und paradoxerweise handelt man im Namen der Autonomie unfrei. – „Ich will nicht lesen lernen!“ – sagt der Bube. Soll man seinen Willen respektieren? Nein: Der Bube wird erst dann diese Entscheidung autonom treffen können, wenn er lesen kann. Also soll man ihm das Lesen beibringen. Diese Beobachtung ist keine Bagatelle. Umso weniger, wenn man darauf achtet, dass die einzige Richtschnur, welche unserem demokratischen System Legitimität erteilt, nicht die grobe Ratifizierung durch die Mehrheit, sondern die Autonomie der Bürger_innen ist. Ebenso ist sie Prüfstein für die angewandte Ethik auf der Suche nach verantwortlichen und legitimen Lösungen für moralische (u. a. durch heutige Technik und Technologie entstandene) Konflikte. Nur in deren Namen kann ein Gesetz gerecht verabschiedet und aufgezwungen werden. Nur sie kann der Machtgewalt Schranken setzen und den Machtmissbrauch vermeiden.
Die Dissertation wurde vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philosophie der Philipps-Universität Marburg am 17.12. 2014 angenommen. Die Disputation fand am 18.05. 2015 an derselben Universität statt. https://doi.org/10.1515/9783110584288-001
XIV
Vorwort
Heutzutage steht die Autonomie als eines der vier Prinzipien der Bioethik² in Verhältnis zu den sogenannten bioethischen Rechten (Patientenrechte, Recht auf informationelle Selbstbestimmung, Recht auf Ausführung einer Willenserklärung usw.). Dies fordert mehr denn je ein Bildungssystem, das – statt Individuen, die ihre Rechte und Pflichten kennen – Bürger und Bürgerinnen bildet, die den Grund ihrer Rechte und Pflichten verstehen. Autonomie ist echte Selbstbestimmung. Sie ergibt sich nicht individualistisch aus bloß subjektivem, wandelbarem, gesetzlosem Eigeninteresse und Geschmack bzw. Gefühl, sondern aus dem guten, d. h. durch praktische Vernunft bestimmten Willen. Autonomie ist das Handeln eines endlichen Wesens, welches als vernünftig und frei in der Lage ist, sich eine allgemeingültige Handlungsregel vorzustellen und sich daran zu halten. Es handelt sich also um eine Willensbestimmung, die Kenntnis und Selbstbewusstsein erfordert. Die freundliche Einladung von Prof.Werner Stark zum Besuch eines Seminars über Kants Moralphilosophie hat mich im April 2006 nach Marburg geführt. Ein Stipendium von La Caixa–DAAD für die Promotion wurde mir im Juni bewilligt, dank dessen ich mich für zwei weitere Jahre dem Studium von Kants Schriften hingeben und die Kant-Forschung aus erster Hand kennenlernen konnte. Hinsichtlich der Möglichkeit einer Verlängerung meines Stipendiums durch den DAAD meldete ich 2008 mein Promotionsvorhaben an der Philipps-Universität Marburg und nachträglich im Hinblick auf ein binationales Promotionsverfahrens an der Universitat de Barcelona an. 2009 war grosso modo das hier vorgelegte Konzept da, und Mitte 2010 waren die Kapitel 1 bis 5 im Großen und Ganzen geschrieben. Ab Ende 2010 verlangte meine Zwillingsmutterschaft für zwei Jahre ihr Recht. Im Jahr 2012– 13 setzte ich, aufgemuntert durch Federica Basaglia, mein Vorhaben fort, eine Studie über die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und die moralische Autonomie abzufassen.
Dank Meinen ehrlichsten Dank möchte ich zu allererst an meine Erst- und Zweitbetreuer der Philipps-Universität Marburg, Herrn Prof. Dr. Werner Stark und Frau Prof. Dr. Andrea Esser, und der Universitat de Barcelona, Frau Prof. Dr. Begoña Román Maestre und Herrn Prof. Dr. Salvio Turró Tomás für die akademische und persönliche Unterstützung, für die ausgezeichnete Betreuung, die Begleitung, Auf-
Siehe Beauchamp, Tom L./Childress, James F., 52001. Principles of Biomedical Ethics. Oxford: Oxford University Press.
Dank
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merksamkeit und Anerkennung, für die Hilfe bei Überwindung bürokratischer Hürden, für das Verständnis in den schwierigen, wenig fruchtbaren Zeiten, für das Vertrauen in mich und mein Vorhaben sagen. Besonders Herrn Stark danke ich für die großzügige Vermittlung seiner reichen Kenntnisse. Er hat mir beigebracht, Kants Texte geduldig zu zerlegen und zu entschlüsseln, offen und freudig meine Beiträge zur Forschung herausgestellt und mir den nötigen Mut eingeflößt, diese selbstbewusst und souverän zu vertreten. Die vorliegende Arbeit schuldet folgenden Institutionen für erhaltene finanzielle Förderung Dank: La Caixa (Spanien) gemeinsam mit dem Deutschen Akademischen Austauschdienst [DAAD] (Studien- und Forschungsstipendium für Graduirte und Nachwuchswissenschaftler); DAAD (Studien- und Forschungsstipendium für Nachwuchswissenschaftler); Philipps-Universität Marburg (JohannaWyttenbach-Abschlussstipendium; Research Assistantship, STIBET-Programm; Reisekostenstipendium; Gleichstellungsstipendium Fonds zur Unterstützung weiblicher Erziehender in der Qualifikationsphase „Wissenschaftliche Karriere mit Kind“); Ministerio de Educación de España [Bildungsministerium, Spanien] (Mobilitätsförderung). Frau Kreuder, Frau Igler, Frau Seip, Frau Kocyan, Frau Kienle, Frau DrescherBonny und dem Graduiertenzentrum für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Marburg möchte ich für ihr freundliches Engagement im Verwaltungsprozess des binationalen Promotionsverfahrens danken. Ebenso möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Enric I. Canela Campos und Frau Castro Arias aus der Escola de Doctorat an der Universitat de Barcelona für die Klärung und Beseitigung eines Missverständnisses bedanken, das in letzter Stunde das binationale Promotionsverfahren gefährdete. Wie jeder Arbeit sollten auch dieser Grenzen gesetzt werden. Dazu verhalf eine freundliche Ermahnung von Herrn Prof. Dr. Marcus Willaschek (Frankfurt): Nach einer kurzen Vorstellung meines ursprünglichen, allzu anspruchsvollen Promotionsvorhabens in seinem Kant-Kolloquium (2008) wies er mich mit einem Lächeln darauf hin: „Da haben Sie drei Doktorarbeiten“. In diesem Kolloquium konnte ich das philosophische Gespräch erleben und Personen kennenlernen, die mich unterstützten und aufmunterten. All ihnen gilt mein Dank. Für sachliche Gespräche und freundliche Hinweise möchte ich besonders Herrn Prof. Dr. Reinhard Brandt (Marburg) meinen Dank erweisen, dessen Doktoranden-Kolloquium ich von Sommersemester 2006 bis Wintersemester 2006/07 besucht habe. Ebenso danke ich ausdrücklich Herrn Prof. Dr. Dieter Schönecker (Siegen), der mich 2007 zum Besuch eines Kant-Kurses einlud und im weiteren Verlauf meine Forschung angeregt hat. Dank gebührt auch Herr Prof. Dr. Heiner Klemme (zunächst Mainz/später Halle) für freundliche sachliche und bibliographische Hinweise. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Stephen Engstrom (Pittsburg) für
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Vorwort
ein wertvolles Gespräch über den Begriff des guten Willens. Von Frau Prof. Dr. María Jesús Vázquez Lobeiras (Santiago de Compostela) danke ich ehrlich das herzliche Interesse, Rat und freundliche sachliche Bemerkungen. Dr. Thomas Sturm (ICREA Research Professor, Barcelona) danke ich die freundliche Einladung zu seinem Doktoranden-Kolloquium, wo ich Gelegenheit hatte, die Ergebnisse dieser Dissertation vorzustellen und die Disputation vorzubereiten. Für aufgezielte kritische Anmerkungen, Nachfragen und freundliche Hinweise möchte ich zuletzt Herr Prof. Dr. Jacinto C. Rivera de Rosales (Madrid) aufrichtig meinen Dank aussprechen. Im Juni 2016, als meine Disputation über ein Jahr zurücklag, schenkte Herr Rivera mir glücklicherweise ein Exemplar seiner Dissertation La realidad en sí en Kant [Die Realität an sich bei Kant] (1991), mit der er 1988 promoviert wurde. Diese ist keine ausschließlich erkenntnistheoretische, sondern eine ausgezeichnete entwicklungsgeschichtliche Arbeit, die Kants Verknüpfung des praktischen Moments mit dem Theoretischen auf besonders originelle Weise berücksichtigt. Der Erste Teil ist einer historischen Analyse von Kants vorkritischem Werdegang in Hinblick auf die Grundlagen seines kritischen Denkens gewidmet. Der Zweite Teil bietet eine systematische Interpretation der zuvor analysierten Elemente im Rahmen des kritischen Systems. Abschnittsweise werden Kants Positionen zur Metaphysik oder Erkenntnistheorie und daran anknüpfend zur Moralphilosophie sowie Theologie erörtert. Ziel ist, (a) diese Grundlagen, ihre Tragweite und Bedeutung für die Transzendentalphilosophie zu diskutieren; (b) zu zeigen, wie Kant in verschiedenen Systematisierungen alte und neue Beiträge zu vereinbaren sucht; und (c) die „vorkritischen“ Elemente zu identififzieren, die ungeändert bei der Transzendentalphilosophie erhalten sind und das Verständnis derselben erschweren. Im Unterschied zur gegenwärtigen Studie beschäftigt sich Rivera mit den vier Abteilungen der Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften. Sachlich setzen sich die Analysen insbesondere mit den Materialien zur theoretischen Philosophie und den Fortschritten in der Metaphysik auseinander. Methodisch sind sie überwiegend historisch-philosophischer statt philologischer Art. Zwar verleiht dies der Darstellung einen fließenden Charakter, der sich für die Richtigkeit und Genauigkeit nicht abträglich auswirkt. Aber eine spezifische Untersuchung zu den moralphilosophischen Reflexionen und studentischen Nachschriften wird nicht unternommen. Ver- und Nachweise auf Kants Bemerkungen in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen aus den Jahren 1764 – 65 rühren – notwendigerweise – von der damals einzig verfügbaren, doch fehlerhaften akademischen Edition Lehmanns³ her. Ihrerseits gehen die angeführten Zitate aus Kants Moral-Kolleg
Dazu siehe Kap. 3 Fn. 1.
Dank
XVII
auf die Nachschrift Praktische Philosophie Powalski zurück; aber die Frage nach der Datierung derselben ist unentschieden.⁴ Auf jeden Fall verdient die Studie Riveras eine gründlichere Diskussion als im gegenwärtigen Zusammenhang möglich. Dr. Margit Ruffing, Dr. Federica Basaglia und Judith Müller-Schoell danke ich für ihre freundliche Unterstützung mit Materialien während meiner Forschungszeit in Spanien. Ebenso danke ich Dr. Claudia Blöser, Dr. Josep Clusa, Dr. Silvia De Biancchi, Ruth Hatlapa, Dr. Thomas Höwing, Claudia Laos, Dr. Béatrice Lienemann, Florian Marwede, Judith Müller-Schoell, Lara Scaglia, Dr. Steffi Schadow, Christoph Schäfer, Dr. Maja Schepelmann und Dr. Peter Urbanek für Gespräche, Kommentare, Nachfragen und freundliche Textkorrekturen. Die allerletzten Korrekturen der Dissertation im Hinblick auf die Publikation sind Dr. Anne Tilkorn (Berlin), Florian Marwede (Frankfurt) und Prof. Werner Stark geschuldet. Für ihre Freundschaft und ihren guten Rat möchte meinen Dank an Federica Basaglia (Konstanz), Cristina Carrillo-Cañas (Northwestern University), Sabina Möglich (Marburg), Florian Marwede und Steffi Schadow (Bremen) sagen – an Florian und Steffi vor allem für ihre unschätzbare Hilfe bis zur letzten Stunde. Schließlich gehört meine tiefst empfundene Dankbarkeit Miguel Ángel: Seine Liebe und fast unendliche Geduld haben den geglückten Abschluss dieser Geschichte ermöglicht.
Schwaiger 2000, 186 ff., bei der Datierung dieses Hefts sei „eher von einem gewissen zeitlichen Abstand auszugehen“: Im Vergleich mit anderen Heften aus der Mitte der 1770er Jahre zeigt sich ein „unterschiedliche[r] Stand[] der Begriffsbildung“. Auch etliche Formulierungen und Positionen scheinen die KrV von 1781 vorauszusetzen. Rivera konnte von Werner Starks Neuedition des Moral-Kollegs auch nicht profitieren.
Zitierweise Zitiert werden Kants Werke nach: Gesammelte Schriften. Hg. v. der Preussische Akademie der Wissenschaften Bd. 1 – 22, Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin Bd. 23, Akademie der Wissenschaften zu Göttingen ab Bd. 24. Berlin 1900 ff. Was die Siglen betrifft, mit denen ich auf jedes Werk verweise, schließe ich mich (ausgenommen die Bemerkungen in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen [Bem.]) der Regelungen der Kant-Studien an, z. B.: BDG, AA 02: 111.11. Auch die von den Kant-Studien vorgeschlagenen Siglen für die von Werner Stark 2004 edierte Vorlesung zur Moralphilosophie Kants nach dem Kollegheft Kaehlers kürze ich ab [V-Mo]. Beim Zitieren der hauptsächlich untersuchten Werke und Texte gebe ich die Siglen des betreffenden Werks nur mit den Seiten- und Zeilennummer an und lasse der Einfachheit halber die Bandnummer der Akademie-Ausgabe (AA) weg. Sie kommt in der Bibliographie vor. Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral Zitiert: UD, 000.00. Verwiesen: Untersuchung, Preisschrift, UD. Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen Zitiert: GSE, 000.00. Verwiesen: Beobachtungen, GSE. Bemerkungen in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen [Rischmüller (Hg.) 1991] Zitiert: Bem., 000.00 (Seiten- und Zeilenangabe nach Kants originalem durchschossenen Exemplar). Verwiesen: Bemerkungen. Träume eines Geistersehers Zitiert: TG, 000.00. Verwiesen: Träume, TG. Vorlesung zur Moralphilosophie [Stark (Hg.) 2004] Zitiert: V-Mo, 000.00/000 (Seiten- und Zeilennummer [nach Stark (Hg.) 2004]/Originalpaginierung des dieser Edition zugrunde liegenden Manuskripts von J. F. Kaehler). Verwiesen: Vorlesung, V-Mo, Moralkolleg, u. Ä. Kritik der reinen Vernunft Zitate aus der A-Vorrede und A-Einleitung weisen auf die AA-Bandnummer hin: KrV, AA 04: 000.00/A000. Sonst folgt die Zitierung der 2. Auflage im dritten AA-Band: KrV, 000.00// A000/B000. Verwiesen: KrV. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Zitiert: GMS, 000.00. Verwiesen: Grundlegung, GMS. Hinweis: Damit die Leserin bzw. der Leser selbst interpretieren kann, entsprechen die von mir wiedergegebenen Transkriptionen aus den Bemerkungen und der Moralvorlesung nach Kaehler, trotz falscher Rechtschreibung und Interpunktion, dem Original.
https://doi.org/10.1515/9783110584288-002
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Zitierweise
Die Zitate aus Rousseaus Discours über die Ungleichheit geben den entsprechenden Teil der Schrift in römischen Ziffern (I. bzw. II.) und den Absatz (Abs.) in arabischen Ziffern wieder: Rousseau 1755, I. Abs. 4. Literarische Verweise auf andere Autoren werden auch zur Erleichterung folgendermaßen verkürzt: Nachname Erscheinungsjahr, ggf. Band (Bd.)/Teil/Kapitel/Paragraph (§)/Absatz (Abs.), Seite: Cassirer 1931, 14 f. Punktierte Unterstreichungen sind von mir. G e s p e r r t e , fette, kursivierte bzw. unterstrichene Hervorhebungen übernehme ich für alle Zitate insgesamt aus den benutzten Editionen; für Kants Werke aus: Meiner Verlag für Zitate aus den Bemerkungen (Rischmüller [Hg.] 1991), der ersten Kritik (Timmermann [Hg.], 1998) und der Grundlegung (Kraft/Schönecker [Hg.] 1999); Walter de Gruyter (Stark [Hg.] 2004) für Zitate aus der Moralvorlesung. Akademie-Ausgabe für Zitate aus anderen Werken bzw. Handschriften Kants sowie aus studentischen Nachschriften. Meiner Verlag für Zitate aus den Bemerkungen (Rischmüller [Hg.] 1991), der ersten Kritik (Timmermann [Hg.], 1998) und der Grundlegung (Kraft/Schönecker [Hg.] 1999); Walter de Gruyter (Stark [Hg.] 2004) für Zitate aus der Moralvorlesung. Akademie-Ausgabe für Zitate aus anderen Werken bzw. Handschriften Kants sowie aus studentischen Nachschriften.
Einleitung „Aber wird die Interpretation nicht zur Willkür, wenn sie der (sic) Autor zwingt, etwas zu sagen, was er nur deshalb ungesagt gelassen hat, weil er es nicht zu denken vermochte?“ Ernst Cassirer 1931, 17.
1 Ausgangspunkt und Fragestellung Die Ausgangsfrage der vorliegenden Dissertation lautet: Wie ist Kant dazu gekommen, dass die moralische Autonomie als Grund eines guten Willens das Hauptziel der Ethik ist? Oder: Warum hat Kant die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten geschrieben – d. h. eine Ethiktheorie, welche „die Autonomie des Willens als oberstes Princip der Sittlichkeit“ festlegt? (GMS, 440.14). Diese Frage führte mich unvermeidlich zum Versuch, die gedankliche Entwicklung Kants zur seiner Moralkonzeption und darüber hinaus zu seiner Moralphilosophie und Handlungstheorie rekonstruieren zu wollen. Also geht meine Studie den Fragen nach, wie sich die moralphilosophischen Gedanken Kants entwickeln, wann der Autonomiebegriff entsteht und warum er der Hauptbegriff (das Zentrum) der Kantischen Ethik wird. Die Arbeitsperspektive hat eine methodisch strikt prospektive chronologische Grundlage, indem sie nicht vom reifen Kant rückwärts, sondern vom jungen Kant vorwärts geht: „Nur aus seiner Entwicklung heraus kann man Kants System begreifen“¹. Insofern sind nicht die geschichtlichen „Ursprünge der Ethik Kants“² Gegenstand meiner Arbeit; sondern: In welchem Maß und Sinn die früh realisierten Fortschritte Kants in moralphilosophischer Hinsicht erlauben, von einer Moralphilosophie und Ethik bzw. Handlungstheorie zu sprechen. Die dieser untergeordneten Nebenfragen, welche den Leitfaden meiner Studie ausmachen, lauten: Wo moralphilosophisch relevante Gedanken auftreten, wann und welche neue Prägungen und Anordnungen von Gedanken zustande kommen, und wie die vor der GMS durchgeführte Entwicklung zur Konstruktion einer Moralphilosophie
Adickes (Hg.) 1911, AA 14: XXV, folgt: „und dem werdenden wie dem fertigen Gedankenbau wird man verständnislos gegenüber stehn, solange man nicht das Geheimniss von Kants Individualität erfasst hat in ihrer ganzen Complicirtheit, mit ihren gegen einander strebenden Tendenzen, ihren Wünschen und Bedürfnissen, Denkmotiven und Denknothwendigkeiten“. Eine gegenteilige Position vertritt Kuno Fischer, der „an seine Aufgabe gleichsam mit der allgemeinen Maxime [tritt], dass die Entwicklung Kants aus ihrem Abschluss, der kritischen Philosophie, verstanden werden müsse“ (Paulsen 1875, v). Siehe Schmucker 1961. https://doi.org/10.1515/9783110584288-003
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Einleitung
und Handlungstheorie beiträgt. Die daran ausgerichtete Bearbeitung der Materialien ergibt, dass die GMS die erste (und vielleicht einzige?) Schrift Kants ist, welche auf die „rationale“ Absicht (GMS, 388.13) abzielt und abzielen kann, eine „reine Moralphilosophie“ darzulegen, deren Aufgabe ist, „das sittliche Gesetz in seiner Reinigkeit und Ächtheit […] zu suchen“ (GMS, 390.08). Und tatsächlich systematisiert Kant erstmals in der GMS seine Moralphilosophie, die erstmals das Autonomieprinzip vorstellt. Aus diesem Grund machen die GMS das Hauptinteresse und das Jahr 1785 den abgrenzenden Zeitpunkt dieser Dissertation aus. Da Kant den moralischen Autonomiebegriff relativ spät verwendet, soll die Exegese zweierlei erklären: Erstens die begrifflichen Grundpfeiler dieses Konzepts. Ich werde erforschen, wie Kant die Moralbegriffe der Freiheit, des Willens und der Notwendigkeit in ihren verschiedenen Formen entwickelt, also was er jeweils darunter versteht. Und zweitens wird zu erklären sein, wie er endlich den Begriff der moralischen Autonomie bildet, auf welchen er das ganze „System der Sitten“ stützt (GMS, 404.31). Der Ertrag meiner Fragestellung ist also philosophiegeschichtlich, indem ich versuche, einen Begriff nicht nur systematisch (also im Licht des Werks, in dem er vorkommt) zu interpretieren, sondern angesichts der philosophischen Interessen, Beunruhigungen und Überlegungen des Autors zu erläutern. Es werden frühere Werke und Texte untersucht, die meist nicht zum Gegenstand der Kant-Forschung gemacht werden. Dennoch besteht auch ein Ertrag in systematischer Hinsicht, da die genetische Rekonstruktion des Autonomiebegriffs zum Verständnis der GMS und des darin festgelegten Moralprinzips führt.
2 Stand der Forschung Es liegen noch keine Arbeiten zum Thema der Entstehung von Kants ethischem Autonomiebegriff vor, und nur sehr wenige zum allgemeinen Thema der Entwicklung von Kants Ethik.³ Von diesen liegen die bedeutendsten, weil einflussreichsten Studien von Dieter Henrich (1957– 58, 1963a, 1965 – 66) und Josef Schmucker (1961) über fünfzig Jahre zurück. Um weitere allgemeine Arbeiten zum Gegenstand der Kantischen Ethik zu finden, müssen wir noch weiter zurückge-
Zur „Entwicklungsgeschichte“ Kants erscheint erstmals 1875 Friedrich Paulsens (1846 – 1908) Habilitationsschrift Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Kantischen Erkenntnisstheorie (Leipzig: Fues’s). Ein Jahr später publiziert Beno Erdmann Martin Knutzen und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte der Wolfischen Schule und insbesondere zur Entwicklungsgeschichte Kant’s (Leipzig:Voss, 1876). Dennoch beschäftigen sich keine der beiden Werke mit der Moralphilosophie Kants.
2 Stand der Forschung
3
hen: Paul Arthur Schilpp (1938), August Messer (1904), Karl Schmidt (1900), Paul Menzer (1898 und 1899), Osias Thon (1895), Friedrich Wilhelm Förster (1893). Die ältesten Studien liefern insgesamt eine globale Sicht auf Kants ethischem Werdegang, deren Arbeitsmethoden und (gegebenenfalls) –materialien entsprechen vor allem methodisch nicht dem Stand der gegenwärtigen Forschung. Zudem konnten sie nicht über in jüngerer Zeit neu gefundene Materialien verfügen⁴. Ein gemeinsamer Nenner der wichtigsten Studien Henrichs, Schmuckers und Menzers in diesem Bereich ist, dass sie die Keime der genuinen Gedanken Kants tatsächlich retrospektiv erforschen. So können sie den eigentlich zurückgelegten Entwicklungsgang Kants nicht zeigen. Stattdessen werden von ihnen vermeintliche Erläuterungen der ethischen „kritischen“ Gedanken anhand der „vorkritischen“ Schriften angeboten, wodurch diesen ein aufklärerischer Status bzgl. der Kantischen Moralphilosophie um 1785 beigemessen wird. Dementsprechend versteht Henrich unter der Metapher „Entwicklung“, „dass das Ende eines Weges an seinem Anfang gegenwärtig ist“⁵. Doch Kant selber konnte in den 1760er und noch 1770er Jahren die Entfaltung seiner eigenen ethischen Gedanken nach der KrV 1781 nicht beabsichtigen bzw. kennen. Die Verfahrensweise muss also problematische Konsequenzen haben, da sie anachronistische Schlüsse zieht.⁶ Was
Beispielsweise erlaubt erst die Verfügbarkeit über eine von Gerhard Lehmann ([Hg.] 1942, AA 20, 475) vollständige, von Marie Rischmüller ([Hg.] 1991, XVIII, XX) berichtigte Transkription der Bemerkungen in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen sowie über die von Werner Stark 2004 edierte Moral-Nachschrift Kaehlers aus Mitte der 1770er Jahre eine abgesicherte Rekonstruktion von Kants moralphilosophischer Entwicklung bis zu seiner Prägung des moralischen Autonomiebegriffs. Jedoch hegt Adickes zur Wende des 20. Jhs. einen gewissen Verdacht gegen die Möglichkeit, die Kolleghefte zu datieren (Adickes [Hg.] 1911, AA 14: XXXIVf.) und sie im Hinblick auf eine „Rekonstruktion seiner [sc. Kants] Entwicklungsgeschichte“ zu verwerten (Adickes 1895, 91 [zitiert durch Menzer 1899, 56]). – Von Schuberts Edition (Kant, Immanuel. Sämmtliche Werke. Hg. v. K. Rosenkranz und F. W. Schubert. Leipzig: Voss, 12 Bde., 1838 – 1842) sagt Adickes (Hg.) 1911, AA 14: XXI: „Dem Handexemplar der „Beobachtungen“ sind die Fragmente aus Kants Nachlass entnommen, die Schubert in Bd. XI Abth. 1 seiner Ausgabe (S. 221— 260) in äusserst nachlässiger Weise, vielfach entstellt, mittheilte“. Ebenso bezeichnet Adickes Schuberts „vorgenommene Vertheilung der Losen Blätter der Königlichen und Universitäts- Bibliothek zu Königsberg auf dreizehn Convolute“ als „planlos“ (Adickes (Hg.) 1911, AA 14: XXVf.) und „Schuberts Veröffentlichungen aus Kants Nachlass, vor allem aus dem Handexemplar der „Beobachtungen“ […]“ als „über alle Maassen flüchtig und unsorgfältig“ (Adickes (Hg.) 1911, AA 14: LX). Henrich 1965, 253. So auch Schwaiger 1999, 64 f. und Hinske 1970, 11. Ebenso siehe Rauer 2006, 48: „Das Problem ist nur, daß der Weg, der sich aus diesen Zurückrechnungen ergibt, gerade mit dem Weg nicht übereinstimmt, den Kant mit der kritischen Wende tatsächlich gegangen ist. […] Aus eben diesem Grund enden auch die Zurückrechnungen regelmäßig in Sackgassen“.
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Einleitung
für eine „Entwicklung“ Kant durchführt, ist demnach eine der zu beanwortenden Fragen.⁷ Nur Schilpp führt eine synchronistische Analyse der Texte durch. Diese fußt aber nicht auf einem leitenden Begriff und liefert daher eine insgesamt angemessene, aber immer noch globale entwicklungsgeschichtliche Übersicht, und zwar nur der sog. „vorkritischen“ Kantischen Ethik. Außerdem wirkte sich seine Arbeit im deutschsprachigen Raum kaum aus. Ebenso hat die Schwierigkeit des Forschungsgegenstands dazu beigetragen, die Ergebnisse von Schmucker und Henrich als gültige Meinung zu verstehen und sie bis dato keiner wissenschaftlichen Überprüfung zu unterziehen. Beispielsweise verweist Allison dazu in seinem 2011 erschienenen Kommentar zur Grundlegung auf die erwähnten Arbeiten von Schilpp, Schmucker und Ward. Allison erklärt: „[the development of Kant’s moral philosophy from his earliest recorded thoughts] is in itself a book-length task“⁸. Dieses Forschungsdefizit zeigt auch Clemens Schwaiger 1999 an und versucht mit seiner Studie Kategorische und andere Imperative Abhilfe zu schaffen. Aber er beschränkt sich auf die Handlungsimperative. Diese begriffliche Vorentscheidung lähmt seine zweifelsohne gründlichen und wertvollen philologischen Analysen, die zu sehr auf eine Diskussion über die literarischen Quellen blicken: Es fehlt eine detaillierte philosophische Interpretation zu den zentralen und entscheidenden Moralbegriffen des Willens (bzw. Willkür) und der Freiheit. Der Moralbegriff der Autonomie kommt in seiner Arbeit nur einmal vor, obwohl nur die moralischen Imperative einem Gesetz (nomos) folgen und Ausdruck der Autonomie sind. Auch bemüht er sich nicht um Textstruktur und Absicht der untersuchten Materialien. Schließlich fällt ein doppeltes Manko in Schwaigers Arbeit auf: Sie enthält kein Kapitel über die Handlungsimperative in der GMS, obwohl die Leser_innen eine Stellungnahme des Autors über den reifen Begriff derselben erwarten. Außerdem berücksichtigt sie eine für die Einsicht der verschiedenen Etappen Kants m. E. unentbehrliche Schrift nicht, nämlich die 1766 erschienenen Träume eines Geistersehers. Stattdessen widmet sie der Dissertatio 1770 ein ganzes Kapitel, obwohl dieses Werk nicht die Handlungsimperative behandelt, also nicht dem Kriterium für die Auswahl der Materialien entspricht. All dies hindert die Leser_innen Leser daran, Kants moralphilosophischen Standpunkt in jedem Text
Eines meiner Ergebnisse ist, dass die systematische Abgrenzung „kritisch“–„vorkritisch“ im Hinblick auf ein Verständnis von Kants moralphilosophischem Werdegang weder einen wissenschaftlich fundierten Grund hat, noch hilfreich ist. Daher verwende ich das Adjektiv „kritisch“ (in Einführungszeichen) entweder in skeptischer Absicht oder als bloß zeitliches Merkmal, womit ich auf die Zeit nach der Publikation der KrV 1781 hindeute. Allison 2011, 5.
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völlig zu verstehen und Kants moralphilosophischen Werdegang sowie seine Konzeption umfassend zu begreifen (comprehendere). Erst 2005 leistet Dieter Schönecker einen weiteren Beitrag zum Forschungsfeld der Kantischen Moralphilosophie: Transzendentale und praktische Freiheit. Seine Studie zeichnet sich durch den Versuch aus, die Begriffe der Freiheit in der KrV durch kompetente philologische Analysen zu erläutern. Dennoch betrifft seine Fragestellung nicht den moralphilosophischen Werdegang des Freiheitsbegriffs bei Kant, sondern die Vereinbarkeit der in der „Transzendentalen Dialektik“ dargelegten Freiheitstheorie mit derjenigen, die sich aus einer einzigen Passage des „Kanons der reinen Vernunft“ (und zwar KrV, 521.03//A801/B829 – 522.14//A804/B832) ergeben sollte. Der Umstand aber, dass der Autor seine Analysen streng auf eine bestimmte, von vornherein für kontrovers gehaltene Passage fokussiert und nur anhand einer „kommentarischen Interpretation“ ausführt, wirkt sich negativ auf seine entwicklungsgeschichtlichen und philologischen Untersuchungen aus. Denn aus diesen schließt Schönecker durch die Annahme problematischer (oder sogar falscher) Bedingungen, und zwar auf einer gemäßigten Patchwork-These fußend, m. E. fälschlich auf die These, Kant vertrete in der KrV zwei einander widersprechende Freiheitstheorien, weshalb es nicht möglich sei, eine befriedigende Erklärung für die erwähnte Passage zu finden. Methode und Umgang mit den Materialien führen Schönecker zu einer verdrehten Lektüre der Texte.⁹ Darüber hinaus sei beiläufig gesagt, dass er gar nicht die Auswirkungen von der Freiheitskonzeption 1781 auf die Moralkonzeption Kants in der KrV bzw. auf den Autonomiebegriff 1785 berücksichtigt. In jüngster Zeit, als meine Dissertation schon sehr fortgeschritten war, erschienen die Aufsätze Bernd Ludwigs „Die „consequente Denkungsart der speculativen Kritik“. Kants radikale Umgestaltung seiner Freiheitslehre im Jahre 1786 und die Folgen für die Kritische Philosophie als Ganze“ (2010) und „Was weiß ich vom Ich? Kants Lehre vom Faktum der reinen praktischen Vernunft, seine Neufassung der Paralogismen und die verborgenen Fortschritte der Kritischen Metaphysik im Jahre 1786“ (2012). In diesen herausragenden Arbeiten bietet Ludwig eine entwicklungsgeschichtliche Rekonstruktion von Kants reifer Konzeption der Freiheit. Er fokussiert sein Interesse auf den konzeptionellen Bruch, welcher Kant dazu führt, sein „kritisches“ Projekt konzeptionell zu bearbeiten und eine zweite Auflage der KrV sowie die KpV zu schreiben: Anhand der Rezension und Kritik von Pistorius 1786 bemerke Kant eine theoretisch-philosophische Inkonsistenz seiner 1781er Lehre von der bloßen Apperzeption und berichtige sie 1787 stillschweigend im Paralogismen-Kapitel der zweiten Auflage der KrV, was sich in seiner 1788er
Dazu siehe Kap. 6.
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Kritik der praktischen Vernunft durch die Lehre vom Faktum der reinen Vernunft geltend mache. Ludwigs Arbeit ist also von höchster Bedeutung, um die Differenzen in Kants reifer philosophischer Konzeption der Freiheit vor und nach 1786 zu kennen und zu verstehen. Dennoch beschäftigt sich Ludwig nicht mit Kants Moraltheorie selbst, deren Entstehung und deren begrifflichen Pfeilern. Denn die Frage nach der Möglichkeit der transzendentalen Freiheit – Grund der Zurechenbarkeit – gehört zur theoretischen Philosophie, während die Frage, welcher die reine Moralphilosophie nachgeht, die praktische Freiheit betrifft und lautet: „Was soll ich tun?“ bzw. „wie soll ich handeln?“. Demzufolge, obwohl Ludwigs Ergebnis zutreffend sein könnte, lässt seine Entdeckung die Geltung der 1785er Moraltheorie Kants unberührt, welche sich im ersten und zweiten Abschnitt der GMS darstellt: Kants Konzeption des guten Willens, der praktischen Notwendigkeit, der Nötigung und des Moralgesetzes sowie der Autonomie bleiben identisch. Nur diejenigen Begriffe und Fragen, die eben nicht in der GMS bearbeitet werden bzw. nicht zur Moraltheorie gehören, werden Kant in der KpV hauptsächlich beschäftigen, und zwar: die Frage nach der in der Forschung sog. „moralischen Motivation“ (wo Kant wegen der Frage, „wie reine Vernunft praktisch sein könne“ die Triebfedern moralischen Handlens nachgeht und m. E. ein neues, von der GMS unterschiedliches Verständnis der Achtung anbietet¹⁰) und die Postulate von Gott und der Unsterblichkeit (welche beide bereits im „Kanon“ der KrV thematisiert worden sind). Schließlich konzentriert sich Ludwig nur auf Kants philosophisch reife Zeit, also erforscht er nicht den sog. „vorkritischen“ Zeitraum und stützt seine Ergebnisse auf keinerlei Bearbeitung der Schriften und Werke dieser Zeit.
3 Ziele Meine Studie soll also dem „erstarrten“¹¹ und verarmten Stand der Forschung zu diesem Thema methodisch und inhaltlich abhelfen. (a) Erstens stellt meine Studie eine Arbeitsmethode und –struktur vor, welche durch die interne chronologische Bearbeitung der Texte eine detaillierte Erläuterung der relevantesten Begrifflichkeiten, ihrer Bedeutung und Funktion innerhalb jedes Werkes bieten kann.
Die gestellte Frage macht in der GMS eben die Grenze aller moraltheoretischen Forschung aus, indem sie auf die Grenzen der Vernunft stößt (siehe GMS, 458.36 f.). Zur meiner Betrachtungen über die Achtung in der GMS siehe unten 7.1.2.4.1. Schwaiger 1999, 5.
3 Ziele
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Der früheren Forschung gegenüber ist der methodische Ausgangspunkt meiner Dissertation der Versuch, zentrale Begriffe, Unterscheidungen und Definitionen der Kantischen Ethik nicht bereits vorauszusetzen. Denn nur wenn wir Kant mit chronologisch und systematisch scharfem Blick auf seinem Weg (méthodos) begleiten, kann die Genese seines Autonomiebegriffs und seiner Ethik rekonstruiert werden. Dazu werden die moralphilosophisch relevanten Texte (1762– 85) grundlegend untersucht, sofern sie vom „kritischen“ Programm unabhängige Arbeiten Kants sind. Unter der Leitfrage, wie die interne moralphilosophische Entwicklung Kants zu verstehen ist, erstreckt sich der hier betrachtete chronologische Weg auf eine systematische Analyse, um den moralphilosophischen Ansatz (Konzeption, Fragestellung und Struktur) der GMS als die allererste Darlegung der reinen Moraltheorie Immanuel Kants zu verstehen. Äußere Einflüsse und Anregungen durch andere Autoren und Konzeptionen treten demgegenüber in den Hintergrund, obwohl sich beide Zugangsweisen mitunter schwer trennen lassen. Auch im Unterschied zu den skizzierten, jüngsten Arbeiten bietet meine Dissertation eine innovative, weil ungewohnte Arbeitsmethode¹² an. Jenseits der exegetischen Möglichkeiten einer Untersuchung über Quellen, eines Textkommentars bzw. der systematischen Erläuterung im Einzelnen erlaubt die philosophische Bearbeitung der Texte unter chronologischer und philologischer Berücksichtigung eine abgesicherte, weil immanente Exegese sowohl eines jeden Materials in concreto als auch des ganzen Entwicklungsgangs Kants und dessen konzeptuellen Umbrüche und Phasen bis zur Gründung seiner Ethiktheorie und Entstehung des ethischen Autonomiebegriffs. Zwar liefern die Beiträge Schwaigers und Schöneckers sehr gute, aufschlussreiche Studien im Bereich der Moralphilosophie und Handlungstheorie Kants, aber aufgrund ihrer Arbeitsmethoden bieten sie nur einen eingrenzenden oder seitlichen Blick auf die Kantische Moralphilosophie: Im Unterschied zu Schwaiger spielen die externen Bezüge in meiner Arbeit eine sekundäre bzw. unterstützende Rolle. Und Schönecker gegenüber begrenze ich meine Untersuchung der Texte nicht bloß auf einen Textkommentar. Denn nach dieser Methode kann das, was im Text nicht wörtlich vorkommt, nicht berücksichtigt werden. Also muss diese Verfahrensweise bei einer genetischen Arbeit versagen. Ebenso kann darin eine bloß systematische Untersuchung nicht erfolgreich sein, welche nicht die Spezifik jedes schriftlichen Zeugnisses berücksichtigt und versucht, bestimmte Begriffe in neu gedachten Verhältnissen aufzuklären¹³.
Dazu siehe unten Einleitung 5. So z. B. Patzig 1986. Dazu siehe unten 5.2.2.
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In diesem Punkt möchte ich kurz darauf aufmerksam machen, dass die entwicklungsgeschichtliche Debatte durch die Diskussion über Kants historische Umgebung¹⁴ und externe Quellen beherrscht wird. Die Pointe liegt dann darin, festzustellen, von welchen Philosophen bzw. philosophischen Ansätzen Kant bestimmte Begriffe entlehnt oder bekommt¹⁵. Aber wenn wir wissen wollen, was Kant in einem konkreten Zusammenhang unter einem Begriff bzw. unter Moralität versteht und ob er zu einer bestimmten Zeit über eine Moraltheorie verfügte, dann erweist sich diese historische Methode, welche die externe Bezüge eines Philosophen nachgeht, nicht als ratsam: Es ist für die Exegese offenbar hilfreich, die philosophiegeschichtliche Herkunft und Beladung eines Begriffes und sogar historische und biographische Ereignisse zu kennen; dennoch, sich dabei ausschließlich danach zu richten, ist unfruchtbar und kann sogar sehr irreführend sein – besonders bei einem Philosophen der Größe Kants, welcher ab der Wende der 1760er Jahre anlässlich seiner Sorgen wegen einer fehlenden Methode in der Philosophie durch die allmählige Prägung einer eigenen Sprache, die er beständig revidiert, seinen eigenen Weg bahnt. Demzufolge ist viel fruchtbarer und abgesicherter, die Forschung intern, d. h. auf Kants eigene Schriften (deren Fragestellungen, Inhalte und Absichten) zu fokussieren. Aus diesem Grund setzt sich meine Forschung mit den Einflüssen auf Kant nicht direkt auseinander, sondern im Hinblick darauf leite ich meine Schlüsse primär aus der Analyse Kants eigener Diskussion und Aussagen über andere Positionen her¹⁶ und stütze mich auf bestimmte Autoren der Debatte. Leser_innen
Dazu siehe Waschkies 1987, 1, 5 f., 11, der seine Untersuchung auf drei historische Elemente stützt: die Astronomiekapitel aus Chr. Wolffs Elementa matheseos universae, die Mitte des 18. Jhs. den naturwissenschaftlichen Unterricht in Deutschland beherrschten; die Bemühungen während der 1. Hälfte des 18. Jhs. um eine Weiterentwicklung der Kometenbahntheorie von Newton; und die damalige Newtonrezeption. Siehe Erdmann 1876, 2 f.: „Mit einer (textinternen) Analyse seiner vorkritischen Schriften ist die Arbeit nicht getan, so lange ihr wesentlicher Erklärungsgrund, die philosophische Strömung der Zeit, aus der sie entsprungen, speziell auch die engere geistige Atmosphäre (Königsbergs), durch die sie (Kant vermittelt wurde), nicht eingehend bekannt … ist“ (zitiert durch Waschkies 1987, 11). Beispielsweise siehe Gawlick/Kreimendahl 1987, 11 f., deren Interesse darin besteht, eine Art „Philosophiegeschichte „von unten“ darzustellen, indem sie die Rezeption Humes bei „literarisch faßbare[n] Zeugnisse[n]“ von „großen Autoren“, Professoren und Geistlichen verfolgen. Wichtige Arbeiten, die Kants Quellen untersuchen, sind und a.: Hruschka 1987 und 1993, Kawamura 1996, Schwaiger 1999, 2000, 2008. Hier ist das Entscheidende nicht, ob Kants Interpretation anderer Autoren und Schulen falsch sein möge (aus anderen Gründen so auch Santotzki 2004, 2, 13 f., 27 f.), sondern wie Kant sich in der Philosophiegeschichte zurechtfindet und den eigenen Weg bahnt.
3 Ziele
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sollen also keine tiefgreifende Teilnahme an einer Debatte über historische Informationen erwarten¹⁷. (b) Aufgrund des globalen und fundierten Verständnisses des Forschungsgegenstandes wird meine Dissertation die häufig verwendete Metapher einer ‚Entwicklung’ bei Kants Gedanken spezifisch definieren können. (c) Darüber hinaus wird offensichtlich, dass die veröffentlichten Werke der sogenannten „vorkritischen“ Zeit eine eigene interne Intention haben: Sie gehen einer konkreten Fragestellung nach und im Hinblick darauf sind sie einer besonderen Nachforschung würdig. Dementsprechend möchte ich hiermit, erstens, die wünschenswerte Beschäftigung mit diesen Werken beleben und, zweitens, auf in der Kant-Forschung herrschende, in moralphilosophischer Hinsicht abstruse Unterscheidung ‚kritisch’–‚vorkritisch’ aufmerksam machen. Die Untersuchung dieser Werke zeigt, dass man damit höchstens auf einen zeitlichen Parameter, und zwar das Vor und Nach von Kants Ingangsetzen des „kritischen“ Programms im Jahr 1781 hinweisen kann. Aber aus dieser Bearbeitung ergeben sich keine beständigen, differenzierten Merkmale, die für die eine oder die andere Zeit eigentümlich sind. Eher zeigt sich ein tief kritischer Sinn und permanenter Revisionseifer Kants. (d) Ebenso soll die angebotene genetische Rekonstruktion des moralphilosophischen Werdegangs Kants bis zur Entstehung seines ethischen Autonomiebegriffs die verbreitete Haltung bekämpfen, Dreh- und Angelpunkt der Kantischen Ethik sei der Pflichtbegriff und das Sollen.¹⁸ Vielmehr bleibt Kant der Tradition treu, indem der Zentralbegriff der Moral auch für ihn das summum bonum ist. Nun wird er sich mit seiner Neufassung desselben von den Alten und Neuzeitlichen distanzieren, indem sein Ziel ist, die Moralphilosophie als eine objektive Disziplin aufzustellen: Das summum bonum soll als solches unbedingt und absolut notwendig gut sein; und eben aus diesem Charakter kann ein kategorisches, apodiktisches Moralprinzip ausgedacht werden, welches sich durch Allgemeingültigkeit und daher eine objektiv normative, mithin nötigende Kraft auszeichnet. Also sind der Pflichtbegriff und das Sollen nicht der Ursprung, sondern eine Folge des moralphilosophischen Gedankengangs Kants. Auf der Suche nach dem moralisch Guten, welches unter einem Leitprinzip des Handelns bestimmbar sein soll, stößt Kant auf die Freiheit der Willkür und auf die Gesetzlichkeit, die diese Freiheit leiten soll. Deshalb ist die Ethik Kants eine Ethik der Autonomie. Das moralisch gute Handeln fordert einen moralgesetzlichen Ge Ebenso sprengt die Erörterung der bloß systematischen Literatur, die oft auf keinen philologischen Ansätzen basiert und Kants Entwicklung nicht berücksichtigt, den Rahmen dieser Arbeit. Z. B. vergleiche Klemme 2006, 120.
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brauch der Freiheit seitens der Willkür, dessen eigenes Ziel ist, „einen […] an sich selbst guten Willen hervorzubringen“ (GMS, 396.21). Schließlich besteht der konzeptionelle Beitrag Kants zur Moralphilosophie darin, die Ethik auf den unbedingt notwendigen Charakter des absolut Guten zu fokussieren, und sie als eine normative Disziplin zu statuieren. Daher fungiert das Gute als objektiver Maßstab, auf welchen sich das Prinzip des Handelns stützt und woraus es all seine nötigende Kraft entnimmt. Demzufolge ist die Pflicht aus bloßer Pflicht, d. h. die entbundene Pflicht entweder gar nichts oder gar Auslöser oder möglicher Rechtfertigungsgrund der größten Gräueltaten.
4 Quellen Zur genetischen Erläuterung der Moraltheorie Kants werde ich mich hauptsächlich auf die bereits genannten Schriften stützen, die für meine Aufgabe die relevantesten sind. Auf andere Texte – sei aus dem handschriftlichen Nachlass bzw. den studentischen Nachschriften – greife ich nur dann zurück: (a) wenn von ihnen die Datierung mit großer Wahrscheinlichkeit feststeht, und (b) wenn sie ein Ganzes ausmachen, aus welchem die damalige Moralkonzeption Kants entlehnt und sein Ausreifen im Entwicklungsprozess bewertet werden kann. So bilden die folgenden Materialien den Stoff meiner Forschung: Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (am 31. Dezember 1762 eingereicht, 1764 veröffentlicht¹⁹); Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (am 8. Oktober 1763 der Zensur vorgelegt, 1764 erschienen²⁰); Bemerkungen in den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ (ca. 1764– 65²¹); Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (Zensurvermerk vom 31. Januar 1766, in demselben Jahr veröffentlicht, „höchst wahrscheinlich ganz i[m] Jahr 1765“ abgefasst²²); Vorlesung zur Moralphilosophie (1774– 75²³); Kritik der reinen Vernunft (1781) und Grundle-
Menzer (Hg.) 1905, AA 02: 494 f. „Die Schrift wurde am 8. October 1763 dem Decan zu Censur vorgelegt“ (Menzer [Hg.] 1905, AA 02: 483; nach der Acta Fac. Phil. Tom. V p. 448). Zur Datierungsdiskussion siehe unten 3.1. Menzer (Hg.) 1905, AA 02: 501. Zur Datierung siehe Stark (Hg.) 2004, 374, 376, bes. 402 ff.Vergleiche Adickes (Hg.) 1911, AA 14: XXXIV (siehe oben Einleitung 2, Fn. 4).
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gung zur Metaphysik der Sitten (am 19. September 1784 zum Druck abgeschickt, April 1785 erschienen²⁴). Außer dem Moralkolleg (und natürlich der GMS), wo Kant hauptsächlich moraltheoretischen Fragen (nach dem „Willen“ bzw. der „Willkür“, der Handlungsprinzipien und der Freiheit) nachgeht, konzentrieren sich diese Werke und Texte zwar nicht vorwiegend auf die Moralphilosophie als Disziplin, aber jede von ihnen enthält Abschnitte, Exkurse oder Passagen, die wichtige Materialien für meine Fragestellung und Kants 1785er Moralphilosophie bzw. „Metaphysik der Sitten“ liefern.
4.1 Kants handschriftlicher Nachlass und Vorlesungen Gestützt auf die vorhin festgelegten Kriterien einer (a) festen Datierung und der (b) thematischen Einheit zähle ich die Reflexionen und die Kolleghefte zu Metaphysik, Anthropologie und Naturrecht nicht als erste Quelle. Der Mangel der Reflexionen an Einheit und absoluter Sicherheit bzgl. der Datierung²⁵ hemmt, dass die hier befolgte Methode angewandt werden kann: Weder die Struktur noch die Absicht des Textes als eines Ganzen noch die darauf bezogene Rekonstruktion einer zu einem bestimmten Zeitpunkt vermeinten Ethiktheorie bzw. moralphilosophischen Position können anhand der Reflexionen angeboten werden. Da Ziel der Arbeit ist aber, mit Tatsachen ²⁶, d. h. immanent einen jeden Schritt Kants zu seiner 1785er Moralphilosophie und dem ethischen Autonomiebegriff zu belegen, so sollen und können diese Materialien in der gegenwärtigen Arbeit nur punktuell mitwirken²⁷. Sie werden also nur herangezogen, sofern sie für die hier vertretenen Thesen einen klaren Nachweis liefern. Ebenso erwäge ich am Rande die Kolleghefte zu Metaphysik, Anthropologie und Naturrecht („Feyerabend“), denn, obwohl sie ethische bzw. ethisch relevante
Kraft/Schönecker (Hg.) 1999, XI; Hamann [1783 – 1785] 1965, Bd. 5, 222 (zitiert durch Kraft/ Schönecker [Hg.] 1999, XI). Siehe Adickes (Hg.) 1911, AA 14: XXVff. Siehe Schwaiger 1999, 21. Beispielsweise bieten die Arbeiten von Santos-Herceg 2005 anhand der Reflexionen über Moralphilosophie gute Studien zu Kants moralphilosophischem „Standpunkt“ in den weiten Zeitraum der 1770er Jahre. Trotzdem werfen sich bzgl. derselben folgende Fragen auf: Erstens, ob nicht die da erreichten Ergebnisse abgesicherter mit der Bearbeitung von studentischen Nachschriften zur Moralphilosophie zu gelangen sind, deren Datierung feststeht. Zweitens und am Wichtigsten, ob Kant innerhalb eines ganzen Jahrzehntes unveränderlich ein und denselben Standpunkt vertrat, anders ausgedrückt: ob es einen Sinn hat, „den“ moralphilosophischen Standpunkt Kants im Jahrzehnte des Schweigens herausfinden zu wollen.
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Gedanken enthalten, ist die „reine Moralphilosophie“ bei ihnen nicht Dreh- und Angelpunkt. Zwar bezeugt Feyerabends Kollegheft in der „Einleitung“ Kants Konzeption der Verbindlichkeit bereits als „moralische Neceßitation[²⁸] der Handlung, d: i: die Abhängigkeit eines [nicht²⁹] an sich guten Willen [sic] vom Princip der Autonomie, oder objektiv nothwendigen praktischen Gesetze“ (NRFeyer, AA 27: 1326.15). Aber diese bemerkenswerte gedankliche Koinzidenz zwischen dem Kollegheft und der Grundlegung ist nicht so auffällig, wenn man berücksichtigt, dass Kant zur Zeit, in der er diesen Kolleg vorliest, nämlich dem Sommersemester 1784³⁰, die Grundlegung niederschreibt. Aus methodischen Gründen hat also die GMS als eigene, von Kant veröffentlichte Schrift die Oberhand. – Und eben aus diesem Grund widmet die vorliegende Dissertation dem Kollegheft Moral Mrongovius II (aus dem Wintersemester 1784/85) kein Kapitel, obwohl er die „Avtonomie“ (Moral Mrongovius II, AA 29: 626.04) als die „gesetzgebende Gewalt“ der Vernunft, „durch das Moral Gesetz den Willen [zu] bestimm [en]“, definiert (Moral Mrongovius II, AA 29: 626.04).³¹ Ein Zeugnis der moralphilosophischen Einstellung Kants in den früheren 1760er Jahren liefert unstrittig die Moral-Nachschrift von J. G. Herder [V-PP/Herder, AA 27]. Deren Entstehungszeit ist das Jahr 1763/64 festzustellen³², als Herder Kants Lies: „Nötigung“. Dazu siehe unten 5.1.3.5 Fn. 48. Einschub durch: Delfosse/Hinske/Sadun Bordoni (Hg.) 2014, Bd. 30.2, XII. Der Lehmannschen Edition in der AA gegenüber äußern sich sehr kritisch die Herausgeber aufgrund zahlreicher Lesefehler bei der Transkription (Delfosse/Hinske/Sadun Bordoni (Hg.) 2014, Bd. 30.2, X). Zu bedauernswerten editorischen Arbeit Lehmanns siehe Rischmüller (Hg.) 1991, XXff., Stark 1993, 89, 152 ff., 279 ff. und Schwaiger 1999, 143 ff. Fälschlicherweise steht auf dem Titelblatt des Heftes: „Kants Naturrecht gelesen im Winterhalben Jahre 1784“ (NRFeyer, AA 27: 1317). Dazu siehe Nagaron (2006) 2014, http://www.manches ter.edu/kant/Notes/notesLaw.htm (15.10. 2014) und Lehmann (Hg.) 1979, AA 27.2,2: 1053, der den Fehler als Verschreibung ansieht. Zur Nachschrift Moral Mrongovius II siehe unten 5.2.2 Fn. 133. zu Patzigs Zitierungsweise der Vorlesung (Patzig 1986, 204). Dass die Nachschrift Herders aus dem Wintersemester 1763/64 entsteht, beweist Werner Stark mit mehreren Zeugnissen: (1) In V-PP/Herder, AA 27: 020.26 finden wir eine Erwähnung auf den Namen Jean Baptiste René Robinets und auf Seite 082.24 ff. einen inhaltlichen Bezug auf sein Werk Von der Natur. Erster Band, dessen deutsche Übersetzung 1764 erschien (siehe Stark (Hg.) 2004, 326). (2) Der Herder-Nachschrift liegen die Lehrbücher Baumgartens (Initia und Ethica) zugrunde [wie der Vergleich der mit dem Paragraph-Zeichen § eingeleiteten Absätze der HerderNachschrift mit dem entsprechenden Paragraphen bei der Initia herausstellt]. Zudem besteht ein Aktenvermerk, der der älteste für die Moralvorlesungen ist: „1763. d. 10. October M. Immanuel Kant Ethicum et Morale in Baumeisterum [lies: Baumgarten; dazu Stark (Hg.) 2004, Fn. 52]. Logicum in Meierum. Metaphysicum, secundum Baumgartenium. Geographis-Physicum“ (siehe Stark [Hg.] 2004, 388, der zitiert aus: Staatlichem Archiv Olsztyn [Allenstein], XXVIII/1/306, folio 407). (3) In V-PP/Herder, AA 27: 039.20 ff. bezieht sich Kant ausdrücklich auf Rousseaus Emil
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Moralvorlesungen hörte³³, und als die Beobachtungen schon fertig geschrieben wurden. Jedoch gehört sie auch nicht zu den von mir hauptsächlich untersuchten Materialien, denn die Moralkonzeption, die sich hier zeigt, gründet sich auf das Prinzip der Vollkommenheit (siehe V-PP/Herder, AA 27: 005.17 und UD, 299.08, 300.19), das moralische Gefühl und die Freiheit als Spontaneität im Wolffschen Sinne³⁴. Nach Herder definiert Kant entsprechend die Ethik als die Rede von dem, „waz schön ist“ und die „moralische Schönheit“ als das „unmittelbar[e] Gut[e]“ (V-PP/Herder, AA 27: 008.13);³⁵ das „Moralgefühl“ als den „letzte[n] Maasstab“ des Guten (V-PP/Herder, AA 27: 006.12); und schließlich die Freiheit als spontanes Handeln und als Zeichen der Gleicheit unter Menschen.³⁶ Schwaigers und Henrichs Auslegungen gegenüber, nach denen die Herdersche Nachschrift der Moralvorlesung ein neues Stadium im Gedankengang Kants bedeuten soll,³⁷ verstehe ich diese Moralkonzeption nicht als sich wesentlich von der Auffassung unterschieden, welche den gleichzeitig verfassten Werken (nämlich der Untersuchung und den Beobachtungen) und Notizen (den Bemerkungen) zugrunde liegt. Da ich in meiner Dissertation diese Texte vertiefend analysiere, wäre es überflüssig, dem Herder-Moralkolleg ein besonderes Kapitel zu widmen. Hingegen widme ich den Bemerkungen in den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ von Mitte der 1760er Jahre³⁸ sowie der Nachschrift des Moralkollegs von Mitte der 1770er Jahre jeweils ein eigenes Kapitel, da sie ein sehr reiches Material für die Lösung meiner Aufgabe bilden.
(siehe Stark 2014, 179 und Fn. 30). (4) Außerdem ist schon in V-PP/Herder, AA 27: 040.34 ein Hume-Zitat ermittelt, allem Anschein nach einer deutschen Übersetzung von David Hume The History of Great Britain, die zwischen 1754– 1762 in 6 Bden. erschien. Die deutsche Übersetzung datiert von 1762: Geschichte von Großbritannien, 2 Bde., und Geschichte von England, 4 Bde. (Diesen Hinweis verdanke ich Werner Stark). Siehe Naragon 2006 (2014), http://www.manchester.edu/kant/Notes/notesMoral.htm#Her der5. Zur Freiheit als Spontaneität siehe Kawamura 1996, 82 und oben Einleitung 6 (Fn. unter Ansatzpunkt). Diese Verwendung der traditionellen transzendentalen Prädikate – des „Schönen“ und des „Guten“ – finden wir auch in der Untersuchung (siehe UD, 299.16: „Regeln des Guten“) und den Beobachtungen (GSE, 217.25: Die „Schönheit der Tugend“). Zu diesen Charakteristika der Moralkonzeption in der Praktischen Philosophie Herder siehe unten 3.1 Exkurs zur Datierungsdiskussion (d), (e). Vergleiche Schwaiger 1999, 38, der in der Moral-Nachschrift Herders aufgrund des „spürbar gestiegene[n] Roußeau-Einfluß[es] […] ein neues Stadium von Kants Entwicklung [vermutet]“. Ebenso vergleiche Henrich 1965, 262, der in diesem Kolleg „eine eigene Phase von Kants Entwicklung zwischen der Preisschrift und den Bemerkungen zu den „Beobachtungen““ einen „überzeugenden Beleg“ erkennen möchte. Zur Datierungsdiskussion siehe unten 3.1.
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Wenn auch die Bemerkungen sich durch einen fragmentarischen Charakter auszeichnen, liegen ihnen vier wichtige Merkmale zu Grunde, die sie für diese Untersuchung relevant machen: Niedergeschrieben wurden sie (1) von Kant, (2) in einem durchgeschossenen Autor-Exemplar und (3) insgesamt innerhalb einer begrenzten Zeit³⁹; außerdem (4) sind sie in mehrerer Hinsicht ein Schlüsselzeugnis für das entwicklungsgenetische Verständnis der Kantischen Moralphilosophie⁴⁰. Ebenso wird das Moralkollegheft J. F. Kaehler gründlich studiert: Zwar handelt es sich um keinen eigenhändigen Text Kants, sondern um die Nachschrift eines Studenten. Aber die komplexe Struktur, der Leitfaden und die interne Verweise erteilen dem Text Einheit und sprechen dafür, dass Kant als Autor und Sprecher der Vorlesung gilt⁴¹. Außerdem: Achten wir darauf, dass die 1770er die „Jahre des grossen Schweigens“⁴² sind und dass die Datierung der Vorlesung in hohem Maß gesichert feststeht⁴³, dann erweist sich die Nachschrift Kaehlers als ein kostbares Zeugnis des moralphilosophischen Standpunkts Kants Mitte der 1770er Jahre. Demzufolge sollte ein Verzicht darauf für wissenschaftliche Nachlässigkeit gehalten werden⁴⁴.
Nur mit wenigen Ausnahmen, siehe Rischmüller 1991, XVIf. und Adickes, AA 14: XXXVII. Zur Datierungsdiskussion der Bemerkungen siehe unten 3.1. So auch Tenenbaum (Hg.) 2001, 9. Dazu siehe Stark (Hg.) 2004, 396 ff., der weitere „äußerliche, statistisch zugängliche Merkmale“ angibt. Adickes (Hg.) 1911, AA 14: XX. In diesen Jahren ist Kants schriftliche Fruchtbarkeit sehr gering. Von ihm erschienen nur folgende kleine Schriften: Recension von Moscatis Schrift: De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (1770); Von dem körperlichen wesentlichen Unterschiede zwischen der Structur der Thiere und Menschen (1771); Von den verschiedenen Racen der Menschen (1775); und Aufsätze, das Philanthropin betreffend (1776 – 1777). Siehe die „Inhaltsübersicht des Bandes“ AA 02: VIII. Die Vorlesung muss entweder im Wintersemester 1773/74 oder 1774/75 gefunden haben (Stark [Hg.] 2004, 403 f. Dazu siehe oben Einleitung 4, Fn.). Die betreffende Nachschrift bezeugt Kants kritische Position der Tradition und sogar der eigenen früher vertretenen Thesen gegenüber sowie seine erste negative Antwort auf die Frage, wie ein rein intellektuelles Gesetz Triebfeder des Menschenhandelns sein kann. (Vergleiche Menzer 1898, 321, laut dem diese die „alte“ moralphilosophische Frage bei Kant ausmacht). All dies ermittelt einen reiferen moralphilosophischen Standpunkt Kants: Der 1766er Bruch Kants mit den Schotten durch die Verdrängung vom „sittlichen Gefühl“ anhand der „Nöthigung“ aus der „Regel des allgemeinen Willens“ (TG, 335.09) hat sich durchgesetzt. Die Träume bedeuten den Anfang einer neuen Phase Kants, die ihm zur GMS führen können wird.
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4.2 Andere literarische Kant-Quellen Auf eine eingehende Analyse der Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765 – 1766 verzichte ich, da sie bzgl. der von mir bearbeiteten Texte dieser Zeit (darunter die Beobachtungen und die entscheidenden Träume) keine neuen Beiträge leistet⁴⁵. Ebenso finden wir zwar in der sog. Dissertatio, De mundi sensibilis atque intelligibillis forma et principii drei Passagen mit ethischer Thematik⁴⁶, aber sie bieten für sich selbst⁴⁷, für meine Fragestellung(en) und für meine methodische und strukturelle Arbeitsanleitung kein hinreichendes Material. Daher widme ich ihnen kein Kapitel. Die meist akzeptierte These einer Umwälzung Kants erst 1769 auch auf dem Feld der Ethik wird hier zurückgewiesen⁴⁸, insbesondere gegen Kuehn, der vertritt: „his [sc. Kant’s] view of morality before 1769 is in a most
So auch Schilpp [1938] 21997, 111. Siehe unten 4.2.2 Fn. 51 die relevanten Zitate aus der Dissertatio. Kuehn, der 1995 die einflussreiche Arbeit „The Moral Dimension of Kant’s Inaugural Dissertation: A New Perspective on the „Great Light of 1769““. In: Robinson, Hoke (Hg.), 1995. Proceedings of the Eight International Kant Congress, Memphis 1995. Milwaukee: Marquette University Press, Vol. I, Part 2, schrieb, möchte anhand „two of the fundamental features of his [sc. Kant’s] mature ethical position“, nämlich: „[i] […] that the principles of judgement in morals are not in any way based on sensibility, and (ii) morality is fundamentally the point of view of freedom“, „the moral dimension of Kant’s Inaugural Dissertation“ nachweisen (Kuehn 1995, 378). Jedoch kann er seine These nicht durch den Argumentationsgang der Dissertatio, sondern erst durch Zitate aus Kants Briefwechsel und Handschriftlichem Nachlass aus den Jahren 1769 – 1772 verstärken (siehe Kuehn 1995, 382 ff.). Siehe Menzer 1899, 51, der seine These darauf gründet, dass die Dissertatio den Ursprung von den „obersten Grundsätzen der Beurteilung“ in der „reinen Vernunft“ festlegt. (Dennoch spricht Kant noch nicht von „ratio“, sondern „intellectum purum“ [siehe MSI, AA 02: 396.06]). Klaus Reich vertritt, dass Kants „Grundlegung der Moral“ in den Träumen „in der Form einer Metaphysik des sittlichen Gefühls“ auftritt; daher sieht er einen „radikalen Bruch“ in der Dissertatio § 9 an, wo Kant die Moralphilosophie als Teil der reinen Philosophie bestimmt (Reich 1935, 10 f.). Siehe auch Clemens Schwaiger 1999, 81 ff., der sich zwischen den zwei streitenden Seiten, nämlich denjenigen, welche die Zäsur bei Kants Entwicklungsgang um das Jahr 1765 sehen, und denjenigen, welche 1770 den radikalen Bruch betonen, den letzteren anschließt, weil Kant erst in der Dissertatio den Ausdruck „purus“ (rein) im moralphilosophischen Zusammenhang verwende, etwas, das in der früheren Philosophiegeschichte nicht anzutreffen sei. Außerdem nähere Kant sich dem platonischen Ideenbegriff, „heutzutage Ideal genannt“, und mache ihn anhand des „maximi perfectionis“ (MSI, AA 02: 396.11) „für die praktische Philosophie fruchtbar“ (Schwaiger 1999, 84). – Für die These des 1769er „Durchbruchs“ Kants auf theoretischem Feld siehe Kreimendahl 1990, 2 f.
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Einleitung
fundamental respect different from what we find in the Inaugural Dissertation“⁴⁹. Kuehn unterstützt sich vornehmlich: (1) auf Kants Nachdruck darauf, dass die moralischen Grundsätze der Beurteilung nicht auf Sinnlichkeit beruhen⁵⁰; (2) darauf, dass Moralität grundsätzlich der Gesichtspunkt der Freiheit ist⁵¹; (3) auf der Zäsur zwischen Verstand und Sinnlichkeit als zwei disparaten Erkenntnisquellen und der daraus resultierenden zwei-Welten-Lehre⁵²; (4) auf Kants „Subjektivierung von Raum und Zeit“; und (5) auf Kants „Objektivierung der Freiheit“⁵³ bzw. seiner Festsetzung der noumenalen Vollkommenheit als dogmatischen Zwecks und Quelle sowohl der theoretischen als auch moralischen Prinzipien des reinen Verstandes. Aber diese Gedanken sind in den vorhergehenden 1760er Schriften entweder in Bearbeitung oder bereits in einer abgeschlossenen Form zu finden: (1) Die Untersuchung setzt die „Notwendigkeit der Mittel“ und die „der Zwecke“ (UD, 298.14) entgegen, weil jene auf „Bedingungen gewisser Zwecke“ (UD, 298.29) zurückgeht, während diese auf „einem an sich nothwendigen Zwecke“ (UD, 298.30) und „keiner Betrachtung eines Dinges oder Begriffes“ beruht (UD, 299.03). Ihrerseits sagen die Träume: „Wie? ist es denn nur darum gut tugendhaft zu sein, weil es eine andere Welt giebt, oder werden die Handlungen nicht vielmehr dereinst belohnt werden, weil sie an sich selbst gut und tugendhaft waren? Enthält das Herz des Menschen nicht unmittelbar sittliche Vorschriften, und muß man, um ihn allhier seiner Bestimmung gemäß zu bewegen, durchaus die Maschinen an eine andere Welt ansetzen?“ (TG, 372.23).
(2) Bereits in den Träumen assoziiert Kant die „Moralität“ und „das Sittliche der That“ mit der „freien Willkür“ (TG, 336.01– 17)⁵⁴. (3) Die Untersuchung macht deutlich, dass der Verstand und das Gefühl „unabhängige und irreduzible“ Vermögen sind, welche unterschiedlich zur Erkenntnis beitragen (siehe UD, 299.19, 300.26)⁵⁵. Ihrerseits sprechen die
Kuehn 1995, 375, 379 ff. Kuehn 1995, 378. Kuehn 1995, 378. Kuehn 1995, 375. Kuehn 1995, 374. Auch 1763 spricht Kant im Text des Beweisgrundes von „Gesetze[n] der Freiheit“ (BDG, AA 02: 111.30) und definiert den Grund dessen, was „in einer freien Wahl“ liegt und somit „zufällig sein [muß]“, als „eine[n] moralischen Grund[]“ (BDG, AA 02: 101.08 – 18). Siehe unten 1.2.2, wo ich die besonderen Leistungen jeweils des Verstandes und Gefühls in der UD darstelle.
4 Quellen
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Träume die Idee einer „moralischen Einheit [in der Welt aller denkenden Naturen][⁵⁶]“ an (TG, 335.10), wodurch Kant ein Bild skizziert, welches als Ansatzpunkt des Gedankens einer „intelligiblen Welt“ verstanden werden sollte⁵⁷. Darüber hinaus fließt der moralphilosophische Argumentationsgang in den Träumen über die Schiene der „Unregelmäßigkeiten“ bzw. des „Widerspruch[s] der moralischen und physichen Verhältnisse der Menschen“ (TG, 335.34)⁵⁸. (4) Obwohl Raum und Zeit bei Kant erst 1770 zu Formen der äußeren Anschauung werden, ist diese „subjektivistische Wende“⁵⁹, was den Raum betrifft, schon durch die Träume 1766 verursacht – wenn nicht vollzogen. Denn der Raum macht bereits hier einen entscheidenden Parameter aus, um das Erkennbare und Unerkennbare, somit die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens, schließlich die Methode der Philosophie zu bestimmen.⁶⁰
In der Vorlesung über Metaphysik aus den späteren 1770er Jahren finden wir Kants Identifizierung der geistigen mit der intelligiblen Welt, die in der „Gemeinschaft“ aller „rechtschaffenen und gutgesinnten Seelen“ der hiesigen Welt, „[die] sich befleißig[en], die Regeln der Sittlichkeit auszuüben“, besteht (siehe Metaphysik L1, AA 28: 298 f.). [Den freundlichen Hinweis auf diese Passage verdanke ich Werner Stark]. 1781 spricht Kant von einer „moralischen Welt“ (KrV, 524.35// A808/B836) als einem „corpus mysticum der vernünftigen Wesen“ (KrV, 525.08//A808/B836), wo nur die moralischen Gesetze regieren. Der Gedanke hat Tradition. Bereits Augustinus spricht von der „civitate dei“, die Stadt der lebenden guten Christen; und Leibniz (KrV, 527.10//A812/B840) und Baumgarten (Metaphysica § 403) vom „regnum gratiae“ („Reich der Gnaden“). Dazu siehe besonders unten 4.2.2, wo ich über die Wichtigkeit und Reichweite dieses Gedankens referiere. Im Hinblick auf diesen möglichen „Widerstreit“ bemerkt Kants Text des Beweisgrundes zweierlei Kausalitätsarten, einerseits nach den notwendigen „Gesetzen der Natur“ und andererseits in den „Handlungen aus der Freiheit“, welche letztere „eine Möglichkeit in sich von der allgemeinen Abzielung der Naturdinge zur Vollkommenheit abzuweichen [enthält]“ (BDG, AA 02: 109.19 ff., bes. 110.19 f.). Daher schließt Kant: „Und um deswillen kann man erwarten, daß übernatürliche Ergänzungen nöthig sein dürften, weil es möglich ist, daß in diesem Betracht der Lauf der Natur mit dem Willen Gottes bisweilen widerstreitend sein könne. Indessen da selbst die Kräfte frei handlender Wesen in der Verknüpfung mit dem Übrigen des Universum nicht ganz allen Gesetzen entzogen sind, […] so ist die allgemeine Abhängigkeit der Wesen der Dinge von Gott auch hier noch jederzeit ein großer Grund, die Folgen […] im Ganzen für anständig und der Regel des Besten gemäß einzusehen […]“ (BDG, AA 02: 111.01). Brandt, Reinhard, 2008. Überlegungen zur Umbruchsituation 1765 – 1766 in Kants philosophischer Biographie. In: Kant-Studien 99(2008), 61 und 58 Fn. 37. So auch Brandt 2008, der in den Träumen bereits die in der KrV dargestellte „Dreischritt von Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus (A856)“ erkennt, indem Kant 1766 den „methodischen Schleichhandel“ der dogamtischen Metaphysik anzeigt und sie durch Konfrontation zuerst mit der „skeptischen Position“ und dann mit der „kritische[n] Philosophie“ (Lockes) zur einer „Grenzwissenschaft“ macht (Brandt 2008, 46 ff., 51 f.). Brandt (2008, 47) zitiert: „In so fern ist die
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Einleitung
(5) Schließlich ist Kants Festsetzung der „gesammte[n] größte[n]“ Vollkommenheit als dogmatischen Zwecks bereits in der Untersuchung zu finden. Diese Vollkommenheit definiert er als „de[n] erste[n] formale[n] Grund aller Verbindlichkeit“ (siehe UD, 298.33, 299.10), weil nur ihr eine „Nothwendigkeit der Zwecke“ entspricht (siehe UD, 298.15 f.). Und, sofern dieser Vollkommenheit sowohl der Grundsatz, dem Willen Gottes gemäß zu handeln (siehe UD, 298.32, 300.17) als auch die konkreten „übrigen praktischen Sätze[]“ unterliegen (UD, 300.23), konzipiert Kant sie als die „allgemeine[] Regel guter Handlungen“ (UD, 300.08). Dass die Ethik für Kant eine objektive Disziplin werden soll, hängt also mit seiner Ansicht zusammen, dass „der erste Begriff der Verbindlichkeit“ der Grund der „praktischen Weltweisheit“ ist (siehe UD, 298.05) und dass Verbindlichkeit erst auf einer formalen Notwendigkeit, nämlich der der Zwecke beruht⁶¹. Angesichts dessen werde ich, wie angekündigt, zeigen, dass Kant bereits in den Träumen eines Geistersehers einen derartigen Schritt zu einer reinen Ethik tut.⁶² Zwar expliziert die Dissertatio, dass die Moralphilosophie die ersten Prinzipien
Metaphysik eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft“ (TG, 368.01); und: „Man könnte sagen die Metaphysik sey eine Wissenschaft von den Schranken der menschlichen Vernunft“ (Bem., 145.10). Brandt (2008, 62 f.) definiert m. E. richtigerweise Kants Absicht in den Träumen als eine „Metaphysikkritik […] methodischer, nicht speziell inhaltlicher Art“. Jedoch ist der Keim dieser Intention Kants, die „höhere Philosophie“ methodisch neu zu gründen, bereits in der 1762er Preisschrift zu erkennen (siehe UD, 275). Auch in der Moral-Nachschrift Herders aus dem WS 1763/64 finden wir diesen Bezug auf „die Formalität des Vollkommenen“ (V-PP/Herder, AA 27: 005.21). Reinhard Brandt (2008) sieht die Umbruchsituation in der theoretischen Ebene auch nicht in der Dissertatio, sondern in den Jahren 1765 – 66, wenn Kant die Träumen eines Geistersehers schreibt und veröffentlicht. Dies unterstützt meine These, insbesonders wenn man beachtet, dass die theoretische und praktische Philosophie bei Kant nicht ganz gleichzeitig (vergleiche Kuehn 1995, 374), obwohl doch sehr nah voneinander fortschreiten: Bereits die 1762er Preisschrift weist Kants Bemühung nach, um die „Methode“ der „höhere[n] Philosophie“ festzustellen, anhand welcher die „Gewissheit in dieser Art der Erkenntnis [sc. der philosophischen (ACGX)] erlangt werden [kann]“ (UD, 275.02). Dennoch begrüßt Kant offen die Leistungen der Schotten in der Moralphilosophie auf der Basis des Moralgefühls, obwohl er bereits sieht, dass die moralische Gewissheit auf die Notwendigkeit der Zwecke, somit auf die Verbindlichkeit zurückgehen soll. Mit den Träumen führt Kant eine völlige Revolution durch, wenn er, neben seiner heftigen und spöttischen Kritik an der Schulmetaphysik, das ehemals begrüsste Moralgefühl jetzt für die „Erscheinung“ (der Nötigung) erklärt und ihm die Fähigkeit abspricht, Grund ethischer Handlungen zu sein. Trotz der unstrittigen Leistungen Kants in der Dissertatio wird es ihm aber erst in der KrV gelingen, die lang gesuchte Methode festzulegen, nämlich die transzendentale Methode. Sie wird ihm künftig erlauben, die reinen Systeme der Sitten und der Natur (jeweils in der GMS von 1785 und der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft von 1786) aufzubauen.
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der Beurteilung enthält, und drückt erstmals die unmittelbare Konsequenz davon aus, nämlich dass sie zur „reinen Philosophie“ gehört: „Philosophia igitur moralis, quatenus principia diiudicandi prima suppeditat, non cognoscitur nisi per intellectum purum et pertinet ipsa ad philosophiam puram“⁶³ (MSI, AA 02: 396.04). Dennoch muss diese prägnante, doch nur indirekte und kurzgefasste Bezeichnung der Moralphilosophie als „pura“ auf bereits früher entwickelte Gedanken zurückführen.⁶⁴ Außerdem wird das Durchlaufen der Werke und Schriften aufweisen, dass Kant den Gedanken einer reinen Ethik erst und am Klarsten in der Vorlesung zur Moralphilosophie der zweiten Hälfte der 1770er Jahre herausarbeitet, dessen Reichweite und Auswirkung aber erst in seiner 1785 erschienenen GMS wahrzunehmen ist, wo er erstmals der Öffentlichkeit eine reine Ethik systematisch vorstellt.
5 Struktur und Methode Der Gegenstand der Forschung bestimmt in dieser Dissertation die Methode und diese, die Struktur der Arbeit. Daher stelle ich einheitlich unter diesem Absatz die beiden formalen Aspekte vor. Zur chronologischen Klarheit sowohl der moralphilosophischen Fortschritte Kants von einem Text zum nächsten als auch der bedeutenden konzeptionellen Durchbrüche widme ich einer jeden der fünf benannten Schriften sowie den Bemerkungen und der Vorlesung zur Moralphilosophie (bzw. den davon entscheidenden Passagen) ein Kapitel, sodass die Dissertation insgesamt aus sieben Kapiteln besteht. Diese sieben Kapitel werden nach vier, von mir gefundenen Denkphasen Kants zusammengestellt, die sich (wie die philologisch fundierte Analyse der Texte in philosophischer Absicht offenbart) durch konzeptionelle Besonderheiten und verschiedene Absichten und Vorgehensweisen seitens Kants auszeichnen oder durch konzeptionelle Umbrüche bestimmen. Das begriffliche Kriterium für die Auswahl der Texte ist die moralische Autonomie, bzw. mangels derselben – da sie in keinem veröffentlichten Werk bis zur GMS vorkommt –, die Begriffe der „Freiheit“, des „Willens“ und der „Notwendigkeit“ in ihren unterschiedlichen Formen⁶⁵. Denn diese Schlüsselbegriffe der
„Sofern die Moralphilosophie die ersten Grundsätze der Beurteilung abgibt, wird sie durch den reinen Verstand erkannt und gehört zur reinen Philosophie“ (meine Üb.). Ähnlich auch Schmidt 1900, 34 (der die Schlüsse Kants in der Dissertatio auf die „gerade[] Entwicklung der vorhergehenden Schriften“ zurückführt). So auch Schilpp [1938] 1997, 141. Lies „Unabhängigkeit“, „Selbstbestimmung“, „Selbstbeherrschung“, „Spontaneität“, „Willkür“, „praktische Vernunft“, „Nötigung“, „Zwang“, „Gesetz“, „Prinzip“, etc.
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Moralphilosophie Kants machen die wesentlichen, konstitutiven Elemente des Gedankens der moralischen Autonomie aus. Daher fungieren sie nicht nur als Maßstab für die Auswahl der zu bearbeitenden Texte, sondern auch als strukturelle Achse jedes Kapitels. Daneben spielt die Idee des summum bonum eine grundlegende Rolle, da sie – wie es in der Tradition üblich ist – auch bei Kant das Leitmotiv der Ethik ist. Die methodische Arbeitsanleitung ist nach der Überzeugung festgelegt, man kann wenig verstehen, was der Autor mit einem Text bzw. Werk vorhat und welche Schlüsse er zieht, wenn man selbst nicht auf die folgenden Leitfragen antwortet: 1. Welcher Fragestellung geht der Autor nach? Durch welche Textstruktur, Begrifflichkeit und Argumentation arbeitet er die Fragestellung aus? 2. Welche interne (und externe) Absicht verfolgt der Autor? Wie lässt sich die von ihm verteidigte Position als moralphilosophische Theorie verstehen? Und schließlich: wie lässt sich das Verhältnis des Textes zur gedanklichen Entwicklung im Ganzen explizieren? Diese Fragen gehören zu zwei verschiedenen Momenten meiner Forschung. Jedes Kapitel besteht aus einem analytischen Teil, wo ich den Text als solchen untersuche; und einem exegetischen Teil, der aufgrund der Fragestellung und deren Ausarbeitung die Intention des Textes (evtl. hinsichtlich der Wissenschaftsgemeinde und -debatte) darstellt und ihn im Hinblick auf Kants philosophische Beiträge sowie frühere und spätere Leistungen auswertet. Der erste Teil situiert zunächst die Leser_innen im Kontext der Schrift: Nachdem ich grosso modo die Fragestellung der Schrift vorstelle, (1) unterrichte ich über die zu bearbeitenden Passagen der Schrift, (2) finde ich die innere Struktur dieser Passagen heraus; und nachfolgend (3) gehe ich den wörtlichen moralphilosophisch relevanten Begrifflichkeiten, Definitionen und Unterscheidungen nach, die Kant explizit oder implizit bestimmt. Dies erlaubt mir, eine detaillierte Erläuterung (explicatio) des Textes und seiner wörtlichen Elemente zu liefern, welche für die Bestimmung seiner inneren Intention wesentlich ist. Der zweite Teil jedes Kapitel besteht darin, anhand der gezogenen Schlüsse im ersten Teil, den in Frage kommenden Text immanent zu interpretieren: (1) erörtere ich die innere (und evtl. äußere) Absicht, die Kant motivierte, zu schreiben (ggf. den 1770er Moralkolleg in seiner spezifischen Form und nach dessen Inhalten zu konzipieren). Hiermit verdeutliche ich:
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die Thematik jedes literarischen Zeugnisses und dessen Relevanz für die konzeptionelle Verfeinerung in Kants Verständnis bestimmter Moralbegriffe; und b. besonders bei den „vorkritischen“ Texten, deren Verhältnis zur Debatte. Denn für Kant wie für jeden, der einen Lehrstuhl an der Universität beanspruchte, war auch wichtig, die eigene, und zwar moderate Positionierung bzgl. der damaligen Forschung bekanntzugeben⁶⁶. (2) Ebenso führe ich eine kontextualisierte und somit stichhaltige Rekonstruktion der Moralkonzeption Kants zu jeder Zeit durch. Anhand derselben (3) werte ich schließlich Kants Leistungen und Entwicklung aus, und zwar sowohl retrospektiv, hinsichtlich der von mir zuvor bearbeiteten Materialien (falls zutreffend), als auch prospektiv, in Aussicht auf das (künftige) Projekt einer „Metaphysik der Sitten“ sowie die späte GMS. Also soll die exegetische Methode insgesamt in eine fundierte Interpretation vom betreffenden Werk und der darin von Kant erreichten moralphilosophischen Reife münden, was zum Schluss entscheidet, ob die bearbeitete (Hand‐)Schrift streng genommen als moralphilosophisch zu betrachten ist. Dieser Verfahrensweise folge ich unveränderlich in den Kapiteln 1 (über die Untersuchung), 2 (über die Beobachtungen), 4 (über die Träume) und 5 (über die studentische Handschrift der Vorlesung zur Moralphilosophie), weil sie eher selten Gegenstand der Forschung sind. Aus dieselben Gründen beschäftige ich mich in Kapitel 3 mit den Bemerkungen in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. Dennoch muss ich hier – wie in den restlichen Kapiteln 6 und 7 – meine Vorgehensweise etwas anpassen: Die Bemerkungen mangeln an innerer Struktur und einheitlichem theoretischem Ziel, da sie Aufzeichnungen Kants zu mehreren Themen sind. Daher ist es nicht möglich, die von mir bearbeiteten Notizen als ein Ganzes anzusehen, das einer wissenschaftlichen Absicht verfolgte. Im Gegenteil sind die Gründe für die Anpassung der dargelegten methodischen Arbeitsanleitung in den Kapiteln 6 und 7 primär, (1.) dass die dritte Antinomie und der „Kanon der reinen Vernunft“ der KrV sowie die GMS eben zu den mehr erforschten Passagen und Werken gehören.⁶⁷ Aber angesichts der Spannweite der Arbeit war (2.) eine Aufforderung, das bloß formale Kriterium möglichst zu erfüllen, den Umfang im Zaum einer Dissertation zu halten. Siehe Israel/Mulsow (Hg.) 2014, 14. Man kann gute kommentarische Arbeiten finden, die die innere Struktur dieser Werke erläutern. Zu KrV siehe Watkins 1998, 447– 464, Allison 1998, 465 – 489. – Es gibt zahlreiche Kommentare zur GMS, auch manche, die jüngst erschienen. Dazu siehe unten Bibliographie.
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Was die KrV betrifft, da ich mich hier auf zwei deutlich getrennte Abschnitte eines Werkes mit unterschiedlichen Absichten konzentriere, müsste ich entsprechend des festgestellten Verfahrens das Kapitel über die KrV in zwei Teile (jeweils zur „Tranzendentale[n] Dialektik“ und zum „Kanon der reinen Vernunft“) gliedern. Dies wäre aber nicht nur meinem Forschungsgegenstand, sondern auch der literarischen und – wie ich gegen die „Patchwork-These“ zeige – konzeptionellen Einheit des Werkes zuwider gewesen. Schließlich befasst sich das Kapitel 7 mit der GMS als einem Ganzen. Daher erübrigt es sich einerseits, die zu bearbeitenden Passagen vorzubestimmen; und andererseits wäre eine Erläuterung der inneren Struktur der einzelnen Abschnitte mit dem Umgang der Quelle widersprechend. Dementsprechend entschied ich mich, Betrachtungen zur strukturellen Konzeption der Schrift im Ganzen unter Berücksichtigung ihres Argumentationsgangs anzubieten, die bei der begrifflichen Erläuterung mithelfen. – Diese Aufgabe können die Textkommentare nicht übermitteln, da sie die Schrift fragmentarisch, nämlich in vier differenzierten Teilen (je für die Vorrede und die drei Abschnitte der GMS) interpretieren⁶⁸ –. Das Begreifen der strukturellen Konzeption der GMS und ihrer metaphorischen „Übergänge“ von einer Reflexionsebene zur folgenden deckt, so mein Resultat, mehr über Kants Konzeption der „reinen Moralphilosophie“ und der Moral bzw. „Metaphysik der Sitten“ auf. Im Großen und Ganzen verwende ich, wie angedeutet, eine immanente Methode, indem ich versuche, Kant durch seine intellektuelle Produktion auf seinen Weg zur Moralphilosophie zu begleiten. Das Ziel ist in dieser Hinsicht, dem Autor und dem Text in der inneren und äußeren Intention möglichst treu zu sein; oder, negativ geäußert, sie nicht nach vorgefassten Ansichten (oder nach den Vorkenntnissen auf dem sog. „kritischen“ Kant) zu bearbeiten und auszulegen. Denn im letzten Fall würde man dem Text vorab interpretatorische Interessen aufzwingen. Angesichts der realisierten Arbeit und der erbrachten Ergebnisse hat sich diese immanent analytische und exegetische Arbeitsanleitung – unter Berücksichtigung der Begrifflichkeit, Argumentation, Struktur und Absicht jeder Schrift – als besonders zutreffend erwiesen: Sie hat mir erlaubt, den gedanklichen Werdegang Kants bis zu seiner Konzeption der Moralphilosophie und Handlungstheorie Schritt zu Schritt zu verfolgen und die Genese des moralischen Begriffs der Autonomie aufzuklären.
Z. B. siehe Timmermann (Hg.) 2004, 84– 152. Siehe Schönecker/Wood 32007. Siehe Horn/ Mieth/Scaranno (Hg.) 2007, 116 – 126. Siehe Richter 2013.
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6 Grenzen Die vorgelegte Dissertation setzt sich mit Schriften und Texten ab den 1760er Jahren auseinander. Die Schriften der 1750er Jahre bleiben unberücksichtigt, (1) weil sie keine besondere Ausarbeitung moralphilosophischen Inhalts vorlegen; und (2) weil Kant zu dieser Zeit unter dem prägnanten Einfluss der Rationalisten steht, wobei seine Äußerungen bzgl. ethischer Themen auf diese angewiesen ist⁶⁹. Ebenso handelt die Arbeit weder von der Kritik der praktischen Vernunft (1788) noch von der Tugendlehre (1797), die Kant als zweiten Teil seiner Metaphysik der Sitten verfasste. Der Grund dafür liegt darin, dass die beiden Werke im Unterschied zur GMS grundsätzlich keine neuen moraltheoretischen Ansätze bieten, sondern ganz andere Leistungen bringen sollen. Ganz kurz formuliert: Sie tragen zur 1785er moralphilosophischen Konzeption Kants nichts Wesentliches bei, insofern die Konzipierung des Moralprinzips als „die Autonomie des Willens“ und der Handlungstheorie aufgrund des Willens als „Vermögens nach Prinzipien zu handeln“ gleich bleiben. Anders als die GMS reflektiert die KpV nicht theoretisch über das System der „Metaphysik der Sitten“, sondern vertiefend über metaphysische Begriffe und Ideen der reinen praktischen Vernunft (das „Gute“ und das „höchste Gut“ sowie die Postulate Gottes und der Unsterblichkeit), über deren „Triebfeder“ (wo Kant die in der GMS kurz betrachtete Achtung ausarbeitet und neu denkt) und über die Grenzen der reinen praktischen Vernunft. Das Interesse gilt darin also nicht so sehr der Frage: „was ich also zu thun habe, damit mein Wollen sittlich gut sei“ (GMS, 403.18), als der Frage: „Was darf ich hoffen?“. – Ihrerseits befasst sich die Tugendlehre mit der Anwendung des 1785 festgesetzten Moralsystems und -prin-
So auch Ward 1972, 5 („Kant’s attitude in the Dilucidatio is entirely Wolffian“) und Menzer 1898, 290 f.: „die moralphilosophischen Probleme in dieser Zeit [sc. der 50er Jahre] [nehmen] noch nicht eine selbständige Stellung im Denken Kants ein, sondern nur nebenbei behandelt werden. Demgemäß ist die Stellung, welche er [sc. Kant] zur Moralphilosophie der Aufklärung hat, eine unselbständige, er zeigt sich völlig abhängig von ihr“; „deren Inhalt zu ethischen Fragen in nur entfernter oder überhaupt gar keiner Beziehung steht“. Zu Kants Begriff der Freiheit und Spontaneität in der Nova Dilucidatio von 1755 siehe Kawamura (1996), der zeigt, dass dieser auf die Wolffsche Konzeption zurückgeht: Eine jede Handlung bzw. jedes Geschehnis habe „ausnahmslos einen vorhergehenden bestimmenden Grund“ (Kawamura 1996, 82). Dieser geht aber letztendlich auf die Intelligenz bzw. den Verstand zurück. Schlussfolgernd „[ist] von einer Freiheit als erster wirkender Ursache hier noch nicht die Rede“ (Kawamura 1996, 83).
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zips, wodurch Kant seine Moral bzw. „Metaphysik der Sitten“ als „Eintheilung der Pflichten“ und Pflichtenkatalog darlegt (GMS, 421 Fn.). Mit der GMS gelingt es Kant, eine reine reine Moralphilosophie als eine normative Disziplin gründlichen Bodens vorzustellen. Moraltheorie, moralphilosophische Begrifflichkeit und Moralprinzip werden formal konzipiert. Mithin wird die Frage, „was ich also zu thun habe, damit mein Wollen sittlich gut sei“, formal beantwortet. Also stellt sich die GMS als das Werk Kants vor, das im Hinblick auf seine Moralphilosophie wesentlich durch einen systematischen Vorsatz bestimmt ist.
I Das Rezeptionsstadium: Der Standpunkt der Moralkonzeption Kants in der ersten Hälfte der 1760er Jahre
1 Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1764 [1762]) Anlässlich des Preisausschreibens der Berliner Akademie der Wissenschaften für das Jahr 1763 verfasste Kant Ende 1762¹ die sogenannte Preisschrift ², welche 1764 erst nach den im selben Jahr bereits publizierten Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen veröffentlicht wurde. Die Gewissheit der Grundsätze macht den Leitfaden der Schrift aus, die sich in vier Betrachtungen gliedert. Wie uns der Titel der Schrift verrät, zielt diese zuletzt darauf ab, jene Gewissheit der Grundsätze in den Bereichen der natürlichen Theologie und der Moral zu untersuchen³, eine Aufgabe, mit der Kant sich erst am Ende der Schrift direkt beschäftigt.
1.1 Analytischer Teil 1.1.1 Passagen Der Umfang der Schrift beträgt im Ganzen etwa 25 Seiten, die in vier Betrachtungen gegliedert sind. Am Ende der Untersuchung soll die Frage beantwortet werden, ob die Gewissheit der Naturwissenschaften auch in Wissenschaften der höheren Philosophie wie der natürlichen Theologie und der Moral möglich ist (siehe UD, 275). Aus diesem Grund konzentriert sich Kant in den ersten drei Betrachtungen auf einen Vergleich von Mathematik und Metaphysik: (1) Zuerst werden die charakteristischen Merkmale beider Felder und die jeweiligen Verfahren zur Gewissheit
Vergleiche Ward 1972, 21 und 26, der verkennt, dass Kant die Untersuchung 1762 und die Beobachtungen ein Jahr später verfasst. Siehe Menzer (Hg.) 1905, AA 02: 494. Die Fragestellung des Preisausschreibens lautete: „Man will wissen: Ob die Metaphysischen Wahrheiten überhaupt, und besonders die ersten Grundsätze der Theologiae naturalis, und der Moral, eben der deutlichen Beweise fähig sind, als die geometrischen Wahrheiten, und welches, wenn sie besagter Beweise nicht fähig sind, die eigentliche Natur ihrer Gewissheit ist, zu was vor einem Grade man gemeldete Gewissheit bringen kann, und ob dieser Grad zur völligen Überzeugung zureichend ist?“ (UD, 493). https://doi.org/10.1515/9783110584288-004
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1 Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der Theologie und der Moral
zu gelangen⁴, erklärt; (2) in einem zweiten Schritt wird die Methode zur Erreichung der Gewissheit in der Metaphysik dargestellt⁵; und schließlich wird (3) die Grundlage, auf welche sich diese Gewissheit stützt⁶, erörtert. Damit entwickelt Kant einen begrifflichen Rahmen, der es ihm in der vierten Betrachtung erlaubt, die Gewissheit in der natürlichen Theologie und der Moral zu behandeln.
(1) Während die Mathematik sich der Verbindung (Synthesis) von einfachen, grundlegenden Gedanken, d. i. unmittelbaren Grundsätzen (z. B. Axiomen) bedient, um ihre Objekte zu konstruieren und zu erklären, geht die Metaphysik von den Data aus, die der Verstand unmittelbar wahrnimmt, d. i. von Begriffen, und bedient sich der durch Zergliederung (Analyse) erworbenen unerweisbaren Grundwahrheiten derselben Begriffe zur Aufsuchung der Definition derselben. Beispielsweise konstruiert also die Mathematik den Begriff des „Dreiecks“ durch die Verbindung verschiedener Elemente einer Definition, nämlich „Fläche, die von drei geraden Linien begrenzt ist“. Hingegen gelangt die Metaphysik zur Definition bzw. zur Erklärung ihres Objekts (z. B. Raum und Zeit) durch die Zergliederung der ihm zugesprochenen Prädikate, welche uns unmittelbar gewiss sind. (2) Ein zweiter Unterschied zwischen der Mathematik und der Metaphysik besteht darin, dass die erste mit Zahlen, Figuren und sichtbaren Zeichen sicherer Bedeutung arbeitet, so dass die allgemeinen Regeln in concreto festgesetzt werden, während die zweite mit Worten arbeitet, deren Bedeutung sich aus dem Sprachgebrauch ergibt (wobei diese Bedeutung natürlich auch durch logische Einschränkung genauer bestimmt wird), und man sieht sich hier folglich dazu genötigt, das Allgemeine in abstracto vorzustellen. (3) Zuletzt besteht ein weiterer entscheidender Unterschied zwischen der Mathematik und der Metaphysik darin, dass jene nur wenige unauflösliche Begriffe und Sätze enthält, mit denen sie sich nicht beschäftigt, sondern von denen sie ausgeht, während bei dieser unzählige unerweisbare Begriffe thematisiert werden, wobei erst durch Zergliederung derselben die Deutlichkeit der Erkenntnis erreicht werden kann und sichere Folgerungen gezogen werden können. Zusammengefasst besteht die Methode aus zwei Regeln: Die erste und vornehmste Regel besagt, man solle nicht von Erklärungen anfangen, sondern im Gegenstand aufsuchen, was unmittelbar gewiss ist, woraus dann Folgerungen und Urteile abgeleitet werden können. Die zweite Regel fordert, die unmittelbaren Urteile vom Gegenstand besonders auszuzeichnen und sie als Grundlage zu allen Folgerungen voranzuschicken, nachdem man gewiss ist, dass das Urteil nicht im Gegenstand selbst schon enthalten ist (siehe UD, 285.20 ff.). Die Sätze der Identität und des Widerspruchs machen die Basis aus, auf welcher die ersten materiellen Grundsätze der menschlichen Vernunft fußen. Jene sind unerweisbar und werden als die „obersten und allgemeinen Grundsätze im formalen Verstande von der ganzen menschlichen Vernunft“ aufgestellt. Hingegen verschaffen die ersten materiellen Grundsätze der menschlichen Vernunft Grundlage und Festigkeit, indem sie „Stoff zu Erklärungen“ sind und „Data“ liefern, woraus sicher geschlossen werden kann, „wenn man auch keine Erklärung hat“. Sätze wie z. B. „Ein Körper ist zusammengesetzt“ enthalten also die Gründe von anderen Erkenntnissen, und, da sie unmittelbar unter den Sätzen der Identität und des Widerspruchs gedacht werden, sind sie ebenso unerweisbar, sofern sie durch Zergliederung nicht eingesehen werden können (siehe UD, 294 f.).
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Hauptbegriffe der Moralphilosophie werden also allein im zweiten Abschnitt der vierten Betrachtung, nämlich von UD, 298 bis 300, erörtert, weshalb die jetzige Studie sich auf diesen beschränken wird.
1.1.2 Struktur des Textes Im ersten Absatz (siehe UD, 298 – 299.07) führt Kant die „Verbindlichkeit“ als Grundbegriff der Moral ein⁷. Darüber hinaus erläutert er die Unterscheidung zwischen der „Notwendigkeit der Handlung“ als „Mittel“ und als „Zweck“, was ihn den zweifachen Grundsatz der praktischen Weltweisheit vorstellen lässt, nämlich: „Ich soll […] die gesammte größte Vollkommenheit befördern, oder ich soll dem Willen Gottes gemäß handeln“ (UD, 298.31). Dieser stellt sich der Formel der „Geschicklichkeit“ gegenüber: „Ich soll […] etwas thun (als ein Mittel), wenn ich etwas anderes (als einen Zweck) will“ (UD, 298.11). Im zweiten Absatz (siehe UD, 299.07– 18) werden die zwei „Regeln“ dargestellt, in die der „formale Grundsatz der Verbindlichkeit“ in bejahender und verneinender Form zerfällt: „Thue das Vollkommenste, was durch dich möglich ist“ (UD, 299.10) und „Unterlasse das, wodurch die durch dich größtmögliche Vollkommenheit verhindert wird“ (UD, 299.12). Im dritten Absatz (siehe UD, 299.08 – 300.25) wird, nach der Behandlung des „Guten“ und seines Begriffs, der „materielle Grundsatz der Verbindlichkeit“ formuliert, der schon im ersten Absatz erwähnt wird, nämlich: „Thue das, was dem Willen Gottes gemäß ist“ (UD, 300.17). Außerdem verweist Kant auf die damals im Entstehen begriffene Einteilung der philosophischen Reflexion in eine theoretische und eine praktische, je nachdem, ob sich die Untersuchung um das Wahre oder um das Gute dreht und also entweder auf das Erkenntnisvermögen oder auf das Gefühl zurückgeht. Der vierte Absatz schließlich (siehe UD, 300.26) hat einen eher offenen Charakter, denn, wie die Betitelung des Abschnittes ankündigt⁸, müssen die obersten Grundbegriffe noch sicherer bestimmt werden und ebenso muss noch entschieden werden, ob die Quelle der ersten Sätze das „Erkenntnisvermögen“ oder das „Gefühl“ ist.
Siehe Schwaiger, dem zufolge Kant sich an Baumgarten anschließt, da dieser „seine gesamte Ethik als Verpflichtungslehre [versteht]“ (Schwaiger 1999, 160; 49 ff. und 160 Fn. 569). UD, 298.01: „Die ersten Gründe der Moral sind nach ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit noch nicht aller erforderlichen Evidenz fähig“.
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1.1.3 Kants Darstellung der moralischen Begriffe Wie ich bereits angedeutet habe, beschäftigt sich Kant eigentlich erst im letzten Paragrafen der Schrift mit der Moral. Ihrer Grundbegriffe und Grundsätze mangele es an Deutlichkeit und Sicherheit, denn vom Begriff der Verbindlichkeit, welchem die praktische Weltweisheit anhängt⁹, sei noch wenig bekannt (siehe UD, 298.04). Die begriffliche Darstellung geht also vom Verbindlichkeitsbegriff aus, will ihn klarer fassen und zeigen, von welchen moralischen Begriffen und Grundsätzen wir Gewissheit haben. Die „Formel“ der Verbindlichkeit im Allgemeinen lautet: „Man soll dieses oder jenes thun und das andre lassen“ (UD, 298.08). Es handelt sich also um ein „Sollen“, das aber eine zweifache „Notwendigkeit der Handlung“ ausdrückt¹⁰: Einerseits kann es sich auf die „Notwendigkeit der Mittel“ (necessitatem problematicam) beziehen, durch die wir ein Ziel erreichen wollen bzw. sollen. Diese äußert sich durch die Formel: „Ich s o l l […] etwas thun (als ein M i t t e l ), w e n n ich etwas anders (als einen Z w e c k ) will“ (UD, 298.11). Streng genommen bringt aber diese Art von Notwendigkeit keine Verbindlichkeit mit sich, denn sie betrifft eine Vorschrift im Hinblick auf die Auflösung eines Problems. Daher nennt Kant sie „Formel der problematischen Geschicklichkeit“ (siehe UD, 299.07). Durch die Mittel wird entschieden, wie man einen gewissen Zweck erreichen will, (sei es, eine gerade Linie in zwei Teile zu teilen, sei es, seine Glückseligkeit zu befördern)¹¹, wobei die vorgeschriebene Handlung unter der Bedingung jenes voraus-
Siehe Schwaiger 2008, 224, der vertritt, dass Kant diese Konzeption der Verbindlichkeit als Grundbegriffs der Ethik, die auf Heinrich Köhler zurückgeht, Baumgarten verdankt. Köhler erklärt die „Lehre von der Verpflichtung oder Verbindlichkeit – beide Ausdrücke seien hier synonym als Wiedergabe für das lateinische ‘obligatio’ verwendet – als für die gesamte Sphäre des Moralischen hochbedeutsam“. Bei Baumgarten wird die Verbindlichkeit der Oberbegriff sowohl der praktischen Philosophie im Allgemeinen als auch der Ethik im Besonderen. Dazu vergleiche Menzer 1898, 303, der die Entlehnung des Verbindlichkeitsbegriffs mit Verweis auf Wolff erklärt. Zur Diskussion siehe Schwaiger 1999, 44, Fn. 85. Diese Unterscheidung gilt als eine „originelle Schöpfung“ Kants (Schwaiger 1999, 24) und wird Kants reife Konzeption der Ethik prägen. Zur Diskussion siehe Schwaiger 1999, 52 ff. Mit der „Formel der problematischen Geschicklichkeit“ bezieht sich Kant hier sowohl auf die Auflösung mathematischer Probleme als auch auf das Streben nach Glückseligkeit. Erst in den Bemerkungen unterscheidet sich die problematische Notwendigkeit von der Notwendigkeit der Klugheit, und zwar anhand der auch erstmals vorkommenden Einteilung der „hypothetischen“ bzw. „bedingten“ Notwendigkeit. Bem., 118.19: „Omnis bonitas conditionalis actionis est vel sub conditione possibili (uti problemata) vel actuali (uti regulae prudentiae quilibet vult sanus esse)“). Bem., L 125.04.: „Necessitas actionum objectiva (bonitatis) vel est conditionalis (sub conditione | alicujus boni appetiti) vel categorica prior est problematica 5| … et si appetitiones quae spectantur
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gesetzten Zwecks „zufällig“ ist (siehe UD, 298.30): sie ist nicht für sich notwendig, sondern hängt bloß vom beliebigen Zweck ab, und sobald der Zweck nicht (mehr) verfolgt wird, wird auch die Handlung nicht (mehr) vorgeschrieben. Andererseits kann sich jenes „Sollen“ auf die „Notwendigkeit der Zwecke“ beziehen (necessitatem legalem), die sich durch die folgende Formel ausdrückt: „Ich s o l l u n m i t t e l b a r etwas anders (als einen Zweck) t h u n und wirklich machen“ (UD, 298.13). Die Notwendigkeit der Zwecke gebietet also eine Handlung unmittelbar, d. h. abgesehen von ihren möglichen weiteren Folgen, denn sie dient nicht zu einem anderen Zweck, sondern sie selbst ist der Zweck, den man zu erfüllen hat. Demzufolge entsteht die Verbindlichkeit allein aus der Notwendigkeit der Zwecke und kann daher nur durch folgende Sätze geäußert werden, die einen unmittelbaren, notwendigen Zweck setzen: „Ich soll […] die gesammte größte Vollkommenheit befördern, oder ich soll dem Willen Gottes gemäß handeln“ (UD, 298.31). So lauteten die damaligen rationalistischen Moralprinzipien jeweils bei Wolff und Crusius.¹² Nun kann aber allein der erste dieser unmittelbaren Sätze die „unerweisbare oberste Regel aller Verbindlichkeit“¹³, mithin den Grund der ganzen praktischen Weltweisheit ausmachen, und zwar aus zwei Gründen: (1) „Denn es ist aus keiner Betrachtung eines Dinges oder Begriffes […] möglich zu erkennen und zu schließen, was man tun solle, wenn dasjenige, was vorausgesetzt ist, nicht ein Zweck und die Handlung ein Mittel ist“ (UD, 299.02). Das heißt, was man konkret zu tun hat, ist nur dann erkennbar, wenn man sich vorher ein Ziel gesetzt hat, zu dessen Erreichung die Handlung als Mittel dienen soll. (2) Allein der Satz zur Beförderung der Vollkommenheit legt fest, was formal zu tun und zu lassen ist, indem er in zwei Regeln zerfällt, welche Kant „de[n] erste[n] f o r m a l e [n] G r u n d aller Verbindlichkeit zu h a n d e l n“ und „[den ersten formalen Grund] der Pflicht[¹⁴] zu u n t e r l a s s e n“ nennt. Während die
tanquam conditiones necessariae | actionis non solum ut possibiles sed ut actuales spectantur est | necessitas prudentiae“. KpV, AA 05: 040. Zum Wolff′schen Prinzip siehe Menzer 1898, 304: „Thue, was dich und deinen oder anderer Zustand vollkommener machet; unterlass, was ihn unvollkommener machet“ (Wolff 1733, § 152); ebenso siehe Stark (Hg.) 2004, Kommentar 38. Zu Crusius siehe V-Mo, 037.13 und Crusius 1744, § 162: „Die Verbindlichkeit der Tugend ist dasjenige Verhältniß eines Thuns oder Lassens gegen ein göttliches Gesetz, welches macht, daß wenn wir nicht so verfahren, das Gesetz übertreten wird“ (zitiert durch Stark (Hg.) 2004, Kommentar 29). Dazu siehe Foerster 1893, 6, der die Auffassung vertritt, Kant betrachte zu dieser Zeit das Prinzip der Beförderung der Vollkommenheit als das höchste Prinzip in der Moral. Diese ist die einzige Textstelle, an welcher der Begriff der „Pflicht“ in der Untersuchung vorkommt.
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eine lautet: „Thue das Vollkommenste, was durch dich möglich ist“ (UD, 299.10), besagt die andere: „Unterlasse das, wodurch die durch dich größtmögliche Vollkommenheit verhindert wird“¹⁵ (UD, 299.12).¹⁶ Der formale Charakter macht also den Satz und dessen Regeln des Guten¹⁷ gültig für jeden konkreten Umstand. Aber eben wegen ihres formalen Inhalts berücksichtigen diese Regeln noch nicht die zu vollziehende „bestimmte Verbindlichkeit“. D. h. der Vollkommenheitsbegriff kann aufgrund seiner Unauflösbarkeit nicht analysiert werden. Deshalb kann von ihm ausgehend nicht gezeigt werden, welche konkrete(n) Verbindlichkeit(en) bzw. Pflicht(en) man zu erfüllen hat. Dazu muss der formale Grundsatz der Verbindlichkeit noch mit einem „materiellen Grundsatz“ der praktischen Erkenntnis verbunden sein, der die Grundlage zu den übrigen praktischen Prinzipien enthält¹⁸ (siehe UD, 299.13, 294.10). Diese negative Regel der Verbindlichkeit soll als eine Definition der „Pflicht zu unterlassen“ gelten. Dennoch wird der Pflichtbegriff nicht Objekt einer näheren Betrachtung. Diese zwei Regeln decken sich mit jenen Wolffs: „Thue, was dich und deinen oder anderer Zustand vollkommener machet; unterlass, was ihn unvollkommener machet“ (Wolff 1733, § 152; zitiert durch Menzer, 1898, 304). Doch – so Schwaiger 1999, 63 – „die kompakte imperativische Formel mit der ausschließlichen Konzentration auf die Vollkommenheit des Handelnden und der Akzentuierung des erreichbaren Maximums“ soll auf Baumgarten zurückgehen, wie auch die Benennung der beiden Prinzipien als die „formale[n] Hauptregeln der negativen und affirmativen Verbindlichkeit“ (Praktische Philosophie Herder, AA 27: 009.13; siehe Baumgarten, Initia, AA 19: 019.30; zitiert und verwiesen durch Schwaiger). „Gut“ wird in diesem Zusammenhang im traditionellen Sinn benutzt als eines der „sogenannten einfachen Transzendentalien“: ens, unum,verum, bonum. Der Thomistischen Auslegung nach „ist gut […] das Seiende in erster Linie aufgrund seiner Bezogenheit auf Gott (es wird dadurch vollkommen), in zweiter Linie ist das Seiende gut, sofern es ein mögliches Ziel für ein endliches Streben ist“ (siehe Bärthlein 1972, 7, 11). Sofern das Tun und Lassen, von dem Kant hier spricht, sich auf ein mögliches Ziel bezieht, welches dem Willen Gottes entsprechen, ist es gut. Kant zieht in diesem Punkt eine Parallele mit dem theoretischen Bereich, bei dem die bloß formalen Grundsätze der Identität und des Widerspruchs keine Erweiterung unserer Erkenntnis erlauben. Man muss auf die materiellen Grundsätze zurückgreifen (die so unerweisbar wie die formalen sind, weil sie auf diesen fußen und unzergliederbar sind), um über einen Mittelbegriff zu verfügen, der zwei andere Begriffe in ein logisches Verhältnis setzt. Z. B. „Alle Körper sind zusammengesetzt“ ist ein unerweisbar materieller Grundsatz; unerweisbar, weil er unmittelbar unter dem Satz der Identität steht, d. h. „Körper“ und „zusammengesetzt“ sind identisch; und materiell, weil auf diesen Grundsatz der Mittelbegriff „zusammengesetzt“ zurückgeht, anhand dessen wir verlässliche neue theoretische Erkenntnisse erwerben können, wie z. B. „Alle Körper sind teilbar“: Da alle Körper zusammengesetzt sind und alles, was zusammengesetzt ist, teilbar ist, deswegen sind alle Körper teilbar (siehe UD, 294 f.). – Dieser Gedanke, dem zufolge ein formaler Grundsatz noch eines materiellen bedarf, bleibt auch beim Kant der KrV erhalten: „Gedanken ohne Inhalt sind leer. Anschauungen ohne Begriffe sind blind“ (KrV, 075.14//A051/B075). Nach Menzer 1898, 305 f., ist er von Kant bei Crusius entlehnt. Demgegenüber argumentiert
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An diesem Punkt fügt Kant eine Art Exkurs über das Gute ein. Dieser zeichnet einen begrifflichen Zusammenhang nach, der es Kant erlaubt, sich auf die Ebene der (guten) Handlungen zu konzentrieren und den materiellen Grundsatz der Verbindlichkeit abzuhandeln. Zunächst nimmt er die in der damaligen Literatur schon vorliegende Unterscheidung zwischen der Erkenntnis als dem Vermögen, das Wahre vorzustellen, und dem Gefühl als dem Vermögen, das Gute zu empfinden, auf. Anhand derselben führt Kant den Begriff des Guten an und beschäftigt sich mit ihm und seinem Ursprung. Zwar hat der Verstand einen Begriff des Guten, aber der ist zusammengesetzt und verworren: Er entsteht aus zusammengesetzten Empfindungen des Guten, die ihrerseits wiederum aus Gegenständen (bzw. Handlungen) entspringen, die nicht an sich, sondern um eines anderen Zwecks willen gut sind. Sowie es jedoch „unzergliederbare Begriffe des Wahren“ gibt, zeigt uns auch der Verstand, dass es ein „unauflösbares Gefühl des Guten“ gibt. Dieses entsteht aus „einfachen Empfindungen des Guten“, (z. B. beim Beobachten an sich selbst guter Handlungen), wodurch wir uns „unauflösbare Vorstellungen des Guten“ machen. Der Zusammenhang von einfachen Empfindungen des Guten mit seinen unauflösbaren Vorstellungen bringt ein „Gefühl der Lust“ hervor, durch dessen „Bewusstsein“ der Verstand einerseits den Begriff des Guten bildet und andererseits über einen Gegenstand (bzw. eine Handlung) das Urteil abgibt: „dieses ist gut“. Angesichts der Tatsache, dass der Verstand zum einfachen und deutlichen Begriff des Guten „unmittelbar“ durch eine Reihe nicht reduzierbarer Elemente gelangt, ist der Begriff des Guten unzergliederbar und das Urteil „dieses ist gut“ unerweisbar¹⁹ (siehe UD, 299.19). Entsprechend ist eine Handlung nur dann im strengen Sinne als gut zu bezeichnen, wenn das Gute derselben unmittelbar in ihr enthalten ist; dann heißt sie vollkommen. Da jede an sich gute Handlung nun erstens für sich selbst einen Zweck ausmacht und zweitens einer Regel entspricht, so ist diese Regel mit einem „unerweisbaren materiellen praktischen Grundsatz der Verbindlichkeit“, (welcher einen solchen Zweck setzt), einerlei. Denn sowohl für diese konkrete Regel
Schwaiger 1999, 61 f., die Anwendung der Kategorien „forma“ und „materia“ auf das Ethische gehe auf die Thomasianische Schule zurück und finde sich nicht nur bei Crusius, sondern auch bei Pufendorf, dem späten Hutcheson, Fordyce, Price, Baumgarten und anderen. Insgesamt ist dieser dritte Absatz des Textes, mit dem wir uns gerade beschäftigen, überwiegend dunkel. Letztlich ist unklar, worin das unauflösbare Gefühl des Guten genau besteht, ob allein in einfachen Empfindungen des Guten, oder im ganzen Zusammenhang von einfachen Empfindungen des Guten mit den Vorstellungen desselben und mit dem daraus entspringenden Bewusstsein eines Gefühls der Lust.
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der in Frage kommenden Handlung als auch für den materiellen Grundsatz der Verbindlichkeit ist es bezeichnend: (1) ein praktischer Grundsatz der Verbindlichkeit zu sein, bzw. dass beide auf der Notwendigkeit der Zwecke fußen, und zwar derjenigen Zwecke, die unmittelbar und nicht wiederum als Mittel gut sind. Aus diesem Grund ist auch die Handlung, durch welche solche Zwecke vollzogen werden sollen, unmittelbar notwendig, mithin unmittelbar geboten; (2) materiell zu sein, bzw. dass sie durch das Gebot einer guten Handlung eine bestimmte Verbindlichkeit befehlen, d. h. sie besagen insbesondere, was zu tun ist; (3) unerweisbar zu sein, weil sie sich auf nicht reduzierbare Elemente gründen, nämlich: (a) dass der Zweck und somit die Handlung, die solche Sätze gebieten, unmittelbar gut sind; (b) dass unser Urteil über dieselbe als gut unmittelbar entsteht, sowie dass derselbe Begriff des Guten unauflösbar ist; und (c) dass das Gute in seinem höchsten Grad mit der Vollkommenheit identisch ist. Somit wird die Vollkommenheit sowohl durch jeden materiellen praktischen Satz befördert, der etwas an sich Gutes anordnet, als auch durch den materiellen Grundsatz aller Verbindlichkeit, welcher wegen seiner generellen, doch materiellen Natur jenen unmittelbar einschließt. Da also jeder materielle Grundsatz den formalen Grundsatz der Verbindlichkeit befördert, so ist daraus zu schließen, dass dieser jenen auch unmittelbar umfasst, mithin dass alle materiellen Grundsätze unter dem formalen Grundsatz „unmittelbar subsumiert“ sind (UD, 299.34 f., 300.16). Kant zufolge lautet der unerweisbare materielle Grundsatz aller Verbindlichkeit: „Thue das, was dem Willen Gottes gemäß ist“ (UD, 300.17; 298.32). Denn: „Es ist eine unmittelbare Häßlichkeit in der Handlung, die dem Willen desjenigen, von dem unser Dasein und alles Gute herkommt, widerstreitet“ (UD, 300.13)²⁰.
Vergleiche Schwaiger 1999, 41, nach dessen Auffassung das theonome Moralprinzip „keine Formel der Verbindlichkeit, sondern der problematischen Geschicklichkeit“ (UD, 299.06) ist. Sofern allerdings Gott bzw. Gottes Wille im Crusius′schen Prinzip kein zu erreichendes Ziel, sondern ein Verhaltensmuster liefert, gegen welches zu handeln eine „unmittelbare Hässlichkeit“ (UD, 300.13) der Handlung mit sich bringt, so stellt das Crusius′sche Prinzip (durch die Vorstellung eines vollkommenen Willens, nämlich des Göttlichen) „einen materialen Grundsatz der Moral“ dar (UD, 300.17). Wäre es eine Formel der problematischen Geschicklichkeit, dann könnte es weder zur „Moral“ gehören noch „formaliter unter der schon erwähnten obersten und allge-
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Kants Begründung für die Formel des materiellen Grundsatzes der allgemeinen Verbindlichkeit ist zweifach, nämlich: Einerseits wird die ihm entgegengesetzte Handlung als „unmittelbar hässlich“ getadelt, was der bisherigen Argumentation zu entsprechen scheint. Denn etwas „unmittelbar Hässliches“ ist eher mit dem Gefühl verwandt, indem es vornehmlich durch das Gefühl wahrzunehmen ist und dem unauflösbaren Gefühl und Begriff des Guten entgegentritt. Andererseits ist die Begründung aber auch gewissermaßen theologisch, denn sie beruht auf dem Glauben, dass das Gute aus einer obersten, göttlichen Quelle entspringt. – Nota bene: Der letztere Gedanke, der gewissermaßen auf die Schulmetaphysik zurückgeht, sticht etwas aus dem Argumentationsgang heraus, da das Instrumentarium, welches Kant innerhalb der ganzen Schrift entwickelt, eine durchgängig philosophische Begründung erlaubt, welche seinen Ideen hier mehr Klarheit verschafft hätte, und zwar:²¹ Der „Mittelbegriff“, welcher beide Begriffe (den „Willen Gottes“ und die „Vollkommenheit“) verknüpft, ist das „höchste Gut“, weil der Wille Gottes Ausdruck des höchsten Gutes und dieses vollkommen ist.²² Also bräuchte Kant nicht auf das theologische Argument zurückzugreifen (auf welchem das ästhetische beruht), um das moralisch Gute zu befördern. Außerdem enthält die Vorstellung vom Willen Gottes dem Begriff der Vollkommenheit gegenüber etwas Materielles, nämlich die Aktion des Wollens, das sich auf ein Etwas richtet und dem Menschen innewohnt (obwohl es bei ihm nicht unausbleiblich auf das höchste Gut abzielt und daher nicht vollkommen ist). So verfügt Kant nicht nur über das formelle Element der Vollkommenheit (auf das sich das formale Handlungsprinzip gründet), sondern auch über das materielle des Wollens (das dem materiellen Handlungsprinzip zugrunde liegt), welche beide die Grundlage für die „übrigen praktischen Sätze“ der Verbindlichkeit liefern (Kants Beispiel dafür ist die Nächstenliebe). Hinsichtlich des unmittelbaren Subsumtionsverhältnisses vom Besonderen und Materiellen unter das Allgemeinere und Formelle²³, aufgrund dessen die sogenannten „übrigen praktischen Sätze“ der Verbindlichkeit auch unerweisbar sind, sind sie unentbehrlich und treten als „Postulata“ auf (UD, 300.22).
meinen Formel, […] unmittelbar [stehen]“ (UD, 300.18). Diese beiden Grundsätze sind „unerweislich“ und deswegen „[enthalten sie] als Postulata die Grundlagen zu den übrigen praktischen Sätzen“ (UD, 300.22). Auf die folgende Erläuterung werde ich mich erneut beziehen, siehe unten 1.2.2. Siehe UD, 294.10 f. und siehe oben 1.1.3 Fn. 18. Wie vorhin gesehen, umfasst der formale Grundsatz der allgemeinen Verbindlichkeit den materiellen und somit alle besonderen praktischen Sätze.
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So können wir, ohne die Vorteile oder „Nachteile“ zu berücksichtigen (siehe UD, 300.15), behaupten, dass beispielsweise die Nächstenliebe (siehe UD, 300.02) gut ist, weil der entsprechende materielle praktische Satz²⁴ unmittelbar unter dem materiellen Grundsatz der Verbindlichkeit²⁵ sowie dem formellen in seiner bejahenden Form²⁶ steht; und darüber hinaus können wir annehmen, dass jede dem Willen Gottes widerstreitende Handlung unmittelbar böse ist, denn sie stellt sich dem materiellen und dem formellen Grundsatz der Verbindlichkeit in seiner verneinenden Form²⁷ entgegen. Kant hat innerhalb dieser drei Seiten der Untersuchung gezeigt, dass in den ersten Gründen der Sittlichkeit der größte Grad der philosophischen Evidenz zu erreichen ist, nämlich einerseits durch die Begriffe der Verbindlichkeit, des Sollens, der Vollkommenheit, des Guten und des Willens Gottes; und andererseits mittels den Unterscheidungen zwischen der Notwendigkeit der Handlung als Mittel und als Zweck, zwischen dem formalen und dem materiellen Satz und endlich zwischen dem Tun und dem Unterlassen. Trotzdem endet die Schrift offen, insofern Kant gesteht, dass erstens die Grundbegriffe der Verbindlichkeit sicherer bestimmt werden müssten, und dass zweitens noch ausgemacht werden müsse, „ob lediglich das Erkenntnisvermögen oder das Gefühl (der erste, innere Grund des Begehrungsvermögens) die erste Grundsätze dazu entscheide“ (UD, 300.26).
1.2 Exegetischer Teil 1.2.1 Kants Absicht Wie anfangs beschrieben,²⁸ ist die Untersuchung eine kleine Abhandlung, in der Kant eine Antwort auf die Frage für das Preisausschreiben von 1763 der Akademie der Wissenschaften vorstellt. Um die Absicht Kants ans Licht zu bringen, wird es also hilfreich sein zu wissen, welche Motivation Kant bewogen hat, in jenem Jahr am Wettbewerb teilzunehmen und die Preisschrift zu verfassen. In der Einleitung der Abhandlung können wir Folgendes lesen:
UD, 300.02: „Liebe den, der dich liebt“. Siehe UD, 300.17: „Thue das, was dem Willen Gottes gemäß ist“. Siehe UD, 299.10: „Thue das Vollkommenste, was durch dich möglich ist“. Siehe UD, 299.12: „Unterlasse das, wodurch die durch dich größtmögliche Vollkommenheit verhindert wird“. Siehe oben Kap. 1 Fn. 3.
1.2 Exegetischer Teil
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„Wenn die Methode fest steht, nach der die höchstmögliche Gewißheit in dieser Art der Erkenntnis [sc. der höheren Philosophie] kann erlangt werden, […] so muß an statt des ewigen Unbestands der Meinungen und Schulsecten eine unwandelbare Vorschrift der Lehrart die denkende Köpfe zu einerlei Bemühungen vereinbaren […]. Ich werde mich weder auf die Lehren der Philosophen, deren Unsicherheit eben die Gelegenheit zu gegenwärtiger Aufgabe ist, noch auf Definitionen, die so oft trügen, verlassen“ (UD, 275).
Einerseits ist aus diesen Zeilen zu entnehmen, dass Kant bereits 1762 die Uneinigkeit bezüglich des Verfahrens in der Philosophie problematisiert, aufgrund derer diese nicht wie die Naturwissenschaften nach Newton fortschreiten kann.²⁹ Vor diesem Hintergrund ist also sein Vorhaben zu verstehen, der höheren Philosophie eine bestimmte Gestalt zu geben, weshalb er auf eine „einfältige und behutsame Methode“ zurückgreift, die aus Erfahrungssätzen und daraus gezogenen unmittelbaren Folgerungen bestehe (UD, 275). Allerdings ist in der Einleitung nichts in Bezug auf die Moral zu lesen und, wenn wir die Schrift im Ganzen betrachten, so ist nur der zweite Teil der vierten Betrachtung (der nur drei Seiten ausmacht) der Moral gewidmet. Zwar entspricht der Umfang des Textes in diesem Abschnitt nicht der inhaltlichen Schwierigkeit desselben. Charakteristisch für diesen Text ist seine überwiegende Unklarheit, welche darauf zurückgeht, dass die verwendeten moralischen Begriffe sowie ihre Verknüpfung meist nicht deutlich definiert oder explizit erklärt werden. Jedoch zeigt dies zugleich, dass die damalige Verfassung der Metaphysik Kant stärker beschäftigt hat als die Verfassung der Moralphilosophie. Als „höhere Philosophie“ soll jene die Grundlage festlegen, worauf das ganze Gebäude der Philosophie, darunter die Ethik errichtet wird.³⁰ Das kann als ein Zeichen dafür gelesen werden, dass Kant noch keine definitive Position bezüglich letzterer eingenommen hatte. Zur Unterstützung dieser These sind auch die letzten Zeilen der vierten Betrachtung aufschlussreich: „Gleichwohl können diese Grundsätze[³¹] nicht entbehrt werden, welche als Postulata die Grundlagen zu den übrigen praktischen Sätzen enthalten. Hutcheson und andere haben
Diese Sorge wird auch zum Motiv der Kritik der reinen Vernunft (1781). Siehe „Vorrede“, in KrV, AA 04: 007 ff./AVIIff. Diesem Umstand wäre es zuzuschreiben, dass Kant zunächst die Kritik der reinen Vernunft (1781) und die Prolegomena (1783), und erst dann die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1784) schreibt. Dieses Verfahren wiederholt sich mit der zweiten Auflage der KrV 1787 und der Kritik der praktischen Vernunft 1788. Vergleiche Menzer 1898, 306, dem zufolge „diese Grundsätze“ nur auf die materialen Grundsätze verweisen. Meiner Interpretation zufolge bezieht sich Kant damit sowohl auf den obersten formalen als auch den obersten materialen Grundsatz der Moral.
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unter dem Namen des moralischen Gefühls hievon einen Anfang zu schönen Bemerkungen geliefert. Hieraus ist zu ersehen, daß, ob es zwar möglich sein muß, in den ersten Gründen der Sittlichkeit den größten Grad philosophischer Evidenz zu erreichen, gleichwohl die obersten Grundbegriffe der Verbindlichkeit allererst sicherer bestimmt werden müssen, in Ansehung dessen der Mangel der praktischen Weltweisheit noch größer als der speculativen ist, indem noch allererst ausgemacht werden muß, ob lediglich das Erkenntnißvermögen oder das Gefühl (der erste, innere Grund des Begehrungsvermögens) die erste Grundsätze dazu entscheide“ (UD, 300.26).³²
Auf der einen Seite finden wir hier den positiven Verweis auf Hutcheson bezüglich der Postulate und auf der anderen den offenen Charakter des Abschlusses der Schrift. Zum einen hält Kant zu dieser Zeit noch nicht das für abwegig, womit er sich später, aber immer noch in der „vorkritischen“ Zeit, kritisch auseinandersetzen wird, nämlich das von Hutcheson sogenannte „moralische Gefühl“³³. Anfangs versteht Kant dieses jedoch eher als einen bereichernden Beitrag zur Moralphilosophie. Denn zum ersten Mal entwickelt Hutcheson das Konzept einer bewegenden Kraft zum Handeln im Menschen, welche moralisch ist: Das Gefühl besteht in einem Vermögen, aus dem unser Begriff des Guten entspringt, und das weder bloß physisch – wie bei Epikur das Wohlbefinden –, noch bloß rational ist – wie bei Wolff die Vollkommenheit bzw. bei Crusius der Wille Gottes.³⁴ Zwar nimmt Kant im formalen sowie materiellen Grundsatz der Verbindlichkeit jeweils den Wolff′schen Vollkommenheitsbegriff und das Crusius′sche Ideal vom Willen Gottes auf. Aber beides sind bloß rationale Gründe, die an sich selbst in einem „empfindenden Wesen“ wie dem Menschen (UD, 299.26) noch keine ausreichende Triebfeder zum Handeln ausmachen. Hutchesons moralisches Gefühl scheint für Kant dieses Defizit der dogmatischen Auffassungen zu überwinden.³⁵ Aus diesem Grund könnte die Beschäftigung mit der Moralphilosophie keine so dringende Aufgabe für Kant gewesen sein wie die Auseinandersetzung mit der Metaphysik.
Vergleiche GMS, 391.21, wo Kant in Kontrast zu diesen Worten behauptet: „[…] die menschliche Vernunft [kann] im Moralischen selbst beim gemeinsten Verstande leicht zu großer Richtigkeit und Ausführlichkeit gebracht werden, da sie hingegen im theoretischen, aber reinen Gebrauch ganz und gar dialektisch ist“. Vergleiche TG, 335.12 („sittliches Gefühl“) und V-Mo, 022 ff./024 ff., 057 ff./071 ff. und 071 f./ 087 f.; siehe GMS, 441.32– 443, 459.32– 460.07. Siehe V-Mo, 009 ff./012 ff. und das Schema in KpV, AA 05: 040, mit dem Kant die unterschiedlichen moralischen Konzeptionen und ihre Hauptbegriffe vorstellt. Allerdings gilt dies nicht umgekehrt, denn Kants philosophische Umgebung war vornehmlich eine dogmatische.
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Zum anderen verrät der abschließende Absatz, dass Kant zu jenem Zeitpunkt weder über eine eigene, bestimmte und vollständige Moraltheorie verfügte, noch beabsichtigte, eine solche in der Untersuchung zu konzipieren. Erstens ist die ausgeführte Begriffsklärung im Hinblick auf die Moraltheorie noch unzulänglich; im Lichte der Fragestellung des Preisausschreibens wird lediglich auf die Begriffe zurückgegriffen, die es erlauben zu behaupten, dass eine Gewissheit in den Grundsätzen der Moral möglich ist. Und zweitens bedarf die Moral einer grundlegenderen Forschung, durch welche die am moralischen Handeln beteiligten Vermögen und deren Rolle genau bestimmt werden. Damit stellt sich die Position Menzers als unzutreffend heraus, denn er behauptet, dass die Untersuchung mit der „Formulierung des Sittengesetzes“³⁶ eine erste „Lösung“ für die Frage vorschlägt, wie der „natürlichen Empfindung […] Verbindlichkeit für das menschliche Handeln zukomme“³⁷. Aber wie bereits gezeigt, kommt in der Untersuchung keine „Formulierung des Sittengesetzes“ vor, sondern Kant verwendet nur die Formeln des formalen und des materiellen Grundsatzes der Moral, die er von Rationalisten und Empiristen erborgt. Ein „Grundsatz“ (bzw. „Prinzip“) mit der Allgemeingültigkeit eines „Gesetzes“ ist aber noch nicht erdacht.³⁸ Ebenso stellt Schmucker die Signifikanz dieser Seiten der Preisschrift übertrieben dar, wenn er „hier […] nicht nur den Keim der späteren Lehre Kants, sondern sie selbst der Substanz nach vollständig“³⁹ findet. Denn zwar verknüpft Kant die Moral mit der Verbindlichkeit, führt er die Unterscheidung zwischen einer Notwendigkeit der Mittel und einer Notwendigkeit der Zwecke⁴⁰ ein und setzt schließlich den moralischen Grundsatz der Formel der problematischen Geschicklichkeit entgegen – all diese Faktoren machen auch wichtige Merkmale seiner späteren reifen Ethik aus. Aber diese Begriffe und Unterscheidungen erfahren in vieler Hinsicht noch keine Entfaltung. Also steht meine Interpretation der generellen Absicht Kants in der Untersuchung, nämlich dass er noch nicht vorhatte, eine eigene Moraltheorie zu entwickeln, keineswegs in Widerspruch dazu, dass es sich dabei zum Teil aus der Tradition (von Wolff, Crusius und Hutcheson) übernommene und zum Teil von Kant selbst neu konzipierte Theorieelemente handelt, anhand derer die Frage des Preisausschreibens beantwortet werden kann.
Menzer 1899, 41 Menzer 1898, 321. Dazu siehe unten 7.1.2.4.2 (a), (b). Schmucker 1961, 60. Diese Unterscheidung ist Kants Gedankengut. Siehe Schwaiger 1999, 54, 59. Vergleiche Henrich 1963, 415 und Schmucker 1961, 86, nach denen die Entgegensetzung auf Crusius zurückgeht.
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1 Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der Theologie und der Moral
1.2.2 Kritische Rekonstruktion der Moralkonzeption Wenn sich im Hinblick auf die vorliegende Schrift von einer moralischen Konzeption Kants sprechen lässt, dann könnte diese durch das Schema in Anhang 1 veranschaulicht werden. Wie ich vorhin gezeigt habe,⁴¹ geht die Preisschrift davon aus, dass die Moral eng an die Verbindlichkeit gebunden ist.⁴² Alle Handlungen, welche sich aus einer Zwecksetzung ergeben, beinhalten ein Sollen, mithin eine Notwendigkeit. Aber kein anderes Sollen stiftet Moralität außer demjenigen, welches den Charakter der Unmittelbarkeit aufweist. Dieses Sollen ist nur für die Notwendigkeit der Zwecke bezeichnend, denn nur sie erzeugt unumgänglich eine Verbindlichkeit. Diese wird durch das Prinzip, die Vollkommenheit zu befördern, und das Prinzip, dem Willen Gottes gemäß zu handeln, ausgedrückt. Da die Verbindlichkeit und ihre Prinzipien auf einer Unmittelbarkeit beruhen, sind sie unzergliederbar und daher unbeweisbar: sie sind nicht zusammengesetzt, weshalb sie nicht durch die Analyse weiterer Begriffe erklärt werden können. Insofern liegt der Moralität eine unmittelbare Einsicht zugrunde, der dieser „den größten Grad philosophischer Evidenz“ (UD, 300.27), d. h. Gewissheit verleiht. Der Verbindlichkeitsbegriff, auf den Kant in der Untersuchung zurückgreift, um die Möglichkeit der Gewissheit in der Moral zu beweisen, stützt sich zwar auf das Erkenntnisvermögen, sofern die grundlegenden Begriffe des formalen wie des materiellen Grundsatzes der Verbindlichkeit, nämlich der Begriff der Vollkommenheit und das Ideal vom Willen Gottes, ausschließlich aus diesem Vermögen hervorgehen. Dennoch hat die bloß rationale Verbindlichkeit keine Wirksamkeit für den Menschen, bei dem Empfindungen und Gefühle eine bedeutende Rolle spielen, die Kant nunmehr betont.⁴³ Jenen Handlungen, die der Mensch als „schuldige Handlungen“ versteht, entsprechen praktische Sätze (wie beispielsweise der Satz der Nächstenliebe), die eine „besonders bestimmte Verbindlichkeit“ (UD, 299.16) gebieten. Als Ausdruck der Verbindlichkeit sind sie unmittelbar unter die allgemeine Verbindlichkeit subsumiert und beziehen sich auf diese Weise auf die Unumgänglichkeit derselben; als „besonders bestimmt“ sagen die praktischen Sätze aus, was genau zu tun ist, d. h. sie bestimmen das Objekt der Handlung (z. B. den lieben, der dich liebt); unter dieser Rücksicht werden sie als „materiell“ qualifiziert. Diese „ma Siehe oben 1.1.3. So wird der Begriff der Verbindlichkeit im letzten Absatz der Preisschrift als Synonym für „Moral“ bzw. „praktische Weltweisheit“ verwendet. Das soll Kant Rousseau (siehe Höffding 1898, 18) und den schottischen Philosophen (siehe Menzer 1898, 302) verdanken.
1.2 Exegetischer Teil
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teriellen Grundsätze“ (UD, 299.16) stimmen mit dem Ideal vom Willen Gottes überein, denn dieser umfasst sie unmittelbar. Der Grund dafür, dass diese besonderen praktischen Sätze im Unterschied zu dem formalen und materiellen Grundsatz der Verbindlichkeit im Menschen wirksam sind und dieser sie als seine Pflichten versteht, liegt also darin, dass sie sich auf das Gefühl stützen. Denn erst im Rückgriff auf ein nicht weiter analysierbares Gefühl des Guten, dessen Ursprung in der Wahrnehmung einfacher Empfindungen und in den einfachen Vorstellungen des Guten anzusiedeln ist, löst der Verstand den einfachen Begriff des Guten auf (siehe UD, 299.28). Durch diesen Begriff kann der Mensch eine Handlung als an sich gut anerkennen. Da nun zum einen das Gute dem Willen Gottes gemäß und zugleich vollkommen ist und da, zum anderen, „dem Willen Gottes gemäß zu handeln“ sowie die „Beförderung der Vollkommenheit“ die Grundsätze der allgemeinen Verbindlichkeit ausmachen, beurteilen wir den besonderen praktischen Satz über eine an sich gute Handlung als verbindlich, denn er ist unter jenen Grundsätzen unmittelbar subsumiert. Der Untersuchung zufolge ergibt sich schließlich eine vollständige Erläuterung des Verbindlichkeitsbegriffs und somit der Moral nur dann, wenn das Gefühl neben dem Verstand als ein wesentliches Vermögen aufgenommen wird, mithin wenn beide als gleichwertige Grundstützen der Moral anerkannt werden.⁴⁴ Insofern übersieht Manfred Kuehn diese frühe Leistung Kants, wenn er behauptet: „One of the most important new doctrines of Kant’s Inaugural dissertation was his radical distinction between „intellect“ and „sensation“. In this work Kant argued for the first time explicitly that these two faculties are independent and irreductible„⁴⁵. Was diese These von zwei gleichwertigen Grundstützen der Moral angeht, so zeigt sich hier nichtsdestoweniger eine gewisse hierarchische Ordnung: Der Verstand muss in die Reihe der Modifikationen des Gefühls eingreifen, damit unser einfacher Begriff des Guten überhaupt entsteht und deutlich gemacht wird. Auf diese Weise muss der Beitrag des Gefühls noch durch den Verstand ergänzt werden. Dementsprechend lässt sich diese Hierarchie auch zwischen dem formalen und dem materiellen Grundsatz der Verbindlichkeit sowie zwischen dem materiellen Grundsatz der Verbindlichkeit und den besonderen praktischen Sätzen antreffen, sofern nämlich der Begriff der Vollkommenheit wegen seiner All-
Siehe oben 1.1.3 Fn. 18 zur Entstehung theoretischer Erkenntnis durch die Zusammensetzung von formalen Grundsätzen (Identitäts- und Widerspruchssatz) und materiellen Grundsätzen, welche einen Mittelbegriff verschaffen. Kuehn 1995, 375. Dazu siehe oben Einleitung 4.2.
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1 Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der Theologie und der Moral
gemeinheit das Ideal des Willens Gottes unmittelbar umfasst ⁴⁶ und beide mit dem für jeden praktischen Satz bezeichnenden Begriff des Guten zu identifizieren sind. Trotzdem dürfen wir hieraus auf keinen Fall schließen, dass der Verstand gegenüber dem Gefühl bzw. der formale Grundsatz gegenüber dem materiellen Grundsatz bzw. letzterer gegenüber jedem besonderen praktischen Satz eine vergleichsweise bedeutendere Rolle spiele. Zwar wendet Kant die formalen Prinzipien der theoretischen Philosophie hier auf den praktischen Bereich an.⁴⁷ Aber meine Untersuchung hat herausgestellt, dass wir eben noch des Gefühls und „materieller erster Gründe“ (UD, 299.15) bedürfen, damit nicht nur die Verbindlichkeit als Begriff verstanden, sondern auch die Wirkung derselben auf den Menschen stattfindet und wahrgenommen wird⁴⁸. Die entscheidende Rolle des Gefühls zeigt sich auch darin, dass das Gute einer Handlung erst durch das Gefühl empfunden werden kann. Anhand dieser Empfindung verbindet der Verstand die Handlung mit dem Begriff des Guten: Er stellt sich die praktische Regel der Handlung als identisch mit dem materiellen Grundsatz („ich soll dem Willen Gottes gemäß handeln“) vor, der seinerseits unter den formalen Grundsatz („ich soll die gesammte größte Vollkommenheit befördern“) unmittelbar subsumiert wird. Daher sehen wir die Handlung als etwas unmittelbar Gutes und als unerweisbar notwendig an. Zusammenfassend müssen der bloß rationale Vernunftbegriff der Vollkommenheit und das bloß rationale Ideal vom Willen Gottes mit dem nicht mehr aus bloßem Verstand, sondern auch mit dem aus dem Gefühl entspringenden Begriff des Guten verknüpft werden, damit man sich die Handlung nicht nur als eine notwendige vorstellt, sondern auch mit einem (wahrgenommenen) Gefühl der Lust an der Ausführung derselben verbindet. Nur wenn man dies berücksichtigt, wird der oben bereits angesprochene positive Verweis Kants auf die Moral Sense-Philosophie letztlich verständlich. Die erwähnte Hierarchie besteht also eher in dem unmittelbaren Verhältnis der Subsumtion des Gefühls unter die Tätigkeit des Verstandes, mithin der Subsum-
Siehe oben die abschließende Nota bene zu 1.1.3, die sich mit dem Verweis auf die Identifizierung des Willens Gottes und der Vollkommenheit mit dem höchsten Gut beschäftigt. Nämlich die Sätze der Identität und des Widerspruchs. Die bereits vorhin (in der erwähnten Fn. 18 in 1.1.3) aufgezeigte Parallele, die Kant zum theoretischen Bereich zieht, betrifft die Methode, nicht aber die moralphilosophischen Inhalte, die Kant hier behandelt. Dazu vergleiche Menzer 1898, 307: „Die Lösung der Probleme der praktischen Philosophie geschieht in völliger Abhängigkeit von den in der theoretischen gefundenen Erkenntnissen“.
1.3 Schluss
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tion von besonderen praktischen Sätzen unter den materiellen und den formalen Grundsatz der Verbindlichkeit.⁴⁹ Denn nur durch Gefühl und ohne den Verstand könnten wir zwar Empfindungen haben, aber sie nicht als etwas an sich Gutes anerkennen. Und der Verstand ohne das Gefühl (und dessen „einfacher[e] Empfindungen“) würde über keine Materie verfügen und könnte den Begriff des Ansich-Guten nicht bilden. Dieser würde leer bleiben.⁵⁰ So wäre das Gute weder mit der Vollkommenheit noch mit dem Willen Gottes identisch und könnte nicht – mittels eines besonderen praktischen Satzes – auf unser Handeln wirken. Daher lässt sich mit Recht behaupten, dass die dieses Subsumtionsverhältnis konstituierenden Vermögen gleichwertig sind, denn jedem ist eine eigentümliche Tätigkeit zugeordnet, ohne die ein vollständiger, d. h. ein zugleich theoretischer und praktischer Begriff der Verbindlichkeit nicht denkbar ist. Dennoch lässt sich angesichts der Offenheit des abschließenden Absatzes der Untersuchung die in dieser „kritischen Rekonstruktion“ dargestellte These der gleichwertigen Vermögen zunächst nur unter Vorbehalt vertreten: Im Rahmen der Schrift glaubt Kant, nur die Gründe für die philosophische Gewissheit aufgewiesen und die Vermögen, worauf diese Gründe sich stützen, lokalisiert zu haben. Allerdings hat er dabei die Frage noch offen lassen müssen, „ob lediglich das Erkenntnißvermögen oder das Gefühl (der erste, innere Grund des Begehrungsvermögens) die erste Grundsätze dazu entscheide“ (UD, 300.31). Erst die Beantwortung dieser Frage hätte ihm erlaubt, die obersten Grundbegriffe der Verbindlichkeit sicherer zu bestimmen (siehe UD, 300.28). Damit offenbart Kant einen gewissen Vorbehalt, Hutchesons Ansatz völlig anzunehmen.
1.3 Schluss Aus dem Dargestellten ergibt sich, dass Kant sich hinsichtlich der Aufgabe in der Untersuchung darauf beschränkt, die seines Erachtens zutreffenden Ansichten der Rationalisten und Empiristen aufzunehmen, die ihm erlauben, die Möglichkeit der Gewissheit in den Grundsätzen der Moral aufzuzeigen. Auf diese Weise umgeht er augenscheinlich die Mängel jeder der beiden Theorien, weil er auf keine mit dem Gefühl bzw. Verstand jeweils verbundenen und für uns Menschen charakteristischen Merkmale verzichtet. Zudem ergänzt er damit beide Konzeptionen,
Sei x ein unerweisbarer formaler Grundsatz aller Verbindlichkeit; y ein unerweisbarer materieller Grundsatz aller Verbindlichkeit; und z jeder besondere materielle praktische Satz; dann lautet der mathematische Ausdruck dieses Subsumtionsverhältnisses x[y(z)]. Denn, wie gezeigt, entsteht das Gute hauptsächlich aus Empfindungen.
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1 Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der Theologie und der Moral
indem er sie sozusagen wechselseitig vervollständigt:⁵¹ Die Wirkung des Verstandes auf das Gefühl besteht in der Entstehung des Begriffs des Guten, der seinerseits mit der Vollkommenheit und der Übereinstimmung mit dem Willen Gottes zu identifizieren ist und uns erlaubt, das Gute anzuerkennen. Das Gefühl wirkt umgekehrt auf den Verstand, indem es diesem nicht nur das Material zur Konstruktion des Begriffs des Guten verschafft, sondern auch die Lust an der Verwirklichung einer an sich guten Handlung erzeugt: Sobald der Verstand diese Handlung als an sich gut anerkennt, versteht er sie als einen notwendigen Zweck, der realisiert werden soll. Die Vervollständigung rationaler Grundsätze durch ein Gefühl der Lust am Guten führt bei Kant dazu, die Verbindlichkeit – den Hauptbegriff der Untersuchung, den er anfangs als die Notwendigkeit der Zwecke bestimmt – nicht wie in der Grundlegung als das Verhältnis des menschlichen Willens zum moralischen Gesetz, mithin als eine Nötigung des Willens ⁵², sondern als ein Subsumtionsverhältnis der als gut anerkannten praktischen Sätze unter die Grundsätze der allgemeinen Verbindlichkeit zu definieren. So liegt die nicht bloß rational verstandene Verbindlichkeit eigentlich in der praktischen Handlungsregel selbst (z. B. liebe den, der dich liebt): Sie ist verbindlich, weil sie als Ausdruck des Guten mit der Vollkommenheit und dem Willen Gottes einerlei ist. Somit ist letztendlich das Gefühl (nicht der durch die Vernunft unzureichend bestimmte Wille, wie in der Grundlegung ⁵³) die Basis bzw. der Grund einer jeden moralischen Handlung und damit auch eines jeden möglichen verbindlichen Satzes. So kann nämlich erstens nur aus dem Begriff des Guten, (dessen Ursprung sich im Gefühl befindet), ein materieller Satz entstehen: „Und gleichwie aus den ersten formalen Grundsätzen unserer Urtheile vom Wahren nichts fließt, wo nicht materiale erste Gründe gegeben sind, so fließt allein aus diesen zwei Regeln des Guten[⁵⁴] keine besonders bestimmte Verbindlichkeit, wo nicht unerweisliche materiale Grundsätze der praktischen Erkenntniß damit verbunden sind“ (UD, 299.13).
Zu einem ähnlichen Schluss kommt Schilpp [1938] 21997, 218. Er weist darauf hin, dass Kant weder einmal ein entschlossener Anhänger des Schotten Hutchesons oder Rousseaus war, noch sie einmal verstoßen hat. Vielmehr hat er sich ihnen gegenüber immer dankbar erwiesen, weil sie die Gefühlsseite des menschlichen Verhaltens – bis dahin außer Acht gelassen – in den Vordergrund rückten. Siehe GMS, 439.28. GMS, 412.35. Kant bezieht sich auf den ersten formalen Grund der Pflicht zum Handeln und den ersten formalen Grund der Pflicht etwas zu unterlassen, nämlich: „Thue das Vollkommenste, was durch dich möglich ist“, und „Unterlasse das, wodurch die durch dich größtmögliche Vollkommenheit verhindert wird“ (UD, 299.10).
1.3 Schluss
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Damit dieser notwendige Satz zweitens als Triebfeder des Handelns fungiert, muss man ein Gefühl der Lust, welches sich auf das im Satz artikulierte Gute bezieht, wahrnehmen können, mithin ein empfindendes Wesen sein: „Gleichwie es nun unzergliederliche Begriffe des Wahren […] giebt, also giebt es auch ein unauflösliches Gefühl des Guten (dieses wird niemals in einem Dinge schlechthin, sondern immer beziehungsweise auf ein empfindendes Wesen angetroffen)“ (UD, 299.22).
Kants eigener Beitrag in der Untersuchung besteht also darin zu zeigen, dass es eine Gewissheit in den Grundsätzen der Moral gibt. Dazu unterscheidet er die problematische von der gesetzlichen Notwendigkeit und bedient sich der Theorien der Rationalisten und Empiristen. Von beiden nimmt er sowohl die moralischen Begriffe als auch eine Konzeption der für die Moralität ausschlaggebenden Vermögen auf und modifiziert, falls nötig, die Definitionen derselben, damit die jeweiligen Begriffe und Vermögen – trotz ihres unterschiedlichen ursprünglichen Kontextes – sich gegenseitig ergänzen. So rechtfertigt Kant die Behauptung der Gewissheit in der Moral. Mithin steht er indirekt im Dialog mit der Tradition, bietet aber keine strikt eigene Ausarbeitung der Begriffe derselben, keine geschlossene Theorie,⁵⁵ in deren Rahmen die Begriffe und Vermögen ihre endgültigen Definitionen finden würden. Daher ist es insgesamt unzutreffend, wenn man im Hinblick auf den Stand der moralphilosophischen Entwicklung Kants zum Zeitpunkt der Untersuchung von „genuin kantischen Gedanken“⁵⁶ spricht oder Kant einen „Systematiker“⁵⁷ nennt.
Auch Ward 1972, 31, schließt: „[…] the solution which Kant offers to the problems of ethics is a tentative one“. Vergleiche Henrich, 1965, 255. Vergleiche Henrich, 1957– 58, 65.
2 Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) 2.1 Analytischer Teil Die Beobachtungen enthalten eine Fülle an moralischen Begrifflichkeiten, die die Aufmerksamkeit eines jeden Forschers der Moralphilosophie auf sich ziehen. Vielleicht wird deswegen seit Menzers entwicklungsgeschichtlicher Studie häufig die These vertreten, dass „eigentlich im Mittelpunkt dieser Schrift die Moralphilosophie [steht]“¹. Dennoch entdeckt man bei näherer Betrachtung, dass das Thema dieser Schrift, trotz ihrer Verwandtschaft mit der Ethik, nicht die Ethik selbst ist. Mit dieser Abhandlung will Kant das menschliche Verhalten aus zwei Perspektiven betrachten: Einerseits geht es ihm um die Gefühle und die ästhetische Erfahrung sowohl als Auslöser als auch als Wirkung von Handlungen und Verhaltensweisen. Andererseits erwägt er die psychologischen Besonderheiten, die jeder Verhaltensweise zugrunde liegen.² Meine These stützt sich darauf, dass Kant sich auf das sinnliche Gefühl feinerer Art konzentriert, welches seinerseits die Gefühle für das Schöne und das Erhabene umfasst (siehe GSE, 208.23). Außerdem ist zu beachten, dass dieses Gefühl bereits in der Fragestellung der Schrift nicht nur von individuellen Vergnügen und Präferenzen des bloß sinnlichen Gefühls (siehe GSE, 208.09) unterschieden wird, sondern auch von einem besonders feinen Gefühl, „dessen ein Kepler fähig war, wenn er […] eine seiner Erfindungen nicht um ein Fürstenthum würde verkauft haben. Diese Empfindung ist gar zu fein, als daß sie in gegenwärtigen Entwurf gehören sollte, welcher nur das sinnliche Gefühl berühren wird, dessen auch gemeinere Seelen fähig sind“ (GSE, 208.18).
Mittelpunkt der Schrift ist also das sinnliche, feinere Gefühl, sofern es in einem Zusammenhang zur Verhaltensweise und zum Handeln der Menschen steht. Angesichts der erwähnten irreführenden Interpretation der Schrift als eine mo-
Vergleiche Menzer 1898, 308. Siehe Schilpp [1938] 21997, 72 ff., der das Thema der Schrift richtig beschreibt, und zwar als „Analyse und Untersuchung des Gefühls“. Auch Schmucker 1961, 104 schließt, allerdings aus anderen Gründen, dass „die Absicht Kants nicht gewesen sein kann, die Moralphilosophie zu begründen oder ihre Prinzipien darzulegen“. Ebenso siehe Ward 1972, 21, nach dem das Werk primär nicht die Moralität, sondern die ästhetischen Gefühle angeht. Dazu siehe unten 2.2. https://doi.org/10.1515/9783110584288-005
2.1 Analytischer Teil
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ralphilosophische soll hier untersucht werden, in welchem Maß sich hier auch ein Zusammenhang zur Ethik ergibt.
2.1.1 Passagen In Hinblick auf das gesetzte Ziel werde ich mich auf den ersten und den zweiten Abschnitt der Beobachtungen beschränken (GSE, 207– 227). Während der erste Abschnitt das Thema der Schrift, nämlich „das sinnliche Gefühl“ (GSE, 208.19) und seine spezifischen Formen vorstellt (siehe GSE, 207– 210), konzentriert sich der zweite Abschnitt (siehe GSE, 211– 227) ausschließlich auf die sinnlichen feineren Gefühle des Schönen und Erhabenen, und zwar, erstens sofern sich aus ihnen entsprechende Verhaltensweisen ergeben, und zweitens sofern sich jedes von ihnen jeweils mit einem besonderen Temperament „vereinbaren [lässt]“ (GSE, 219.09).
2.1.2 Struktur des Textes (1) Der erste Abschnitt ist der kürzeste und lässt sich deutlich in zwei Teile untergliedern: Im ersten Teil (siehe GSE, 207– 208.22) signalisiert Kant eine Art Kopernikanische Wende, und zwar in dem Sinne, dass er die Untersuchung der sinnlichen Gefühle (Empfindungen) ins Subjekt rückt: Weder eine transzendentale Struktur im Gefühl des Subjekts, noch die Merkmale des Objekts, sondern nur die unterschiedliche Natur des Gefühls (als eines Empfindungsvermögens) bei jedem einzelnen bestimmt das, was man fühlt: die Empfindungen. Deswegen ist es möglich, dass uns ein und dasselbe Ding auf ganz unterschiedliche Weisen affiziert, denn die Empfindungen hängen nicht davon ab, wie das Objekt das Subjekt affiziert, sondern davon, wie sich das Subjekt durch das Objekt affizieren lässt. Da jeder also seine eigenen Gefühle hat, ist in diesem Bereich nur ein bloßer Subjektivismus bzw. Relativismus statthaft. Die sinnlichen Gefühle sind nicht die „gar zu [feine] Empfindung“, „[deren] ein Kepler fähig war“³. Kant trifft hier folgende Unterscheidung: – das sinnliche Gefühl: Dazu gehören die „Empfindungen des Vergnügens oder des Verdrusses“ (GSE, 207.04). Sie sind für die Empfindung der „Glücklich-
Siehe oben Zitat GSE, 208.18 in 2.1.
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–
2 Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764)
keit“ ausschlaggebend, die sich Kant zufolge als Resultat der „Befriedigung einer Neigung“ (siehe GSE, 207.17) einstellt⁴; das „Gefühl von feinerer Art“ (GSE, 208.10,23): Es betrifft „das Gefühl des Erhabenen und des Schönen“ (GSE, 208.24), das der Abhandlung ihren Titel gibt und ihr Thema ausmacht (siehe GSE, 208.15, 208.23). Es handelt sich um (i) eine Art Gefühl, das „länger ohne Sättigung [genossen werden]“ kann (GSE, 208.11), (ii) das „eine Reizbarkeit der Seele [voraussetzt], die diese zugleich zu tugendhaften Regungen geschickt macht“ (GSE, 208.12) und (iii) das „Talente und Verstandesvorzüge [anzeigt]“ (GSE, 208.14).
Im zweiten Teil dieses ersten Abschnittes (siehe GSE, 208.23 – 210) wird auf das sinnliche „Gefühl von feinerer Art“ sowie seine unterschiedlichen Formen (die Gefühle des Schönen und des Erhabenen⁵) eingegangen und werden diese malerisch beschrieben. (2) Die Gefühle des Schönen und des Erhabenen stellen auch den Dreh- und Angelpunkt des zweiten Abschnitts dar, welcher in vierfacher Hinsicht betrachtet wird: Der erste Teil (A) beschäftigt sich mit den „Gefühlsgattungen“, und bietet eine Erklärung dafür, warum jeder zu einem bestimmten Verhalten (sowie zur entsprechenden Deformation eines Verhaltens) neigt (siehe GSE, 211– 215.23): der Unterschied im Benehmen eines jeden lässt sich verstehen, sofern in jedem üblicherweise entweder ein Gefühl des Erhabenen oder des Schönen oder beide gleichzeitig „herrschen“ (siehe GSE, 218.34 f). Im zweiten Teil (B) (GSE, 215.24– 218.33)werden die unterschiedlichen „moralischen Charaktere“ im Lichte der „herrschenden Gefühle“ (GSE, 222.08,35) behandelt, die diese „bestimmen“ (GSE, 218.36): Überwiegt in einem das Gefühl des Schönen, so ist man determiniert, nach den gütigen Gefühlen des Mitleids und der Gefälligkeit, d. h. nach der „moralischen Sympathie“, zu handeln. Empfindet man vornehmlich ein Gefühl für das Erhabene, so wird man nach „tugendhaften Grundsätzen“ handeln, worin die „wahre Tugend“ besteht. Wird man aber von einem Gefühl der Ehre und Scham beherrscht, dann wird man sich nach Grundsätzen richten, die nur von der Meinung Anderer und deren Urteil abhän-
Es handelt sich also um die empirische Glücklichkeit. Zu Kants Verständnis der „Glücklichkeit“ und „Glückseligkeit“ siehe unten 6.2.3.3 (c) und 7.1.2.1. Das Gefühl für das Erhabene kommt noch in dreierlei Ausprägungen vor: das Gefühl des Schreckhaft-Erhabenen, das des Edlen und das des Prächtigen (siehe GSE, 209.11).
2.1 Analytischer Teil
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gen. Im ersten Fall wäre man von „sympathischem“ Charakter, im zweiten von „tugendhaftem“ Charakter und im dritten von „ehrsüchtigem“ Charakter⁶. Der dritte Teil (C) (siehe GSE, 218.34– 225.24) lässt sich seinerseits in zwei Teile untergliedern. Auf der einen Seite (C.1) konzentriert er sich auf die „menschlichen Gemütsarten“ oder „Temperamente“, um zu zeigen, dass jeder moralische Charakter durch das Temperament des Handelnden bedingt wird (siehe GSE, 218.34– 220.8). So finden wir für gewöhnlich in der melancholischen Gemütsverfassung das allgemeine moralische Gefühl, in der sanguinischen das Gefühl einer unmittelbaren Lust an gütigen und wohlwollenden Handlungen und in der cholerischen das Gefühl der Ehre vorherrschend. (Ebenso ist für die phlegmatische Gemütsverfassung eine gewisse Fühllosigkeit⁷ bezeichnend, weshalb in ihr kein Gefühl überwiegt). Auf der anderen Seite (C.2) betrachtet Kant erneut das Schöne und Erhabene als moralische Empfindungen, aber im Lichte dieser Temperamente (siehe GSE, 220.9 – 225.24). Im letzten Teil (D) (siehe GSE, 225.25 – 227.36) kommt Kant schließlich auf die bereits am Anfang entwickelte Idee zurück, der zufolge die Empfindungen nicht vom Verstand, sondern vom Gefühl – das „nicht einstimmig“ (GSE, 226.17) ist – abhängen. Dabei gelingt es ihm aber, wie das folgende Zitat zeigt, einen bloßen Relativismus bezüglich des Handelns zu vermeiden: „Gleichwohl haben die Fähigkeiten der Seele einen so großen Zusammenhang: daß man mehrentheils von der Erscheinung der Empfindung auf die Talente der Einsicht schließen kann. Denn es würden demjenigen, der viele Verstandesvorzüge hat, diese Talente vergeblich ertheilt sein, wenn er nicht zugleich starke Empfindung für das wahrhaftig Edle oder Schöne hätte, welche die Triebfeder sein muß, jene Gemüthsgaben wohl und regelmäßig anzuwenden“ (GSE, 225.29)⁸. „Imgleichen ist wohl niemand so grob, daß er nicht empfinde, daß eine sittliche Handlung wenigstens an einem andern um desto mehr rühre, je weiter sie vom Eigennutze ist, und je mehr jene edlere Antriebe in ihr hervorstechen“ (GSE, 226.22).
In diesem Text verwendet Kant das Wort „Charakter“ nicht im ethischen Sinne als ηθος (Sinnesart), sondern in bloß psychologischer Hinsicht als εθος (Brauch, Sitte). Dazu siehe unten 2.3. Bem., 119.08: „Der natürliche Mensch ist dieser Unruhe überhoben durch Fühllosigkeit“. Kant bleibt in diesem Punkt bei der in der Untersuchung vertretenen Konzeption, nach welcher die Gefühlsebene hinsichtlich des Handelns mit der theoretischen Erkenntnisebene gleichwertig ist. Siehe oben 1.2.2 meine These über die gleichwertigen Grundstützen der Moral in Kants Untersuchung. Was den guten Gebrauch der Talente (und ebenso der „Eigenschaften des Temperaments“ wie der „Glücksgaben“) angeht, wird dies in der Grundlegung nicht auf ein Gefühl (des Erhabenen), sondern auf den guten Willen zurückgeführt (siehe GMS, 393.05 f.). Dazu siehe unten 7.1.2.2, 7.1.2.3.
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2 Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764)
2.1.3 Kants Darstellung der moralischen Begriffe (a) Die moralischen Charaktere und die Gefühlsgattungen Wie gerade erwähnt, vertritt Kant im Rahmen der Beobachtungen die Ansicht, dass jeder moralische Charakter durch das Empfindungsvermögen „bestimmt“ wird. Insofern sind die feineren sinnlichen Gefühle des Schönen und des Erhabenen „moralische Empfindungen“, die uns dazu führen, uns nach gewissen „Bewegungsgründen“ bzw. „Neigungen“ zu richten. Sie machen also größtenteils die Basis unseres Verhaltens aus, weshalb die psychologischen Betrachtungen über das Verhalten unter der Richtlinie des Gefühls – das in jedem unterschiedlich affiziert wird – die Vermutung nahelegt, dass Kant sich in dieser Schrift mit der Moralphilosophie beschäftigt. Die moralische Charaktere teilen sich ein in die „wahre Tugend“, die „adoptierten Tugenden“ (durch welche sich die moralische Sympathie ausdrückt) und den „Tugendschimmer“, nämlich die Ehrbegierde. Kant beschränkt aber die Moralität ausschließlich auf die wahre Tugend⁹. Diese besteht im Handeln nach „unmittelbaren Gründen“ (GSE, 217.34) bzw. „Grundsätzen“, für welche die „Allgemeinheit“ (GSE, 216) bezeichnend ist. Denn im Gegensatz zu den adoptierten Tugenden und dem Tugendschimmer gründet sich die wahre Tugend – vom Erhabenen beherrscht – letztendlich auf ein „allgemeines moralisches Gefühl“, nämlich auf das von Kant genannte „Gefühl von der Schönheit und der Würde der menschlichen Natur“: Das Gefühl für die Schönheit der menschlichen Natur liefert die Grundlage für die „allgemeine[] Wohlgewogenheit“; das Gefühl für die Würde hingegen die Grundlage für die „allgemeine[] Achtung“. Beide, Wohlwollen und Achtung, bestehen also in Gefühlen; sie dienen aber wegen ihrer Allgemeinheit als Grundsatz unseres Handelns¹⁰. Daher sind sie (trotz ihrer Natur) nicht bloß subjektiv. Eben darin liegt der fundamentale Unterschied zwischen der wahren Tugend und den Supplementen der Tugend. Mit dem Namen „Supplemente der Tugend“ charakterisiert Kant moralische Eigenschaften, welche nicht eigentlich einer „tugendhaften Gesinnung“ (GSE, 215.27), sondern Leidenschaften entsprechen, die als solche nur subjektiv sein können. Bestimmt durch ein „Gefühl einer unmittelbaren Lust an gütigen und wohlwollenden Handlungen“ (GSE, 218.07) handelt man aus „Gutherzigkeit“ (GSE, 216.19, 218.21) bzw. „moralischer Sympathie“ (GSE, 218.12). Dies drückt sich Trotzdem wird das Adjektiv „moralisch“ sowie das Substantiv „Tugend“ auch auf Charaktere bezogen, die nicht eigentlich und „ausschließlich“ moralisch bzw. tugendhaft sind. Zur weiteren Bedeutung dieser Begrifflichkeit in den Beobachtungen siehe unten 2.2.2. Kant wird auch in der Grundlegung die Achtung als ein „Gefühl“ bestimmen. Dazu siehe unten 7.1.2.4.1 bes. (e).
2.1 Analytischer Teil
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durch die Gefühle des „Mitleids“ und der „Gefälligkeit“ aus, welche letztlich den Antrieb zum Handeln ausmachen: „Man kann gewiß die Gemüthsverfassung nicht tugendhaft nennen, die ein Quell solcher Handlungen ist, auf welche zwar auch die Tugend hinauslaufen würde, allein aus einem Grunde, der nur zufälliger Weise damit übereinstimmt, seiner Natur nach aber den allgemeinen Regeln der Tugend auch öfters widerstreiten kann“ (GSE, 215.29).
Auf das Mitleid führen zwar auch Grundsätze der Tugend, denn man versetzt sich an die Stelle des Anderen und, „gerührt“ durch des Anderen Not, hilft man ihm und vollzieht also eine gütige Handlung. Da aber die Triebfeder der Handlung eben in einer subjektiven Neigung und nicht in einem unmittelbaren Grund der Tugend besteht, kann sie nicht tugendhaft sein. Ihrerseits besteht die Gefälligkeit auch in einer Neigung, und zwar den Anderen angenehm zu werden (siehe GSE, 216.23). Daher können Gefälligkeit und Mitleid uns dazu führen, eine höhere Pflicht zu unterlassen, um jemandem in Not zu helfen, und dadurch Ungerechtigkeit einem dritten gegenüber zu begehen. Sie beruhen bloß auf Neigungen, die man bald empfindet, bald nicht empfindet. Ihre Kontingenz bringt es also mit sich, dass sie sich – und daher auch die moralische Sympathie – jederzeit den Regeln der Tugend widersetzen können, denn ohne objektive Gründe kann ihre Übereinstimmung mit der Tugend „nur zufällig“ (GSE, 215.31) sein. Diese Gefühle fungieren, mit anderen Worten, als sittliche Qualitäten, denn, insofern sie mit der Tugend harmonieren, können sie wohl als edel betrachtet werden. Aber da dieses Handeln aus einem Grund entspringt, der nur zufälliger Weise mit der Tugend übereinstimmt und sich – seiner Natur nach – den Regeln der Tugend widersetzen kann, so sind weder die Handlungen noch die Gemütsart, auf welche diese Handlungen zurückgehen, tugendhaft (siehe GSE, 215.29). Folgen wir im Handeln schließlich den Leidenschaften, so können daraus alle Laster entspringen, wenn „nicht höhere Grundsätze ihr Schranken setzen und sie schwächen“ (GSE, 216 – 217); und dann setzen wir uns „außer Stand, die strenge Pflicht der Gerechtigkeit zu erfüllen“ (GSE, 216.3). Handeln wir aber nach den „Regeln des Wohlverhaltens überhaupt“ (GSE, 217.8), dann verfahren wir nach Grundsätzen, welche durch die zwar kälteren, doch allgemeinen Gefühle des Wohlwollens und der Achtung (statt der Gefälligkeit und des Mitleids) gesteuert werden. Die echte Tugend kann sich also nur aus Grundsätzen ergeben, die uns wegen ihrer Allgemeinheit und nach der Vorschrift der Gerechtigkeit aufgeben, eine Handlung aus Mitleid oder Gefälligkeit zu unterlassen, worin die „Würde der Tugend“ (GSE, 217.29) besteht. Das heißt aber nicht, dass der Handelnde sich nicht an die Stelle des Anderen versetzen darf, sondern vielmehr dass „Teilnehmung“ und „Gerechtigkeit“ beim Handeln nicht auf beliebigen Gründen beruhen dürfen.
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Die Grundsätze bzw. unmittelbaren Gründe sind insofern das „Bewusstsein“ des „Gefühls von der Schönheit und der Würde der menschlichen Natur“, als die Schönheit der menschlichen Natur den Grund der „allgemeinen Wohlgewogenheit“ und die Würde derselben den Grund der „allgemeinen Achtung“ ausmachen (GSE, 217.16). Allerdings ist die menschliche Natur durch ihre Schwäche gekennzeichnet, so dass das allgemeine moralische Gefühl nur eine geringe Macht über uns ausübt (siehe GSE, 217.26). Deshalb dienen jene Empfindungen ohne Grundsätze als „Supplemente der Tugend“. Mitleid und Gefälligkeit haben eine große Ähnlichkeit mit der wahren Tugend, weil sie das „Gefühl einer unmittelbaren Lust an gütigen und wohlwollenden Handlungen“ enthalten. Aus diesem Grund bezeichnet Kant sie als „adoptierte Tugenden“. Nun ist diese moralische Sympathie allein noch kein ausreichender Antrieb zu gemeinnützigen Handlungen. Daher sind wir noch mit einem „Gefühl für die Ehre und Scham“ begabt (GSE, 218.12). Zwar weist dieses Gefühl keine besonders große Ähnlichkeit mit der wahren Tugend auf, denn es handelt sich um eine Neigung der Ehrbegierde, die keineswegs tugendhaft ist: Unsere Triebfedern zum Handeln entstehen hier weder aus der Regung der Gutherzigkeit noch aus allgemeinen Grundsätzen (der allgemeinen Wohlgewogenheit und der Achtung). Vielmehr entsprechen sie den Meinungen Anderer und ihrem Urteil von unserem eigenen Wert und dem Wert unserer Handlungen. Aber als „feines Gefühl“ ist es mit dem Prächtigen (einer Art des Erhabenen) verwandt, und somit der Tugend ähnlich, weshalb Kant es „Tugendschimmer“ nennt (GSE, 222.34). Bisher habe ich mich mit den verschiedenen moralischen Charakteren beschäftigt, welche durch die Gefühlsgattungen (des Erhabenen, des Schönen und der Ehre) bestimmt werden. Im Folgenden werde ich sie erneut betrachten, allerdings, gemäß dem Kantischen Leitfaden, hinsichtlich der Temperamente, durch welche diese Charaktere bedingt werden (siehe GSE, 215.28).
(b) Die moralischen Charaktere und die Temperamente Die drei Gattungen des Gefühls, nämlich das allgemeine moralische Gefühl, das Gefühl einer unmittelbaren Lust an gütigen und wohlwollenden Handlungen (bzw. die moralische Sympathie) und das Gefühl für die Ehre sind jeweils bezeichnend für die „melancholische“, die „sanguinische“ und die „cholerische“ Gemütsverfassung. Bezogen auf den ersten Fall gilt nun, dass das Temperament des Melancholikers standhaft ist, und aus diesem Grund ist der Melancholiker bestrebt, durch die Unterordnung seiner Empfindungen unter Grundsätze [d. h. durch „Bezwingung“ derselben (GSE, 215.05)] Unbestand und Veränderung zu meiden (GSE,
2.1 Analytischer Teil
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220.24). Vor einem großen Vorsatz ist er sich immer der „Gefahren“ bewusst, die ihn zu überwältigen drohen, doch „[hat] [er (ACGX)] den schweren, aber großen Sieg der Selbstüberwindung vor Augen“ (GSE, 219.18). Die Grundsätze des Melancholikers sind also äußerst erhaben sowohl wegen ihrer „Unveränderlichkeit“ als auch wegen der „Allgemeinheit ihrer Anwendung“ (GSE, 221.14). Für einen solchen Menschen sind alle besonderen Gründe der Neigung „Ausnahmen“¹¹ (GSE, 220.28): Sie werden nicht aus einem oberen Grund abgeleitet und sind daher dem Unbestand äußerer Dinge unterworfen. Da die Bewegungsgründe des Melancholikers also die Natur von Grundsätzen (GSE, 221.19) annehmen, zeichnet er sich als ein standhafter Charakter, ein guter Freund, sowie als wahrhaftiger und strenger Richter seiner selbst und Anderer aus (siehe GSE, 221): „Er schätzt sich selbst und hält einen Menschen für ein Geschöpf, das Achtung verdient. Er erduldet keine verworfene Unterthänigkeit und athmet Freiheit in einem edlen Busen. Alle Ketten von den vergoldeten an, die man am Hofe trägt, bis zu dem schweren Eisen des Galeerensklaven sind ihm abscheulich“ (GSE, 221.30).
Im zweiten Fall, dem des sanguinischen Charakters, gilt, dass dieser sich unter dem herrschenden Einfluss eines Gefühls des Mitleids und Wohlwollens (d. i. einem Gefühl für das Schöne) befindet (siehe GSE, 219.23), und aus diesem Grund wird sein Verhalten durch seine Neigungen bedingt. Aufgrund der Kontingenz derselben wird er allerdings dem Unbestand und dem Laster unterworfen sein. Zwar hat der Sanguiniker viel moralische Sympathie, aber diese gründet sich nicht auf unveränderliche Grundsätze. Deshalb hängt sein Handeln von dem Eindruck ab, den die Gegenstände auf ihn machen – was ihn zum Laster treibt (siehe GSE, 222.08). Schließlich empfindet der Choleriker vornehmlich ein Gefühl für die Ehre (d. h. für das Prächtige), sodass er weder aus Wohlwollen noch aus Achtung handelt. Da er von einer geheimen Triebfeder bewegt wird, nämlich der Ehrbegierde, so macht er seinen eigenen Wert sowie den Wert seines Besitzes und seiner Handlungen vom Eindruck auf Andere abhängig (siehe GSE, 223.08). Das macht ihn zu einem kaltblütigen Menschen, der ständig darauf achtet, dass sein Antrieb nicht entdeckt wird, aber auch darauf, dass sein äußerer Schein die erwartete Wirkung hat. Daher handelt er zwar nach Grundsätzen, aber nicht nach jenen der Tugend, sondern nach jenen der Ehre (siehe GSE, 223.30).
Den Begriff der „Ausnahme“ wird Kant in der Grundlegung benutzen, um den praktischen „Widerstand der Neigung gegen die Vorschrift der Vernunft“ (GMS, 424.28) zu bezeichnen, welcher sich von dem logischen „Widerspruch“ unterscheidet (siehe GMS, 423.36 f.). Siehe unten 7.1.2.4.2 (a).
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2.2 Exegetischer Teil Ein besonderes Merkmal der Beobachtungen besteht darin, dass Psychologie und Moralphilosophie zugleich als getrennte und verbundene Disziplinen erwogen werden. Denn: (1) die Gefühlsgattungen (zentraler Punkt und Leitfaden der Schrift) werden, auf der einen Seite, in moralischer Hinsicht betrachtet (siehe GSE, 215.24– 218.33), um zu zeigen, dass die moralischen Charaktere jeweils durch das in jedem herrschende Gefühl bestimmt werden; und, auf der anderen Seite, werden sie in psychologischer Hinsicht erwogen (siehe GSE, 218.34– 225.24), um sie mit den Gemütsarten zu vergleichen, und so zeigen zu können, dass die Temperamente zwar nicht von den Gefühlen bestimmt werden, doch jedes von ihnen sich leichter mit einem Gefühl vereinbaren lässt (siehe GSE, 219.2). (2) Psychologie und Moralphilosophie werden aber insofern als mit einander verbunden betrachtet, als das Verhalten in einem Bedingtheitsverhältnis zum Temperament steht. Aufgrund der Tatsachen, dass der erste Abschnitt der Beobachtungen vornehmlich thematisch einführend ist, und dass die moralischen Begriffe innerhalb des zweiten Abschnitts thematisiert werden, werde ich mich auf den letzteren beschränken, und zwar so, dass das Zentrum meiner Diskussion die moralischen Charaktere sein werden. Auf diese Weise versuche ich, eine Rekonstruktion der Moralkonzeption Kants im Rahmen dieses Werkes anzubieten.
2.2.1 Kants Absicht Die Position Kants, der zufolge unser „moralischer Charakter“ und mithin unser Handeln insoweit erklärt werden, als sie teilweise durch gewisse herrschende Gefühle bestimmt und teilweise durch das Temperament bedingt werden, läuft auf eine eher deskriptive als argumentative Darstellung des menschlichen Verhaltens hinaus. Darauf werden die Leser_innen aber schon am Anfang der Schrift hingewiesen, wo Kant ankündigt, dass er sich mit den Gefühlen und ihrer Vielfalt beschäftigen wird: „Das Feld der Beobachtungen dieser Besonderheiten der menschlichen Natur erstreckt sich sehr weit und verbirgt annoch einen reichen Vorrath zu Entdeckungen […]. Ich werfe für jetzt meinen Blick nur auf einige Stellen, die sich in diesem Bezirke besonders auszunehmen scheinen, und auch auf diese mehr das Auge eines Beobachters als des Philosophen“ (GSE, 207.10).
2.2 Exegetischer Teil
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Hinsichtlich der Absicht Kants in den Beobachtungen können diese Ausführungen als Hinweis darauf verstanden werden, dass Kant weder die Feststellung der Grundlagen noch die Entwicklung einer Moraltheorie im Blick hat. Denn unter anderem macht er uns darauf aufmerksam, dass er manche Aspekte betrachten wird, „die sich in diesem Bezirke besonders auszunehmen scheinen“, wie beispielsweise den „moralischen Charakter“. So ist nicht „die Frage nach der Begründung der Moral […] die eigentlich wichtige und brennende“¹²; sondern die eigentliche Frage, die es zu beantworten gilt, lautet: Was für ein moralischer Charakter entspricht jeweils einer Gefühlsgattung bzw. einem damit einhergehenden Temperament? Zwar steht der „moralische Charakter“ im Mittelpunkt der Reflexion. Aber mit „moralischem Charakter“ bezieht sich Kant auf das Verhalten überhaupt. Kants Versuch besteht also darin, zu erklären, auf welche Gefühle und Temperamente jede Verhaltensweise zurückgeht¹³. Zweckmäßig für eine derartige Untersuchung ist also eher „das Auge des Beobachters als des Philosophen“. Da das menschliche Verhalten überhaupt immer in Verbindung mit dem moralischen Subjekt – sei es man selbst oder jeder andere – steht, so kann es immer axiologisch betrachtet werden, wozu mithin „Werturteile“ gehören¹⁴. F. W. Foerster verteidigt in seiner Dissertation die These, die Beobachtungen wären ein Versuch Kants „festzustellen, inwieweit die Billigung des Guten sich auf ästhetische Urteile zurückführen lässt“¹⁵. Ohne diese Auffassung im Ganzen widerlegen zu wollen, würde diese Aufgabe wohl eher die des Philosophen als die des Beobachters sein. Das Gute müsste zunächst definiert werden, was im Werk nicht spezifisch geschieht. Für die hier vorgelegte Interpretation¹⁶, der zufolge die Beobachtungen eher einen deskriptiven Ansatz verfolgen und hinsichtlich der Ethik als Disziplin keine sicheren Beiträge vorbringen, sprechen hingegen folgende Überlegungen:
Menzer 1898, 308. Menzers Position lässt sich die folgende Passage entgegenhalten: „Dem Schönen ist nichts so sehr entgegengesetzt als der Ekel, so wie nichts tiefer unter das Erhabene sinkt als das Lächerliche. Daher kann einem Manne kein Schimpf empfindlicher sein, als daß er ein Narr, und einem Frauenzimmer, daß sie ekelhaft genannt werde. Der englische Zuschauer hält dafür: daß einem Manne kein Vorwurf könne gemacht werden, der kränkender sei, als wenn er für einen Lügner, und einem Frauenzimmer kein bittrerer [sic], als wenn sie für unkeusch gehalten wird. Ich will dieses, in so fern es nach der Strenge der Moral beurtheilt wird, in seinem Werthe lassen. Allein hier ist die Frage nicht, was an sich selbst den größten Tadel verdiene, sondern was wirklich am allerhärtesten empfunden werde“ (GSE, 233.17). Diese Passage gehört zum 3. Abschnitt der Schrift und ist die erste Stelle, wo „Moral“ in ethischem Sinne auftaucht. Vergleiche Menzer 1898, 308. Foerster 1893, 12; dazu vergleiche Menzer 1898, 308. Ebenfalls siehe unten GSE, 226.26 f.
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In Bezug auf die Gliederung und den Inhalt der Schrift ist erstens hervorzuheben, dass nicht die Ethik, sondern die „Gefühle des Schönen und Erhabenen“ (somit das Empfindungsvermögen) das Ziel der Beobachtungen ausmachen, nämlich, diese Gefühle im Hinblick auf ihre „Gegenstände“, den „Menschen überhaupt“, die „Geschlechter“ und die „Nationalcharaktere“ zu thematisieren¹⁷. Ein Beleg dafür ist: „Da in der phlegmatischen Mischung keine Ingredienzien vom Erhabenen oder Schönen in sonderlich merklichem Grade hineinzukommen pflegen, so gehört diese Gemütseigenschaft nicht in den Zusammenhang unserer Erwägungen“ (GSE, 224.21).
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Zweitens fehlt für eine ethische Abhandlung die entsprechende Entfaltung bzw. beschränkende Definition und Bestimmung der vorkommenden moralischen Begriffe, die in den Beobachtungen ohne besondere Sorgfalt und Präzisierung, zuweilen sogar nur an einer einzigen Stelle, verwendet werden, wie z. B. „bestimmen“, „Bewegungsgrund“, „Triebfeder“, „Neigung“, „Bezwingung“, „Grundsatz“, „Achtung“ oder „Wert“. Drittens ist die ganze Schrift selbst auf der Ebene der Gefühle angesiedelt, sodass Inhalt und Färbung bestimmter Passagen direkt auf die ästhetische Erfahrung abzielen, die durch eine jede Handlung ausgelöst werden kann. Die folgende Textstelle¹⁸ liefert diesbezüglich einen vortrefflichen Beleg: „Selbst die Laster und moralische Gebrechen führen öfters gleichwohl einige Züge des Erhabenen oder Schönen bei sich; wenigstens so wie sie unserem sinnlichen Gefühl erscheinen, ohne durch Vernunft geprüft zu sein. […] Offenbare dreiste Rache nach großer Beleidigung hat etwas Großes an sich, und so unerlaubt sie auch sein mag, so rührt sie in der Erzählung gleichwohl mit Grausen und Wohlgefallen¹⁹. […] Buhlerische Neigung (Coquetterie) im feinen Verstande, nämlich eine Geflissenheit einzunehmen und zu reizen, an einer sonst artigen Person ist vielleicht tadelhaft, aber doch schön und wird gemeiniglich dem ehrbaren, ernsthaften Anstande vorgezogen“ (GSE, 212.17).
Kant führt gerade der Moralität entgegen gerichtete Beispiele an, um ihre faktische Wirkung auf unser Empfindungsvermögen – ohne die Vermittlung der Vernunft – zu veranschaulichen. Durch die Trennung zwischen dem Vernunft- und Siehe die „Inhaltsübersicht des Bandes“, AA 02: VIf. Ebenso siehe Bem., 039.08/049.12 f.: „Bey den metaphysischen Anfangsgründen der Ästhetik ist das verschiedene unmoralische Gefühl bey den Anfangsgründen der Sittlichen Weltweisheit das verschiedene moralische Gefühl der Menschen nach Verschiedenheit des Geschlechts des Alters der Erziehung und Regirung der Racen und Climaten anzumerken“. Siehe unten ebenfalls GSE, 226.26 f. Bem., 001.34/005.05: „Selbstrache ist erhaben. Gewisse Laster sind erhaben. Meuchelmord ist feig und niederträchtig. Mancher hat nicht einmal Muth zu großen Lastern“.
2.2 Exegetischer Teil
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dem Gefühlsbereich macht Kant den Leser_innen ein anscheinend widersprüchliches Phänomen gewissermaßen nachvollziehbar, nämlich dass eine moralwidrige Handlung, welche aus Vernunft abgelehnt und deren Subjekt verachtet wird, zugleich von angenehmen Gefühlen begleitet werden kann. Die Moralität und deren Gedankengang gehören zur Vernunft, während die Gefühle hauptsächlich dem Empfindungsvermögen zugeordnet sind²⁰. Eben deswegen können wir uns jene faktische Wirkung der unmoralischen Handlung auf das Gefühl nicht rein vernünftig erklären, denn in dieser Hinsicht ist das Gefühl etwas Irreduzibles: „Man thut einander zwar Unrecht, wenn man denjenigen, der den Werth, oder die Schönheit dessen, was uns rührt, oder reizt, nicht einsieht, damit abfertigt, daß er es nicht verstehe. Es kommt hiebei nicht so sehr darauf an, was der Verstand einsehe, sondern was das Gefühl empfinde“ (GSE, 225.25).
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Viertens bezieht sich Kant schließlich, wie vorhin bereits kurz angemerkt, mit dem Ausdruck „moralischer Charakter“ nicht ausschließlich auf den Tugendhaften bzw. auf denjenigen, der von einem Gefühl für das Erhabene beherrscht wird, und für den typischerweise das melancholische Temperament charakteristisch ist.Vielmehr weist der Ausdruck auf die Bewegursachen jedes menschlichen Verhaltens überhaupt hin, wobei dieses durch psychologische Dispositionen erklärbar ist – nämlich durch die herrschende Gefühlsgattung und das Temperament, welche jeder Verhaltensweise jeweils bestimmend und bedingend zugrunde liegen²¹. Daraus ergibt sich also ein bedeutsames Merkmal dieser Schrift, nämlich die Tatsache, dass das Adjektiv „moralisch“ nicht so sehr sensu stricto, also in ethischer Bedeutung (in Bezug auf das moralisch Richtige, somit auch auf das Tugendhafte), als vielmehr in anthropologischer und historischer²² Bedeutung verwendet wird, einer Be-
Dennoch können die Gefühle Gegenstand einer Abhandlung sein (wie es bei den Beobachtungen oder bei den Schotten [beispielsweise siehe Adam Smiths The Theory Of Moral Sentiments] der Fall ist) und sogar durch Vernunft modifiziert werden, was das Unterordnungsverhältnis der Gefühle zur Vernunft offenbart. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen [nach Pfeifer]. In: www.dwds.de: „Charakter m. ‘Gesamtheit der Wesenszüge, Eigenart eines Menschen oder einer Sache’ […]. Die bis ins 19. Jh. bezeugte Verwendung im Sinne von ‘Merkmal, Zeichen’ wird seit dem Ende des 17. Jhs. auf Stand und Rang einer Person (den Charakter eines Sekretärs erhalten) und in zunehmendem Maße seit der 1. Hälfte des 18. Jhs. auf die Gesamtheit ihrer Wesenszüge, auf ihre Eigenart bezogen. Der Charakter ist also im wesentlichen das dem Menschen ‘Eingeritzte, Eingeprägte’ an psychischen und geistigen Eigenarten“. Wie Kant in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht 1784 festlegt. Dazu siehe den ersten Absatz zum „Vierten Satz“, darunter insbesondere: „Dieser Wider-
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deutung also, die in dem entsprechenden lateinischen Ausdruck mos (Sitte) vorgeprägt ist²³. Der abschließende Absatz des zweiten Abschnitts, welcher einen besonders deskriptiven Zug aufweist, lässt uns zu diesem Schluss kommen: „Wenn ich die edele und schwache Seite der Menschen wechselsweise bemerke, so verweise ich es mir selbst, daß ich nicht demjenigen Standpunkt zu nehmen vermag, von wo diese Abstechungen das große Gemälde der ganzen menschlichen Natur gleichwohl in einer rührenden Gestalt darstellen. Denn ich bescheide mich gerne: daß, so fern es zu dem Entwurfe der großen Natur gehört, diese groteske Stellungen nicht anders als einen edelen Ausdruck geben können, ob man schon viel zu kurzsichtig ist, sie in diesem Verhältnisse zu übersehen. Um indessen doch einen schwachen Blick hierauf zu werfen: so glaube ich folgendes anmerken zu können. Derjenigen unter den Menschen, die nach Grundsätzen verfahren, sind nur sehr wenige, welches auch überaus gut ist, da es so leicht geschehen kann, daß man in diesen Grundsätzen irre und alsdann der Nachtheil, der daraus erwächst, sich um desto weiter erstreckt, je allgemeiner der Grundsatz und je standhafter die Person ist, die ihn sich vorgesetzt hat. Derer, so aus gutherzigen Trieben handeln, sind weit mehrere, welches äußerst vortrefflich ist, ob es gleich einzeln nicht als ein sonderliches Verdienst der Person kann angerechnet werden; denn diese tugendhafte Instincte fehlen wohl bisweilen, allein im Durchschnitte leisten sie eben so wohl die große Absicht der Natur, wie die übrige Instincte, die so regelmäßig die thierische Welt bewegen. Derer, die ihr allerliebstes Selbst als den einzigen Beziehungspunkt ihrer Bemühungen starr vor Augen haben, und die um den Eigennutz als um die große Achse alles zu drehen suchen, giebt es die meiste, worüber auch nichts Vortheilhafteres sein kann, denn diese sind die emsigsten, ordentlichsten und behutsamsten; sie geben dem Ganzen Haltung und Festigkeit, indem sie auch ohne ihre Absicht gemeinnützig werden, die nothwendigen Bedürfnisse herbeischaffen und die Grundlage liefern, über welche feinere Seelen Schönheit und Wohlgereimtheit verbreiten können.
stand ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt seinen Hang zur Faulheit zu überwinden und, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann. Da geschehen nun die ersten wahren Schritte aus der Rohigkeit zur Cultur, die eigentlich in dem gesellschaftlichen Werth des Menschen besteht; da werden alle Talente nach und nach entwickelt, der Geschmack gebildet und selbst durch fortgesetzte Aufklärung der Anfang zur Gründung einer Denkungsart gemacht, welche die grobe Naturanlage zur sittlichen Unterscheidung mit der Zeit in bestimmte praktische Principien und so eine pathologisch=abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganze verwandeln kann“ (IaG, 08: 021.06). Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (nach Pfeifer). In: DWDS: „Moral f. ‘gesellschaftlich bedingtes System geltender Normen und Regeln sittlichen Verhaltens’ (18. Jh.), älter ‘aus einem Beispiel zu ziehende sittliche Nutzanwendung und Lehre’ (16. Jh., vgl. die Wendung die Moral von der Geschichte, 19. Jh.), danach ‘Sittenkunde, -lehre’ (17. Jh.). Auszugehen ist von lat. mōrālis ‘die Sitten betreffend’, einer Ableitung von lat. mōs (Gen. mōris) ‘zur Regel gewordener Wille, auf innerer Gesinnung beruhende, gewohnheitsmäßige Tätigkeit, Sitte, Brauch’ […]. – moralisch Adj. ‘der Moral entsprechend, sittlich’ (16. Jh.)“ (www.dwds.de).
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Endlich ist die Ehrliebe in aller Menschen Herzen, obzwar in ungleichem Maße, verbreitet worden, welches dem Ganzen eine bis zur Bewunderung reizende Schönheit geben muß. Denn wiewohl die Ehrbegierde ein thörichter Wahn ist, so fern er zur Regel wird, der man die übrigen Neigungen unterordnet, so ist sie doch als ein begleitender Trieb äußerst vortrefflich. Denn indem ein jeder auf der großen Bühne seinen herrschenden Neigungen gemäß die Handlungen verfolgt, so wird er zugleich durch einen geheimen Antrieb bewogen, in Gedanken außer sich selbst einen Standpunkt zu nehmen, um den Anstand zu beurtheilen, den sein Betragen hat, wie es aussehe und dem Zuschauer in die Augen falle. Dadurch vereinbaren sich die verschiedene Gruppen in ein Gemälde von prächtigem Ausdruck, wo mitten unter großer Mannigfaltigkeit Einheit hervorleuchtet, und das Ganze der moralischen Natur Schönheit und Würde an sich zeigt“ (GSE, 226.26 f.).
Kants Bemerkungen, sowie die damit verbundenen Bewertungen und Erläuterungen gründen sich auf Beobachtungen eines den Umständen gemäßen menschlichen Verhaltens. Nicht nur gibt es keine moraltheoretische Argumentation im engen Sinne, sondern eine derartige bleibt gänzlich ausgeschlossen, sofern Nachteile und Vorteile jeder Art des Verhaltens nur in Hinblick auf die reellen Folgen auf das Ganze der Menschen bewertet werden²⁴. Gesprochen wird von „der Leistung der großen Absicht der Natur“; vom „Eigennutz“, der zu lobenswerten Handlungen führt und sich unabsichtlich in Gemeinnützigkeit verwandelt; und von einem „geheimen Antrieb“, welcher uns zu unparteiischen Zuschauern unseres eigenen Verhaltens macht. Tatsächlich wird die Seltenheit des Verfahrens nach Grundsätzen um des möglichen Irrtums und seiner grausamen Folgen willen sogar ausdrücklich begrüßt²⁵. All dies, zusammen mit den Beobachtungen des Charakters und Verhaltens im Hinblick auf die jeweils überwiegende Gemütsart, lässt den entsprechenden Schluss zu, dass der aufgezeigte, vor allem deskriptive Zug der Schrift mit keinem Anspruch auf eine Moraltheorie verbunden ist. Ferner ist im Rahmen der Beobachtungen trotz eines zuweilen vorhandenen „kritischen“ Wortschatzes weder von „Pflicht“ und Rich-
Zu erinnern ist hier die vorhergehende 1762er Passage der Untersuchung, in der Kant aufgrund des Verbindlichkeits-begriffs die Notwendigkeit der Zwecke von der der Mittel unterscheidet (UD, 298). Denn während erstere nicht auf „Folgen“ und „Nachtheile“ sieht (UD, 300.15), sind die Vorschriften letzterer Art „nur Anweisungen eines geschickten Verhaltens, wenn man einen Zweck erreichen will“ (UD, 298.25), welchem keine unbedingte Notwendigkeit innewohnt, d. h. welcher an sich „zufällig“ ist (UD, 298.30). Hierin ist Kants Position Rousseau entgegengesetzt. Dieser schätzt all diese Triebe, die den Menschen vom Naturzustand entfernen, von vornherein sehr negativ ein. Zur Überlegenheit des Menschen im Naturzustand gegenüber dem im gesellschaftlichen Zustand siehe Rousseau 1755, I. Abs. 4– 13 und II. Abs. 17 ff. Zu den perfiden Folgen der Ehrliebe und deren Vorteilen hinsichtlich der Fortschritte der Gesellschaft und der Menschen Talente siehe Rousseau 1755, II. Abs. 18 ff., 27, 52, 58.
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tigkeit des Handelns überhaupt²⁶ ausführlich die Rede, noch kommen „reine praktische Vernunft“ (als gesetzgebendes Subjekt der Moralität), das „oberste Prinzip der Moralität“ (als Moralgesetz) und die „Maximen“²⁷ (als subjektive Prinzipien des Handelns, die mit dem Moralgesetz übereinstimmen) zur Sprache²⁸. Schließlich muss noch auf eine implizite Absicht Kants hingewiesen werden, welche in philosophiegeschichtlicher bzw. entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht bedeutsam ist: Die deskriptive Darstellung moralischer Charaktere auf der Basis der Unterscheidung zwischen den Gefühlen des Schönen und des Erhabenen führt bei Kant zu der Schlussfolgerung, dass sich aus der Neigung der Gutherzigkeit bzw. aus der unmittelbaren Lust an gütigen und wohlwollenden Handlungen keine Moralität ergibt: Moralischen Wert hat nur jene Handlung, die aus tugendhafter Gesinnung entspringt.²⁹ Hierbei macht Kant als Moralphilosoph einen konsequenten Schritt, mit dem er von der Moral-Sense-Philosophie und somit von seiner eigenen Position in der Untersuchung Abstand nimmt. Zwar gilt immer noch, dass der Tugendhafte dank eines allgemeinen moralischen Gefühls (Empfindung) über ein unmittelbares Bewusstsein des Guten, mithin des richtigen Handelns, verfügt; doch zugleich können wir einen wesentlichen Unterschied zwischen Hutcheson und Kant feststellen: „Die obersten Grundbegriffe der Verbindlichkeit“ und „die erste[n] Grundsätze“ der „praktischen Weltweisheit“ (UD, 300.28) können keineswegs auf dem Gefühl als Empfindungsvermögen beruhen, denn dieses ist „nicht einstimmig“ (GSE, 226.17). Auf die offene Frage der Untersuchung wird damit eine erste, negative Antwort gegeben. Menschliches Handeln lässt stets moralische wie ästhetische Urteile zu; doch dies impliziert nicht, dass sich beide Urteilsarten miteinander identifizieren lassen bzw. dass der Charakter des einen Urteils den Charakter des anderen determiniert; wie gerade gezeigt,³⁰ können beide einander völlig widersprechen.
Beeinflusst von der schottischen empirischen Psychologie spricht Kant von „Wohlverhalten überhaupt“ (GSE, 217.08). Dennoch bezeugt die Praktische Philosophie Herder, dass Kant in diesen Jahren bereits über den Maximenbegriff nachdenkt: „Maximen im Gegentheil sind eben allgemeine Grundsätze, unter die sich einzelne Fälle subsumiren lassen – und die Fertigkeit einzelne Falle zu subsumiren“ (V-PP/Herder, AA 27: 046.32). Mit dem erwähnten „kritischen“ Wortschatz werde ich mich im folgenden Abschnitt beschäftigen. Diese Einstellung wird Kant künftig vertreten und besonders in der Vorlesung zur Moralphilosophie deutlich machen. Dazu siehe unten 5.1.3.6.1 (bes. Zitate V-Mo, 051.05/063, 039.01/043 f. und meine Analyse dazu); und siehe unten den letzten Absatz in 7.1.2.4.1 (e). Siehe oben die durch Zitierung der Passagen GSE, 212.17 und 226.26 f. angeführten und kommentierten Beispiele.
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2.2.2 Kritische Rekonstruktion der impliziten Moralkonzeption Halten wir mit Menzer die Beobachtungen für eine überwiegend moralische Schrift, so ist es erforderlich, sich zu fragen: Was für eine Ethik würde sich daraus ergeben? Betrachtet man die dargestellten Begriffe genauer, ist unleugbar, dass die meisten von ihnen Hauptzüge von Kants späterer reifer Auffassung tragen, beispielsweise der Gedanke und die Forderung der Allgemeinheit der Gründe und die Ablehnung der moralischen Sympathie als Merkmal der echten Tugend, d. h. der Moralität einer Handlung. Ferner spricht Kant unter anderem von „tugendhafter Gesinnung“, „strenger Pflicht der Gerechtigkeit“, „Wohlverhalten überhaupt“ und „allgemeinen Grundsätzen“. Trotzdem wird keiner dieser Begriffe definiert: Sie sind insgesamt aus dem Zusammenhang heraus zu verstehen; öfters werden sie auch in Abgrenzung zu Termini mit gegenteiliger Bedeutung verwendet. So kommt die tugendhafte Gesinnung im Gegensatz zu der lasterhaften vor, welche in Verbindung mit der Triebfeder einer Neigung steht (siehe GSE, 215.27); die strenge Pflicht der Gerechtigkeit gründet sich auf das Gefühl der allgemeinen Wohlgewogenheit, die sich dem Gefühl des Mitleids widersetzt (siehe GSE, 216.03); das Wohlverhalten überhaupt kommt als Gegensatz zum Verhalten ohne Grundsätze vor (siehe GSE, 217.08), obwohl das Adverb „überhaupt“ auf eine zumindest angestrebte Allgemeingültigkeit der moralischen Grundsätzen hindeutet; letztlich erfüllen die allgemeinen Grundsätze hauptsächlich eine negative Aufgabe, nämlich „ihr [sc. der Gefälligkeit] Schranken [zu] setzen und sie zu schwächen“ (GSE, 216.27). Diese Gegensätze helfen uns nicht zuletzt dabei, uns negativ die Bedeutung der Begrifflichkeiten zu erschließen. Erst dann kann die latente Theorie positiv rekonstruiert werden. So werde ich im Hinblick auf eine angemessene Rekonstruktion der impliziten Moralkonzeption Kants im Rahmen dieser Schrift die vorkommende ethische Begrifflichkeit in ihrem Zusammenhang berücksichtigen, um den Grundzug der latenten Theorie ausfindig zu machen. Die gegenwärtige Aufgabe wird auf der Grundlage der bisherigen „Darstellung der ethischen Begriffe“ (2.1.3) erfolgen und von dieser ausgehen.³¹ Aus dem Dargestellten können wir schließen, dass die wichtigsten und herausragenden moralischen (bzw. die im Hinblick auf die implizite Moralkonzeption relevanten) Merkmale in den Beobachtungen die folgenden sind:
Im Folgenden werden die Schemata in Anhang 2 (siehe unten) uns helfen, meine Darstellung vor Augen zu haben.
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(a) Der Begriff des Gefühls wird in zweifacher Bedeutung verwendet: Einerseits bezieht er sich auf das Empfindungsvermögen, andererseits auf die wahrgenommene Empfindung selbst. (b) Jede Verhaltensweise hängt davon ab, wie jeder fühlt bzw. von den Empfindungen eines jeden. Daher gründet sich auch das sittliche Handeln auf ein allgemeines moralisches Gefühl (anhand dessen man nach Grundsätzen verfährt). (c) Am Anfang des Werkes (GSE, 207 f.) weist uns Kant darauf hin, dass das Gefühl (Empfindungsvermögen) „nicht einstimmig“ (GSE, 226.14) ist. Dadurch erklärt sich, weshalb jeder unterschiedlich wahrnimmt. Hingegen wird später das allgemeine moralische Gefühl (Empfindung) geprägt als eines, das in allen Menschen vorhanden (siehe GSE, 217.14, 226.22) und „einstimmig[]“ (GSE, 224.36) ist. Eben auf die Heterogenität des Empfindungsvermögens ist es zurückzuführen, dass dieses allgemeine Gefühl sich nur bei wenigen (siehe GSE, 227.04) in „seine gehörige Allgemeinheit“ steigert (siehe GSE, 216.14). (d) Die moralischen Charaktere werden durch das Empfindungsvermögen und davon ausgehend durch die in ihm herrschenden Gefühle „bestimmt“ (siehe GSE, 218.36) sowie durch die Gemütsart bedingt (siehe GSE, 215.28). (e) Zwar schränkt Kant die Moralität ausschließlich auf eine bestimmte Art des moralischen Charakters ein, nämlich auf den tugendhaften Charakter bzw. auf die wahre Tugend, die im Verhalten nach Grundsätzen besteht. – So werden als Merkmale der Moralität sowohl die moralische Sympathie als auch die Ehrbegierde abgelehnt, denn sie entstehen aus keiner tugendhaften Gesinnung und das ihnen gemäße Handeln richtet sich nicht nach allgemeinen Grundsätzen. (f) Jedoch spricht Kant zugleich sowohl den „adoptierten Tugenden“ als auch dem „Tugendschimmer“ ein gewisses Recht zu. Dieses Vorgehen begründet er damit, dass das allgemeine moralische Gefühl die Menschen nicht zwangsläufig dazu bringt, gemeinnützig zu handeln. Wegen der Verwandtschaft der „adoptierten Tugenden“ und des „Tugendschimmers“ mit der wahren Tugend (siehe GSE, 217.35)³² und angesichts ihrer Wirkungen auf das Handeln, gewährt Kant ihnen eine bestimmte Rolle im Bereich der Moralität und somit einen gewissen moralischen Status. Das heißt, diese Annahme beruht letztlich auf den vorhergesehenen Folgen eines auf Mitleid, Gefälligkeit und Ehrbe-
Wie ich in 2.1.3 (a) erläutert habe, gründet sich die Verwandtschaft der „adoptierten Tugenden“ mit der „wahren Tugend“ auf die Lust, die man an der Ausführung gütiger Handlungen empfindet. Seinerseits ist der „Tugendschimmer“ der „wahren Tugend“ ähnlich, weil er auch in einem feineren Gefühl besteht.
2.2 Exegetischer Teil
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gierde beruhenden Handelns, durch welche gütige Handlungen geschehen, die sonst nicht geschehen würden. (g) Was die Tugend und die Allgemeinheit der Grundsätze betrifft, nimmt Kant Grade an, und somit die Möglichkeit, dass man sich in den Grundsätzen irren kann (siehe GSE, 217.11, 220.25, 227.08).³³ (h) Kant zeigt völliges Verständnis dafür, dass nur wenige Menschen nach Grundsätzen, viele aus gutherzigen Trieben und die meisten aus Eigennutz verfahren (siehe GSE, 227.04). Dementsprechend würde aus den Beobachtungen eine Ethik entstehen, der zufolge der „moralische Wert einer Handlung“ zwar in deren Bestimmung nach Grundsätzen bestehen würde; aber dieser Wert könnte – streng genommen – nichts anders als ein bedingter Wert sein.³⁴ Denn: – erstens ist die Grundlage dieser Ethik letztlich ein Gefühl, nämlich das moralische; und – zweitens variiert die Allgemeinheit der Grundsätze, somit die Tugend, dem Grad nach. Was nun das Erstere betrifft, so können wir zwei Schlüsse ziehen, welche die in Kants Argumentation bestehenden Widersprüche offenlegen: (a) Kant schließt von der Moralität die gutherzigen sowie die aus Ehrbegierde begangenen Handlungen aus, weil sie auf keinen Grundsätzen, mithin auf keiner tugendhaften Gesinnung beruhen (siehe GSE, 215.29, 216.21 f.). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass es – im Gegensatz zu Kants weiteren Ausführungen – ebenfalls nicht tugendhaft wäre, einfach deswegen nach Grundsätzen zu verfahren, weil man dazu unvermeidlich durch ein herrschendes Gefühl für das Erhabene bestimmt ist und wegen seines melancholischen Temperaments zu einem standhaften Verhalten neigt, das einem die Harmonie mit sich selbst garantieren soll. Denn letztlich würde man in diesem Fall zum einen nicht aus Freiheit und selbstbestimmter Gesinnung, sondern um eines Gefühls willen handeln; zum anderen würde man hier durch die Absicht bewogen, seine Neigung für das Wohlbefinden zu befriedigen, die aus der Einstimmigkeit seines Handelns mit seiner Gemütsart entstehen würde.
Die Möglichkeit, sich in den Grundsätzen zu irren, hatte schon Adam Smith ([1759] 61790, 443) betrachtet. Auch Schilpp [1938] 1997, 129, weist aus diesem Grund auf die Inkompatibilität zwischen der Moralkonzeption der Beobachtungen und einer Moralphilosophie, welche auf feststehenden moralischen Normen beruht, hin.
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2 Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764)
(b) Wir sollten aber auch auf Folgendes achten: Aufgrund der Tatsache, dass das Empfindungsvermögen „nicht einstimmig“ ist, kann es dem allgemeinen moralischen Gefühl keine solide Basis bieten; denn nach Kant ist dieses vielfältige Vermögen das, was uns befähigt, Vergnügen nach unserer Art zu genießen (siehe GSE, 208.06). Auf diese Weise wird letztlich verständlich, dass auch der Tugendhafte „in [seinen] Grundsätzen irre“ (GSE, 227.07): Letztendlich ist es ein Gefühl – welches wandelbar ist –, worauf sein Verhalten zurückgeht; deshalb kann auch der Tugendhafte „ausarten“ (GSE, 221.36 f.)³⁵. Mit Menzer ist zu schließen: „Hierin liegt die Unmöglichkeit ausgesprochen, rein auf dem Gefühl Grundsätze des Handelns aufzubauen, aber dieser Grund liegt einzig und allein auf der Verschiedenartigkeit des Gefühls“³⁶. Wenn wir zudem den „Phlegmatiker“, wie auch den Sanguiniker und den Choleriker einbeziehen, so kann die Allgemeinheit des moralischen Gefühls tatsächlich in seiner bloß generischen Anwesenheit bei den meisten, nicht aber bei allen Menschen bestehen;³⁷ denn die Beschaffenheit der zuletzt genannten Charaktere erlaubt es dem moralischen Gefühl nicht, sich in „seine gehörige Allgemeinheit [zu steigern]“ (GSE, 216.14). Hieraus wird auch der zweite Punkt verständlich, welcher den Grad der Allgemeinheit und der Tugend betrifft, nämlich: Dass Kant bei den von ihm angeführten allgemeinen Grundsätzen sowie bei der Tugend nicht auf die „Nothwendigkeit der Zwecke“ (UD, 298.15) achtet, sondern verschiedene Grade zulässt, und sogar dem verbreiteten lasterhaften Verhalten vieler gutherziger Menschen und auch den meisten eitlen Menschen Verständnis entgegenbringt. Denn jene Grundsätze wären streng genommen generische Grundsätze (welche für viele, Vergleiche Menzer, der den Irrtum in den Grundsätzen des Tugendhaften der Unmöglichkeit zuschreibt, „eine scharfe Grenze zwischen dem Handeln aus Mitleid und dem aus der allgemeinen Wohlgewogenheit gegen das menschliche Geschlecht […] zu ziehen“, weil „das Gefühl, richtig gehandelt zu haben, bei beiden Motiven das gleiche sein [kann]“ (Menzer 1898, 314). Denn wie Menzer selber betont, „[nimmt] auch das Gefühl des Erhabenen, welches doch die Grundlage der moralischen Grundsätze bilden soll, […] Teil an der Irrationalität des Gefühls“ (Menzer 1898,313). Ferner entsteht das Gefühl, richtig gehandelt zu haben, erst nach dem Handeln; darin kann also der Irrtum in den Grundsätzen nicht bestehen. Dieser ist vielmehr in den primären Gefühlen des Schönen und des Erhabenen zu suchen, die die Gründe unseres Handelns, auf dem die Grundsätze aufgebaut werden, bestimmen. Menzer 1898, 314. Beleg dafür ist Bem., 015.35: „Ich werde von allen sagen wovon nur selten Ausnahmen sind. Denn nach der Regel der Klugheit geschieht das niemals was so selten geschieht daß man … es als einen … Glüksfall ansehen kann und … das ist nach der Regel der Klugheit allgemein wo einige Fälle des Gegentheils nach keiner Regel können gesucht werden. Ich rede vom Geschmak ich nehme also selbst meine Urtheile … so daß sie nach der Regel des Geschmaks (aesthetisch) allgemein wahr sind ob sie es gleich pünktlich … nach der Regel der abgemessenen Vernunft (logisch) nur von einigen gilt“.
2.3 Schluss
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aber nicht für alle Fälle Geltung bzw. praktische Relevanz³⁸ haben). Der Grad ihrer Gültigkeit ist relativ, je nachdem ob man ein stärkeres Gefühl für das Erhabene oder für das Schöne empfindet. Deswegen ist auch die Tugend dem Grad nach unterschiedlich, da sie sich durch das Verfahren nach Grundsätzen definiert. Angesichts dessen und angesichts der Möglichkeit, dass man „sich in den Grundsätzen irren“ kann, begrüßt Kant aufgrund der möglichen nachteiligen Folgen solcher Irrtümer, dass nur die wenigsten tatsächlich nach Grundsätzen verfahren (siehe GSE, 227.04) und vertritt definitiv einen nachsichtigen Standpunkt bezüglich der moralischen Sympathie und der Ehrbegierde als Quelle von wünschenswerten Folgen, die mit der Moral harmonieren.
2.3 Schluss Zusammenfassend: Im Hinblick darauf, dass Kant (a) angesichts der Tugend bzw. der Moralität keinen moralphilosophischen Anspruch zeigt; (b) auf die Gefühle zurückgreift, um jedes menschliche Verhalten zu erklären; (c) von Grundsätzen spricht, die sich nicht aus einer von allem Empirischen abgesonderten Entscheidung, sondern aus der Bestimmung durch Gefühle ergeben; (d) sogar das moralische Handeln auf der unstabilen Grundlage des Empfindungsvermögens fußen lässt; und (e) sich darauf beschränkt, die verschiedenen Arten des Verhaltens zu beschreiben und sie gemäß ihren nachteiligen oder vorteilhaften Folgen hinsichtlich des Ganzen der Menschen zu beurteilen, ist der Schluss berechtigt, dass aus den Beobachtungen eine Ethik der Bedingtheit der Handlungsbestimmung entstehen würde, welche erstens der empirischen Psychologie³⁹ näher käme, zweitens dem vorhergehenden moralphilosophischen Ansatz der Untersuchung widersprechen würde und drittens einer (künftigen) Ethik der Autonomie bzw. der Freiheit der Selbstbestimmung entgegenzusetzen wäre.
Siehe Klemme 2006, 129. So auch Ritter 1971, 96, der von einer in Kants Begriff der „Gütigkeit“ beinhalteten „psychologischen Begleiterscheinung sittlicher Handlungen“ während der Jahre um 1764 spricht. Siehe Kants Definition der empirischen Psychologie innerhalb seiner Vorlesung zur Metaphysik aus der zweiten Hälfte der 1770er Jahre, V-MP-L1/Pölitz, AA 28: 224 (zitiert durch Schönecker 2005, 24).
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Nun mag es so scheinen, als ob dieser Schluss im Widerspruch zu dem im Text vorkommenden mannigfaltigen „kritischen“ Wortschatz steht. Denn tatsächlich ergibt sich aus Kants Beschreibung der „wahre[n] Tugend“, dass diese ausschließlich in der Bestimmung durch Grundsätze besteht. Die kontextualisierte Betrachtung des Wortschatzes hat aber gezeigt, dass uns nur die isolierten Begriffe gewissermaßen an eine (uns, aber nicht Kant vor Augen stehende!) „kritische“ Ethik denken lassen. Wenn wir die Schrift im Ganzen betrachten, können wir ferner schließen, dass es sich vielmehr um eine Abhandlung über die Gefühle des Schönen und Erhabenen in Bezug auf die Sitten handelt, und somit das mehrmals verwendete Adjektiv „moralisch“ hauptsächlich durch seine ursprüngliche lateinische Wurzel im Ausdruck mos, moris geprägt ist. Ausgezeichnete Belege hierfür sind, erstens, die letzten Zeilen des zweiten Abschnitts⁴⁰, mit dem wir uns oben beschäftigt haben, und zweitens die Tatsache, dass Kant innerhalb der Schrift kein einziges Mal das Adjektiv „ethisch“ und dessen Substantiv „Ethik“ benutzt. Jedoch bezeugt die Moral-Nachschrift Herders, welche chronologisch bei den Beobachtungen liegt, dass Kant sich bereits mit dem Konzept der Ethik als Disziplin beschäftigt.⁴¹ Drittens erbringt diese Nachschrift mit der Redeweise einer „abscheuliche[n] Sittlichkeit“⁴² (V-PP/Herder, AA 27: 046.25) einen Nachweis dafür, dass Kant in den Beobachtungen keinen streng moralphilosophischen Begriff der „Sitten“ bzw. „Moral“ verwendet.⁴³ Wäre es seine Absicht gewesen, die Grundbegriffe einer Moralphilosophie festzulegen, hätte er nicht nur den Begriff der Ethik in irgendeiner Form verwendet, sondern auch auf die Rigorosität beim Verwenden ethischer Begriffe geachtet, so dass wir auf die in dieser Rekonstruktion ans Licht gebrachten Mängel wahrscheinlich nicht gestoßen wären.⁴⁴
Siehe oben GSE, 226.26 f. (und 212.17). Dieser Moralvorlesung 1762/63 liegt schon Baumgartens Ethica Philosophica (1740) zugrunde. „Die Ethik, die Wißenschaft der innerlichen Pflichten, ist der allgemeinen Praktischen Philosophie unter-, dem Recht, der Wissenschaft der äußerlichen Pflichten nebengeordnet“ (V-PP/Herder, AA 27: 013.01). In der Moral-Nachschrift Kaehlers heißt es: „Mann hat das Wort Sitten und Sittlichkeit genommen, um die Moralitaet auszudrukken, allein Sitten ist der Inbegrif der Anständigkeit. Zur Tugend gehört aber ein gewisser Grad der sittlichen Bonitaet, ein gewisser Selbstzwang und Herrschafft über sich selbst“ (V-Mo, 107.31/137). Das Adjektiv „sittlich“ im streng ethisch-normativen Sinne kommt nur in GSE, 226.23 vor. Sonst ist auch „sittliches Gefühl“ als Synonym für „moralisches Gefühl“ zu finden (GSE, 222.14) und „sittlich“ in weitem ethisch-deskriptivem Sinne aus εθος bzw. mos, -ris (Gewohnheit, Sitte, Brauch) (nicht aus ηθος: Charakter, Sinnesart) zu verstehen (siehe GSE, 215.25, 228.29). „Moral“ und „moralisch“ im streng ethischen Sinne kommen nicht häufig vor. Dazu siehe GSE, 212.17, 215.24; (3. Abschnitt) 233.24, 234.35; (4. Abschnitt) 246.23.
2.3 Schluss
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Konzentrieren wir uns nun wiederum auf die angekündigten abschließenden Zeilen des zweitens Abschnitts: „Endlich ist die Ehrliebe in aller Menschen Herzen, obzwar in ungleichem Maße, verbreitet worden, welches dem Ganzen eine bis zur Bewunderung reizende Schönheit geben muß. Denn wiewohl die Ehrbegierde ein thörichter Wahn ist, so fern er zur Regel wird, der man die übrigen Neigungen unterordnet, so ist sie doch als ein begleitender Trieb äußerst vortrefflich. Denn indem ein jeder auf der großen Bühne seinen herrschenden Neigungen gemäß die Handlungen verfolgt, so wird er zugleich durch einen geheimen Antrieb bewogen, in Gedanken außer sich selbst einen Standpunkt zu nehmen, um den Anstand zu beurtheilen, den sein Betragen hat, wie es aussehe und dem Zuschauer in die Augen falle. Dadurch vereinbaren sich die verschiedene Gruppen in ein Gemälde von prächtigem Ausdruck, wo mitten unter großer Mannigfaltigkeit Einheit hervorleuchtet, und das Ganze der moralischen Natur Schönheit und Würde an sich zeigt“ (GSE, 227.23).⁴⁵
Mit der Ehrliebe bezieht sich Kant auf die Ehrbegierde, die wenige Seiten vorher folgendermaßen definiert wird: „Die Meinung, die andere von unserm Werthe haben mögen, und ihr Urtheil von unsern Handlungen ist ein Bewegungsgrund von großem Gewichte, der uns manche Aufopferungen ablockt“ (GSE, 218.17). Beim Choleriker tritt die Ehrbegierde in hohem Maße auf, was ihn aus keiner tugendhaften Gesinnung handeln lässt. „Er muß allerlei Standpunkte zu nehmen wissen, um seinen Anstand aus der verschiedenen Stellung der Zuschauer zu beurtheilen; denn er frägt wenig darnach, was er sei, sondern nur was er scheine“ (GSE, 223.13). Der Trieb der Ehrliebe kann aber auch als Auslöser eines unparteiischen Zuschauers in uns fungieren, durch den wir unser Verhalten berücksichtigen, beurteilen und kontrollieren, und insofern das Ganze des (menschlichen) Zusammenlebens ermöglichen. Die Neigungen, gemäß denen wir handeln, werden durch diesen geheimen Antrieb ausgeglichen: Man tritt als Schauspieler „auf der großen Bühne“ der Welt auf und wird zugleich anhand der Ehrliebe unparteiischer Zuschauer seiner selbst. Daher die „Einheit unter großer Mannigfaltigkeit“: Da die Ehrliebe ein gemeinsamer Nenner aller Menschen ist, achten alle auf die eine oder andere Weise auf sich selbst, passen ihr Verhalten an die
Bedeutsam ist die Ähnlichkeit dieser zuletzt kommentierten Passage mit Adam Smiths Thesen bezüglich der wechselseitigen Sympathie zwischen dem Leidenden und seinem Freund: Der Umstand, dass jener sich an die Stelle des letzteren versetzt, trägt zur Harmonie in der Gesellschaft dadurch bei, dass der Leidende sich der Umstände des Freundes bewusst wird und den eigenen Schmerz mit einer gewissen Kälte betrachtet – was diesen mildert. Aufgrund dessen ist der Leidende in der Lage, seine Position mit Abstand und unparteiisch einzusehen. Schließlich: Was für Smith auf die wechselseitige Sympathie zurückgeht, leitet sich für Kant aus der Ehrliebe her (siehe Smith [1759] 61790, 37– 43, 47, 461– 472; zum unparteiischen Zuschauer siehe Smith [1759] 61790, 41, 47, 290 u. a.; zur Ehrliebe siehe Smith [1759] 61790, 284 ff.).
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2 Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764)
gemeinsamen Sitten an und schaffen so trotz aller Differenzen eine einheitliche gesellschaftliche Umgebung, in der sie einander helfen und aufeinander Rücksicht nehmen, – worin die „Schönheit und Würde“ der „moralischen Natur“ besteht. Diese Einheit wird Kant bereits in den Träumen 1766 als Wirkung von der „Regel des allgemeinen Willens“ und der dadurch verursachten „Nöthigung“ bei dem Privatwillen verstehen.⁴⁶ Schließlich sind die „moralischen Empfindungen“ des Schönen und Erhabenen nur insofern moralisch, als sie zu gemeinsamen Sitten und einem entsprechenden Zusammenleben führen, somit gütige Handlungen auf der gesellschaftlichen Ebene fördern. Diese können zwar keinen inneren ethischen Wert haben, da sie immer einen weiteren Zweck verfolgen, sei es die Befriedigung der bloßen Neigungen, sei es die Erreichung eines harmonischen Zustands mit sich selber mittels des Einklangs von Gefühls- und Gemütsart und moralischem Charakter. Solche gütigen Handlungen sind aber von hoher Bedeutung, da sie den Umgang miteinander verfeinern und ihm Würde verleihen.
Siehe TG, 335.02– 16 und unten 4.2.2.
3 Bemerkungen in den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ (ca. 1764 – 65) 3.1 Einleitung Die Bemerkungen ¹ stellen aus mehreren Gründen ein besonderes Dokument dar: Es handelt sich um die Notizen, die Kant in einem durchschossenen Exemplar seiner Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen aufschrieb. Uns bleibt es unbekannt, ob Kant sich diesen mit leeren Blättern versehenen Band mit der Absicht anfertigen ließ, die genannte Schrift im Hinblick auf eine spätere Auflage zu verbessern.² Doch es war ein übliches Verfahren unter Kants Königsberger Freundeskreis, sich eines – eigenen oder fremden – durchschossenen Handexemplares für die Aufzeichnung von Überlegungen zu bedienen;³ und Kant verzichtete in der zweiten und dritten Auflage der Beobachtungen (von 1766 und 1771) auf Einschübe. Tatsächlich – so Marie Rischmüllers Forschungsergebnisse⁴ – beziehen sich nur etwa dreißig von diesen Notizen direkt auf Inhalte der Beobachtungen, und zwar diejenigen, die Kant an den Rändern der gedruckten Blätter aufschrieb. Die Kant, Immanuel, 1764– 65. Bemerkungen in den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“. Hg. und kommentiert von Marie Rischmüller, Übersetzung der lateinischen Passagen von Reinhard Brandt. Hamburg: Meiner, Kant-Forschungen, Bd. 3, 1991. – Die Ausgabe Lehmanns im Band 20 der AA wurde durch die in der Reihe „Kant-Forschungen“ 1991 erschienene Edition von Marie Rischmüller verbessert: Sie behebt die Mängel der Lehmann′schen Ausgabe (dazu siehe Stark 1993, 137 Fn. 3, 181 und Hinske 2007, XXIII), bietet einen tiefen Kommentar zum Text an, weist zahlreiche Erläuterungen sowohl zu explizit als auch implizit zitierten Autoren und Werken auf, bedient sich bereichernden Materials und ist mit Übersetzungen der lateinischen Passagen versehen. Zudem sollen auch Werner Starks Ergebnisse berücksichtigt werden, denen zufolge die Lehmann′sche Ausgabe nicht die „wissenschaftlichen Standards erfüllt, daß sie ohne Revision in der interpretativen Sekundärliteratur benutzt werden [kann]“ (Stark 1993, 330; siehe Stark 1993, 89). Aus diesen Gründen schließe ich mich Marie Rischmüllers Edition an. (Ebenso Schwaiger 1999 und Guyer, 2005, 2). [Zitiert: Rischmüller (Hg.) 1991, Seitenangabe in römischen Ziffern für Zitate aus der Einleitung bzw. in arabischen Ziffern für Zitate aus den Anmerkungen Marie Rischmüllers; für Zitate aus Kants Text: Bem., Seiten- und Zeilenangabe des Originals in Kants durchschossenem Exemplar (Bem., 000.00). Mit dem hier wiedergegebenen senkrechten Strich | markiert Marie Rischmüller den originalen Zeilenfall. Auf die lateinischen Passagen weise ich durch die Abkürzung „L“ hin und gebe Reinhard Brandts Übersetzung wieder. Siehe Rischmüller (Hg.) 1991, XIV; so Adickes (Hg.) 1911, AA 14: XXI. Siehe Rischmüller (Hg.) 1991, XVII. Siehe Rischmüller (Hg.) 1991, XVI. https://doi.org/10.1515/9783110584288-006
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3 Bemerkungen in den „Beobachtungen“ (ca. 1764 – 65)
restliche Menge der Bemerkungen in den Durchschussblättern (und – wenn diese bereits voll waren – am oberen und unteren Rand der Druckseiten) betreffen „Überlegungen zu verschiedenen Themen, die nur zum Teil mit den […] Themen der „Beobachtungen“ konvergieren„⁵. Sie besitzen die Eigenart fragmentarischer Gedanken oder „Nebengedanken“⁶, die uns in Kants „Labor“⁷ Einblick gewähren und enthüllen, wie der Königsberger Philosoph seine Ideen bearbeitete und auf welchem Standpunkt sich seine philosophische Reife befand. Zwar ist die Untersuchung der Menschennatur ⁸ und das „Problem der Stellung des Menschen in der Welt“⁹ ein gemeinsamer Nenner vieler Bemerkungen, was den markanten Einfluss Rousseaus¹⁰ zeigt und das spezifische Interesse des Bandes für den Entwicklungsgang der praktischen Philosophie Kants deutlich macht. Nichtsdestotrotz mangelt es den Bemerkungen an Einheit und Leitfaden:¹¹ Ihnen liegt kein argumentativer Gang zu Grunde – sie folgen keiner nachvollziehbaren Ordnung – oft handelt es sich um einzelne Wörter und gelegentlich sogar um unvollendete Sätze.¹² Daher können wir mit Marie Rischmüller sagen, „manche sind nicht einmal Gedanken“¹³.
Siehe Rischmüller (Hg.) 1991, XVI. Rischmüller (Hg.) 1991, XI: „Die Gedanken, die Kant neben seinen „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ von 1764 auf eigens eingefügten Blättern niederschrieb, sind Nebengedanken in allen Schattierungen der Wortbedeutung“. So Kant: „im Aufschreiben aber wird Einheit erfordert, die uns gleichsam unterwegens aufstoßende Neben Gedanken markt man am Rande an, und theilt sie nachher in ihre Fächer“ (AA 24: 685; zitiert durch M. Rischmüller). Tenenbaum (Hg.) 2001, 7. Ebenso spricht Rischmüller (Hg.) 1991, XVII von „Arbeitsheft […] zur Inventarisierung von Ideen, Themen“ und „Werkstatt-Charakter“ (Rischmüller (Hg.) 1991, XXI), Adickes (Hg.) 1911, AA 14: XXII und XXIV von „allgemeine[r] Materialiensammlung“ bzw. „Werkstatt [sein]es Geistes“ und Erdmann (Hg.) 1882, 30 (zitiert durch Adickes (Hg.) 1911, AA 14: XXII) von „wissenschaftliche[m] Tagebuch“. Tenenbaum (Hg.) 2001, 9. Rischmüller (Hg.) 1991, XV. Zu Rousseaus Einfluss auf Kant siehe Schilpp [1938] 21997, 72– 80 (der Kants Rousseau-Rezeption als eine kritische beschreibt und Kants Abweichungen von Rousseau hervorhebt), und Stark 2014. Vergleiche Pinson 1934, 35 f. (zitiert nach Schilpp [1938] 21997, 77) und Schwaiger 1999, 74. Vergleiche Tenenbaum (Hg.) 2001, 16 f., die – ihres Erachtens – Adickes anknüpfend (siehe Adickes (Hg.) 1911, AA 14: XXVIIf., XVI, XLVIII: „Associationsfäden“) vertritt, die Bemerkungen seien „un testo a sé, che va letto nella propria autonomia“ (Tenenbaum [Hg.] 2001, 8). Adickes’ Ausdruck ‚Assoziationsfäden’ muss aber nicht (nur) inhaltlich, sondern nach den „Hülfsmitteln und Methoden“ (Adickes (Hg.) 1911, AA 14: XLVII) verstanden werden, von denen er sich zur Datierung der Aufzeichnungen Kants bedient (siehe Adickes (Hg.) 1911, AA 14: XXVIII-XXXV). Daher stellt er klar: „Associationsfäden (wenn auch nur lose)“ (Adickes [Hg.] 1911, AA 14: XXVIII und XLVIII). Beispielsweise siehe Bem., 002.16, 010.01– 02, 013.06, 014.01, 020.01, 125.40, 143.15.
3.1 Einleitung
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All das, zusammen mit dem „quasi-privaten Charakter der unfertigen Bemerkungen“¹⁴ und, dass diese kein von Kant zur Publikation autorisiertes Werk ausmachen, führt uns zum Schluss: Die Bemerkungen sind ein ausgezeichnetes Zeugnis der Beschäftigung Kants in den unmittelbaren Jahren nach der Publikation der Beobachtungen, weshalb sie zur Untersuchung der Kantischen moralphilosophischen Einstellung von Bedeutung sind. Trotzdem können sie in der Kantforschung nur mit Umsicht benutzt und nicht in demselben Maße wie die veröffentlichten Schriften herangezogen werden.
Exkurs: Zur Datierungsdiskussion Adickes datiert die Bemerkungen auf den Durchschussblättern auf die Zeit zwischen Januar 1764 und Herbst 1765¹⁵ und die auf den Druckseiten (die sich auf die Beobachtungen beziehen) auf zwischen Mitte und Ende 1765.¹⁶ Mangels des Originals, welches seit 1945 verschollen¹⁷ ist, kann dies zwar (z. B. anhand einer Analyse der verwendeten Tinte) nicht überprüft werden. Jedenfalls lassen die im Folgenden gezogenen Schlüsse – wie jüngst bisherige Studien¹⁸ neben der von Adickes – besonders für die Bemerkungen ethischer Thematik höchstens das Jahr 1766 in Betracht kommen. So beträgt der zur Datierung in Frage kommende Zeitraum von vornherein selbst kein Jahrfünft¹⁹. Wie gesagt, hätte das Handexemplar – vielleicht – einer überarbeiteten Neuauflage der Beobachtungen 1764 gedient haben können. Nach Schwaigers Ausführungen aber spricht die Tatsache, dass Kant das Büchlein de facto für ganz andere Zwecke benutzt hat, dafür, dass der Plan einer revidierten Neuauflage bereits erledigt war, als Kant es als Aufzeichnungsheft benutzt hat. So „[dürfte] das Groß der Bemerkungen […] schwerlich vor 1766 zu Papier gebracht worden sein“²⁰. Schwaiger beruft sich auf Adickes, der zwar den Zeitraum von 1764 bis
Rischmüller (Hg.) 1991, XI. Rischmüller (Hg.) 1991, XXII. Adickes (Hg.) 1911, AA 14: XXXVII: „1764—68. Diese Phase umfasst, wenn nicht alle, so doch sicher den bei weitem grössten Theil der Aufzeichnungen in dem Handexemplar der „Beobachtungen“. Sie können frühestens 1764 geschrieben sein und entstammen in ihrer grossen Mehrzahl vielleicht wirklich diesem und dem darauf folgenden Jahr“. Rischmüller (Hg.) 1991, XVII. Siehe Rischmüller (Hg.) 1991, XVIII und Stark 2014, 177. Siehe Stark 2014, 176 Fn. 19, Tenenbaum (Hg.) 2001, 16, Rischmüller (Hg.) 1991, XVIf.Vergleiche Hinske 2007, XIV. Vergleiche Schwaiger 1999, 67 ff. Schwaiger 1999, 68.
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3 Bemerkungen in den „Beobachtungen“ (ca. 1764 – 65)
1765 für die überwiegende Mehrheit der Reflexionen annimmt, doch auch ein späteres Niederschreiben für manche zugibt.²¹ Ebenfalls führe der Vergleich der philosophischen Begrifflichkeit der Bemerkungen mit den Vorlesungsnachschriften Herders (vom WS 1763/64) und den frühen Anthropologieheften (ab WS 1772/ 73), deren Datierung feststeht²², zu demselben Schluss.²³ Zudem solle auch das Verhältnis der deutschen und der lateinischen Bemerkungen zueinander hierbei Hilfe leisten, da die auf Latein geschriebenen „ein gedanklich fortgeschritteneres Stadium zu verraten scheinen“²⁴. Letzteres soll aber kein notwendiger Grund sein, um die auf Latein niedergeschriebenen Notate (viel) später zu datieren: (a) Entsprechend der Tradition gilt das Latein noch als Sprache der Gelehrten. So schreibt Kant wiederholt Fachtermini auf Latein nieder. Also konnte Kant das Latein eben für die Passagen reservieren, bei denen er gewisse philosophische (Neu‐)Gedanken abfassen wollte. Tatsächlich finden sich in den lateinischen Passagen Einordnungen und Definitionen, welche einer systematischen Absicht seitens Kants entsprechen. Außerdem sollten solche Bemerkungen, „soweit Kant sie ganz mit lateinischen Buchstaben geschrieben hat“²⁵ auf den ersten Blick leichter zu finden sein, falls Kant sie danach zum Nachdenken suchen wollte. (b) Die lateinischen Notizen lassen sich weder alle nacheinander in einer Reihe noch ausschließlich auf dem letzten Platz der durchschossenen Seiten lokalisieren, was eine spätere Datierung stützen könnte. Vielmehr wechseln sie sich mit Passagen in deutscher Sprache ab²⁶: Manche der Letzteren haben So auch Hinske 2007, XIV. Dazu vergleiche Rischmüller (Hg.) 1991, XVIf., 164 und 172, Tenenbaum (Hg.) 2001, 15. Zur Datierung der Moral-Nachschrift Herders siehe oben meine Fn. zur Einleitung 4.1. Im Gegensatz zu Schwaiger siehe Stark 2014, 176 Fn. 19 und 184 ff. Stark zeigt, wie Kants intellektuelle Interessen durch Rousseaus Einfluss eine „Wende“ erleben (Stark 2014, 180) und er sich von Rousseaus negativer Auffassung gegenüber dem bürgerlichen Zustand distanziert, indem er diesen als eine „Chance“ (Stark 2014, 186) für die Menschen sieht. Schwaiger 1999, 69. Dennoch ergibt sich diese Einschätzung nicht aus der im Folgenden dargestellten Analyse der ethischen Begrifflichkeiten in den Bemerkungen (siehe unten 3.2 Analytischen Teil). Adickes (Hg.) 1911, LIV. Sogar können die lateinischen Aufzeichnungen deutschsprachige beinhalten (z. B. siehe Bem., 129.01 ff.) oder, umgekehrt, in einer deutschsprachigen enthalten sein (z. B. siehe Bem., 136.15). Siehe die auf Latein aufgezeichneten Bemerkungen: Bem., 088 (zwei folgende Notate und ein kurzes Notat zum ‚indoles’), 116 (ein kurzes Notat zum ‚habitus’), 118 (zwei Notate, ersteres zum ‚sensus internus voluptatis et taedii’ und zweites zu ‚bonitas conditionalis actionis’ [die entweder ‚sub conditione possibili (uti problemata)’ oder ‚actuali (uti regulae prudentiae’ sind] und zum absoluten Gutsein des Willens aufgrund seiner Wirksamkeit), 120 (ein langes Notat zu ‚Bo-
3.1 Einleitung
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zwar nicht dieselbe philosophisch-theoretische Tiefe wie die im Angelpunkt stehenden lateinischen Bemerkungen, aber fungieren mehrmals als thematisch einleitende oder erläuternde bzw. durch Beispiele ergänzende Reflexionen (z. B. siehe Bem., 126). Auf dieselbe Weise folgen auf manche in lateinischer Sprache notierte Passagen auch thematisch absolut verschiedene deutschsprachige Passagen oder diese gehen jenen voran, was den markant fragmentarischen Zug des Textes im Ganzen offenbart. – Auf jeden Fall zeigt die im Folgenden durchgeführte Analyse, dass Kant alle Gedanken zum Freiheitsbegriff, die keineswegs als flüchtig bzw. oberflächlich gelten können, auf Deutsch niederschrieb. Ebenso sind mehrere sachliche Unterscheidungen bzw. Einteilungen unter den deutschen Passagen zu finden. (c) Die längeren²⁷ Notizen, die Kant auf Latein schrieb, finden sich zwar innerhalb der zweiten Hälfte des Büchleins – ab der pagina²⁸ 88 und überwiegend ab der pagina 116. Dennoch muss das nicht notwendig bedeuten, dass solche Passagen später, nämlich ab 1766 abgefasst worden seien: Zwar gibt es da mehrere lateinische Textstellen und damit übereinstimmend mehrere systematische Bemerkungen. Trotzdem kommen die Themen und Interessen, die Kant beschäftigen, weiter alternierend bzw. aleatorisch vor, wie schon in der ersten Hälfte. Und, wie bereits angekündigt, sind auch mehrere, angesichts der philosophischen Entwicklung Kants schlüssige Einteilungen und theoretische Unterscheidungen in deutschsprachigen Passagen innerhalb der ersten Bandhälfte enthalten. Das ist auch der Fall bei den Bemerkungen zum Willensbegriff, die sowohl auf Deutsch als auch auf Latein niedergeschrieben wurden. Dem philosophischen Inhalt nach ist also der zur zweiten Bandhälfte gehörende Text in seinen Hauptzügen weder anders noch theoretisch bedeutsamer.
nitas actionis liberae objectiva’ [die entweder ‚conditionalis’ oder ‚categorica’ ist]), 125 (ein langes Notat zu ‚Necessitas actionum objectiva bonitatis’ [die entweder ‚conditionalis’ oder ‚categorica’ ist]), 126 (ein Notat zu ‚obedientia’ und ‚ facultas legislatoria’), 129 (ein langes Notat zu ‚voluntas’, zu ‚officium beneplaciti et debiti’, zur äußerlich moralischen Unmöglichkeit des Widerspruchs und endlich zu ‚Actionis necessitas conditionalis (problematica et categorica prundentiae)’ und ‚necessitas categorica’), 136 (ein kurzes mit Deutsch vermischtes Notat zu ‚statio moralis’), 143 (manche Notate zu ‚obligatio stricta’, zu ‚jus’ und ‚justitia activa et passiva’). Lose lateinische Wörter beinhaltend bzw. aus ganz wenigen oder gar einem einzelnen lateinischen Wort bestehend sind mehrere Notizen bereits auf den ersteren Seiten zu finden (z. B. siehe Bem., 002.04, 004.34, 011.20). Mit „pagina“ meine ich die Seite in Kants durchschossenem Band.
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3 Bemerkungen in den „Beobachtungen“ (ca. 1764 – 65)
Es ist noch Inhaltliches zu berücksichtigen, das eben um des Vergleichs der philosophischen Begrifflichkeit mit anderen Texten willen definitiv gegen Schwaigers Datierungsvorschlag spricht: (d) Kant trennt sich bereits in den Träumen, und zwar endgültig, vom „moralischen Gefühl“ als moralischer Instanz (TG, 335.12 f.), die uns in unserem Verhalten sowie in unseren Urteilen unmittelbar führen sollte. Dagegen kommt dem moralischen Gefühl in den Bemerkungen immer noch eine für die Ethik bedeutende Rolle zu (siehe Bem., 125.11– 12). Der Vergleich der Bemerkungen mit der Moral-Nachschrift Herders vom WS 1763/64 führt entgegen Schwaigers Ansicht zu demselben Schluss. In Herders Aufzeichnungen tritt eine „ästhetische“ Moralkonzeption hervor, die mit der der Beobachtungen zusammenhängt: Nach Herder definiert Kant die Ethik als die Rede von dem, „waz schön ist“ und die „moralische Schönheit“ als das „unmittelbar Gute“ (V-PP/Herder, 008.13). Dieser Begriff des Guten ist aber überwiegend auf die Tradition angewiesen, sowohl als transzendentales Prädikat als auch hinsichtlich seines Ursprungs im Gefühl. Einerseits identifiziert sich das Gute mit dem Schönen: Die Tugend ist schön (GSE, 217.25), das Schöne harmoniert mit der Tugend (GSE, 215.26). Andererseits fungiert das Gefühl (wie in der Untersuchung) als das Vermögen, „das Gute zu empfinden“ (UD, 299.21). Und ebenso „lebt“ es, wie in den Beobachtungen, „in jedem menschlichen Herzen“ (GSE, 217.14): „Also ist das Hauptgesetz der Moral: handle nach deiner Moralischen Natur. – – Meine Vernunft kann irren[²⁹] : mein Moralisches Gefühl blos, wenn ich Gewohnheit vor Natürliches Gefühl halte, alsdenn ists aber blos implicirte Vernunft: und mein letzter Maasstab bleibt doch das Moralgefühl: nicht Wahr und Falsch[³⁰]: so wie das Vermögen des Wahren und Falschen der letzte Maasstab des Verstandes und beide allgemein sind. Um nicht in logischen Dingen zu irren: muß ich die Iste propositio des wahren aufsuchen Um nicht in moralischen Dingen zu irren: muß ich die Iste propositio des guten aufsuchen“ (V-PP/Herder, 006.09).
Was Kant hier nach Herder als „Hauptgesetz der Moral“ bezeichnet, geht auf Rousseau zurück, dessen Rolle als Gesprächspartner Kants in den Bemerkungen
Von der Irrtumsmöglichkeit bei der Wahl von Handlungsgrundsätzen spricht Kant schon in seinen veröffentlichten Beobachtungen (GSE, 227.07; siehe GSE, 217.11, 220.25). Dazu siehe oben 2.2.2 (g). Siehe eine sehr ähnliche Passage in Bem., L 125.26.
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unstrittig ist.³¹ Von Rousseau sagt Kant: „Rousseau hat mich zurecht gebracht“ (Bem., 035.23³²; dazu siehe Bem., 141). Für Rousseau ist es die Aufgabe des Menschen, seine Natur zu erforschen und seinen Rang oder Posten in der Schöpfung klarzustellen.³³ Aber da der Verstand Ursprung der größten Verwirrungen und Widersprüche ist³⁴, bietet hier das Gefühl einen Vorteil, nämlich als ein irreduzibles Vermögen, die „Gerechtigkeit und […] [das] moralisch Schöne“³⁵ wahrzunehmen. Demgemäß vertrat Kant in der Untersuchung die Auffassung, dass der „Begriff des Guten“ zwar vom Verstand „deutlich zu machen“ ist, was dieser aber erst durch des Gefühls materielle „einfacher[e] Empfindungen des Guten“ ergänzen kann. Ebenso bezeugen die Bemerkungen, dass Kant über diesen Gedanken des Gefühlsvermögens weiter nachdenkt, wo er mit Rousseau zusammenstimmend vom „Gefühl des Rechts“ als einem „heuristischen Mittel, sich in Anderer Stelle zu setzen“ und als einem „[Gemeinsinn] des Guten und Bösen“ spricht (Bem., L 125.26).³⁶ (e) Schließlich ergibt sich aus der Moral-Nachschrift Herders, dass der darin vorkommende Freiheitsbegriff mit der Freiheitskonzeption Kants zusammenstimmt, welche aus den Bemerkungen hervorgeht: „Ueberwindung seiner
Dazu siehe Rischmüller (Hg.) 1990, XV und die zahlreichen Bezüge und Kommentare der Verfasserin unter „Anmerkungen der Herausgeberin“ am Ende des Bandes (Rischmüller (Hg.) 1990, 137 ff.). – Insbesondere beeindruckt Rousseaus Diskurs über die Ungleichheit (1755) Kant sehr. Dies belegen zahlreiche Passagen, in denen explizite Verweise auf den Genfer oder Grundgedanken Rousseaus vorkommen. Beispielsweise siehe Bem., 008.37, 022.08, 027.13, 030, 033, 044, 046.01, 068.09, 069.01, 079, 081, 082, 122.20, 123.01, 133, 134, 140.18, 141. Bem., 035.21: „Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den gantzen Durst nach Erkenntnis und die begierige Unruhe darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bey jedem Erwerb. Es war eine Zeit da ich glaubte dieses allein könnte die Ehre der Menschheit machen und ich verachtete den Pöbel der von nichts weis. Rousseau hat mich zurecht gebracht“. – Interessanterweise bindet Adam Smith die „Korruption unserer moralischen Gefühle“ an die Hochschätzung und Verachtung, die man jeweils den Reichen und Armen gegenüber zeigt. Siehe Smith [1759] 61790, Part I., Sect. III, Chap. 3, 146: „Of the corruption of our moral sentiments, which is occasioned by this disposition to admire the rich and the great, and to despise or neglect persons of poor and mean condition“. Siehe Rousseau 1762, Bd. 2, 133 ff. Siehe Rousseau 1762, Bd. 2, 133 ff. Siehe Rousseau 1762, Bd. 2, 135 f. Zum „Gefühl des Rechts“ als „heuristisches Mittel“ siehe unten 3.2.2.1 (2) und 3.3.1 (c) und siehe Rousseau 1762, Bd. 2, 27. Bei letzterem lautet es: „Es liegt folglich in der Tiefe der Seele ein angeborenes Princip der Gerechtigkeit und Tugend, nach dem wir, wie auch unsere eigenen Grundsätze sein mögen, nicht nur unsere Handlungen, sondern auch die Handlungen Anderer als gut oder böse anerkennen, und dieses Princip nenne ich Gewissen“ (Rousseau 1762, Bd. 2, 155).
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selbst; – Kein Sieg beweist so sehr eigne Thätigkeit als dieser; und ist daher der ergötzendste“ (V-PP/Herder, 046.38). „Da der Mensch zur Leichtigkeit so schwer hat zurück zu gehen : da ich ihm so viel beliebte Neigungen raubte, die künftige Belohnungen nicht ersezze: so suche [ich]³⁷ sie [sc. Neigungen] ihm [sc. dem Menschen] zu ersetzen, durch das Gefühl der Freiheit : suche einem jeden gleich zu seyn, von keinem abzuhängen. Du wirst Meister von dir, deiner Zeit, deinem Amt seyn und blos vom Gesez der Nothwendigkeit regiert werden; denn Amter feßeln nicht so sehr als eigne Wahnsachen; – Ein Kind wird vor die Freiheit alles aufopfern: diese muß man excoliren, nicht ausrotten, es wie einen Freigebohrnen erziehen, unabhängig von den Mengen der Menschen, Sachen“ (V-PP/Herder, 087.11).
Für den Kant der Bemerkungen ist die Freiheit vornehmlich Spontaneität: „der Mensch hat spontaneitatem“ (Bem., 052.13), er ist in der Lage, zu wählen und nach inneren Beweggründen zu handeln.³⁸ Daher kann nur das Gesetz, das unmittelbar notwendig ist, meinen Willen unterwerfen.³⁹ Ebenso versteht Kant nach Herder die Unterordnung unter Neigungen oder Anderer Willen auch als ein Unvermögen: „a) Freiheit ist auch Trieb; weil ein jeder seinen eignen Willen befolgen will; und wider die physische Hinderniße weiß er Mittel; nicht aber wider den Willen des andern; und dies hält er für das gröste Unglück; es ists auch; da es theils weit kränkender ist theils unabhelfbar; Daher sind alle Thiere gleich frei; aus der Freiheit entspringt b) die Begierde der Gleichheit insonderheit in der Stärke: (sonst auch List) weil die das “ (V-PP/Herder, 062.35 f.).
Entsprechend heißt es in den Bemerkungen: „Derjenige der seine Begierde zu befriedigen weis ist klug der sie zu beherrschen weis ist weise. Weltweisheit“ (Bem., 144.06).⁴⁰ Aus den Beobachtungen von 1764 geht hervor, dass Kant den Empiristen gegenüber die Neigungen für unfähig erklärt, echtes moralisches Handeln auszulösen. Im gleichzeitigen Moralkolleg betont er die Befreiung des
Zusatz: ACGX. Dazu siehe unten 3.2.2.1 bes. (1, c). Siehe unten 3.2.2.2 (2). „Von dem Mitleiden ist nur zu merken daß es niemals herrschen sondern dem Vermögen und vernünftigen Verlangen Gutes zu thun muß subordinirt seyn“ (Bem., 043.09) „Der Verlust der Freyheit gründet sich entweder auf die Anhänglichkeit oder der Unterwürfigkeit. Im ersten Falle wird man beherrscht vermittelst seiner Neigung (entweder zu Sachen oder zu Menschen wie in der Liebe und Freundschaft Elternliebe) oder wieder seine Neigungen. Jene ist eine Folge der weichlichen Üppigkeit diese aber der furchtsamen Feigheit und ist eine Folge der ersten“ (Bem., 133.09).
3.1 Einleitung
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Menschen, die dieser Mangel an Neigungen bedeutet: Neigungen können im Hinblick auf die Realisierung moralischer und anderer Zwecke eine Belastung sein. Daher fühlt sich der Mensch, der seine Neigungen überwältigt, frei ⁴¹. Außerdem bezeichnet er in den Bemerkungen die Unterordnung des Willens unter den Willen eines Anderen als Knechtschaft und unrechtmäßig, weil der menschliche Wille von Natur aus frei, d. h. spontan ist; insofern ist mein Wille dem der Anderen gleich⁴². Schlussfolgernd drängt sich folgende These auf: Die Bemerkungen sind vor die Abfassung der Träume zu datieren. Bei letzteren verabschiedet Kant die mit der Untersuchung eröffnete und der Moral-Sense-Philosophie verschriebene Phase und geht einen neuen Weg.⁴³
Forschungsziele Im Hinblick auf das Ziel meiner Forschung werde ich mich also der Bemerkungen insofern bedienen: – erstens, als sie durch das Übergewicht Rousseaus auf einen Wendepunkt hinsichtlich der Entwicklung Kants als Moralphilosoph hindeuten;⁴⁴ – und, zweitens, als sie wichtige moralische Begrifflichkeiten der „kritischen“ Ethik Kants bereits vorlegen. Durch deren Analyse soll entschieden werden,
Auch in der 1770er Moral-Nachschrift Kaehlers können wir lesen: „Tugend bedeutet Stärke in der Selbstbeherrschung und SelbstUeberwindung in Ansehung der moralischen Gesinnung; hier betrachte ich aber die erste Quelle der Gesinnung“ (V-Mo, 107.26/137). Und: „der innere Werth der Welt das summum bonum ist aber die Freyheit nach Willkür die nicht necessitirt ist zu handeln“ (V-Mo, 177.09/222). Siehe unten 3.2.3.1. Siehe unten 4.1.3 und 4.2. Auffälligerweise übersieht Clemens Schwaiger in seiner entwicklungsgeschichtlichen Studie von 1999 den schlüssigen, dreieinhalbseitigen moralphilosophischen Exkurs Kants in den Träumen. Zwar geht dieser auf die Klassifikation der Handlungsimperative nicht ein. Aber das ist auch in der Dissertatio von 1770 der Fall. Dieser jedoch widmet Schwaiger ein ganzes Kapitel unter der Rechtfertigung, dass das „gewandelte[] Metaphysikverständnis[] der Inauguraldissertation“ „für das Verhältnis von Anthropologie und Ethik, von Klugheit und Moralität von kaum zu überschätzender Bedeutung sind“ (Schwaiger 1999, 75). Aber Kants endgültiger Ausschluss alles „moralischen Gefühls“ aus seiner moralphilosophischen Reflexion zu Gunsten der „Nöthigung“ (TG, 335.12) durch die „Regel des allgemeinen Willens“ (TG, 335.09) wird zweifellos zu seinem Projekt einer reinen Ethik beitragen. Diese These wird anhand der Ergebnisse meiner Untersuchung Bestätigung finden. So auch Reich [1936] 2001, Rischmüller (Hg.) 1991, Brandt 2001 und Stark 2014.
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ob Kant schon Mitte der 60er Jahre über die Grundpfeiler seiner „kritischen“ Ethik verfügte.⁴⁵ Hier kann an dem Arbeitsschema (der Kapitel 1, 2, 4 und 5) nicht festgehalten werden. Wegen des fragmentarischen Charakters der „unfertigen Bemerkungen“ lässt sich für den Text keine Gliederung erstellen. Das hindert uns, sowohl eine „Zusammenfassung“ als auch eine „Struktur des Werkes“ anzubieten. Aus demselben Grund ist keine argumentative „Darstellung der ethischen Begrifflichkeiten“ zu finden oder zu rekonstruieren, welcher irgendein Leitfaden zugrunde liegt.⁴⁶ Aufgrund der fehlenden Textstruktur wäre es auch unbedingt unzutreffend, von einer philosophischen „Absicht Kants“ zu sprechen. Infolgedessen wäre schließlich der Versuch, die angeblich „implizite Moraltheorie“ zu „rekonstruieren“ vergeblich. All das hindert uns aber nicht daran, die in diesen Texten vorkommenden moralischen Begrifflichkeiten in Betracht zu ziehen und uns gewissermaßen ihrer Bedeutung anzunähern, was das Ziel meiner Forschung ausmacht. Denn hinsichtlich des verwendeten moralischen Wortschatzes und der moralphilosophischen Gedanken ergibt sich aus diesen bruchstückhaften Texten, und besonders aus den auf Latein abgefassten Passagen, dass Kant zur Zeit der Bemerkungen der Untersuchung und den Beobachtungen gegenüber gewisse Fortschritte auf dem Feld der moralphilosophischen Reflexion gemacht hat: Zum ersten Mal verwendet er Moralbegriffe und führt er moralphilosophische Unterscheidungen an, die in der späteren „kritischen“ Ethik eine Hauptrolle spielen – obwohl dann jedoch in einer ausgearbeiteten und entfalteten Form. In den lateinischen Aufzeichnungen ist das vornehmlich der Fall beim Begriff des „menschlichen Willens“ (Bem., L 129.01– 30) und dem „Widerspruch“ beim Wollen (Bem., L 125.04– 40, L 129.01– 30)⁴⁷, bei den Unterscheidungen zwischen dem „menschlichen“ und dem „göttlichen“ (Bem., L 129.01– 30)⁴⁸ bzw. dem „eigenen“ und dem „allgemeinen Willen“ (Bem., L 116.01, L 129.01– 30)⁴⁹, bei der Aufteilung der „bedingten“ Not-
Vergleiche Henrich 1965, 257: „[…] auch wesentliche Strukturelemente der konkreten Sittenlehre waren bereits 1765 festgestellt“. Vergleiche Schmucker 1961, 60. Vergleiche Tenenbaum (Hg.) 2001, 7 ff., 10, 16 f. Zum Widerspruch siehe auch die sekundären Passagen Bem., L 116.01 und Bem., 052.05, 075.02, 112.01, 116.27. Der Begriff des göttlichen Willens wurde von Kant schon in der Untersuchung als Richtschnur des Handelns betrachtet und machte den „materiellen Grundsatz der Verbindlichkeit“ aus. Siehe UD, 300.13 und oben 1.1.3. Zum Willen siehe auch Bem., L 118.19 – 26, 120.01– 17 und Bem., 052.05, 109.05, 116.19 – 32; auch die sekundären Passagen Bem., 053.01, 053.09, 053.20, 068.09, 072.03, 073.10, 075.02, 110.01.
3.2 Analytischer Teil
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wendigkeit (bzw. „Bonitaet“) eines Handlungszieles in „möglich“ (Bem., L 129.28) und „wirklich“ (Bem., L 125.04) sowie bei der neuen Bezeichnung von „Notwendigkeit der Klugheit“ (Bem., L 129.28) und bei der Adjektivierung „kategorisch“ (Bem., L 120.01, L 125.04, L 129.28).
3.2 Analytischer Teil 3.2.1 Passagen Zur Auswahl der Passagen der Bemerkungen werde ich mich hauptsächlich des Autonomiebegriffs, welcher den Hauptbegriff der vorliegenden Studie ausmacht, als Richtschnur bedienen. So werde ich meine Untersuchung an dieser Stelle auf die Begriffe des „Willens“, der „Notwendigkeit“ und der „Freiheit“, auf denen die Autonomie fußen soll, konzentrieren. Im Hinblick darauf möchte ich vorerst auf die lateinischen Gedanken⁵⁰ aufmerksam machen. Denn Kant konzentriert sich da vorzugsweise auf den Begriff der „Notwendigkeit“⁵¹, auf den der mit ihm identifizierten „Bonität“⁵², den der „Verbindlichkeit“ sowie den der „Pflicht“⁵³ und den des „Willens“⁵⁴. Ebenso legt Kant in diesen Passagen implizit oder explizit bedeutsame Unterscheidungen des Willensbegriffs sowie der Handlungen als „Mittel“ oder als „Zweck“ (siehe Bem., L 129.28) fest. Die „Freiheit“ und das „moralische Gefühl“ werden von Kant hauptsächlich auf Deutsch betrachtet.⁵⁵ In Bezug auf die Freiheit werden auch Begriffe wie „Bewegungsgrund“⁵⁶ und „Abhängigkeit“⁵⁷ (trotz ihrer selteneren Präsenz) betrachtet.⁵⁸
Besonders Bem., 116.01– 03, 118.19 – 30, 120.01– 17, 125.04– 40, 126.23 – 33, 129.01– 30, 143.01, 143.15 – 35. Siehe Bem., L 062.01, L 120.01– 17, L 125.04– 40, L 126.23, L 129.28 – 30. Siehe Bem., L 118.19 – 26, L 120.01– 17, L 125.04– 40 sowie die sekundäre Passage Bem., 136.05. Siehe Bem., L 120.01– 17, L 125.04– 40 (Lüge), L 126.23, L 129.1– 30, L 143.1, L 143.15 – 25 sowie die deutschsprachigen Passagen Bem., 009.25, 062.01. Siehe Bem., L 118.19, L 125.04, L 126.23, L 129.01. Siehe Bem., 022.08, 025.14, 043.04, 052.05, L 062.01, 075.27, 076.01, 109.05, 110.12, 114.24, 116.04. Siehe Bem., 022.08, 052.01, 053.20, L 125.04. Siehe Bem., 025.01, 075.02, 075.27, 133.01, 133.09. Die latein- sowie die deutschsprachigen Hauptpassagen zu den angeführten moralischen Begriffen werden zudem mit anderen sekundären, betreffenden Passagen der Bemerkungen und unter Berücksichtigung anderer bezogenen Begriffe verglichen und ergänzt werden. Beispielsweise: „Moralität“ (siehe Bem., 129.31, L 136.18); „moralisches Wahnes“ bzw. „Chimäre“ (siehe
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3 Bemerkungen in den „Beobachtungen“ (ca. 1764 – 65)
Hinweis Um die Analyse dieser Passagen anzugehen, muss die Beschaffenheit des Textes „verraten“ werden, denn die Passagen sollen außerhalb ihrer ursprünglichen Aufeinanderfolge in einer künstlichen Reihe untersucht werden. Aufgrund der hohen Anzahl von verwendeten Zitaten werden diese in Anhang 3 unterbracht. Ich ordne ihnen – zur Vermeidung der Wiederholung – eine römische Ziffer zu und verweise auch mit diesem Kennzeichen auf sie. An dieser Stelle geht es mir also erstens darum, vornehmlich mit den auf Latein abgefassten Passagen die ethischen Begriffe des Willens und der Notwendigkeit zu erläutern. Ich werde mich auch der deutschsprachigen Passagen bedienen, die diese ergänzen. In einem zweiten Teil werde ich mich mit den Notizen, welche den Begriff der Freiheit zur Hauptsache auf Deutsch vorstellen, näher beschäftigen. Hierin werde ich erörtern, ob er Strukturen des späteren Autonomiebegriffs enthält.
3.2.2 Die auf Latein niedergeschriebenen Bemerkungen Gemeinsame thematische Nenner vieler lateinischer Passagen sind eben der Willensbegriff (zusammen mit seinen Arten und dem Selbstwiderspruch) sowie der Notwendigkeitsbegriff (und die mit ihm identifizierte „Bonität der freien Handlung“ [Bem., L 120.01]). Wie angekündigt, werde ich mich aufgrund der Wichtigkeit und Verbindung dieser Begriffe mit dem Autonomiebegriff im Rahmen der reifen Ethik Kants, beider Konzepte als Wegweiser bedienen, um in diesem Abschnitt meine Aufgabe durchzuführen.
3.2.2.1 Wille Die Suche mit elektronischen Hilfsmitteln erweist, dass der Begriff des „Willens“ in Kants Werken bis 1764/65 nur dreimal auftaucht, und zwar einzig und allein in der Untersuchung als „Wille Gottes“ (UD, 298.32, 300.14, 300.17). Die zu betrachtenden Passagen der Bemerkungen sind also zwar von Bedeutung, denn sie enthüllen uns, dass Kant diesem Hauptbegriff seiner späteren Ethik zu dieser Zeit schon Überlegungen gewidmet hat. Trotzdem, wie gerade bemerkt, ist eine ordentliche und sinnvolle Vorstellung dieser Überlegungen nur dann möglich, wenn Bem., 139.01, 139.21, 145.26 ff.); „Vollkommenheit“ (zum Wolff′schen Moralprinzip gehörig, aber auch mit Rousseaus „perfectibilité“ übereinstimmend [siehe Bem., 011.01, 043.04, 107, 109, 110.12, 114.01/24, 114.27, 116.19, L 118, 139.30, 134.01, 139.01, 122.20]); oder „Wert“ (siehe Bem., 009.25, 018.21, 038.26 ff., 136.05, 140.36).
3.2 Analytischer Teil
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der fragmentarische Charakter des Textes dadurch überwunden wird, dass die für die gegenwärtige Untersuchung wichtigen Passagen zusammen in Erwägung gezogen werden. Angesichts dessen ist man zwar von vornherein berechtigt, eine (implizite oder explizite) Theorie des Willens zu verneinen, nichtsdestotrotz möchte ich hier eine implizite oder explizite Konzeption desselben zu rekonstruieren versuchen. Um sich auf den Willen zu beziehen, benutzt Kant zwar zum ersten Mal die Adjektive „singularis“ (d. i. einzeln, Bem., L 116.01), „communis“ (d. i. allgemein, Bem., L 116.01, L 129), „mea“ und „altera“ (d. i. mein und vom Anderen, Bem., L 129.02), „propria“ (d. i. eigen, Bem., L 129.07), „hominis“ (d. i. menschlich, id.) und, wie schon in der Untersuchung, „divina“ (d. i. göttlich, Bem., L 129.22). Aber diese verschiedenen Begriffe des Willens werden nicht im Rahmen einer systematischen Unterscheidung dargestellt bzw. von einer eigenen Definition begleitet. Eher werden sie entweder zur Erläuterung eines anderen auf sie bezogenen Begriffs⁵⁹ angeführt oder auf eine implizite Weise verwendet.⁶⁰ Trotzdem lassen sich dadurch manche bedeutsameren Merkmale des reifen Willensbegriffs erkennen, die sich unter eine Charakteristik einen lassen, nämlich das In-sich-gut-Sein⁶¹. (1) Die Entfaltung des zentralen Gedankens der Grundlegung ⁶², mit dem Kant die Schrift anfängt, beginnt bereits in diesen Passagen der Bemerkungen: Der Wille ist allein wegen seiner Fähigkeit, wirksam zu sein, d. i. seines Wollens, in sich gut bzw. vollkommen, auch wenn er nichts bewirkt (siehe Bem., L 118.19). Denn:
Beispielsweise ist das der Fall bei dem „moralischen Solipsismus“ und der „moralischen Gerechtigkeit“ (Bem., L 116.01) bzw. des „Notwendigen“ und des „Sichwidersprechens“ (Bem., L 129). Letzteres ist der Fall von Bem., L 125.18, wo Kant Rousseau (1755, I. Abs. 35 f.) folgend die Beurteilung einer Handlung als Resultat des „heuristischen Mittels“, „sich in die Stelle Anderer zu versetzen“, vorstellt. Dabei nimmt der Mensch den Standpunkt eines „allgemeinen Willens“ (im Rousseau′schen Verständnis) an (dazu siehe unten Zitat vii). Adam Smith ([1759] 61790, 37 ff.) vertritt eine Position, die mit derjenigen von Rousseau übereinstimmt. Dies erlaubt den Schluss, dass Kant an der damaligen Debatte teilnimmt, um seine eigene Position langsam zu entwickeln. Siehe unten Anhang 3 die Bemerkungen zum Begriff von „Willen“, die meinen Untersuchungen zugrunde liegen. GMS, 393.05: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“. GMS, 394.13: „Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut und, für sich selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen als alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Neigung, ja wenn man will, der Summe aller Neigungen nur immer zu Stande gebracht werden könnte“.
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3 Bemerkungen in den „Beobachtungen“ (ca. 1764 – 65)
(a) als spontan ist er keines Anderen Willen unterworfen, d. h. er ist in seiner Spontaneität unabhängig von allen anderen wirkenden Ursachen. (b) Einerseits bringt das mit sich, dass er „ein thätig principium durch Freyheit von dem Guten und Bösen“ (Bem., 116.04) ist; mit anderen Worten, wegen der ihm innewohnenden Fähigkeit, wirksam zu sein, ist er der Grund aller möglichen guten Wirkung (siehe Bem., L 125.33), mithin alles „Guten überhaupt“ (Bem., 109.05).⁶³ Somit hat er die Fähigkeit, der aktive Anfang seiner Handlungen zu sein, das heißt, von selbst zu handeln. Insofern fungiert er als „thätiges“ und „freies Prinzip“ (Bem., L 125.33).⁶⁴ (c) Andererseits bringt die Spontaneität des Willens auch mit sich, dass der Wille, soweit er unabhängig von dem Willen Anderer ist, sich nach „inneren Bewegungsgründen“ richten kann (Bem., 022.08, 052.13). Daher ist er frei zu wählen (siehe Bem., 052.13), denn aufgrund seiner Unabhängigkeit (was die Anderen angeht) und seiner Selbstbestimmung (was ihn selber betrifft) hängen seine Entscheidungen völlig von ihm ab. Anders als bei den Tieren, welche bloß dem Gang der Natur folgen, ist der Mensch ein frei Handelnder und kann deswegen wählen, dem Drang der Natur Folge oder Widerstand zu leisten.⁶⁵
So versteht es auch M. Rischmüller (Hg.) 1991, 250: „Der vollkommene Wille kann als einheitstiftendes Prinzip für die Mannigfaltigkeit der Handlungen verstanden werden“. Denn der vollkommene Wille, welcher sich nicht aufhebt, ist immer erster Anfang seiner Handlungen und insofern erteilt er ihnen die Einheit seiner Urheberschaft. Diese Passage 109.05 scheint also eng mit der Passage 114.24 verknüpft zu sein: „Wir haben Vergnügen an gewissen von unseren Voll| kommenheiten aber weit mehr wenn wir selbst 25| die Ursache seyn. Am allermeisten wenn wir die | frey wirkende Ursache seyn. Der freien Willkühr | alles zu subordiniren ist die größeste Vollkommenheit. | Und die Vollkommheit der freyen Willkühr als | einer Ursache der Möglichkeit ist weit größer als 30| alle andere Ursachen des Guten wenn sie gleich die | Wirklichkeit hervorbrächten“. Dazu siehe unten 3.2.3.1, 3.3 und 3.3.1. Principium heißt auf Latein sowohl „Anfang“ als auch „Grundsatz“. In den Bemerkungen spricht Kant noch nicht von einem „gesetzgebenden Willen“, aber doch von einem, welcher „aus inneren moralischen Gründen“ handelt (Bem., 022.08) und spontaneitatem hat (Bem., 052.13). Es ist möglich, dass der „kritische“ Kant sich bei der Entfaltung dieses Gedankens im Hinblick auf ein oberstes Prinzip der Moral deswegen für das lateinische Wort „Prinzip“ statt für den deutschen „Grundsatz“ entschieden hat, eben weil es die beiden Bedeutungen umfasst und somit den vollständigen Gedanken eines Willens sowohl als Anfang seiner Handlungen, als auch als gesetzgebend ausdrückt. Zu etymologischen Betrachtungen zum „Prinzip“ siehe unten 7.1.2.4.2 (a). Siehe Rousseau 1755, I. Abs. 14 f. Rousseau zufolge ist die Fähigkeit zu wählen, samt dem Gefühl derselben, das, was uns ein Bewusstsein unserer Freiheit erteilt. Darauf beruhe das eigentümliche Merkmal des Menschen, nämlich auf der Spiritualität seines Geistes [„spiritualité de son ame (sic, lies: âme)“ (siehe Rousseau 1755, I. Abs. 15)].
3.2 Analytischer Teil
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(2) In Übereinstimmung mit diesem Willen, welcher in sich gut ist, entwickelt Kant in (vii) und (ix) [Bem., L 125.18 und L 129.01] auch den Gedanken der Unmöglichkeit, „sich selbst (objektiv) zu widersprechen“ (Bem., L 129.21). So sind mehrere Passagen zu finden, wo der Selbstwiderspruch des Willens im Hinblick auf den Menschen sowohl als Vernunftwesen als auch als Naturwesen implizit oder explizit betrachtet wird. Bereits in der ersten zitierten Passage (Bem., 052.13) kommt das Wort „wiedersprechend“ (sic) vor. Seiner spontanen Natur nach ist dem menschlichen Willen eigentümlich, sich nicht dem Willen Anderer unterzuordnen, sondern sich nach den „eigenen inneren Bewegungsgründen“ zu richten. So wird der Selbstwiderspruch auf der vernünftigen Seite der menschlichen Natur fußend erklärt. Ebenso definiert Kant in (ii) [ab Bem., 053.20] den guten Willen als denjenigen, der „sich selbst nicht aufhebt“. Obwohl kurz und ohne Begründung, wird nur die Unterordnung des menschlichen Willens unter den „göttlichen“ gerechtfertigt, und zwar dadurch, dass der erste „nach seinen Bestimmungen“ bereits dem zweiten unterworfen ist, wobei beide Willen sich identifizieren lassen. So stimmt der menschliche Wille am besten mit sich selbst überein – bzw. „ist er bey der Natur“ (Bem., 052.13) –, wenn er „mit dem göttlichen zusammenstimmt“ (Bem., 053.20). Also wird der Widerspruch in dieser Passage auch im Hinblick auf die vernünftige Natur des Menschen, obwohl nur implizit und indirekt, betrachtet. Denn hier kommt das Konzept „Widerspruch“ o. Ä. im Wortlaut nicht vor, sondern Kant deutet durch die etwa synonyme Selbst-Aufhebung und sein gerades Gegenteil (nämlich die Übereinstimmung des Willens mit sich selbst) darauf hin. In (iii) [Bem., 075.02] wird wieder der Selbstwiderspruch in Betracht gezogen, diesmal durch einen Vergleich und im Hinblick auf die gemischte, die sowohl vernünftige als auch tierische Natur des Menschen: Der Mensch verfällt in ein widersprüchliches Verhalten, wenn er sich dem Willen Anderer unterwirft. Denn im Gegensatz zu den Tieren kann er sich nicht nur nach „inneren Bewegungsgründen“ richten (siehe Bem., 052.13), sondern auch von ihrem Wesen Selbstbewusstsein haben, da er vernünftig ist. Es handelt sich also nicht um ein vorübergehendes Bewusstsein eines konkreten inneren Zustandes wie im Fall der Tiere. Der Mensch ist sich des Übels bewusst, welches ihm die auferlegten Neigungen eines Anderen unvermeidbar bereiten (würden). Dieses Bewusstsein sollte ihn dahin treiben, einer solchen beklagenswerten Unterordnung zu entgehen, somit sich „seinen eigenen Trieben und Neigungen“ gemäß zu verhalten
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(Bem., 073.10).⁶⁶ Daher charakterisiert Kant den Widerspruch als „Unrechtmäßigkeit“, denn dieser tritt der menschlichen Verfassung gänzlich entgegen.⁶⁷ Der Gedanke von der Unmöglichkeit des objektiven Widerspruchs (siehe Bem., L 129.21) wird erst in (vii) [Bem., L 125.18] völlig gerechtfertigt, doch nur noch implizit – mangels alles buchstäblichen Verweises darauf – und intuitiv: Kant beruft sich dabei auf ein „heuristisches Mittel“ als Prüfstein der Allgemeingültigkeit: Da wir „gesellige“ Wesen sind, fungieren die Anderen uns gegenüber als einschränkende Richtschnur für die über unsere Handlungen gefällten Urteile. Hier vertritt Kant⁶⁸, dass wir unsere Handlungen erst mit Recht beurteilen können, nachdem wir sie uns bei Anderen vorgestellt haben. Denn dadurch gewinnen wir eine äußere Perspektive von uns, was uns fordert, die Handlungen möglichst objektiv zu betrachten. Diese Art „intellektuelle Sympathie“ in Bezug auf das „ehrliche“ Handlungsurteilen entspricht dem sogenannten „Gefühl des Rechts“⁶⁹, einem „Gemeinsinn des Guten und Bösen“, der – analog zu dem „Gemeinsinn des Wahren und Falschen“ im theoretischen Bereich (der Erkenntnis) – mit der „menschlichen Vernunft, allgemein genommen“ einig ist. Also verschafft uns dieses Gefühl hinsichtlich des moralischen Urteilens ein „Kriterium“ des Guten und Bösen, welches auf einer allgemeinen Vernunft fußend objektiv ist und gültige moralische Urteile ermöglicht. Daher „können [wir] ehrlicherweise das in uns nicht gutheißen, was wir bei andern tadeln“ (Bem., L 125.26)⁷⁰; es wäre inkonsequent, mithin widersprüchlich. Im Rahmen der Bemerkungen besteht die Moralität eben darin, „[…] stationes zu machen“ (Bem., 129.31), d. h. „[s]ich moralisch in einen anderen versetzen“, was „entweder durch Instinkt [geschieht]. Sympathie oder Mitleid. Oder durch Intellekt“ (Bem., 136.18).
Bem., 073.10: „Allein der Wille eines jeden Menschen ist … die Wirkung seiner eignen 10| Triebe Neigungen … | und stimet nur mit seiner wahren oder eingebildeten | Wohlfahrt zusammen“. So versteht es auch Reinhard Brandt: „Die Widersprüchlichkeit ist nicht die zweier entgegengesetzter Urteile, sondern sie besteht zwischen bestimmten Handlungen oder Verhaltensweisen und der natürlichen Beschaffenheit des Menschen und seines Willens. Die Freiheit stimmt überein mit der menschlichen Natur, ist conveniens naturae, die Unfreiheit widerspricht ihr“. Brandt 1974, 169 (zitiert durch Rischmüller (Hg.) 1991, 228). Zur Ablehnung der Unterordnung unter eines Anderen Willen gleicher Natur siehe Bem., 068.09 – 20, 072.02– 22, 073.10 – 32, 133.01– 17 und unten 3.2.3.1. Ganz ähnlich Adam Smith ([1759] 61790, 37 ff.) [dazu siehe oben 2.3]. Dazu siehe Rousseau 1755, I. Abs. 35 f. Zu letzterer Passage siehe Rischmüller (Hg.) 1991, 269, wo sie (sich auf die Praktische Philosophie Herder [AA 27: 058] berufend) betont, dass dieses heuristische Verfahren zur „Einheit im logischen Urteil, im rechtlichen Willen oder im moralischen Gefühl“ dient.
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Dass Kant an dieser Stelle „seine neue und endgültige Lösung der Frage nach dem Prinzip der Verbindlichkeit“⁷¹ bringe, wie Schmucker der Meinung ist, ist m. E. unzutreffend oder mindestens fragwürdig. Denn Kant selbst erklärt, dass es sich hier um ein „heuristisches Mittel“ handelt: Dieses hilft uns bei unseren Urteilen über eigene oder fremde Handlungen. Trotzdem beruht sie am Ende auf einem „Gefallen“ oder „Missfallen“, also auf der Empfindung, wobei das Urteil eher ästhetisch und jedenfalls bloß subjektiv ist. Also ergibt sich daraus nicht einmal ein „Prinzip der Verbindlichkeit“, sondern höchstens ein „Kriterium des Guten und Bösen“ in praktischer Hinsicht. Trotz seines „Gültigkeitsanspruchs“ ist es wegen seiner heuristischen Quelle viel eher eine intuitive bzw. empirischpragmatische Richtschnur als ein sicheres Prinzip zum Handeln. Aber aufgrund der gesellschaftlichen Grundlage des heuristischen Mittels sieht Schmucker hier eine Art Verallgemeinerung des „Gefühls des Rechts“ vom Individuum auf die Gesamtheit der zu derselben geselligen Natur gehörigen Individuen⁷². Aber diesen Schritt, der in der Grundlegung ⁷³ zu finden ist, tut Kant hier nicht.Wenn auch Kant am Ende der Passage (vii) [Bem., L 125.18] auf eine Analogie des praktischen Bereichs zur theoretischen Erkenntnis verweist,⁷⁴ gehen seine Worte in dieser Passage weder auf das Sollen noch auf ein „Prinzip“ bzw. ein „Wesensgesetz“⁷⁵ ein. Vielmehr beziehen sie sich auf das praktische Können, d. i. auf die moralische Möglichkeit einer widersprechenden Handlung (oder Beurteilung). Denn, wie Kant einige Zeilen weiter unten sagen wird, ist der Wille insofern gut, als seine „Wirkungen“ „in sich möglich sind“, d. h. sich nicht widersprechen⁷⁶. Erst im Zitat (ix) [Bem., L 129.01] (besonders von Zeile 12 bis 26) gelingt Kant eine auf kein heuristisches Mittel zurückgreifende argumentative Erklärung und damit eine explizite Erwägung und Thematisierung der Unmöglichkeit des Selbstwiderspruchs bei der Handlungsbestimmung und –beurteilung. Im Unterschied zu der vorigen Passage handelt es sich hier nicht mehr um eine heuristi-
Schmucker 1961, 240. Schmucker 1961, 242. GMS, 429.02: „Der Grund dieses Princips ist: die vernünftige Natur existirt als Zweck an sich selbst. So stellt sich nothwendig der Mensch sein eignes Dasein vor; so fern ist es also ein subjectives Princip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objectives Princip, woraus als einem obersten praktischen Grunde alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können“. Durch diese Analogie zeigt Kant, dass er die Möglichkeit einer moralischen Gewissheit annimmt, welche das Thema der Preisschrift 1762 war. Schmucker 1961, 242. Bem., L 125.38: „Aber das Gutsein des Willens als eines freien Prinzips wird erkannt, nicht sofern aus ihm jene Vorteile entspringen, sondern sofern sie in sich möglich sind“.
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sche bzw. per analogiam geschlossene, sondern eher um eine begründete Rechtfertigung der Unmöglichkeit des objektiven Widerspruchs: Kant unterscheidet zwischen dem „eigenen“ und dem „allgemeinen“ Willen und bedient sich des „göttlichen“ Willens als Vorstellung des zweiten. Der allgemeine Wille ist derjenige, der immer gut ist, weil er sich nicht widersprechen kann, das heißt, seine Wirkungen sind immer „in sich möglich“. Hingegen geht Kant davon aus: „Wir können | natürlicherweise nicht heilig seyn und dieses haben wir | durch Erbsünde verloren wir können aber wohl moralisch 20| gut seyn“ (Bem., 009.18)⁷⁷.Was bei Gott oder einem heiligen Wesen naturgemäß ist, nämlich das Gutsein, geschieht bei Menschen allein durch ausdrückliche Bestimmung und „ungern“: „Eine tugendhafte Handlung ist jederzeit eine sittlich | gute Handlung die ungern geschieht oder wenigstens geschehen ist“ (Bem., 118.16)⁷⁸. So identifizieren sich eigener und allgemeiner (bzw. göttlicher) Wille nur insofern, als der eigene Wille „gut“ ist, d. h. sich beim Handeln nicht knechtisch, sondern nach inneren Bewegungsgründen richtet, welche mit denen des allgemeinen (bzw. göttlichen) Willens übereinstimmen. Der allgemeine bzw. göttliche Wille (welcher also wegen seines Gutsein vollkommen ist) tritt uns Menschen gegenüber rechtmäßig auf, aber bloß als eine objektive Richtschnur unseres Handelns: Wir sind zwar unvollkommene, doch willensbegabte Wesen, wobei unser Handeln von uns selbst und unserem Privatwillen „gänzlich abhängt“ (Bem., L 129.19). Ein objektiver Widerspruch des menschlichen Willens mit sich selbst ist also insofern unmöglich, indem ein objektives Handeln durch Menschen nur nach dem allgemeinen Willen zu vollführen ist, bei dem der Widerspruch keineswegs zustande kommen kann. Aus diesem Grund: (a) „entspringt das Notwendige“ aus dem allgemeinen Willen, somit auch aus dem besonderen guten Willen. Sinngemäß soll also eine Pflicht zwangsläufig erfüllt werden, da das, was sie gebietet, mit dem allgemeinen, jedoch nicht mit dem besonderen Willen notwendig übereinstimmt; (b) ist alles Wollen des eigenen Willens, das nicht mit dem allgemeinen zusammenstimmt, „äußerlich moralisch unmöglich“ bzw. „unerlaubt“: Das, was dem allgemeinen Willen widerspricht, wird also nicht rechtmäßig gewollt. Kants Konzeption des Widerspruchs hinsichtlich der Moralität betrifft also nur die äußerliche Seite der Handlung, nämlich das Wollen derselben, nicht aber die Bem., L 120.01: „Das objektive Gutsein einer freien Handlung (ist in Gott zugleich subjektiv)“. Hier ist schon die Einsicht anzuerkennen, dass die Ethik eine Disziplin ist, die nur den menschlichen Willen betrifft, indem dieser die Möglichkeit hat, sich selbst moralisch zu bestimmen, obwohl er es nicht unbedingt deswegen tut.
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innerliche, welche allein darauf achtet, dass die Handlung ohne Widerspruch gedacht werden kann. Vermutlich ist zur Zeit der Bemerkungen der Innerlichkeitsbegriff für Kant durch die Empiristen noch sehr belastet – wie der Rückgriff auf das heuristische Mittel annehmen lässt,⁷⁹ wobei seitens Kant eine Entwicklung der „rational-kritischen“ Innerlichkeit noch nicht voraussehbar ist.⁸⁰ Damals hätte die „innerliche Unmöglichkeit“ einer Handlung von ihm vielmehr so begriffen werden können, dass die Handlung nicht dem allgemeinen Willen, sondern dem moralischen Gefühl widerspricht (das auf dem privaten Bereich der empfindungsfähigen Seite des Menschen beruht und also nicht rational ist). Das brächte aber keine absolut einschränkende Unmöglichkeit der Handlung mit sich, sondern eine willkürliche, je nachdem, ob die Vorstellung der Handlung dem eigenen Gefühl entgegentritt oder nicht. Von diesem Standpunkt aus ist es verständlich, dass Kant sich zur Zeit der Bemerkungen nicht mit der logischen bzw. „innerlichen Unmöglichkeit“ des Widerspruchs beschäftigt. Diese wird erst in der Grundlegung eine angemessene Betrachtung bekommen (siehe GMS, 423.36 f.)⁸¹.
3.2.2.2 Notwendigkeit Kant bleibt bei seiner 1762 in der Untersuchung getroffenen Unterscheidung zwischen der Notwendigkeit der Mittel und der der Zwecke. Nun verschärft er diese Klassifikation, obwohl dem flüchtigen Charakter der Bemerkungen manche Ungenauigkeiten zuzuschreiben sein wird.
Diese These lässt sich im Hinblick auf die Untersuchung aber noch stärker vertreten. Denn dort beruft sich Kant um einer vollständigen Erklärung der Verbindlichkeit willen auf Hutcheson und das Gefühl als „das Vermögen, […] das Gute zu empfinden“ (UD, 299.20 und siehe UD, 300.23). So zeigt Kant eine explizite Billigung der empiristischen Position. In der GMS wird Kant hingegen den Widerspruch auf der praktischen Ebene sowohl hinsichtlich der Logik als auch hinsichtlich des guten Willens betrachten. Dennoch behält die Konsistenz des Wollens die Oberhand: Kant wird darauf schließen, dass der Verstoß gegen die Pflicht nicht so sehr wegen des logischen Widerspruchs geschieht, als wegen eines „Widerstand [es] der Neigung gegen die Vorschrift der Vernunft“. Denn alle pflichtwidrige Handlung impliziert diesen Widerstand, aber nicht unbedingt den logischen Widerspruch. Dazu siehe GMS, 423.36 f. und unten 7.1.2.4.2 (d.3). Laut der Grundlegung betrifft die logische (innerliche) Unmöglichkeit einer Handlungsmaxime nur die Übertretung der strengen Pflichten, beispielsweise den Selbstmord und die Lüge – die auch eine moralische (äußerliche) Unmöglichkeit mit sich bringen: Sie widersprechen nicht nur den Verstand, sondern auch den allgemeinen Willen. Hingegen widerspricht die Übertretung weiter Pflichten nur dem allgemeinen Willen, aber nicht dem Verstand: Man kann nicht wollen, aber sich doch eine Welt vorstellen, in der Anderer Glück oder eigene Vervollkommnung nicht befördert werden; nur wäre diese keine moralische Welt.
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Wie schon 1762 denkt Kant über die „Notwendigkeit einer Handlung“ nach, und zwar entweder hinsichtlich des Ziels, das sie zu erreichen sucht, oder hinsichtlich des Zwecks, den sie zu erfüllen hat: Ein „bedingtes Ziel“ als eine bestimmte vorausgesetzte Absicht braucht zu seiner Erreichung die Ausführung einer konkreten Handlung, die von ihm unterschieden ist. Hingegen wird ein „unbedingtes Ziel“ als ein gesetzter Zweck nur durch die entsprechende Handlung erfüllt, wobei sich beide – Zweck und Handlung – identifizieren lassen. So differenziert Kant zwischen unterschiedlichen Arten von „objektiver Notwendigkeit“ und der mit ihr identifizierten „objektiven Bonität“, je nachdem, ob die Handlung auf ein Ziel oder einen Zweck abzielt: Sie kann entweder „bedingt“ oder „kategorisch“ sein.⁸² Die erste bezieht sich auf die Handlungen, die erst „unter einer Bedingung“ (Bem., L 118.19), d. h. im Hinblick auf ein „begehrtes“ Ziel (Bem., L 125.05) ausgeführt werden. Solche Handlungen machen dann das notwendige „Mittel“ aus (Bem., L 120.04, L 129.28), durch welches das Ziel erreicht wird. Ist dieses ein „mögliches Ziel“ – wie bei einem Problem –, dann wird die Notwendigkeit der Handlung „problematisch“ genannt (Bem., L 129.28); ist es aber ein „wirkliches Ziel“, durch wirkliche Triebe (siehe Bem., L 125.04) begehrt („jeder will gesund sein“ [Bem., L 118.19]), so handelt es sich um die „Notwendigkeit der Klugheit“ (Bem., L 129.28). Die zweite Art „objektiver Notwendigkeit“, nämlich die „kategorische“, wird von Kant „moralisch“ genannt und weist auf eine Handlung hin, die selbst den verfolgten „Zweck“ ausmacht (z. B. die Wahrhaftigkeit wird durch Ausübung derselben Wahrhaftigkeit, nämlich wahrhafte Aussagen verwirklicht). In den Passagen der Bemerkungen, die den Notwendigkeitsbegriff betreffen⁸³, finden sich spezifische Merkmale⁸⁴, die auch – wie bei dem Willensbegriff – die spätere reife Darstellung andeuten: (1) Die Bemerkungen liefern das erste Zeugnis von Kants Gliederung der „bedingten Notwendigkeit“ in „problematische Notwendigkeit“ und „Notwendigkeit der Klugheit“ (Bem., L 118.19, L 125.04, L 129.28), da beide unter einer Bedingung stattfinden, die erste unter einer möglichen und die zweite unter
Dazu siehe Bem., L 118.19 (vi), L 120.01 (xi), L 125.04 (xii), L 129.28 (xiv). Siehe unten Anhang 3 die Bemerkungen zum Begriff der „Notwendigkeit“, die ich meinen Untersuchungen zugrunde lege. Diese Merkmale fallen insbesondere dann auf, wenn wir auf die Untersuchung, wo Kant samt der Unterscheidung zwischen der Notwendigkeit der Mittel und der Zwecke auch die Identifizierung des Guten mit dem Notwendigen dargelegt hatte (siehe UD, 298.09 – 16 und 299.27– 300.02). Dazu siehe oben 1.1.3.
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einer wirklichen. Aber das ergibt sich nicht aus allen Passagen, denn die „objektive Notwendigkeit“ einer „freien Handlung“ „als eines Mittels“ überhaupt nennt Kant in (xi) [Bem., L 120.01] allein „problematische praktische Notwendigkeit“, ohne zu erwähnen, ob das Mittel sich auf ein mögliches oder ein wirkliches Ziel richtet. Darüber hinaus beschreibt Kant die „problematische Notwendigkeit“ nicht als die der „Formeln der Geschicklichkeit“, obwohl er diese Schilderung bereits in der Untersuchung verwendet hatte⁸⁵ und in seiner reifen Auffassung festlegt (siehe GMS, 415.13). (2) Auch zum ersten Mal taucht in den Bemerkungen (xi, xii, xiv) [jeweils siehe Bem., L 120.01, L 125.04, L 129.28] das Adjektiv „kategorisch“ zur Bezeichnung der unmittelbaren Notwendigkeit auf. Diese schildert Kant auch erstmals in (xiv) [Bem., L 129.28] explizit als „moralisch“⁸⁶. So charakterisiert „kategorisch“: (a) diejenige Notwendigkeit der Handlung, die „nur die Applikation des Sachverhalts an das moralische Gefühl [fordert]“ (Bem., L 125.11); denn das Verfolgte ist die Ausführung der Tat selbst. Eine solche Handlung zielt nicht auf die zu befriedigenden Neigungen und Triebe ab⁸⁷; (b) ebenso bedeutet „kategorisch“ das „Gutsein der Handlung“ als eines „Zwecks“ (Bem., L 120.04), mithin als „unmittelbar“ (Bem., L 120.05), nicht „bedingt“ (Bem., L 120.07), und „in sich gut“, wobei „sie [sc. die Handlung] einer Verpflichtung [unterliegt]“ (Bem., L 120.11). Das heißt, das kategorisch Gute stellt sich uns gegenüber als kategorisch notwendig dar, daher als eine Verbindlichkeit (siehe Bem., L 125.04, siehe UD, Dennoch subsumiert die Schilderung der „Geschicklichkeit“ in der Untersuchung noch die Notwendigkeit einer Handlung sowohl zu einem möglichen als auch die zu einem wirklichen Ziel unter sich (siehe UD, 298 f.). Dazu siehe Bem., L 118.19 [vi] (wo Kant die „absolute Vollkommenheit“ des Willens wegen seiner unmittelbaren Spontaneität „moralisch“ nennt), siehe Bem., L 129.06 [ix] (wo Kant zwischen Liebespflicht – d. i. moralisch spontanen Handlungen – und Schuldigkeit – d. i. moralisch erzwungenen Handlungen – unterscheidet) und siehe Bem., 110.12: „Der freye Wille (eines Bedürftigen) ist vor sich gut wenn er alles will was | zu seiner Vollkommenheit (Vergnügen) beyträgt und vors Gantze wenn er zugleich | aller Vollkommenheit begehrt. So unvermögend auch der Mensch seyn mag der | diesen Willen hat so ist doch der Wille gut. Andre Sachen mögen nützlich seyn; 15| andre Menschen mögen durch einen gringen Grad Willen und viel Macht viel | Gutes in einer gewissen Handlung thun | so ist der Grund das Gute zu wollen doch eintzig und allein moralisch“. Das „moralische Gefühl“ in dieser Passage ist zu verstehen als das Vermögen, „das Gute zu empfinden“ (UD, 299.21): Anhand der unmittelbaren Empfindungen des Guten (die eine an sich gute Handlung erweckt) und aufgrund des Bewusstseins solcher Empfindungen sieht der Verstand die unmittelbare Notwendigkeit der Handlung ein, wobei man eine unmittelbare Lust an derselben Handlung fühlt und diese ausübt. Siehe oben 1.1.3.
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299.27– 300.02). Deswegen identifiziert Kant das objektive Gutsein mit der objektiven Notwendigkeit (siehe Bem., L 120.01, L 125.04). Trotzdem ist diese Gleichsetzung seitens Kant nicht frei von Schwierigkeiten, denn eben dieselben Passagen L 120.01 und L 125.04 fangen mit der Unterscheidung des „bedingten“ vom „kategorischen“ „objektiven Gutsein der freien Handlung“ an. Wie kann aber das „objektive“, d. i. das An-sichGutsein zugleich „bedingt“ sein? Aus dem Kontext dieses Gedankens ergibt sich, dass Kant das „objektive Gutsein“ auch hinsichtlich des Objekts bzw. Zwecks (der Handlung) im weiten Sinn denkt, also abgesehen davon, ob die Handlung als Mittel („bedingt“) oder als eigentlicher Zweck („kategorisch“) fungiert. Angesichts dessen ist eine Handlung als „objektiv gut“ zu bezeichnen, wenn sie erfolgreich ist, das heißt, sofern sie sowohl als Bedingung das vorausgesetzte Ziel erreicht als auch als Zweck (in strengerem Sinn) völlig durchgeführt wird. Diese verwirrende Redeweise wird Kant in der Grundlegung überwinden, wo „objektiv“ ausschließlich „allgemeingültig“ heißt.⁸⁸ (c) Letztlich heißt „kategorisch“ auch das „Gutsein des Willens als freien Prinzips“, d. h. als Ursache aller möglichen Wirkung (Bem., L 125.33 – 40); denn, wie ich in 3.2.2.1 gezeigt habe, konzipiert Kant den Willen noch allein wegen seiner Fähigkeit, wirksam zu sein, als absolut vollkommen (Bem., L 118.19, 125.33, 110.12, 114.24)⁸⁹. (3) In (xi) unterscheidet Kant implizit zwischen dem objektiven und dem subjektiven Gutsein einer freien Handlung, indem er erklärt, dass das objektive Gutsein mit dem in Gott Subjektiven einerlei ist (siehe Bem., L 120.01). In der Vorlesung zur Moralphilosophie und später in der Grundlegung werden diese Gedanken entfaltet und auf die Basis der Unterscheidung zwischen menschlichem und göttlichem Willen gestellt⁹⁰: Während ersterer der Wille eines vernünftigen und „bedürftigen“ (Bem., 110.12) Naturwesens ist, ist der zweite ausschließlich vernünftig und sein Wollen ist vollständig durch die Vernunft bestimmt. Deshalb ist bei ihm die objektiv gute Handlung zugleich
Dazu siehe unten 7.1.2.2. Die Passage deutet also an, dass Kant die Idee des Willens schon als eines Anfangs von Handlungsprinzipien dachte, obwohl er diese nicht ausarbeitete. Siehe oben 3.2.2.1. Siehe V-Mo, 029.08/031 f. und 041.01/047 und siehe unten 5.1.3.6. Siehe GMS, 412.26 f. und siehe unten 7.1.2.3 (c).
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subjektiv gut, und also weder zufällig noch genötigt: Gott ist auch in subjektiver Hinsicht bestimmt, sie zu wollen.⁹¹ (4) Zuletzt ergibt sich aus (ix) Bem., L 129.01, dass Kant an zwei unterschiedliche Arten von Pflichten dachte, nämlich an die moralische Pflicht (darunter die Liebespflicht und die Schuldigkeit) und den politischen Zwang⁹². Der politische Zwang zielt auf die Rechtsordnung, die das gesellschaftliche Leben regeln und ermöglichen soll. Daher fußt er auf dem Recht (siehe Bem., L 143.15 [xvi]), durch welches die Menschen gleichermaßen unter dem Gesetz Untertanen werden und ihnen aufgrund der „moralischen Gründe ihres Vertrags“ mit der Gesellschaft etwas rechtmäßig kann auferlegt werden (siehe Bem., L 126.23 [xiii]). Das bringt einen gewissen Verlust an Freiheit mit sich, da jeder „seinen Willen selber eines anderen seinem aufopfert“ (Bem., 052.05).⁹³ Aber solange dies nicht „in Ansehung aller seiner Handlungen“ geschieht, „macht er sich [nicht⁹⁴] zum Sclaven“ (Bem., 052.05). Ihrerseits sind die beiden zunächst erwähnten Pflichten moralisch: Die Liebespflicht ist spontan, da sie aus Neigung vollzogen wird, dagegen ist die Schuldigkeit erzwungen, d. h. sie wird aus Nötigung erfüllt. Diese letztere Unterscheidung zwischen moralischen Pflichten wird in der Grundlegung nachgearbeitet und in der Distinktion zwischen „pflichtmäßigen“ Handlungen und „aus Pflicht“ geschehenden Handlungen münden (siehe Bem., 397.19): Beispielsweise
Daher wendet sich die Ethik mit der Erörterung der Freiheit nicht an Gott, sondern an die Menschen. Deswegen ist es auch fragwürdig, ob von Gott gesagt werden kann, dass er frei ist zu wählen. Dazu siehe unten 7.1.2.3. Diese zweifache Unterscheidung der Pflichten wird Kant in der Vorlesung zur Moralphilosophie deutlicher darstellen: Eine jede Verbindlichkeit („ex arbitrio alterius“ oder „ex arbitrio proprio“) bekommt ihren nötigenden Charakter aus der Beschaffenheit der Handlung selbst, die an sich gut ist. Daraus entsteht die Legitimität, dass sie von Anderen erzwungen werden kann. Und darin besteht der Unterschied zwischen Recht und Ethik: Die Verbindlichkeiten werden bei ersterem „aus Zwang“ (d. h. von Anderen erzwungen), bei der Ethik hingegen „aus Pflicht“ erfüllt (siehe VMo, 050.29/062 f., 052.07/064 f.). Ausführlich dazu siehe unten 5.1.3.6.1 und 5.1.3.6.2. Rousseau bewertet diesen Verlust an Freiheit sehr negativ. Denn dieser ergibt sich in der letzten Phase des Naturzustands aus einer Täuschung der Armen durch die Reichen. Beide sind jedoch von Natur aus gleich: Die, für die als Besitzer von Landbesitz und Gütern der Naturzustand nachteilig ist, überreden die anderen, dass es viel besser für alle ist, wenn eine Ordnung der Gerechtigkeit und des Friedens durch einen Vertrag eingerichtet wird, unter welcher alle sich unterordnen werden. So sehen sogar die Weisen den Vorteil, einen Teil der Freiheit aufzuopfern, um den anderen Teil zu schützen. Aber was schließlich geschieht, ist eine Unterdrückung der Armen, denn die Ämter werden allein von den Reichen besetzt und beherrscht. So stützt sich die gesetzgebende Gewalt auf einen unrechtmäßigen Grund, nämlich auf eine Ungleichheit zwischen Wesen gleicher Natur. Siehe Rousseau 1755, II. Abs. 30 – 32 und Bem., 052.05. Zusatz: ACGX.
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„sein Leben zu erhalten“ (Bem., 397.33), ist eine Pflicht, zu der wir zugleich eine unmittelbare Neigung haben. Aber derjenige, für den das Leben nichts Anderes als ein Übel ist, der sich umbringen möchte und sich trotzdem zwingt, am Leben zu bleiben, der erfüllt seine Pflicht sich selbst gegenüber nicht aus Angst vor dem Tod (Neigung), sondern aus der moralischen Nötigung zu leben.⁹⁵
3.2.3 Die auf Deutsch niedergeschriebenen Bemerkungen Angesichts der Zentralität des Freiheitsbegriffs und seiner Verbindung mit dem Autonomiebegriff in der Moraltheorie Kants werde ich mich von hier an vornehmlich auf die Bemerkungen zur Freiheit konzentrieren. Obwohl Kant das Adjektiv „frei“ (bzw. liber, -a, -um) auch in lateinischen Passagen verwendet, taucht die „Freiheit“ hauptsächlich in deutscher Sprache auf.
3.2.3.1 Freiheit Zu (xvii) [Bem., 022.08]⁹⁶. Beeinflusst durch Rousseau stellt Kant hier eine den Zynikern nahe Position dar, nach der der Mensch im Naturzustand bzw. in rechtlicher Ungebundenheit, weil er noch keine Laster und neu geschaffenen Bedürfnisse entwickelt hat, aus „inneren moralischen Gründen“ müheloser handeln kann. Kant sieht aber eine Gebrechlichkeit im Menschen, die seine „innere Moralität“ vor aller Widrigkeit verletzbar⁹⁷ macht. Analog zu den Beobachtungen, wo er angesichts der menschlichen Schwächen die adoptierten Tugenden als „Supplemente der Tugend“ aufnimmt, sieht Kant jetzt die Religion als Unterstützung für die Moralität an.⁹⁸ Der menschliche Wille ist „der unmittelbaren
Dazu siehe unten 7.1.2.2. Siehe unten Anhang 3 die Bemerkungen zu „Freiheit“, die hier meinen Analysen zugrunde liegen. „Seine eigene Glückseligkeit sichern, ist Pflicht (wenigstens indirect), denn der Mangel der Zufriedenheit mit seinem Zustande in einem Gedränge von vielen Sorgen und mitten unter unbefriedigten Bedürfnissen könnte leicht eine große Versuchung zu Übertretung der Pflichten werden“ (GMS, 399.03). Auch in der Moralvorlesung wird Kant der Religion (V-Mo, 062.06/077, 061.10/075) bzw. der „moralischen Theologie“ (V-Mo, 027.16/028) diese motivierende Rolle erteilen (dazu siehe unten 5.2.2). Diese Ansicht wird er im „Kanon“ der KrV vermittelst der Ausarbeitung einer sog. „Moraltheologie“ durch die Bearbeitung des „höchsten Guts“ vertiefend darstellen und vertreten. Dazu siehe unten 6.3.1 (sowie 6.1.2 und oben 3.1).
3.2 Analytischer Teil
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moralischen Reinigkeit nicht fähig“⁹⁹. Mit anderen Worten: Der Mensch ist nicht notwendig bestimmt, moralisch zu handeln, denn bei ihm, im Gegenteil zu Gott, ist das objektive Gutsein nicht zugleich subjektiv.¹⁰⁰ Trotzdem ist er in der Lage, der moralischen Reinigkeit gemäß zu handeln, sofern er sich, nicht nach seiner physischen Verfassung als „bedürftiges“ (Bem., 110.12), sondern als vernünftiges Wesen, somit auf „übernatürliche Weise“ verhält. Dann „[wird] in ihm Reinigkeit gewirkt“. In einem solchen Fall machen die inneren moralischen Gründe und eben nicht bestimmte erwartete Wirkungen der Handlungen (wie beispielsweise die „Belohnungen des künftigen Lebens“) die Beweggründe seines Handelns aus. Also lässt sich schon in der Passage (xvii) die spezifisch Kantische Unterscheidung erblicken zwischen denjenigen „pflichtmäßigen“ Handlungen, welche nur äußerlich mit der Pflicht übereinstimmen – denn sie verfolgen eine weitere Absicht – und denjenigen, welche „aus Pflicht“ geschehen – die also einen inneren moralischen Wert haben, weil sie aus Achtung vor dem Gesetz vollzogen werden (siehe GMS, 397.14).¹⁰¹ Zu (xviii) [Bem., 025.14]. Hier findet sich zum ersten Mal die Redeweise von einem „obersten principium“ im moralphilosophischen Sinne. Der Gedanke deutet zum einen auf eine Moralkonzeption hin, die darauf abzielt, die Moral nicht auf Vorschriften und Ratschläge, sondern auf einen ersten und einzelnen
An dieser Auffassung des Menschen als eines schwachen Wesens, welches leicht von dem mit ethischen Gründen richtig gebahnten Weg abweicht, wird Kant auch in der Vorlesung (siehe V-Mo, 121 ff./096 f.) und nach der Kritik der reinen Vernunft 1781 festhalten. – Zur Schwäche der menschlichen Natur siehe GMS, 397.11: „Ich übergehe hier alle Handlungen, die schon als pflichtwidrig erkannt werden, ob sie gleich in dieser oder jener Absicht nützlich sein mögen; […]. Ich setze auch die Handlungen bei Seite, die wirklich pflichtmäßig sind, zu denen aber Menschen unmittelbar keine Neigung haben, sie aber dennoch ausüben, weil sie durch eine andere Neigung dazu getrieben werden. Denn da läßt sich leicht unterscheiden, ob die pflichtmäßige Handlung aus Pflicht oder aus selbstsüchtiger Absicht geschehen sei.Weit schwerer ist dieser Unterschied zu bemerken, wo die Handlung pflichtmäßig ist und das Subject noch überdem unmittelbare Neigung zu ihr hat“. Dazu vergleiche Klemme 2006, 138 und Schwaiger 1999, 19, welche Kants Distinktion zwischen unterschiedlichen Arten praktischer Gründe (insbesondere zwischen moralischen und Klugheitsregeln) zwar richtigerweise als eine bloße Typisierung des mannigfaltigen menschlichen Handelns verstehen; dennoch übersehen und negieren sie, dass die verwerfliche Handlungsbestimmung durch Klugheitsregeln, wenn sie durch moralische Gründe hätte zustande kommen sollen, eben aufgrund der menschlichen Willensschwäche erfolgt. Siehe oben 3.2.2.2 (3). Siehe Bem., L 120.01 (xi). Ebenso siehe V-Mo, 029.08/031 f., 040.03/ 045 f., 044.30 f./052 ff. und GMS, 412.26 f. Dazu siehe unten 7.1.2.2.
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3 Bemerkungen in den „Beobachtungen“ (ca. 1764 – 65)
Grundsatz zu begründen. Dies stimmt mit den Vorgaben der Untersuchung ¹⁰² zusammen und entspricht grosso modo der Absicht der Grundlegung, wobei dies bereits als ein frühes Anzeichen der Ethik Kants gelesen werden kann. Der formale Grundsatz der Verbindlichkeit als der allumfassendste, unter welchem jeder materielle praktische Grundsatz subsumiert ist, taucht zwar schon in der Untersuchung auf. Aber Kant nennt ihn die „oberste und allgemeine Formel“ (UD, 300.19) der Verbindlichkeit und bezeichnet ihn als „allgemeine Regel guter Handlungen“ (UD, 300.08). Auch kommt erstmals in dieser Passage der Bemerkungen (xviii) die Unterscheidung der moralischen von der metaphysischen Freiheit vor. Aber sie wird in weiteren Bemerkungen weder erneut erwähnt, noch erklärt¹⁰³. Behält man jedoch die bisher betrachteten Bemerkungen im Auge, so lässt sich „das oberste Principium“ der „moralischen Freiheit“ von vornherein als ein allgemeingültiger Grundsatz für das Handeln verstehen, von welchem alle Vorschriften unserer Handlungen herrühren sollen. Hingegen deutet die „metaphysische Freiheit“ auf eine spontane Verfassung des Wesens hin, wodurch es unabhängig von aller äußeren Ursache ist und daher wählen kann¹⁰⁴. Zu (xix) [Bem., 043.04]. Kant präsentiert in dieser Passage eine der Untersuchung ähnliche Stellungnahme. Dort stellte er anhand Hutcheson das Gefühl als das Vermögen vor, „das Gute zu empfinden“ (UD, 299.20). Dank dieses Gefühls nimmt der Mensch eine Handlung als unmittelbar gut wahr und versteht sie als notwendig (Bem., 299.27– 300.02). Hier geht er der Frage nach der ersten Quelle der Unterstützung für diese Empfindungen nach, die im Menschen eine Motivation zu handeln hervorbringen. Kant setzt diese Quelle „i[n den] Stand[] der Natur“, somit in diese Welt, welche er auffälliger Weise mit dem „Stand der Freyheit“ identifiziert: Zum einen verweist uns dies auf Rousseau, der die absolute Freiheit im Naturzustand sieht und alle zum bürgerlichen Zustand führenden Schritte als einen Verlust an Freiheit versteht¹⁰⁵. Damit distanziert sich Kant von der rational-
In der Untersuchung, wo Kant erstmals die Unterscheidung zwischen der Notwendigkeit der Mittel und der Zwecke festsetzt, werden die Vorschriften zur Glückseligkeit unter ersterer aufgezählt. Siehe oben 1.1.3. Dazu siehe unten 3.3 (2). Dazu siehe unten 3.3 (1, a). Siehe Rousseau 1755, I. Abs. 10, II. Abs. 31– 33. Der Mensch und die Tiere entarten im bürgerlichen und zahmen Zustand, denn als physische Wesen betäubt die Annehmlichkeit dieses Zustands ihre natürlichen Gaben. Zudem degeneriert der Mensch – aufgrund seiner metaphysischen und moralischen Natur – wegen seines Vermögens, sich zu vervollkommnen: Die Leidenschaften, die aus unseren physischen Bedürfnissen und deren Entwicklung entspringen, erwecken in uns den Wunsch zu wissen, begünstigen unsere Ansiedlung und die Entwicklung von Tätigkeiten, wie dem Landbau, die uns weitere Bequemlichkeiten verschaffen. Das alles führt den
3.2 Analytischer Teil
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theologischen Auffassung:¹⁰⁶ Der Mensch ist keine Marionette Gottes bzw. einer höheren Instanz, die ihn – wie bei der alten Tragödie¹⁰⁷ – willkürlich bestimmt. Ebenso ist er kein Automat wie die Tiere nach der Cartesischen Konzeption¹⁰⁸. Vielmehr findet der Mensch den Anlass zum Handeln in dieser Welt, und zwar in seiner Natur selbst, die ihn als spontanes Wesen frei macht, und ihn als vernünftiges dazu führt, die Gründe seines Handelns abzuwägen. Entsprechend ist es zum anderen dem Menschen als gefühlsbegabtem Wesen möglich, das bedingt sowie das unmittelbar Gute (bzw. die Notwendigkeit) einer Handlung wahrzunehmen und sich für eines von beidem zu entscheiden. Insofern fußt des Menschen Freiheit nicht bloß auf Vernunft, sondern auch teilweise auf seiner empfindungsfähigen Natur. Zu (x, i) [Bem., 052.05]. Diese Bemerkung weist auf die Legitimität der gesetzgebenden göttlichen Gewalt über den Menschen hin, die auf der Ungleichheit zwischen der gesetzgebenden Instanz (d. i. Gott) und demjenigen, dem das Gesetz auferlegt wird (d. i. dem Menschen) beruht. Diese Ungleichheit bringt einen gewissen Verlust an Freiheit seitens des Gesetzempfängers mit sich, indem dieser durch Gehorsam seinen Willen dem Willen eines Anderen unterordnet. Trotzdem, wenn diese Subordination nur dem Willen Gottes gegenüber geschieht, handelt es sich eigentlich um eine vollkommene Übereinstimmung des menschlichen Willens mit sich selbst (siehe Bem., 053.20): Der Wille will dann nur das Gute und wird nicht durch Laster oder geschaffene Bedürfnisse verführt, er „ist bey der Natur“. Jene grundlegende Ungleichheit findet aber naturgemäß nicht zwischen Menschen statt. Daher, wenn die Unterordnung des menschlichen Willens Anderen Menschenwillen gegenüber (somit eines Gleichen) geschieht, dann ist die Ungleichheit, die diesem Gehorsam zugrunde liegt, contra natura, und mithin ist der Gehorsam unrechtmäßig¹⁰⁹: Einerseits verzichtet man damit auf die einem
Menschen dazu, ein leichteres Leben zu führen und neu geschaffene Bedürfnisse zu haben, was den Verlust eines hohen Grads seiner natürlichen Gaben und somit seiner natürlichen Freiheit mit sich bringt. So auch Rischmüller (Hg.) 1991, 198 f. So auch Schönecker 2005, 2, Fn. 2. Siehe Descartes 1637, 50 (V. Abs. 9). Fronzini (Hg.) zufolge (1979, 166, Fn. 88 zum 5. Teil) wurde die Lehre des „Maschinentieres“ bereits 1554 vom spanischen Arzt und Philosophen Gómez Pereira in seiner Antoniana Margarita konzipiert. Trotzdem soll Descartes laut seines Briefes an Mersenne vom 23. Juni 1641 (in: Œuvres de Descartes. Paris: L. Cerf, 1897– 1910, Bd. III, 386) das Werk des Spaniers nie gesehen haben. Siehe unten Anhang 3, (iii), (ii) [Bem., 053, bes. Zeilen 21– 29]. Siehe oben in 3.2.2.1 Fn. 65 zur Wahlfähigkeit nach Rousseau. Zum Verlust an Freiheit bei Rousseau siehe unten Anhang 3, (xiii) und oben in 3.2.2.2 Fn. 93.
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selbst innewohnende Fähigkeit zu wählen, was nicht ohne Schuld¹¹⁰ geschehen kann, und wodurch die eigene Menschennatur in ihrer Spontaneität und Unabhängigkeit herabgewürdigt und verächtlich gemacht wird¹¹¹. Andererseits, falls das Gebotene bereits aus inneren Bewegungsgründen zu vollziehen wäre, dann brauchte man es nicht zu gebieten; und umgekehrt: Wäre der geforderte Gehorsam nicht in sich gut, mithin nicht notwendig¹¹², dann würde er einen illegitimen Anspruch ausmachen. Unter Gleichen kann sich die gesetzgebende Gewalt also allein auf die „Hochachtung der moralischen Kraft des Nötigens“ gründen: „sensus subjecti bene vel male affectio afficiendi | … potestas legislatoria non nititur amore | sed reverentia et facultate morali extorquendi“ (Bem., 062.01).¹¹³
Daher, „der Gehorsam fordert wo innere Bewe20|gungsgründe würden alles gethan haben macht Sclaven“, denn er erlegt dem Anderen eine ihm gegenüber unrechtmäßige Ungleichheit auf, die für ihn unvermeidbar einen Verlust an Freiheit bedeutet. Zu (iv) [Bem., 109.05]. Dies ist die einzige Passage, in der Kant von den „Gesetzen der Freiheit“ spricht. Diese stehen aber nicht in Zusammenhang mit der moralischen Autonomie: Dazu müssten sie sich gleichzeitig durch zwei Züge auszeichnen: Erstens sollten sie den Charakter der negativen sowie positiven Freiheit haben, was uns jeweils zum ersten Anfang und der bestimmenden Instanz der „inneren Bewegungsgründe“ unserer Handlungen macht. Und zweitens sollten sie samt den Eigenschaften¹¹⁴ der moralischen Gesetze (nomós), auch die Besonderheit des Selbermachens (autós) besitzen (was uns als Urheber unserer Bestimmungsgründe definiert). Aber die in der fraglichen Passage vorkommenden „Gesetze der Freyheit“ gehen abermals bloß auf die negative sowie die positive Freiheit zurück (was die Rousseau′sche „natürliche Freiheit“ nahelegt): Sie sind diejenigen, die uns auffordern, gemäß unserer Spontaneität unabhängig von den äußeren wirkenden Ursachen zu handeln bzw. von selbst wirksam zu sein und nach inneren Bewegungsgründen zu agieren. Also: „in so fern“ der Wille sich nicht dem Willen Anderer unterwirft und von selbst sein Handeln bestimmt, so ist
Siehe Rousseau 1755, II. Abs. 42. Siehe Rousseau 1755, II. Abs. 41 Siehe UD, 299.27– 300.02 und unten Anhang 3, (xi), (xii) sowie (ii) [besonders Bem., 053.01– 05], (iv), (ix) [besonders Bem., 129.10]. Bem., L 062.01: „Die gesetzgebende Gewalt, die Sinne des Untertans gut oder schlecht zu affizieren, beruht nicht auf der Liebe, sondern der Hochachtung der moralischen Kraft des Nötigens“. Ebenso siehe unten Anhang 3, (xvi). Die moralischen Gesetze sind in der reifen Kantischen Konzeption kategorisch, apodiktisch und allgemein.
3.2 Analytischer Teil
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er „vollkommen“ (nicht widersprechend) und „der größte Grund des Guten überhaupt“: Denn erst durch einen solchen Willen kann das Gute entstehen. Zu (xx) [Bem., 114.24]. Wie bereits erläutert, spricht Kant von der Spontaneität des Willens (d. h. seiner Fähigkeit, von selbst wirksam zu sein) als Grund seines Gutseins in sich:¹¹⁵ Es ergibt sich aus (vi) und (vii), dass Kant den Willen als die Quelle aller möglichen Wirkung und als den „Grund des Guten überhaupt“ (siehe Bem., L 118.24) konzipiert. Dementsprechend macht die „freie Willkür“ in der jetzt zu bearbeitenden Passage sowohl die „frey wirkende Ursache“ als auch die „Ursache der Möglichkeit“ alles Guten aus. Das bedeutet zum einen, dass die „freie Willkür“ der erste Anfang unserer Handlungen ist: als „frei“, im negativen Sinne der Unabhängigkeit, ist sie keiner äußeren Bedingung bzw. keiner anderen Ursache untergeordnet, wobei sie selbst keine Wirkung ist; und als „frei wirkende“ hat sie die Fähigkeit, etwas selbst hervorzubringen, nämlich Handlungen, wobei sie die Quelle aller ihrer Wirkungen ist. Die freie Willkür ist also als erster Anfang die Ursache aller anderen Ursachen in der Welt und somit verfügt sie über freie Wahl. Daher ist sie zum anderen „Ursache der Möglichkeit“ und nicht nur der Wirklichkeit alles Guten: Denn abgesehen davon, ob ein Gutes – sei es der Handlung, sei es der Folge derselben – stattfindet oder nicht, ist es nur durch die freie Willkür möglich; sie ermöglicht alles Gute.¹¹⁶ Zu (v) [Bem., 116.04]. Diese Passage deutet darauf hin, dass das Gefühl der Lust und Unlust passiv oder aktiv hervorgerufen werden kann, je nachdem, ob es durch einen äußeren, von uns ungebundenen Gegenstand oder durch uns selber als agierendes Subjekt verursacht wird. Im ersten Fall ist das Gefühl eine Wirkung des vorhergehenden äußeren Objekts: Gefällt uns dies bzw. erfüllt es unsere Erwartungen, dann haben wir daran ein Vergnügen; missfällt oder täuscht es uns in unseren Erwartungen, dann fühlen wir daran einen Verdruss. Hingegen wird das Gefühl im zweiten Fall nur dann gegenwärtig, sofern der Mensch sich seiner Freiheit bewusst ist: Dadurch erkennt er sich als aktiven Anfang („thätig principium“) seiner Handlungen und somit deren Wirkungen; denn nur er und keine andere Bedingung ermöglicht sie. Da Handlungen und Wirkungen das sind, was ein Gutes oder ein Böses ausmachen, fühlen wir Lust oder Unlust, insofern als wir
Siehe oben 3.2.2.1 und unten Anhang 3 (i, iv, vi, vii) [resp. Bem., 052.13, 109.05, L 118.19, L 125.38]. Diese Konzeption der freien Willkür wird Kant in den 1770er Jahren ausarbeiten und in der „Dialektik“ und dem „Kanon“ der KrV jeweils als Grund seiner spekulativen Freiheitslehre (siehe KrV, 363 f.//A533 f./B561 f.) und als Grund alles Praktischen, welches das Interesse der Vernunft ausmacht, darstellen (siehe KrV, 517//A795/B823 – 519.37//A800/B828). Dazu siehe unten 6.2.2.1, 6.2.2.2, 6.2.4.1, 6.3.3.
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als „frei wirkende Ursache“ (siehe Bem., 114.24) das eine oder das andere durchführen bzw. hervorbringen.
3.3 Exegetischer Teil
(1) In den Bemerkungen lassen sich tatsächlich Züge der reifen Ethik Kants erblicken: (a) Dem analysierten Zitat (xviii) [Bem., 025.14] zufolge könnte die „moralische Freiheit“ zu einem Vorbegriff der „praktischen Freiheit“ und die „metaphysische“ zu einem Vorbegriff der „transzendentalen Freiheit“ erklärt werden, so wie sie in der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft vorkommen (siehe KrV, 363.26 f.//A533 f./B561). – Diese Auslegung wird besonders durch die auch untersuchten Passagen (i, ii, iv, v, vi, viii)¹¹⁷ und Bem., 110.12¹¹⁸ unterstützt¹¹⁹. Wie gezeigt, wird dort größtenteils ein der transzendentalen Freiheit ähnlicher Freiheitsbegriff zugrundegelegt, indem Kant – sich auf die Spontaneität des Willens berufend (als Fähigkeit, erster Anfang seiner Handlungen, mithin wirksam zu sein) – des Willens Unabhängigkeit und Möglichkeit zu wählen hochschätzt. Nichtsdestoweniger ergibt sich auch aus dem Zitat (xviii), dass das oberste Prinzip des Handelns nicht nur hinsichtlich der Handlungen, sondern auch hinsichtlich ihrer Folgen wirksam sein soll: Denn ein solches Prinzip soll sowohl zur „Tugend“ als auch zur „Glückseligkeit“ führen.¹²⁰ Aus diesem Grund kann nur mit einigen Vorbehalten vertreten werden, dass die „moralische“ Freiheit in den Bemerkungen als Vorbegriff der „praktischen Freiheit“ zu verstehen sei. Damit zeigt Kant eine gewisse konsequentialistische Tendenz eudämonistischer Art, welche anscheinend in der KrV, und zwar in einer entfalteteren Form auftritt.¹²¹ Aber sie ist weder 1762 noch 1785 absehbar: Denn bereits in der Untersuchung ordnet Kant die Beförderung der eigenen Glückseligkeit durch unser Handeln der „necessitati problematicae“ unter, was keine eigent-
Bem., 052.13, 053.20, 109.05, 116.04, L 118.19 und L 125.33. Siehe 3.2.2.2 Fn. 86. Diese Passagen können gewissermaßen mit den zwei oben zitierten Passagen der Grundlegung (GMS, 393.05 und 394.13) gleichgesetzt werden. Siehe oben 3.2.2.1 Fn. 62. Insofern teile ich die Lesart Marie Rischmüllers, wenn sie annimmt, dass Kant sich in dieser Bemerkung mit „moralischer“ Freiheit auf die Entscheidungsfreiheit hinsichtlich des Verhaltens und des sich zu verschaffenden Glücks beziehe (siehe Rischmüller [Hg.] 1991, 174). Siehe unten 6.2.2.1, 6.2.2.2, 6.2.3.3.
3.3 Exegetischer Teil
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liche (moralische) Verbindlichkeit mit sich bringt (UD, 298.19). Und in seiner vollendeten Auffassung der reinen Moralphilosophie in der Grundlegung wird er zum einen die Glückseligkeit explizit außerhalb des moralischen Bereichs lassen, da sie keine Rolle bei der moralischen Bewertung einer Handlung spielen kann.¹²² Und zum anderen wird Kant nicht mehr von der „moralischen“ bzw. „praktischen Freiheit“ sprechen, sondern die „Autonomie des Willens als oberste[s] Princip der Sittlichkeit“ (GMS, 440.14) darstellen, welche sowohl die Spontaneität (autós) als auch die moralische (Selbst‐)Gesetzgebung (nomós) in sich vereint. (b) Kant fragt bereits 1764– 65 nach der Möglichkeit der moralischen Freiheit als „oberstem Prinzip“ der Moralität (Bem., 025.14).¹²³ Trotz des übrigen eudämonistischen Einflusses in Kants Moralkonzeption dieser Zeit ist die aufgeworfene Fragestellung ein zweifellos bedeutendes Merkmal: Sie deutet eine Ethik an, in der der Begriff der Freiheit zentral und grundlegend sein wird. Das bringt mit sich, dass auch andere Hauptbegriffe der Moraltheorie (in der Grundlegung), wie „Prinzip“ und „Bewegungsgrund“¹²⁴ bereits in den bearbeiteten Passagen der Bemerkungen eine bedeutsame Rolle spielen. Aber wenn wir auf diese Begriffe eingehen, so fällt auf, dass sie eher von einem frühen transzendentalen Charakter geprägt sind: Sie hängen nicht so sehr mit der Selbstbestimmung durch praktische Bewegungsgründe, sondern vornehmlich mit der Spontaneität im positiven Sinne zusammen, d. h. mit des agierenden Subjekts bloßer Fähigkeit, wirksam zu sein, und daher auch mit der Spontaneität im negativen Sinne, nämlich der Unabhängigkeit des Subjekts vom Willen Anderer. Die in den Bemerkungen skizzierte freie Willkür als „frei wirkende Ursache“ (Bem., 114.24) fungiert also für die Leser_innen des „kritischen“ Kant als Vorbegriff der „transzendentalen“ Freiheit, die erst 1781 in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft thematisiert und entwickelt wird. Deswegen mangelt es dem „Prinzip“ und dem „Bewegungsgrund“ in den Bemerkungen noch
Siehe KrV, 527 f.//A813/B841 und deutlicher in GMS, 397.01– 401.40. Der Ursprung dieser formalistischen Tendenz kann bereits in den Träumen angesiedelt werden, wo von einer Abhängigkeit unserer „Beweggründe[] […] von der R e g e l d e s a l l g e m e i n e n W i l l e n s “ als Grundlage einer „m o r a l i s c h e [n] E i n h e i t “ (TG, 335.09) gesprochen wird, wo das „sittliche Gefühl“ als eine bloße „Erscheinung“ dieser „in uns empfundene[n] Nöthigung unseres Willens“ betrachtet wird (TG, 335.13), und wo der „Widerspruch der moralischen und physischen Verhältnisse“ (TG, 335.37) angedeutet wird. Siehe unten Anhang 3, (xviii). Zum „Prinzip“ und „Bewegungsgrund“ siehe unten 7.1.2.3 und 7.1.2.4.2.
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3 Bemerkungen in den „Beobachtungen“ (ca. 1764 – 65)
sehr an der Dimension der Autonomie ¹²⁵: Weder werden sie als vom Subjekt a priori abgefasst und ihm selbst auferlegt gedacht; noch geht es Kant darum, was ein moralisches Prinzip und was ein moralischer („innerer“) Bewegungsgrund ist und auf welche Weise die Selbstbestimmung dadurch stattfindet. Obwohl diese Passage (xviii) die Frage nach der moralischen Freiheit als dem obersten Prinzip der Moral aufwirft, bleibt sie offen und deutet eher auf ein künftig zu erforschendes Feld hin. Hauptsächlich konzentriert sich Kant in dieser Zeit darauf, dass wir von Natur aus spontan sind. Die Überlegungen über die Wahlfähigkeit führen ihn zur Annahme, dass die Bestimmung nach „inneren Bewegungsgründen“ (wie nach äußeren) letztendlich stattfinden können muss. Daher konzipiert er unsere freie Willkür als „Ursache der Möglichkeit alles Guten überhaupt“.¹²⁶ Schließlich gründet sich Kants Frage nach der moralischen Freiheit als dem „obersten Prinzip“ der Moral auf die menschliche Spontaneität. Es handelt sich um ein Prinzip, welches noch nicht vermittels Bewegungsgründen „moralische Maximen“¹²⁷ anwendet. Vielmehr deuten die inneren Bewegungsgründe eher auf gegebene Möglichkeiten hin, zwischen denen das handelnde Subjekt wählen kann. Sie werden moralphilosophisch weder erwogen noch ausgearbeitet und ihnen kommt explizit keine nötigende Kraft zu. Hinzu kommt, dass sich dieses Prinzip auf die Glückseligkeit richtet. Demgemäß kann der Schluss nur retrospektiv gezogen werden, dass die gestellte Frage auf die demnächst durchzuführende Aufgabe hindeutet, nämlich aufzuklären, worin „die Regel vom guten Gebrauch der Freyheit“ bzw. die „letzte[] Bestimmung des menschlichen Geschlechts“¹²⁸ besteht. (c) Kant verdeutlicht, dass der moralische Wert in der „absoluten Vollkommenheit“ der Spontaneität des Willens liegt, und von den Wirkun-
Kant entwickelt die Autonomie erst in der Grundlegung und sie hängt eher mit der Selbstbestimmung durch „Bewegunsgründe“ und deren Verfassung (d. i. der praktischen Freiheit) zusammen als mit der Spontaneität (d. i. der transzendentalen Freiheit), obwohl sie letztere mit einschließt. Dazu siehe unten 7.3. Demgegenüber wird Kant im „Kanon“ der KrV einen Schritt hin zu seiner reifen Moralkonzeption tun, indem er die „reine[n] praktische[n] Gesetze“ als „Producte der reinen Vernunft“ definiert (KrV, 520.01//A800/B828), wobei er der praktischen Vernunft einen „konstitutiven“ Gebrauch beilegt. Siehe unten 6.2.4.1. In der Grundlegung definiert Kant die moralischen Maximen als subjektive Prinzipien des Wollens (siehe GMS, 400 Fn., 420 Fn. 2), die die Form eines Gesetzes haben und daher allgemeingültig und notwendig gelten sollen (siehe GMS, 421.07, 436.15). V-Mo, 004.07/004 und 364.22/451.
3.3 Exegetischer Teil
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gen, die diese Vollkommenheit haben mag, absieht.¹²⁹ Dieses Merkmal, das Vermögen und den Prozess der Handlungsbestimmung selbst von der möglichen bzw. wirklichen Handlung und ihren Folgen zu trennen, ist besonders nennenswert. Es geht auf die alte Entgegensetzung zwischen einer Notwendigkeit der Zwecke und einer der Mittel zurück.¹³⁰ Darin befindet sich ein erster Ansatzpunkt der formalen Ethik, in der Kant den „moralischen Wert“ nicht hinsichtlich der Handlung und ihres Zieles betrachtet, sondern ihn sowohl von ihrer Beschaffenheit, d. h. der Handlungsmaxime ¹³¹ als auch von der guten Gesinnung, d. h. der Achtung ¹³² abhängen lässt. Im Gegensatz dazu liegt der „moralische Wert“ in den Bemerkungen selbst in der Verfassung des Willens, nämlich in seiner Spontaneität, denn diese erteilt ihm die Fähigkeit, wirksam zu sein (Bem., L 118.19). Zudem stellt sich der Wille als Ursache alles möglichen Guten dar (siehe Bem., 114.24), weil er den Grund ausmacht, „das Gute zu wollen“ (Bem., 110.12). (d) In (xvii) [Bem., 022.08] und (x) [Bem., 052.05] lässt sich schon Kants spezifische Einteilung der Handlungen in „pflichtmäßige“ und „aus Pflicht“ geschehene erkennen. Erstere stimmen nur äußerlich mit der Pflicht überein (denn durch sie wird eine weitere Absicht verfolgt), während den letzteren, die aus Pflicht geschehen, ein „moralischer Wert“ zukommt, weil sie aus Achtung für das Gesetz vollzogen werden (siehe GMS, 397.14 ff.). Erstere entsprechen beispielsweise den „Belohnungen des künftigen Lebens“, die bloß „subjektive moralische Gründe“ sind und sich den „inneren moralischen Gründen“ und der „moralischen Reinigkeit“ entgegenstellen (Bem., 022.08). Letztere stimmen dagegen mit der „strengen Pflicht“ zusammen (Bem., 052.05). (e) In Bem., 110.12¹³³ und (xi) finden wir auch den Ausgangspunkt einer für die „kritische“ Moralkonzeption fundamentalen Unterscheidung, nämlich die zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Willen. Selbst in diesen Passagen der Bemerkungen ist diese Distinktion wesentlich, um zu verstehen, warum die Freiheit auch in der „kritischen“ Ethik ein den Menschen konstituierendes Merkmal ist. Die Unterscheidung gründet sich auf die empfindungsfähige Verfassung des Menschen: Da der
Siehe unten Anhang 3, (vi), die dazu parallelen Passagen (iv), (xx) und siehe Bem., 110.12, 114.12. Siehe oben 1.1.3 Siehe GMS, 397.11– 401.16, besonders 399.35 f. und 401.03. Zur Achtung siehe unten 7.1.2.4.1. Siehe oben 3.2.2.2 Fn. 86.
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Mensch „nicht hinlänglich“ (GMS, 412.35 f.) durch die Vernunft bestimmt wird, sondern ein „bedürftiges“ Wesen ist (Bem., 110.12), so spielen Neigungen und Triebe bei seinen Entscheidungen auch eine wichtige Rolle (siehe Bem., 073.10): Sie eröffnen ihm verschiedene Handlungsmöglichkeiten, zwischen denen er „wählen“ kann (Bem., 052.13). Ganz im Gegenteil dazu ist Gott nicht gleichermaßen frei: Als bloß intelligibles, nicht zur Natur zugehöriges Wesen ist er empfindungsfrei: weder leidet er unter Bedürfnissen noch kann sein Handeln Trieben und Neigungen unterworfen sein. Für ihn sind also nur jene Handlungen möglich, die völlig mit der Vernunft übereinstimmen. Insofern verfügt er über keine freie Wahl. Daher ist „das objektive Gutsein einer freien Handlung“ bei ihm „zugleich subjektiv“ (Bem., L 120.01; siehe GMS, 412.30). (2) Von allen Passagen, welche die Freiheit betreffen, treten nur in (xviii)¹³⁴ zwei Begriffe der Freiheit explizit auf: die „moralische Freiheit“ und die „metaphysische Freiheit“. Zwar werden sie nicht durch eine Erläuterung aufgeklärt. Doch in allen untersuchten Passagen zur Freiheit überwiegt der „metaphysische Freiheitsbegriff“, welcher der späteren „transzendentalen“ Freiheit korrespondiert.¹³⁵ Denn Kant spricht hauptsächlich von „Spontaneität“ und demgemäß von „inneren Bewegungsgründen“ (Bem., 052.05), „frey wirkende [r] Ursache“ (Bem., 114.24), von „thätig principio durch Freyheit“ (Bem., 116.04) und ebenso von dem vollkommenen Willen, welcher „nach den Gesetzen der Freyheit der größte Grund des Guten überhaupt ist“ (Bem., 109.05)¹³⁶. Doch angesichts dessen, dass „die menschliche Natur nicht fähig einer unmittelbaren moralischen Reinigkeit [ist]“ (Bem., 022.08), geht es Kant darum, zu sehen, „wie weit die inneren moralischen Gründe einen Menschen bringen [können]“ (Bem., 022.08)¹³⁷ bzw. „wie die Freyheit im eigentlichen Verstande (die mora|lische nicht die metaphysische) das oberste Principium aller 15| Tugend sey und auch aller Glückseeligkeit“ (Bem., 025.14)¹³⁸. Wie lässt sich dann eigentlich in diesen Passagen die „moralische Freiheit“ verstehen?
Siehe oben 3.2.3.1 u. unten Anhang 3, (xviii). Siehe oben 3.3 (1) (b). Siehe unten Anhang 3, resp. (x), (xx), (v) und (iv). Siehe unten Anhang 3, (xvii). Siehe unten Anhang 3, (xvii, xviii).
3.3 Exegetischer Teil
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Einesteils würde der implizite Freiheitsbegriff in den Passagen Bem., 053.01 und 110.12¹³⁹ vornehmlich der „moralischen Freiheit“ entsprechen. Denn zum einen stellt Kant einen Willen vor, welcher: (1) als gut „sich nicht selbst aufheben [muß]“ (Bem., 053.01); und (2) als „vor sich gut […] alles will was | zu seiner Vollkommenheit (Vergnügen) beyträgt“; und als „vors Gantze“ gut „zugleich | aller Vollkommenheit begehrt“ (Bem., 110.12). Das heißt, das Gutsein des Willens hängt davon ab, dass er gewissen Normen folgt, (1) kraft derer er sich nicht widersprechen kann; (2) kraft derer er sich als „Grund das Gute zu wollen“ zeigt (Bem., 110.12). Also weil sich der gute Wille beim Wollen und Handeln nach jenen gewissen Normen richten muss, könnte man von einem impliziten Begriff der „moralischen Freiheit“ sprechen, welcher als Vorbegriff der „kritischen“ praktischen Freiheit fungieren würde. Denn diese Normen würden als „innere Bewegungsgründe“ fungieren, nach welchen man sich bestimmt. Anderenteils beruhen das Wollen und Handeln eines derartigen guten Willens in der Gesamtheit der bearbeiteten Passagen zur Freiheit darauf, „der freyen Willkür alles zu subordiniren“ (Bem., 114.24). Denn streng genommen kann „das objektive Gutsein“ allein „kategorisch“, d. i. unbedingt (Bem., L 120.01– 08), mithin frei sein. In diesem Sinne ist auch die Passage Bem., 116.19 zu lesen: „Weil die großeste … innere Vollkommenheit | und daraus entspringende Vollkommenheit in der 20| Unterordnung der gesamten Vermögen und Empfänglichkeiten | unter der freyen Willkühr besteht so | muß das Gefühl vor die Bonitaet der | Willkühr unmittelbar weit anders und auch | größer seyn als alle die gute Folgen die dadurch 25| können actuirt werden“.
Diese Subordination von allem unter der freien Willkür zeigt, dass Kant eine Ordnung aufnimmt, die jene gewissen Normen liefern soll. Trotzdem liegen all diese Ansätze zur moralischen Freiheit weit entfernt von der entfalteten „kritischen“ praktischen Freiheit der Grundlegung, d. i. der Autonomie. Denn es steht zwar in den Bemerkungen fest, dass der Wille aufgrund seiner Spontaneität nicht der Knechtschaft (Anderen gegenüber) verfallen soll und, wenn er gut ist, sich nicht widersprechen, sondern „aus inneren Bewegungsgründen“ handeln soll. Aber diese inneren Bewegungsgründe werden in keiner Passage der Bemerkungen den Status von moralischen „Normen“, „Vor Siehe resp. unten Anhang 3, (ii) u. oben 3.2.2.2 Fn. 86.
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schriften“, „Maximen“ oder „Imperativen“ bekommen, weshalb ihnen der nötigende Charakter fehlt. Ebenfalls lässt sich in keiner Passage ersehen, dass der gute Wille sich selbst nach eigenen Gesetzen bestimmen, d. h. autonom sein soll, somit dass jene „Unterordnung“ selbst „der gesamten Vermögen und Empfänglichkeiten unter der freyen Willkühr“ nach eigenen Gesetzen geschehen soll¹⁴⁰. Obwohl Kant von „objektiver Notwendigkeit“ spricht, welche „kategorisch“ ist (Bem., L 120)¹⁴¹, und die unterschiedlichen Arten von Pflichten erwähnt, nämlich die moralischen (darunter die moralisch spontane „Liebespflicht“ und die moralisch erzwungene „Schuldigkeit“) und die rechtlichen (d. i. den „politischen Zwang“) (Bem., L 129.04)¹⁴², setzt Kant weder die drei Faktoren des Dreiklangs „objektive Notwendigkeit“ (Bem., L 120.01), „Liebespflicht“ bzw. „Schuldigkeit“ (Bem., L 129.01) und „innere Bewegungsgründe“ (Bem., 022.08, L 052.05) in reziproke Verbindung noch spricht er die inneren Bewegungsgründe als „Gesetze“ an. Höchstens findet man vor: (1) den Zusammenhang von zwei der drei genannten Faktoren, nämlich die in sich gute Handlung einer Verpflichtung unterliegend (siehe Bem., L 120.10), da das Gute mit dem Notwendigen identifiziert wird (siehe Bem., L 120.01, L 125.04); (2) den Satz vom Widerspruch: Unser Wille könne „sich nicht (objektiv) widersprechen“, da unsere Handlungen von ihm „gänzlich abhängen“ (Bem., L 129.19); darüber hinaus verlegen wir aufgrund unserer geselligen Natur alles, was wir tun, in Andere, somit in den allgemeinen Willen, so dass „[wir] ehrlicherweise das in uns nicht gutheißen [können], was wir bei andern tadeln“ (Bem., L 125.27); daher (3) das Notwendige, welches sich eben aus dieser Projektion des allgemeinen Willens auf unseren eigenen Willen ergibt (siehe Bem., L 129.09). Im Grunde genommen sieht Kant das Gutsein des Willens nicht darin, dass er gesetzgebend, mithin selbstbestimmend ist; sondern darin, dass der Menschenwille spontan, mithin fähig ist, „Ursache der Möglichkeit“ alles „Guten überhaupt“ zu sein (Bem., 114.24, 109.05), und sich daher weder nach der Willkür Anderer zu richten braucht, noch sich objektiv widersprechen kann (siehe Bem.,
Das Zitat (xvi) ist die einzige Passage, in der Kant von der Gesinnung der Handlungsbestimmung aus Rechtsgründen spricht. Es handelt sich also um Handlungen, die „von anderen erzwungen“ werden, nicht um moralische Handlungen, die durch innere Gründe erzwungen werden. Siehe oben 3.2.2.2 (2). Siehe oben 3.2.2.2 (4).
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052.13, 075.02). Ebenso betrachtet Kant noch nicht die Handlung als Resultat einer Maxime, aus welcher der „moralische Wert“ der Handlung eigentlich beurteilbar ist. Vielmehr ist die Handlung selbst das, was angesichts des allgemeinen Willens beurteilt bzw. bewertet wird – sei sie „äußerlich moralisch unmöglich (unerlaubt)“ (Bem., L 129.12), sei sie möglich und erlaubt.
3.3.1 Kritische Anmerkungen Trotz der wichtigen Rolle von eigentümlichen Begriffen der späteren „kritischen“ Ethik in den Bemerkungen – wie dem Willen und seinen Arten, dem Widerspruch und dessen Unmöglichkeit in objektiver, praktischer Hinsicht, der Notwendigkeit einer Handlung und ihren Arten und der Freiheit als Spontaneität des menschlichen Handelns und der damit verbundenen Fähigkeit, aus inneren Bewegungsgründen zu agieren, ist Kants Unreife im Hinblick auf die „kritische“ Wendung noch bedeutsam. (1) Das ergibt sich vornehmlich aus dem Mangel an Präzision des Sprachgebrauchs, der gewissermaßen auch auf die fehlende Form des Textes und seinen flüchtigen Notizcharakter zurückzuführen ist: (a) Auffallend ist beispielsweise der Gegensatz „absolute Vollkommenheit/ bedingte Bonitaet“ (Bem., L 118.19) statt „unbedingter Bonitaet/bedingter Bonitaet“, wie gewohnt. Stattdessen greift Kant mit „absoluter Vollkommenheit“ auf eine redundante Redeweise zurück, indem „Vollkommenheit“ bereits das Gute im höchsten, d. i. „absoluten“ Grad subsumiert¹⁴³. Bemerkenswert ist auch, dass das Adjektiv „unbedingt“ keinmal in den Bemerkungen vorkommt.
Die Ausdrücke „nicht absolute Vollkommenheit“ oder „relative Vollkommenheit“ wären absurd, denn etwas ist entweder vollkommen oder eben nicht. Die Grade der Vollkommenheit beziehen sich eher auf die Annäherung an die Vollkommenheit und auf die Tätigkeit des Sichvervollkommnens. Gemäß der scala naturae offenbart sich die Vollkommenheit in jedem Wesen in einer bestimmten Form je nach seiner Natur. Ebenso kann sich die Vollkommenheit auch in verschiedenen Ebenen (Vermögen) ein und desselben Wesens befinden; dann spricht man von „physischer“, „moralischer“, „intellektueller“ Vollkommenheit usw. Jedoch ist die Vollkommenheit in jeder dieser Ebenen wie in jeder Art Wesen immer nur eine einzige. Also entweder besitzt man sie oder nicht, aber sie ist nicht in unterschiedlichen Graden vorhanden. Hingegen ist es nicht absurd von der „Bonität“ (bzw. dem „Gutsein“) auszusagen, dass sie „bedingt“, „unbedingt“, „absolut“ bzw. „nicht absolut“ ist. In diesem Sinne hätte sich Kant besser ausgedrückt, wenn er sich für diese Redeweise entschieden hätte. Möglicherweise geht die unscharfe Redeweise Kants auf Plato zurück, bei dem etwas in höherem oder niedrigerem Grad vollkommen ist, je
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(b) In der Reihe der Ausdrücke, die uns Kants Unreife enthüllen, ist das „objektive bedingte Gutsein einer freien Handlung“ (Bem., L 120.01, L 125.04) zu finden. „Objektiv“ und „frei“ haben bei der zitierten Passage der Bemerkungen eine weite Bedeutung: So ist z. B. die Arbeit als Beruf eine objektive, bedingte, freie Handlung, weil sie (aa) nicht dem bloß persönlichen Geschmack und Bevorzugen unterliegt, mithin nicht bloß subjektiv ist; (bb) generell primär um eines anderen Zieles willen durchgeführt wird, nämlich sich durchzubringen; (cc) (gewissermaßen oder absolut) gewählt werden kann. Aber retrospektiv betrachtet (wenn man die Vorgaben der Grundlegung vor Augen hat) und sogar dem Zusammenhang zufolge scheint die Redeweise widersprüchlich, denn ein „bedingtes Gutsein“ kann immer nur relativ sein: Es hängt von der Erfüllung einer Bedingung, d. i. einer Handlung als eines „Mittels“ ab. Aus demselben Grund kann eine „freie Handlung“ sensu stricto nicht bedingt sein, denn eine derartige wird für sich selbst ausgeführt (und nicht, wie eine bedingte, als Mittel einer zu erfüllenden Absicht).¹⁴⁴ (2) Ebenso zeigt Kant noch eine der Grundlegung entfernte moralphilosophische Position: (a) Während in den Bemerkungen die bloße naturgemäße Spontaneität die Vollkommenheit des Willens ausmacht und diese Vollkommenheit „moralisch genannt wird“ (Bem., L 118.19), unterscheidet sich in der Grundlegung der „innere Wert“ eines Wesens (bzw. Gegenstandes) vom „moralischen Wert einer Handlung“: Ersterer bezeichnet das „In-sich-gut-Sein“ des Wesens und charakterisiert besonders den Willen, aber auch jedes Wesen, welches als ein „Zweck an sich selbst“ sich selbst bestimmen kann. Hingegen bezieht sich der „moralische Wert einer Handlung“ direkt auf den Prozess der Willens- und
mehr oder je weniger es der Idee ähnlich ist (siehe MSI, AA 02: 396.11). Dazu siehe Kühn 1995, 378, der auf diese „Platonic conception of morality“ in der Dissertatio hinweist. Tatsächlich wird Kant die Grundlegung von dieser ungenauen Redeweise befreien und sich mit der „objektiven Notwendigkeit“ allein auf die „moralische“ bzw. „praktische“ Notwendigkeit beziehen, die bei Menschen auf eine moralische „Verbindlichkeit“ hindeutet (siehe GMS, 434.07, 439.24). – Trotzdem könnten wir die in den Bemerkungen nicht geschilderte „Notwendigkeit der Geschicklichkeit“, obwohl bedingt, auch als objektiv bezeichnen: bedingt, weil sie aus der Setzung eines nicht absolut notwendigen Zieles entsteht; aber objektiv, weil die gebotene Handlung (als Mittel) zur Erreichung des vorausgesetzten Zieles objektiv notwendig ist (z. B. die Konstruktion eines zweidimensionalen Dreiecks fordert, dass die Summe der Innenwinkel immer 180° beträgt).
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Handlungsbestimmung¹⁴⁵. Die Besonderheit der „kritischen“ Ethik besteht also darin, dass Kant alles andere ausblendet und einzig den Willen und seine Bestimmung in den Mittelpunkt rückt: Wenn die Ethik die Gültigkeit einer wissenschaftlichen Disziplin haben soll, muss sie sich mit dem „moralischen Wert der Handlungen“ beschäftigen; also soll dieser objektiv einzuschätzen sein. Deswegen dürfen die Folgen der Handlung nicht erwogen werden bzw. sie sollen den Bestimmungsgrund der Handlung nicht ausmachen. Denn dann würde die Handlung nicht aus inneren, sondern aus äußeren Bewegungsgründen durchgeführt werden und nur subjektiv bewertbar sein. (b) Zwar unterscheidet Kant zwischen Liebespflichten und Schuldigkeit, einerseits, und politischem Zwang, andererseits (siehe Bem., L 129.01, L 143.01, L 143.15)¹⁴⁶, sowie implizit zwischen Handlungen aus inneren und äußeren Bewegungsgründen (siehe Bem., 052.05, 053.01)¹⁴⁷ wie auch zwischen der Unterordnung unseres Willens unter den Willen Gottes und den Willen eines Gleichen (siehe Bem., 052.05). Aber eine systematische Einteilung der pflichtgemäßen Handlungen in bloß pflichtgemäß und aus Pflicht geschehend (siehe GMS, 397.19 ff.), somit aus äußeren (Triebfedern) oder inneren Bewegungsgründen (siehe Bem., 427.19 f.) erfolgt noch nicht. (c) Konzentrieren wir uns auf die Passage (vii) [Bem., L 125.18], dann ist es noch Folgendes zu bemerken: (c1) Die richtige moralische Beurteilung einer Handlung wird auf ein „Gefühl des Rechts“ gegründet, dessen Grund die „Natur des menschlichen Geistes“ ist. Im Gegensatz zu M. Rischmüllers Interpretation¹⁴⁸ lässt diese Passage den Schluss zu: Auf das Gefühl und die intuitive Seite des Menschen zurückgreifend (unter Rousseaus Einfluss¹⁴⁹) verfügt Kant über ein „heuristisches Mittel“ für die Entdeckung des allgemeinen Willens und die Erklärung seiner verbindlichen Macht: Gemäß seiner Natur versetzt sich der Mensch an die Stelle Anderer und, In dieser Hinsicht kann im ersteren Fall von der Menschenwürde in weitem Sinne, im zweiten Fall von der Menschenwürde in engerem Sinne gesprochen werden. Dazu siehe Román-Maestre/ Gutiérrez-Xivillé 2008, 432 f., siehe unten 7.1.2.4.2 (e.2). Siehe unten Anhang 3, (ix), (xv), (xvi). Siehe unten Anhang 3, (x), (ii). Rischmüller (Hg.) 1991, 199, vertritt in ihrem Kommentar, dass Kant zur Zeit der Bemerkungen, nämlich 1764– 65, noch die Mittel dafür fehlen, zu bestimmen, wie der allgemeine Wille gefunden und verbindlich werde. Dazu siehe oben 2.3 Fn. 46, 3.2.2.1 Fn. 60 und Höffding 1898, 18: Rousseau „[führt] ihn [sc. Kant] dazu, […] ein grosses Gewicht auf die Gefühlsseite der Menschennatur im Gegensatz zur Verstandesaufklärung zu legen“.
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(c2)
(c3)
durch das grundlegende Gefühl der „natürlichen Bonität“¹⁵⁰ unterstützt, nimmt er den Standpunkt eines jeden Anderen überhaupt ein, mithin den des allgemeinen Willens. Daher „können [wir] ehrlicherweise das in uns nicht gutheißen, was wir bei andern tadeln“. Eine solche Begründung hängt aber eher der Linie von Kants Beobachtungen und „kritischen“ geschichtlichen Schriften¹⁵¹ an als dem Gedankengang der „kritischen“ Moraltheorie. Denn, während bei dieser die Frage lautet: „Wie soll ich handeln?“, ist der Ansatzpunkt bei jenen die (schwache) Natur des Menschen als gefühlsbegabtem Wesen¹⁵² und die Zweckmäßigkeit der Natur. Letztere bietet zur Zusammenfassung der großen Mannigfaltigkeit unter die Einheit (siehe GSE, 227.33) unterschiedliche Unterstützungspunkte – sei es die Religion (siehe Bem., 022.08 und siehe V-Mo, 062.06/077), seien es die „adoptierten Tugenden“ und der „Tugendschimmer“ (siehe GSE, 215.24– 218.33) oder sei es eine „stetig fortgehende, obgleich langsame Entwicklung der ursprünglichen Anlagen“ der Menschen nach der „Naturabsicht“ (IaG, AA 08: 017.10); Diesem „Gefühl des Rechts“ bzw. „Gemeinsinn des Guten und Bösen“ wird die Befugnis zugeschrieben, dem Menschen im Moralischen ein „Kriterium des Guten und Bösen“ zu verschaffen (analog zu dem „Kriterium des Wahren und Falschen“ in der theoretischen Erkenntnis). Aber dies würde Kant selbst in seiner späteren Auffassung nicht einräumen. Denn in der Moralität verfügen wir höchstens über ein „Richtmaß“ oder eine „Richtschnur“ (den kategorischen Imperativ), keineswegs über ein Kriterium im strengen Sinn, das auf eine klare und deutliche Erkenntnis zurückgeht und weitere sichere Erkenntnis ermöglicht und stiftet (siehe GMS, 403.34; 430.31)¹⁵³; Einerseits behauptet Kant: die falsche Aussage sei „doch eine Lüge, wenn nicht eine strikte Verpflichtung dazu nötigt“ (Bem., L 125.18); und andererseits erklärt er die Handlung, die sich aus dem Widerspruch mit
Rousseau zufolge bewirkt das Gefühl der natürlichen Bonität vor dem Leiden unseres Mitmenschen auf uns eine angeborene Widerlichkeit, aus der das Mitleid entspringt. Dank seiner kann unsere Gattung über Jahrzehnte lang erhalten bleiben. Siehe Rousseau 1755, I. Abs. 32– 36. Besonders Idee einer allgemeinen Geschichte in Weltbürgerlicher Absicht (1784). Bem., 027.11: „Vor ein so schwach Geschöpf wie der Mensch ist die theils | nothwendige theils willkürliche Unwissenheit des Künftigen | sehr geziemend“. Zum kategorischen Imperativ als Richtmaß bzw. Richtschnur siehe unten 7.1.2.4.1 (c), 7.1.2.4.2 (e.3).
3.4 Schluss
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dem „allgemeinen Willen des Menschen“ ergibt, als „äußerlich moralisch unmöglich (unerlaubt)“ (Bem., L 129.12).¹⁵⁴
3.4 Schluss Warum schreibt man sich Notizen auf? Nach der Bearbeitung der Bemerkungen ist eine annähernde Antwort auf diese prinzipielle Frage möglich: Es kann wohl sein, dass man sich für ein einziges Thema interessiert und ihm eingehende Gedanken bewusst widmet. Es kann aber auch sein, dass dem Autor verschiedene Denkanstöße unterschiedliche Themen betreffend spontan einfallen; er möchte sie nicht vergessen. So sollen sie zunächst fixiert werden, damit man später darüber reflektieren und vielleicht daraus etwas konstruieren kann¹⁵⁵. Auf jeden Fall hat man dabei immer noch das weitere Ziel vor Augen, die Ideen, die einem kommen, zu explizieren. Man strebt also danach, die Gedanken zu ordnen, oder anders ausgedrückt, im Kopf klar zu werden. Denn beim Aufschreiben unserer Gedanken, gelingt es uns, u. a. aus der Finsternis zu kommen, in der jene üblicherweise entstehen, und ihnen eine gewisse Form zu verschaffen. Hinske¹⁵⁶ spekuliert mit der „Vermutung“, Kant möchte die Vorarbeiten für eine ganz andere Dissertation von 1770 vorbilden, nämlich in Hinblick auf die Professur für Moralphilosophie. Diese These sieht sich aber durch die in den Bemerkungen noch zentrale, doch in den Träumen bereits durch die moralische „Nöthigung“ überwundene Rolle des moralischen Gefühls nicht unterstützt. Kants Bemerkungen scheinen insgesamt eine Kompilation spontaner Ideen auszumachen, unter welchen sich auch tiefere Reflexionen befinden. Denn sie betrachten, normalerweise in Absätzen von wenigen Zeilen (die oft auch keinen vollständigen Satz bilden), eine Vielfalt von Themen – von philosophischen bis zu physikalischen, anthropologischen oder auch literarischen. Zwar gehen sie punktuell auf etwas entwickeltere Gedanken ein, welche in längeren Absätzen abgefasst werden. Trotzdem kommen letztere keinesfalls in einer thematischen Ordnung vor, die uns behaupten lässt, dass Kant sich in isolierter Weise mit allen seinen intellektuellen Interessen beschäftigt hätte.
Vergleiche GMS, 397.21, 422.15, 429 f.29, wo die Lüge einen Verstoß gegen die strenge Pflicht der Wahrhaftigkeit den Anderen gegenüber ausmacht. Ebenso wird Kant von „jede[r] vernünftige [n] Natur überhaupt“ (GMS, 408, 412, 430), nicht vom „allgemeine[n] Wille[n] des Menschen“ sprechen. Zu demselben Schluss kommt Rischmüller (Hg.) 1991, 230; ebenso siehe Adickes (Hg.) 1911, AA 14: XVIII. Vergleiche Hinske (Hg.) 2007, XXII.
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All diese Aspekte sind für die richtige Interpretation der Bemerkungen im Besonderen und in Bezug auf die Entwicklung der Philosophie Kants von Bedeutung. Denn es deutet zwar der Inhalt jeder Bemerkung auf einen konkreten Gedanken hin. Aber die Ordnung der Notizen, nämlich ob sie in einer bestimmten Reihenfolge aufgeschrieben wurden, und ob sie sich auf irgendeine Weise einteilen lassen, somit die Form dieses schriftlichen Zeugnisses im Ganzen, verbirgt den Leser_innen nicht nur eine bestimmte theoretische Absicht des Autors, falls er eine hatte, sondern auch seine philosophische Reife. Meines Erachtens liegen die Schwächen der Interpretation Henrichs sowie Schmuckers grundsätzlich darin, dass sie nicht auf die Form der Bemerkungen achten. Angesichts der Schwierigkeiten in der Auseinandersetzung mit diesen Texten begehen die Leser_innen der Bemerkungen leicht den Fehler, sie von dem bekannten „kritischen“ Kant her zu lesen: Man sucht unbewusst Wegweiser und Stützpunkte, die einem mit der exegetischen Aufgabe helfen. Das bringt mit sich, dass uns die Ähnlichkeiten mit den späteren und besser bekannten Werken Kants ins Auge fallen oder uns bedeutsamer erscheinen, während die davon abweichenden Züge unauffällig bleiben oder für unwichtig gehalten werden. Nur so sind folgende Schlüsse Henrichs bezüglich der Bemerkungen möglich: „Nun erwies es sich, daß die Ethik nicht nur in ihren Thesen über „Tugenden und Laster“, sondern in wichtigen systematischen Grundzügen lange vor der Dissertation nahezu vollendet war„¹⁵⁷. „Das zeigt sich am deutlichsten im Kantischen System von 1765. In der Preisschrift ist die Vermittlung der formalen und materialen Grundsätze nicht gelungen. Wenig später hat Kant jedoch das formale Prinzip gefunden, das inhaltlich fruchtbar ist und das auch unmittelbar angewendet werden kann: die Formel des kategorischen Imperativs von der Allgemeinheit des Willens[¹⁵⁸]. Für die Kantforschung war es besonders nachteilig, daß die für das Verständnis der Kantischen Entwicklung so entscheidenden lateinischen Anmerkungen aus dem Handexemplar der Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen erst im Jahre 1942 bekannt wurden. […] Die in den ersten beiden Abschnitten der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten entwickelte Theorie ist im großen und ganzen bereits damals in seinem [sc. von Kant] Besitz gewesen. Lediglich die transzendentale Begründung der sittlichen Einsicht ist noch nicht zu seiner Zufriedenheit gelungen„¹⁵⁹.
Henrich 1965, 256. Vergleiche Schwaiger 1999, 71, der eine sich mit dem kategorischen Imperativ deckende Formulierung in den Bemerkungen zwar zurückweist, aber „das spätere Moralprinzip […] sozusagen in statu nascendi […] beobachten“ möchte – was mir nicht gelungen ist. Henrich 1957– 58, 65 f.
3.4 Schluss
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Kant erwähnt zwar unterschiedliche Arten von Pflichten, aber setzt sie, wie gesehen, nicht zugleich in Verbindung mit der objektiven Notwendigkeit und den inneren Bewegungsgründen. Ihrerseits sind letztere bloß Ausdruck und Folge der Spontaneität und Unabhängigkeit des Menschen, aber keinesfalls sind die inneren Bewegungsgründe Quelle des „moralischen Werts der Handlung“; noch viel weniger deuten sie auf ein Subjekt hin, welches ein Zweck an sich selbst ist und nach eigenen und zugleich allgemeingültigen Gesetzen seinen Willen bestimmt. Ebenso ergibt sich aus den Passagen über den Selbstwiderspruch und dessen objektive Unmöglichkeit keinerlei Prinzip des Handelns im strengen Sinn und erst recht nicht der kategorische Imperativ. Ferner, überblickt man die Bemerkungen als ganze, ist es völlig unzutreffend, von einem „Kantischen System von 1765“ zu sprechen. Wie oben angedeutet, erlaubt dies schon die bloße Form des Textes nicht: Denn die die Moralphilosophie betreffenden Notizen wurden nicht in einer sinnvollen Reihenfolge aufgeschrieben, die sich begreifen und einteilen lässt, sondern sie befinden sich – wie alle anderen Aufzeichnungen – im Exemplar verstreut. Darüber hinaus enthüllt die hier angeordnete und bearbeitete Reihe von Zitaten, dass Kant noch keine definitive Einstellung zur Ethik hatte. Das ist insbesondere bezüglich des moralischen Gefühls hervorzuheben: Demgegenüber verhält sich Kant zwar kritisch, doch er teilt ihm immer noch eine grundlegende Rolle bei der Handlungsbestimmung zu. Letztlich liegt seiner Konzeption der Moralität die Fähigkeit zugrunde, sich an die Stelle Anderer zu setzen¹⁶⁰. Es ist unleugbar, dass die Ethik für Kant bereits in den 1760er Jahren von größtem Interesse war. Belege dafür sind nicht nur die letzten Seiten der Preisschrift 1762 und die hier betrachteten Passagen der Bemerkungen, sondern auch¹⁶¹ der Brief Hamanns an Lindner vom 1. Februar 1764: „Er [sc. Kant] hat eine Menge Arbeiten im Kopf: Sittlichkeit“¹⁶². Ebenso übergab Kant bereits Ende 1765 dem Buchhändler Kanter die Metaphysischen Anfangsgründe der praktischen Weltweisheit, die aber nie veröffentlicht wurden¹⁶³. Kant befand sich in einer sehr frühen Phase seiner moralischen Reflexion: Zwar war er Mitte der 1760er Jahre durch Rousseau und die gegenwärtige Debatte¹⁶⁴ stark belebt und begann seinen
Bem., 129.28: „Zur Moralitaet gehört Stationes zu machen“. Dazu auch Bem., L 136.18: „statio moralis vel per instinctum. Sympathia vel misericordia | vel per intellectum |“. Für einen Ausblick auf die chronologische Entwicklung des Interesses Kants an der Moralphilosophie siehe Vorländer (Hg.) 1906, VIIf. und besonders Natorp (Hg.) 1913, AA 05: 489 – 498. Vorländer (Hg.) 1906, VIIf. Laut Vorländer (Hg.) 1906, VIIf hatte Kanter 1765 das Buch „unter dem ‚etwas verfälschten’ Titel: ‚Kritik des moralischen Geschmacks’“ im Katalog der Michaelismesse als nächstfolgende Veröffentlichung angezeigt. Dies lassen auch die Ähnlichkeiten mit Adam Smith vermuten.
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3 Bemerkungen in den „Beobachtungen“ (ca. 1764 – 65)
eigenen Weg als Moralphilosoph zu erforschen und aufzusuchen. Aber mit der durchgeführten Untersuchung habe ich gezeigt, dass er noch kein „selbständiger Theoretiker der Moralität“¹⁶⁵ war.
Vergleiche Henrich 1963, 405.
Schlüsse zum Ersten Teil Es lassen sich folgende Ergebnisse zusammenfassen: In der Untersuchung 1762 sind hauptsächlich vier wichtige Punkte aufzuzählen: (1) Die Ethik gründet sich auf den Verbindlichkeitsbegriff; das verschafft ihr eine „oberste und allgemeine Formel“ und philosophische Gewissheit (UD, 298.04). (2) Kant prägt die Unterscheidung zwischen der „bedingten Notwendigkeit der Mittel“ und der „unmittelbaren Notwendigkeit der Zwecke“ neu (siehe UD, 298.14). Jene macht die Formeln der „Geschicklichkeit“ aus (UD, 299.07) und enthält Vorschriften sowohl zur „Auflösung“ eines „Problems“ (UD, 298.18) als auch zur Beförderung eigener Glückseligkeit (siehe UD, 298.21). Hingegen stiftet die Notwendigkeit der Zwecke die Verbindlichkeit, deren „Regel und Grund […] die Handlung als unmittelbar nothwendig und nicht unter der Bedingung eines gewissen Zwecks [gebietet]“. So wird die verbindliche Handlung nicht als Mittel hinsichtlich gewisser Vorteile, sondern als bloßer Zweck betrachtet. Die Bestimmung einer solchen Handlung sieht also von ihren möglichen Folgen ab. Diese Trennung in der Handlungsebene des Sollens von den übrigen Zielen, die eine Handlung haben mag, wird den Weg Kants zur formalen Ethik prägen und der „späteren Gegenüberstellung von hypothetischem und kategorischem Imperativ“¹ zugrunde liegen. (3) Der Zusammenhang zwischen dem Guten und dem moralischen Sollen wird festgesetzt, sofern die an sich gute Handlung notwendig und somit verbindlich ist (siehe UD, 299.34). Diese Identifizierung des Guten mit dem Notwendigen wird in den Bemerkungen gestärkt (Bem., L 120.01, L 125.04). (4) Der Mensch wird als ein mit Verstand und Gefühl begabtes Wesen angesehen, wobei er das Gute empfinden und erkennen kann (UD, 299.19). In den Beobachtungen 1764: (5) wird hingegen dem Empfindungsvermögen und den davon herrührenden Gefühlen ein bloß subjektiver Wert zuerkannt (siehe GSE, 207.04, 225.25). (6) Das moralische Handeln ergibt sich nur aus allgemeinen Grundsätzen², wobei die subjektive „moralische Sympathie“, somit die Gefühle (z. B. Mitleid, Gefälligkeit) – aller Allgemeingültigkeit mangelnd – zu keiner moralischen
Foerster 1893, 10. GSE, 217.11: „Demnach kann die wahre Tugend nur auf Grundsätzen gepfropft werden“ (siehe GSE, 215.24, 218.01). https://doi.org/10.1515/9783110584288-007
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Schlüsse zum Ersten Teil
Handlung führen können (siehe GSE, 215.29)³. Auf diesen Gedanken wird sich Kant in der Vorlesung stützen, wo er das principium executionis, d. h. die moralische Triebfeder (darunter auch das moralische Gefühl) ablehnt.⁴ In den Bemerkungen 1764/65 werden mehrere Überlegungen auftauchen, die für die spätere Entstehung der Grundlegung relevant sind: (7) Erstmals wird die Idee der Freiheit moralisch betrachtet und der menschliche Wille als moralisch agierende Instanz typisiert: Der Menschenwille wird als spontan, unabhängig und der Wahl fähig konzipiert. Aufgrund seiner Fähigkeit, sich nach inneren Bewegungsgründen zu richten und wirksam zu sein, d. h. als „thätig principium durch Freyheit vom Guten und Bösen“ (Bem., L116.04) wird der Menschenwille als an sich gut ausgezeichnet (Bem., L 118.19). Dieser Gedanke wird im ersten Satz der Grundlegung ⁵ ausgeführt werden. (8) Eben wegen dieser Verfassung des Menschenwillens, die eng mit dem Vernünftigsein und dem Selbstbewusstsein verknüpft ist, ist bei ihm der objektive Selbstwiderspruch unmöglich: Es ist „unrechtmäßig“, sich dem Willen Anderer zu unterwerfen (Bem., L 118.19), die sich nach eigenen „Trieben und Neigungen“ richten (Bem., 073.10).⁶ Das Handeln des „Privatwillens“ soll mit dem allgemeinen, also mit allen möglichen Willen und mit sich selbst übereinstimmen. In der Grundlegung wird der Selbstwiderspruch auf der Ebene des Denkens angesiedelt⁷, während der Widerspruch des
GSE, 225.25 passim 226.14: „Man thut einander zwar Unrecht, wenn man denjenigen, der den Werth, oder die Schönheit dessen, was uns rührt, oder reizt, nicht einsieht, damit abfertigt, daß er es nicht verstehe. Es kommt hiebei nicht so sehr darauf an, was der Verstand einsehe, sondern was das Gefühl empfinde. […] Allein welche Thorheit ist es, sich in einen solchen Streit einzulassen, wo es unmöglich ist sich einander auf einstimmige Empfindungen zu führen, weil das Gefühl gar nicht einstimmig ist!“. Dazu siehe unten 5.2.2. GMS, 393.05: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“. Siehe oben 3.2.2.1 die begründete Rechtfertigung der Unmöglichkeit des objektiven Selbstwiderspruchs, die Kant neben dem „heuristischen Mittel“, sich durch das „Gefühl des Rechts“ an die Stelle Anderer zu versetzen, liefert. GMS, 424.10: „Einige Handlungen sind so beschaffen, daß ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als allgemeines Naturgesetz gedacht werden kann; weit gefehlt, daß man noch wollen könne, es sollte ein solches werden. Bei andern ist zwar jene innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch unmöglich, zu wollen, daß ihre Maxime zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde“.
Schlüsse zum Ersten Teil
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Wollens eigentlich ein „Widerstand der Neigung gegen die Vorschrift der Vernunft“ ist (GMS, 424.29). (9) Die Konzeption des Menschen als eines „bedürftigen“ (Bem., 110.12), empfindungsfähigen Wesens wird durch die Unterscheidung des „menschlichen Willens“ vom „göttlichen“ und „allgemeinen Willen“ deutlicher: Während das objektiv gute Handeln bei Gott „zugleich subjektiv“ ist (Bem., L 120.01), „[ist] die menschliche Natur nicht fähig einer unmittelbaren moralischen Reinigkeit“ (Bem., 022.08). Triebe und Neigungen öffnen verschiedene, nicht mehr reine Handlungsmöglichkeiten. So kann der Mensch zwischen vernünftigen und sinnlichen Gründen „wählen“ (Bem., 052.12). Das moralische Handeln ist also kraft der zugleich vernünftigen Natur im Menschen möglich. Dazu soll er sich aber auf „übernatürliche Weise“ (Bem., 052.12), d. h. durch Prinzipien der Vernunft bestimmen. In dieser Abstraktion von der eigenen empirisch determinierten Natur ist der spätere Formalismus zu erkennen. (10) Die aus der Untersuchung bekannte „bedingte Notwendigkeit“ (oder „Bonität“) einer Handlung⁸ wird nun erstmals der „kategorischen Notwendigkeit“ entgegengesetzt und auch erstmals in „problematische Notwendigkeit“ und „Notwendigkeit der Klugheit“ (Bem., L 125.04) eingeteilt. Die beiden letzteren bestimmen die notwendigen Mittel zur Erreichung eines „begehrten“ Zieles, das im ersten Fall ein „mögliches“, im zweiten ein „wirkliches“, d. h. durch „Triebe“ begehrtes Ziel ausmacht. Trotz des anscheinend fortgeschrittenen Stadiums kommt dann die auch aus der Untersuchung bereits bekannte Schilderung „Formel der problematischen Geschicklichkeit“ (UD, 299.06) nicht vor. Ihrerseits bestimmt die „kategorischen Notwendigkeit“ – wie bereits in der Untersuchung die Notwendigkeit der Zwecke – einen wegen seiner „absoluten Vollkommenheit“ „unmittelbaren“ (Bem., L 118.19) Zweck.⁹ Anhand dieser Zweiteilung der Notwendigkeit wird Kant in der Vorlesung zur Moralphilosophie und systematisch in der Grundlegung die dreifache Klassifikation der Imperative darlegen. (11) Das Notwendige, das mit dem Guten identifiziert¹⁰ wird, entsteht aus der Vorstellung eines allgemeinen Willens bzw. des guten Einzelwillens (siehe Bem., L 129.09).¹¹ (12) Die Bewegungsgründe unterscheiden sich zwischen „innern moralisch“ und „Belohnungen des künftigen Lebens“ (Bem., 022.08, 052.05). Daraus ent Siehe oben Punkt (2) der gegenwärtigen Reihenfolge. Siehe oben 3.2.2.2. Siehe oben Punkt (3) der gegenwärtigen Reihenfolge. Dies wird eine entscheidende Vorgabe in der Grundlegung. Siehe unten 7.1.2.2.
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Schlüsse zum Ersten Teil
springt die spätere Einteilung der Handlungen in bloß pflichtmäßige und in aus Pflicht geschehende. (13) Es wird die Frage aufgeworfen, wie die „moralische Freiheit“ das „oberste Principium aller Tugend und auch aller Glückseeligkeit [sey]“ (Bem., 025.14). Damit wird erstmals die Redensart „oberstes Prinzip“ verwendet. Aus dieser Bearbeitung der Texte kann geschlossen werden, dass für den Zeitraum von 1762 bis 1765 hauptsächlich ein Rezeptionscharakter kennzeichnend ist. Kant ist in die philosophische Diskussion der verschiedenen Strömungen der Tradition eingebunden und nimmt daran mit seinen Publikationen 1764 öffentlich teil. Er nimmt in seinen Gedanken vieles auf, was er derzeit für richtig hält. Und dabei trägt er natürlich mit neuen begrifflichen Prägungen, Unterscheidungen und Gesichtspunkten zur Diskussion bei. Sie lassen den moralphilosophischen Kenner des späten Kant zwar das Potenzial dieses Kopfes ansehen und Ähnlichkeiten mit den sogenannten „kritischen“ Schriften feststellen. Aber den scharfsinnigen Leser_innen, besonders wenn sie mit den jungen und alten Texten gleichermaßen vertraut sind, sollten eher die Unterschiede ins Auge fallen. Wie es die gelieferte Analyse der Texte zeigte, hat Kant sich zu dieser Zeit eigentlich noch keine eigene Bahn gebrochen.
II Das kritisch-reflexive Stadium: Kants Bruch mit dem moralischen Gefühl und die Suche nach einem reinen moralphilosophischen Fundament
4 Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766) 4.1 Analytischer Teil 4.1.1 Passagen In den Träumen eines Geistersehers von 1766 behandelt Kant auf dreieinhalb Seiten das moralphilosophische Thema der äußeren Quelle der Motivation von Handlungen. Als Exkurs wird der Text am Anfang und Ende durch drei Sternchen begrenzt (siehe TG, 334.03 – 337.16). Weil die Träume sonst eine Kritik an Swedenborg und der traditionellen Metaphysik sind, werde ich ausschließlich auf diese begrenzte Passage eingehen.
4.1.2 Struktur des Textes Der betrachtete Exkurs besteht nur aus zwei Absätzen. Der erste (siehe TG, 334.03 – 334.24) grenzt das Thema des Exkurses ab, nämlich: die im menschlichen Verhalten wirkenden äußeren Kräfte, aufgrund derer „die Tendenzen unserer Regungen den Brennpunkt ihrer Vereinigung außer uns in andere vernünftige Wesen versetzen“ (TG, 334.07).¹ Der zweite, zweieinhalbseitige Absatz (siehe TG, 334.25 – 337.16) lässt sich seinerseits in zwei Teile untergliedern. Der erste und – wegen seiner großen Dichte an moralischen Begriffen – bedeutsame Teil (siehe TG, 334.25 – 335.16) geht von der Frage nach der Absicht des Handelns aus und konzentriert sich auf die ihr vorhergehende empfundene Nötigung (siehe TG, 334.29), welche die Absicht bestimmt und nicht mit dem sittlichen Gefühl verwechselt werden soll. Es handelt sich um Kräfte, die uns bewegen, aber sich „in dem Wollen anderer außer uns“ (TG, 335.02) befinden und aus denen die „sittlichen Antriebe“ (TG, 335.3) entstehen. Der zweite Teil des zweiten Absatzes (siehe TG, 335.16 – 337.16) konzentriert sich darauf, dass diese „empfundene Nötigung“ nicht bloß den Namen des „sittlichen Gefühls“ erhalten kann. Zur Erläuterung dessen bedient sich Kant einer Parallele mit der Newton′schen Physik die Gravitation betreffend (siehe TG,
Wie ich in den vorigen Kapiteln bemerkt habe, gehört diese Ansicht zur damaligen moralischen Debatte (siehe Rousseau 1755, I. Abs. 34– 36 [68 – 76] und Smith [1759] 61790, 37 ff.). https://doi.org/10.1515/9783110584288-008
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335.12 – 32) und untersucht die Folgen der Anwendung einer derartigen Methode auf die Moralität (siehe TG, 335.32– 337.16).
4.1.3 Kants Darstellung der moralischen Begriffe Kants Darstellung ist in Übereinstimmung mit dem Rest der Schrift von einem „spöttischen“ Ton gefärbt, indem er von „äußeren Kräften“, „geheimem Zug“, „geheimer Macht“ (und „empfundener Abhängigkeit“) spricht. Zunächst unterscheidet Kant zwischen zwei Arten von Abhängigkeit im Menschen, je nachdem, ob diese unsere Urteile oder unsere Absichten betrifft. Dadurch grenzt er das Thema des Exkurses auf letztere ein und definiert den Rahmen, worin die ethischen Begrifflichkeiten zu betrachten sind. Die erste Art von Abhängigkeit, die erwogen, doch nun nicht im Fokus von Kants Interesse stehen wird, ist diejenige, die einerseits von der Ehrliebe – „dennoch selbst in der uneigennützigsten und wahrhaftesten Gemüthsart [spürbar]“² (TG, 334.15) – und andererseits vom „allgemeinen menschlichen Verstand“ (TG, 334.22) herrührt, und aus welcher eine „Vernunfteinheit“ in der menschlichen Gattung entsteht. Damit werden zwei zusammenhängende Gedanken erwähnt, die bereits im zweiten Abschnitt der Beobachtungen und in einer lateinischen Passage der Bemerkungen auftauchen³. Wegen dieser „äußeren Kräfte“ hält man es für wichtig, „dasjenige, was man für sich selbst als g u t oder w a h r erkennt, mit dem Urteil anderer zu vergleichen“ (TG, 334.22). Auf diese Weise bestätigen wir die Gültigkeit unseres Urteils und aufgrund der empfangenen Billigung Anderer können wir auch ein abschließendes Urteil über uns selbst fällen. Trotz des „Streits“ zwischen der „Eigenheit […] und der Gemeinnützigkeit“ (TG, 334.09) bringt uns der wahrgenommene „geheime Zug“ dazu, uns an eine allgemeinere Instanz zu halten, nämlich den Verstand. Wie angekündigt, steht dieser „geheime Trieb“ aber nicht im Mittelpunkt von Kants Betrachtungen (siehe TG, 334.11). Die zweite Art von Abhängigkeit ist die „von der R e g e l d e s a l l g e m e i n e n W i l l e n s “, welche bei der Absichtsbestimmung die Forderung nach „m o r a l i s c h e r E i n h e i t und systematischer Verfassung [in der Welt aller denkenden Naturen]“ enthält (TG, 335.08):
Diese entspricht dem in den Beobachtungen charakterisierten melancholischen Temperament (siehe GSE, 219.21, 220.22 f.). Siehe oben 2.2.3 Zitat GSE, 227.23 u. unten Anhang 3, (vii) [Bem., L 125.18].
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„Wenn wir äußere Dinge auf unser Bedürfniß beziehen, so können wir dieses nicht thun, ohne uns zugleich durch eine gewisse Empfindung gebunden und eingeschränkt zu fühlen, die uns merken läßt, daß in uns gleichsam ein fremder Wille wirksam sei, und unser eigen Belieben die Bedingung von äußerer Beistimmung nöthig habe. Eine geheime Macht nöthigt uns unsere Absicht zugleich auf anderer Wohl oder nach fremder Willkür zu richten“ (TG, 334.27).
Unsere Zielsetzung ist nicht legitim, wenn wir nicht unsere eigenen Interessen und Neigungen auf die Probe stellen: Wollen wir für unsere Ziele und Handlungen den Beifall Anderer bekommen, dann sollen wir dabei auf deren Glückseligkeit und Freiheit Rücksicht nehmen. Diese „geheime Macht“, die uns bzw. unser Wollen nötigt, so „geisterseherisch“ sie klingen mag, kommt aber nicht aus dem Jenseits, sondern hat ihren Ursprung „in dem Wollen anderer außer uns“ (TG, 335.02), welches durch die Vorstellung des allgemeinen Willens repräsentiert wird. Aber worauf soll sich eine derartige Nötigung gründen? Allein ein Gesetz, das allgemeine Notwendigkeit und Gültigkeit beansprucht, kann bei allen Menschen⁴ gegenwärtig sein und einen jeden von uns nötigen, unsere Absichten so zu verfolgen, dass sie mit den Absichten der Anderen verträglich sind: „Das starke Gesetz der Schuldigkeit und das schwächere der Gütigkeit“ setzen die sogenannte „Regel des allgemeinen Willens“ zusammen und fungieren somit als „sittliche Antriebe“ (TG, 335.03): „Dadurch sehen wir uns in den geheimsten Beweggründen abhängig von der R e g e l d e s a l l g e m e i n e n W i l l e n s , und es entspringt daraus in der Welt aller denkenden Naturen eine m o r a l i s c h e E i n h e i t und systematische Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen“ (TG, 335.08).
Es handelt sich nicht mehr um die Einheit, die in den Beobachtungen oder Bemerkungen thematisch ist, und welche eigentlich ein anthropologisches bzw. gesellig-vernünftiges Ganzes bezeichnet. Vielmehr bezieht sich Kant hier auf eine ethische Einheit, welche insofern entsteht, als alle Menschen unter sittlichen Gesetzen stehen und genötigt werden, in Übereinstimmung damit ihre Absichten zu bestimmen⁵. Diese sittliche Einheit gründet so in „bloß geistigen Gesetzen“,
Ähnlich wie in den Beobachtungen (siehe GSE, 217.11, 220.18) behauptet Kant hier, dass die sittlichen Antriebe „nirgend in der menschlichen Natur ermangeln, ihre Wirklichkeit zu äußern“ (TG, 335.07). Dieses dient auch als Beleg für die von mir vertretene Interpretation bezüglich der Beobachtungen, nämlich dass Kant sich dort auf die Sitten (mos, -ris) bezieht, wenn er von „sittlicher“ Einheit spricht, wobei seine Absicht in dieser Schrift keine „kritisch“ moraltheoretische, sondern eine naturgeschichtliche oder anthropologische ist.
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nämlich den moralischen. Worin aber diese Gesetze der Schuldigkeit und der Gütigkeit bestehen, erörtert Kant nicht. „Will man diese in uns empfundene Nöthigung unseres Willens zur Einstimmung mit dem allgemeinen Willen das sittliche Gefühl nennen, so redet man davon nur als einer Erscheinung dessen, was in uns wirklich vorgeht, ohne die Ursachen desselben auszumachen“ (TG, 335.12).
Es käme einem Reduktionismus gleich, die „empfundene Nötigung“ als „sittliches Gefühl“ zu bezeichnen; denn „sittliches Gefühl“ weist nur auf die „Erscheinung“ jener Nötigung in uns hin, aber weder auf die Ursachen, aus denen diese Nötigung entsteht, noch auf die dadurch bewirkte Absichtsbestimmung. So legt Kant zum ersten Mal die Unterscheidung zwischen der Nötigung und dem sittlichen Gefühl fest. Hierin liegt meines Erachtens die entscheidende Wende von Kants „vorkritischer“ Zeit zu einer reinen Moralphilosophie: „Neuland“⁶ betritt Kant also durch diese Unterscheidung, mit der die Aufstellung der moralischen Nötigung als Dreh- und Angelpunkt alles beiderseitig moralischen und gerechten Verhaltens samt der entsprechenden Zurückweisung des sittlichen Gefühls als moralischer Instanz zusammenhängt⁷. Zur Verteidigung dieser These entfaltet Kant eine relativ lange Argumentation. Diese geht von einer Parallele zwischen dem angeführten Reduktionismus und dem von Newton bei der Formulierung des Gravitationsgesetzes verfolgten Verfahren aus. Denn, obgleich Newton eine „allgemeine Thätigkeit der Materie“ einräumt (TG, 335.21), welche als Ursache der Gravitation fungieren würde, interessiert er sich dennoch allein für die Erscheinungen der Gravitation, d. h. für die Massenanziehung als Phänomen (in mathematischer Hinsicht), aber nicht für die Ursachen derselben (in philosophischer Hinsicht).⁸
Vergleiche Schwaiger 1999, 5, 25, 71, bes. 82. Dazu siehe unten 4.2. – Freilich bestreitet dies noch nicht Schwaigers und Kuehns These einer platonischen Wendung durch Kants Entdeckung des Ideenbegriffs in der Dissertatio. Nur macht Kant diese erst vier Jahre später, nachdem er in den Träumen jedes empirische Kriterium im Gebiet der Ethik abschaffte. Eher verdeutlicht und vertieft die Dissertatio 1770 in systematischer Sprache den Weg, den Kant sich in den Träumen in essayartigem Stil bereits bahnt. Umstritten ist hingegen Schwaigers Unterschätzung von Kants „vorangegangenem“ Entwicklungsschritt (vergleiche Schwaiger 1999, 82). Im Licht der hier gezogenen Schlüsse bezüglich der Träume und ihrer entscheidenden Rolle in Hinblick auf Kants moralphilosophische Entwicklungsgeschichte ist es umso frappierender, dass Schwaigers Studie aus dem hier bearbeiteten Exkurs zur Moral in den Träumen keine einzige Zeile zitiert. Siehe Rousseau 1762, Bd. 2, 124 [Span. 407 f.]: Aufgrund seines „ersten Prinzips“ (nämlich: Es gibt keine Bewegung bei der leblosen Materie, wo nicht ein Wille als erste spontane, willentliche
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Parallel dazu bezeichnet „sittliches Gefühl“ nur etwas Empirisches, nämlich „eine gewisse Empfindung“ (TG, 334.28). Es wird nur deswegen als „sittlich“ bezeichnet, weil es auf unsere „Bindung und Einschränkung“ sowie den Abbruch unserer „eigennütziger Neigungen“ durch eine sittliche Regel (sowie auf die vorausgesetzte „Bedingung von äußerer Beistimmung“) zurückzuführen ist (TG, 334.29). Auf diese Weise aber werden die zugrunde liegenden Ursachen des sittlichen Gefühls als Phänomen, nämlich die Antriebe zur Sittlichkeit, nicht betrachtet. Stattdessen wird eine „wahrhaftig thätige Kraft“ angenommen, durch welche (analog zur Anziehungskraft) die „geistige[n] Naturen ineinander einfließen“ (TG, 335.25). Insofern wäre das „sittliche Gefühl“ ausschließlich in psychologischer Hinsicht zu betrachten, nicht aber in moraltheoretischer, wie bei einer „Nötigung“ eigentlich zu erwarten wäre. „[Wäre] das sittliche Gefühl diese empfundene Abhängigkeit des Privatwillens vom allgemeinen Willen und eine Folge der natürlichen und allgemeinen Wechselwirkung, dadurch die immaterielle Welt ihre sittliche Einheit erlangt, indem sie sich nach den Gesetzen dieses ihr eigenen Zusammenhanges zu einem System von geistiger Vollkommenheit bildet“ (TG, 335.27),
dann würde zweierlei folgen: (a) Einerseits würde die physische, tatsächliche Wirkung einer moralischen Handlung mit der dieser Handlung entsprechenden moralischen Wirkung übereinstimmen. So hätte erstens eine moralisch gute Handlung bereits in dieser Welt die gesuchten moralisch guten Folgen, was zweitens dem Handelnden die verdiente Glückseligkeit faktisch einbringen würde. Tatsächlich kommt aber in dieser Welt ein „Widerspruch der moralischen und physischen Verhältnisse der Menschen“ (TG, 335.37) vor, welcher erstens darauf zurückzuführen ist, dass „alle Moralität der Handlung nach der Ordnung der Natur niemals ihre vollständige Wirkung in dem leiblichen Leben des Menschen haben [kann], wohl aber in der Geisterwelt nach pneumatischen Gesetzen“ (TG, 336.01). Diese „unvollendete Harmonie zwischen der Moralität und ihren Folgen in dieser Welt“ verursacht zweitens „den Übelstand“ (TG, 337.03), der den Menschen daran hindert, sein Glück zu realisieren: „weil das Sittliche der That den inneren Zustand des Geistes betrifft, so kann es auch natürlicher Weise nur in der unmittelbaren Gemeinschaft der Geister die der ganzen Moralität adäquate Wirkung nach sich ziehen“ (TG, 336.14).
Ursache diese in Bewegung setzt) sagt Rousseau, dass Newton zwar die Anziehungskraft fand, aber nicht die Hand zeigte, „die die Planeten auf die Tangente ihrer Bahnen geschleudert hat“.
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Der moralische Wert der Handlung wird bereits dem Subjekt zugerechnet. Als moralische Instanz setzt es sich eigene Ziele und zwar mit Rücksicht auf die Freiheit und Glückseligkeit seiner Mitmenschen. (b) Gäbe es jedoch tatsächlich die „unmittelbare Gemeinschaft der Geister“, dann „[müßte] die Seele des Menschen schon in diesem Leben dem sittlichen Zustand zufolge ihre Stelle unter den geistigen Substanzen des Universum einnehmen“ (TG, 336.17). Die Verknüpfung unserer Seele mit der immateriellen Welt würde eine „natürliche Fortsetzung“ (TG, 336.24) dieses mit dem künftigen Leben einschließen, welche also zeitlos sein würde: Durch diese Fortsetzung „[würden] die Gegenwart und die Zukunft gleichsam aus einem Stücke sein und ein stetiges Ganze ausmachen, selbst nach der Ordnung der Natur“ (TG, 336.29). Die Ewigkeit der künftigen Welt würde sich bereits auf Erden entfalten. Nach Kants Worten wäre dann dieser Umstand in zweierlei Hinsicht positiv: Zum einen würden sich die moralischen Wirkungen der Handlungen, die wir in dieser Welt nach „pneumatischen Gesetzen“ durchgeführt hätten, in der Geisterwelt wiederfinden. Und zum anderen würden wir zur Behebung des Missstands, der aus der faktischen Zwietracht zwischen Moralität und Wirklichkeit entsteht, nicht auf einen „außerordentlichen göttlichen Willen“ (TG, 337.05) zurückgreifen. Denn unser Urteil über einen solchen Willen kann sich allein durch „die schwachen Begriffe unseres Verstandes“ (TG, 337.08) bilden und mithin „sehr verkehrt“ (TG, 337.09) sein. Ein jedes menschliches Urteil über den göttlichen Willen muss sich bloß an die „Wohlgereimtheit“ halten, „die er wirklich in der Welt wahrnimmt, oder welche er nach der Regel der Analogie gemäß der Naturordnung darin vermuthen kann“ (TG, 337.11).
4.2 Exegetischer Teil 4.2.1 Kants Absicht Eine doppelte Absicht leitet Kant im Rahmen des Exkurses über Moralphilosophie in den Träumen. Einerseits geht es ihm um die Antwort auf die Frage, woraus die Nötigung bei der Entscheidung zur Handlung entspringt. Andererseits möchte er sich ein für alle Mal von den Schotten distanzieren, darunter besonders von Hutcheson, den er in der Preisschrift explizit gelobt hat, und er bietet über die Hälfte des Exkurses für die Widerlegung des „sittlichen Gefühls“ als sittlichen Antriebs unserer moralischen Handlungen auf. Kant verlässt in den Träumen die psychologische und anthropologische Ebene, welche er in den Beobachtungen und Bemerkungen empirisch-pragmatisch untersucht hatte, und diskutiert die Moralität, beeinflusst von Rousseau, neu.
4.2 Exegetischer Teil
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Belege dafür sind nicht nur die vielen wichtigen Moralbegriffe, die in der so kurzen Passage zwischen TG, 334.25 und 336.29 vorkommen⁹, sondern auch die eigenen Worte Kants, mit denen das Thema des Exkurses eingeleitet wird (siehe TG, 334.11, 334.25): Nun ist der Mittelpunkt seines Interesses die „Absicht“, aufgrund derer wir moralisch handeln, nämlich die „Nöthigung“ (TG, 335.12), deren Begriff Kant zum ersten Mal in dieser Schrift verwendet. Im Rahmen der Untersuchung spricht die „Verbindlichkeit“ ein „unmittelbares Sollen“ aus, das sich durch eine „Notwendigkeit der Zwecke“ und als ein unmittelbares Subsumtionsverhältnis praktischer Sätze unter immer allgemeineren Grundsätzen definiert,¹⁰ sie wird jedoch nicht als Nötigung des Willens durch eine objektive Notwendigkeit konzipiert.¹¹ Die Nötigung des Willens wird nicht einmal erwähnt.¹² Nach der Untersuchung nimmt Kant ethische Themen wieder in den Träumen auf.¹³ Nun spielt nicht der Begriff der Verbindlichkeit, sondern der der Nötigung des Willens die zentrale Rolle: Kant bestimmt die
Nämlich: „Absicht“, „fremder Wille“, „fremde Willkür“, „Nötigung“, („Neigung“), „Wollen“, „sittliche Antriebe“, „starkes Gesetz der Schuldigkeit“, „schwächeres [Gesetz] der Gütigkeit“, „Beweggründe“, „Regel des allgemeinen Willens“, „moralische Einheit in der Welt aller denkenden Naturen und systematische Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen“, „Privatwille“, „sittliches Gefühl“, „Widerspruch der moralischen und physischen Verhältnisse der Menschen“, „Moralität der Handlung“, „das Sittliche der That im inneren Zustand des Geistes“ und „die ausgeübte Sittlichkeit“. Siehe oben 1.2.2. Siehe GMS, 413, 439. Erst in der Vorlesung zur Moralphilosophie wird die Verbindlichkeit als „moralische Nötigung“ vorgestellt. (Dazu siehe unten 5.1.3.6; siehe GMS, 439.31). Zwar betrachtet Kant das Prinzip der Verbindlichkeit überhaupt in der Untersuchung als Basis der Moral, nämlich als Äußerung einer Notwendigkeit der Zwecke, die ein unmittelbares Sollen gebietet. Aber erstens ergibt sich dieses aus der Synthesis rationalistischer und empiristischer Bestandteile (nämlich des Wolff′schen Formalprinzips von der Vollkommenheitsbeförderung, des Crusius’schen materiellen Prinzips, dem Willen Gottes gemäß zu handeln und des unmittelbaren Gefühls vom Guten, aus dem der Begriff des Guten anhand des Verstands entstehen soll). Anhand der dargestellten Vorgaben gelingt es Kant zweitens nicht, das eigentümliche Vermögen der Moralität festzusetzen (ob der Verstand oder das Gefühl die moralischen Handlungsprinzipien bestimmen). Kants Betrachtung der Verbindlichkeit in der Preisschrift zielt auf eine bloß theoretische Aufgabe, nämlich die Deutlichkeit und Gewissheit in den Grundsätzen der Moral zu erweisen (siehe oben 1.2.1). Obwohl Kant sich dort mit der Verbindlichkeit und dem Guten beschäftigt, spielen das „Wollen“ und die „Absicht“ bei der Handlungsbestimmung in seinem Argumentationsgang noch keine Rolle. Was die Beobachtungen betrifft, kündigt Kant dort keine moralphilosophische Aufgabe an. Wie besonders in 2.2.1 gesehen, beansprucht Kant zu zeigen, dass die Empfindungsfähigkeit im Menschen, und insbesondere die in ihm gewöhnlich überwiegende moralische Sympathie und Ehrliebe, das Zusammenleben und die Entwicklung der menschlichen Gattung ermöglichen und fördern.
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„Abhängigkeit von der Regel des allgemeinen Willens“ als den Grund der Moralität und aller Verbindlichkeit überhaupt. Zwar sagt Kant, dass wir diese Abhängigkeit empfinden, aber unmittelbar danach unterscheidet er sie von dem Ausdruck eines „sittlichen Gefühls“, welches die Empiristen und Kant selbst in der Untersuchung und den Beobachtungen ¹⁴ als Quelle der Moralität ansahen. Kant konzipiert jetzt die „Abhängigkeit von der Regel des allgemeinen Willens“ als die eigentliche Ursache der moralischen Ausführung und Bewertung einer Handlung und das „sittliche Gefühl“ als deren Erscheinung. Nicht dieses, sondern dass man die Übereinstimmung seines Willens mit dem allgemeinen berücksichtigt, macht also im Handelnden den Auslöser der Moralität aus. Damit nimmt Kant 1766 unwiderruflich Abstand von der Schottischen Schule. Die sogenannte „empfundene Abhängigkeit von der Regel des allgemeinen Willens“ rührt von den allgemeinen Gesetzen der Schuldigkeit und der Gütigkeit¹⁵ her, welche als eigentliche „sittliche Antriebe“ uns „wider den Dank des Eigennutzes fortreißen“ (TG, 335.04) und uns nötigen, unsere Absichten in „Einstimmung mit dem allgemeinen Willen“ zu bestimmen und zu verfolgen¹⁶. Aufgrund dieser Ablehnung des Gefühls als Vermögens moralischen Handelns, an der Kant – wie ich hier vertreten werde – bis 1785 in der Grundlegung festhalten wird, scheint die in der Kant-Forschung verbreitete Redeweise der „moralischen Motivation“ unzutreffend.¹⁷ Schließlich, dass Kant in den Träumen noch von „empfundene[r] Nöthigung“, „wirksam[er] Empfindung“, „Macht“ und „sittlichen Antriebe[n]“ spricht, soll auf einen Überrest Rousseau′schen Einflusses hindeuten¹⁸. Denn Nötigung und Ge Kant nimmt bereits in den Beobachtungen von den Empiristen insofern Abstand, als er die „wahre Tugend“ auf allgemeinen Grundsätzen fußen lässt. Trotzdem fungiert ein Gefühl, und zwar das „allgemeine moralische Gefühl“ (GSE, 217.27) „von der Schönheit und der Würde der menschlichen Natur“ (GSE, 217.16) als die Quelle der Moralität. Entsprechend der vollkommenen und unvollkommenen Pflichten. Das ist es, was in der heutigen Diskussion „moralische Motivation“ genannt wird. Dazu siehe Klemme, H./Kuehn, M./Schönecker, D. (Hg.), 2006. Moralische Motivation. Kant und die Alternativen. Hamburg: Meiner; Tilkorn, A. (Hg.), 2012. „Motivationen für das Selbst“. Kant und Spinoza im Vergleich. Wiesbaden: Harrassovitz. Ebenso siehe Schadow 2012, 7, die in Kants Auseinandersetzung mit dem „Motivationsproblem“ zwar einen Bruch zwischen der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft anerkennt, jedoch betont, dass der Kant der Grundlegung die Achtung als ein moralisches Gefühl versteht, welches der vernünftigen moralischen Einsicht motivierende Kraft verleiht. Vergleiche unten den ganzen Abschnitt 7.1.2.4.1. Rousseaus Gedanke fußt sowohl auf dem Gefühl als auch der Vernunft: „Ich erkenne Gott in seinen Werken, ich fühle ihn in mir“ (Rousseau 1762, Bd. 2, 149 [Span. 414]): „Kein materielles Wesen ist durch sich selbst thätig, ich aber bin es. Vergeblich wird man mir das zu bestreiten suchen, ich fühle es, und dies Gefühl, welches zu mir spricht, ist stärker als die Vernunft, welche es bekämpft“ (Rousseau 1762, Bd. 2, 138 [Span. 418]). „Die Thätigkeit des Gewissens äußert sich
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fühl gehören unterschiedlichen Sphären an: Während jene auf der Ebene des Wollens, d. h. der Zwecksetzung, stattfindet, ist dieses der Ebene des Fühlens und der Sinnlichkeit, der Quelle unserer Wünsche, Neigungen und Interessen, zugerechnet.¹⁹ Selbst Kants angegebene Definition von der Nötigung des Willens ist fest in der Rousseau′schen Konzeption des Allgemeinwillens verankert. Zwar macht dieselbe Suche nach dem Ursprung aller Nötigung sowie ihrer Situierung im allgemeinen Willen einen entscheidenden Schritt aus, eine normative Ethik zu begründen, in deren Rahmen der Verbindlichkeitsbegriff vollständig definiert werden soll. Dennoch bleiben immer noch die Fragen offen, worin und warum sie besteht und wie sie sich innerhalb eines ethischen Systems definieren soll.²⁰ Kants Unternehmung bleibt also immer noch weit von dem Aufbau einer Moraltheorie entfernt, wie hingegen aus Schmuckers Schlüssen abgeleitet werden könnte: „Das Entscheidende dabei ist, daß mit dem Gesetz des allgemeinen Willens, von dem wir uns im moralischen Gefühl abhängig wissen, im Grunde zum erstenmal das Prinzip des Formalismus statuiert wird, womit in der Tat ein völlig neuer Ansatz gewonnen ist zur Lösung
nicht in Urtheilen, sondern in Empfindungen. […] Ein Dasein haben, heißt empfinden. Unsere Empfindung geht unstreitig unserer Intelligenz vorauf, und wir haben Empfindungen vor den Ideen gehabt“ (Rousseau 1762, Bd. 2, 157 [Span. 433]). Laut Rousseau soll das (nicht verdorbene Gefühl) im guten Menschen die Vernunft begleiten (1755, II. Abs. 35 f.): Der gut erzogene Mensch leidet erst spät unter Leidenschaften; gelingt es dem Erzieher, bei seinem Jünger diese im Stillen bzw. den „Frieden der Seele“ (siehe Rousseau 1762, Bd. 2, 111 [Span. 395] zu halten, dann bleiben diese Gefühle immer „rein“ und „unschuldig“ und lassen sich mit den allgemeinen Rechten der Menschheit, somit mit der Vernunft wohl vereinbaren (siehe Rousseau 1762, Bd. 2, 439 [Span. 661 ff.]). Wie gesehen, würde aus der Identifizierung beider Ebenen die Ewigkeit auf Erden folgen: „Die Gegenwart und die Zukunft würden also gleichsam aus einem Stücke sein und ein stetiges Ganze ausmachen, selbst nach der Ordnung der Natur“ (TG, 336.29). Auch wenn sich diese Schlussfolgerung aus Mangel an empirischen Nachweisen nicht prüfen lässt, ist Kant befugt, hinsichtlich der Uneinigkeit „zwischen der Moralität und ihren Folgen in dieser Welt“ (TG, 337.04) jene Identifizierung abzulehnen und somit die Nötigung durch die Regel des allgemeinen Willens von dem sittlichen Gefühl zu unterscheiden. Dazu siehe oben 4.1.3 (a) u. (b). Die Antworten auf die ersten Fragen werden sich in der Vorlesung zur Moralphilosophie finden (siehe V-Mo, 029.08/031 f.) und betreffen die Natur des menschlichen Willens, welcher nicht völlig durch die Vernunft bestimmt, sondern auch durch die Sinnlichkeit bedingt wird. Kürzer und reifer drückt Kant denselben Gedanken in der Grundlegung aus (siehe GMS, 413.01). Wiederum in der Vorlesung findet sich eine erste Annäherung an die zweite formulierte Frage, indem die Gründe der „practischen Necessitation“ aus der „Bonitate absoluta“ hergenommen sind und diese mit der Freiheit übereinstimmt (siehe V-Mo, 046.31 f./056 f.). Die eigentliche und endgültige Antwort darauf wird aber erst die Grundlegung geben: „Die Abhängigkeit eines nicht schlechterdings guten Willens vom Princip der Autonomie (die moralische Nöthigung) ist Verbindlichkeit“ (GMS, 439.30).
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der Frage nach dem oberstem Prinzip der Verpflichtung im Sinne eines echten Formalprinzips des Sollens“²¹.
Auch wenn die Grundlage der „moralischen Kräfte“ festgestellt wird, welche sich von den Kräften der Natur wesentlich unterscheiden, wird damit nicht das „Gesetz“ (wie Schmucker umformuliert), sondern die „Regel des allgemeinen Willens“ eingegliedert. Aber selbst diese wird kaum erwähnt und nur oberflächlich betrachtet:Von ihr wissen wir nur, dass sie in die Gesetze der Schuldigkeit und der Gütigkeit zerfällt. Was diese bedeuten, wird aber nicht erläutert. Weder wird die Regel des allgemeinen Willens als „oberstes Prinzip der Moral“ festgesetzt, noch wird eine offene Frage nach einem „obersten Prinzip“ gestellt, schon gar nicht „im Sinne eines echten Formalprinzips des Sollens“ (was hinsichtlich des gegenwärtigen moralphilosophischen Standpunktes Kants ein Anachronismus wäre²²). – In den bisher untersuchten Materialien fragt Kant zwar nur in Bem., 025.14²³ nach der Möglichkeit der moralischen Freiheit als „oberstes Prinzip“ der Moralität. Aber, wie gezeigt, handelt es sich noch nicht um ein Formalprinzip, denn es soll außer „aller Tugend […] auch alle Glückseeligkeit“ fördern²⁴. Kant hat also noch nicht vor, das „Prinzip des Formalismus zu statuieren“ oder die „Frage nach dem obersten Prinzip der Verpflichtung im Sinne des echten Formalprinzips des Sollens“ zu beantworten. Denn sowohl die moralphilosophische Frage, worin die hauptsächliche Aufgabe der Moralität besteht (nämlich in „der Gründung eines guten Willens“²⁵), als auch ob sie sich etwa auf ein Prinzip der Autonomie gründet, wird keineswegs in Betracht gezogen.
4.2.2 Kritische Rekonstruktion der Moralkonzeption Die wichtigsten Zeilen in diesem Exkurs hinsichtlich Kants derzeitiger Moralkonzeption beinhaltet die Passage TG, 334.25 – 335.16. Da findet sich, trotz des
Schmucker 1961, 168. Schmucker geht davon aus, dass Kant in den „vorkritischen“ wie in den „kritischen“ Schriften die Frage nach dem Prinzip der Verbindlichkeit zu beantworten versucht. Damit zeigt er eine gewisse Tendenz, die „vorkritischen“ Schriften im Lichte der „kritischen“ zu lesen – eine Tendenz, die auch den Argumenten Henrichs zugrunde liegt. Der Mangel solcher Interpretationen entsteht eben daraus, dass sie nicht auf die jeweilige Absicht Kants in einer Schrift achten, d. h. sie fragen nicht danach, welche systematischen Ziele Kant in seinen Schriften jeweils verfolgte. Siehe unten Anhang 3, (xviii). Siehe oben 3.3. GMS, 396.33.
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noch herrschenden Einflusses von Rousseau hinsichtlich der Auffassung des Allgemeinwillens, der Kern des Wendepunkts, aus welchem sich eine neue Phase Kants, und zwar als Moralphilosoph, entwickeln wird: Der endgültige Widerstand den Schotten und deren „sittlichem Gefühl“ gegenüber²⁶ wird im folgenden Werdegang entscheidend²⁷. Kant vertritt ein Verständnis der Moral, das diese eng mit innerem Zwang verknüpft. Dies ist bereits seit 1762 durch die Lehre von den notwendigen Zwecken in gewisser Weise wahrnehmbar. Nun ist aber die Nötigung umso bedeutsamer und relevanter, indem sie aus der Vorstellung des allgemeinen Willens entspringend die Aufgabe übernimmt, das moralische Handeln zu begründen. Dadurch entwickelt Kant seinen neuen Ansatz: Die Absicht unseres Handelns (d. h. das, was wir tun wollen) sollen wir anhand der Vorstellung eines Allgemeinwillens mit den Absichten Anderer vereinbar machen, damit wir von diesen Billigung bekommen können²⁸ (siehe TG, 334.27). So festigt Kant den Weg zu einer formalnormativen Ethik, und zwar unwiderruflich. Die Unmittelbarkeit der Nötigung macht sie unentbehrlich und wirksam: Die Moral setzt sich durch und vereinheitlicht das „Ganze der moralischen Natur“ (GSE, 227.35). Im Rahmen der Untersuchung, worin die Nötigung des eigenen Willens noch nicht vorkommt, gründet Kant die Moral zwar auf Verbindlichkeit als ihren „ersten Begriff“ (UD, 298.05). Allerdings bedient er sich dort eines begrifflichen Instrumentariums, welches größtenteils der Tradition zu verdanken ist. Von ihr kennt er noch nicht eine Auffassung des Willensbegriffs und seiner Tätigkeit als eines moralischen Vermögens. Daher deutet Kants Unterscheidung zwischen der Notwendigkeit der Mittel und der Notwendigkeit der Zwecke aber nur entweder auf eine Nötigung der Handlung (als Mittel) im Hinblick auf das Ziel hin, oder auf eine Nötigung des praktischen Satzes der Handlung als Zweck, sofern dieser Satz unter „der obersten und allgemeinen Formel“ (UD, 300.19) unmittelbar subsumiert ist. Keineswegs weist Kant auf eine explizite Nötigung des individuellen
Vergleiche Menzer 1898, 322. Laut Menzer soll Kant gegen seinen eigenen Willen bei dem sittlichen Gefühl „stehen bleiben“ müssen. Kants Absicht wäre, die „Ursachen desselben [sc. des sittlichen Gefühls] auszumachen“. Wie in den vorigen Kapiteln stelle ich auch hier die untersuchten Passagen des Exkurses (TG, 334.25 – 335.16) zur Moralphilosophie im Grundriss dar (siehe unten Anhang 4), damit Kants Vorgaben und meine Rekonstruktion der Moralkonzeption in den Träumen deutlicher werden. Die Erwartung der Billigung Anderer ist sowohl bei Rousseau (1755, I. Abs. 16 – 18 [Span. 112– 116] II. Abs. 52 [Span. 170]) als auch z. B. bei Adam Smith ([1759] 61790, 285 f.) ein entscheidender Handlungssauslöser. Aber während sie bei Ersterem als Ursprung der Ehrliebe, der Eitelkeit, der unnatürlichen Ungleichheit zwischen Menschen und der „Hinfälligkeit des menschlichen Geschlechts“ [„décrépitude de l’espece“] eine negative Konnotation hat, fungiert sie bei dem Schotten, wie auch für Kant, als Quelle der Moralität und des Fortschritts der Gesellschaft.
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Willens durch den praktischen Satz hin²⁹, sondern höchstens auf eine Nötigung etwa des Gefühls, welche eher in einem Gefühl der Lust zur Ausführung der an sich guten Handlung besteht³⁰. Ebenso scheint Kant im Rahmen der Beobachtungen in der Linie der Untersuchung zu bleiben, indem er – trotz der von ihm begangenen, im zweiten Kapitel herausgearbeiteten, Widersprüche³¹ – das Verhalten des Tugendhaften als eines versteht, das sich nach allgemeinen Grundsätzen richtet. Dennoch hat uns die oben durchgeführte Analyse der Schrift gezeigt, dass Kants Absicht³² ihn zu einer impliziten Moralkonzeption führt, welche nicht mit der Nötigung, sondern mit der Bedingtheit der Handlungsbestimmung durch Gefühle und Temperament, somit eher mit der empirischen Psychologie zu tun hat. Um den kurzen Blick auf Kants unterschiedliche Standpunkte in verschiedenen frühen Texten zu schließen, gilt es hier nur zu ermitteln, dass Kant in seinem durchschossenen Exemplar der Beobachtungen auch keinen Gedanken zur moralischen Nötigung des Willens niederschrieb. Obwohl er zwar von „kategorischer Notwendigkeit der Handlung“ und „inneren Bewegungsgründen“ spricht, setzt er diese nicht in Verbindung miteinander, so dass keine moralische Nötigung (welche sich sensu stricto aus einer solchen Verbindung ergibt) verhandelt wird³³. Ferner wird dort das Gutsein des allgemeinen Willens nicht dadurch definiert, dass dieser sich selbst nach eigenen Grundsätzen bestimmen kann, sondern bloß darauf beschränkt, dass er sich nicht widersprechen kann: „Welcher Wille gut seyn soll muß wenn er allgemein und gegenseitig genommen wird sich nicht selbst aufheben“ (Bem., 053.01). Während schließlich die Perspektive der Bemerkungen kaum „ein heuristisches Mittel“ als Richtschnur zum Handeln abgibt, gehen die Träume insofern einen Schritt weiter, als eine Regel des allge-
So Kant: „Z. E. Liebe den, der dich liebt, ist ein praktischer Satz, der zwar unter der obersten formalen und bejahenden Regel der Verbindlichkeit steht, aber unmittelbar. Denn da es nicht weiter durch Zergliederung kann gezeigt werden, warum eine besondere Vollkommenheit in der Gegenliebe stecke, so wird diese Regel […] unter der allgemeinen Regel guter Handlungen subsumiert. […] Es ist eine unmittelbare Häßlichkeit in der Handlung, die dem Willen desjenigen, von dem unser Dasein und alles Gute herkommt, widerstreitet. Diese Häßlichkeit ist klar, wenn gleich nicht auf die Nachtheile gesehen wird, die als Folgen ein solches Verfahren begleiten können“ (UD, 300.02), und zwar deswegen, weil der Satz einer solchen Handlung nicht unter „die oberste und allgemeine Formel der Verbindlichkeit“ (UD, 300.19) unmittelbar subsumiert werden kann. Siehe oben 1.2.2. Siehe oben 2.2.2. Nämlich durch Erwägung der herrschenden Gefühle und Temperamente eine Einteilung von den unterschiedlichen moralischen Charakteren anzubieten und die unter dieser Mannigfaltigkeit mögliche sittliche (kulturelle und soziale) Einheit zu erweisen. Siehe oben 2.2.1. Siehe oben 3.3 (2).
4.2 Exegetischer Teil
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meinen Willens (aus dem Gesetz der Schuldigkeit und der Gütigkeit bestehend) konzipiert wird. Jetzt wirkt sich diese Regel auf die Bewegungsgründe aus, was die Nötigung des Privatwillens ausmacht. Obwohl die Gesetze der Schuldigkeit und Gütigkeit, die sogenannten „sittlichen Antriebe“ – wie bereits bemerkt³⁴ – undefiniert bleiben, beruht auf ihnen die „Kraft“ der Nötigung als Auslöser moralischen Handelns: Der Begriff des „Gesetzes“ bringt die Notwendigkeit und Unbedingtheit des Gebotenen mit sich; ihrerseits schließen Schuldigkeit und Gütigkeit den Anderen gegenüber auch ein, dem Eigennutz Grenzen zu setzen. Insofern lassen diese Gesetze zwei künftige Faktoren der reifen Kantischen Ethik erblicken: (a) die allgemeine Gültigkeit als Maß richtigen, gesollten Handelns; und (b) die Unterscheidung zwischen engen und weiten Pflichten den Anderen gegenüber, d. h. die Pflichten, die man mit Rücksicht auf Anderer Freiheit und Glückseligkeit jeweils erfüllen soll oder unterlassen kann³⁵. Die Nötigung findet ihren Grund also nicht mehr in einem unmittelbaren Gefühl der Lust, welches durch etwas an sich Schönes bewirkt wird und aus welchem der Begriff des Guten entspringt³⁶. Vielmehr ergibt sie sich aus der Regel des Allgemeinwillens, welche jederzeit und überall Geltung beansprucht. Auf diese Weise wird die Moralität von der subjektiven Gefühlsebene losgelöst, mit der eine objektive Nötigung zu vereinbaren problematisch war. Nötigung und sittliches Gefühl sind nunmehr wesentlich voneinander unterschieden. Dieses ist als Empfindung etwas Verursachtes, eine Wirkung, und als Wahrnehmbares, eine bloße Erscheinung, wobei es nicht Quelle einer allgemein gültigen, sich aufzwingenden Nötigung sein kann, die in sich Verbindlichkeiten birgt. Hier ist die von Kant herangezogene Analogie zur Anziehungskraft von Bedeutung: Wäre das sittliche Gefühl der faktische Ursprung moralischen Handelns, dann hätte es als physisch wirkende Ursache bereits auf dieser Welt die entsprechenden Wirkungen, nämlich die sittlichen. So erklärt Kant bereits Mitte der 1760er Jahre, warum wir tatsächlich eine Zwietracht zwischen Moralität und Wirklichkeit erleben: die Moralgesetze, welche unser Verhalten leiten sollen, stimmen mit den Naturgesetzen der Welt, in der unsere Handlungen ausgeübt
Siehe oben 4.1.3. Auf diese Unterscheidung kommt Kant durch die Diskussion mit der Tradition: Beispielsweise siehe Crusius 1744, 975 f. („Pflichten im weiten Verstande“, „Pflichten gegen Andere“). Adam Smith spricht auch von den Tugenden der Gerechtigkeit und der Wohltätigkeit, von denen Erstere erzwungen werden kann, während Letztere auf der Freiheit des Handelnden beruht. (Siehe Smith [1759] 61790, 194). Auch dazu siehe Chr. Ritter 1971, 90 ff. Vergleiche UD, 299.22. Siehe oben 1.1.3.
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werden, nicht überein (siehe TG, 335.35 f. u. 337.03). Diese Kluft wird Kant dazu führen, in der Kritik der reinen Vernunft das Postulat Gottes und der Unsterblichkeit der Seele in der Lehre des höchsten Guts, welches in einer künftigen Welt zu erreichen ist, anzuführen. So muss Kant in diesem Punkt, entgegen seiner eigenen Worte in seinem Brief an Mendelssohn³⁷, ernst genommen werden³⁸: Für Menzer ist die Analogie des sittlichen Gefühls mit der Anziehungskraft ein „Phantasiegebilde“. Meines Erachtens wird Kant dadurch missverstanden: Zwar ist der „wirkliche sittliche Einfluss der geistigen Naturen“ (Br, AA 10: 072.17), wofür keine Data bestehen, etwas von Kant Erdachtes; aber der Grund dieses Gebildes, nämlich: die Nichtübereinstimmung der Wirklichkeit mit der ausgeübten Sittlichkeit, wird von Kant ernst gemeint. Beweis dafür ist der Aufbau einer Moraltheologie im Kanon der ersten Kritik (KrV, 525 ff.//A809/B837 ff.) auf der Basis der Sorge Kants hinsichtlich „der unvollendeten Harmonie zwischen der Moralität und ihren Folgen in dieser Welt“ (TG, 337.04), aufgrund derer Kant die sogenannte dritte Frage stellt: „Was darf ich hoffen?“ (KrV, 522.34//A805/B833)³⁹. Ferner liegt dieser Unterscheidung zwischen der Nötigung und dem sittlichen Gefühl zugrunde, dass es zwar mehrere sittliche Gefühle gibt (z. B. Mitleid, Gefälligkeit), indessen aber nur eine Nötigung existiert, nämlich diejenige, die aus Gesetzen entsteht. Insofern muss das sittliche Gefühl vom Gebiet der reinen Moralphilosophie getrennt und durch den allgemeinen Willen ersetzt werden.⁴⁰ Eben aufgrund dieser Einzigartigkeit der Nötigung können erstens die sittlichen Gesetze unter eine einzige ⁴¹ Regel subsumiert werden, nämlich die sogenannte „Regel des allgemeinen Willens“, woraus zweitens „in der Welt aller denkenden
Br, AA 10: 072.17 (vom 08.04.1766): „[…] mein Versuch von der Analogie eines wirklichen sittlichen Einflusses der geistigen Naturen mit der allgemeinen Gravitation ist eigentlich nicht eine ernstliche Meinung von mir sondern ein Beyspiel wie weit man und zwar ungehindert in philosophischen Erdichtungen fortgehen kan wo die data fehlen, und wie nöthig es bey einer solchen Aufgabe sey auszumachen was zur solution des problems nöthig sey und ob nicht die dazu nothwendigen data fehlen“ (zitiert durch Menzer 1898, 322). Vergleiche Menzer 1898, 322. Siehe unten Kap. 6, bes. 6.3.1. Demzufolge wird Kant in der Vorlesung zur Moralphilosophie der Ethik eine rein moralphilosophische Begründung vorbehalten und der Erziehung, der Religion und der Anthropologie die Aufgabe zuschreiben, die sittlichen Gefühle zu kultivieren und den Menschen zur Moralität zu disponieren. Siehe unten 5.2.2 und V-Mo, 006.04/007, 073.11/089. Also lehnt Kant zwar nicht das moralische Gefühl als Begleiter der Moralität ab, aber doch als ein separates, konstitutives Vermögen derselben. So auch Schilpp [1938] 21997, 220. Die Idee der Ethik als Disziplin eines einzigen Prinzips wird für den Gedankengang der Moralvorlesung ausschlaggebend. Siehe V-Mo, 021.05/031 u. 044.08/051. Dazu siehe unten 5.1. (Ende des Absatzes) u. bes. 5.2.2.1.
4.2 Exegetischer Teil
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Naturen eine moralische Einheit und systematische Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen [entspringt]“ (TG, 335.10). Einerseits fungiert der hier auftretende Allgemeinwille insofern als Vertreter jedes eigenen Willens, als er diesen in sich aufnimmt und repräsentiert ⁴². Finden die Gesetze der Schuldigkeit und der Gütigkeit als „sittliche Antriebe“ ihren Ursprung „in dem Wollen anderer außer uns“, so ist der „allgemeine Wille“ als alle Privatwillen subsumierende Vorstellung ebenso Quelle jener Antriebe. Aufgrund dessen und angesichts der in den Bemerkungen herausgefundenen wichtigen Rolle Rousseaus ab 1764/65⁴³ lässt sich der Allgemeinwille der Träume noch nicht als der „reine[]“ (GMS, 390.26,35) bzw. gute[] Wille“ (GMS, 393.07) oder als die reine „praktische Vernunft“ (GMS, 412.30) der entwickelten Moraltheorie Kants von 1785 verstehen, sondern eher als eine Konzeption des Willens, die auf den Einfluss Rousseaus zurückgeht. Andererseits weist die Idee einer „moralischen Einheit [in der Welt aller denkenden Naturen]“ (welche aus der umfassenden Vorstellung des „allgemeinen Willens“ folgt) auf drei wichtige, miteinander eng verknüpfte Charakteristika hin, nämlich: (1) das Vernünftigsein, das dem Menschen erlaubt, von seinen empirischen Besonderheiten abzusehen, Abstand von seinen besonderen Umständen zu nehmen und nach anderen als bloß physikalischen Gesetzen zu handeln bzw. sich als Gesellschaft zu konstituieren; (2) der Besitz eines Willens, dank dessen wir relationale, zur Welt und zu den Anderen orientierte, nicht bloß vernünftige Wesen sind (mit Letzteren könnte auch Gott oder ein in sich verschlossener Automat gemeint sein); und (3) die Gültigkeit einer Regel für all diese vernünftigen und mit Willen begabten Wesen, die alle Privatwillen, somit alles besondere Wollen mit einem nicht eigennützigen Anspruch konfrontiert und in moralischer Hinsicht vereinheitlicht⁴⁴. Diese Gedanken werden entscheidend bei der späteren Ethik Kants, die jeweils (1) die Idee des „vernünftige[n] Wesen[s] überhaupt“ (GMS, 408.16) entfaltet⁴⁵, (2) den Menschen als ein freies moralisches Wesen versteht (siehe GMS, 412, 427,
Siehe Rousseau 1755, II. Abs. 44. Siehe oben 3.2 u. 3.3. Siehe oben 4.1.3. Vergleiche GSE, 227 u. unten Anhang 3, (vii) [Bem., L 125.18]. Nach dieser Idee können wir bei der Bestimmung unserer Maximen einen Standpunkt „frei von allem Empirischen“ (GMS, 410.12), jenseits unserer besonderen Umstände, als vernünftige, aber zugleich physische (und bedürftige) Wesen (siehe GMS, 389.33, 412.31 f.) gewinnen.
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446 ff., 453.16), und (3) sich der Vorstellung eines „Reichs der Zwecke“⁴⁶ (GMS, 433.16 f.) bedient, worin sich alle Mitglieder nach dem „obersten Prinzip“ der Moral bestimmen.
4.3 Schluss Angesichts der frühen, auf der neu gedachten Nötigung des Privatwillens beruhenden Merkmale insgesamt⁴⁷ lässt sich schließen, dass sich der Ausgangspunkt der formalen Ethik Kants auf diesen Seiten der Träume befindet⁴⁸. Denn nun gründet die moralische Tätigkeit des Handelnden ausschließlich auf seinem vernünftigen Willen, wobei eine „von allem Empirischen abgesonderte“ vernünftige Ebene angesprochen wird. Zwar wird auch in den Träumen keine Moraltheorie entwickelt; aber die hier geäußerten Gedanken lassen eine in vieler Hinsicht eigene Moralkonzeption Kants erblicken: Trotz des Einflusses Rousseaus in der Konzeption des Allgemeinwillens zeigt uns die Widerlegung des sittlichen Gefühls als moralische Instanz und dessen Ersatz durch die Nötigung, dass Kant den Weg des Moralphilosophen betritt, und zwar unwiderruflich. Die Ethik muss
Auch Johnson 2009, 83 u. 89 sieht die Verbindung der „Welt aller denkenden Naturen“ in den Träumen mit dem „Reich der Zwecke“ in der Grundlegung. Im Hinblick auf die geistige Welt und anhand einer Analyse des Swedenborg′schen „regnum finium“ und der Kantischen Termini von „dem Ganzen der intelligiblen Wesen“, „Dingen an sich selbst“, „dem vernünftigen Reich“, dem „Reich Gottes“, dem „Reich der Zwecke“ (welche in einer Passage der Metaphysik L 1 [Pölitz] aus den späten 1770er Jahren vorkommen [V-MP-L1/Pölitz, AA 28: 298 f.]), „moralischer Welt“, „mundus intelligibilis“, „Verstandeswelt“, „corpus mysticum“ (die ihrerseits in der KrV 1781 auftauchen) zieht Johnson eine „direkte Linie“ von Kants Träumen zur Grundlegung (wo das „Reich der Zwecke“ erstmals vorkommt) (siehe Johnson 2009, 95 f.). Nämlich die Vorstellungen des „allgemeinen Willens“ und der „Welt aller denkenden Naturen“, die drei gerade erwogenen Charakteristika und die Abweisung des „sittlichen Gefühls“ als moralisch bestimmende Instanz. Der Ausdruck „alle Moralität der Handlungen“ (TG, 336.01) sowie die Behauptung, „das Sittliche der That [betrifft] den inneren Zustand des Geistes“ (TG, 336.14) antizipieren außerdem sowohl den Gedanken des „moralischen Werts der Handlung“ selbst als auch die Verbindung desselben mit der Handlungsausführung aus moralischer Gesinnung bzw. aus Achtung vor dem Gesetz, nämlich aus Pflicht (GMS, 397– 401). Vergleiche Schmucker 1961, 168 und Henrich 1965, 255 („Embryonalstadium“), die die Züge der formalen Ethik in den Schriften der frühen 1760er Jahre lesen möchten. Aber auch vergleiche Kuehn 1995, 374 und Schwaiger 1999, 81 f., für die Kants Wende zur reinen Moralphilosophie erst im Rahmen der Dissertatio 1770 auftritt. Kuehn möchte zwar richtigerweise Kants Wende in der Moralphilosophie zu derselben Zeit wie in der theoretischen Philosophie sehen. Wie sich jedoch gezeigt hat, begann diese „revolution in both theoretical and practical contexts“ bereits 1766 mit den Träumen. Dagegen siehe oben 4.2.1.
4.3 Schluss
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Allgemeingültigkeit besitzen: Sie muss also sowohl auf der Nötigung (bzw. Verbindlichkeit) fußen als auch das Gefühl fallen lassen. Letzteres kann aber nicht zur Konzeption eines unsinnlichen, in seiner Vernunft eingeschlossenen Menschen führen: Der Willensbegriff wird sich bei einer spektakulären Entwicklung als Schlüssel der Kantischen Ethik erweisen, der es erlaubt, die vernünftige und sinnliche Seite des Menschen angemessen zu berücksichtigen. Entgegen der These Kuehns⁴⁹, nach der Kant sich bis zum Ende der 1760er Jahre der in Deutschland gängigen Auffassung von einer „continuity thesis“⁵⁰ anschließt, ergibt sich aus meiner Untersuchung, dass Kant diese Position bereits 1766 aufgibt: Nun ist es nicht mehr „ein Geschäfte des Verstandes, den zusammengesetzten und verworrenen Begriff des Guten aufzulösen und deutlich zu machen, indem er [sc. der Verstand (ACGX)] zeigt, wie er [sc. der Begriff des Guten (ACGX)] aus einfachern Empfindungen des Guten entspringe“ (UD, 299.28). Kant schafft in den Träumen das „sittliche Gefühl“ als Vermögen, mit dem sich die Moralphilosophie beschäftigen sollte, ab, und zwar in zweierlei Hinsicht: einerseits als Ursprung vom Begriff des Guten, andererseits als Auslöser moralischen Handelns. Solche Funktionen behält Kant der „Regel des allgemeinen Willens“ vor (TG, 335.09), aus der sowohl der Begriff des Guten (in Form des „starke[n] Gesetz[es] der Schuldigkeit und d[es] schwächere[n] der Gütigkeit“ [TG, 335.04]) als auch die „Nöthigung unseres Willens“ (moralisch zu handeln) entsteht (TG, 335.12). Also, obwohl die Träume die Moralphilosophie noch nicht explizit als „rein“ bestimmen (wie die Dissertatio es tut), setzen sie dem Rezeptionsstadium Kants in der ersten Hälfte der sechziger Jahre ein Ende und markieren den Anfangspunkt einer reflexiv-kritischen Phase, in der sich die Gründung der späteren Philosophie Kants vorbereitet. Insofern können die drei isolierten Sätze moralphilosophischen Inhalts in § 7 und § 9 der Dissertatio 1770 nicht einen echten Neuansatz bedeuten⁵¹, sondern müssen vielmehr Ergebnis bestimmter Gedanken sein, deren Gründe bereits ausgemacht wurden.
Siehe oben Einleitung 4.2. Damit bezeichnet Kuehn seine Beobachtung, dass es zwischen den Wolff′schen und den Hutchenson′schen Ansätzen eigentlich keine Entgegensetzung gab. Kuehn zeigt, dass die deutschen Philosophen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts versuchten, nicht die Wolff′sche Metaphysik zu verlassen, sondern sie durch den britischen Beitrag des „moral sense“ zu ergänzen und somit beide Ansichten zu kombinieren. Außerdem fanden die deutschen Überlegungen zum „moral sense“ nicht isolierterweise statt, sondern im Rahmen der Diskussion über das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Vernunft. Und schließlich verstanden die deutschen Philosophen, die beiden Vermögen als „expressions of one and the same basic faculty of the soul“ (siehe Kuehn 1995, 380 f.). MSI, AA 02: 395.08: „quales v. g. sunt conceptus morales, non experiundo, sed per ipsum intellectum purum cogniti“. MSI, AA 02: 396 Fn.: „Theoretice aliquid spectamus, quatenus non att-
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Ebenso ist der durch Kuehn herangezogene Brief Kants an Herder vom 9. 5. 1768⁵² kein Nachweis, dass Kant erst „in the latter half of 1769“ seine Stellung dem „sittlichen Gefühl“ gegenüber geändert hat, wie Kuehn verteidigt. Denn es ist hier zweierlei zu berücksichtigen: Zum einen, ob Kant sich zu dieser Zeit von der Tradition abwendet und somit einen eigenen Weg sucht und zum anderen, ob Kant 1768 bereits über eine eigene Moraltheorie verfügt. Die Träume zeigen eindeutig, dass bei Kant tatsächlich eine eigene Reflexion begonnen hat, welche uns einen tief skeptischen Kant⁵³ nicht nur – wie ich hier nachgewiesen habe – gegenüber der Debatte der Tradition insgesamt, sondern auch gegenüber seiner früheren Einstellung zeigt. Also muss die Antwort auf die erste Frage Ja lauten. Genauso zeigen Kants moralphilosophische Überlegungen in den Träumen, dass er dort keine eigene, fertige Moraltheorie definiert, sondern nur Gedanken webt, welche ihm auf diesem Feld erlauben, triftige elementare Fundamente festzusetzen: Das „sittliche Gefühl“ zu bestimmen, ist nicht Geschäft der Moralphilosophie, denn dieses ist bloß eine „Erscheinung dessen, was in uns wirklich vorgeht“, nämlich die „Nötigung“. Gleichfalls soll sie sich auch nicht mit den erwarteten bzw. vorausgesehenen Wirkungen der moralischen Handlungen „in dieser Welt“ beschäftigen, aus denen keinerlei nötigende Kraft entstehen kann. Die Moralität gehört zu einer Ordnung, die sich von den physischen Ereignissen qualitativ unterscheidet, nämlich zum Normativen (d. h. dem Intelligiblen bzw. der „Geisterwelt“). Daher sind „Unregelmäßigkeiten“ festzustellen, „die […] bei dem Widerspruch der moralischen und physischen Verhältnisse der Menschen hier auf der Erde so befremdlich in die Augen fallen“. Aus diesem Grund ist sie nicht auf sinnlichem, sondern auf intellektuellem Boden einzurichten: Es gibt endimus nisi ad ea, quae enti competunt, practice autem, si ea, quae ipsi per libertatem inesse debebant, dispicimus“. MSI, AA 02: 396.04: „Philosophia igitur moralis, quatenus principia diiudicandi prima suppeditat, non cognoscitur nisi per intellectum purum et pertinet ipsa ad philosophiam puram“. Siehe Br, AA 10: 074.08: „Was mich betrift da ich an nichts hänge und mit einer tiefen Gleichgültigkeit gegen meine oder anderer Meinungen das gantze Gebäude ofters umkehre und aus allerley Gesichtspunkten betrachte um zuletzt etwa denienigen zu treffen woraus ich hoffen kan es, nach der Warheit zu zeichnen, so habe ich seitdem wir getrennet seyn in vielen Stücken anderen Einsichten Platz gegeben und indem mein Augenmerk vornemlich darauf gerichtet ist die eigentliche Bestimmung und die Schranken der Menschlichen Fähigkeiten und Neigungen zu erkennen so glaube ich daß es mir in dem was die Sitten betrift endlich ziemlich gelungen sey und ich arbeite ietzt an einer Metaphysik der Sitten wo ich mir einbilde die augenscheinlichen und fruchtbaren Grundsätze imgleichen die Methode angeben zu können wornach die zwar sehr gangbare aber mehrentheils doch fruchtlose Bemühungen in dieser Art der Erkentnis eingerichtet werden müssen wenn sie einmal Nutzen schaffen sollen. Ich hoffe in diesem Iahre damit fertig zu werden wofern meine stets wandelbare Gesundheit mir daran nicht hinderlich ist“. Kuehn 1995, 382.
4.3 Schluss
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allein die Vermutung einer „Regel des allgemeinen Willens“, unter der sich die strengen und weiten Pflichten (jeweils nach „d[em] starke[n] Gesetz der Schuldigkeit und d[em] schwächeren der Gütigkeit“) befinden. Nur worin diese bestehen, erforscht Kant noch nicht. Als Belege für seine These, dass die Kantische Moralphilosophie im Jahr 1769 beginnt, zieht Kuehn auch mehrere, vermutlich aus dem Zeitraum zwischen 1769 und 1770 stammende, Reflexionen heran. Aber bereits die Träume teilen mit diesen die von ihm hervorgehobenen Elemente und Züge: 1766 versteht Kant die Nötigung schon als die Wirkung eines „äußerlichen Standpunkt[s]“ (Refl. 6598, AA 19: 103.21), wenn er sagt: „Eine geheime Macht nöthigt uns unsere Absicht zugleich auf anderer Wohl oder nach fremder Willkür zu richten“ (TG, 334.32)⁵⁴. Daraus ergibt sich der Gedanke einer „Regel des allgemeinen Willens“, auf welche die „Abhängigkeit des Privatwillens vom allgemeinen Willen“ zurückgeht. Diese Regel zielt also auf ein „system […] de[s] Lehrbegrif[fs] der den wesentlichen Gesetzen des reinen Willens untergeordneten Freyheit Willkühr“⁵⁵ und auf die „Einstimmung aller Handlungen mit dem persohnlichen Werthe seiner selbst“ (Refl. 6631, AA 19: 119.10)⁵⁶. Die Träume liefern auch einen guten Beleg für Kants Zurückweisung des „princip[s] des Hutcheson“ als „unphilosophisch weil es ein neu Gefühl als einen Erklarungsgrund anführet, zweytens in den Gesetzen der Sinnlichkeit obiective Gründe sieht“ (Refl. 6634, AA 19: 120.15). Denn mit der Bestimmung der „Nöthigung unseres Willens zur Einstimmung mit dem allgemeinen Willen“ als ein „sittliches Gefühl“ „redet man davon nur als von der Erscheinung dessen, was in uns wirklich vorgeht, ohne die Ursachen desselben auszumachen“ (TG, 335.12). Dies veranlasst Kant dazu, eine Parallele zum Newton′ schen Ansatz zu ziehen. Da sich Newton nur für die Anziehung als Erscheinung interessiert, anstatt die Ursachen derselben zu erforschen, nimmt er „eine[] allgemeine[] Thätigkeit der Materie“⁵⁷ an. Schließlich⁵⁸: Dass „alle moralitaet auf
Vergleiche Kuehn 1995, 383. Gegen dieses Datierungsargument Kuehns siehe beispielsweise die ältere Bemerkung Kants in Bem., L 125.26: „Wir sind nämlich von Natur gesellig und können ehrlicherweise das in uns nicht gutheißen, was wir bei andern tadeln“. Es ist hier hervorzuheben, dass Kuehn 1995, 383, statt „Willkühr“ die von Kant gestrichene „Freyheit“ stehen lässt. Denn, wie ich am Ende meiner Arbeit verteidigen werde, ist die Kantische „reine Moralphilosophie“ nicht eine Philosophie der Freiheit, sondern eine der nach dem reinen Willen gerichteten guten Willkür bzw. der Autonomie. Dazu siehe unten 7.1.2.2, 7.1.2.3. Kants Streichung in dieser Reflexion lässt uns vermuten, dass er 1769/70 bereits eine profunde moralphilosophische Stellung besitzt – wie Kuehn zeigen möchte. Jedoch gilt es vielmehr als Zeichen dafür, dass der Umbruch Kants der Tradition gegenüber durch eigene Versuche früher stattgefunden haben muss. Vergleiche Kuehn 1995, 383. Dazu siehe oben 4.1.3.
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ideen beruht“ (Refl. 6611, AA 19: 108.17); dass das Platonische sowie das christliche Ideal der Moralität nicht in dieser Welt erreichbar ist; dass die Moralität nicht nur nicht auf dem physischen Aspekt der menschlichen Natur fußt, sondern der Natur wesentlich entgegensetzt und daher als ein Ideal in dieser Welt bleiben muss; all dies ergibt sich auch aus den Träumen, wenn Kant sagt: „Alle Moralität der Handlungen kann nach der Ordnung der Natur niemals ihre vollständige Wirkung in dem leiblichen Leben des Menschen haben“ (TG, 336.01). „Denn weil das Sittliche der That den inneren Zustand des Geistes betrifft, so kann es auch natürlicher Weise nur in der unmittelbaren Gemeinschaft der Geister die der ganzen Moralität adäquate Wirkung nach sich ziehen“ (TG, 336.14). Mit der Trennung von Moralität und Natur als zwei nach disparaten Gesetzen gerichteten, qualitativ unterschiedlichen Ordnungen signalisieren die Träume also eine Zäsur in Kants ursprünglichen moralphilosophischen Ansätzen, die den Philosophen zum Formalismus führt⁵⁹. Daraus folgt: Weder kann Kants zurückgelegter Weg vor der Dissertatio belanglos sein, noch soll die Dissertatio eine plötzlich erlangte Reife widerspiegeln. Die durchgeführte Analyse des moralphilosophischen Exkurses in den Träumen erlaubt den Schluss, dass Kant bei der Dissertatio in systematischer Sprache das verdeutlicht, was in den Träumen in Form eines Essays bereits formuliert wurde. Am Ende muss bemerkt werden, dass Kant die durch Kuehn herangezogenen Reflexionen in der Dissertatio weder darstellt noch entfaltet.
Vergleiche Kuehn 1995, 383 f. Zum ethischen Formalismus Kants siehe unten 7.1.2.4.1 u. 7.1.2.4.2 (d.2). – Ebenso siehe 5.1.3.9, bes. Erläuterung (b) u. (g) zum Zitat V-Mo, 064.25/080 passim 068.01 f./084, 5.2.2.1 u. 5.3.
5 Vorlesung zur Moralphilosophie (1774/75)¹ 5.1 Analytischer Teil Mit der Vorlesung zur Moralphilosophie liegt ein grundlegendes Zeugnis von Kants Moralkonzeption der 1770er Jahren vor.² Einerseits liegen ihr zwar Baumgartens Initia Philosophiae Practicae (1760) und Ethica philosophica (1740)³ zugrunde.⁴ Einen guten Teil der von Kant behandelten Begriffe und verwendeten Vokabeln übernimmt er also direkt von Baumgarten und indirekt von der Tradition. Aber die Auswahl von Baumgarten als Leitautor des Ethik-Kollegs ist nicht ohne Folgen: In der Einleitung, die dem Inhalt nach auf Kant selbst zurückzuführen ist, übt Kant Kritik an allen moralphilosophischen Systemen und stellt zum ersten Mal eine systematische Einteilung der Imperative dar⁵, die derzeit bei keinem anderen Autor nachgewiesen wurde und die selbst in der Untersuchung von 1762 und in den Bemerkungen von 1764– 65 nur in einer sehr rudimentären und unvollendeten Form zu finden ist.⁶ Nun gibt Kant kurz nach der Einleitung, auch wenn er hier der Initia folgt⁷, eine Stellungnahme zu Baumgarten, der die Moralität als eine Disziplin mehrerer ersten Prinzipien konzipiert, ab: „Wo schon in der Moral viele principia sind, da sind gewiß keine, denn es kann nur ein wahres principium seyn“ (V-Mo, 044.08/ Kant, Immanuel, 1774/75. Vorlesung zur Moralphilosophie. Hg. von Werner Stark. Berlin, New York: W. de Gruyter, 2004. Bei der Zitierung folge ich einer bezüglich der Regelungen der KantStudien abgekürzten Form (V-Mo), gebe nach angeführter Edition Seiten- und Zeilenangaben 000.00 und nach dem Strich / Originalseitenangaben: V-Mo, 000.00/000 an. Vergleiche Menzer 1899, 56. Baumgarten, Alexander Gottlieb, 1760. Initia Philosophiae Practicae. Primae Acromaticae. Halle. In: http://www.korpora.org/Kant/agb-initia/index.html (zitiert Initia, §). Baumgarten, Alexander Gottlieb, 21763. Ethica Philosophica. In: Kant, Immanuel. Gesammelte Schriften. Hg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Berlin, 1900 ff., Bd. 27.2,1 (zitiert: Ethica, AA 27.2,1). Siehe Schwaiger 2008, 222 f. Die Habilitationsschrift von Clemens Schwaiger 1999, Kategorischer und andere Imperative stellt hierin eine herausragende Forschung dar. In der Untersuchung klingt die Einteilung der Imperative nur durch die Unterscheidung zwischen der Notwendigkeit der Mittel (necessitatem problematicam) und der Zwecke (necessitatem legalem) an (siehe UD, 298 f.). In den Bemerkungen arbeitet Kant diese Unterscheidung aus, indem er die „objektive bedingte Notwendigkeit“ in „problematische Notwendigkeit“ und „Notwendigkeit der Klugheit“ gliedert und der „objektiven kategorischen Notwendigkeit“ entgegenstellt. Jedoch verwendet Kant in keinem Fall den Begriff des „Imperativs“. Siehe oben 1.1.3, 3.3 und 3.2.2.2. (1). Siehe Stark (Hg.), 2004, 415. https://doi.org/10.1515/9783110584288-009
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051). Damit stellt Kant die Baumgarten′sche Moralkonzeption in Frage und positioniert sich gleichzeitig gegen die Grundkonzeptionen der Tradition.⁸ Weiterhin verleiht er in mehreren Passagen seiner Distanzierung von Baumgarten in den Schlüsselbegriffen der Moral Ausdruck.⁹ So ist zu vermuten, dass die erwähnten Werke Baumgartens im Rahmen der Lehrtätigkeit Kants in großem Maße auch als Anregung fungiert haben.¹⁰ Andererseits ist die Vorlesung zur Moralphilosophie das erste vorkritische Zeugnis für Kants gründliche Beschäftigung mit der Moralphilosophie. Freilich verfügen wir nicht über ein eigenes Manuskript Kants, sondern nur über die Nachschriften seiner Studenten.¹¹ Trotzdem lassen sowohl die von den Baumgarten′schen Prinzipien abweichende Stellungnahme Kants als auch seine eingehende Beschäftigung mit der Moral und neuen Ansätzen den Schluss zu, dass mit der Vorlesung der gedankliche Umbruch stattfand, der die Entstehungsgeschichte der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ausgelöst hat. Wie der Titel des Textes ankündigt, gehören die hier zu betrachtenden Passagen zu einem Ethik-Kolleg. Die Vorlesungsstruktur bestimmt den Text. Dies in Verbindung mit der Tatsache, dass die Initia und die Ethica Baumgartens als Lehrbücher dienen, prägt unvermeidlich Form, Inhalt und Rhythmus des Textes. So finden die Leser_innen zwar eine Vorstellung von Themen der praktischen Philosophie sowie die Behandlung, Definition und Diskussion moralischer Begriffe. Aber da diese Aufgaben sich generell auf Baumgartens Werke stützen, bestimmen wesentlich diese den konkreten Inhalt, die Ordnung in der Darstellung der Ansätze und die Gliederung¹² (letztere nur mit wenigen Ausnahmen¹³). In dieser Hinsicht ermangelt die Vorlesung sowohl einer von Kant selbst entworfenen Struktur als auch eines geschlossenen Moralsystems – was die Aufgabe, Kants eigenen moralphilosophischen Standpunkt zu erläutern, erschwert. Folglich kann der Schluss gezogen werden, dass die Vorlesung vom möglichen Ziel, eine eigene
Ebenso Schwaiger 1999, 34. So teilt Baumgarten die Verbindlichkeit beispielsweise danach ein, ob sie aus Pflicht oder aus Zwang erfüllt wird. Demgegenüber ist das Entscheidende bei der Verbindlichkeit für Kant ihre Quelle, d. h. ob sie aus fremder oder eigener Willkür stammt. Im ersten Fall handelt es sich um eine „obligatio passiva“, im zweiten um eine „obligatio activa“. Siehe unten 5.1.6.3.1. Zur selben Auffassung kommt Schwaiger, indem er aber die Moralkonzeptionen Wolffs und Baumgartens vergleicht und bei Letzterem die Quelle der kantischen Moralkonzeption sieht. Siehe Schwaiger 2000, 259 f. Siehe Stark (Hg.) 2004, 391 und 394. Siehe Stark (Hg.) 2004, 415 – 417. Eben wegen dieser Ausnahmen ist das Ethik-Kolleg ausschlaggebend für die hier zu lösende Aufgabe, nämlich die moralphilosophische Konzeption Kants in den 1770er Jahren zu erforschen.
5.1 Analytischer Teil
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Moraltheorie zu liefern, mithin von Kants Aufgabe in der Grundlegung, noch weit entfernt bleibt. Dass die Sorge Kants um die Ethik ihn dazu führt, eine Vorlesung zum Thema anzubieten, in der er Kritik übt und sich durch neue Thesen positioniert, weist auch auf seine Unzufriedenheit mit den bisher entfalteten ethischen Gedanken und Systemen hin, darunter auch mit dem des von ihm verehrten Baumgarten.¹⁴ Aus dieser Uneinigkeit mit der Tradition ergibt sich eine von Kants grundlegenden Eigenleistungen, nämlich: die Gründung der Moralphilosophie als Disziplin auf Basis eines einzigen Prinzips. Die zu behandelnde Nachschrift gibt somit Zeugnis erstens davon, dass Kant bereits in den früheren 1770er Jahren nicht nur negativ (anhand der Kritik an den Alten Schulen, an der empiristischen und dogmatischen Tradition sowie an Rousseau), sondern auch positiv durch eigene Beiträge in die moralphilosophische Debatte einsteigt. Zweitens zeigt sie, dass sein Kolleg nicht in der unbeteiligten Überlieferung anderer Moraltheorien bestand, sondern ihm Raum zur Entfaltung und Darstellung eigener Gedanken zur Ethik bot. Hierbei präsentierte er sich ferner der Öffentlichkeit nicht als ein durchschnittlicher Morallehrer, sondern als ein scharfsinniger, mit eigenen Thesen begabter Philosoph. Dieser Umstand sollte für ihn nach seinen vergangenen erfolglosen Bewerbungen um eine Stelle an der Albertina-Universität¹⁵ von Bedeutung sein. Aufgrund der angeführten Darstellung Kants eigener Beiträge ist es die Aufgabe dieses Kapitels, die Hauptthemen und -begriffe in eine Ordnung zu bringen. Das Ziel ist, die Wichtigkeit dieser Kolleghefte für die Entwicklung der Moralkonzeption Kants zu zeigen, da die darin erstmals festgelegten zentralen Unterscheidungen sowie angedeuteten Schlüsselgedanken der späteren Ethik den Weg zur Grundlegung bahnen.¹⁶
Von der Ethica philosophica Baumgartens soll Kant bei seinem Moralkolleg 1764 gesagt haben, es sei „das Sachreichste, und vielleicht sein bestes Buch“ gewesen. Siehe Praktische Philosophie Herder, AA 27: 016.25; zitiert durch Schwaiger 2008, 219. Kuehn 2003, 491 ff. Kant wurde zweimal, 1756 und 1758, von einem Lehrstuhl zurückgewiesen. Erst im Jahr 1770, nach seinen Ablehnungen 1764 der Professur der Dichtkunst an der Albertina und 1769 des Rufs nach Erlangen, bewirbt er sich um die Professur für Logik und Metaphysik und wird am 31. März zum Professor ernannt. Am 21. August wird er die sogenannte Dissertatio, nämlich De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis als Inauguraldissertation vorlegen. In diesem Sinn teile ich im Großen und Ganzen die These von Rodríguez Aramayo, dem zufolge die Vorlesung als Labor für die Entfaltung des ethischen Gedankens Kants fungiert. Trotzdem pflichte ich ihm nicht darin bei, dass der ethische Formalismus Kants aus dem Moralkolleg stammt (vergleiche Rodríguez Aramayo (Hg.) 2002, 18 f.). Denn ein erster Ansatz des Formalismus findet sich in der Untersuchung (durch die Unterscheidung zwischen der Notwendigkeit der Mittel und der Zwecke), aber in den Träumen lässt er sich erstmals durch das Zurückweisen des mo-
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5.1.1 Passagen Hinsichtlich des Ziels meiner Dissertation werde ich mich in der Untersuchung dieses umfangreichen Texts hauptsächlich auf diejenigen Passagen beschränken, die von Baumgartens Initia und Ethica zum Teil oder vollständig Abstand nehmen und sich mit den Begriffen der Moralität, des Willens bzw. der Willkür, der Nötigung und Verbindlichkeit, der Freiheit und des moralischen Prinzips befassen. Diese Ausschnitte sind: die mit „Prooemium“, „Die moralische Systemata der Alten“ und „Vom principio der Moralitaet“ übertitelten Absätze, welche die Einleitung Kants in die Vorlesung bilden (V-Mo, 003/003 – 034/039), das Kapitel I „Obligatio“ (V-Mo, 035/039 – 052/065) sowie der Abschnitt „Vom obersten principio der Moralitaet“ (V-Mo, 055.23 ff./069 ff.). Bei der exegetischen Aufgabe, Kants allgemeine Einstellung zur Ethik in den 1770er Jahren herauszuarbeiten und die besondere Absicht des Ethik-Kollegs ans Licht zu bringen, werden diese Partien eine bedeutsame Rolle spielen.¹⁷
5.1.2 Struktur des Textes (1) Die Einleitung in die Vorlesung zur Moralphilosophie (V-Mo, 003/003 – 034/ 039) gliedert sich in drei Abschnitte: „Prooemium“, „Die moralische Systemata der Alten“ und „Vom principio der Moralitaet“. (A) Im „Prooemium“ (V-Mo, 003/003 – 009.23/012) stellt Kant zum einen eine Einteilung der Philosophie dar, die mit derjenigen zusammenstimmt, die er später in der Vorrede der Grundlegung skizziert¹⁸. Zum anderen legt er die Aufgabe sowie die Begriffe fest, die nach seinem Verständnis die Grundpfeiler der praktischen Philosophie sowohl „generaliter“ wie auch im Besonderen, nämlich der Ethik, ausmachen. Diese betreffend stellt Kant erstmals seine Einteilung der Imperative vor und erklärt unmittelbar darauf, was die verschiedenen Imperative jeweils ausmacht. (B) Im Abschnitt „Die moralische Systemata der Alten“ (V-Mo, 009.24/ 012– 020.22/022) übt Kant Kritik an allen Moralsystemen und -schulen
ralischen Gefühls und die Einführung der moralischen Nötigung durch die „Regel des allgemeinen Willens“ als Auslöser moralischen Handelns erkennen. Siehe oben 1.1.3, 4.2.2. So auch Schilpp [1938] 21997, 219. Auf andere Passagen wird auch zurückgegriffen. Konkrete Seiten- und Zeilenangaben werden dann beim Zitieren angegeben. Siehe GMS, 387 ff. Dazu siehe Stark (Hg.) 2004, Kommentar 1.
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der Alten sowie an den Philosophen des Humanismus und der Neuzeit. Dieser kritische Zug wird im Verlauf der zu behandelnden Passagen eine Konstante sein. Vom Begriff des höchsten Guts ausgehend, welcher als solcher aus zwei Bestandteilen bestehen soll, einmal das moralische Gut (die Tugend als die Würdigkeit der Glückseligkeit) und einmal das physische Gut (die Glückseligkeit als Triebfeder zum Handeln), stellt Kant dann das christliche moralische Ideal der Heiligkeit als das richtige Ideal der Moral vor: Dieses befördert nicht nur „die gröste reine sittliche Vollkommenheit“, mithin „die Würdigkeit der Glückseligkeit“, sondern hat auch „die gröste Triebfeder“, nämlich dieselbe Glückseligkeit, die „aber nicht in dieser Welt“ zu erlangen ist (V-Mo, 020/021). Hierbei liefert Kant Argumente, die sowohl negativ als auch positiv seine Position umreißen: Das gute Handeln ist an sich selbst gut (nicht wegen der dadurch erreichten bzw. erreichbaren Glückseligkeit¹⁹) und zeichnet sich durch die Tugend aus; aber es bedarf der Glückseligkeit als Triebfeder²⁰ angesichts der menschlichen Natur. Im dritten und letzten Abschnitt der Einleitung, betitelt „Vom principio der Moralitaet“ (V-Mo, 020.23/022 – 034/039), werden zunächst die Hauptzüge und -begriffe dargestellt, in denen „der Lehrbegriff der Moralitaet“ (V-Mo, 021.18/023) bestehen soll; und zweitens werden die Merkmale erläutert, die für „iedes moralische Gesetz“ eigentümlich sind (V-Mo, 027.01/027). Aber nun folgen die kritischen Einwände Kants gegen die traditionellen Systeme und deren Prinzipien, da diese nicht unmittelbar wegen ihrer Notwendigkeit gut sind: Entweder dienen sie zu einem weiteren Zweck (wie bei den empirischen Moralsystemen²¹) oder sie stützen sich auf den Willen Gottes (wie bei der theologischen Moral²²). Im ersten Fall machen sie Regeln der Klugheit aus, im zweiten zwar intellektuelle, aber äußerliche Grundsätze. Die Prinzipien der Moral müssen dagegen bloß im Verstand liegen (siehe V-Mo, 026.18/ 027). Daher können sie
Ein Einwand gegen Epikur. Ein Einwand gegen Zeno und die Stoa. Als Vertreter eines Lehrbegriffs der Moralität, der auf empirischen inneren Gründen fußt, werden aus der Antike Epikur und aus der Neuzeit Helvetius, Mandeville, Shaftesbury und Hutcheson genannt (siehe V-Mo, 022.08 f./025). Hingegen dienen Montaigne und Hobbes als Beispiele für einen empirischen, aber auf äußeren Gründen beruhenden Lehrbegriff der Moralität (siehe V-Mo, 024.01 f./025). In einer Passage des ersten Kapitels nennt Kant als Vertreter dieser Position Crusius (siehe VMo, 037.13/043).
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erstens „völlig a priori eingesehen werden“ (V-Mo, 026.06/026 f.) und werden „nicht aus der Erfahrung, sondern aus reiner Vernunfft abgeleitet“ (V-Mo, 026.24 f./027); zweitens „sollen [sie] allgemein, beständig und nothwendig gelten“ (V-Mo, 026.23/027); und drittens finden sie ihre Grundlage nicht in einem fremden Wesen, das letztendlich das Gute und Böse bestimmen soll (V-Mo, 027.18/028). Das echte Prinzip der Moral beruht vielmehr „auf der innern Beschaffenheit der Handlungen, so ferne wir sie durch den Verstand betrachten“ (V-Mo, 027.30/ 028). Es handelt sich also um ein Prinzip „intellectuale internum“ (V-Mo, 027.20/028). „Imperative“, „objektive Necessitation“, „praktische Notwendigkeit“, „caussa impulsiva“, „motivum“ bzw. „Bewegungsgrund“, „stimulus“, „Obligation“, „Pflicht“ und „Zwang“, „göttlicher und menschlicher Wille“ u. a. machen das Instrumentarium aus, mit dem Kant dann arbeitet und anhand dessen er zu dem Schluss kommt: „Die UnterOrdnung unsres Willens unter die Regel allgemein gültiger Zwekke ist die innere Bonitaet und absolute Vollkommenheit der freyen Willkür, denn stimmt sie mit allen Zwekken überein […]. Die moralische Bonitaet ist also die Regierung unserer Willkür durch Regel, wodurch alle Handlungen meiner Willkür allgemein gültig übereinstimmen. Und solche Regel, die das principium der Möglichkeit der Uebereinstimmung aller freyen Willkür ist, ist die moralische Regel“ (V-Mo, 030.32/034 f.).
Am Ende dieses dritten Abschnitts (V-Mo, 032.01 ff./036 ff.) begründet Kant seine Hauptunterscheidung zwischen der Beurteilung und der Ausführung einer Handlung: Es handelt sich um unterschiedliche Perspektiven, aus denen eine Handlung betrachtet werden kann; das, was den moralisch guten Wert einer Handlung ausmacht, betrifft nicht „das motivum morale“ bzw. die Frage, was einen zu dieser Handlung bewegt. Dennoch hat die Allgemeingültigkeit eines reinen moralischen Grundes per se eine gewisse „bewegende Kraft“ inne, auf die Kant im Abschnitt „Vom obersten principio der Moralitaet“ wieder eingehen wird. (2) Das erste Kapitel, betitelt „Obligatio“, enthält vier, durch Untertitel deutlich getrennte Abschnitte: „De obligatione activa et passiva“, „Ausgeklaubte Bedeutung des Satzes: Fac Bonum“, „Vom moralischen Zwange“ und „Von der practischen Necessitation“. Die zwei letzteren fasst die Überschrift „Sectio 2“ unter sich²³.
Die entsprechende Überschrift „Sectio 1“ mag aus Zerstreutheit nicht vorkommen.Vermutlich sollte sie für die erste Hälfte des Kapitels stehen, wo Baumgarten die „Sectio 1“ beginnt.
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Im ersten Abschnitt „De obligatione activa et passiva“ (V-Mo, 035/ 039 – 041/047) werden die Baumgarten′schen Unterscheidungen des Verbindlichkeitsbegriffs („activa – passiva“, „positiva – naturalis“, „indirecta – directa“ und „affirmativa – negativa“) sowie der Moralität („objectiva – subjectiva“) vorgestellt. Hierbei sind die Anmerkungen und Richtigstellungen Kants in fünf Punkten bemerkenswert: (a) Moralische Dilemmata werden als unmöglich abgelehnt, da nicht die Pflichten (ausgezeichnet durch eine objektive Notwendigkeit), sondern nur die empirischen Motive in Widerstreit geraten können (siehe V-Mo, 035.28 f./040 f.). (b) Freiheit und Verbindlichkeit widersprechen sich nicht²⁴:
„Wo die Handlungen gar nicht frey seyn, wo keine Persönlichkeit ist, da giebts auch keine Verbindlichkeit zE. so hat der Mensch keine Verbindlichkeit das Schlukken zu unterlassen, denn es steht nicht in seiner Gewalt. Man setzt also zur Verbindlichkeit den Gebrauch der Freyheit voraus“ (V-Mo, 036.34 f./042).
(c) Kant berichtigt und vervollständigt Crusius, der die moralische Verbindlichkeit als „dasjenige Verhältniß eines Thuns oder Lassens gegen ein göttliches Gesetz“²⁵ verstand. Aber die Verbindlichkeit bezieht sich laut Kant nicht auf die Willkür eines Anderen, sondern auf die „allgemeine Willkür“, die zwar ein gewisses „arbitrium alterius“ andeutet, das aber „internum“ (nicht „externum“) ist (V-Mo, 037.13 f./043). (d) Kant führt die Unterscheidung zwischen „Vorschrift“ und „Maxime“²⁶ (V-Mo, 040.07/045) sowie zwischen den „Gründen der Dijudication“ und denen „der Exsecution“ (V-Mo, 040.23/046) an.
Diese Auffassung der Freiheit vertritt bereits Baumgarten: „COACTIO MORALIS INTERNA, qua persona se ipsam cogere dicitur, M. §. 714, est obligatio sui ipsius, vel vera, vel spuria, §. 27, non solum non contraria libertati simpliciter sumptae, sed etiam eam supponens, ut conditionem, sine qua non, §. 11, et fit, quoties cum certa determinatione nostra libera, ad cuius oppositum multa et magna videntur impellere, tamen causas impulsivas potiores conuectimus, §. 15. M. 713. Tunc haec coactio est lubitus, M. §. 712, pro quo suscepta determinatio libera aliquo significatu invita, M. §. 713, tamen manet arbitraria et libera, M. §. 715, 727“ (Initia, § 51). Crusius 1744, 202; zitiert durch Stark (Hg.) 2004, Kommentar 29. Weder in der Initia noch in der Ethica Baumgartens kommt diese Unterscheidung vor. Zwar enthält die Initia den Begriff „praeceptum“ mit der Bedeutung von „Vorschrift“ (einmal in Form des Substantivs [siehe Initia, § 104] und fünfmal als Adjektiv [siehe Initia, §§ 68, 83, 85]): „LEGES affirmative obligantes, s. ad commissionem, § 31, sunt PRAECEPTIVAE, (praecepta) earumque ius, § 64, IUS MANDATI“ (siehe Initia, § 68). Ebenfalls beinhaltet die Ethica den Begriff der „Maxima“; in § 246 und § 449 werden die Maximen definiert als „propositiones syllogismorum practicorum maiores“ bzw. „Regeln des freyen Verhaltens die man sich angewöhnt hat“ (Ethica,
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(e) Die objektive von der subjektiven Moralität zu unterscheiden, ist „gantz wiedersinnig, denn alle Moralitaet ist objectiv, allein die Bedingung der Anwendung der Moralitaet kann subjectiv seyn“ (V-Mo, 041.09/047); sie beruht nur auf objektiven Gesetzen. (B) Im zweiten Abschnitt „Ausgeklaubte Bedeutung des Satzes: Fac Bonum“ (VMo, 041/047– 044/052) übt Kant weiter Kritik an den moralischen Prinzipien Baumgartens²⁷, da sie in vielerlei Hinsicht tautologisch sind: „alle Imperativi sagen, man soll das thun was gut ist und nicht was angenehm ist, das Sollen bedeutet immer die Bonitaet des Guten und nicht des Angenehmen, also bleibt es [sc. Fac bonum et omitte malum] doch tautologisch“ (V-Mo, 041.22/ 048). Die weiteren Prinzipien hängen mit diesem zusammen: Sie verwechseln die Vollkommenheit mit der moralischen Bonität (die eine Vollkommenheit des Willens fordert [siehe V-Mo, 043.18 f./050], geben auch keine Auskunft, warum die mit der Natur übereinstimmenden Handlungen gut sein sollen, oder unterscheiden nicht zwischen der Liebe aus Grundsätzen und der aus Neigung²⁸. Demzufolge sind sie unvollständige Prinzipien, von denen keines den Platz des Moralprinzips einnehmen kann (siehe V-Mo, 044.07/051). (C) Im ersten Abschnitt der „Sectio 2“, „Vom moralischen Zwange“ (V-Mo, 044/ 052– 046/056), unterscheidet Kant zwischen objektiver und subjektiver Nötigung, indem Erstere „die Vorstellung der Nothwendigkeit der Handlung aus den BewegungsGründen der Bonitaet“, Letztere aber „die Nothwendigkeit der Handlung per stimulos“ ausmacht (V-Mo, 045.01/052 f.). Diese Unterscheidung gibt Anlass zur Einführung der weiteren entscheidenden Differenzierung zwischen der menschlichen Willkür als einem arbitrium liberum und der tierischen Willkür als einem arbitrium brutum²⁹: Aufgrund des freien Willens, der für den Menschen charakteristisch ist, kann dieser (bzw. dessen
AA 27.2,1: 937.26,33 und 1002.17). Aber zum einen kommt weder die „Maxima“ in der Initia, noch das „praeceptum“ in der Ethica vor. Zum anderen ist Kants Prägung des Maximenbegriffs anders als bei Baumgarten zu verstehen, nämlich als Handlungsregel erster Stufe. Siehe Timmermann 2003, 179 ff. Sie lauten: (a) „Fac bonum, adeoque omitte malum“ (Initia, § 39); (b) „bonorum sibi vere oppositorum […] committe melius“ (Initia, § 40); (c) „quaere perfectionem […] quantum potes“ (Initia, § 43); (d) „Vive convenienter naturae, quantum potes“( Initia, § 46); (e) „Ama optimum, quantum potes“ (Initia, § 47). Diese Unterscheidung wird Kant erneut in der Grundlegung einführen (siehe GMS, 399.27). Auf dieselbe Unterscheidung wird Kant später in KrV, 363.28//A534/B562, 521.07//A802 ff./ B830 ff. und in MS, AA 06: 213 zurückgreifen. Zur Differenzierung zwischen freier und tierischer Willkür siehe unten 5.2.3.7.
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freie Willkür) im Gegensatz zu den Tieren nicht pathologisch gezwungen werden. (D) Der zweite Abschnitt der „Sectio 2“, „Von der practischen Necessitation“ (VMo, 046/056 – 052/065), betrachtet das direkt proportionale Verhältnis der Nötigung bzw. des moralischen Zwangs zur Freiheit näher; hierbei werden der „menschliche“ und der „göttliche Wille“³⁰ sowie die Freiheit (und implizit ihre Begriffe der absoluten und moralischen Freiheit) thematisiert. Schließlich widerlegt Kant die Baumgarten′sche Einteilung der Verbindlichkeit, laut der sie „aus Pflicht“ oder aus „Zwang“ erfüllt wird: Kant zufolge hängt die Art der Verbindlichkeit nicht vom Grund der Erfüllung derselben ab, sondern sie wird durch ihre Quelle bestimmt, nämlich ob die Verbindlichkeit „ex arbitrio proprio“ (aus innerlichem Zwang) oder „ex arbitrio alterius“ (aus äußerlichem Zwang) stammt; so kann sie entweder „activa“ sein, wo sie einen höheren Grad der Freiheit gestattet, oder „passiva“, wo der Grad der Freiheit verringert wird. Absicht des Kapitels I der Vorlesung ist es vor allem, den (auch Baumgarten′ schen) Gedanken zu vertreten, dass Verbindlichkeit und Freiheit nicht nur miteinander vereinbar sind, sondern vielmehr einander voraussetzen³¹. Denn die mögliche Vereinbarung der Freiheit mit der Verbindlichkeit wird mit Ausnahme der Seiten zur Kritik an Baumgartens Prinzipien im ganzen Kapitel verhandelt (siehe V-Mo, 041.14/047– 044.27/052). (3) Zum Schluss kann der im zweiten Kapitel eingerahmte Abschnitt „Vom obersten principio der Moralitaet“ (V-Mo, 055.23/069 – 073.14/089) hauptsächlich in vier thematische Teile gegliedert werden: (A) Im ersten Teil (siehe V-Mo, 055.24/069 – 057.11/070) leitet Kant das Thema der Überschrift ein, indem er darauf aufmerksam macht, dass man bei der Antwort auf die Frage nach dem „obersten Prinzip der Moralität“ das „principium der Diiudication der Verbindlichkeit“ vom „principium der Execution oder Leistung der Verbindlichkeit“ zu unterscheiden hat: Das Erstere verschafft eine „Richtschnur“ zur Antwort der Frage „was ist sittlich gut oder nicht“, mithin zur Beurteilung der „Bonitaet und Pravitaet der Handlung“, während das Zweite eine „Triebfeder“ zur „Ausübung der Verbindlichkeit“ gibt, wobei hier die Frage ist: „Was bewegt mich diesen Gesetzen gemäß zu leben“? (V-Mo, 056.02/069 f.). Aber dass man die „Norm“ und damit den objektiven
Diese Unterscheidung ist auch in Baumgartens Initia enthalten (siehe Initia, § 38, § 63, § 69). Siehe V-Mo, 036.34 f./042, 045.20/053 f., 046.20/055, 047.07/056 f., 048.01/058, 048.25/059, 049.01/059 f.; siehe Initia, § 51.
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(B)
Grund kennt und billigt, heißt noch nicht, dass man sich zur entsprechenden Handlung entschließt; denn dazu fehlen noch die „motiva subjective moventia“³² (V-Mo, 056.10/070). „Anjetzo wollen wir noch kürtzlich zeigen negative, worin das principium der Moralitaet nicht bestehe“. So beginnt der zweite Teil (siehe VMo, 057.12/071 – 064.20/080), der nochmals von einem kritischen Charakter geprägt ist. Er lässt sich wiederum in zwei Unterteile gliedern: (B1) Im ersten Stück (siehe V-Mo, 057.14/071– 060.02/074) wendet Kant seine Kritik zunächst gegen die Empiristen, sofern sie die Moral auf ein pragmatisches bzw. das Klugheitsprinzip gründen, das auf dem Gefühl beruht (siehe V-Mo, 058.20 f./072 f.). Hierbei greift er zu allererst implizit die Moral-Sense- Philosophie an, die für eine „intellektuelle Neigung“ zum Moralischen, namentlich das „moralische Gefühl“, plädiert (siehe V-Mo, 057.26/071).³³ Dann greift er explizit Epikur an, laut dem das Moralprinzip von einem „physischen Gefühl“ abhängt, da die Erlangung der Glückseligkeit und somit die „Befriedigung aller Neigungen“ den Platz des höchsten Guts einnimmt (siehe V-Mo, 059.04/073 f., 014.02/015). (B2) Im zweiten Stück des zweiten Teils (siehe V-Mo, 060.02/ 074– 064.20/080) tritt Kant den Rationalisten, aber besonders dem theologischen Moralprinzip entgegen: Dass „das moralische Gesetz ein Befehl [ist]“, heißt doch nicht, dass es eigentlich durch ein drittes Wesen geboten ist. Vielmehr: „Gott hat es gebothen, weil es ein moralisches Gesetz ist und sein Wille mit dem moralischen Gesetz übereinstimmt“ (V-Mo, 061.29/076). Zwar dient die Theologie zur Triebfeder der Moral³⁴. „Allein zur Beurtheilung der Moralitaet brauchen wir kein drittes Wesen“ (V-
Darunter ist eigentlich nicht „das moralische Gefühl“ zu verstehen, wie Kuehn in seiner Einleitung behauptet (vergleiche Kuehn 2004, XXVI), sondern die „motiva subjective moventia“ beziehen sich in moralischer Hinsicht auf die inneren Bewegungsgründe objektiven Wertes (siehe V-Mo, 050.11/061 f., 051.05/063) und in pragmatischer Hinsicht auf die durch die Sinnlichkeit und das Verhältnis zu anderen empfangenen „stimuli“. Dazu siehe unten 5.1.3.6.2. Im letzten Teil (D) dieses zweiten Kapitels geht Kant wieder implizit auf die Kritik an der MoralSense-Philosophie ein, indem er die Möglichkeit des moralischen Gefühls zunächst für unbeweisbar erklärt (siehe V-Mo, 068.23/085) und sie schließlich leugnet (V-Mo, 071.25/087). Dazu siehe unten 5.2.2.1. V-Mo, 062.05/077: „Man hat also mit Recht eingesehen, daß ohne einen obersten Richter alle moralische Gesetze ohne Effekt wären, alsdenn wäre keine Triebfeder, keine Belohnung und keine Bestrafung“. Dazu siehe unten 5.2.2.1.
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(C)
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Mo, 062.2/077). Darüber hinaus wird „de[r] göttliche[] Wille[] durch die Vernunfft [erkannt]“ (V-Mo, 062.18/077), mithin dieser und der Moral unterordnet; denn „[w]as sittlich gut ist, zeigt uns die Moral“ (V-Mo, 063.02/078). „Da nun gezeigt ist, worin das principium der Moralitaet nicht bestehe, so muß nun gezeigt werden, worin es denn bestehe“ (V-Mo, 064.21/080). Mit diesen Worten wird der dritte Teil (siehe V-Mo, 064.21/080 – 068.10/ 084) des zweiten Kapitels eingeleitet. Umgehend wird Kants Definition des objektiven Prinzips der Beurteilung eingeführt:
„Die Moralitaet ist die Uebereinstimmung der Handlung mit einem allgemein gültigen Gesetz der freyen Willkür. Alle Moralitaet ist das Verhältniß der Handlung zur allgemeinen Regel. In allen unsern Handlungen ist das, was man moralisch nennt, regelmässig. Das ist das wesentliche Stük der Moralitaet, daß unsre Handlungen aus dem BewegungsGrunde der allgemeinen Regel geschehen. Wenn ich das zum Grunde lege, daß meine Handlungen müssen zusammenstimmen mit der allgemeinen Regel, die zu jederzeit und für jedermann gillt, so ist sie entsprungen aus dem moralischen principio“ (V-Mo, 064.25/080 f.).
Als „Vermögen der Regel“ (V-Mo, 067.31/084) ist der Verstand für die Überprüfung der möglichen allgemeinen Tauglichkeit der Handlungsregel (siehe V-Mo, 66.5/81) bzw. der „Maxime“, „nach der man würklich handelt“, verantwortlich (V-Mo, 066.13/082). Dabei kommen erneut zwei wichtige Unterscheidungen vor: Erstens zwischen „Personen“ und „Sachen“, sofern die „Intention der Handlung […] eine allgemeine Regel seyn könnte“ und man „die Menschheit in seiner […] Person“ nicht „entehrt“ (V-Mo, 067.07/083). Zweitens ist dann eine „Intention“ „moralisch möglich“, weil sie sich als „allgemeine Regel“ nicht „aufhebt“, mithin nicht als „moralisch unmöglich“ auftritt (V-Mo, 067.18/083 f.)³⁵. Schließlich wirft Kant das Problem auf, das auch später im zweiten und dritten Abschnitt der Grundlegung vorkommt: „Wie nun der Verstand ein principium der Handlungen enthalten soll, ist etwas schwer einzusehen“³⁶. Aber Kant beschränkt sich hier darauf zu be Die „innere Unmöglichkeit“ einer Maxime aufgrund ihres Widerspruchs mit dem Willen wird dann wieder in der Grundlegung betrachtet: Man greift auf solche Maximen zurück, wenn man sich vom moralischen Gesetz eine Ausnahme erlauben will, siehe GMS, 424. Zu Kants Behandlung der Frage, siehe unten 5.1.3.9. In der Grundlegung heißt es: „Nun entsteht die Frage: wie sind alle diese Imperative möglich? Diese Frage verlangt nicht zu wissen, wie die Vollziehung der Handlung, welche der Imperativ gebietet, sondern wie bloß die Nöthigung des Willens, die der Imperativ in der Aufgabe ausdrückt, gedacht werden könne“ (GMS, 417.03). Anders gesagt: „Wir werden also die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs gänzlich a priori zu untersuchen haben, da uns hier der Vortheil nicht zu statten kommt, daß die Wirklichkeit desselben in der Erfahrung gegeben und also die Möglichkeit nicht zur Festsetzung, sondern bloß zur Erklärung nöthig wäre“ (GMS, 419.36 f.). Schließlich technisch ausgedrückt: „Wie ein solcher
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haupten: „die Moralitaet der Handlung besteht in der allgemeinen Form (die pur intellectual ist) des Verstandes; wenn nemlich die Handlung allgemein genommen wird sie als Regel bestehen kann“ (V-Mo, 068.04/084). (D) Im letzten Teil des Abschnitts (siehe V-Mo, 068.10/084– 073.14/089) geht Kant auf das „principium Executionis“ ein, welches als „subjectives principium“ die Triebfeder zur Handlung gibt. Zunächst nennt Kant es „moralisches Gefühl“; dennoch kann dieses als „Fähigkeit durch ein moralisches Urtheil afficirt zu werden“ nicht bestätigt werden und bleibt als „Stein der Weisen“³⁷ unbeweisbar (V-Mo, 068.11 f./085). Zwar widersetzt sich der Verstand gegen „alles was die Möglichkeit der Regel aufhebt“ (V-Mo, 070.01/085) und hat hierbei eine gewisse „bewegende Krafft“ (V-Mo, 070.08/086). Aber „die Pravitaet die Bösartigkeit der Handlung besteht nicht in der Diiudication und liegt also nicht im Verstande, sondern sie besteht in der Triebfeder des Willens“ (V-Mo, 070.16 f./086 f.). Die bewegende Kraft des Verstandes gehört also zu einer vom Willen wie vom Handeln (bzw. von der Willensbestimmung) unterschiedenen Ebene. Demzufolge heißt es: „Den Menschen dahin zu bringen, daß er die Verabscheulichkeit des Lasters fühle, ist gar nicht möglich, denn ich kann ihm nur das sagen, was mein Verstand einsieht […]. Also läßt sich sowas [sc. das moralische Gefühl] überhaupt nicht hervorbringen“ (V-Mo, 071.52 f./ 087 f.).
Hingegen, schließt Kant, „[können] wir doch einen habitum hervorbringen […] einen solchen Abscheu wieder die Handlung erwekken, der ihm [sc. dem Kind] zum habitu werden kann“ (V-Mo, 072 f./088 f.).
5.1.3 Kants Darstellung der moralischen Begriffe Im Folgenden werde ich mich mit der Begrifflichkeit der Vorlesung beschäftigen. Es soll deutlich werden, welchen Moralbegriff Kant zu dieser Zeit vertritt und inwiefern dieser einen Beitrag zu seinem späteren Autonomiebegriff leistet.
synthetischer praktischer Satz a priori möglich und warum er nothwendig sei“ (GMS, 444.35). Die Antwort darauf gibt Kant in der vierten Sektion des Dritten Abschnitts der GMS. Siehe unten 7.2.2.2. Dazu siehe Stark (Hg.) 2004, Kommentar 47.
5.1 Analytischer Teil
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5.1.3.1 Die Einteilung der praktischen Philosophie Nach Kants Auffassung richtet sich die praktische Philosophie im Allgemeinen auf unser Verhalten, mithin auf die Regeln, die dieses regieren, sofern wir über eine „freye Willkür“ verfügen. Insofern teilt sich die „praktische Philosophie generaliter“ in zwei Disziplinen: Die eine sucht die Regeln des Verhaltens nachträglich, wobei sie bloß das tatsächliche Handeln beschreiben; die andere sucht aber die Regel des gesollten Handelns vom Anfang, nämlich die „objective Regel des freyen Verhaltens“ bzw. „vom guten Gebrauch der Freiheit“; diese sagt, „was geschehen soll, wenn es auch niemals geschicht“ (V-Mo, 004.29/005). Im ersten Fall handelt es sich um die Anthropologie, im zweiten um die praktische Philosophie im engeren Sinne bzw. die Moral. Während die Anthropologie „eine Wissenschafft über die subjective Gesetze der freyen Willkür [ist]“ (V-Mo, 006.20/008) bzw. über „die Regel[n] des würklicken Verhaltens“ (V-Mo, 005.09/006), die bloß aussprechen, „was da würklich geschicht“ (V-Mo, 004.30/005), ist die Moral hingegen die Wissenschaft, die nur von den „objectiven Gesetzen der freyen Willkür“ handelt und also „eine Philosophie der objectiven Nothwendigkeit der freyen Handlungen oder des Sollens, d. h. aller möglich guten Handlungen“ (VMo, 006.17/007 f.).
5.1.3.2 Das höchste Gut Kants Blick auf die Geschichte der Philosophie zeigt, dass das höchste Gut den Leitfaden und die Hauptfrage aller moralischen Systeme ausmacht; so soll die Moral die objektive Regel ausfindig machen, durch welche das höchste Gut erlangt werden kann. Das könne aber weder den alten Schulen noch den Kant vorausgehenden Rationalisten und Empiristen (Crusius, Wolff, Baumgarten und Hutcheson), und ebenso wenig Rousseau gelingen. Kant räumt ein (mit Epikur und Zeno übereinstimmend), dass das höchste Gut „eine Sache der Kunst und nicht der Natur“ ist, wie die Kyniker und Rousseau es gedacht haben (V-Mo, 016.01/016 f.). Denn es bestehe in der Synthesis von zwei Bestandteilen, welche nur als Ergebnis des menschlichen Handelns gedacht werden könnten, und zwar: dem moralischen Gut (V-Mo, 013.06/014), d. h. der Tugend, sofern sie uns der Glückseligkeit würdig mache, und dem physischen Gut (V-Mo, 013.03/014), d. h. der Glückseligkeit selbst, sofern diese sich als die „Befriedigung aller Neigungen“ definiere (V-Mo, 059.03/074): „Also ist die Beschaffenheit und Vollkommenheit der freyen Willkür, welche den Grund enthält von der Würdigkeit der Glükseligkeit, die moralische Vollkommenheit. Das physische Guth oder das Wohlbefinden, wozu Gesundheit, Wohlhaben gehört, macht nicht das höchste Guth aus, sondern das moralische Guth, das Wohlverhalten, die Würdigkeit der
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Glükseligkeit muß dazu kommen und dieses macht das höchste Guth aus“ (V-Mo, 013.01/ 014).
Insofern distanziert sich Kant von der kynischen, vor allem jedoch von der Rousseau′schen moralischen Grundidee, derzufolge der „Mensch der Natur“ Maßstab für die Moral ist (V-Mo, 014.15 f./015 f.), weil er bereits von Natur aus einen guten Willen habe. Das Verorten der Moral in der menschlichen Tätigkeit (bzw. „Kunst“), welches schon durch Epikur und die Stoa vertreten wurde, führe aber noch nicht zu einer überzeugenden Moralkonzeption. Denn Epikur habe seinerseits behauptet, das Ziel der Moral (d. i. das Erreichen des höchsten Guts) identifiziere sich mit der Glückseligkeit, für deren Erreichen die Tugend bloß das Mittel in die Hand gäbe. Daher sei das epikureische Muster der Moral der „Weltmann“ (V-Mo, 017.13/018), welcher über eine reiche Erfahrung verfüge, dank derer er wissen könne, was einen Menschen glücklich macht. Dagegen hielte die Stoa ihrerseits fest, der Zweck der Moral sei allein die Tugend, von welcher die Glückseligkeit bloß eine Folge ausmache (siehe V-Mo, 013.020/015 – 017.23/018). So gälte für die Stoiker der „Weise“ als moralisches Muster, sofern er der bloßen Tugend entsprechend zu handeln wisse (siehe V-Mo, 017.13/018). Aber Kant zufolge hat die Tugend, (a) entgegen Epikurs Einschätzung, einen inneren Wert und bedarf (b) entgegen der Stoa, eine Triebfeder, die zum moralischen Handeln motiviert (siehe V-Mo, 018.06 f./019 f.). Denn es folge aus der bloßen Erkenntnis davon, was man zu tun hat, nicht das entsprechende Handeln (siehe V-Mo, 068.19/085): „Epicur und Zeno fehlten darinn, daß Epicur der Tugend Triebfeder geben wollte, und keinen Werth. Die Triebfeder war die Glükseligkeit und der Werth die Würdigkeit. Zeno erhob den inneren Werth der Tugend, und setzte darin das höchste Guth und benahm der Tugend die Triebfeder“ (V-Mo, 018.06/019).
Somit, wenn das höchste Gut gleichermaßen aus Tugend und Glückseligkeit bestehen soll, dann stelle sich das christliche Ideal der Heiligkeit als das Ideal der sittlichen Vollkommenheit dar, da dieses – aus philosophischer Sicht – wegen seiner Reinheit dem höchsten Gut am besten entspreche: Wenn auch die Glückseligkeit als die größte Triebfeder zur Tugend fungiere, dürfe man sie nicht in dieser Welt erwarten, weil sie nicht in unserer Gewalt sei; höchstens könnten wir uns ihrer würdig machen (siehe V-Mo, 020.01/021 f.).³⁸ Diese Konzeption wird Kant im „Kanon“ der KrV entwickeln. Dazu siehe unten 6.3.1 Das höchste Gut.
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Auf diese Weise entstehen nach Kant sowohl aus der epikureischen als auch der stoischen Moralkonzeption unzulängliche Auffassungen des höchsten Guts (als bloße Glückseligkeit oder bloße Tugend), die ihrerseits zu mangelhaften Moralsystemen führten. Diese fußten auf Prinzipien, die entweder keine innere Notwendigkeit beinhalten oder keine Triebfeder zum Handeln einräumten.
5.1.3.3 Die Klassifikation der Imperative Konzentrieren wir uns zunächst auf die Prinzipien, d. h. auf die objektiv praktischen Regeln, die unser freies Handeln leiten sollen. Diese artikulieren sich durch „Imperative“, die „ein Sollen, also eine objektive Nothwendigkeit [ausdrüken], und zwar eine Nothwendigkeit der freyen und guten Willkür […]. Alle Imperativi enthalten eine objective Nöthigung und zwar unter der Bedingung einer guten freyen Willkür“ (V-Mo, 007.12/008 f.).
Die Regeln oder Imperative unterscheiden sich durch das, worauf sich ihre aussprechende „objective Nothwendigkeit“ richtet. So teilt Kant zum ersten Mal die praktischen Imperative ein in (a) Imperative der Geschicklichkeit, (b) der Klugheit und (c) der Sittlichkeit.³⁹ (a) Wenn die Notwendigkeit des Imperativs auf einen „problematischen“ Zweck abzielt, dann kündigt er eine „Nothwendigkeit des Willens“ an, indem er die notwendigen Mittel zur Erreichung jenes Zwecks „assertorisch“ ausspricht. Da aber der Zweck „beliebig“ ist, enthalten die gebotenen Mittel in sich keine objektive, sondern nur „bedingte“ Notwendigkeit: Sie sind also nur insofern notwendig, als sie in der Lage sind, den Zweck tatsächlich zu verwirklichen: „Die Imperativi der Geschicklichkeit imperiren nur hypothetisch, denn die Nothwendigkeit des Gebrauchs der Mittel ist allemal bedingt, nemlich unter der Bedingung des Zweks“ (V-Mo, 007.33/009 f.; siehe V-Mo, 007.17– 008.02/ 009 f.). Nur dann, wenn man den Zweck will, muss man auf die gebotenen Mittel zurückgreifen. (b) Die Klugheit wird definiert als „die Fertigkeit im Gebrauch der Mittel zum allgemeinen Zwek der Menschen, das ist zur Glückseligkeit“ (V-Mo, 008.08/ 010). Im Unterschied zu den Imperativen der Geschicklichkeit wird damit der Zweck der Glückseligkeit als eine „assertorische allgemeine nothwendige
Wie in der vorigen Analyse zur Untersuchung und den Bemerkungen gezeigt, differenziert Kant zwar zwischen unterschiedlichen Arten der Notwendigkeit, aber weder legt er dort eine systematische Einteilung derselben vor, noch kommt der Begriff des „Imperativs“ vor. Siehe oben 1.1.3 und 3.2.2.2. Dazu siehe Schwaiger 2008, 225 f.
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Bedingung“ schon gegeben (V-Mo, 008.26/011): Er wird bei allen Menschen vorausgesetzt, „weil jeder glücklich seyn will“ (V-Mo, 008.29/011)⁴⁰. Die Notwendigkeit dieses Zwecks ist aber eine bloß „subjektive“, da das, was jeden glücklich macht, von jedem Einzelnen abhängt und mithin bei jedem unterschiedlich ist. So bedarf man zum Erlangen der Glückseligkeit noch einer „Regel der Beurtheilung dessen was zur Glükseligkeit gehört und [der] Regel des Gebrauchs der Mittel zu dieser Glükseligkeit“ (V-Mo, 008.13/010). Die Imperative der Klugheit setzen also eine doppelte Fertigkeit voraus: „den Zwek und auch die Mittel zu dem Zwek zu bestimmen“ (V-Mo, 008.16/010). Daher ist die praktische Philosophie hinsichtlich der Regel der Klugheit „pragmatisch“ (siehe V-Mo, 008.03 – 009.03/010 f.): „Die practische Philosophie enthält nicht Regel der Geschicklichkeit, sondern Regel der Klugheit und Sittlichkeit. Sie ist also eine pragmatische und moralische Philosophie, pragmatisch in Ansehung der Regel der Klugheit und moralisch in Ansehung der Regel der Sittlichkeit“ (V-Mo, 008.03/010).
(c) Letztlich betreffen die Imperative der Sittlichkeit die „freie Willkür“, d. h. das „freie Tun und Lassen“. Die Handlungen, die sie gebieten, sind also frei, weil ihr Zweck völlig „unbestimmt“ ist: Zur Ausführung solcher Handlungen wird keine Bedingung in Form eines beliebigen bzw. subjektiven Zwecks vorausgesetzt. Daher sind solche Imperative „moralisch“, denn sie gebieten „objectiv“, „cathegorisch und schlechthin“, etwas zu tun (V-Mo, 009.04/011): „Der moralische Imperativus imperirt also absolut ohne auf die Zwekke zu sehen. Unser freyes Thun und Lassen hat eine innere Bonitaet, der Zwek mag seyn welcher er will“ (V-Mo, 009.15/012). Die diesen Imperativen entsprechenden Handlungen beinhalten somit eine „innere Bonitaet“ bzw. sind „absolut ohne auf die Zwekke zu sehen“ für sich selbst gut, wobei die Ausübung derselben „dem Menschen einen unmittelbaren innern absoluten Werth der Sittlichkeit“ erteilt (V-Mo, 009.04/011 f.). Während schließlich die Imperative der Geschicklichkeit den „Wissenschaften generaliter“ eigentümlich sind, denn sie zielen darauf, bestimmte Aufgaben zu lösen, gehören hingegen sowohl die pragmatischen als auch die moralischen Imperative zur praktischen Philosophie generaliter (siehe V-Mo, 008.03/ 010 – 009.03/011). Demgemäß gestalten die Ersteren eine „pragmatische Philo Dass die Glückseligkeit den allgemeinen Zweck der Menschen ausmacht, wird Kant nie leugnen (siehe KU, AA 05: § 83 ff.). Er bestreitet also nur, dass die Glückseligkeit ein moralisches Ziel bedeutet, bzw. dass sie eine (aktive) Rolle in der Moral als Disziplin spielt oder sich sogar mit der Moral als deren Aufgabe identifiziert.
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sophie“, und die Zweiten bilden die „moralische Philosophie“ (V-Mo, 008.05/ 010): Es sind „zufällige Gründe“, die die pragmatische Philosophie ausmachen (V-Mo, 025.10/026), da sie keine innere Notwendigkeit enthalten und den empirischen bzw. pragmatischen Moralsystemen zugrunde liegen (siehe V-Mo, 022.08/ 024). Daher gelten solche Prinzipien – wie Epikurs und Mandevilles Prinzip der Selbstliebe, Shaftesburys und Hutchesons Prinzip des moralischen Gefühls, Montaignes Prinzip der Erziehung oder Hobbes’ Prinzip der Regierung (siehe VMo, 022.20 ff./024 ff.) – als Prinzipien der Klugheit und können infolgedessen nicht als „sittlich“ charakterisiert werden. Demgegenüber stehen die moralischen Prinzipien, die auf intellektuellen Gründen basieren, aus denen die von Kant ebenso genannten intellektuellen Systeme der Moral abgeleitet werden. Bei diesen besteht die Moralität darin, dass unsere Handlungen mit den „Gesetzen der Vernunfft“ übereinstimmen (V-Mo, 022.04/024). „[D]as principium der Moralitaet [habe] einen Grund im Verstande und [kann] völlig a priori eingesehen werden“ (V-Mo, 026.06/026 f.). Darauf fußen also die moralischen Prinzipien, die daher „allgemein, beständig und nothwendig gelten sollen“ (V-Mo, 026.23/027). Mithin können solche Prinzipien, nach denen „[d]ie Beurtheilung der Moralitaet“ gefällt wird (V-Mo, 027.05/028), „nicht aus der Erfahrung, sondern sie müssen aus reiner Vernunfft abgeleitet werden“ (V-Mo, 026.24 f./027). Trotzdem sind nicht alle intellektuellen Prinzipien zugleich moralisch; denn „das theologische principium der Moral“ findet seine Grundlage nicht bloß in unserem Verstand, sondern in einem fremden Wesen, in dessen Verhältnis der „Unterschied des sittlich Guten und Bösen“ gesetzt wird (V-Mo, 027.18/028).⁴¹ Es handelt sich also um ein „äußerliches Prinzip“ (V-Mo, 027.12/028), das keine innere Bonität enthält.
5.1.3.4 Die Sittlichkeit und ihr Prinzip Da die Moralität keine Sache der Natur (wie etwa bei den Kynikern oder Rousseau), mithin kein Gegenstand der Sinne bzw. der Erfahrung, sondern bloß des Verstandes ist und keine Stütze außerhalb desselben hat (siehe V-Mo, 027.05/028), so muss ihr Prinzip ein Prinzip „intellectuale internum“ sein (V-Mo, 027.20/028):
Diese Anmerkung soll als Abweichung von der Crusius′schen materiellen Auffassung der Verbindlichkeit verstanden werden, welcher Kant sich in der Untersuchung bedient, um zu zeigen, dass in der Moral auch zu einer bestimmten Deutlichkeit gelangt werden kann. Siehe oben 1.2.1. Auf die Kritik an Crusius und dem theologischen Prinzip der Moral geht Kant jeweils in den Abschnitten „De Obligatione activa et passiva“ (V-Mo, 037.13 f./043) und „Vom obersten principio der Moralitaet“ (V-Mo, 060.02/074– 064.20/080) wieder ein.
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„es beruht auf der innern Beschaffenheit der Handlungen, so ferne wir sie durch den Verstand betrachten“ (V-Mo, 027.10/028). Der Verstand verleiht dem Prinzip der Moral und den aus ihm hergeleiteten Grundsätzen seine „allgemeine Form“ (V-Mo, 068.08/084, 070.10/086). So „[ist] der Zwek bey dem moralischen principio eigentlich unbestimmt“; die befohlene „Handlung ist auch nicht nach dem Zwek bestimmt, sondern geht auf die freye Willkür, der Zwek mag seyn welcher er wolle“ (V-Mo, 009.12/011 f.). Das bringt mit sich, dass die „moralische Regel“ nicht umstandsbedingt bzw. zufällig ist wie bei den empiristischen Systemen; sondern sie drückt als „allgemein, beständig und notwendig gelten[der]“ (V-Mo, 026.23 f./ 027) „Befehl“⁴² „eine cathegorische Nothwendigkeit aus und nicht eine solche, die aus der Erfahrung geschöpft ist Alle nothwendige Regel müssen a priori feststehen, folglich sind die principia intellectual“ (V-Mo, 027.02/028; siehe V-Mo, 009.09/011). Warum aber soll die Moralität überhaupt auf einem absolut notwendigen Prinzip beruhen? Wie wir gesehen haben, geht die Moral im Besonderen auf die freie Willkür ein, die Kant definiert als „ein arbitrium liberum, indem sie nicht per stimulos necessitirt wird“ (V-Mo, 045.25/054)⁴³. Das heißt: „Alle freye Handlungen sind nicht durch die Natur und durch kein Gesetz bestimmt, also ist die Freyheit was schrekliches, weil die Handlungen gar nicht determinirt sind“. Daher schließt Kant: „Nun ist in Ansehung unserer freyen Handlungen eine Regel nöthig, wodurch alle Handlungen einstimmig sind und das ist das moralische Regel. […] Da wir aber das Wohlbefinden nicht a priori einsehen können, so folgt, daß wir keine Regel a priori geben können von der Klugheit, sondern a posteriori, dahero kann es keine Regel für alle Handlungen seyn, also sind die pragmatische Regel weder mit der Willkür anderer noch mit meiner eigenen übereinstimmend. Dahero müssen Regel seyn, wornach meine Handlungen allgemein gelten“ (VMo, 031.10/035).
Die Ungebundenheit unserer Willkür führt dazu, dass unser Verhalten überhaupt erst durch Regeln zu richten ist. Da aber die Regeln, die sich „das Wohlbefinden“ zum Ziel setzen, bloß auf der subjektiven Ebene beruhen und nur mittelbar und nachträglich bestimmt werden können, so können sie kein an sich gutes Verhalten begründen, das „mit der Willkür anderer“ oder „mit meiner eigenen V-Mo, 061.29/076: „Es ist wahr, das moralische Gesetz ist ein Befehl und sie können Gebothe des göttlichen Willens seyn, aber sie fliessen nicht aus dem Geboth. Gott hat es gebothen, weil es ein moralisches Gesetz ist und sein Wille mit dem moralischen Gesetz übereinstimmt“. V-Mo, 179.07/224: „[…] wenn wir den Menschen in Ansehung seiner Neigungen und Insticte betrachten, so ist er darin ungebunden und durch keine Instincte und stimulos necessitirt“.
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übereinstimmend“ ist. Die freien Handlungen bedürfen also einer von allem Bedingten unabhängigen Regel, die sie allgemeingültig und somit miteinander einstimmig macht (worin die Moralität besteht). Eine derartige Regel muss sich mithin auf eine objektive Notwendigkeit gründen, die eben fordert, (1) von allen persönlichen Interessen und Gefühlen zu abstrahieren, und (2) nach Bewegungsgründen zu handeln, die sich der moralischen Regel angleichen. Zusammenfassend sind einerseits die Ungebundenheit unser Willkür (samt dem damit verbundenen Bedarf einer leitenden Regel) und andererseits die moralische Regel (als die einzige, die auf kategorischer Notwendigkeit beruhend alle unsere Handlungen einstimmig machen kann) die zwei Gründe dafür, dass wir uns in moralischer Hinsicht nach einem absolut notwendigen Prinzip bestimmen müssen. Dieses ist daher ein „principium der Möglichkeit der Übereinstimmung aller freyen Willkür“ (V-Mo, 031.09/035). Die Freiheit unserer Willkür und deren Handlungen ist allerdings nicht mit der bloßen Ungebundenheit zu verwechseln: Soweit „in Ansehung unserer freyen Handlungen eine Regel nöthig [ist], wodurch alle Handlungen einstimmig sind“, so muss sich die Freiheit auf unsere vernünftige Natur stützen, denn nur den Gründen des Verstandes (nämlich den sogenannten „motiva“ oder „Bewegungsgründen“) liegt objektive Notwendigkeit zugrunde. Demzufolge können diese allein als moralische Grundsätze fungieren. Dass eine Handlung mit der moralischen Regel übereinstimmt, heißt dementsprechend, dass ihr Bewegungsgrund mit dieser Regel übereinstimmt bzw. dass die innere Beschaffenheit der Handlung mit der moralischen Regel harmoniert.
5.1.3.5 Sittliches und anderes Gutsein Da, wie gesehen, die moralischen Grundsätze objektiv sind, so sind die aus ihnen abgeleiteten Handlungen wegen ihrer „inneren Beschaffenheit“ (V-Mo, 039.02/ 043) erstens praktisch notwendig und zweitens an sich gut. Zum einen sind sie nötigend, weil sie an sich eine Verbindlichkeit ausmachen⁴⁴ (siehe V-Mo, 039.01/ 043 f.), sodass „denen zu widerstehen, die menschliche Kräffte nicht zureichen“ (V-Mo, 046.04/054): „[…] ein reiner moralischer Grund hat grössere Triebfeder, als wenn er untermengt ist mit pathologischen und pragmatischen motivis; denn solche motiva haben mehr bewegende Krafft für die Sinnlichkeit, aber der Verstand sieht auf die allgemein gültige bewegende Krafft. Die Sittlichkeit ist zwar von schlechtem Eindruk, sie gefällt und vergnügt nicht so,
Zur Verbindlichkeit siehe unten 5.1.3.6.
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aber es ist eine Beziehung auf das allgemein gültige Wohlgefallen, sie muß so gar dem höchsten Wesen gefallen und das ist der stärkste BewegungsGrund“ (V-Mo, 032.17 f./036 f.).⁴⁵
Zum anderen sind die an sich notwendigen Handlungen auch an sich gut, weil sie – unabhängig von allen zufälligen Gründen – erstens keinen beliebigen Zweck anstreben⁴⁶ (vergleiche V-Mo, 007.17/009 – 009.03/011), sondern sie sind überhaupt „ohne alle Bedingung oder unter einer objectiven nothwendigen Bedingung“ (V-Mo, 009.11/011); und zweitens weil sie keinen Widerspruch in sich enthalten (siehe V-Mo, 031.04/035), sondern an und für sich selbst bestehen⁴⁷ (siehe V-Mo, 040.28/046). Mithin wird die „sittliche Bonitaet“ vom moralischen Imperativ „an und vor sich selbst“, d. i. kategorisch geboten: „Der moralische Imperativus enuncirt die Bonitaet der Handlung an und vor sich selbst, also ist die moralische Necessitation[⁴⁸] cathegorisch und nicht hypothetisch, die moralische Nothwendigkeit besteht in der absoluten Bonitaet der freyen Handlung, und das ist die Bonitas moralis“ (V-Mo, 028.29/030 f.).
Kurzum identifiziert sich das moralische Gutsein mit der moralischen Notwendigkeit (bzw. dem Sollen [siehe V-Mo, 007.12/08]) und der auf sie gegründeten Nötigung, weil das Befohlene, abgesondert von allem interessierten Zweck und somit auf kein anderes Gutes zurückgehend, als etwas Gutes für sich auftritt; es handelt sich um eine absolute Bonität. Daher zieht Kant den Schluss, dass „die
Zur Triebfeder als „allgemein gültigen bewegenden Kraft“ siehe siehe Br, AA 10: 145 u. unten 5.2.2 Fn. 149. Zur Bedeutung des Begriffs der „Triebfeder“ als einem objektiven Bewegungsgrund (was nicht mit der bloß subjektiven Triebfeder und der moralischen Motivation verwechselt werden soll), siehe unten 5.1.3.6.2. V-Mo, 009.15/012: „Der moralische Imperativus imperirt also absolut ohne auf die Zwekke zu sehen. Unser freyes Thun und Lassen hat eine innere Bonitaet, der Zwek mag seyn welcher er will. Die moralische Bonitaet giebt also dem Menschen einen unmittelbaren innern absoluten Werth der Sittlichkeit“. V-Mo, 031.06/034 f.: „Die moralische Bonitaet ist also die Regierung unserer Willkür durch Regel, wodurch alle Handlungen meiner Willkür allgemein gültig übereinstimmen“. Dem Zusammenhang nach ist die Bedeutung von „Necessitation“ von „necessitas“ unterschieden und muss mit „Nötigung“ übersetzt werden. Dementsprechend erklärt Kant kurz darauf: „Alle Obligation ist nicht blos eine Nothwendigkeit der Handlung, sondern auch eine Nöthigung, eine Nothwendigmachung der Handlung, also ist die obligatio necessitatio und nicht necessitas“ (V-Mo, 029.08/031). Aus der Abfrage von „Necessitation“ im Lateinwörterbuch ergibt sich kein Treffer. Dies entspricht der Auffassung Schwaigers, der zufolge „Necessitation“ ein Kunstwort Baumgarten′scher Prägung ist, das auf die lateinische Vokabel „necessitas“ („Notwendigkeit“) zurückgeht (siehe Schwaiger 2000, 251).
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moralische Nothwendigkeit in der absoluten Bonitaet der freyen Handlung [besteht]“ (V-Mo, 028.29/030 f.). „Wie das möglich ist, dass eine Handlung Bonitatem absolutam hat, kann noch nicht erklärt werden[⁴⁹]. Vorläufig muß man aber merken: Die UnterOrdnung unsres Willens unter die Regel allgemein gültiger Zwekke ist die innere Bonitaet und absolute Vollkommenheit der freyen Willkür, denn stimmt sie mit allen Zwekken überein, das in casu zu zeigen läßt sich nicht so zE. Wahrhafftig stimmt mit allen meinen Regeln zusammen, denn eine Wahrheit stimmt mit der andern Wahrheit überein und stimmt auch mit allen Zwekken und auch mit dem Willen anderer überein, so daß sich jeder darnach richten kann. Aber Lügen wiedersprechen sich, stimmen nicht mit meinen Zwekken und mit andern überein. Die moralische Bonitaet ist also die Regierung unserer Willkür durch Regel, wodurch alle Handlungen meiner Willkür allgemein gültig übereinstimmen. Und solche Regel, die das principium der Möglichkeit der Uebereinstimmung aller freyen Willkür ist, ist die moralische Regel“ (V-Mo, 030.31/034 f.).
Zum ersten Mal wirft Kant das Problem auf zu beweisen, ob eine Handlung absolute Bonität enthält⁵⁰. Der Mangel an Beweisgründen in dieser Stelle schränkt ihn darauf ein zu zeigen, dass unsere Handlungen nur dann miteinander sowie mit unserer und anderer freien Willkür übereinstimmen können, wenn sie unter einer objektiv notwendigen Regel stehen⁵¹. Die Unterwerfung unseres Willens unter so eine nötigende, allgemein gültige Regel liefert deswegen unserer freien Willkür eine „innere Bonitaet und absolute Vollkommenheit“⁵². Im Gegensatz zum sittlichen Gutsein einer Handlung bestehen das „problematische“ und das „pragmatische“ Gutsein darin, dass sie bloß auf die Tauglichkeit der Mittel zur Erreichung eines beliebigen bzw. subjektiv bedingten Ziels zurückgehen (V-Mo, 007.17/009 – 009.03/011, 028.19/030). Aus diesem Grund deuten sie nur auf eine „externe Bonitaet“ der Handlung hin (V-Mo, 039.28/045), wobei eine Übereinstimmung derselben mit unserer bzw. der Willkür Anderer nur zufällig stattfinden kann.
V-Mo, 068.04/084: „Wie nun der Verstand ein principium der Handlungen enthalten soll, ist etwas schwer einzusehen“. Kant stößt mehrmals, in der Vorlesung und später beim Ausbau seiner „kritischen“ Philosophie, auf die Grenzen der Vernunft. Dazu siehe unten 5.1.3.9 Punkt (g) der Erläuterung zum Zitat V-Mo, 064.25/080. Diese Fragestellung Kants ist derjenigen nah, die er in der Grundlegung zu beantworten versucht, nämlich: „Wie ein solcher synthetischer praktischer Satz a priori möglich und warum er nothwendig sei“ (GMS, 444.35). Siehe oben 5.1.3.4. V-Mo, 009.18/012: „Die moralische Bonitaet giebt also dem Menschen einen unmittelbaren innern absoluten Werth der Sittlichkeit“.
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5.1.3.6 Praktische Notwendigkeit, moralische Nötigung und Verbindlichkeit Wie zuvor gezeigt, befasst sich die praktische Philosophie mit den Regeln, die unser Verhalten leiten. Da es Kant in diesen Passagen der Vorlesung, mit denen ich mich im gegenwärtigen Kapitel beschäftige, spezifisch um die Moralphilosophie geht, konzentriert er sich nicht nur auf die moralischen Regeln, sondern auch auf die pragmatischen, die mit den moralischen Regeln konkurrieren. Hierzu behandelt er die Differenzen zwischen den Prinzipien bzw. Imperativen der Klugheit und der Sittlichkeit. Zunächst stellt Kant die Grundlage für die Unterscheidung zwischen der subjektiven und der objektiven Nötigung bereit (siehe V-Mo, 027.24 f./029): Die Erstere rührt von einer pathologischen Notwendigkeit her, sofern die Prinzipien der Klugheit (auf ihrer Suche nach der Glückseligkeit) den Gesetzen der Sinnlichkeit folgen. Demnach bringt die pathologische Notwendigkeit, die die Neigungen betrifft, höchstens eine pragmatische Nötigung hervor, die uns hinsichtlich der Glückseligkeit oder auf unseren Vorteil abzielend durch eine „caussa impulsiva per stimulos“ bzw. eine subjektive Triebfeder zum Handeln treibt. Jedoch gründet sich die objektive Nötigung auf eine im engen Sinne praktische Notwendigkeit, nämlich die moralische, welche aus den „Gesetzen der Freyheit“ entspringt (V-Mo, 027.032/029). Aus dieser praktischen Notwendigkeit ergibt sich die moralische Nötigung, welche die unbedingten, freien Handlungen angeht und auf die sich die „Obligation“ gründet (V-Mo, 029.02/031). Hinsichtlich der späteren Auffassung in der Ethik Kants ist es an diesem Punkt von großer Bedeutung, darauf zu achten, dass bereits hier die praktische Notwendigkeit, die den Grund für die moralische Nötigung und somit für die Verbindlichkeit liefert, nicht mit dieser gleichzusetzen ist: „Alle Obligation ist nicht blos eine Nothwendigkeit der Handlung, sondern auch eine Nöthigung, eine Nothwendigmachung der Handlung, also ist die obligatio necessitatio und nicht necessitas“ (V-Mo, 029.08/031). Denn beispielsweise verhält es sich beim göttlichen Willen so, dass er „moralisch nothwendig [handelt] aber keine Obligation [hat]“ (V-Mo, 029.15/031). Das ist darauf zurückzuführen, dass bei Gott die objektive Notwendigkeit bereits eine subjektive ist. Sein Wille ist vollkommen, weil seine Gesinnung mit der objektiven Notwendigkeit übereinstimmt: Er will von selbst die an sich notwendige Handlung, weil sie eine innere Bonität enthält. Hingegen ist der menschliche Wille unvollkommen⁵³: Bei ihm findet die ange Diese Unterscheidung zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Willen hatte Kant in seinen Bemerkungen 1764/65 nur implizit angedeutet, und zwar anhand der Betonung, in Gott sei das objektive Gutsein zugleich subjektiv (siehe unten Anhang 3, (xi) L 120.01). Siehe oben 3.2.2.2 Punkt (3). Hier kommt er auf jene Idee der Bemerkungen zurück, aber begründet die Unterscheidung explizit mit der Vollkommenheit des Willens. Dennoch lässt sie sich auf die alte mo-
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führte Übereinstimmung nicht von vornherein, sondern bloß „zufällig“ statt (VMo, 029.22/032), und zwar dann, wenn er dazu durch einen Imperativ genötigt wird, der ihm die objektive praktische Notwendigkeit einer Handlung auferlegt (siehe V-Mo, 029.22/032): „Es müssen demnach die sittlichen Handlungen nur zufällig seyn, wenn sie eine Nöthigung haben sollen, und die einen moralisch unvollkommenen Willen haben, stehen unter der Verbindlichkeit, und das sind Menschen“ (V-Mo, 029.33/032).
Die Imperative der moralischen Nötigung werden (im Unterschied zu den Imperativen der pragmatischen Nötigung) durch eine „caussa impulsiva einer freien Handlung“ bzw. ein „motivum“ (oder, verdeutscht, einen „Bewegungsgrund“) eigentümlich erfüllt⁵⁴ (V-Mo, 028.07/029 f.): „Obgleich aber zur moralischen Bonitaet, wenn nicht moralische motiva fruchten, auch pragmatische, ja wohl auch pathologische caussae impulsivae genommen werden[⁵⁵], allein wenn die Frage ist von der Bonitaet der Handlungen, so frägt sich nicht, wodurch man zu der Bonitaet bewegt wird, sondern worin die Bonitaet der Handlung an und vor sich selbst bestehe. Das motivum morale muß also gantz rein an und vor sich selbst erwogen und von andern motivis der Klugheit und der Sinne abgesondert werden“ (V-Mo, 032.05/036).
Diesbezüglich unterscheidet Kant bei Handlungen, die das moralische Gesetz erfüllen, diejenigen, die „aus guter Gesinnung“ bzw. „aus Pflicht“ geschehen (VMo, 050.20 ff./062 ff., 055.02/068 f., 064.14/080), von denjenigen, die „aus Furcht“ vollzogen werden (V-Mo, 064.06/079 f.). Damit führt er einen Gedanken ein, der in der Grundlegung zur scharfen Distinktion zwischen den „bloß pflichtmäßigen“ und den „aus Pflicht geschehenden“ Handlungen wird.⁵⁶ Gegen Baumgarten spricht Kant den subjektiven Triebfedern (als sinnlichen Antrieben) bereits in den 1770er Jahren einen moralischen Status bzw. die Fähigkeit ab, uns zur Ausführung einer Verbindlichkeit zu motivieren, und zwar aus zweierlei Gründen: (a) Die Verbindlichkeit setzt immer die moralische Nötigung voraus (siehe V-Mo, 029.02/ 031); und (b) diese Nötigung ist objektiv, da sie auf unbedingten, „aus dem Ver-
ralphilosophische Tradition zurückführen, wo die Moralsysteme entweder auf einem von Natur guten Willen fußen (Kyniker, Rousseau) oder eine künstliche Konstruktion ausmachen (Epikur, Montaigne, Empiristen). Diese Differenzierung kommt ebenso bei Wolff und Baumgarten vor. Siehe Wolff [21726] 1985, 51 f.: „Wie der Wille zu vervollkommnen ist. Wer sieht nicht ein, daß am Ende alles aus der deutlichen Erkenntnis des Guten und des Bösen entspringt und daß deswegen der Wille durch die Schärfe des Verstandes vervollkommnet wird?“. Eine dazu passende Passage finden wir in Bem., 022.08 (xvii). Dazu siehe oben 3.2.3.1. Vermutlich denkt Kant an Baumgarten. Siehe Schwaiger 2008, 225. Dazu siehe unten 7.1.2.2.
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stande [hergenommenen]“ Motiven fußt (V-Mo, 030.09/033). Demzufolge „[imperiret] der moralische Imperativus […] absolut ohne auf die Zwekke zu sehen“ (VMo, 009.15/012, siehe V-Mo, 030.29/034), wobei alle Verbindlichkeit nur durch einen vernünftigen, von allen subjektiven Interessen freien Bewegungsgrund wird erfüllt werden können. Somit werden unsere dem moralischen Imperativ folgenden Handlungen eine „innere“ (V-Mo, 009.17/012) bzw. „absolute Bonitaet“ beinhalten (V-Mo, 028.32/031, 030.22/033 f.): Sofern sie selbst eine Verbindlichkeit vollziehen, sind sie an sich gut⁵⁷. Die Objektivität der moralischen Nötigung führt mithin zu einer Übereinstimmung mit allen Zwecken, also mit allen Regeln und dem Willen Anderer, weshalb „[d]ie UnterOrdnung unsres Willens unter die Regel allgemein gültiger Zwekke die innere Bonitaet und absolute Vollkommenheit der freyen Willkür [ist]“ (V-Mo, 030.32/034). Im Gegensatz dazu findet auf der Ebene der Sinnlichkeit keine objektive, sondern eine bloß subjektive Nötigung statt, wobei daraus – entgegen Baumgartens Anspruch (siehe V-Mo, 032.05/036) – keine Gründe für eine Verbindlichkeit geliefert werden können: „Alle pragmatische motiva sind nur bedingt, in so fern als die Handlungen Mittel der Glükseligkeit sind, also ist hier kein Grund in der Handlung selbst, sondern als ein Mittel“ (V-Mo, 030.17/033). Die pragmatischen Triebfedern entstehen aus der pragmatischen Nötigung, die uns hinsichtlich der Erreichung unserer Glückseligkeit bestimmte Handlungen gebietet. Das Gebot pragmatischer Imperative ist also „hypothetisch“ (V-Mo, 030.21/033): Es rührt bloß von der Voraussetzung her, dass jeder zur Glückseligkeit strebt, wobei die dementsprechenden Handlungen eine „Bonitatem hypotheticam“ enthalten (V-Mo, 030.25/034); sie sind nur insofern wertvoll, als sie tatsächlich „Mittel der Glükseligkeit“ sind (V-Mo, 030.19/033).
5.1.3.6.1 Die Begriffe der Verbindlichkeit Kant führt noch eine Einteilung der Verbindlichkeit in „activa“ und „passiva“ ein (V-Mo, 048.01/058). Diese bezieht sich auf den Ursprung der moralischen Nötigung bzw. des „moralischen Zwangs“ (in weitem Sinne als „Nöthigung zur Handlung“ [V-Mo, 045.09/053]): Geht die Nötigung auf einen selbst zurück, so gilt die Verbindlichkeit als „obligatio activa“; entspringt sie aber aus der Willkür Anderer, so entsteht eine „obligatio passiva“. So vertritt Kant eine Baumgarten entgegengesetzte Auffassung. Denn dessen Einteilung berücksichtigt nicht die Quelle der Nötigung, sondern die Triebfeder, mit der die Handlung ausgeübt wird:
V-Mo, 031.06/034 f.: „Die moralische Bonitaet ist also die Regierung unserer Willkür durch Regel, wodurch alle Handlungen meiner Willkür allgemein gültig übereinstimmen“.
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Wird man zum Handeln aus Pflicht genötigt, so handelt es sich um eine innerliche Verbindlichkeit; handelt man jedoch aus Zwang (im engen Sinne, d. h. von Anderen genötigt), so wird die Verbindlichkeit als äußerlich definiert⁵⁸. Kant übt explizit Kritik an dieser Baumgarten′schen Konzeption der Verbindlichkeit: Einerseits – seinen Ausführungen nach – „[macht] der Zwang keine Verbindlichkeit“ (V-Mo, 050.31/062 f.), sondern nur „die Nothwendigmachung einer Handlung“. Zwar kann diese sowohl „per stimulos“, d. i. pathologisch als auch „per motiva“, d. i. praktisch, geschehen (V-Mo, 045.20/053 f.). Wie aber gerade gezeigt, fußt die Verbindlichkeit auf der objektiven Nötigung. Andererseits, da das konstitutive Element der Verbindlichkeit die moralische Nötigung ist, und also ihr Status nicht davon abhängt, ob und wie sie erfüllt wird – was erst nachträglich geschieht –, muss die Verbindlichkeit ausgehend von ihrer Quelle, nämlich der praktischen Nötigung, eingeteilt werden: Ist diese objektive Nötigung dem Subjekt selbst zuzuschreiben, so ist die Verbindlichkeit aktiv; rührt sie aber von Anderen her, dann ist die Verbindlichkeit passiv. „[D]ie Verbindlichkeiten müssen an sich selbst unterschieden werden, so ferne sie entspringen ex arbitrio alterius, denn sie sind externae oder ex arbitrio proprio, denn sie sind internea“ (V-Mo, 050.31/062 f.).
Die aktive Verbindlichkeit wird auch „obligatio naturalis“ genannt, weil sie „aus der Natur der Handlung selbst“ entspringt (V-Mo, 037.04/042): Ihrer „Beschaffenheit“ nach ist die Handlung an sich eine Verbindlichkeit (siehe V-Mo, 027.10/ 028, 037.07/042), weil sie unbedingt gut ist; sie ist in Kants Worten „direkt an sich gut“, hat „interne Bonitaet“ bzw. „objektive moralische Vollkommenheit“ (V-Mo, 039.26/045). Daher fungieren die moralischen Imperative, die die aktive Verbindlichkeit ankündigen, auch als „lege naturale“⁵⁹. Eine solche „natürliche“ Verbindlichkeit bezieht sich auf ein „arbitrio alteri interno“ als ihre erste Quelle⁶⁰, sodass man letztlich „durch die nothwendige Bedingung der allgemeinen Willkür“ genötigt wird (V-Mo, 038.01/043, 049.05/060). Diese entspricht weder Anderer noch der eigenen, individuellen Willkür (die mit den jeweiligen Interessen und Neigungen verbunden ist). „[B]ey der obligatio activa ist eine Nöthigung der
Initia, § 56. Vermutlich ist es Kant aus diesem Verständnis der „activen“ Verbindlichkeit heraus, mithin der moralischen Imperative als „lege naturale“, eingefallen, den kategorischen Imperativ in der ersten Formel als ein allgemeines Naturgesetz anzukündigen. Dazu siehe unten 7.1.2.4.2 (e.1). Dieses „arbitrio alteri interno“ entspricht dem „Gewissen“, dem „innere[n] Gerichtshof“, welcher unsere Handlungen „urtheil[t] und […] richte[t]“ und „Macht [hat] uns zu zwingen“ (VMo, 101.30 f./130).
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Vernunfft“ (V-Mo, 035.19/040): Befreit von allen Instinkten und Neigungen sieht der Mensch die schlechthin guten Handlungen als solche an, die für sich auszuüben sind. So ist das Gebot derselben auch etwas an sich Gutes. Da die an sich guten Handlungen und die moralischen Imperative als lege naturale unmittelbar jeweils die obligatio activa darstellen und ausdrücken, so wird diese auch „obligatio directa“ genannt (V-Mo, 038.10/043): Sobald das, was wir tun sollen, aus dem Gegenstand selbst (d. i. der Handlung) abgeleitet wird, treten auch die moralischen Imperative und die „objektiven Bewegungsgründe“ auf: „Objective BewegungsGründe sind vom Gegenstande[⁶¹] entlehnt, und sind Gründe von dem was wir thun sollen. Subjective BewegungsGründe sind Gründe der Gesinnung und Bestimmung des Willens der Regel ein Gnüge zu thun. Nach den objectiven Gründen sind die Verbindlichkeiten innerlich und äusserlich, nach den subjectiven Gründen sind sie Pflicht oder Zwang“ (V-Mo, 051.05/063).
Dieser Begriff der aktiven Verbindlichkeit macht die Moralität aus: „Alle Moralitaet beruht […] darauf, daß die Handlungen ausgeübt werden wegen der innern Beschaffenheit der Handlung selbst; also nicht die Handlung macht die Moralitaet, sondern die Gesinnung, aus der ich sie thue“ (V-Mo, 039.01/043 f.).
Einerseits liegt zwar – mit Baumgarten⁶² – eine „moralitas objectiva“ in der an sich guten Handlung (V-Mo, 040.03/045); eben deswegen ist es uns möglich, sie als gut anzuerkennen, weil sie mit der moralischen Regel übereinstimmt. Aber andererseits liegt im bloßen Vollzug der Handlung kein moralischer Wert: Die eigentliche Moralität kann nur dann statthaben, wenn die Handlung gerade aufgrund einer moralischen Gesinnung ausgeübt wird, die als „subjektiver Bewegungsgrund“ auftritt (V-Mo, 051.05/063). Man tut die Handlung nicht deswegen, weil sie einzig und allein geboten ist bzw. weil sie Vorteile bringt, sondern weil sie „an sich selbst schlechterdings gut ist“ (V-Mo, 039.08/044).⁶³ Somit bestimmt man seinen Willen, „der Regel ein Gnüge zu thun“ (V-Mo, 051.08/063). Da das moralische Vollziehen solcher Handlungen also an der Gesinnung hängt und dieses ausschließlich in unserer Gewalt steht, so können wir nicht zu ihnen gezwungen werden (siehe V-Mo, 079.04/097). Es handelt sich um eine
Bei Kants Charakterisierung der obligatio activa spielt die Handlung – und nicht ihre Regel, nämlich die Maxime – die Hauptrolle. Initia, § 37. Bereits in der Frühzeit weisen Kants ethische Gedanken nicht auf eine Ethik der bloßen Pflicht hin. Dazu siehe unten 7.1.2.2 und 7.1.2.4.
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„Nöthigung der Vernunfft“ (V-Mo, 035.19/040): Wir sollen uns selbst zu diesen Handlungen „wegen ihrer inneren Beschaffenheit“ (V-Mo, 039.01/043 f.) entschließen und sie erst aus einem eigenen, aber inneren Bewegungsgrund, d. i. aus Selbstzwang bzw. Pflicht ausführen: „Der BewegungsGrund, nach welchem wir aller Obligation ein Gnüge thun, ist entweder innerlich, und denn heißt er Pflicht, oder äusserlich und denn heißt er Zwang. […] Wenn ich aber meiner Verbindlichkeit satisfacire durch meine eigene Willkür, denn ist der BewegungsGrund innerlich und ich thue die Handlung aus Pflicht“ (V-Mo, 050.11/061 f.).
Also deutet die „obligatio activa“ auf eine „unvollkommene Verbindlichkeit“ hin, weil sie nur innerlich auferlegt werden kann (V-Mo, 050.06/061). Das Handeln bei der Erfüllung aktiver (bzw. natürlicher oder direkter) Verbindlichkeiten gilt daher als ein „Verdienst“ des Handelnden (V-Mo, 035.06/039 f.): Denn aufgrund der lediglich „internen Bonitaet“ der Handlung sowie angesichts dessen, dass wir zu ihr nicht von Anderen gezwungen werden können (weil hierbei die Gesinnung ins Spiel kommt), würde die Handlung noch nicht zustande kommen: „Die Billigung der Handlung ist der obiective Grund, aber noch nicht der subjective Grund. Dasjenige was mich antreibt, das zu thun, wovon der Verstand sagt, ich soll es thun, das sind die motiva subjective moventia“ (V-Mo, 056.10/070).
Zu der „objektiven [moralischen] Vollkommenheit“ der Handlung muss noch – durch den Handelnden und die Ausübung der Handlung – die „subjektive moralische Vollkommenheit“, d. h. die „Übereinstimmung der Handlung mit der Willkür der andern“ (V-Mo, 039.29 f./045) bzw. die „moralische Gesinnung“ (V-Mo, 039.09/044) hinzukommen. Das betrifft die ethischen Verbindlichkeiten, unter die beispielsweise die Hilfeleistung zu zählen ist. Damit nimmt Kant Abstand von Baumgarten, indem er endlich zu folgendem Schluss kommt: „Wenn wir die Moralitaet unterscheiden in objective et subjective Moralitaet, so ist das gantz wiedersinnig, denn alle Moralitaet ist objectiv, allein die Bedingung der Anwendung der Moralitaet kann subjectiv seyn“ (V-Mo, 041.08/047).
Die Moralität liegt also eigentlich nicht in der bloßen Handlung, die an sich eine Verbindlichkeit ist (obwohl sie eine „moralitas objectiva“ beinhaltet), sondern in der Gesinnung des Entschlusses zur moralischen Handlung um dieser selbst willen. Infolgedessen kann die Moralität, –und somit deren Urteil: „das ist sittlich gut“, nur einen objektiven Wert haben. Schließlich liegt zwar das einzig Subjektive bei der Moralität im „inneren Bewegungsgrund“, d. i. der Gesinnung der
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Handlung, aber nur insofern, als das Vollziehen der Moralität vom Subjekt selbst abhängt. Damit unterscheidet Kant den subjektiven „Bewegungsgrund“ objektiven Wertes [„caussa impulsiva einer freyen Handlung“ oder „motivum“ (V-Mo, 028.07/029 f.)] von der bedingten, bloß subjektiven „Triebfeder“ [„caussa impulsiva per stimulos“ (V-Mo, 028.12/030)] dadurch, dass jener auf die Vernunft selber zurückgeht, während diese aus einem „stimulus“ entspringt, der von der sinnlichen und psychischen Seite des Menschen und seinen Interessen, Bedürfnissen und Neigungen herrührt. Im Unterschied zur aktiven Verbindlichkeit, bei der der Handelnde nur und direkt „zur Handlung aber nicht einem [jemandem (ACGX)] verbunden“ ist, besteht bei der „obligatio passiva“ ein verbindliches Verhältnis des Handelnden sowohl zur Handlung als auch zu demjenigen, der von dieser begünstigt wird (siehe V-Mo, 035.09/040): Die Handlung selbst ist nicht nur eine Verbindlichkeit, sondern sie kann auch (und deswegen) von Anderen erzwungen werden. Die Nötigung entsteht dann weder aus der inneren Beschaffenheit der Handlung noch aus der Vernunft durch die Gesinnung, sondern aus der Willkür Anderer [„arbitrium alterius externum“ (V-Mo, 037.13 f./043, 049.05/060)]: Man wird von außen her, durch Andere genötigt, und insofern gewinnt diese Nötigung den Namen einer passiven Verbindlichkeit. Es handelt sich also um „eine positive und willkürliche Festsetzung“ (V-Mo, 037.05/042); daher wird sie auch „obligatio positiva“ genannt und die sie anordnenden Gesetze gelten als „leges arbitrariae“ (V-Mo, 037.04/042 f.). Demzufolge ist die „obligatio passiva“ auch „indirecta“ (V-Mo, 038.03/043), denn die Handlung wird erstens von Anderen auferlegt und könnte zweitens „an sich gleichgültig“ sein (V-Mo, 038.05/043), falls sie nicht an sich gut oder böse ist. Dass man von Anderen zur Erfüllung solcher Handlungen gezwungen werden kann, die eine äußere Verbindlichkeit ausmachen, heißt aber nicht unbedingt, dass man die Handlung nur aus Zwang vollzieht bzw. vollziehen kann: „Die äussere Obligations sind grösser als die innere; denn die äussere Obligations sind zugleich innere, aber die innere sind nicht zugleich äussere. Die obligatio externa setzt schon zum voraus, daß die Handlung überhaupt unter der Moralitaet stehe und deswegen ist sie interna, denn die obligatio externa ist darum eine Obligation, weil die Handlung schon interne eine Obligation ist. […] Die obligatio externa ist nicht deswegen eine obligatio externa, weil ich dazu kann gezwungen werden, sondern weil sie eine obligatio ist, so kann ich dazu gezwungen werden, aus der Obligation fließt die Befugniß zu zwingen, sie ist eine Folge der Obligation“ (V-Mo, 049.21/060 f. passim 052.15/065).
Die passive Verbindlichkeit gründet sich nicht nur auf eine äußerliche Nötigung, sondern auch zugleich auf eine innerliche: Die Handlung ist an sich, d. i. objektiv
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verbindlich, daher kann sie einem Dritten legitimerweise auferlegt werden. Da die obligatio passiva mithin sowohl die Merkmale der innerlichen als auch der äußerlichen Verbindlichkeit in sich aufnimmt, so ist sie als „vollkommen“ zu kennzeichnen (V-Mo, 050.07/061). Demzufolge sind in diesen Ausführungen zweierlei Begriffe der Verbindlichkeit zu unterscheiden: Einerseits die juridischen, andererseits die ethischen Verbindlichkeiten. Jene treten als solche auf, weil sie auf objektiven Gründen fußen, wobei wir zu ihnen nicht nur legitimerweise gezwungen werden können, sondern tatsächlich gezwungen werden, wie beispielsweise einem Anderen das ihm geschuldete Geld zurückzuzahlen. So liegt der subjektive Bewegungsgrund der Handlung nicht im Handelnden selbst und seiner Gesinnung, sondern in des Anderen Willkür. Andererseits gelten aber einige Handlungen, zu denen man gezwungen werden könnte, als ethische Verbindlichkeiten, da man sie tatsächlich aus einem inneren Bewegungsgrund, nämlich aus Pflicht erfüllt und nicht äußerlich gezwungen wird. Darunter sind diejenigen Handlungen zu zählen, welche eine „Verbindlichkeit der Schuldigkeit“, somit den Anderen gegenüber ausmachen, wie z. B. wahrhaftig zu sein. Demnach haben sie denselben Status wie diejenigen Handlungen, die nicht legitimerweise erzwungen werden können, nämlich die „Verbindlichkeiten des Wohlwollens, Grosmuth und Güte“: „So betrachtet die Ethic sie alle zusammen nur so, daß der Bewegungsgrund innerlich ist, sie erwägt sie aus Pflicht und aus der innern Beschaffenheit der Sache selbst, und nicht aus Zwang. Das Jus aber betrachtet die Satisfaction der Verbindlichkeit nicht aus Pflicht sondern aus Zwang. Es wird aber auf die Triebfeder des Zwangs attendirt. Die Verbindlichkeiten werden betrachtet wie sie sich verhalten zum Zwang“ (V-Mo, 051.22/064).
5.1.3.6.2 Die „motiva“ zur Erfüllung aller Verbindlichkeit Sowohl die „motiva“ bzw. „Bewegungsgründe“ als auch die „stimuli“ zum Handeln sind insgesamt „motiva subjective moventia“ (vergleiche unten V-Mo, 056.11/ 070, 046.10/055). Denn sie betreffen das, wodurch das Subjekt bewegt bzw. aktiv wird. Daher nennt Kant sie Baumgarten folgend „caussa impulsiva“ und übersetzt sie als „Triebfeder“ ins Deutsche. Also ist „Triebfeder“ (bzw. „caussa impulsiva“) in der Vorlesung – im Unterschied zur Grundlegung – ein Oberbegriff ⁶⁴. Dennoch machen die „Bewegungsgründe“ und die „stimuli“ jeweils eine unterschiedliche Art „caussa impulsiva“ aus: „Eine pathologische Necessitation ist, wo die Triebfeder aus den Sinnen und aus dem Gefühl des Angenehmen und Unangenehmen hergenommen sind; der etwas thut, weil es angenehm
Vergleiche Schadow 2012, 223.
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ist, wird pathologisch necessitirt, der etwas thut, weil es gut ist an und vor sich, der handelt nach motiven und wird practisch necessitirt. Also die caussae impulsivae, so fern sie vom Guten hergenommen sind, sind aus dem Verstande, und ein solcher, der laut denen wozu bewogen wird, wird per motiva necessitirt; so ferne aber die caussae impulsivae vom Angenehmen hergenommen sind, sind aus den Sinnen, und ein solcher, der laut denen wozu bewogen wird, wird per stimulos necessitirt“ (V-Mo, 030.03/032 f.). „[…] die stimuli sind motiva subjective moventes“ (V-Mo, 046.10/055). „Es ist besonders, jemehr einer kann gezwungen werden nemlich aber moralisch desto freyer ist er. Moralisch zwing ich einen durch motiva objective moventia, durch BewegungsGründe der Vernunfft mit seiner grösten Freyheit, ohne allen Antrieb“ (V-Mo, 047.11/056 f.). „Wenn aber die Frage ist, was bewegt mich diesen Gesetzen gemäß zu leben, so ist das das principium der Triebfeder. Die Billigung der Handlung ist der obiective Grund, aber noch nicht der subjective Grund. Dasjenige, was mich antreibt, das zu thun, wovon der Verstand sagt, ich soll es thun, das sind die motiva subjective moventia“ (V-Mo, 056.11/070).
Im allgemeinen können die „Triebfedern“ zum Handeln also objektiv und wiederum subjektiv sein:⁶⁵ Sie sind bloß subjektiv, wenn sie nicht von allgemein gültigen Faktoren herrühren – seien es innere, wie die „stimuli“ der Sinnlichkeit (durch das Gefühl oder den Geschmackssinn) oder äußere, wie die „stimuli“ aus dem Verhältnis zur Gemeinschaft (durch die Regierung, Sitten, Erziehung, usw.) (siehe V-Mo, 028.11/030). Dagegen sind „die Triebfedern“ objektiv, wenn sie – „abgesondert“ von allem Empirischen (V-Mo, 032.13/036) – „aus reiner Vernunfft“ entlehnt werden (V-Mo, 027.01/028). In diesem Fall können sie ebenso äußerer und innerer Natur sein: äußerer, sofern sie sich auf ein fremdes Wesen und dessen Begriff vom Guten und Bösen beziehen⁶⁶; und innerer, wenn die objektiven Triebfedern sich auf den Gegenstand selbst – d. i. die an sich gute Handlung (siehe V-Mo, 027.10/028, 028.05/029 f., 009.18/012) – stützend aus „der Gesinnung und Bestimmung des Willens der Regel ein Gnüge zu thun“ stammen (V-Mo, 051.07/063). Während jene objektiven, doch äußeren Triebfedern immer noch bedingt und zufällig bleiben, haben diese objektiven, inneren Triebfedern einen eigenen Wert, der von der an und für sich guten Handlung entlehnt wird. Diese innere Bonität, die sich mit der praktischen Notwendigkeit identifiziert, wird durch den moralischen Imperativ als „Formel der practischen Necessitation“ (VMo, 028.05/029 f.) ausgedrückt, wobei die objektiven, inneren Triebfedern uns „categorisch“ nötigen (siehe V-Mo, 029 f./031 ff., 044.30 ff./052 ff., 046.32 f./056). Daher macht der juridische Zwang, der auf einer Verbindlichkeit beruht (siehe V-
Siehe Kants Kritik an den empiristischen Systemen der Moral, V-Mo, 021.18/023 – 026.04/026. Siehe Kants Kritik an den rational-theologischen Systemen der Moral, V-Mo, 027.08/ 028 – 027.20/028, 060.02/074– 064.20/080.
5.1 Analytischer Teil
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Mo, 051.12 f./063 ff.), trotz seines äußeren Charakters, auch eine objektive allgemein gültige Triebfeder aus. „Triebfeder“ bzw. „caussa impulsiva“ hat also im Rahmen der Vorlesung noch nicht die abwertende Konnotation, die in der Grundlegung hinsichtlich moralisch relevanten Handlungen mitschwingt. Denn, während sie 1785 überwiegend gleichbedeutend mit den Antrieben und Neigungen auftaucht⁶⁷, umfasst „Triebfeder“ in der Vorlesung sowohl die „Bewegungsgründe“ als auch die „stimuli“ und die pragmatischen Gründe: Alle sind „motiva moventia“. Erstere sind die moralischen Prinzipien (auch sogenannte „motiva objectiva moventia“) und der subjektive Bewegungsgrund („motivus objectivus movens“), d. i. die Gesinnung, nach solchen Prinzipien zu handeln; beide sind bloß objektiv, haben einen moralischen Wert. Hingegen sind letztere bloß subjektive Prinzipien („motiva subjectiva moventia“), die auf keiner objektiven Grundlage fußen; sie entsprechen Bedürfnissen und Privatinteressen, welche auf sinnliche Antriebe zurückgehen.⁶⁸ Zusammenfassend: Da die Verbindlichkeit, wie vorhin gesehen, nur auf objektiven Gründen der praktischen Notwendigkeit fußt (denn allein aus ihr kann sich eine objektive Nötigung ergeben), so treten die inneren, objektiven Triebfedern – nämlich die sogenannten „motiva“ bzw. „Bewegungsgründe“ – als eigentümliche Auslöser moralischen Handelns auf, mithin als die einzigen Triebfedern, die es zur Erfüllung einer Verbindlichkeit bringen können. Also sind die „motiva“ ihrerseits: (a) wiederum „objektiv“, indem sie aus dem Gegenstand (‚Objekt’) abgeleitet werden; und (b1) „subjektiv“ bzw. „innerer“ Natur, indem sie „aus guter Gesinnung“ (V-Mo, 052.03/064, 054.26 f./068) bzw. „aus Pflicht“ entspringen (V-Mo, 029.06/031, 050.11/061 f., 055.02/068); diese „Bewegungsgründe“ werden von Kant „motiva subjective moventia“ genannt (V-Mo, 056.13/070); oder (b2) „äußere“, die aber legitimerweise von Anderen auferlegt werden und „motiva objectiva moventia“ heißen (V-Mo, 047.11/056 f.).
In der Grundlegung kommt „Triebfeder“ elfmal im Singular vor, in denen sie nur zweimal einen moralischen Sinn hat (siehe GMS, 440.06, 461.31). Aufmerksam möchte ich darauf machen, dass Kant in diesen Passagen – im Unterschied zur Kritik der praktischen Vernunft (siehe KpV, AA 05: 072.12– 073.37) – den Begriff der „Triebfeder“ nicht verwendet, um die Achtung zu definieren. Zur Achtung in der GMS siehe unten 7.1.2.4.1 [den ganzen Abschnitt]. Sonst bezieht sich „Triebfeder“ immer, auch die zwölfmal, in denen sie im Plural auftaucht, auf sinnliche Antriebe. Schwaigers Ausführungen nach soll diese Bedeutung von „causa impulsiva“ von Baumgarten stammen. Siehe Schwaiger 2000, 253, Fn. 20.
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5.1.3.7 Freiheit und ihre Begriffe Bereits auf den ersteren Seiten der Vorlesung tritt die Freiheit auf als ein grundlegender Faktor der praktischen Philosophie und besonders desjenigen Teils derselben, der auf das Verhalten der „freye[n] Willkür“ geht (V-Mo, 003.02/003) und sich mit „[den] freye[n] Handlungen und [dem] freye[n] Verhalten“ befasst (VMo, 004.01/004): „Wenn ich vom Gegenstande abstrahire, so ist die Philosophie des Verhaltens diejenige, die uns Regel giebt vom guten Gebrauch der Freyheit“ (V-Mo, 004.05/004). Allerdings bekommt der Freiheitsbegriff keine eigene Abhandlung, sondern er wird hauptsächlich in dem Zusammenhang behandelt, wo Kant Überlegungen über die Verbindlichkeit anstellt (siehe V-Mo, 045.20/ 053 – 048.35/059). Da spricht Kant noch nicht von „Spontaneität“ und „praktischer Freiheit“ wie in der KrV, obwohl sich hier eine damit sehr ähnliche, begriffliche Unterscheidung findet: Er spricht vom „grossen Grad der Freyheit“, „von den stimulis frey“ und „arbitrium liberum“, was dem Sinne nach der „Spontaneität“ bzw. der „Idee transzendentaler Freiheit“ in der KrV entspricht. Hier ist hingegen die Rede vom Zwang, der nur „durch motiva objective moventia“ bzw. „durch BewegungsGründe der Vernunfft“ stattfinden kann und er schließt: „Ie mehr also jemand von den stimulis frey[⁶⁹] ist, desto mehr kann er moralisch necessitirt werden.[⁷⁰] Die Freyheit[⁷¹] wächst mit dem Grade der Moralitaet“. Es sind also drei implizite Begriffe der Freiheit zu unterscheiden, und zwar: die Begriffe der metaphysischen und der moralischen Freiheit zum einen und der Begriff der absoluten Freiheit zum anderen.⁷² Der „gute Gebrauch der Freiheit“ wird dann näher betrachtet in den Absätzen „Von den Pflichten gegen sich selbst“ (V-Mo, 169 ff./213 ff.), „Von den Pflichten gegen den Körper in Ansehung des Lebens“ (V-Mo, 216 f./269 f.) und „Vom Selbstmord“ (V-Mo, 217 ff./270 ff.). Baumgarten zustimmend⁷³ versteht Kant Freiheit als Voraussetzung für Verbindlichkeit. Diese Auffassung: (1) deutet implizit sowohl einen metaphysischen als auch moralischen Freiheitsbegriff an;
Gemeint ist „unabhängig“. Die Unabhängigkeit ist die negative Seite der Spontaneität, als Fähigkeit, erster Anfang seiner Handlungen zu sein. Das heißt: Man kann aufgrund seiner Spontaneität genötigt werden, von seiner praktischen Freiheit richtigen Gebrauch zu machen. Lies „Unabhängigkeit“. Von den Bemerkungen her wissen wir, dass Kant sich bereits in den 1760er Jahren mit diesen Freiheitsbegriffen beschäftigt. Siehe Initia, § 51. Kant kommt zu diesem Schluss aber nicht durch den Baumgarten′schen Modus Procedendi (vergleiche Initia, §§ 36 – 38 und V-Mo, 040.03 f./045 ff., siehe V-Mo, 041.08/ 047), sondern über einen anderen, eigenen Weg, wie sich gleich zeigen wird.
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(2) führt – im Gegensatz zu Rousseau – zur Leugnung der absoluten Freiheit; und (3) weist auf einen eingeschränkten Gebrauch der Freiheit als einen dem Menschen eigentümlichen hin, der mit „Selbstzwang“ (V-Mo, 048.32 f./059 f.) bzw. „Selbstbeherrschung“ (V-Mo, 107.26/137)⁷⁴ verbunden ist. Sehen wir uns diese drei Aspekte des Freiheitsbegriffs näher an.
(a) Die metaphysische Freiheit „Wo die Handlungen gar nicht frey seyn, wo keine Persönlichkeit ist, da giebts auch keine Verbindlichkeit zE. so hat der Mensch keine Verbindlichkeit das Schlukken zu unterlassen, denn es steht nicht in seiner Gewalt. Man setzt also zur Verbindlichkeit den Gebrauch der Freyheit voraus“ (V-Mo, 036.34 f./042).
Den Begriff der „Persönlichkeit“ bekommt Kant durch Rousseau: Für diesen besteht sie darin, dass der Mensch von Natur aus ein absolut freies Wesen ist. Im Unterschied zu den Tieren macht die Freiheit den Menschen absolut unabhängig und erlaubt ihm zu wählen.⁷⁵ Die Beschaffenheit der menschlichen Natur ist durch die Spontaneität und (Wahl‐)Freiheit geprägt, und das macht ihre „Persönlichkeit“ aus. Anhand dieses Rousseau′schen Gedankens nimmt Kant an, dass der Mensch über ein „arbitrium liberum“ verfügt, dessen Freiheitsbegriff mit dem bereits in den Bemerkungen vorkommenden Begriff der „metaphysischen Freiheit“ übereinstimmt.⁷⁶ Daran anknüpfend begründet Kant einen wichtigen, eigenen Beitrag, nämlich die Differenzierung zwischen „arbitrium liberum“ und „arbitrium brutum“, die zum ersten Mal in der Vorlesung vorkommt:⁷⁷
Kant spricht auch von „Autokratie“ (siehe V-Mo, 202– 215/252– 269): „Die Beherrschung seiner selbst und nicht blos die dirigirende Gewalt ist was zur Autocratie gehört“ (V-Mo, 207.04/258). Siehe Rousseau 1755, I. Abs. 14– 15. Refl. 1012, AA 15.1: 451: „Im arbitrio intellectuali ist 1. negativ die Unabhängigkeit von necessitatione per stimulos: libertas. 2. Das Vermögen, den motivis gemäß zu handeln. Jenes macht die Persohnlichkeit aus“. Dazu auch Höffding 1898, 18: „[Die Hauptwerke Rousseaus (…) führten Kant dazu], zwischen Theorie und Praxis zu unterscheiden, ein grosses Gewicht auf die Gefühlsseite der Menschennatur im Gegensatz zur Verstandesaufklärung zu legen, und überhaupt den Begriff der menschlichen Persönlichkeit zu vertiefen“. Siehe unten Anhang 3, Bem., 025.14 (xviii) (kommentiert oben 3.2.3.1). Diese Unterscheidung ist Kant zuzurechnen (vergleiche Baumgarten, Metaphysica, §§ 719 – 20, wo „der Autor“ das „arbitrium sensitivum“ und „arbitrium liberum“ angeht; ebenso siehe Metaphysica, §§ 712, 717, 718, 726. So auch Kawamura 1996, 85, nach dem Baumgarten zwar von „arbitrium“ und „arbitrium liberum“ sowie von „brutum“ [„Vieh“] spricht, aber nicht von einem „arbitrium brutum“). Bei Kant taucht die Unterscheidung zwischen arbitrium liberum und arbitrium brutum zum ersten Mal auf in der Refl. 3715 (die laut Adickes’ Datierungen in den früheren 1760er Jahren hätte verfasst werden können): „arbitrium est vel liberum vel brutum. in ienem ist
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„Zwang ist die Nothwendigmachung einer ungern geschehenen Handlung per motiva. Pathologisch kann kein Mensch gezwungen werden wegen des freyen Willens. Die Menschliche Willkür ist ein arbitrium liberum, indem sie nicht per stimulos necessitirt wird. Die Thierische Willkür ist ein arbitrium brutum und nicht liberum, weil sie durch stimulos necessitirt werden kann“ (V-Mo, 045.20/053 f.).⁷⁸
Wie vorhin gesehen, entsteht die Verbindlichkeit zuletzt aus der praktischen Notwendigkeit, so dass die Grundsätze, wodurch sie ausgedrückt wird, objektive Gültigkeit haben. Diese objektiven Gründe, die als Gründe des Verstandes, durch die allgemeine Form aller Regeln geprägt sind (siehe V-Mo, 068.08/084) und also unbedingt und unabhängig und demnach „frei“ sind, können allein für eine gewisse freie Willkür relevant sein. Eine tierische, welche keine andere Wahl hat, als den „Gesetzen der Sinnlichkeit“ zu folgen (V-Mo, 027.29/029), kann ausschließlich durch subjektive Triebfedern bzw. stimulis genötigt werden. Und eine göttliche
man sich der contingentiae internae und externae der Handlung bewust“ (Reflexionen zur Metaphysik, AA 17: 254). Andere aufschlussreichere Passagen der 1760er und früheren 1770er Jahre sind im Nachlass zu finden; besonders siehe Refl. 4226 (Reflexionen zur Metaphysik, AA 17: 465), Refl. 4548 (Reflexionen zur Metaphysik, AA 17: 589). In Refl. 1008 (Reflexionen zur Anthropologie, AA 15.1: 448) heißt es: „arbitrium est vel brutum (externe necessitatum) (mere passivum) vel liberum (independentia a coactione externa (spontaneitas)); liberum vel sensitivum vel intellectuale (independentia a stimulis); et intellectuale vel secundum qvid vel simpliciter; posterius purum, prius animale“. Im Rahmen der Vorlesungen über Metaphysik, die in den späten 1770er Jahren stattfanden, findet sich eine inhaltlich nahe Passage: „Die thätige Begierde aber, oder das Vermögen, zu thun und zu lassen, nach dem Wohlgefallen und Mißfallen am Object, so fern es eine Ursache der thätigen Kraft ist, es hervorzubringen, ist die freie Willkühr (arbitrium liberum). […] Bei diesem arbitrio sind causae impulsivae. […] Die causae impulsivae sind entweder sensitiv, oder intellectuell. Die sensitiven sind stimuli oder Bewegursachen, Antriebe. Die intellectuellen sind Motive oder Bewegungsgründe. Die ersten sind für die Sinne, die andern für den Verstand. […] Die treibende Kraft der Willkühr kann entweder necessitiren, oder […] impelliren. Die stimuli haben also entweder vim necessitantem oder vim impellentem. Bei allen unvernünftigen Thieren haben die stimuli vim necessitantem; aber bei den Menschen haben die stimuli […] vim […] impellentem. Demnach ist das arbitrium humanum nicht brutum, sondern liberum. […] Allein dasjenige arbitrium, was durch gar keine stimulos necessitirt oder impellirt wird, sondern durch Motive, durch Bewegungsgründe des Verstandes determinirt wird, ist das arbitrium intellectualle oder transcendentale. Das arbitrium sensitivum kann wohl liberum seyn, aber nicht das brutum“ (V-MP-L1/ Pölitz, AA 28: 254 ff.). V-Mo, 179.07/224: „[…] wenn wir den Menschen in Ansehung seiner Neigungen und Instincte betrachten, so ist er darin ungebunden und durch keine Instincte und stimulos necessitirt“. Refl. 1021, AA 15.1: 457: „Das arbitrium intellectuale ist jederzeit liberum; aber das sensitivum kan liberum, auch brutum seyn, das letztere, wenn es necessitirt würde durch stimulos“. Refl. 4548, AA 17: 589: „Die Freyheit der Willkühr (arbitrium liberum) ist independentia a stimulis und heißt practische Freyheit. Dagegen steht das arbitrium brutum necessitatum a stimulis. (Das arbitrium liberum hat entweder spontaneitatem practicam oder transscendentalem)“.
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Willkür, die zwar frei ist, aber „an sich selbst das will, was gut ist“ (V-Mo, 047.32/ 057 f.), verfügt ebenso wenig über Wahlfreiheit, wobei „sein subjectives Gesetz kein Grund der Moralitaet [ist]“ (V-Mo, 041.3/047). Bedeutungsvoll und nötigend sind also die objektiven Gründe nur für die Menschen, bei denen Freiheit und Verbindlichkeit zugleich gegenwärtig sind.⁷⁹
(b) Die absolute Freiheit Anscheinend ist aber der von Kant in manchen Passagen verwendete Begriff der Freiheit durch den Einfluss Rousseaus tief geprägt: „Der ist freyer, der weniger Verbindlichkeit hat, sofern jemand unter der obligation steht, so ist er nicht frey, hört aber die Obligation auf, so wird er frey. Unsere Freyheit wird also durch die Obligation verringert, aber bey Gott wird die Freyheit durch die moralische Nothwendigkeit nicht verringert, er ist auch nicht dazu obligirt, denn ein völlig guter Wille ist nicht obligirt, weil ein solcher Wille an sich selbst das will, was gut ist, also kann er nicht obligirt werden, aber die Menschen, weil ihr Wille böse ist, können obligirt werden“ (V-Mo, 047.20/ 057 f.). „Wäre der Mensch des Selbstzwanges nicht bedürftig, so wäre er gantz frey; denn wäre sein Wille gantz gut und alles Gute möchte er gern thun, weil er sich nicht zwingen dürfte, das ist aber nicht der Fall des Menschen“ (V-Mo, 048.31/059).⁸⁰
An solchen Textstellen ist gewissermaßen eine „absolute Freiheit“ im Rousseau’schen Sinne zu erkennen, welche sich dadurch definiert, dass der Mensch bereits von Natur aus gut ist und daher unter keinerlei Nötigung steht. Hierbei ist alle Verbindlichkeit eine Beschränkung der Freiheit und, umgekehrt, die Befreiung von aller Verbindlichkeit als „absolute Freiheit“ zu verstehen: Sofern die Verbindlichkeit sich auf die moralische Nötigung stützt, impliziert sie zwar die Auferlegung einer moralischen (d. h. guten und notwendigen) Handlung, die den Vorrang über irgendeine tatsächliche, subjektiv gewünschte Handlung verdient. So soll man jene um ihrer selbst willen tun und diese zu Gunsten jener unterlassen. Dennoch gibt es Verbindlichkeiten, die einem zukommen können oder nicht; beispielsweise die Erziehung seiner Kinder (siehe V-Mo, 036.08/041): Sobald man keine Kinder hat oder diese schon erwachsen sind, hat man nicht oder nicht mehr die Verbindlichkeit zu erziehen, und ist hierbei „absolut frei“. Solche Verbindlichkeiten, die hauptsächlich auf dem äußerlichen Zwang fußen, bedeu-
Zum impliziten Begriff der moralischen Freiheit siehe unten den nachfolgenden Absatz (c). Kant widerspricht stillschweigend Rousseau, der wie die Stoiker vertritt, dass der Mensch von Natur gut ist und das Gute für sich selbst, also ohne alle Nötigung vollzieht.
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ten einen hohen Verlust der Freiheit; denn das Wollen Anderer setzt sich gegen das eigene durch. Dahingegen wächst der Grad unserer Freiheit durch den inneren Zwang (siehe V-Mo, 047.07/056, 048.25/059).⁸¹ Entsprechend dem im vorhergehenden Abschnitt (a) Ausgeführten kann es dennoch eine absolute Freiheit in engem Sinne bei Menschen nicht geben: Erstens „weil ihr Wille böse ist“ (V-Mo, 047.34/058), d. h. sie keinen vollkommenen Willen haben, wobei sie trotz der vernünftigen Anerkennung des an sich Guten bzw. praktisch Notwendigen tatsächlich etwas Anderes wollen können; und zweitens weil Menschen sich zugleich unter dem Einfluss der pathologischen und der moralischen Nötigung befinden. Folglich können sie den Willen entweder durch sinnliche Antriebe oder Vernunft bestimmen⁸². Daher tut der Mensch moralische Handlungen erst „ungern“⁸³ (V-Mo, 046.29/056), denn sie ermangeln der Erwartung aller begehrten Befriedigung, derentwegen eine den Neigungen gemäße Handlung vollzogen wird. Über eine derartige absolute Freiheit verfügt also nur ein Wesen wie Gott, welches aufgrund seines vollständig guten Willens bereits von sich aus das will, was es als gut anerkennt. Da das Gute sich mit dem praktisch Notwendigen, aber dieses sich nicht unbedingt mit der moralischen Nötigung identifiziert (siehe VMo, 029.08/031), so will Gott notwendigerweise das Gute, weshalb er nicht zu ihm gezwungen werden kann. Nötigung findet nur bei einem unvollkommenen Willen statt (siehe V-Mo, 029.33/032), zu dessen Bestimmung weder die praktische Notwendigkeit noch seine sinnlichen Bedürfnisse ausreichen.
Mehr dazu gleich. Siehe oben Refl. 1008 (5.1.3.7 Fn. 77). Refl. 5618, AA 18: 257: „Die reine Freyheit handelt nach Gesetzen innerlich bestimender Gründe, aber sie fallen nicht in die Sinne. Die thierische Willkühr verfahrt nach sinnlich bestimbaren Gesetzen. Die Vermischte Menschliche Wilkühr (libertas hybrida) handelt auch nach Gesetzen, aber deren Gründe nicht in der Erscheinung ganzlich vorkommen; daher bey denselben Erscheinungen derselbe Mensch anders handeln kan. Hiebey muß man zuerst einen Charakter abwarten, und denn hat man ein Gesetz, die Erscheinungen zu erklären, aber niemals sie zu bestimmen“. Von der moralischen, „ungern geschehenen“ Handlung sagt Kant auch: „Thue ich etwas gerne, aus guter Gesinnung, so thue ich es aus Pflicht, und die Handlung ist Ethisch; thue ich aber etwas aus Zwang, so ist die Handlung juridisch recht“ (V-Mo, 052.03/064). Es ist also die sinnliche von der moralischen Ebene zu unterscheiden: Bei jener geschieht die Handlung ungern, weil sie entweder gegen meine Neigungen und Interessen oder (in rechtlicher Hinsicht) gegen die absolute Freiheit eines vermeintlichen gesellig ungebundenen Zustandes verstößt. Hingegen führe ich die echte moralische Handlung aus der Disposition durch, „der Regel ein Gnüge zu thun“ (V-Mo, 051.07/063), d. h. „gerne“ oder „aus guter Gesinnung“. Denn: „Das ist das wesentliche Stük der Moralitaet, daß unsre Handlungen aus dem BewegungsGrunde der allgemeinen Regel geschehen“ (V-Mo, 065.04/80 f.). Siehe V-Mo, 039.01/043 f.
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Faktisch würde die absolute Freiheit bei dem menschlichen Willen also auf einen Mangel an jeglicher Gesetzlichkeit bzw. gesetzlichen Bestimmung, d. h. auf eine bloße Regellosigkeit hindeuten.⁸⁴ Zwar liegt dem menschlichen „arbitrio libero“ (wie der Rousseau′schen absoluten Freiheit) die Instinktunabhängigkeit und darüber hinaus die Wahlmöglichkeit zugrunde – was die metaphysische Freiheit stiftet⁸⁵ –: „in Ansehung seiner Neigungen und Instincte […] ist er [sc. der Mensch] darin ungebunden“ (V-Mo, 179.08/224). Außerdem ist für Kant aber das Entscheidende, dass der Mensch tatsächlich einen seiner vernünftigen Natur entsprechenden „Gebrauch der Freiheit“ macht (V-Mo, 004.05/004). Dieser impliziert eine aktive, bewusste und auf objektiven Gründen basierende Wahl bzw. Bestimmung des Willens, nämlich die in den Bemerkungen sogenannte „moralische Freiheit“, in der ersten Kritik aber „praktische Freiheit“⁸⁶ genannt. Infolgedessen kann die Verbindlichkeit schließlich nur dann zustande kommen, wenn ihr ein „arbitrium liberum“ (Grund der metaphysischen Freiheit) zugrunde liegt, das zu freien Handlungen nicht nur fähig ist, sondern diese tatsächlich vollzieht (moralische Freiheit). Mit Kants Worten: „Man setzt zur Verbindlichkeit den Gebrauch der Freyheit voraus“⁸⁷, da erstere sich allein durch „Bewegungsgründe der Vernunfft“ (V-Mo, 047.12/056), „nach Gesetzen der Freiheit“ (V-Mo, 027.32/029) durchsetzen kann.
(c) Die moralische Freiheit Kant konzipiert die Freiheit als den „höchsten Grad des Lebens“ (V-Mo, 177.02/221) und „summum bonum“⁸⁸. Das führt ihn zur Behauptung, das Leben habe keinen
Auf dieselbe Überlegung geht eine Passage im ersten Paragraphen des dritten Abschnittes der Grundlegung zurück: „Da der Begriff einer Causalität den von Gesetzen bei sich führt, nach welchen durch etwas, was wir Ursache nennen, etwas anderes, nämlich die Folge, gesetzt werden muß: so ist die Freiheit, ob sie zwar nicht eine Eigenschaft des Willens nach Naturgesetzen ist, darum doch nicht gar gesetzlos, sondern muß vielmehr eine Causalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art sein; denn sonst wäre ein freier Wille ein Unding“ (GMS, 446.21). Siehe oben 5.1.3.7 (a) und siehe unten Anhang 3, Bem., 025.14 (xviii) (kommentiert oben 3.2.3.1). Zur praktischen Freiheit siehe KrV, 363.28//A534/B562 und 521.33//A803/B831 und siehe unten 6.2.4.2. Siehe oben Zitat V-Mo, 036.34 f./042 in 5.1.3.7 (a). V-Mo, 177.09/222: „der innere Werth der Welt das summum bonum ist aber die Freyheit nach Willkür die nicht necessitirt ist zu handeln“.V-Mo, 220.27/274 f.: „Der Selbstmord ist ein Abscheu mit Grausen, denn jede Natur sucht sich selbst zu erhalten, ein verletzter Baum, ein lebendiger Körper, ein Thier; und
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inneren Wert außer dem, den sich der Mensch durch ein würdig geführtes Leben selbst gibt: „[D]as Leben ist an und vor sich selbst auf keine Weise hochzuschätzen, sondern ich muß mein Leben nur in so fern zu erhalten suchen, als ich zu leben werth bin“ (V-Mo, 220.04/ 274)⁸⁹.
Das geschieht dann, wenn der Mensch einen seiner Natur gemäßen Gebrauch der Freiheit macht: „Ferner der seine Freyheit wegwirft und sie für Geld verkauft, handelt wieder die Menschheit, das Leben ist nicht so hoch zu halten, als daß man so lange wie man lebet als ein Mensch lebe, das heißt nicht im Wohlleben sondern so daß er die Menschheit nicht entehrt, er muß auch als ein Mensch würdig leben“ (V-Mo, 173.04/217).
Die menschliche freie Natur, die auf dem arbitrium liberum beruht, kennzeichnet uns als Zwecke: (1) Instinkte und Neigungen bestimmen den Menschen nicht unausbleiblich, mithin ist er „darin ungebunden“ (V-Mo, 179.09/224); (2) kraft dieser Freiheit kann er sich entschließen, moralisch zu handeln, somit sich derselben Freiheit geeignet, d. h. nach einer allgemeinen Regel, zu bedienen (siehe V-Mo, 179.14/224 f.); schließlich (3) gibt dem Menschen das moralische Handeln, sofern dieses hinsichtlich seiner Natur das gerechte ist, einen „unmittelbaren innern absoluten Werth“ (VMo, 009.18/012). Daher definieren sich Menschen als „Personen“ und unterscheiden sich wesentlich von „Sachen“, die nur einen bedingten Wert haben können: „Der Mensch kann zwar über seinen Zustand disponiren, aber nicht über seine Person, denn er ist selbst ein Zwek und kein Mittel; alles in der Welt hat nur den Werth des Mittels, der Mensch ist aber eine Person und keine Sache, also kein Mittel“ (V-Mo, 174.30 f./219 f.).
nun soll beym Menschen die Freyheit, die der höchste Grad des Lebens ist und den Werth des Lebens ausmacht, ein principium seyn sich selbst zu zerstöhren?“. Diese Position bezüglich der Würde des Menschen wird Kant in der Grundlegung anders begreifen. Dort finden sich implizit zwei Begriffe der Würde: Im engen Sinne ist nur das Leben desjenigen würdevoll, der sich tatsächlich selbst bestimmt. Aber im weiten Sinne wäre das Leben jedes vernünftige Wesen insofern wertvoll, als es sich selbst bestimmen kann. Demzufolge ist das Leben an sich wertvoll, sofern dies die Bedingung der Möglichkeit aller Selbstbestimmung ausmacht. Zu genaueren Ausführungen siehe unten 7.1.2.4.2 (e.2) und siehe Román-Maestre/Gutiérrez-Xivillé 2008, 427– 434.
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Die Sachen dienen als „Mittel“ zur Erlangung anderer Ziele, wovon man einen Vorteil erwartet. Die absichtliche Natur solcher Zwecke – wie beispielsweise der Befriedigung unserer Neigungen und des Vollzugs unserer Glückseligkeit (V-Mo, 067.04/083, 175.17/220) – lässt nicht zu, dass sie bloße „Gegenstände der Vernunft“ sind (V-Mo, 075.06/091), da der Vorteil sich immer im empirischen Bereich befindet. Im Unterschied zu Sachen stehen Personen nicht zum beliebigen Nutzen (Anderer oder von sich selbst), sondern sie können sich dazu bestimmen, sich durch ihr Handeln und ihre Lebensführung ihrer freien und rationalen Natur gemäß zu verhalten. Daher tritt der Mensch als Zweck auf. Insofern soll er so leben, dass er sich würdig erweist, der Menschheit als freiem Wesen anzugehören. Widrigenfalls handeln wir gegen „unsere Pflichten gegen uns selbst“, „[entehren] die Menschheit in ihrer eigenen Person“ und machen uns verachtungswürdig (VMo, 076.19/093, 076.27 f./094):⁹⁰ „Die Pflichten gegen sich selbst sind aber unabhängig von allen Vortheilen, und gehen nur auf die Würde der Menschheit, sie beruhen darauf, daß wir in Ansehung unserer Person nicht eine ungebundene Freiheit haben, daß die Menschheit in seiner eigenen Person müsse hochgeschätzt werden, weil wenn das nicht ist der Mensch ein Gegenstand der Verachtung ist, welches ein absoluter Tadel ist, indem er nicht allein in Ansehung anderer sondern auch an sich selbst nichts werth ist. Die Pflichten gegen sich selbst sind die oberste Bedingung und das principium aller Sittlichkeit, denn der Werth der Person macht den moralischen Werth aus“ (V-Mo, 175.17 f./220 f.).
Aus diesem Grund betont Kant, dass ein zu unserer Natur gehöriger Gebrauch der Freiheit nur ein „eingeschränkter“ sein kann (V-Mo, 179.21/224 f.), der „die Würde der Menschheit“ in unserer Person hochschätzt und nicht verletzt (V-Mo, 173.27/ 218): „Sie [sc. die Freiheit] muß restringirt werden aber nicht durch andere Eigenschafften und Vermögen, sondern durch sich selbst. Ihre Oberste Regel ist diese: In allen Handlungen in Ansehung seiner selbst so zu verfahren, daß all der Gebrauch der Kräffte mit dem grösten Gebrauch der selben [sc. Freiheit] möglich ist“ (V-Mo, 179.21/224 f.).
Eine derartige Freiheit, die ihre Grundlage in den Pflichten gegen sich selbst hat (siehe V-Mo, 175.11/220) und mit der Freiheit eines jeden Anderen kompatibel sein soll, muss schließlich eingeschränkt sein. Da nun der Grad der Freiheit desto größer ist, je weniger Verbindlichkeiten man unterliegt, doch je mehr man sich Diese Unterscheidung zwischen Sachen und Personen, die auf die alte Distinktion zwischen der Notwendigkeit der Mittel und der Zwecke zurückgeht (siehe oben 1.1.3 und siehe UD, 298), und auf der Kants späte Konzeption der Menschenwürde basiert, wird ein Wegweiser für die der Ethik Kants. Siehe unten 7.1.2.4.2 (e.2) und GMS, 427.19 – 428.02, 428.11– 33.
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selbst zwingen kann (siehe V-Mo, 047.07/056 ff.), so muss diese Einschränkung (1.) auf eine objektive, zur Nötigung taugliche Notwendigkeit zurückgehen, und (2.) aus der eigenen Freiheit stammen. Die für den Menschen eigentümliche Freiheit ist demnach nicht „ungebunden“, nicht absolut (V-Mo, 175.20/220), wie Rousseau es vorsah, sondern es handelt sich bei ihr um „Selbstzwang“ (V-Mo, 049.05/060), „Oberherrschafft über sich selbst“ (V-Mo, 202.03/252), d. i. Selbstbeherrschung. Zusammenfassend: Das „arbitrium liberum“ fungiert zwar als die Bedingung aller möglichen Verbindlichkeit, aber auch als die Bedingung zur möglichen Beobachtung derselben (siehe V-Mo, 202.04/252): Einerseits wäre der Mensch ohne Freiheit freilich abhängig von Instinkten und dann, wie die Tiere, der Natur gemäß determiniert. Somit würde er weder über freie Wahl verfügen, noch in der Lage sein, „[seinen Willen] unter die Regel allgemein gültiger Zwekke [unterzuordnen]“ (V-Mo, 030.32/034). Daher wäre es andererseits ohne Freiheit auch nicht möglich, dass sich der Mensch zu einer verbindlichen Handlung entschlösse; denn wie jedes determinierte Wesen – ob durch Natur (wie die Tiere) oder durch die praktische Notwendigkeit (wie Gott) (siehe V-Mo, 031.10/035) – könnte der Mensch eine Handlung nicht einmal als verbindlich verstehen. Aber der Mensch verfügt nicht nur über eine bedeutende Unabhängigkeit von empirischer Determination, sondern er ist sich auch darüber bewusst und kann folglich zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen, u. a. sich „nach Gesetzen der Freyheit“ zu einer verbindlichen Handlung entschließen. Aufgrund dessen ist es weit gefehlt, die Verbindlichkeit als der Freiheit widersprechend vorzustellen⁹¹. Vielmehr sind sie beide zueinander direkt proportional:⁹²
V-Mo, 046.12/055: „Practisch kann beym freyen Wesen eine Handlung nothwendig seyn und zwar im grossen Grad, der gar nicht kann übertroffen werden, die aber der Freyheit nicht wiederspricht. So muß Gott nothwendig die Menschen, deren Verhalten den moralischen Gesetzen gemäß ist, belohnen, und dann hat er nach den Regeln des besten Beliebens gethan, denn das Verhalten der Menschen stimmt mit den moralischen Gesetzen und also auch mit der göttlichen Willkür überein. So kann ein ehrlicher Mann nicht lügen, er thut es aber aus eigenem Willen nicht. Also können Handlungen nothwendig seyn, ohne der Freyheit zu wiederstreiten. Es kann eine practische Nothwendigkeit statt finden ohne der Freyheit zu wiederstreiten. Diese practische necessitation kann aber nur bey Menschen und nicht bey Gott statt finden. […] Folglich der aus BewegungsGründen der Vernunft genöthigt ist, ist ohne der Freyheit zu wiederstreiten genöthigt. Wir thun die Handlungen zwar ungern, aber wir thun sie doch, weil sie gut seyn“. Siehe Initia, § 51. Hier wiederhole ich ein bereits gegebenes Zitat, aber ergänze es weiter.
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„Ie mehr ein Mensch kann moralisch gezwungen werden, desto freyer ist er,[⁹³] je mehr er pathologisch, welches aber nur comparative geschicht, gezwungen wird, desto weniger frey ist er. […] Moralisch zwing ich einen durch motiva objective moventia, durch BewegungsGründe der Vernunfft mit seiner grösten Freyheit, ohne allen Antrieb. Demnach gehört ein grosser Grad der Freyheit um moralisch gezwungen zu werden, denn alsdann ist das arbitrium liberum mächtiger, es kann durch BewegungsGründe gezwungen werden und ist von den stimulis frey. Ie mehr also jemand von den stimulis frey ist, desto mehr kann er moralisch necessitirt werden. Die Freyheit wächst mit dem Grade der Moralitaet. Bey Gott findet keine necessitatio practica statt; denn bey ihm sind die subjectiven Gesetze mit den objectiven einerley. Aber bey Menschen findet eine necessitatio practica statt, denn er thut es ungern also muß er gezwungen werden. Ie mehr er aber dem moralischen BewegungsGrunde nachgiebt desto freyer ist er“ (V-Mo, 047.07/056 f.).
Dadurch, dass der Mensch seine Stimuli beherrscht, zeigt er seine eigentümliche Persönlichkeit als freies Wesen, da er nicht rein sinnlich, durch Natur (Instinkte und Leidenschaften) determiniert wird. Auf diese Weise lässt er seiner freien Willkür einen größeren Spielraum: Je ungebundener sie von äußerlichen determinierenden Faktoren ist, desto größer sind ihre Wahlmöglichkeiten. Ihrerseits fordern diese, dass das Subjekt tatsächlich Entscheidungen trifft, damit es nicht eine regellose, d. i. chaotische Willkür wird. So eröffnet sich ein umso größerer Raum für die „Bewegungsgründe der Vernunft“ („motiva objective moventia“), die allgemein gültig sind, „ein Sollen [ausdrüken]“ (V-Mo, 007.11/008) und daher als „objektive Gesetze“ auftreten. Also: Dass die freie Willkür den natürlichen Triebfedern gegenüber „mächtiger“ ist, bringt es mit sich, dass sie mehr „dem moralischen BewegungsGrunde nachgiebt“, mithin moralisch gezwungen wird. Zwar geschieht das erst „ungern“, weil der Mensch keinen vollkommenen Willen hat; demzufolge will er nicht nur objektiv das, was die objektiven Gesetze der Vernunft anordnen, sondern auch subjektiv das, was seine Bedürfnisse befriedigt und seine Interessen fördert. Aber seine vernünftige Natur verlangt, durch (normgerechte) Entscheidungen der Undeterminiertheit seines Wesens gerecht zu werden. Deswegen erlangt der Mensch höhere „Grade der Freyheit“, denn durch Beherrschung seiner Antriebe gewinnt er an sinnlicher Ungebundenheit (d. i. negative Freiheit) und dadurch an Entscheidungsfähigkeit (positive bzw. praktische Freiheit), mithin an Moralität.
Die Grenzen dieser Studie erlauben es nicht. Jedoch wäre es interessant zu untersuchen, ob Kant mit dieser Stellungnahme Rousseau widerspricht oder ob er in seinem Gedankengang bloß die Idee Baumgartens wiedergibt.
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„[…] wenn er [sc. der Mensch] nun seiner Neigung, die er sich selbst ersonnen hat ohne Regel folgt, so wird er der abscheulichste Gegenstand, indem er durch seine Freyheit um seine Neigung zu befriedigen die gantze Natur umformen kann“ (V-Mo, 179.14/221).
Die „Persönlichkeit“ des Menschen als freiem Wesen stützt sich nicht nur darauf, dass er sich unter Regeln unterordnen und Verbindlichkeiten aufnehmen kann, sondern auch eben darauf, dass er es soll. Also ist eine absolute (regellose) Freiheit bei Menschen nicht möglich, sondern die menschliche Freiheit hängt der Verbindlichkeit an: Weder die „BewegungsGründe der Vernunfft“ noch der mögliche „Gebrauch der Freiheit“ sind durch Menschen regellos.
5.1.3.8 Der gute Wille „Zur Klugheit wird erfordert guter Verstand, und zur Sittlichkeit wird erfordert guter Wille, unser freyes Verhalten beruht blos auf dem guten Willen, wenn es die sittliche Bonitaet besitzen soll, also kann unser Wille an sich gut seyn“ (V-Mo, 033.05/037).
Freiheit, Sittlichkeit und das Gute werden in eine enge Verbindung gebracht: Die sittlich guten Handlungen haben ihre Grundlage im Willen, der „an sich gut“ ist. Er ist verantwortlich für unser freies Verhalten, wobei freie Handlungen sittlich gut und, umgekehrt, sittlich gute Handlungen frei sind. Weil wir über ein „arbitrium liberum“ verfügen, können wir nicht durch subjektive Triebfedern⁹⁴, sondern nur durch objektive Triebfedern⁹⁵ genötigt werden (siehe V-Mo, 045.25/054). Insofern bedürfen wir zum moralischen Handeln eines guten Willens. Wenn er da ist, dann werden wir zur Moralität eigentlich „nicht gezwungen, sondern bewogen“ (V-Mo, 046.07/055). Der Hauptmerkmal eines höchst guten Willens wie des „vollkommenen Willens“ liegt darin,⁹⁶ dass bei ihm die moralische Notwendigkeit nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv notwendig ist (siehe V-Mo, 029.27/032). D. h., es handelt sich um einen guten Willen, weil dessen Gesinnungen (in subjektiver Hinsicht) moralisch gut sind (siehe V-Mo, 040.13/045 f.). Wie gesehen, ist das der Fall beim göttlichen Willen, bei dem die Gründe der Beurteilung einer Handlung, d. h. das objektive Gesetz bzw. die Norm des moralischen Handelns, mit den Ausführungsgründen derselben Handlung, d. h. mit den Bewegungsgründen bzw. dem subjektiven Gesetz oder der Gesinnung, übereinstimmen (siehe V-Mo, 040.21/
Auch „causae impulsivae per stimulos“ genannt (V-Mo, 028.11/030). Auch „causae impulsivae“ als „motiva“ bzw. „Bewegungsgründe“ genannt (V-Mo, 028.07/ 029 f.). Dieser Gedanke wurde bereits erwähnt, siehe oben 5.1.3.6.
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046). Insofern sind die Maximen Gottes auch durch die praktische Notwendigkeit des objektiven Gesetzes gekennzeichnet, wobei jedoch keine Nötigung zustande kommen kann: Zwar liegt der Moralität die praktische Nötigung zugrunde, da aber diese letztere, wegen der apriorischen Übereinstimmung seines subjektiven Gesetzes mit dem objektiven Gesetz der Sittlichkeit bei Gott nicht auftritt, so kann das subjektive Gesetz eines solchen „allgemeinen guten Willens […] kein Grund der Moralität“ sein (V-Mo, 041.01/047). Die Moralität besteht in der „Regierung unserer Willkür durch Regel, wodurch alle Handlungen meiner Willkür allgemein gültig übereinstimmen“ (V-Mo, 031.06/ 034 f.), d. h. darin, sich nach dem „principio der Möglichkeit der Uebereinstimmung aller freyen Willkür“ zu richten (V-Mo, 031.09/035). Die Moralität muss also auf Imperative zurückgehen, die unserem Willen eine objektive Nötigung auferlegen; sie ergibt sich somit aus der „UnterOrdnung unsres Willens unter die Regel allgemein gültiger Zwekke“ (V-Mo, 030.32/034). Während bei dem göttlichen Willen keine Unterordnung statthat, weil bei ihm die Übereinstimmung zwischen subjektiven und objektiven Gesetzen bereits gegenwärtig ist, bzw. „weil sein Wille diesem objectiven Gesetz gemäß ist“ (V-Mo, 041.01/047), bedarf jedoch der menschliche Wille einer Nötigung, die ihn unter die moralische Regel bringt. Folglich sind die sittlichen Handlungen bei Gott notwendig, während sie beim Menschen zufällig sind: „Es müssen demnach die sittlichen Handlungen nur zufällig seyn, wenn sie eine Nöthigung haben sollen, und die einen moralisch unvollkommenen Willen haben, stehen unter der Verbindlichkeit, und das sind Menschen“ (V-Mo, 029.33/032).
So können wir uns den göttlichen Willen als „vollkommen“ vorstellen, weil uns die Vernunft durch das moralische Gesetz sagt, was sittlich gut und was für ein Wille der heiligste und vollkommenste ist (V-Mo, 062.18 f./077 f.). So wird Gott dem moralischen Gesetz untergeordnet. Hingegen besteht der menschliche gute Wille bzw. die sittliche Bonität bei Menschen darin, dass er die „Vollkommenheit seines Willens“ (V-Mo, 043.25 f./ 050 f.) erreicht. Das heißt: erstens, die Erlangung der „Vollständigkeit des Menschen in Ansehung aller Kräffte, Vermögen und Fertigkeit alle beliebige Zwekke auszuführen“ (V-Mo, 043.28 f./051); und zweitens, „sich aller diese Vollkommenheiten gut und wohl zu bedienen“ (V-Mo, 043.32/051). Mit anderen Worten: Aufgrund seiner Unvollständigkeit muss der Mensch zunächst seine Kräfte,Vermögen sowie Fertigkeiten zur Ausführung beliebiger Ziele vervollkommnen, damit er imstande ist, sowohl geschickte als auch kluge und gute Zwecke durchzuführen⁹⁷ So auch Schwaiger 1999, 19.
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(siehe V-Mo, 044.02/051). Dann muss er aber noch einen guten Gebrauch von all diesen „Vollkommenheiten“ machen, das bedeutet, eine jede für den ihr eigentümlichen Zweck anwenden. Das impliziert, dass man einer „Bonitaet“ bedarf, die die gesamte Haltung des Subjekts betrifft. Folglich ist dieses Gutsein von jenen partiellen Anlagen freilich unterschieden, aber umfasst und führt sie alle. Daher wird es „moralische Bonitaet“ oder „Vollkommenheit des Willens“ genannt (VMo, 044.01/051). Auf diese Weise erklärt sich die Möglichkeit unmoralischer Handlungen. Infolge dessen, dass das Moralprinzip ein einziges ist (siehe V-Mo, 021.05/023, 026.18/027, 044.10/051) und bloß „aus reiner Vernunfft“ (V-Mo, 027.01/027) abgeleitet ist, so dass es eindeutig, intellektuell und intern ist, stellt sich die Frage: Wie sollten bösartige Handlungen stattfinden können?⁹⁸ Aus folgendem Grund: „Wenn ich durch den Verstand beurtheile, daß die Handlung sittlich gut ist, so fehlt noch sehr viel, daß ich diese Handlung thue, von der ich so geurteilt habe“ (V-Mo, 068.19/085). Wenngleich man über eine mögliche Handlung richtig urteilt, muss der Wille als oberes leitendes Vermögen noch bestimmt werden. Man braucht ein „motivum“, das einen „antreibt, das zu thun, wovon der Verstand sagt, ich soll es thun, das sind die motiva subjective moventia“ (V-Mo, 056.12/070). Nur dann kann man einen guten Gebrauch aller seiner Vollkommenheiten machen. Dennoch behält die Sinnlichkeit immer die Herrschaft in ihrer Domäne: „Der Verstand hat keine elateres animi[⁹⁹], ob er gleich bewegende Krafft und motiva hat, die aber nicht vermögend sind die elateres der Sinnlichkeit zu überwiegen“ (V-Mo, 071.07/086 f.). Auf die Fehlbarkeit vom Ausübungsprinzip der Verbindlichkeit werde ich im nächstfolgenden Absatz gründlicher eingehen.
5.1.3.9 „Vom obersten principio der Moralitaet“ Nachdem Kant durch Erläuterung der moralischen Begrifflichkeit¹⁰⁰ die Grundzüge der Sittlichkeit und ihres Prinzips dargestellt hat, wirft er wiederum die Frage auf, worin dieses besteht. Aber im Unterschied zum Abschnitt „Vom principio der Moralitaet“ (V-Mo, 020.23/022– 034/039) fügt er diesmal dem Begriff „Prinzip“ ein
Kant formuliert die Frage folgendermaßen: „Woran liegt es nun, wenn die Handlung nicht moralisch ist, an dem Verstande oder am Willen?“ (V-Mo, 070.12 f./086 f.). „Triebfedern des Geistes“. Das höchste Gut, die Einteilung der Imperative, der „Lehrbegriff der Moralitaet“, die Unterscheidung der praktischen Notwendigkeit von moralischer Nötigung und Verbindlichkeit, die Freiheit und der gute Wille.
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Adjektiv hinzu, nämlich „oberst“¹⁰¹. Der Rückgriff auf die Redeweise „oberstes Prinzip“ wird hauptsächlich aus zwei Gründen erfolgen: Erstens, um Abstand von der Tradition zu nehmen (die, welche Richtung sie auch immer vertreten mag, die Ethik als eine Disziplin mehrerer moralischer Prinzipien formuliert); und zweitens, um eine explizite Antwort darauf anzukündigen, worin das Moralprinzip bestehen soll. Hierbei fragt es sich, in welcher Hinsicht die Adjektivierung des Prinzips als „obersten“ oder „ersten“ diesem noch eine Bestimmung hinzufügt. Zuallererst führt Kant in die Thematik ein: „Wir haben hier auf zwey Stükke zu sehen, auf das principium der Diiudication der Verbindlichkeit, und auf das principium der Execution oder Leistung der Verbindlichkeit. Richtschnur und Triebfeder ist hier zu unterscheiden“ (V-Mo, 055.24 f./069): „Wenn die Frage ist, was ist sittlich gut oder nicht, so ist das das principium der Diiudication, nach welchem ich die Bonitaet und Pravitaet der Handlung beurtheile. Wenn aber die Frage ist, was bewegt mich diesen Gesetzen gemäß zu leben, so ist das das principium der Triebfeder“ (V-Mo, 056.06/070). „Alle Moralitaet beruht aber darauf, daß die Handlungen ausgeübt werden wegen der innern Beschaffenheit der Handlung selbst; also nicht die Handlung macht die Moralitaet, sondern die Gesinnung, aus der ich sie thue“ (V-Mo, 039.01/043 f.).
So muss der theoretische Grund der Moralität (bzw. die Frage, wie diese sich definiert) von der ausgeübten Moralität in praktischer Hinsicht unterschieden werden. Da die „Frage nach der Bonitaet der Handlung“ (V-Mo, 032.08/036) von der Frage nach dem Auslöser unseres moralischen Handelns getrennt werden soll (die sich ihrerseits aufgrund der rein intellektuellen Basis der Sittlichkeit wiederum von der Frage nach der Triebfeder zu nicht moralischen Handlungen unterscheidet¹⁰²), zieht Kant allererst den paradoxen Schluss, es gäbe zwei oberste Prinzipien: „das oberste principium aller moralischen Beurtheilung“ und „das oberste principium alles moralischen Antriebes“ (V-Mo, 057.01/070). Anhand dieser sollten wir jeweils über die objektiven und subjektiven Gründe zum moralischen Beurteilen sowie zur Ausübung einer moralischen Handlung verfügen: „Das
Die Wendung „oberstes Prinzip der Moralität“ taucht bereits in den Bemerkungen auf, obwohl nur einmal, siehe oben 3.2.2.1 Fn. 64 zu „Principium“. Aber sie erreicht in der Grundlegung ihren Höhepunkt: „Gegenwärtige Grundlegung ist aber nichts mehr als die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“ (GMS, 392.04). Zur Konzeption des „Prinzips“ in der GMS siehe unten 7.1.2.4.2 (a), (b). V-Mo, 032.08/36: „[…] wenn die Frage ist von der Bonitaet der Handlungen, so frägt sich nicht, wodurch man zu der Bonitaet bewegt wird, sondern worin die Bonitaet der Handlung an und vor sich selbst bestehe. Das motivum morale muß also gantz rein an und vor sich selbst erwogen und von andern motivis der Klugheit und der Sinne abgesondert werden“.
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principium der Beurtheilung ist die Norm, und das principium des Antriebes ist die Triebfeder. Norm ist im Verstande, die Triebfeder aber im moralischen Gefühl“ (V-Mo, 057.01/070). Folgende Fragen werden hier aufgeworfen: (1) Ob das oberste Prinzip der Moral nicht, wie erwartet, in einem einzigen Grundsatz besteht, was sich aus V-Mo, 021.05/031¹⁰³ und 044.08/051¹⁰⁴ sowie aus dem Ausdruck „oberstes Prinzip“ hätte ergeben sollen, oder ob es eine Zusammensetzung von zwei Bestandteilen ist, die etwa die zwei Seiten ein und derselben Medaille ausmachen, womit die angedeutete Paradoxie gewissermaßen aufgehoben würde. (2) Spielt das moralische Gefühl bei der moralischen Bestimmung letztlich doch eine Rolle, obwohl es im Rahmen der Träume abgelehnt wurde?¹⁰⁵ Die angewandte Methode, mit der Kant sich diesem Prinzip nähert, ist wiederum dieselbe, derer Kant sich in den bisher betrachteten Abschnitten der Vorlesung bedient, nämlich: zunächst negativ und dann positiv die Fragestellung in Erwägung zu ziehen.¹⁰⁶ Zusammenstimmend mit der geübten Kritik an den Alten Schulen und den ihm vorausgehenden Philosophen schließt Kant, das oberste Prinzip der Moral könne weder pathologisch, d. h. auf einem physischen oder moralischen Gefühl beruhend (siehe V-Mo, 057.14 ff./071 ff.)¹⁰⁷, noch intellektuellpragmatisch – auf die Glückseligkeit abzielend (siehe V-Mo, 059.04/073 f.) –, noch
„[…] so sehen wir ein, daß es ein einiges[*] Principium geben muß“. [*] Lies „einziges“. „Wo schon in der Moral viele principia sind, da sind gewiß keine, denn es kann nur ein wahres principum seyn“. TG, 335.12: „Will man diese in uns empfundene Nöthigung unseres Willens zur Einstimmung mit dem allgemeinen Willen das sittliche Gefühl nennen, so redet man davon nur als einer Erscheinung dessen, was in uns wirklich vorgeht, ohne die Ursachen desselben auszumachen“. Siehe oben 4.1.3, 4.2.1, 4.2.2. Bei der Betrachtung des höchsten Gutes, der Merkmale eines moralischen Prinzips, des Verbindlichkeitsbegriffs etc. hat sich Kant hauptsächlich negativ (durch Kritik an den Alten Schulen und den ihm vorausgehenden Philosophen) und dann positiv (durch eigene Stellungnahme) mit der Begrifflichkeit zur Sittlichkeit und dem moralischen Prinzip überhaupt beschäftigt. Dadurch hat er einschlägige Formulierungen geliefert, die seines Erachtens die Moralität definieren. So ist die Rede von „UnterOrdnung unsres Willens unter die Regel allgemein gültiger Zwekke“ (V-Mo, 030.33/034), vom „principium der Möglichkeit der Uebereinstimmung aller freyen Willkür“ (V-Mo, 031.09/034), von der „Regierung unserer Willkür durch Regel, wodurch alle Handlungen meiner Willkür allgemein gültig übereinstimmen“ (V-Mo, 031.06/034 f.) usw. Nun konzentriert sich Kant auch zunächst negativ auf die bisherigen seines Erachtens nach unzutreffenden Auffassungen der Moral und ihr/-e Prinzip/-ien und dann liefert er positiv die seinige, deren Urheberschaft, angesichts der vorhergehenden Kritik, auf Kant selber zurückzuführen ist. Siehe oben 5.1.2 (B1).
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intellektuell-tautologisch – wie bei Wolff, Baumgarten oder Aristoteles (siehe VMo, 060.07 f./074 f.)¹⁰⁸ – sein. Im nun zu betrachtenden Abschnitt „Vom obersten principio der Moralitaet“ wird die bereits angedeutete Kritik sowohl gegen das moralische Gefühl (moral sense) als auch gegen alles intellektuell-äußerliche Prinzip wie etwa das theologische (siehe V-Mo, 027.08/028), dem aller moralische Status verwehrt wird, ausführlicher eingegangen (siehe V-Mo, 061.02/075)¹⁰⁹. Die Kritik am moralischen Gefühl geschieht hauptsächlich aus drei Gründen. Ihm ist keine Rolle in der Moralbegründung zuzugestehen, denn: (a) Zum einen beruht das moralische Gefühl – physisch oder intellektuell – immer auf einem pathologischen Prinzip der Moralität, das bloß die Befriedigung einer Neigung verfolgt. Demzufolge würde die aus ihm entspringende Handlung nicht wegen ihrer „inneren Beschaffenheit“ (V-Mo, 027.10/028) ausgeübt, nämlich weil sie an und für sich selbst gut ist (siehe V-Mo, 030.06/ 033, 032.05/036), sondern vielmehr weil sie irgendeinen Vorteil mit sich bringt. (b) Zum anderen bedeutet das moralische Gefühl so viel wie eine „intellektuelle Neigung“ zur Sittlichkeit (V-Mo, 057.28/071). Das soll aber ein „Unding“ sein: Denn etwas Sinnliches, wie das Gefühl, kann nicht in Bezug auf etwas Intellektuelles, wie die Gegenstände des Verstandes, z. B. die Moralität, erweckt werden (siehe V-Mo, 058.01/071). (c) Schließlich kann alles, was auf dem moralischen Gefühl fußt, per definitionem „nur eine Privatgültigkeit“ haben (V-Mo, 058.22/072) und „giebt alle Gründe der Vernunfft auf“ (V-Mo, 059.03/073). Was die Kritik an dem theologischen Prinzip der Moral betrifft, sagt Kant aus: „Es ist wahr, das moralische Gesetz ist ein Befehl und sie können Gebothe des göttlichen Willens seyn, aber sie fliessen nicht aus dem Geboth. Gott hat es gebothen, weil es ein moralisches Gesetz ist und sein Wille mit dem moralischen Gesetz übereinstimmt“ (V-Mo, 061.29/076).
Zu einem Überblick über Kants Kritik an Epikur und den Empiristen siehe oben 5.1.2 (B1). Zur Kritik an den Rationalisten siehe oben 5.1.2 (B2). Zu Kants Antwort auf die Frage, worin das Prinzip der Moralität besteht, siehe oben 5.1.2 (C) und (D). Zu einem eingehenderen Blick auf Kants Kritik an den alten Schulen siehe 5.1.3.2. Siehe oben 5.1.2 (B2). In diesem Punkt folgt Kant nur insofern Baumgarten, als dieser „den Offenbarungsglauben aus der praktischen Philosophie per definitionem ausgeklammert wissen [wollte]“ (Schwaiger 2008, 232). Die Religion spielt aber bei der Moralauffassung Baumgartens eine zentrale Rolle, wovon Kant sich entfernen wird.
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5 Vorlesung zur Moralphilosophie (1774/75)
Auch ohne den Gottesbegriff können wir unsere Pflichten anerkennen, weil sie „aus reiner Vernunfft abgeleitet werden“ (V-Mo, 027.01/027, siehe V-Mo, 062.17/077) bzw. im Verstand liegen (siehe V-Mo, 027.18/027, 060.02/074, 067.31 f./084). Erst recht sind die Befehle Gottes als solche zu verstehen, weil sie mit dem moralischen Gesetz zusammenstimmen, wobei letzteres Vorrang vor jenen Befehlen und Gott selber hat. Aus diesem Grund ist es möglich, dass Völker, die einen falschen oder gar keinen Gottesbegriff haben, richtige Begriffe der Pflichten entwickeln (siehe V-Mo, 061.16/075 f.). Somit brauchen wir zur Beurteilung (Diiudication) der Moralität kein drittes Wesen. Hingegen brauchen wir eins zur Ausführung der Handlung, da wir erst durch eine Triebfeder (Belohnung oder Bestrafung Gottes) motiviert würden (siehe V-Mo, 062.01/076 f.)¹¹⁰. Entgegen der Ansicht der Empiristen und Rationalisten ist das Moralprinzip also „intellectual internum“. Insofern lautet die positive Antwort darauf, worin das oberste Prinzip der Moral besteht, wie folgt: „Die Moralitaet ist die Übereinstimmung der Handlung mit einem allgemein gültigen Gesetz der freyen Willkür. Alle Moralitaet ist das Verhältniß der Handlung zur allgemeinen Regel. In allen unsern Handlungen ist das, was man moralisch nennt, regelmässig. Das ist das wesentliche Stük der Moralitaet, daß unsre Handlungen aus dem BewegungsGrunde der allgemeinen Regel geschehen. Wenn ich das zum Grunde lege, daß meine Handlungen müssen zusammenstimmen mit der allgemeinen Regel, die zu jederzeit und für jedermann gillt, so ist sie entsprungen aus dem moralischen principio. […] Da nun der Verstand das Vermögen der Regel und der Urtheile ist, so besteht die Moralitaet in der Unterordnung der Handlung überhaupt unter dem principio des Verstandes. Wie nun der Verstand ein principium der Handlungen enthalten soll, ist etwas schwer einzusehen[¹¹¹]. Der Verstand enthält auch gar nicht den Zwek der Handlung, sondern die Moralitaet der Handlung besteht in der allgemeinen Form (die pur intellectual ist) des Verstandes; wenn nemlich die Handlung allgemein genommen wird sie als Regel bestehen kann“ (V-Mo, 064.25/080 passim 068.01 f./084).
Ähnlich wie in den Beobachtungen sucht Kant für die erfolgreiche Ausführung der Moralität eine Stütze: Dort wurde diese den „adoptierten Tugenden“, die auf der „moralischen Sympathie“ beruhen, wie etwa dem Mitleid, zugewiesen – (GSE, 217.26 f.). Aber zur Zeit der Vorlesung erfüllt die Theologie diese Rolle. So wird der bereits in den Bemerkungen, 022.08 eingeschlagene Weg beibehalten, indem die Moral in der Religion eine Stütze findet: „Moral und Theologie ist keines ein principium des Andern, zwar kann die Theologie nicht ohne die Moral und diese wieder nicht ohne jene bestehen, allein es ist hier nicht die Rede, daß die Theologie eine Triebfeder der Moral sey, das ist sie freylich, sondern ob das principium der Diiudication der Moral ein theologisches sey, und das kann nicht seyn“ (V-Mo, 061.10/075). Dazu siehe unten 5.2.2.2. Diese Frage und die Umformulierungen derselben werden in der GMS wieder auftauchen, und zwar ohne eine direkte Antwort. Siehe unten 5.1.3.9 (g) und 5.3 (b). Dazu auch Schönecker 2005, 22, Fn. 4.
5.1 Analytischer Teil
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Wenngleich diese Antwort die Leser_innen nicht überraschen wird, da ihm die referierte Einstellung bereits aus mehreren Passagen aus den vorigen Abschnitten bekannt ist¹¹², sind dennoch manche Aspekte des Zitats bemerkenswert: (a) Kant liefert eigentlich keine Formulierung des Moralprinzips, sondern er definiert die Moralität. (b) Diese Definition der Moralität gründet sich auf die Konformität der Handlung mit einer „allgemeinen Regel“¹¹³. Dieses Konformitätsverhältnis besteht in der Unterordnung der Handlung unter das Prinzip des Verstandes, indem das, was die Handlung mit einem moralischen Wert auszeichnet, das Regelmäßige, d. i. das Formale in ihr ist. So geschieht diese „Übereinstimmung“ dank des „moralischen Prinzips“, wenn dieses, in Form eines „allgemein gültigen Gesetzes der freyen Willkür“, als „Bewegungsgrund“ bzw. „Richtschnur“ des Handelns fungiert. (c) Daher ist die Regelhaftigkeit ein gemeinsamer Nenner aller moralischen Handlungen. Die Materialität der Handlung – sowohl das in ihr Wahr-
Ebenso siehe V-Mo, 022.04/024: „Intellectualle Gründe sind die, da alle Moralitaet aus der Uebereinstimmung unserer Handlungen mit den Gesetzen der Vernunfft abgeleitet wird“. V-Mo, 026.08 f./027 f.: „ZE. du sollst nicht lügen; […] wenn es beruht auf einem principio, welches im Verstande liegt, so heißt es schlechthin: du sollst nicht lügen, die Umstände mögen seyn wie sie wollen. Wenn ich meine freye Willkür betrachte, so ist das eine Uebereinstimmung der freyen Willkür mit sich selbst und anderer. Es ist also ein nothwendiges Gesetz der freyen Willkür“.V-Mo, 030.32 f./034 f.: „Die UnterOrdnung unsres Willens unter die Regel allgemein gültiger Zwekke ist die innere Bonitaet und absolute Vollkommenheit der freyen Willkür […]. Aber Lügen wiedersprechen sich, stimmen nicht mit meinen Zwekken und mit andern überein. Die moralische Bonitaet ist also die Regierung unserer Willkür durch Regel, wodurch alle Handlungen meiner Willkür allgemein gültig übereinstimmen. Und solche Regel, die das principium der Möglichkeit der Uebereinstimmung aller freyen Willkür ist, ist die moralische Regel“. V-Mo, 055.02/068: „[…] die Uebereinstimmung der Handlung mit den Gesetzen aus Gesinnungen und aus Pflicht, die hat die Moralitaet; sie besteht also in der gutwilligen Gesinnung“. V-Mo, 067.34 f./054 f.: „Wenn die Handlung also deswegen geschicht, weil sie nach der allgemeinen Regel des Verstandes übereinstimmt, so ist sie aus dem principio moralitatis puro intellectuali interno geflossen“. Ebenso siehe V-Mo, 039.01/043 f., 070.04/086. Die ist eine zentrale Überlegung, die sich weiter entwickeln und bis zu den „kritischen“ Schriften gegenwärtig bleiben wird. Beispielsweise siehe GMS, 414.8: „[…] das Sollen ist hier [sc. bei einem vollkommenen guten Willen] am unrechten Ort, weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz notwendig einstimmig ist“. GMS, 439.28: „Die Handlung, die mit der Autonomie des Willens zusammen bestehen kann, ist erlaubt; die nicht damit stimmt, ist unerlaubt“. KU, AA 05: 450.15 (§ 87): „Folglich, das höchste in der Welt mögliche und, so viel an uns ist, als Endzweck zu befördernde physische Gut ist Glückseligkeit: unter der objectiven Bedingung der Einstimmung des Menschen mit dem Gesetze der Sittlichkeit, als der Würdigkeit glücklich zu sein“.
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nehmbare als auch ihr Zweck wie auch ihre bloß subjektive Ursache¹¹⁴ – ist wandelbar, wobei sie keinen Grund der Moralität anbieten kann: dadurch wäre keine Einstimmigkeit unter den moralischen Urteilen möglich (siehe VMo, 021.02/023). Die Regelhaftigkeit aller moralischen Handlung bezieht sich also auf die „innere Beschaffenheit“ derselben (V-Mo, 027.10/028), d. h. auf die Regel selbst, der die Handlung unterliegt. Jedoch muss darauf geachtet werden:¹¹⁵ (d) „Alle Moralitaet beruht aber darauf, daß die Handlungen ausgeübt werden wegen der innern Beschaffenheit der Handlung selbst; also nicht die Handlung macht die Moralitaet, sondern die Gesinnung, aus der ich sie thue. […] [ich] thue etwas deswegen, weil es an sich selbst schlechterdings gut ist“ (V-Mo, 039.01/043 f.).
Es genügt nicht, dass die Handlung objektiv genommen, d. h. bloß auf der Urteilsebene betrachtet, der allgemeinen Regel angemessen ist: Eine dem Anschein nach moralisch gute Handlung kann unbewusst oder aus Gewohnheit oder angesichts eines Vorteils durchgeführt werden. In diesem Fall wird die Handlung trotz ihrer äußerlichen Konformität mit dem moralischen Prinzip keine Moralität ausdrücken enthalten. Deshalb muss die moralische Handlung aus einem bestimmten inneren Grund, nämlich wegen ihres Gutseins vollzogen werden. Aber da das „schlechterdings gut“ in der Handlung nichts als ihre Regel sein kann, beruht das Gutsein der moralischen Handlung darauf, dass ich aufgrund einer moralischen Gesinnung handle (siehe V-Mo, 039.03/044); mit anderen Worten: Dass das Motiv bzw. der Bewegungsgrund meiner Entschließung zur Durchführung der Handlung die Erfüllung der Handlungsregel selbst ist (siehe V-Mo, 051.08/063), d. h. die alleinige Realisierung der Handlung, abgesehen von den durch sie erreichbaren Zielen und Vorteilen bzw. möglichen Wirkungen. Und das ist „das wesentliche Stük der Moralitaet“ (V-Mo, 064.25/080), was letztlich die „UnterOrdnung unsres Willens unter die Regel allgemein gültiger Zwekke“ ist (VMo, 030.32 f./034 f.). (e) „Demnach sollen die Handlungen so beschaffen seyn, daß sie mit der allgemeinen Form des Verstandes übereinstimmen, und daß sie allemal eine Regel werden können, denn ist die Handlung moralisch“ (V-Mo, 070.04/086). Der Verstand zeichnet sich durch eine „allgemeine Form“ aus, was ihn zum
Gemeint sind, wie vorhin gesehen, die so genannten „caussas impulsivas per stimulos“ oder bloß subjektiven Triebfedern, nämlich die Neigungen, Bedürfnisse und privaten Interessen, die uns zur Durchführung einer Handlung anregen. Hiermit komme ich wieder zu einer bereits zitierten Passage.
5.1 Analytischer Teil
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„Vermögen der Regel“ macht. So erteilt er jeder Handlung das Regelmäßige, welches – als das Bleibende, Unwandelbare – auf den Verstand zurückgeht und erst durch ihn anzuerkennen ist. Die bloß subjektiven Triebfedern („causa impulsiva per stimulos“) wie der zu erreichende „Zwek der Handlung“ (V-Mo, 068.01 f./084) als das Materielle und Wandelbare kann schließlich weder im Verstand liegen noch die Moralität betreffen. (f) Aus diesem „wesentlichen Stück der Moralität“, das in der Unterordnung des Willens und dessen entsprechendem Handeln besteht, ergibt sich, dass der moralischen Handlung notwendigerweise ein (doppelter) Zwang innewohnt: Zum einen muss man vom verfolgten Zweck abstrahieren und bloß darauf achten, dass die „innere Beschaffenheit“ der Handlung mit der Regelmäßigkeit des Verstandes zusammenstimmt. Dazu muss zum anderen von allen subjektiven, auf Bedürfnissen und Neigungen beruhenden Triebfedern abstrahiert werden, so dass der Handlung eine innere, aber objektive Triebfeder bzw. ein Bewegungsgrund zugrunde liegt, nämlich die Gesinnung, der „Regel, die das principium der Möglichkeit der Uebereinstimmung aller freyen Willkür ist“ (030.32 f./034 f.), „ein Gnüge zu thun“ (V-Mo, 051.08/063). (g) „Wie nun der Verstand ein principium der Handlungen enthalten soll, ist etwas schwer einzusehen“: Diese anfängliche bescheidene Aussage Kants wird mit einem lapidaren Schluss für das sogenannte Prinzip der Exekution beendet.¹¹⁶ Das gemeinte „principium des Verstandes“ ist rein intellektuell (siehe V-Mo, 060.05/074), wobei es von vornherein kein Verhältnis zur Erfahrung hat; es enthält nicht den Zweck der Handlung. Jedoch treten die Handlungen erst in der Erfahrung auf, was charakteristisch ist für ihre Materialität. Hierbei taucht also die Schwierigkeit auf: Der Verstand, der sich durch die Formalität bzw. seine „allgemeine Form“ (V-Mo, 068.08/084) auszeichnet, soll nebst dem „objectiven principio der Diiudication“ ein „subjectives principium der Execution der Handlung“ enthalten, das es ihm erlaubt, Zutritt in die Wirklichkeit zu haben und dadurch empirische Begebenheiten wie die Handlungen zu regulieren. So muss das mögliche Prinzip der Ausübung näher betrachtet werden. – Diese Problematik, die ein mögliches Zusammenwirken zweier heterogener Ebenen betrifft, umreißt Kant erneut Jahre später im zweiten Abschnitt der Grundlegung, wo deren Lösung auf den dritten Abschnitt verschoben wird¹¹⁷. Dazu gleich. GMS, AA 04: 417.03: „Nun entsteht die Frage: wie sind alle diese Imperative möglich? Diese Frage verlangt nicht zu wissen, wie die Vollziehung der Handlung, welche der Imperativ gebietet, sondern wie bloß die Nöthigung des Willens, die der Imperativ in der Aufgabe ausdrückt, gedacht werden könne“.
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Was uns also das „principium diiudicationis“ verschafft, ist eine Richtschnur bzw. ein „objectives Gesetz“ (V-Mo, 066.12/082). Der Verstand kann überprüfen (siehe V-Mo, 066.05/081), ob die „Intention“ einer möglichen Handlung, d. h. die „Maxime“ bzw. „das subjective Gesetz“ der Handlung „eine allgemeine Regel seyn könnte“ (V-Mo, 066.11/082, 067.02/082 f.). Wenn dem so ist, dann „ist sie [sc. die Handlung] moralisch möglich; stimmt die Intention der Handlung wenn sie allgemein gemacht wird nicht mit sich selbst, ist sie moralisch unmöglich“, weil sie sich selbst „widerspricht“ und „aufhebt“ (V-Mo, 067.18/083, 031.04/034). Dann gebraucht man seine eigene „Person“ als eine bloße „Sache“, indem man zu einem Mittel oder „Instrument“ seines „Vorteils“ oder seiner „thierischen Belustigung“ wird (V-Mo, 067.04/083). Kehren wir nun zum Leitfaden der gerade kommentierten Passage V-Mo, 064.25/080 passim 068.01 f./084 zurück. „Wenn ich durch den Verstand urtheile, daß die Handlung sittlich gut ist, so fehlt noch sehr viel, daß ich diese Handlung thue, von der ich so geurtheilt habe“ (V-Mo, 068.19/085). Damit bestätigt sich die oben angekündigte¹¹⁸, doch im Text nicht so deutliche dreifache Unterscheidung Kants zwischen den Ebenen (1) des Verstandesurteils, (2) der guten Gesinnung, welche einen moralischen Auslöser ¹¹⁹ impliziert – der nicht mit einem moralischen Gefühl zu verwechseln ist – und (3) des faktischen Handelns (bzw. der Willensbestimmung), welches auch durch bloß subjektive Triebfedern psychologisch motiviert werden ¹²⁰ kann. Denn zur Norm des Beurteilens müsse noch ein mit ihr zusammenpassender „motivus subjectivus movens“ hinzukommen, der auf einem „subjectiven principio der Executionis der Handlung“ beruhen würde und eine gewisse „bewegende Krafft“ hätte: „[…] ein reiner moralischer Grund hat grössere Triebfeder, als wenn er untermengt ist mit pathologischen und pragmatischen motivis; denn solche motiva haben mehr bewegende
Siehe oben 5.2.1 (D). D. i. die häufig sogenannte moralische Motivation, siehe oben 4.2.1. Vergleiche Kuehn 2004, XXXIV. V-Mo, 051.05/63: „Objective BewegungsGründe sind vom Gegenstande entlehnt, und sind Gründe von dem was wir thun sollen. Subjective BewegungsGründe sind Gründe der Gesinnung und Bestimmung des Willens der Regel ein Gnüge zu thun. Nach den objectiven Gründen sind die Verbindlichkeiten innerlich und äusserlich, nach den subjectiven Gründen sind sie Pflicht oder Zwang“. Diese dreifache Unterscheidung ergibt sich erstens implizit aus der Lehre des höchsten Gutes, wo Kant festlegt, man brauche eine Regel und dazu noch eine Triebfeder zum Handeln (siehe V-Mo, 011.07/013 – 020.22/022). Aber explizit wird sie von Kant in der Lehre des Moralprinzips (siehe V-Mo, 026.05/026 – 027.23/029) und in der Lehre der praktischen Nötigung (siehe VMo, 027.24/029 – 028.15/030) festgesetzt (siehe V-Mo, 032.05/036). An dieser handlungstheoretischen Konzeption der drei Ebenen oder Momente des Handelns wird Kant in der GMS weiter arbeiten. Dazu siehe unten 7.2.2.1.
5.1 Analytischer Teil
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Krafft für die Sinnlichkeit, aber der Verstand sieht auf die allgemein gültige bewegende Krafft“ (V-Mo, 032.17/036 f.).¹²¹
Diese Triebfeder nennt Kant zunächst „moralisches Gefühl“ (V-Mo, 057.04/070, 068.15/085). Aber: erstens, aufgrund der vorhin dargestellten Kritik¹²²; und zweitens, angesichts der Unmöglichkeit zu erklären, „wie nun der Verstand ein principium der Handlungen enthalten soll“, kann dieses Gefühl als Mittelstück des Zusammenwirkens zwischen Urteil (im theoretischen Bereich) und Handeln (im faktischen Bereich) nicht dargetan werden. Daher wird es als „Stein der Weisen“¹²³ charakterisiert. Zwar widersteht der Verstand als „Vermögen der Regel“ (V-Mo, 067.31/054) allem, „was die Möglichkeit der Regel aufhebt“ (V-Mo, 070.01/085) und somit lässt sich von einer „bewegenden Krafft des Verstandes“ (V-Mo, 070.05/086, 071.10/087) sprechen. Aber das Gutsein oder die Bösartigkeit einer Handlung wird weder vom Verstand „gefühlt“ noch von der Sinnlichkeit „eingesehen“ – worin das moralische Gefühl bestehen würde (siehe V-Mo, 071.10/ 087). Daher: „Den Menschen dahin zu bringen, daß er die Verabscheulichkeit des Lasters fühle, ist gar nicht möglich, denn ich kann ihm nur das sagen, was mein Verstand einsieht […]. Also läßt sich sowas [sc. das moralische Gefühl (ACGX)] überhaupt nicht hervorbringen“ (V-Mo, 071.52/087 f.)¹²⁴.
Schließlich: Auch wenn die allgemeine Regel im Verstand liegt und also „[i]eder kann einsehen, daß die Handlung verabscheuungswürdig ist“ (V-Mo, 071.19/087), so kann noch eine unsittliche Handlung zustande kommen, und zwar sowohl wegen einer falschen Beurteilung, die auf eine schlechte Unterweisung des Verstandes zurückgeht (siehe V-Mo, 070.14/086), als auch wegen der „Pravitaet des Zur „bewegenden Kraft“ des Verstandes siehe V-Mo, 070.05/086, 071.10/087. Hier ist besonders der zweite Punkt der Kritik am moralischen Gefühl zu berücksichtigen, der auf die Ungereimtheit einer „intellektuellen Neigung“ hindeutet. Zur Redensart „Stein der Weisen“ siehe Stark (Hg.) 2004, Kommentar 47: „Die Redeweise hat eine pejorativ-spöttische Konnotation. […] in der Vorlesung stellt der ‚Lapis philosophorum’ nur das Gegenstück zu einem ‚Probierstein’ (touchstone) dar, der in einem damals üblichen, tatsächlich wirksamen Testverfahren Gold prüft. Zwar begegnet in der Moral-Vorlesung der sonst von Kant gern […] benutzte Terminus ‚Probierstein’ nicht im gegenwärtigen Zusammenhang (wohl aber p. 347); so ist doch kaum zu bezweifeln, daß der ‚Lapis philosophorum’ für das gesuchte ‚Principium executionis’ stehen soll“. V-Mo 096.21/121: „Die moralische Vollkommenheit hat zwar einen Beyfall in unserm Urtheil, weil aber dieser BewegungsGrund der moralischen Vollkommenheit aus dem Verstande geschöpft ist, so hat er nicht solche treibende Krafft als der sinnliche, und das ist die Schwäche der Menschlichen Natur, wenn ihr die moralische Bonitaet und rectitudo fehlt“.
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Willens“, der sich zum Handeln durch eine bloß subjektive, dem Verstand und seiner Regel widerstehende Triebfeder antreiben lässt (siehe V-Mo, 070.18 f./ 086)¹²⁵.
5.1.3.10 Gesetzgeber versus Urheber des Gesetzes Zum Schluss ist es wichtig, den Unterschied zwischen dem Urheber des Gesetzes und dem Gesetzgeber zu berücksichtigen (siehe V-Mo, 078.03 f./097 ff.). Denn die Analyse des Autonomiebegriffs in der Grundlegung wird diesbezüglich eine neue Position Kants aufweisen. Da erstens das oberste Prinzip der Moralität als „obiectives Gesetz, nach dem man handeln soll“, im Verstand liegt; zweitens es sich durch seine Allgemeingültigkeit auszeichnet; drittens das Sollen desselben sich auf eine kategorische Notwendigkeit gründet; und viertens die moralischen Regeln, nach denen man wirklich handelt, aus reiner Vernunft abgeleitet werden; so können diese moralischen Gesetze nur als unserem guten Willen gemäß „declarirt“ werden (V-Mo, 079.15/097), aber eigentlich nicht von unserer „freien Willkür“ geschaffen werden. Letzteres ist zwar der Fall pragmatischer Gesetze: Sie gebieten oder verbieten bloß konkrete, zufällige Handlungen, richten sich nicht auf unsere (guten oder bösartigen) Gesinnungen, bzw. auf unsere Herzen, und achten nur darauf, dass die Handlungen abgesehen von ihrer „causa impulsiva“ tatsächlich ausgeübt werden. Dagegen impliziert die unmittelbare Ableitung moralischer Gesetze aus reiner Vernunft einen reinen Ursprung derselben, der nicht von unserem (mehr oder weniger angemessenen) „Gebrauch der Freiheit“ abhängt. Die moralischen Gesetze richten sich direkt auf unsere Gesinnung. Sie gebieten nicht einen bestimmten Zweck, sondern zielen auf eine mit ihnen zusammenstimmende Bestimmung des Willens¹²⁶. Infolgedessen zieht Kant den Schluss, dass Menschen wie „ein jedes vernünftiges Wesen“ zwar Urheber pragmatischer Gesetze, aber bloß Gesetzgeber moralischer Gesetze sind.
Siehe oben 5.1.3.8. Siehe oben 5.1.3.8.
5.2 Exegetischer Teil
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5.2 Exegetischer Teil 5.2.1 Kants Absicht Zwei Absichten Kants sind zu unterscheiden: seine Absichten als Morallehrer und seine Absichten als Moralphilosoph. Einerseits ist es Kants Aufgabe als Lehrer für Ethik, gewisse festgelegte Begriffe und Diskussionen der Tradition zu behandeln. Dazu verwendet er als Grundlage die Arbeiten eines von ihm bewunderten Philosophen, und zwar die Baumgartens.¹²⁷ Kants kritischer Ton in vielen Passagen der Vorlesung zeigt aber, dass die als Lehrbücher zugrunde gelegten Initia und Ethica Kant dabei nicht in doktrinären Absicht dienten, sondern als Anregung innerhalb der Veranstaltung.¹²⁸ So verschaffte sich Kant zugleich einen geeigneten Rahmen, um die Moraltheorien der Tradition in Frage und auf die Probe zu stellen. Andererseits würde dies keine besondere Aufgabe darstellen, wenn die Ethikvorlesungen nicht zugleich von eigenen Ansätzen Kants begleitet wären. Den Philosophen Kant hat er nie dem Lehrer Kant untergeordnet. In diesem Sinn ist der qualitative Schritt nennenswert, den Kant als Moralphilosoph mit der Vorlesung getan hat: Wenngleich diese zwar für die Entfaltung eines philosophischen Systems ungeeignet ist, stellt sie doch zumindest einen Spielraum zur Verfügung, die eigenen Gedanken experimentell zu entwickeln. Die Hauptfrage der im Folgenden zu betrachtenden Passagen, in denen die Absicht Kants inhaltlich bestimmt wird, lautet: Worin besteht die Moralität, d. h. das oberste Moralprinzip? Im Gegensatz zu den vorherigen Schriften und den Bemerkungen handelt es sich nun um eine ganz neue Fragestellung, die zugleich neue Folgen mit sich bringt, nämlich die Vorstellung der Moralität als Disziplin eines „einigen“¹²⁹, „aus reiner Vernunfft abgeleiteten“ „obersten principii“ sowie die Einteilung der Imperative u. a. (V-Mo, 021.05/023, 027.01/027). Die Nachschrift der Vorlesung zur Moralphilosophie zeigt also zum einen, dass Kant denjenigen Weg der Ethik betritt, der ihn schließlich zur Grundlegung führen wird. Zum anderen erweist sie, dass seine Auffassung der Ethik von der „kritischen“ und reifen Position der Grundlegung noch weit entfernt ist. –An welchem Punkt seines Reifeprozesses sich Kant genau befindet, und warum er Mitte der 1770er Jahre noch nicht beanspruchen konnte, eine begründete, geschlossene Systematisierung zu liefern, sind die Fragen, mit denen ich mich im nächsten Abschnitt beschäftigen werde.
Siehe Praktische Philosophie Herder, AA 27: 016.25; zitiert durch Schwaiger 2008, 219. So auch Adickes (Hg.) 1911, AA 14: XXI. Lies „einzigen“.
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5.2.2 Kritische Rekonstruktion der Moralkonzeption Kants Vorlesung zur Moralphilosophie stellt einen sehr komplexen Text dar, da es stets unklar ist, inwiefern Kant von der philosophischen Tradition seiner Zeit Abstand nimmt und an welchen Stellen er eigene Überlegungen und Gedanken liefert. Um dies zu beurteilen, hilft uns zwar sehr der komparative „Gliederbau der Vorlesung“, den Werner Stark in seiner Edition an den Originaltext Kaehlers anschließt: Anhand dieser Tabelle können wir schematisch beobachten, in welchen Abschnitten und Sektionen der Vorlesung Kant Baumgartens moralischen Werken folgt und in welchen er davon abweicht; in welchen er philosophische Begriffe motu proprio thematisiert und entwickelt; und in welchen Momenten Kant hinsichtlich seiner Vorlesung Baumgartens Texte für irrelevant hielt, weshalb er sich weder auf sie bezieht noch ihre Inhalte behandelt. Trotzdem wäre eine weitere, insbesondere historische Untersuchung erforderlich, um aufzuzeigen, ob Kants Beiträge und seine Kritik an der Tradition im Allgemeinen und an Baumgarten (öfters „Autor“ genannt) im Besonderen auf eigene Ideen zurückzuführen ist. Dies ist aber nicht Ziel der vorliegenden Arbeit.¹³⁰ Nichtsdestoweniger zeigt die Einstellung in den neuen Beiträgen Kants im Kontext der analysierten Passagen der Vorlesung, dass er vieles in seinen Schriften und Bemerkungen der 1760er Jahre, die ich an früherer Stelle behandelt habe, für unzulänglich bzw. unzutreffend hielt. Die moralphilosophische Fragestellung sollte stattdessen aus einer neuen Perspektive heraus aufgeworfen und mit anderen Begriffen formuliert und beantwortet werden: Was heißt es überhaupt, dass eine Handlung einen sittlichen Wert hat? Warum ist dieser Wert von unveränderlicher Natur? Was für Handlungsimperative sagen, wie Menschen handeln sollen? Warum ist die Moralität nur eine Disziplin für den Menschen¹³¹? Was bedeutet es, dass das Moralprinzip ein theoretisches Prinzip (der Diiudication) und ein – im weiten Sinne – praktisches Prinzip (der Execution) enthalten sollte?
Dazu siehe die herausragenden entwicklungsgeschichtlichen Studien von Clemens Schwaiger 1999 und ders. 2008 bezüglich der Dreiteilung der Imperative und des Verbindlichkeitsbegriffs. Refl. 7092, AA 19: 247.09: „Gott ist nicht durch seinen Willen der Auctor des moralischen Gesetzes, sondern der (göttliche) Wille ist das moralische Gesetz, nemlich das Urbild des vollkommensten Willens und auch das principium aller Bedingungen, unseren Willen einstimig und mit dem seinigen zu determiniren, folglich alle Bedingungen einer nothwendigen Einwilligung; folglich ist eine nothwendige Einheit der subordination unsres unter den Gottlichen Willen, aber unter Creaturen eine nur zufellige Einheit von Zwey Willen. Er hat auch potestatem exsecutivam. Ein legislator, cujus tantum vis executoria obligat, ist despotes“.
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Worin soll das Moralprinzip letztendlich bestehen? All diesen Fragen geht Kant zum ersten Mal im Rahmen der Vorlesung zur Moralphilosophie nach. Hier bietet er somit einen umfassenden und einheitlichen Blick auf die Ethik als ein besonderes Feld der praktischen Philosophie, wobei viele der hier neu vorgestellten Überlegungen mit der später entwickelten Position übereinstimmen oder sie zumindest andeuten (bzw. vorbereiten). Da die Antworten bzw. Betrachtungen Kants bereits in einem früheren Abschnitt diskutiert wurden,¹³² soll sich hier die Rekonstruktionsaufgabe auf Folgendes konzentrieren: Es soll erläutert werden, (5.2.2.1) welche Rolle die Doppelfassung des Moralprinzips spielt und (5.2.2.2) warum dieses zweiseitige Moralprinzip und der damit verbundene Doppelgesichtspunkt in Erwägung gezogen wird, nämlich warum die Beurteilung und die Ausübung der Handlung nicht in der späteren Moraltheorie beibehalten werden. Dadurch wird die ethische Konzeption, die Kant im Rahmen der Vorlesung zur Moralphilosophie vertritt, sichtbar. Um diese zwei Punkte zu erläutern, werde ich zunächst die Auslegung Günther Patzigs in seinem Artikel „‘Principium diiudicationis’ und ‘Principium executionis’: Über transzendental-pragmatische Begründungssätze für Verhaltensnormen“ (1986) erörtern. Anschließend werde ich in Abgrenzung dazu meine eigene Interpretation vorstellen. Ausgehend von Kants Position in der Vorlesung, „laut der es nicht ausreicht, die Triftigkeit einer moralischen Norm einzusehen, um auch nach ihr zu handeln“¹³³, vertritt Patzig die Ansicht,
Siehe oben 5.1.3. Patzig 1986, 204. Patzig zitiert die Vorlesung entsprechend der Lehmann′schen Ausgabe im Band AA 27.2,2 nach der Moral Mrongovius, AA 27: 1428: „Wenn ich durch den Verstand urteile, daß die Handlung sittlich gut sei, so fehlt es noch sehr viel, daß ich diese Handlung tue, von der ich so geurteilt habe. Bewegt mich aber dieses Urteil, daß ich die Handlung tue, so ist es das moralische Gefühl. Das kann und wird auch niemand einsehen können, daß der Verstand eine bewegende Kraft haben sollte, urteilen kann der Verstand zwar freilich, allein diesem Urteile Kraft zu geben, daß es eine Triebfeder [werde], den Willen zur Ausübung einer Handlung zu bewegen, . . . dieses einzusehen ist der Stein der Weisen“. (Vergleiche die fast gleiche Passage bei Kaehler, VMo, 069.19 f./085). Dieses Zitat nach Mrongovius entspricht eigentlich der ersten Nachschrift Mrongovius vom Wintersemester 1782/83 (der sog. Moral Mrongovius), obwohl Patzig irrigerweise das Datum der zweiten Nachschrift Mrongovius′, der sogenannten Moral Mrongovius II vom Wintersemester 1784/85, wiedergibt. Erstere gehört zu einer Gruppe von dreizehn Nachschriften (siehe Stark [Hg.] 2004, 376 ff.), die nach Krauß’ Ergebnissen „Glieder einer Abschriftentradition [sind], deren Entstehung auf eine Vorlesung zurückgeht, „die in dem Zeitraum von W.S. 1774/75 bis W.S. 1778/79 gehalten worden ist““. (Dazu siehe Krauß, Wilhelm, 1926/1932. Untersuchungen zu Kants moralphilosophischen Vorlesungen. – Dissertation bei E. Adickes –. Tübingen, 69; zitiert durch Stark [Hg.] 2004, 376). Ebenso siehe Naragon 2006, http://www.manchester.edu/kant/No tes/notesMoral.htm (am 10.6. 2014), Anm. 15 [Kant in the Classroom: Materials to aid the study of
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„daß die mögliche Lücke zwischen der Zustimmung zur Gültigkeit einer Norm und einem der Norm entsprechenden Verhalten zu den unaufhebbaren Grundtatsachen des menschlichen Lebens gehört, daß diese Lücke auch nicht durch subtile Argumentationen zum Verschwinden gebracht werden kann, und daß insbesondere auch transzendentalpragmatische Reflexion diese Lücke nicht zum Verschwinden bringen kann“¹³⁴.
Patzig geht hauptsächlich auf die Theorie K.-O. Apels ein und erörtert darüber hinaus die „Ersatztheorie“ von J.L. Mackie. Beiden Autoren gelinge es laut Patzig aber nicht, die erwähnte Lücke zu schließen. Schließlich wendet sich Patzig Kants Theorie vom Faktum der Vernunft zu, indem er sie hinsichtlich der alten Lehre vom Prinzip der Dijudikation und vom Prinzip der Exekution als einen Rückschritt in Kants ethischer Auffassung deutet.
Kant’s lectures]. Struktur und Inhalte stimmen völlig überein und stellen große Ähnlichkeiten in der Niederschrift vor. Hingegen soll Moral Mrongovius II von Mrongovius selbst als Hörer der Vorlesung im Wintersemester 1784/85 aufgeschrieben worden sein. Im Vergleich zur erwähnten Gruppe der 1770er Jahre ist letztere deutlich kürzer und zeichnet sich durch einen kompakteren und ausgereifteren Argumentationsgang aus: Die Einleitung, die bei dem Original von Kaehler 36 Seiten beträgt und in drei Abschnitte zerfällt („Prooemium“, „Die moralische Systemata der Alten“ und „Vom Princip der Moralitaet“), hat in der originalen Nachschrift von Mrongovius einen Umfang von nur 15 Seiten und wird nicht untergliedert. Sie enthält zahlreiche neue Züge, die auch in der Grundlegung gegenwärtig sind: die Konzeption des „schlechthin ohne Einschränkung gut[en] Wille[ns]“ (V-Mo/Mron II, AA 29: 599, 607); die Handlungstheorie (siehe V-Mo/Mron II, AA 29: 605 f.; siehe GMS, 412.26 f.); die Frage nach der Möglichkeit des kategorischen Imperativs (siehe V-Mo/Mron II, AA 29: 607; siehe GMS, 417 f.); die Konzeption des Moralgesetzes als einer „Regel“ oder eines „Princip[s] der Allgemeingültigkeit“ (V-Mo/Mron II, AA 29: 608.07, 611.02; siehe GMS, 461.27); die Unterscheidung zwischen „Principien“ als „objectiven Regeln der Handlung“ und „Maximen“ als „practische Principien, die sich subiective selbst zur Regel ihrer Handlung machen“ (V-Mo/Mron II, AA 29: 608; siehe GMS, 420 f. Fn.); das „unbedingt moralisch Unmöglich [e]“ als die Maxime, die „nicht als allgemeines Gesetz statt finden kann“, und das „bedingt moralisch Unmögliche“ als die Maxime, die „wir aber gar nicht wollen können“ (V-Mo/Mron II, 608 f. und 609.36; siehe GMS, 424); und sogar eine Formel des moralischen Imperativs, die sich der Naturgesetz-Formel des kategorischen Imperativs nähert (V-Mo/Mron II, AA 29: 610.03 und 608.24; siehe GMS, 421.18). Im ersten (und einzig gebliebenen) Teil der Vorlesung wird auch der Grund des kategorischen Imperativs formuliert (V-Mo/Mron II, AA 29: 621.07; siehe GMS, 402). Die „Achtung fürs moralische Gesetz“ als der subjektive Bewegungsgrund, der der Handlung „einen moralischen Werth“ erteilt (V-Mo/Mron II, AA 29: 612), gewinnt Boden gegenüber den Redeweisen von der „guten Gesinnung“ und des „Herzens“ (siehe V-Mo, 051.07/063, 054.29/068, 055.10/069). Und die moralische „Avtonomie“ wird definiert als die „gesetzgebende Gewalt der Vernunft“(VMo/Mron II, AA 29: 629.04). Der „Autor“ (nämlich Baumgarten) wird kaum angesprochen: Die Absicht ist ja nicht so sehr, die Inkonsistenz anderer moralischer Einstellungen der Tradition im Hinblick auf eine allgemeingültige Grundlegung der Moral in den Vordergrund zu stellen, als vielmehr die eigenen Gedanken zu entfalten. Patzig 1986, 205.
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Bei der Diskussion von Patzigs Deutung geht es mir nicht in erster Linie darum, seinen Argumentationsgang über „transzendentalpragmatische Begründungssätze für Verhaltensnormen“ nachzuzeichnen und zu diskutieren. Vielmehr werde ich Patzigs Verständnis von Kants Lehre des Dijudikations- und Exekutionsprinzips in der Vorlesung erörtern: Die nähere Analyse von Patzigs Untersuchung zeigt, dass er eine falsche Methode verwendet und mit den Texten unangemessen umgeht. So kommt er zu einer unhaltbaren Auslegung der Kantischen Ethik und deren Fortschreiten.¹³⁵ Patzigs Ziel ist bloß systematisch, das heißt, er versucht eine Reihe von Begriffen, die in moralischen Texten Kants vorkommen, in einen (seinem Verständnis nach) sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Infolge dieses Systematizierungsversuchs beschränkt sich seine Arbeitsmethode darauf, die Passagen in verschiedenen Texten, in denen die unterschiedlichen zu erläuternden Lehren vorkommen, zu identifizieren und auf diese Weise die Lehre vom „principio diiudicationis“ und „principio executionis“ (in der Vorlesung), die Lehre von der „Achtung fürs moralische Gesetz“ (in der Grundlegung) und die Lehre vom Faktum der Vernunft (in der Kritik der praktischen Vernunft) nebeneinanderzustellen und zu vergleichen. Patzig entwickelt aber weder eine philologische Analyse noch eine Exegese der Passagen in ihren jeweiligen Kontexten: Aufgrund seines systematischen Ziels abstrahiert er vom relevanten philosophischen Kontext, so dass die Bedeutung und Entwicklung, die jedem Begriff jeweils zukommt, unberücksichtigt bleibt und er den chronologischen Zusammenhang der Begriffe verzerrt. Hinzukommt noch, dass Patzig in unangemessener Weise mit den Texten umgeht: Erstens achtet er nicht auf die Entstehungszeit und -zusammenhänge der jeweiligen Texte. So entwickelt Patzig weder eine genetische noch eine eingerahmte und relationale Untersuchung, sondern er betrachtet undifferenziert eine studentische Nachschrift und ein von Kant selbst verfasstes und veröffentlichtes Werk, sodass er auf den Inhalt der einen wie des anderen in gleichem Maße Wert legt. Schriftliches Material dient ihm nicht dazu, die darin entwickelten Lehren und Begriffe zu verstehen, so dass von ihm zweitens der langwierige Werdegang Kants¹³⁶ auf dem Weg zu einer Moraltheorie ignoriert wird.
Merkwürdig ist bei Patzigs Kritik an Kant, dass sie Kantische (oder Kant nahe) Schlüsse zieht, obwohl sie auf eine unzutreffende Interpretation Kants zurückgeht. Damit beschäftige ich mich gleich. Dazu siehe Br, AA 10: 056.22– 29 (an Lambert, 31.12.1765), 067.06 – 15 (von Lambert, 3. 2. 1766), 074.08 – 24 (an Herder, 9. 5.1768), 097.26 – 35 (an Lambert, 2.9.1770), 129.22– 35 (an Herz, 21. 2.1772), 145.03 – 22 (an Herz, gegen Ende 1773), 279.28 – 30 (von Hartknoch, 19.11.1781), 393.23 – 25 (von Schütz, 10.7.1784) und 396.17 (von Schütz, 23. 8.1784), wo Kants Vorhaben einer „Metaphysik der Sitten“ bzw. der „Anfangsgründe der praktischen Weltweisheit“ oder nur einer
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Patzig präsentiert fußend auf dieser unangemessenen Vorgehensweise eine falsche Rekonstruktion der Kantischen Ethik, die gerade nicht Folge eines langen und mühevollen Entwicklungswegs ist, sondern vielmehr als ein einheitlicher Block anzusehen ist, bei dem alle Teile zusammenpassen sollen und daher diejenigen, die es nicht tun, angeblich falsch verortet wurden. Das führt Patzig zu den folgenden formalen Fehlern und Ungereimtheiten: (a) Er betrachtet die Vorlesungsnachschrift als ein eigenes Werk Kants. Gestalt und Inhalt des Textes erlauben uns zwar, zu schließen, „daß Kant der Autor der komplexen Struktur der Vorlesung und der hinter der Nachschrift stehende Sprecher des Textes ist“¹³⁷. Aber im Unterschied zu anderen Kollegheften erscheint das Ethikkolleg nicht zu Kants Lebzeiten¹³⁸, vermutlich weil Kant erst mit der Grundlegung sein moralphilosophisches System aufgebaut hat¹³⁹. Dieses zeigt grundlegende Änderungen und neue Ansätze gegenüber den in den 1770er Jahren gehaltenen Vorlesungen. Vom Beginn seiner Lehrtätigkeit zur Moralphilosophie (im Wintersemester 1756/57¹⁴⁰) bis 1784 veröffentlicht Kant keine einzige Schrift, die sich ausschließlich auf die Moralphilosophie konzentriert. Nichts spricht also dafür, das Kollegheft neben ein Werk Kants zu stellen, und noch weniger spricht dafür, dass es vor der Veröffentlichung der Grundlegung publiziert werden sollte. (b) Patzig zitiert das Ethikkolleg zunächst nach dem Kollegheft Moral Mrongovius 1782/83, da dieses seiner Ansicht nach „die – relativ – beste und vollständigste Nachschrift der Ethik-Vorlesung Kants sein dürfte“¹⁴¹. Danach weicht er jedoch von seiner Maxime ab und zitiert stattdessen nach der Moralphiloso„praktischen Weltweisheit“ mehrmals angesprochen wird, aber in den damaligen Jahren nie erscheint. Ebenso kündigt Kant Marcus Herz (Br, AA 10: 123.01– 09, 7.6.1771) sogar ein Werk an, nämlich „Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft das Verhältnis der vor die Sinnenwelt bestimten Grundbegriffe und Gesetze zusammt dem Entwurfe dessen was die Natur der Geschmackslehre, Metaphysick und Moral ausmacht enthalten soll“, womit er gerade beschäftigt ist, welches aber auch nie veröffentlicht wurde. Zu einer näheren Erläuterung der Entstehungsgeschichte von Kants hauptsächlichen moralphilosophischen Werken siehe Natorp (Hg.) 1913, AA 05: 489 – 498. Stark (Hg.), 2004, 396. Mit Kants Einwilligung wurden die Nachschriften des Logikkollegs 1800 (herausgegeben von Jäsche), die des Geographiekollegs und des Pädagogikkollegs 1803 (herausgegeben von Rink) veröffentlicht. (Siehe Logik, AA 09: 011– 150, Physische Geographie, AA 09: 151– 436 und Pädagogik, AA 09: 439 – 499). Daher hatte es keinen Sinn mehr zu Kants Lebzeiten, nach der Publikation der Grundlegung, die Nachschriften des Ethikkollegs zu veröffentlichen. Siehe Naragon [2006] 2014, http://www.manchester.edu/kant/Lectures/lecturesIntro.htm (am 9.6. 2014): Overview of Kant’s Lecturing Activity. Patzig 1986, 205, Anm. 3.
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phie Collins ¹⁴², die von Lehmann für die beste Version der Vorlesung gehalten wurde.¹⁴³ (c) Wegen der Datierung auf dem Titelblatt des Kollegheftes „Collins“ (Moralphilosophie Collins [1784/85], AA 27: 0239 – 0473) werden die Vorlesung und die Grundlegung als eine Einheit angesehen¹⁴⁴. Meine Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass Kants Position in den Vorlesungen der 1770er Jahre noch einen unfertigen Standpunkt darstellt¹⁴⁵. Dagegen finden sich in der Vorlesung, die im Jahr der Publikation gehalten wurde (d. h. Moral Mrongovius II [1784/85], AA 29: 0595 – 0642), Ansichten die dem damals konstruierten Moralsystem nahekommen. Wenn wir nun auf Patzigs Auffassung blicken und uns auf seine Lektüre der Anfangspassagen des Abschnitts „Vom obersten principio der Moralitaet“¹⁴⁶ konzentrieren, so ist Folgendes hervorzuheben:
Patzig 1986, 206. Dazu siehe oben 5.2.2 Fn. 133 – Der Fund des Manuskripts „Kaehler“ entdeckt „größere Lücken und andere Schwächen“ im Heft „Collins“, weswegen dieser auch „nicht geeignet zur Grundlage für die Herstellung eines möglichst korrekten Textes der Vorlesung“ ist (http:// www.online.uni-marburg.de/kant/webseitn/gt_moral.htm, am 10. 5. 2009). Patzig 1986, 206: „Hier spricht Kant mit aller Deutlichkeit, und zwar, wie hervorgehoben werden sollte, auch noch in der Zeit, als die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten schon konzipiert war (Wintersemester 1784/85), von der Notwendigkeit eines subjektiven movens, einer Triebfeder“. Patzig geht wie Lehmann davon aus, dass das Datum auf dem Titelblatt der CollinsHandschrift, nämlich 1784/85, mit dem der von Kant gehaltenen Vorlesung übereinstimmt. Das ist aber nach Krauß’ Ergebnissen nicht zutreffend: Die sogenannte Moralphilosophie Collins ist vielmehr die Abschrift einer Mitte der 1770er Jahre gehaltenen Vorlesung (dazu siehe oben meine Anmerkung zum Zitat: Patzig 1986, 204). Siehe unten im „Schluss zum ersten Teil“ die Zusammenfassung der hauptsächlichen Unterschiede zwischen der Moralkonzeption in der Vorlesung und der Grundlegung. Ich gebe Patzigs Zitat nach Moralphilosophie Collins wieder: „Wir haben hier zuerst auf 2 Stücke zu sehen, 1) auf das principium der Diiudikation der Verbindlichkeit, und 2) auf das principium der Exekution oder Leistung […] der Verbindlichkeit. Richtschnur und Triebfeder ist hier zu unterscheiden. Richtschnur ist das principium der Diiudikation und Triebfeder der Ausübung der Verbindlichkeit, indem man nun dieses verwechselte, so war alles in der Moral falsch. Wenn die Frage ist: was ist sittlich gut oder nicht, so ist das das principium der Diiudikation, nach welchem ich die Bonitaet und Pravitaet der Handlung beurtheile . . .Wenn aber die Frage ist, was bewegt mich diesem Gesetze gemäß zu leben? So ist das das principium der Triebfeder. Die Billigung […] der Handlung ist der obiektive Grund, aber noch nicht der subjektive Grund. Dasjenige, was mich antreibt, das zu tun, worin […] der Verstand sagt, ich soll es tun, das sind die motiva subjective moventia. Das oberste principium aller moralischen Beurteilung liegt im Verstande, und das oberste Principium alles moralischen Antriebes, diese Handlung zu tun, liegt im Herzen. Diese Triebfeder ist das moralische Gefühl . . . Das principium der Beurteilung ist die
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(a) Patzig sieht in diesen Passagen als eine Wiedergabe von Kants eigener Konzeption. So zielten Kants Worte auf die Behauptung, die Moralität gründe auf zwei obersten Prinzipien¹⁴⁷: Zum einen soll sie sich auf die Beurteilung, zum anderen aber auf die Ausübung richten. Liest man den Abschnitt jedoch bis zum Ende, so zeigt sich, dass die Eingangspassagen nichts anderes sind als eine Vorstellung des Sachverhalts gemäß der damaligen Diskussion. Denn anhand der Erörterung derselben und aufgrund der eigenen Vorgaben zieht Kant den Schluss, dass es kein Exekutionsprinzip als Triebfeder moralischen Handelns gibt¹⁴⁸. (b) Zu Unrecht schließt Patzig daraufhin aus diesen Passagen auf eine angebliche „Notwendigkeit eines subjektiven movens“ im Rahmen der Vorlesung, die ebenso in der Grundlegung, d. h. in der Kantischen Moraltheorie, vorauszusetzen sei. Als Beleg für seine These zitiert Patzig einen Brief Kants an Marcus Herz aus dem Jahr 1773, in dem die Bewegkraft der moralischen Gründe ins Spiel kommt.¹⁴⁹ Patzig scheint hier aber den Sinn, den der Ausdruck „Triebfeder“ in den 1770er Jahren bei Kant hat, zu verkennen: Wie wir zuvor¹⁵⁰ gesehen haben, beruht Kants Verständnis von „Triebfeder“ zu dieser Zeit auf der Übersetzung des lateinischen „causa impulsiva“ und der Ausdruck kann sich sowohl auf ein (objektives) Motiv (einen Bewegungsgrund bzw. eine „causa impulsiva per motiva“) als auch auf einen (subjektiven) Trieb (eine
Norm, und das principium des Antriebes ist die Triebfeder. Norm ist im Verstande, die Triebfeder aber im moralischen Gefühl. Die Triebfeder vertritt nicht die Stelle der norm“ (V-Mo/Collins, AA 27: 0274 f.). Vergleiche V-Mo, 055.24 ff./069 ff. Siehe Patzig 1986, 217. Siehe oben 5.1.1 (B1), (C) und (D) und besonders die letzten Absätze zu 5.1.3.9, wo ich die dreifache Unterscheidung zwischen der Verstandesurteils-, Motivations- und Handlungsebene in Kants Moralkonzeption zur Zeit der Vorlesung darstelle. Br, AA 10: 145.04: „Der oberste Grund der Moralität muß nicht bloß auf das Wohlgefallen schließen lassen, er muß selbst im höchsten Grade wohlgefallen. Denn er ist keine bloß spekulative Vorstellung, sondern muß Bewegkraft haben. Und daher, ob er zwar intellektual ist, so muß er doch eine gerade Beziehung auf die ersten Triebfedern des Willens haben“. Gegen Patzigs Auslegung vergleiche V-Mo, 070.01 f./085 f., 030.32 f./34 f. und bes. 032.17 f./034 f.: „Und ein reiner moralischer Grund hat grössere Triebfeder, als wenn er untermengt ist mit pathologischen und pragmatischen motivis; denn solche motiva haben mehr bewegende Krafft für die Sinnlichkeit, aber der Verstand sieht auf die allgemein gültige bewegende Krafft. Die Sittlichkeit ist zwar von schlechtem Eindruk, sie gefällt und vergnügt nicht so, aber es ist eine Beziehung auf das allgemein gültige Wohlgefallen, sie muß so gar dem höchsten Wesen gefallen und das ist der stärkste BewegungsGrund“. Zur „bewegenden Krafft des verstandes“ siehe V-Mo, 068.19 ff./085 ff. Zur Bedeutung des Begriffs der Triebfeder bzw. „motiva subjective moventia“ in der Vorlesung siehe oben 5.1.3.6.2.
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„causa impulsiva per stimulus“) beziehen. Die von Kant in all diesen Passagen gemeinte Triebfeder bezieht sich nicht auf einen Antrieb, der uns tatsächlich zum Handeln bewegt (das sogenannte „principium der Execution“), sondern auf einen objektiven Bewegungsgrund des handelnden Subjekts, nämlich: die Gesinnung, „der Regel ein Gnüge zu thun“ (V-Mo, 051.08/063), d. h. „aus Pflicht“ zu handeln (V-Mo, 055.02/068).¹⁵¹ (c) Da Patzigs Verständnis des Prinzips der Exekution als „intellektuelle Triebfeder“ auf der Lehre des obersten Prinzips der Moralität in der Vorlesung beruht, soll es Kants Lehre der „Achtung fürs moralische Gesetz“ in der Grundlegung entsprechen, welche als objektive Triebfeder (im Sinne eines subjektiven Bestimmungsgrundes) der Moralität fungiert.¹⁵² Dabei berücksichtigt Patzig aber nicht, dass Kant das Exekutionsprinzip als eine „intellektuelle Triebfeder“ mit dem moralischen Gefühl identifiziert¹⁵³ und als ein Siehe oben 5.1.3.6.1, 5.1.3.6.2 und in 5.1.3.9, Absätze (e) und (f). So auch Klemme 2006, 131 (s. a. 143, 148). Schwaiger 1999, 92 und 159, vertritt ebenso, dass sich die Achtung und das moralische Gefühl identifizieren. Trotzdem belegt er seine Ansicht nicht mit Zitaten der GMS, sondern er beruft sich richtigerweise auf die KpV. Zur Achtung in der GMS siehe unten 7.1.2.4.1 [den ganzen Abschnitt]. V-Mo, 057.03/070: „[…] das oberste Principium alles moralischen Antriebes, dieses Handlung zu thun, liegt im Hertzen; diese Triebfeder ist das moralische Gefühl“.V-Mo, 068.04 ff./84 ff.: „Wie nun der Verstand ein principium der Handlungen enthalten soll, ist etwas schwer einzusehen. […] Es ist hier der Unterscheid von dem schon vorher geredet ist, herbeyzuhohlen von dem objectiven principio der diiudication und von dem subjectiven principio der Execution der Handlung. […] die Triebfeder der Handlung ist das moralische Gefühl. Nun kommen wir wieder auf das Gefühl, welches wir vorher in einem andern Verstande verworfen haben. Das moralische Gefühl ist eine Fähigkeit durch ein moralisches Urtheil afficirt zu werden. Wenn ich durch den Verstand urtheile, daß die Handlung sittlich gut ist, so fehlt noch sehr viel, daß ich diese Handlung thue, von der ich so geurtheilt habe. Bewegt mich aber dieses Urtheil, die Handlung zu thun, so ist das das moralische Gefühl. Das kann und wird auch keiner einsehen, daß der Verstand sollte eine bewegende Krafft zu urtheilen haben. Urtheilen kann der Verstand freylich, aber diesem VerstandesUrtheil eine Krafft zu geben, und daß es eine Triebfeder werde den Willen zu bewegen, die Handlung auszuüben, das ist der Stein der Weisen. Der Verstand respuirt alles was die Möglichkeit der Regel aufhebt. […] Da nun die unsittliche Handlungen wieder die Regel sind, indem sie nicht zur allgemeinen Regel können gemacht werden, so wiedersetzt sich der Verstand denenselben, weil sie wieder den Gebrauch seiner Regel laufen. […] Wenn der Mensch gelernt hat alle Handlungen zu diiudiciren, so fehlt es ihm noch an der Triebfeder solche auszuüben. Die Unsittlichkeit der Handlung besteht also nicht in dem Mangel des Verstandes, sondern in der Pravitaet des Willens oder des Hertzens. Die Pravitaet des Willens ist aber, wenn die bewegende Krafft des Verstandes überwogen wird von der Sinnlichkeit. Der Verstand hat keine elateres animi, ob er gleich bewegende Krafft und motiva hat, die aber nicht vermögend sind die elateres der Sinnlichkeit zu überwiegen. Diejenige Sinnlichkeit, die mit der bewegenden Krafft des Verstandes übereinstimmt, wäre das moralische Gefühl; […] der Verstand wiedersetzt sich aber einer übeln Handlung, weil sie wieder die Regel läuft. Dieser
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„Unding“ disqualifiziert: Eine „intellektuelle Neigung“ ist nicht möglich (VMo, 058.01/071). Zudem besteht bei der menschlichen Verfassung „keine geheime Organisation“, die für dieses Kausalverhältnis von einem Urteil zu einer Handlung sorgen könnte. (d) Ebenso stellt Patzig das Exekutionsprinzip der Lehre vom Faktum der Vernunft (in der zweiten Kritik) gleich. Letztere versteht er aber so, als mache sie den Befund der Vorlesung (bezüglich der unvermeidlichen Lücke zwischen der Norm und dem ihr entsprechenden Verhalten) zunichte: Aufgrund des Faktums der Vernunft stellen sich nach Patzig das Dijudikations- und das Exekutionsprinzip „als bloße verschiedene Aspekte derselben Sache heraus“, denn für Kant „[sei] das Bewußtsein der Pflicht schon für sich genommen ein hinreichendes Motiv für die normgerechte Handlung“¹⁵⁴.Wiederum übersieht Patzig hierbei eine grundlegende Kantische Unterscheidung, und zwar diejenige zwischen dem vollkommenen und dem unvollkommenen Willen: Es ist zunächst wichtig, sich zu verdeutlichen, dass das Bewusstsein der Pflicht ein notwendiges, aber kein hinreichendes Motiv für die moralische Handlung ist. Denn es richtet sich zwar auf unseren vernünftigen Willen (d. i. unsere reine praktische Vernunft), aber wir haben trotzdem ein arbitrium liberum sensitivum¹⁵⁵, das weder rein intellektuell (wie Gott) noch nur brutum (tierisch) ist: Unsere freie Willkür kann sich letztlich für Gründe entscheiden oder durch bloß subjektive Triebfedern affizieren lassen. Darin besteht die menschliche „Persönlichkeit“; und daher stammt die Möglichkeit des Bösen – welches Kant in der Kritik der praktischen Vernunft eben nicht verweigert, sondern als eine „nach [dem moralischen Gesetze] und durch [dieselbe] bestimm[ende]“¹⁵⁶ Eigenschaft „[der] Handlungsart, [der] Maxime des Willens und mithin
Wiederstand des Verstandes ist der BewegungsGrund; kann dieser BewegungsGrund des Verstandes die Sinnlichkeit zur Uebereinstimmung und Triebfeder bewegen, so wäre das das moralische Gefühl. […] wenn nun die Sinnlichkeit dasjenige verabscheut, was der Verstand als abscheulich einsieht, so ist dieses das moralische Gefühl. Den Menschen dahin zu bringen, daß er die Abscheulichkeit des Lasters fühle, ist gar nicht möglich, denn ich kann ihm nur das sagen, was mein Verstand einsieht […]. Also läßt sich sowas überhaupt nicht hervorbringen. Der Mensch hat nicht solche geheime Organisation durch obiective Gründe bewogen werden, es ist keine Feder von Natur, die da könnte aufgezogen werden solches hervorzubringen“. Patzig 1986, 217. Siehe V-MP-L1/Pölitz, AA 28: 254 ff. und Refl. 4226 (AA 17: 465), 1008 (AA 15.1: 448), 1028 (AA 15.1: 459 f.), 5618 (AA 18: 257). KpV, AA 05: 063.03.
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[der] handelnd[en] Person selbst als gut[en] oder bös[en] Mensch[en]“ definiert¹⁵⁷. Patzigs Schlüsse, seine Kritik an Kant und sein allgemeiner Umgang mit den Texten Kants machen somit zwei Punkte deutlich: (a) Einerseits übersieht er, dass Kant aus bestimmten Gründen, die es noch zu bestimmen gilt¹⁵⁸, beim Aufbau seiner Moraltheorie in der Grundlegung auf seine eigene 1770er Distinktion zwischen dem „Principium der Diiudication“ und dem „Principium der Execution“ verzichtet. (b) Andererseits verkennt Patzig ebenso wie Lehmann¹⁵⁹, dass bereits sämtliche frühere Nachschriften des Ethikkollegs aus den 1770er Jahren¹⁶⁰ die Differenzierung zwischen einem Prinzip der Beurteilung und einem Prinzip der Ausübung enthalten¹⁶¹, dass diese aber in der Nachschrift Praktische Philosophie Powalski vom Wintersemester 1782/83 (V-PP/Powalski, AA 27: 0093 – 0235) sowie im eigenen Kollegheft von Mrongovius, Moral Mrongovius II, vom Wintersemester 1784/85 (V-Mo/Mron II, AA 29: 0595 – 0642) nicht mehr vorkommt.¹⁶² Dies ist nicht mehr erstaunlich, wenn man berücksichtigt, dass
KpV, AA 05: 060.19. Diese werde ich gleich behandeln, siehe unten den nachstehenden Punkt (2). Siehe Schwaiger 1999, 145 und http://www.online.uni-marburg.de/kant/webseitn/gt_moral. htm (am 15.5. 2009). Diese enthalten auch die Kolleghefte Moral Mrongovius 1782/83 und Collins 1784/85, welche Abschriften eines älteren Urtextes sein sollen. (Dazu siehe oben 5.2.2 Fn. 133.) Das ist der Fall nicht nur in der hier untersuchten Nachschrift Kaehler, die neben dem Kollegheft Brauer (1780) auch als Vorlage zur Menzers Edition Eine Vorlesung Kants über Ethik (1924) diente (siehe Stark [Hg.] 2004, 378 f. und 395; siehe Nagaron 2006, http://users.manchester. edu/FacStaff/SSNaragon/Kant/Notes/notesMoral.htm#KaehlerJF (am 15. 5. 2009): Kaehler J. F.: Dating; vergleiche Lehmann [Hg.] 1974, AA 27.2,2: 1041). Sondern auch diejenigen Nachschriften, die eine ähnliche Struktur und einen ähnlichen Umfang wie die Kaehler-Handschrift haben, enthalten die Unterscheidung zwischen principium diiudicationis und principium executionis. Von diesen sollten Patzig aus der Lehmann′schen Ausgabe mindestens die Folgenden bekannt sein: Collins (siehe AA 27: 243 – 471), Kaehler (siehe AA 27: 1205 – 6 [Varianten], dessen Manuskript auch als Vorlage für die Edition Starks [Hg.] 2004 diente), Brandt (siehe AA 27: 1206 – 20 [Varianten]), anonymus-Friedländer 4 (siehe AA 27: 1220 – 48 [Varianten]), anonymus-Berlin 2 (siehe AA 27: 1248 – 67 [Varianten]), anonymus-Dilthey (siehe AA 27: 1267– 1316 [Varianten]), anonymus-Mrongovius (siehe AA 27: 1395 – 1581). Dazu siehe Naragon 2006, The Moral Philosophy Notes: Tabelle (http://www.manchester.edu/kant/notes/notesMoral.htm [am 15. 5. 2009]). Patzig verlässt sich auf die Lehmann′sche Ausgabe der Vorlesung, die auf der Nachschrift Collins basiert. Dieses Kollegheft erweist sich aber weder als gut noch als komplett: Zum einen zeigt es im Vergleich mit den anderen Handschriften (siehe Krauß 1926/32; zitiert durch http:// www.online.uni-marburg.de/kant/webseitn/gt_moral.htm [am 15. 5. 2009]) sowie mit der Nachschrift Kaehler (nach Starks Ausgabe) sowohl Inhaltsfehler (die auf Collins selber zurückzuführen
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Kant erst in der Grundlegung – verfasst auch im Jahr 1784 – eine vollständige Moraltheorie entwickelt, die die Lehre des „obersten Prinzips der Moralität“ entfaltet. Ich gehe nun auf die anfangs formulierten Fragen (1) nach der Rolle der Doppelfassung des Moralprinzips und (2) nach der Weglassung dieses doppelten Gesichtspunktes in der Grundlegung ein.
5.2.2.1 Die Rolle der Doppelfassung des Moralprinzips in der Moralvorlesung Die Differenzierung zwischen einem Dijudikations- und einem Exekutionsprinzip ist bereits in einem anderen früheren theoretischen Zusammenhang zu finden, nämlich im Nachlass zur Logik: „Alle Logik enthält entweder blos Regeln der diiudication und ist theoretisch: sie zeigt die Bedingungen, unter denen eine Erkentnis vollkommen ist; oder der execution: sie lehrt diese Bedingungen zu stande zu bringen“ (Refl. 1579, AA 16: 020.12).¹⁶³
sind) als auch Transkriptions- bzw. Tippfehler. Zum anderen fehlen wichtige Passagen, wie beispielsweise im Abschnitt „Vom obersten principio der Moralitaet“: Bei „Collins“ Heft fehlt ein (dem Manuskript „Kaehler“ entsprechend) 11-seitiges Stück. Siehe V-Mo/Collins, AA 27.1: 278.13 und vergleiche V-Mo, 062.20/077– 072.01/088. Dazu siehe Stark (Hg.) 2004, 379, 392, 405. Laut Adickes’ Datierungen soll diese Notiz der Nachschrift Kaehler vorhergehen: Es könnte sich um ein sowohl in den 1760er Jahren als auch im Jahr 1770 verfasstes Notat handeln. Ebenfalls ist diese Differenzierung des Dijudikations- vom Exekutionsprinzip in den Reflexionen zur Moralphilosophie vorhanden, welche Kant Adickes’ zufolge kurz vor oder nah dem Ethikkolleg etwa 1769 bzw. 1773 – 75 aufschrieb. Trotzdem wird die Distinktion im Unterschied zur Nachschrift Kaehler nicht thematisiert und systematisiert. Beispielsweise: Refl. 6612, Reflexionen zur Moralphilosophie, AA 19: 112.14 (1769 – Ende 1769-Herbst 1770? 1764– 68??): „Alle philosophie ist entweder theoretisch (von obiecten): enthält (den Gebrauch oder auch die) regeln des Verstandes (die Allgemeine Logic), oder practisch (von der freyen Handlung, sie wirklich zu machen): enthält regeln des freyen Willens. –– (Die praktische Wissenschaften bestimen den Werth der theoretischen; was keinen Gebrauch hat, ist unütz. sie sind in der intention die ersten, die Zweke gehen vor den Mitteln vorher, aber in der execution sind die theoretische die erste.) Alle practische philosophie entweder 1. obiectiv oder 2. subiectiv. 1. des moglichen guten Verhaltens: die Bedingungen der Vollkomenheit; 2. des Wirklichen verhaltens. Die obiective ist entweder: 1. welche die Mittel vorschreibt zum allgemeinen Zweke, nemlich Glükseeligkeit; 2. Welche den Zwek vorschreibt, der da würdig macht glüklich zu werden“. Refl. 6628, Reflexionen zur Moralphilosophie, AA 19: 117.21 (1769 – Ende 1769-Herbst 1770? (1764– 68?)): „Die erste Untersuchung ist: Welches sind die principia prima diiudicationis moralis (theoretische regeln der diiudication), d.i. welches sind die oberste maximen der sittlichkeit, und welches ist ihr oberstes Gesetz. 2. Welches ist die Regel der Anwendung (practische der diiudicirenden apllication) auf ein obiect der diiudication. (sympathie andrer und ein unpartheyischer Zuschauer.) 3. Wodurch werden die sittliche Bedin-
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Clemens Schwaiger erkennt in dieser Differenzierung Kantischer Prägung im Moralkolleg eine Übertragung der Einteilung vom theoretischen zum praktischen Bereich¹⁶⁴. Trotzdem beweist die chronologisch frühere theoretische Prägung nicht, dass die Bedeutung der Unterscheidung im Rahmen der Vorlesung zur Moralphilosophie tatsächlich auf dieses Notat zur Logik in der Einleitung in die Vernunftlehre zurückgeht. Dass dies nicht der Fall ist, möchte ich im Folgenden zeigen. (a) Zuallererst – Schwaigers Vermutung widersprechend – dient die Anfangspassage der Vorlesung als Beleg für meine These. Da nimmt Kant Distanz von seiner älteren, in der Refl. 1579 angeführten Einteilung der logischen Regeln und sieht von der (richtigen) Anwendung bzw. Realisierung moralischer wie logischer Regeln ab: „Alle Philosophie ist entweder theoretisch oder practisch; die theoretische ist die Regel der Erkenntniß, die practische ist die Regel des Verhaltens in Ansehung der freyen Willkür. Der Unterscheid der theoretischen von der practischen Philosophie ist das Object; die theoretische hat zum Object die Theorie und die practische die Praxin. Sonst theilt man die Philosophie ein in die speculative und practische. Man nennt überhaupt Erkenntnisse theoretisch und practisch, die Objecte mögen seyn wie sie wollen; theoretisch sind sie, wenn sie der Grund sind von den Begriffen der Objecte, practisch aber, wenn sie der Grund von der Ausführung der Erkenntniß der Objecte seyn; so ist zE. eine theoretische und practische Geometrie, eine theoretische und practische Mechanic, theoretische und practische Medicin, theoretische und practische Jurisprudentz, das Object ist immer dasselbe. Also wenn ohnangesehn des Objects doch die Erkenntnisse theoretisch und practisch seyn, so betrifft es nur die Form der Erkenntniß, und zwar die theoretische zur Beurtheilung des Objects, die practische zur Hervorbringung des Objects“.
Der bis zu diesem Punkt zitierte Ausschnitt würde der angeführten Einteilung der Erkenntnisse entsprechen. Aber Kants Überlegungen führen fort wie folgt: „Hier ist aber der Unterscheid des theoretischen und practischen in Ansehung des Objects; die practische Philosophie ist nicht der Form nach, sondern dem Object nach practisch und dieses Object sind die freye Handlungen und das freye Verhalten. Das theoretische ist das Erkennen und das practische ist das Verhalten.Wenn ich vom Gegenstande abstrahire, so ist
gungen motiva, d.i. worauf beruhet ihre vis movens und also ihre Anwendung aufs subiect? Die letztere sind erstlich das mit der moralitaet wesentlich verbundene motivum, nemlich die Würdigkeit glüklich zu seyn“. Refl. 6631, Reflexionen zur Moralphilosophie, AA 19: 119.23 f. (1769 – Ende 1769-Herbst 1770? (~1771 – ~1772?): „Das oberste principium der moral nicht aus Begriffen, sondern aus der idee eines allregirenden Willens oder dem alles vereinigenden Willen, worinn der unsrige mit enthalten.) (1. Die Idee, d.i. das princip der Beurtheilung der sittlichkeit. 2. Die triebfeder.) (Verneinung aller Moral. Bloße pathologische Bewegursachen)“. Siehe Schwaiger 1999, 94 f.
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die Philosophie des Verhaltens diejenige, die uns Regel giebt vom guten Gebrauch der Freyheit, und dieses ist das Object der practischen Philosophie ohne Ansehen der Gegenstände. So wie die Logic vom Gebrauch des Verstandes redet ohne Ansehn der Gegenstände, also handelt die practische Philosophie vom Gebrauch der freyen Willkür, nicht in Ansehung der Gegenstände, sondern unabhangig von allen Gegenständen. Die Logic giebt uns Regeln in Ansehung des Gebrauchs des Verstandes und die practische Philosophie in Ansehung des Gebrauchs des Willens, welches die zwo Kräffte sind, woraus alles in unserm Gemüth entstehet“ (V-Mo, 003.02 f./003 f.).
(b) Wie im Absatz 5.1.3.9 gezeigt, erscheint die Doppelfassung des obersten Prinzips der Moralität paradox: – erstens wegen der widersprüchlichen Idee eines „doppelten“ und zugleich „obersten“ Prinzips, das sich als solches durch seine Einzigartigkeit auszeichnen soll; – zweitens aufgrund der festgelegten Auffassung, dass die Moralität eine „Wissenschaft“ (V-Mo, 005.07/006) eines „einigen¹⁶⁵ principiums“ sei (V-Mo, 021.05/023, 044.08/051); – aber drittens und vornehmlich muss berücksichtigt werden, dass Kant zum Schluss des Abschnittes „Vom obersten principio der Moralitaet“ keine Möglichkeit eines „obersten Principio alles moralischen Antriebes“ (V-Mo, 057.02/070) zulässt. Vielmehr definiert er nach der harten Kritik am empiristischen Begriff des moralischen Gefühls¹⁶⁶ und anschließend an die Erläuterung zum Beurteilungsprinzip das „subjektive Prinzip der Execution“ zwar erneut als „moralisches Gefühl“. Dies soll sich aber auf eine „bewegende Krafft“ des Verstandes beziehen, die die „Triebfeder der Handlung“ ausmachen solle (V-Mo, 068.12/085). Aber wiederum kollidiert diese „bewegende Krafft“ mit den sinnlichen Triebfedern („elateres der Sinnlichkeit“), die sich als Bewegungsgründe durchsetzen (V-Mo, 071.09/087): „Dieser Wiederstand des Verstandes ist der BewegungsGrund; kann dieser BewegungsGrund des Verstandes die Sinnlichkeit zur[¹⁶⁷] Uebereinstimmung und Triebfeder bewegen, so wäre das das moralische Gefühl. […] wenn nun die Sinnlichkeit dasjenige verabscheut, was der Verstand als abscheulich einsieht, so ist dieses das moralische Gefühl. Den Menschen dahin zu bringen, daß er die Abscheulichkeit des Lasters fühle, ist gar nicht möglich, denn ich kann ihm nur das sagen, was mein Verstand einsieht […]. Also läßt sich sowas [sc. dass der Mensch die Abscheulichkeit des Lasters fühle, das heißt ein moralisches Gefühl (ACGX)] überhaupt nicht hervorbringen. Der Mensch hat nicht solche geheime Organisation durch obiective Gründe bewogen zu werden, es ist keine Feder von Natur, die da könnte aufgezogen werden solches hervorzubringen“ (V-Mo, 071.14 f./087 f.).
Lies „einzigen“. Dazu siehe oben 5.1.3.9 und siehe V-Mo, 057.14/071– 060.02/074. „Zur“: Korrigiert durch Stark aus „der“.
5.2 Exegetischer Teil
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Demzufolge lassen die drei angeführten Gründe den Schluss zu, dass die binomische Fassung des Moralprinzips – als bestehend aus einem Dijudikations- und einem (intellektuellen) Exekutionsprinzip – im Gegensatz zu den Regeln der Logik eine bloß heuristische bzw. instrumentelle ist¹⁶⁸: Das oberste Prinzip der Moralität muss einzigartig und „intellektuell internum“ sein und lässt also keinen Platz für ein Ausführungsprinzip bzw. irgendwelche treibenden Gefühle. Die Doppelfassung des obersten Moralprinzips, die Kant am Anfang des Abschnittes vorstellt, wird somit am Ende definitiv überwunden. Warum legt Kant dann aber dem Anschein nach die Lehre eines doppelten Moralprinzips dar? Kant wirft zwar die Frage nach dem obersten Prinzip der Moralität so auf, als hätten wir sowohl auf ein Dijudikations- als auch ein Exekutionsprinzip „zu sehen“ (V-Mo, 055.24 f./069). Aber dies ist weit entfernt von Kants Absicht, „den Stein der Weisen“ ausfindig zu machen. Vielmehr hebt er auf diese Weise mit Nachdruck hervor, dass die Moral oder eine moralische Handlung keine ihr fremden Triebfedern hat; ihr Auslöser wird sich vielmehr in ihr selbst finden, und zwar in einem eigenen Beurteilungsprinzip, auf das sie sich stützt. Kants vorausgehende kritische Auseinandersetzung mit der Tradition¹⁶⁹ zeigt in Abgrenzung zu Manfred Kühns Interpretation¹⁷⁰, dass die Diskussion über eine Triebfeder zur Ausführung moralischer Handlungen in der Tradition umfangreich verbreitet und Kant bekannt gewesen ist.¹⁷¹ So gehört zur damaligen Debatte
Vergleiche Schwaiger 1999, 94. Zur Kritik am empiristischen moralischen und physischen Gefühl sowie an den Rationalisten siehe V-Mo, 057.12/071– 064.20/080 (in oben 5.1.3.9) und siehe V-Mo, 032.05/036 (in oben 5.1.3.6). Zur Kritik an der theologischen Moral siehe V-Mo, 037.13/043 (wo Kant Crusius widerlegt) und besonders 061.25/076: „Die Ursache dieser Ableitung der Moralitaet aus dem göttlichen Willen ist diese: weil die moralischen Gesetze lauten: du sollst das thun, so denkt man es muß ein drittes Wesen seyn, welches das verbothen hat. Es ist wahr, das moralische Gesetz ist ein Befehl und sie können Gebothe des göttlichen Willens seyn, aber sie fliessen nicht aus dem Geboth. Gott hat es gebothen, weil es ein moralisches Gesetz ist und sein Wille mit dem moralischen Gesetz übereinstimmt“. Kühn 2004, XXV: „Vergleicht man Kants reife Position mit derjenigen der Vorlesungsnachschrift, so bemerkt man, daß sich die Probleme, die wir gerade identifiziert haben, hier entweder überhaupt nicht oder in einer wesentlich anderen Form stellen. Die Gründe dafür liegen darin, daß in der Vorlesung weder der Begriff der Achtung noch die damit verbundenen Probleme der moralischen Motivation eine Rolle spielen“. Gegen Kühns Auffassung spricht auch Schwaigers Ansicht, dass die Unterscheidung zwischen einem Dijudikations- und einem Exekutionsprinzip „das Spezifische der neueren Ethikbegründungen [den Systemen der ‚Alten’ gegenüber] auf den Begriff [bringt]“. So auch Stark (Hg.) 2004, Kommentar 35, der Adam Smiths Theorie der moralischen Empfindungen (1770, 440) heranzieht, um zu zeigen, wie dort das Thema der Moral bereits aus den zwei Gesichtspunkten angeschnitten wird: „Wenn man von der Principien der Moral handelt, so müssen zwo Fragen in
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sowohl die Betrachtung der Frage nach der moralischen Beurteilung als auch die nach der moralischen Triebfeder und Ausübung. Zwar „erfährt der schon früher aufgerissene Graben zwischen dem Streben nach Glück und der moralischen Verbindlichkeit eine erhebliche Vertiefung“. Fragwürdig ist aber, dass die „Motivationslücke“, die sich daraus ergibt, „drängend nach einer Füllung verlangt“¹⁷². Sollte Kant nach seiner Wende in Richtung zu einer reinen Moralphilosophie diese Motivationslücke dringlich füllen? Werner Stark versucht die beiden Prinzipien insofern zu erläutern, als er „das Bild von der Seele, die als Pilot ihr Schifflein führt, herbeiruf[t]“¹⁷³ und Alexander Pope paraphrasierend¹⁷⁴ das Principium diiudicationis als „Norm, Leitfaden, Kompaß“, das Principium executionis als „Motiv, Triebfeder, Fahrtwind“ vorstellt. Jedoch liefert diese metaphorische Schilderung beider Prinzipien, und zwar angesichts des Schlusses, den Kant am Ende des Abschnittes zieht, die Bedeutung und den Sinn der Differenzierung selbst immer noch nicht. Kants Erörterung zielt auf die zu seiner Zeit überwiegend vertretene Ansicht, dass eine (sinnliche, pragmatische oder religiöse) Triebfeder als erstes¹⁷⁵ oder letztes¹⁷⁶ notwendiges Mittel zur Ausführung moralischer Handlungen nötig ist. Daher sollte er, nebst der Untersuchung eines möglichen „principio der moralischen Diiudication“¹⁷⁷, auch diese Triebfeder als ein (angebliches) „Exekutionsprinzip der Verbindlichkeit“ typisieren, thematisieren, kritisieren und ihm gegenüber Stellung nehmen. Mit dieser Prägung gelingt es Kant am deutlichsten, den Sachverhalt der Debatte zu skizzieren. Durch sein Eingreifen in die Diskussion erörtert er sogar die in der Tradition noch nicht erwogene Möglichkeit eines nicht empirischen moralischen Gefühls als „bewegender Krafft des Verstandes“ (V-Mo, 070.09/086). Ein derartiges „moralisches Gefühl“ wäre „eine Fähigkeit durch ein moralisches Urtheil afficirt zu werden“ (V-Mo, 068.18/085). Dennoch hält Kant auch diesen Ausgang im Rahmen der Ethik für undurchführbar.
Betrachtung gezogen werden, die erste: worin besteht die Tugend? welches ist die GemüthsFassung und das durchgängige Verhalten, das den vortreflichen lobenswürdigen Charakter ausmacht, der ein natürlicher Gegenstand der Hochachtung, der Ehre und des Beifalls ist? Die andere: durch welche Kraft oder durch welches Vermögen der Seele wird dieser Charakter, worinnen er auch bestehen mag angepriesen?“. Schwaiger 1999, 92. Stark (Hg.) 2004, Kommentar 35. Stark zitiert aus Popes Essay on Man, II 107: „On life’s vast ocean diversly we sail, / Reason the card, but Passion is the gale“ (siehe Stark [Hg.] 2004, Kommentar 35). So Epikurs oder Hutchesons Ansicht. So Baumgartens Ansicht. Dazu siehe Schwaiger 2000, 252 f. und ders. 2008, 225. „[…] nach welchem wir einstimmig darüber urtheilen können, was sittlich gut oder nicht gut ist“ (V-Mo, 021.02/023).
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Die angebliche Lehre des doppelten Moralprinzips im Abschnitt „Vom obersten principio der Moralitaet“ (so die hier vertretene These) stellt sich als ein Mittel dar, anhand dessen (1) Kant die damalige moralphilosophische Diskussion darstellt und (2) sich aktiv daran beteiligt, indem er Kritik übt und einen neuen Vorschlag als letzte Möglichkeit, den Begriff eines ethischen „Exekutionsprinzip“ zu retten, erwägt.¹⁷⁸ Kant erörtert die damals allgemein geteilte Ansicht, die Ethik sollte aus zwei Hauptzügen bestehen, nämlich der Beurteilung und Ausübung moralischen Handelns, kritisiert und berichtigt sie jedoch daraufhin. Insofern ist die – nach Schwaiger – „Übertragung“ der in der Refl. 1579 terminologisch neu geprägten Bestimmung eines Dijudikations- und eines Exekutionsprinzips auf die Ethik eigentlich als ein heuristischer Rückgriff zu verstehen, wodurch Kant im Rahmen des Ethikkollegs nicht die „Motivationslücke“ füllt¹⁷⁹, sondern die Trennung der reinen moralischen Frage von der Motivations- und Ausübungsfrage explizit machen und betonen kann. Kants Neuauffassung der Ethik richtet sich primär also nicht darauf, eine „Motivationslücke“ zu schließen, sondern negativ und positiv den Gegenstand der Ethik zu bestimmen. Mit seiner Position einem moralischen Gefühl gegenüber legt er fest, dass es überhaupt nicht Aufgabe der Ethik ist, die Ebene der Motivation zum moralischen Handeln zu betrachten und zu befördern; andere praktische, empirische Disziplinen wie die Anthropologie, die Erziehung und die Religion (als moralische Theologie) müssen sich damit beschäftigen.¹⁸⁰ Die Ethik handelt hingegen nur von dem Prinzip moralischer Beurteilung. Damit vollzieht Kant eine Revolution, einen wichtigen Schritt hin zu einer neuen, und zwar formalen Auffassung von Sittlichkeit, nämlich in Form einer deutlichen Begrenzung und Grundlegung der Ethik als einer Disziplin eines einzigen, intellektuell inneren Prinzips, die von anderen praktischen Disziplinen zu unterscheiden ist. Dadurch bekämpft Kant die damals vorherrschende Konzeption, die die Ethik als eine Disziplin mehrerer Ebenen und Prinzipien (nämlich der Beurteilung, Motivation und Ausübung) versteht. Denn von dieser (vielfachen) Grundlage aus kann ihm zufolge keine „einstimmige“ Beurteilung (V-Mo, 021.03/023) des menschlichen Handelns erfolgen. Demgegenüber ist die Ethik eine „Wissenschafft der Regel, wie der Mensch sich verhalten soll“ (V-Mo, 005.07/006). Daher muss sie erstens auf ein einziges Prinzip begründet werden, das Einstimmigkeit beim Urteilen stiftet. Zweitens muss der Rückgriff auf pathologisch, pragmatisch
Siehe V-Mo, 068.10/084– 073.14/089 [siehe oben 5.1.2 (D)]. Vergleiche Schwaiger 1999, 92. Dazu gleich mehr.
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oder religiös bedingte Triebfedern für die Ethik ausgeschlossen werden. Denn zur Anerkennung der letzteren ist es drittens unerheblich, ob jemand überhaupt moralische Handlungen ausübt¹⁸¹. Infolgedessen ist die Frage nach der Ausübung moralischen Handelns sowie die Frage nach seiner Triebfeder (somit der Motivation) jeweils der Anthropologie ¹⁸² und der Religion zuzuordnen: Jene wird definiert als Wissenschaft der Regeln des wirklichen und des möglichen menschlichen Verhaltens, wobei sie feststellt, „ob es [sc. das Subjekt] auch im Stande ist zu leisten, was man von ihm fordert das es thun soll“ (V-Mo, 005.08/006)¹⁸³. Damit wird eine schwärmerische Ethikauffassung vermieden. Die Religion ihrerseits fungiert als „Triebfeder der Moral“ (V-Mo, 061.13/075). Ihr, nebst der Erziehung, schreibt Kant die Aufgabe zu, moralisches Handeln zu motivieren, bzw. „einen unmittelbaren Abscheu gegen die üblen Handlungen und eine unmittelbare Lust gegen die Sittlichkeit der Handlung einzuflössen“ (V-Mo, 073.11/089), damit diese zum „habitu“ wird (V-Mo, 072.04 f./088 f.). Denn „die Gesinnung der Leistung der Pflichten [ist] zu cultiviren“ (V-Mo, 055.13/069)¹⁸⁴: „Man hat also mit Recht eingesehen, daß ohne einen obersten Richter alle moralischen Gesetze ohne Effect wären, alsdenn wäre keine Triebfeder, keine Belohnung und keine Bestrafung. Also die Erkenntniß Gottes ist in Ansehung der Ausübung der moralischen Gesetze nothwendig. Allein zur Beurtheilung der moralischen Gesetze müssen wir kein drittes Wesen voraussetzen“ (V-Mo, 062.06/077).
Somit hängen Anthropologie¹⁸⁵ und (moralische) Theologie¹⁸⁶ als praktische Disziplinen eng mit der Ethik zusammen, dürfen aber nicht mit dieser vermengt werden.
V-Mo, 004.28/005: „Eine jede objective Regel sagt was geschehen soll, wenn es auch niemals geschicht“. Siehe oben 5.1.3.1. Eine ähnliche Ansicht vertritt Schwaiger 1999, 147: „Kant war […] durchdrungen von der Überzeugung, daß moralische Ermahnungen auf gute Menschenkenntnis angewiesen sind, wenn sie auf fruchtbaren Boden fallen sollen. Dies spricht im übrigen gegen die häufig anzutreffende These, Kants Anthropologievorlesung habe mit seiner reinen Moralphilosophie nicht das mindeste zu tun gehabt und könne nicht als Ergänzung für diese aufgefaßt werden“. Die Ansicht einer Ethik, die einerseits von Anthropologie, andererseits von Erziehung und Religion unterstützt wird, stimmt mit der pietistischen Einstellung Baumgartens zusammen. Dazu siehe Schwaiger 2000, 255; siehe ders. 2008, 226 f. Zu einer kritischen Bewertung des pietistischen Einflusses auf Kant siehe Schilpp [1938] 21997, 23 f., 76 ff. V-Mo, 005.09 f./006 f.: „Diese beyden Wissenschafften [sc. die Anthropologie und die Moral] hangen sehr zusammen und die Moral kann ohne die Antropologie nicht bestehen; denn man muß das Subject erst kennen, ob es auch im Stande ist das zu leisten, was man von ihm fordert das
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Die Ethik – so die bisher erlangte Konzeption Kants – konzentriert sich also nur auf das Handlungsurteil, mithin auf die rein theoretische Ebene des menschlichen Handelns. Sie ermittelt, ob die Handlung „mit einem allgemein gültigen Gesetz der freyen Willkür [übereinstimmt]“ (V-Mo, 064.25/080), und stellt fest, dass die Handlung „wegen [deren] innern Beschaffenheit […] selbst“ ausgeübt werden soll (V-Mo, 039.02/043 f., siehe V-Mo, 027.10/028). Denn das Moralprinzip ist in objektiver Hinsicht die „Richtschnur“ (V-Mo, 056.02/069) oder „Norm“ (V-Mo, 057.06/070) des gesollten Handelns, das heißt, davon, „was geschehen soll“ (V-Mo, 004.29/005). Das impliziert, dass dieses Prinzip – in subjektiver Hinsicht – zugleich in der Gesinnung besteht, etwas zu tun, „weil es an sich selbst schlechterdings gut ist“ (V-Mo, 039.07/044, siehe V-Mo, 051.08/063): „Nun befiehlt […] die Ethic Handlungen aus guter Gesinnung zu thun“ (V-Mo, 054.028/068) bzw. „die Uebereinstimmung der Handlung mit den Gesetzen aus Gesinnungen und aus Pflicht“ (V-Mo, 055.02/068). Schließlich gründet sich die Ethik nur auf einen obersten Grundsatz, der „Beurteilungsprinzip“ heißen kann. Diese Einzigartigkeit ermöglicht gleichermaßen (a) die „Einstimmigkeit“ beim moralischen Urteil über eine Handlung und (b) „das sittliche [sic] vom Unsittlichen“, mithin „die sittliche Bonitaet von aller übrigen Bonitaet“ überhaupt, „zu unterscheiden“ (V-Mo, 021.05/023). So beruht die Ethik auf dem Konzept des „unmittelbaren innern absoluten Werths“, wobei ihre Imperative – als Formeln einer Nötigung (siehe V-Mo, 027.24/029) – „cathegorisch […] ohne alle Bedingung oder unter einer objectiven nothwendigen Bedingung“ gebieten (V-Mo, 009.09/011 f.). Freiheit (oder freies Verhalten), (moralisches) Sollen und (moralisches) Gut stehen somit in einer engen gegenseitigen Abhängigkeit zueinander (siehe V-Mo, 041.22/048): „Sie [sc. die practische Philosophie] ist also eine Wissenschafft über die objective Gesetze der freyen Willkür, eine Philosophie der objectiven Nothwendigkeit der freyen Handlungen oder des Sollens das heißt aller möglich guten Handlungen“ (V-Mo, 006.16/007 f.).
es thun soll. […] Die Betrachtung der Regel ist unnütz, wenn man nicht die Menschen bereitwillig machen kann, solcher Regel zu befolgen“. V-Mo, 061.10/075: „Moral und Theologie ist keines ein principium des Andern, zwar kann die Theologie nicht ohne die Moral und diese wieder nicht ohne jene bestehen, allein es ist hier nicht die Rede, daß die Theologie eine Triebfeder der Moral sey, das ist sie freylich, sondern ob das principium der Diiudication der Moral ein theologisches sey, und das kann es nicht seyn“.
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5.2.2.2 Die Weglassung des doppelten Gesichtspunktes im Hinblick auf die Grundlegung Die Vorlesung zur Moralphilosophie überträgt also zum ersten Mal Kants Gegensatz zwischen „principium der Diiudication“ und „principium der Execution“ in einen ethischen Kontext. Der dichotomische Gedanke rührt zwar von der Tradition her. Aber die wörtliche Bezeichnung, auf die heuristisch zurückgegriffen wird, scheint Kant selber zuzuschreiben zu sein. Sie kommt weder in Baumgartens Handbüchern¹⁸⁷ noch in der Tradition¹⁸⁸ vor. Jedoch verwendet Kant sie in seinen folgenden Schriften nicht wieder. Man fragt sich, aus welchem Grund? (a) Das Beurteilungsprinzip bedarf keines Ausführungsprinzips: Seine Gültigkeit ist allgemein und derart, dass es von der tatsächlichen Realisierung der Moralität bzw. dem moralischen Verhalten absolut unabhängig ist. Und mehr noch: Würde das Dijudikationsprinzip eines Ausübungsprinzips bedürfen, würde dieses abermals ein Beurteilungsprinzip als Grundlage brauchen, und das führte in einen infiniten Regress. (b) Sollte das Ausführungsprinzip auf subjektive Gründe, nämlich auf Stimuli zurückgehen, dann könnte es nicht allgemein gelten; denn der Bestimmungsgrund wäre eine Frage des Geschmacks, der individuellen Bedürfnisse, Neigungen und der privaten Interessen. Auf einer solchen Basis kann kein allgemeingültiges Prinzip gegründet werden. (c) Kann ein Ausführungsprinzip dann auf den objektiven Gründen meines Handelns beruhen? Ich greife erneut auf die bereits betrachtete menschliche „Persönlichkeit“ zurück, nämlich das „arbitrium liberum sensitivum“: Nachdem man die moralische Regel als Bedingung der Möglichkeit der Übereinstimmung moralischer Urteile akzeptiert hat, kann man es darüber hinaus als möglichen Bestimmungsgrund seines Verhaltens anerkennen oder nicht; falls man es tut (und eine moralische Gesinnung hat), muss noch hinzukommen, dass man sich tatsächlich dazu bestimmt, die Handlung durchzuführen, und zwar aus dem Grund, dass sie bzw. ihre Regel an sich gut ist. Die moralische Bestimmung des Handelns (bzw. die praktische Freiheit) ist also nicht um unserer freien Willkür willen notwendig, sondern nur eine Bestimmungsmöglichkeit unseres Willens.¹⁸⁹ Sollte es ein „principium executionis“ geben, dann würde uns dieses bestimmen, dem „principio diiudicationis“ gemäß zu leben bzw. das moralische Gesetz immer zu beachten. Eben das von Patzig so geschätzte Ausführungsprinzip (als Garant der un-
Vergleiche Ethica und Initia. Siehe Schwaiger 1999, 91 f. V-Mo, 029.33/032: „Es müssen demnach die sittlichen Handlungen nur zufällig seyn“.
5.3 Schluss
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überwindbaren Lücke zwischen dem moralischen Urteil und einer entsprechenden Handlungsbestimmung¹⁹⁰) würde mit sich bringen, was er als unzutreffend an Kants Lehre vom Faktum der Vernunft auffasst und kritisiert: Das Bewusstsein der Pflicht würde dann doch ein hinreichendes Motiv zur normgerechten Handlung sein, wobei die erwähnte Lücke indes überbrückt würde. In einem solchen Fall wäre das moralische Verhalten für uns notwendig: Das bedeutete die Negation der Freiheit jeder freien Willkür und demzufolge die Tilgung der praktischen Freiheit (als freiwilliger Bestimmung nach allgemeinen Grundsätzen). Die Behauptung eines Ausübungsprinzips wäre also widersprüchlich, denn es brächte das Ende aller Moral mit sich.¹⁹¹
5.3 Schluss Abschließend ist zu sagen, dass ich Patzig in einem Punkt zustimme: Die bestehende Lücke zwischen dem moralischen Urteil und der diesem gemäßen moralischen Handlung kann weder verdeckt noch zum Verschwinden gebracht werden. Patzig gibt aber m. E. mit Folgendem nicht die richtige Erklärung dafür: „Der Entschluß, nach Normen zu handeln, ist arational oder vorrational, und geht auf Motive zurück, die mit anderen emotionalen Motiven beliebig konkurrieren können“¹⁹². Es ist zwar richtig, dass bei unseren Entschlüssen emotionale Motive ins Spiel kommen; aber das liegt an unserer sinnlichen Willkür (arbitrium sensitivum): Gerade weil die Ebene des Urteils, die Ebene der Gesinnung und die Ebene der Handlungen unterschieden sind, kann es geschehen, dass es zwischen dem moralischen Urteil und der Gesinnung sowie zwischen der Gesinnung und den tatsächlich durchgeführten Handlungen keine Übereinstimmung gibt.¹⁹³ Ande-
Schwaiger 1999, 92 versteht dagegen, das Ausführungsprinzip sollte diese Lücke überwinden. Anders sieht es bei der Klugheit aus: „Die Klugheit ist die Fertigkeit im Gebrauch der Mittel zum allgemeinen Zwek der Menschen, das ist zur Glükseligkeit, also es ist schon der Zwek bestimmt, welches bey der Geschiklichkeit nicht ist. Zur Regel der Klugheit wird zweyerley erfordert, den Zwek selber zu bestimmen und dann den Gebrauch der Mittel zu diesem Zwek. Es gehört also dazu eine Regel der Beurtheilung dessen was zur Glükseligkeit gehört und die Regel des Gebrauchs der Mittel zu dieser Glükseligkeit“ (V-Mo, 008.08/010). Patzig 1986, 217. In der GMS lassen sich insgesamt fünf Elemente nennen, die die Moralität ausmachen, zwei notwendige (das Moralgesetz und das reine Wollen desselben) und drei hinreichende (die gute Gesinnung, die Beschließung und Wahl der Maxime und schließlich die Ausführung der Handlung). Dazu siehe unten 7.1.2.4.1 (c).
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rerseits: Wie könnte das menschliche Handeln überhaupt „arational“ oder „vorrational“ sein? Ein erstes Moment ohne Vernunft würde ein Moment ohne Freiheit, ohne Entscheidungsmöglichkeit, ohne Urteil, ohne Gesinnung bedeuten. Und wie sollte daraus Moralität entstehen? In Bezug auf das Verhalten, welches zu meinem Vorteil beitragen soll und sinnlichen oder pragmatischen Regeln folgt, wäre der Entschluss auch nicht „arational“ oder „vorrational“: „Denn auch bey den Lasterhafften sind Regel, nach denen sie handeln“ (V-Mo, 004.30/005).¹⁹⁴ Man führt ein Kalkül durch, nämlich angesichts der Aussichten (dass dasjenige, das man für vorteilhaft hält, diese Erwartungen tatsächlich erfüllt), angesichts der Effektivität (dass die Handlung die erwartete Wirkung hervorbringt) und letztlich angesichts der Optimierung (dass möglichst wenige und möglichst mühelose Handlungen den größtmöglichen Vorteil mit sich bringen). Für Kant kommt die Beteiligung der Vernunft beim Handeln überhaupt nicht in Frage.¹⁹⁵ Nun wird der moralische Wert des Handelns davon abhängen, welchen Gebrauch der Handelnde von seiner Vernunft macht: Dient sie nur als instrumentelles Vermögen zur Abwägung der besten Mittel im Hinblick auf das Erreichen bloß subjektiver Ziele, dann wird das Handeln, das daraus resultiert, bloß rational sein. Stützt man sich dagegen auf die Vernunft als oberstes Vermögen der Prinzipien, das die eigentümliche Bestimmung des Menschen determinieren und durch eine entsprechende Zwecksetzung befördern soll, dann wird man einen im engen Sinne vernünftigen Gebrauch der Vernunft machen.¹⁹⁶ Die Moralkonzeption der Vorlesung zur Moralphilosophie gründet die Ethik auf ein „ein[z]iges“ (V-Mo, 021.05/023), „aus reiner Vernunfft“ (V-Mo, 027.01/027) abgeleitetes, Moralprinzip. Es handelt sich also um ein eindeutiges und formales Prinzip. Zwar formuliert Kant nicht das Moralprinzip, aber seine Untersuchung erlaubt doch zu bestimmen, worin es besteht, nämlich dass die Handlung „aus guter Gesinnung“ mit dem obersten Prinzip der Moralität übereinstimmt. Dementsprechend lässt Kant die traditionell akzeptierte binomische Konzeption der Ethik, die nicht nur nach einer Regel (oder mehreren) des moralischen Handelns sucht, sondern auch der Problematik der moralischen Motivation und Ausübung
An diesem rationalen Verständnis der Klugheitsregeln wird Kant festhalten. Siehe KrV, 520.01//A800/B828, 521.13,17//A 802/B 830. Siehe GMS, 395.33 f., wo Kant von dem „Überschlage alles Vortheils“ spricht; siehe GMS, 415.28 f. und Fn., wo Kant von der „Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel zu eigenen Glückseligkeit“ sowie von der „Welt-“ und „Privatklugkeit“ spricht. Sogar könnte man sich irrational verhalten, wenn die Triebfedern der Sinnlichkeit die Oberhand absolut hätten, oder auch aus Mangel an Aufklärung. Zum Unterschied zwischen „vernünftig“ und „rational“ siehe Rawls 1996, 51 (zitiert durch Klemme 2006, 138 Fn.). Zum bloß instrumentellen und moralischen Handeln siehe unten 6.2.4.1, 7.1.2.3, 7.1.2.4.1 (d).
5.3 Schluss
215
nachgeht, auseinanderfallen und strebt, die Ethik von einem angeblichen „obersten Principium alles moralischen Antriebes“ zu befreien. Die Konsequenzen dieser Revolution Kants in der Konzeption der ethischen Disziplin wirken sich in Kants moralphilosophischem Werdegang als Vorgaben für die künftige ethische Abhandlung aus: Kant wird diese eigene Prägung „principium diiudicationis – principium executionis“ nie wieder verwenden. Stattdessen wird er die Aufgabe der Moralphilosophie auf der reinen Ebene weiter entwickeln und auf die „Aufsuchung und Festsetzung des obersten Princips der Moralität“ (GMS, 392.03) begrenzen. Hierbei setzen sich die Grenzen der Vernunft durch, an denen Kant Mitte der 1770er Jahre im Hinblick auf die Kritik der reinen Vernunft und die spekulative Erkenntnis bereits arbeitet: (a) Wie sich aus dem moralischen Beurteilungsprinzip eine entsprechende Gesinnung ergibt, und (b) Wie aus der moralischen Gesinnung letztendlich eine entsprechende Handlung entsteht.¹⁹⁷ Beides gesteht Kant, nicht bestimmen zu können: „Die Gesinnung kann nicht vom Landesherrn gefordert werden, weil sie nicht erkannt werden, indem sie innerlich ist. Nun befiehlt aber die Ethic Handlungen aus guter Gesinnung zu thun“ (V-Mo, 054.26/068). „Wie nun der Verstand ein principium der Handlungen enthalten soll, ist etwas schwer einzusehen. […] Das kann und wird auch keiner einsehen, daß der Verstand sollte eine bewegende Krafft zur Handlung[¹⁹⁸] haben. Urtheilen kann der Verstand freylich, aber diesem Verstandesurtheil eine Krafft zu geben, und daß es eine Triebfeder werde den Willen zu bewegen, die Handlung auszuüben, das ist der Stein der Weisen. Der Verstand respuirt alles was die Möglichkeit der Regel aufhebt. […] Also stekt doch im Verstande vermöge seiner Natur eine bewegende Krafft“ (V-Mo, 068.04 ff./084 ff.)¹⁹⁹.
Ähnlich die GMS, 461.25: „Wie nun aber reine Vernunft ohne andere Triebfedern, die irgend woher sonst genommen sein mögen, für sich selbst praktisch sein, d. i. wie das bloße Princip der Allgemeingültigkeit aller ihrer Maximen als Gesetze (welches freilich die Form einer reinen praktischen Vernunft sein würde) ohne alle Materie (Gegenstand) des Willens, woran man zum voraus irgend ein Interesse nehmen dürfe, für sich selbst eine Triebfeder abgeben und ein Interesse, welches rein moralisch heißen würde, bewirken, oder mit anderen Worten, wie reine Vernunft praktisch sein könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend, und alle Mühe und Arbeit, hievon Erklärung zu suchen, ist verloren“. Im Text Kaehlers steht „zu urtheilen“. Bei dem Zitat schließe ich mich dem Vorschlag des Herausgebers an, siehe Stark (Hg.) 2004, Anmerkung 53. Ebenso die GMS, 459.32 f. „Die subjective Unmöglichkeit, die Freiheit des Willens zu erklären, ist mit der Unmöglichkeit, ein Interesse ausfindig und begreiflich zu machen, welches der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen könne, einerlei; und gleichwohl nimmt er wirklich daran ein
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Die rein formale Behandlung der Ethik und die Grenzen der Vernunft und der moralphilosophischen Untersuchung werden Kant dazu führen, dass die Grundlegung sich hauptsächlich auf die Urteilsebene konzentriert, während sie die Gesinnung, im Unterschied zur Vorlesung, nur am Rande betrachtet; denn auch wenn diese in der reifen Moralphilosophie die letzte Bedingung alles moralischen Handelns bleiben wird, erlaubt uns ihr nicht-sinnlicher Charakter nicht, sie zu erkennen, mithin über sie ein Urteil zu fällen.²⁰⁰ Deswegen wird sich die Aufgabe der Grundlegung schließlich darauf beschränken, das oberste Moralprinzip festzusetzen, wonach die Handlungsmaximen beurteilt werden können.
Interesse, […] da es vielmehr als die subjective Wirkung, die das Gesetz auf den Willen ausübt, angesehen werden muß, wozu Vernunft allein die objectiven Gründe hergiebt. Um das zu wollen, wozu die Vernunft allein dem sinnlich-afficirten vernünftigen Wesen das Sollen vorschreibt, dazu gehört freilich ein Vermögen der Vernunft, ein Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht einzuflößen, mithin eine Causalität derselben, die Sinnlichkeit ihren Principien gemäß zu bestimmen. Es ist aber gänzlich unmöglich, einzusehen, d. i. a priori begreiflich zu machen, wie ein bloßer Gedanke, der selbst nichts Sinnliches in sich enthält, eine Empfindung der Lust oder Unlust hervorbringe; denn das ist eine besondere Art von Causalität, von der wie von aller Causalität wir gar nichts a priori bestimmen können, sondern darum allein die Erfahrung befragen müssen. Da diese aber kein Verhältniß der Ursache zur Wirkung, als zwischen zwei Gegenständen der Erfahrung an die Hand geben kann, hier aber reine Vernunft durch bloße Ideen (die gar keinen Gegenstand für Erfahrung abgeben) die Ursache von einer Wirkung, die freilich in der Erfahrung liegt, sein soll, so ist die Erklärung, wie und warum uns die Allgemeinheit der Maxime als Gesetzes, mithin die Sittlichkeit interessire, uns Menschen gänzlich unmöglich“. Siehe KrV, 373 Fn.//A551/B579 und bes. siehe unten 7.1.2.4.1 (e) [den letzten Absatz] und GMS, 406.08 f.
Schlüsse zum Zweiten Teil Die Analyse Kants „vorkritischer“ Schriften hat hauptsächlich zwei Tendenzen hervorgehoben: Überwiegend sind die Überlegungen bis Mitte der 1760er Jahre durch einen Rezeptionscharakter gekennzeichnet, während die Gedanken in den Träumen und der 1770er Jahre durch einen eher kritisch-reflexiven Charakter geprägt sind. Daher ist die scharfe Zweiteilung der Schriften bzw. der Gedanken Kants in „kritisch“ und „vorkritisch“ im Hinblick auf seinen moralphilosophischen Werdegang unzutreffend. Sie verbirgt uns das lebhaft kritische Naturell des Genies, das ihn zum ständigen Überdenken eigener Gedanken führte. Kant war vielleicht nie völlig in einem dogmatischen Schlummer versunken. In den frühen 1760er Jahren greift Kant mit jeder seiner Schriften in die damaligen Debatten ein, wobei er die moralischen Begriffe – prinzipiell der Tradition – aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, sie mit unterschiedlichen Bedeutungen verwendet und mit neuen Beiträgen bereichert.¹ Aus diesem Grund erweist sich kein deutlich linearer Werdegang. Doch die von mir durchgeführte Textanalyse offenbart, dass sich allmählich eine Entwicklung artikuliert: Vornehmlich anhand der Anregungen der schottischen Moralisten, Rousseaus und Baumgartens gewinnt die Kantische Position an Charakter. Also stimme ich Menzer nicht zu, dass die Schriften der 1760er Jahre „[uns] wenig Neues […] für die Problemstellung an sich geben“². Insbesondere der fortgeschrittene moralphilosophische Standpunkt in den Träumen, der auf den erwiesenen³ Einfluss Rousseaus in den Bemerkungen zurückgeht und auf welchen Kant sich in seinem Brief an Herder vom 9. Mai 1768 beziehen könnte, führt den Königsberger Philosophen in das fruchtbare kritisch-reflexive Stadium, das sich über die 1770er Jahre erstreckt und im Ethikkolleg offensichtlich wird.
Diese Art und Weise zu arbeiten und sich mit der Debatte auseinanderzusetzen, stimmt ganz und gar mit Kants Erzählung in dem Brief an Herder von 9. Mai 1768, AA 10: 074.08 zusammen: „Was mich betrift da ich an nichts anhänge und mit einer tiefen Gleichgültigkeit gegen meine oder anderer Meinungen das gantze Gebäude ofters umkehre und aus allerley Gesichtspunkten betrachte um zuletzt etwa demjenigen zu treffen woraus ich hoffen kan es nach der Warheit zu zeichnen, so habe ich seitdem wir getrennet seyn in vielen Stücken anderen Einsichten Platz gegeben“. Vergleiche Menzer, 1898, 319, für den sogar die Träume „[…] nur eine Konsequenz der in der Preisschrift acceptierten Lehre von dem unauflöslichen Gefühl des Guten“ darstellen sollen, obwohl sie „[…] einen interessanten Versuch [enthalten], das Problem der Verbindlichkeit des Sittengesetzes zu lösen“. Siehe oben 3.1, 3.2.3.1 Kommentar zu Passagen (xix) [Bem., 043.04], (iv) [Bem., 109.05] (siehe unten Anhang 3); 3.3.1 (2) (c). https://doi.org/10.1515/9783110584288-010
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Schlüsse zum Zweiten Teil
Exkurs: Überblick über Kants wechselnde Einstellung zum moralischen Gefühl als Paradebeispiel und Schlüssel zur Eröffnung einer neuen Dimension in der Ethik In der Untersuchung spielt das Gefühl eine mit dem Erkenntnisvermögen gleichrangige Rolle, und zwar in zweierlei Hinsicht: Wie gesehen, ermöglicht das Gefühl einerseits die Entstehung des Begriffs des Guten, somit dass ein jeder besondere praktische Satz, der dem Willen Gottes gemäß und als Beförderung der Vollkommenheit zu verstehen ist, als etwas unmittelbar Gutes angesehen wird. Die an sich guten Handlungen andererseits sind dadurch als Zwecke zu begreifen, welchen also eine unbedingte Notwendigkeit zukommt. Auch wenn letztere den Verbindlichkeitsbegriff formal begründet, können nur jene als eine besondere (materielle) Verbindlichkeit vor uns auftreten; denn auf den Menschen als empfindendes Wesen kann nur eine (konkrete) Handlung bzw. ihr praktischer Satz wirken, was sich als eine Verbindlichkeit ihm tatsächlich aufdrängt. Das Gefühl fungiert also als erste Motivationsquelle moralischen Handelns: Man tut etwas, weil man es als unmittelbar gut empfindet. Jedoch wird das moralische Gefühl in den Beobachtungen in ästhetisch-psychologischer Hinsicht vorgestellt, nämlich als das das menschliche Verhalten bestimmende Vermögen (dort der sogenannte „moralische Charakter“). Die Verschiedenheit des Gefühlsvermögens je nach überwiegendem Gefühl für das Erhabene, das Schöne oder die Ehre bestimmt demnach Charakter und Handeln jeweils des „Tugendhaften“, des „Mitleidenden“ und des „Eitlen“. Zwar kann ein auf Mitleid und Gefälligkeit gestütztes Handeln nicht moralisch heißen (siehe GSE, 215.24 f.); aber da auch die tugendhafte Bestimmung der Handlung eher aus einer ästhetischen Perspektive erwogen wird, nämlich als durch ein Gefühl für das Erhabene ausgelöst, so bleibt der bloß ethische Gesichtspunkt auf einer sekundären Ebene und die Möglichkeit einer reinen Selbstbestimmung könnte wohl in Frage gestellt werden. Die Bemerkungen deuten ein dichotomisches Verhältnis Kants zum moralischen Gefühl an: Wie in der Untersuchung und den Beobachtungen erhält es die entscheidende Aufgabe, das Gute zu empfinden, um dieses anerkennen und befördern zu können. Aber seine Tätigkeit als Förderer und Auslöser ethischen Handelns zeitigt wegen der menschlichen Schwäche – nicht nur der Sinnlichkeit gegenüber, sondern auch „wenn anderer Ungerechtigkeit oder der Zwang des Wahnes ihm [sc. dem Menschen] Gewalt thun“ – nicht immer eine Wirkung. Hier wird die Religion samt den „Belohnungen des künftigen Lebens“ die Funktion des Gefühls ergänzen und sogar übernehmen (Bem., 022.08 [xvii]).
Exkurs
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Hingegen stellen die Träume in Hinblick auf das Gefühl eine neue, markant fortgeschrittene Position dar: Die „Regel des allgemeinen Willens“ (aus dem „Gesetz der Schuldigkeit“ und dem „der Gütigkeit“ bestehend) zwingt den „Privatwillen“ und fungiert im Menschen als „sittlicher Antrieb“. Durch diesen Zwang weiß sich der Mensch „abhängig von der Regel des allgemeinen Willens“, wodurch im „Privatwillen“ eine „empfundene Nötigung“ hervorgerufen wird. In diesem Zusammenhang wird das „sittliche Gefühl“ als moralisch aktive Instanz definitiv aus der Ethik verbannt und auf eine sekundäre Position, nämlich die einer bloßen „Erscheinung“ der „empfundenen Nötigung“, zurückgesetzt. Während die von der „Regel des allgemeinen Willens“ herrührende Nötigung einzigartig, allgemeingültig und Ursache unseres moralischen Handelns ist, ist das sittliche Gefühl bloß der Ausdruck der Wirkung jener allgemeinen Regel auf die sinnliche Seite des Menschen. Letztlich offenbart sich in der Moral-Kaehler die grundsätzliche und unwiderrufliche Ablehnung des moralischen Gefühls als Triebfeder unseres moralischen Handelns: Letzteres kann sich nur auf ein im Verstand liegendes Beurteilungsprinzip gründen, laut dem die moralischen Regeln mit sich selbst zusammenstimmen müssen und folglich „a priori“, „objectiv“ (bzw. „unbedingt“), „cathegorisch und schlechthin“ allgemein gelten, kurzum „aus reiner Vernunft abgeleitet werden“. Jedes Ausübungsprinzip muss, weil es unerklärlich und der Menschenfreiheit entgegengesetzt ist, abgewiesen werden. Ω Der angezeigte Mangel an Linearität und Systematik in der sogenannten „vorkritischen“ Zeit bezüglich der Behandlung moralischer Begriffe insgesamt bestätigt die These, dass Kant zu dieser Zeit keine eindeutige Vorstellung einer Ethiktheorie hat, obwohl er – retrospektiv betrachtet – im Rahmen der Vorlesung zu einer künftigen viel beiträgt.Vielmehr weisen seine Wandlungen insbesondere bei der Bestimmung des „Gefühls“ und dessen Rolle beim moralischen Handeln darauf hin, dass es nicht eindeutig ⁴ von der moralphilosophischen „Entwicklung“ Kants gesprochen werden kann. Schlägt man ein deutsches Wörterbuch auf ⁵, ist die Rede von einer moralphilosophischen Entwicklung bei Kant im strengen Sinne nur berechtigt, sofern sein Werdegang als Moralphilosoph (1.) „sprunghaft“ Vergleiche Henrich 1965, 253, nach dem die Metapher „Entwicklung“ einschließt, „dass das Ende eines Weges an seinem Anfang gegenwärtig ist“. Dazu siehe unten „Ertrag des Ganzen“, 1. „Entwicklung, die; -, -en. 1. das Vorwärtsschreiten in einem Prozess […]. 2. Reifeprozess des Menschen […]. 3. Bildung, Entstehung […]. 4. Verbesserung, Schaffung von Dingen der Technik […]“. (In: www.dwds.de, am 2.7. 2010).
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Schlüsse zum Zweiten Teil
und manchmal „rückläufig“⁶ war, doch allmählich (2.) höhere Reifegrade durch die (3.) Neuprägung und (4.) Verschärfung [„Verbesserung“] sowohl alter als auch originaler Begriffe bzw. Unterscheidungen erlangte. Anhand der bisherigen Untersuchungen ist es gegenüber Schmuckers und Henrichs Interpretation gelungen zu zeigen, dass das komplexe Moralsystem der Grundlegung sich keineswegs aus einer bloßen Einordnung früh konzipierter Begriffe ergeben konnte⁷. Eher ist es für das Verständnis des Kantischen Werdegangs bis zu den 1770er Jahren entscheidend gewesen, die im Rahmen jedes bearbeiteten Werks und schriftlichen Zeugnisses vorkommenden ethischen Begrifflichkeiten aus einer Doppelperspektive her zu betrachten. Zum einen hat die Analyse der Begrifflichkeit, Argumentation und Struktur erlaubt, den jeweiligen Ansatzpunkt (Kants Vorhaben oder Absicht) zu berücksichtigen. Das hat die zusammengehörige Funktion der verwendeten ethischen Begrifflichkeiten und die jeweiligen tatsächlich ⁸ neu geprägten bzw. ausgearbeiteten ethischen Begrifflichkeiten offenbart. Damit habe ich auf Kants Errungenschaften bzw. Ungenauigkeiten zu jener Zeit und hinsichtlich der Grundlegung hingewiesen. Das früh entstandene, für die Grundlegung entscheidende Gedankengut habe ich somit chronologisch dargestellt, sodass Kants ethische Entwicklung in all ihren Bedeutungen nachvollzogen werden kann. Zusammenfassend sind die in diesem zweiten Teil gezogenen Ergebnisse die Folgenden: Die Träume 1766 eröffnen eine markant kritisch-reflexive Phase. Sie tragen zum Bildungsprozess der Kantischen moralphilosophischen Konzeption von 1785 bei:⁹ (14) Zum ersten Mal wird die „Nötigung unseres Willens“ als Auslöser des moralischen Handelns thematisiert: Aufgrund der bedürftigen, doch vernünftigen Natur kann der Mensch das Streben anderer Mitmenschen nach dem eigenen Glück nachvollziehen sowie sie als frei ansehen. Die „fremde Willkür“ fungiert als allgemeiner Wille und daraus entsteht die Nötigung; sie soll sich nicht selbst widersprechen. Eine solche Nötigung gründet sich also auf der „Regel des allgemeinen Willens“ (bestehend aus dem „starken Gesetz der Schuldigkeit“ und dem „schwächeren der Gütigkeit“). Dadurch wird man gezwungen, „wider den Dank des Eigennutzes“ vorzugehen (TG, 334.27 f.). So auch Schwaiger 1999, 64. So auch Schwaiger 1999, 17, 27, bes. 43. Siehe oben in 3.2.2.1, 3.4 u. 4.2.1. meine Kritik gegen Schmucker 1961 und Henrich 1957– 58, 1965 und 1963. Hier setze ich die Reihenfolge fort, die ich in den Schlüssen zum ersten Teil angefangen habe.
Schlüsse zum Zweiten Teil
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(15) Aus diesem genötigten, doch moralischen Handeln entspringt die Vorstellung einer „moralischen Einheit und systematischen Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen“ in der „Welt aller denkenden Naturen“. Diese Vorstellung wird in der Grundlegung in das „Reich der Zwecke“ münden, welches als Muster einer vollkommen moralischen Welt angeführt wird (GMS, 433.12 ff.)¹⁰. (16) Die Nötigung wird vom moralischen Gefühl unterschieden: Während jene sich aus den „sittlichen Antrieben“ des „Schuldigkeits-“ und „Gütigkeitsgesetzes“ ergibt, deren Ursprung „in dem Wollen anderer außer uns“ liegt (TG, 335.02), ist das moralische Gefühl bloß die „Erscheinung“ der Wirkung der Nötigung auf uns (TG, 335.14). Wäre diese Erscheinung die Ursache der „Abhängigkeit des Privatwillens vom allgemeinen Willen“, somit des moralischen Handelns, so hätte dieses als physische Ursache auf der Welt eine entsprechende, d. i. moralische Wirkung. Aber Kant stellt bereits den „Widerspruch der moralischen und physischen Verhältnisse der Menschen hier auf der Erde“ (TG, 335.37 f.) heraus und damit „den Übelstand […] aus der unvollendeten Harmonie zwischen der Moralität und ihren Folgen in dieser Welt“ (TG, 337.03). (17) Zur Bewertung einer Handlung als sittlich wird man nicht bloß die Handlung selbst zu berücksichtigen haben, sondern auch deren Auslöser, nämlich „unsere Absicht“ (TG, 334.27) oder „den inneren Zustand des Geistes“ (TG, 336.14). Angesichts der folgenden Entwicklung in den 1770er Jahren könnte dies wohl als die „gute Gesinnung“ verstanden werden¹¹. Die Vorlesung 1774/75 bezeugt einen grundlegenden Fortschritt im moralischen Reflexionsprozess Kants: (18) Die Lehre des höchsten Guts (siehe V-Mo, 011.07/013 – 020.22/022) wird bereits in einer Form dargelegt, die derjenigen der Kritik der reinen Vernunft (KrV, 522 ff.//A804 ff./B832 ff.) und der Kritik der praktischen Vernunft (KpV, AA 05: 110 ff.) nahe kommt. (19) Es wird die Lehre der praktischen Nötigung entfaltet (siehe V-Mo, 027.24/ 029 – 028.15/030). Die moralische Nötigung wurde in den Träumen bloß vorgestellt; nun wird sie als ein spezifischer Typus praktischer Notwendigkeit dargestellt, auf der eigentlich alle Verbindlichkeit beruht.
Davon spricht Kant auch in der V-Mo, 367.23/454 („das Reich Gottes auf Erde“) und der KrV, 527//A812/B840 („im Reiche der Gnaden“). V-Mo, 039.01/043 f.: „Alle Moralitaet beruht aber darauf, daß die Handlungen ausgeübt werden wegen der innern Beschaffenheit der Handlung selbst; also nicht die Handlung macht die Moralitaet, sondern die Gesinnung, aus der ich sie thue“. Dazu siehe unten 7.1.2.4.1.
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Schlüsse zum Zweiten Teil
(20) Aufgrund der unterschiedlichen Arten praktischer Notwendigkeit entwickelt Kant seine bekannte dreifache Klassifikation von Imperativen der Geschicklichkeit, der Klugheit und der Sittlichkeit. (21) Die in den Bemerkungen aufgetauchte Redeweise von einem „obersten Principio“ wird jetzt thematisiert: Da es die Absicht Kants ist, die Ethik bzw. Moralphilosophie als eine Disziplin allgemeiner Geltung vorzustellen, so muss sich diese auf ein einziges, oberstes Prinzip gründen, auf das alle Handlungsregeln zurückzuführen sind. (22) Auf der Basis der Fragen: „Was ist sittlich gut?“ und „Was bewegt mich diesen Gesetzen gemäß zu leben?“ wird anfangs eine Doppelfassung des Moralprinzips jeweils als Beurteilungs- und Ausführungsprinzip vorgestellt, bei der schließlich nur das erstere als objektives Prinzip die Rolle des „obersten principii der Moralität“ erfüllt. Aufgrund dessen, dass keine moralische Einsicht (des Verstandes) eine moralische Triebfeder (als Gefühl) auslösen kann, die uns zum moralischen Handeln bewegt, wird die Möglichkeit eines ethischen Ausführungsprinzips grundsätzlich abgelehnt.¹² (23) Das „principium der Diiudication“ besteht objektiv in der „Norm“ oder dem „Sollen“, welche unmittelbar aus der unbedingt notwendigen Handlung (als einem an sich guten Gegenstand) abgeleitet werden; und subjektiv in der „Gesinnung“ „aus Pflicht“ zu handeln (V-Mo, 055.02/068) bzw. „der Regel ein Gnüge zu thun“ (V-Mo, 051.08/063). (24) Der Ethik liegt der menschliche Wille zugrunde, der sich vom göttlichen Willen unterscheidet: Nur der Erstere kann sich fragen, „was sittlich gut ist oder nicht“, da bei Gott das „subjective Gesetz kein Grund der Moralitaet [ist]“ (V-Mo, 041.01/047). (25) Es kommt die Konzeption der „sich selbst restringierenden“ Freiheit vor, die mit der Unterscheidung zwischen Personen als Zwecken und Sachen als Mitteln eng verbunden ist. Durch diese neuen Beiträge Mitte der 1770er Jahre erreicht der Umbruch der Träume (der durch die Entdeckung des allgemeinen Willens als leitende „Regel“ unseres Verhaltens herbeigeführt wurde) den Höhepunkt. Kant nimmt eindeutig Abstand von der Tradition und versucht seinen eigenen Weg zu bahnen. Hierbei werden – in der durchdachten Vorlesungsstruktur und mittels philosophischer Erörterung – Begriffe und Unterscheidungen festgelegt, die aufgrund ihrer Nähe
V-Mo, 072.01/088: „Der Mensch hat nicht solche geheime Organisation durch obiective Gründe bewogen werden, es ist keine Feder von Natur, die da könnte aufgezogen werden solches hervorzubringen“.
Schlüsse zum Zweiten Teil
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zur späteren Konzeption als der Anfang der tatsächlichen Entstehungsgeschichte der Grundlegung anzusehen sind. Die bisherige Moralkonzeption Kants wird also durch den Ansatz geprägt, dass die Ethik sich auf ein (21) einziges Prinzip gründen soll¹³. Dieses soll unbedingt, kategorisch, a priori, allgemein, beständig und notwendig gelten, damit alle moralischen Handlungsregeln mit ihm übereinstimmen und „wir darüber einstimmig urtheilen können“ (V-Mo, 021.02/023). Daher wird es als „oberst“ ausgezeichnet. Als „Wissenschaft“ von den „objectiven Gesetzen der freyen Willkür“ ist die Ethik also „eine Philosophie der objectiven Nothwendigkeit der freyen Handlungen oder des Sollens, d. h. aller möglich guten Handlungen“ (VMo, 006.17/007 f.). Insofern lautet die (22) Frage der Ethik: „Was ist sittlich gut oder nicht“? (V-Mo, 056.06/070), bzw.: „Worin [besteht] die Bonitaet der Handlung an und vor sich selbst“? (V-Mo, 032.10/036) und zwar unabhängig davon, ob dies irgendwann geschieht oder nicht (siehe V-Mo, 004.29/005). Gefühle und Neigungen können aufgrund ihrer empirischen Gründe niemals eine Verbindung mit moralischen Handlungen haben, somit weder als Triebfeder fungieren noch moralisch heißen; wobei die das Ausübungsprinzip betreffende Frage, „wodurch man zu der Bonitaet bewegt wird“ (032.09/036), nicht zur Ethik gehört. Das Moralprinzip muss also ein (23) Beurteilungsprinzip sein, welches auf dem kategorischen Sollen basierend allgemein gilt, und dessen Anwendung durch das Subjekt anhand der Gesinnung erfolgt. Demnach würde letztere – parallel zum moralischen Gefühl der Empiristen – als Grund des moralischen Handelns fungieren¹⁴, dessen Ursprung im Verstand sonst „etwas schwer einzusehen ist“ (VMo, 068.04/084). Die Auffassung der Ethik als „Philosophie der objectiven Nothwendigkeit der freyen Handlungen oder des Sollens“ findet sich zwar in der Untersuchung, wenn die Verbindlichkeit als Hauptbegriff der Moral auf der Basis der Unterscheidung zwischen der Notwendigkeit der Mittel und der der Zwecke festgelegt wird. Aber in der Vorlesung wird diese Auffassung zugespitzt, nämlich: Die unbedingte sogenannte „praktische Notwendigkeit“ wird ihrerseits noch von der „praktischen Nötigung“ unterschieden, von der alle Verbindlichkeit herrührt. Das führt Kant einerseits (24) zur systematischen Unterscheidung des vollkommenen Willens vom unvollkommenen, so dass die praktische Nötigung (bzw.Verbindlichkeit) nur
V-Mo, 044.08/051: „Wo schon in der Moral viele principia sind, da sind gewiß keine, denn es kann nur ein wahres principium seyn“. V-Mo, 039.01/043 f.: „Alle Moralitaet beruht aber darauf, daß die Handlungen ausgeübt werden wegen der innern Beschaffenheit der Handlung selbst; also nicht die Handlung macht die Moralitaet, sondern die Gesinnung, aus der ich sie thue. […] Aber thue ich etwas deswegen, weil es an sich selbst schlechterdings gut ist, so ist das eine moralische Gesinnung“.
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Schlüsse zum Zweiten Teil
bezüglich eines unvollkommenen Willens geschehen kann. Denn bei einem vollkommenen Willen wie dem göttlichen ist die praktische Notwendigkeit nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv: Die subjektiven Gesetze, nach denen er handelt, sind mit den „objektiven Gesetzen des allgemeinen guten Willens einerley“ (V-Mo, 041.01/047)¹⁵. Hingegen tut der Mensch eine an sich gute, d. h. praktisch notwendige Handlung nur „zufällig“ und „ungern“¹⁶, weil sie seiner Sinnlichkeit widersteht. Deshalb kann Sittlichkeit nur bei einem unvollkommenen Willen gestiftet bestehen werden (siehe V-Mo, 041.01/047). Andererseits wird ebenfalls zwischen den verschiedenen Handlungsarten systematisch differenziert: Der Mensch führt Handlungen (als Mittel) durch, entweder um ein beliebiges Ziel zu erreichen oder um das allgemeine Ziel der Menschheit, d. i. die Glückseligkeit zu erlangen, oder zuletzt um einen notwendigen, unbedingten Zweck zu erfüllen, wobei die Handlung selbst den Zweck ausmacht. Aufgrund dieser Differenzierung werden die unterschiedlichen Handlungsregeln typisiert. Damit wird (20) die Einteilung der Imperative festgelegt und der Bereich der Moralität wiederum eindeutig eingerahmt. Diese Klassifikation legt Zeugnis vom Werdegang Kants auf der philosophisch-systematischen Ebene ab: Sie geht nicht mehr auf einen aufgenommenen Gedanken zurück – wie beispielsweise den „allgemeinen Willen“ in den Bemerkungen und den Träumen, der der Aufnahme und nachträglichen Ausarbeitung von der Rousseau′schen volonté générale entspricht¹⁷. Zwar könnte man wohl die latente Entstehung der Einteilung der Imperative in der Untersuchung oder den Bemerkungen sehen: Auf der Basis der Unterscheidung der Notwendigkeit der Zwecke von der der Mittel wird die Unterscheidung der „Regel“ (UD, 298.35) bzw. „Formel der Verbindlichkeit“ (UD, 298.09, 299.06) von den „Formeln der Geschicklichkeit“ (UD, 299.07) erörtert. Ihrerseits führen die Bemerkungen erstmals die „problematische[] Notwendigkeit“ und die „Notwendigkeit der Klugheit“ als zwei Typen „bedingter Notwendigkeit“ an (Bem., L 118.19, L 125.04, L 129.28). Aber diese Unterscheidungen sind immer noch sehr rudimentär: Sie rechnen weder mit dem
Wie im vorigen Punkt (9) gesehen, wird diese Überlegung bereits in Bem., L 120.01 angedeutet, obwohl Kant sie nicht erläutert. Siehe oben 5.1.3.7 Zitate V-Mo, 045.20/053 f., 046.29/056; siehe oben 5.1.3.6 Zitate V-Mo, 029.22,33/032. Ebenso Bem., 118.16: „Eine tugendhafte Handlung ist jederzeit eine sittlich gute Handlung die ungern geschieht oder wenigstens geschehen ist“. Es ist unstreitig, dass derartige geschichtlich-philosophischen Einflüsse eine bedeutsame Wende mit sich bringen, sowohl auf der rein begrifflichen Ebene als auch hinsichtlich Kants Umgang mit der Tradition. Gutes Beispiel dafür sind die Träume (siehe oben Punkt (14) dieser Schlüsse), wo der Ursprung des moralischen Handelns in der „Regel des allgemeinen Willens“ und deren auf uns gewirkten „Nötigung“ gesehen wird.
Schlüsse zum Zweiten Teil
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Imperativbegriff noch mit der dreifachen Gliederung der Handlungsarten angesichts des Zwecks.¹⁸ Schließlich ist ein besonderes Merkmal des neu betrachteten Verbindlichkeitsbegriffs, dem eine absolute Nötigung zugrunde liegt, die Kompatibilität bzw. Vereinbarkeit desselben mit der Freiheit: Da bei Menschen weder eine absolute Gebundenheit an Instinkte noch eine absolute bzw. natürliche Freiheit angetroffen wird, so muss es (25) eine eingeschränkte Freiheit geben, die einen angemessenen Gebrauch unserer Vollkommenheiten durch den Willen fördert¹⁹ und sich mithin nicht selbst aufhebt²⁰. Die Einschränkung der Freiheit soll bestimmte allgemeingültige Bedingungen erfüllen, damit die Freiheit sich nicht durch Willkür verringert sieht, nämlich: „daß in allen deinen Handlungen Regelmässigkeit hersche“ und „Übereinstimmung des freyen Verhaltens mit den wesentlichen Zwekken der Menschheit“ stattfindet (V-Mo, 178.04/223). Hierbei soll die Einschränkung „durch objective Regeln“ geschehen, die „im Verstande liegen“ (VMo, 177.22/222)²¹. Tatsächlich handelt der Mensch entweder nach „Antrieben und Neigungen“ oder nach „Maximen und Prinzipien“.Will er aber seine Freiheit nicht zerstören, so „ist [es] nöthig, daß der Mensch sich auf Maximen setze und durch Regel seine freye Handlungen […] restringire […] Sie [sc. die Freyheit] muß also restringirt werden aber nicht durch andere Eigenschafften und Vermögen, sondern durch sich selbst“ (V-Mo, 179.02/224 f.). Also besteht die eingeschränkte Freiheit eigentlich in einer Selbstregulierung bzw. Selbstbeherrschung. Diese soll zwar auf „Regeln“ zurückführen lassen, da sie nicht willkürlich sein kann. Aber es
In der Untersuchung behandelt Kant die Vorschriften der Glückseligkeit und die Formeln der Geschicklichkeit auf derselben Ebene, da für beide die „Notwendigkeit der Mittel“ bezeichnend ist (siehe UD, 298.11, 298.14) – die sich der „Notwendigkeit der Zwecke“ entgegensetzt (siehe UD, 298.15). In den Bemerkungen wird zwar an diesem zweifachen Begriff der Notwendigkeit festgehalten, obwohl nicht frei von Ungenauigkeiten [siehe oben 3.2.2.2 (1)]. Zudem spricht Kant in den Bemerkungen nicht von „Geschicklichkeit“, wie er es doch in der Untersuchung gemacht hatte und in der Vorlesung machen wird. Siehe V-Mo, 043.28 f./051 u. oben 5.1.3.8. Siehe oben 5.1.3.7 (c), Zitate V-Mo, 173.04/217 und 174.30 f./219 f., wo Kant die Freiheit, den guten Gebrauch derselben und die Unterscheidung der Person (als Zweck) von Sachen (als Mitteln) in Zusammenhang setzt. V-Mo, 179.26/225: „zE. Habe ich heute zu viel getrunken, so bin ich unmächtig nach meiner Freyheit meine Kräffte zu gebrauchen; oder bringe ich mich selbst um, so nehme ich mir das Vermögen meine Freyheit und meine Kräffte zu gebrauchen, es wiederstreitet also dieses mit dem grösten Gebrauch der Freyheit, daß die Freyheit als das principium des höchsten Lebens sich selbst und allen Gebrauch derselben aufhebe“. V-Mo, 178.09/223: „Ich werde also nicht den Neigungen folgen, sondern sie unter Regel bringen. […] denn als ein freyhandelnden Wesen muß [ich] nicht den Neigungen unterworfen seyn, sondern [ich] soll sie durch Freyheit bestimmen, denn wenn [ich] frey [bin] so muß [ich] Regel haben“.
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Schlüsse zum Zweiten Teil
handelt sich weder um eine Selbstgesetzgebung noch um das gesuchte oberste Prinzip der Moralität. So führt die Vorlesung vor Augen: (a) die erstmalige Aufnahme, Ausarbeitung und neue Prägung des Baumgarten′ schen²² Begriffs vom praktischen „Imperativ“; (b) eine neu geordnete Behandlung der Notwendigkeit, die von der Nötigung differenziert, mit der Einteilung der Imperative systematisch verbunden und als Grund der Verbindlichkeit festgelegt wird²³; und (c) die Verbindung der „moralischen Imperative“ als „categorischer“, „unbedingter“ Befehle (V-Mo, 009.04/011) mit dem „principio der Moralität“ (V-Mo, 020.23 f./022)²⁴. Trotzdem schuldet die in der Nachschrift dargelegte Moralkonzeption erstens der Gesinnung, die – nebst der Norm in objektiver Hinsicht – das Beurteilungsprinzip in subjektiver Hinsicht ausmacht, ein bedeutsames Gewicht. Diese grundlegende Rolle der Gesinnung äußert sich nicht nur durch die Häufigkeit, mit der sie vorkommt²⁵; sondern auch konzeptuell: Der Vorlesung zufolge fußt die Moralität des Handelns objektiv auf der „innern Beschaffenheit der Handlung“, mithin der an sich guten Handlungsregel, und subjektiv auf der Gesinnung, „aus der ich sie [sc. die Handlung] thue“ (V-Mo, 039.01/043 f.). Ohne gute Gesinnung besteht keine Sittlichkeit. Zwar legt Kant diesen Gedanken seinem reifen Moralsystem zugrunde; doch im Gegensatz dazu spielt die Gesinnung in der Grundlegung eine eher sekundäre Rolle: Obwohl sie – wie in der Vorlesung – mit der aus Pflicht ausgeübten Handlung eng verbunden ist, bleibt uns dennoch die echte Gesin Siehe Schwaiger 2008, 225 f. Wie gesehen, waren die ersten Bausteine für eine Distinktion der Notwendigkeit in unterschiedliche Arten bereits in der Untersuchung 1762 gelegt und in den Bemerkungen verfeinert; 1764/65 wurde auch eine Klassifikation der Notwendigkeit erstmals skizziert; und die Differenzierung zwischen Notwendigkeit und moralischer Nötigung war – doch implizit – in den Träumen festgesetzt. V-Mo, 026.06/026 f.: „[D]as principium der Moralitaet [habe] einen Grund im Verstande und [kann] a priori eingesehen werden“. V-Mo, 027.01/028: „Iedes moralische Gesetz drückt eine cathegorische Nothwendigkeit aus“. V-Mo, 028.07/029 f.: „Die Formel, die die practische Nothwendigkeit ausdrükt ist die caussa impulsiva einer freyen Handlung, und weil sie objectiv necessitirt, so nennt man sie ein motivum oder einen Bewegungsgrund, also zur jeden practischen Necessitation gehört ein motivum. […] Der moralische Imperativus enuncirt die Bonitaet der Handlung an und vor sich selbst, also ist die moralische Necessitation cathegorisch und nicht hypothetisch“. V-Mo, 029.02/031: „Alle moralische Necessitation ist eine Obligation […]. Die Verbindlichkeit ist also eine practische und zwar moralische Verbindlichkeit“. Allein in den hier betrachteten Passagen fällt der Begriff der „Gesinnung“ insgesamt fünfunddreißigmal, während er in der gesamten Grundlegung nur sechsmal vorkommt.
Schlüsse zum Zweiten Teil
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nung unserer Handlungen verborgen: „es [sei] immer noch zweifelhaft, ob es[²⁶] eigentlich aus Pflicht geschehe und also einen moralischen Wert habe“²⁷, mit anderen Worten, ob die gute Handlung nur aus guter Gesinnung oder auch wegen eines geheimen privaten Interesses geschieht. Gemäß der späteren moralphilosophischen Konzeption kann das Handeln bloß im Hinblick auf das bestimmende Moralprinzip, nämlich die Autonomie des Willens moralisch untersucht werden. Denn erst das Prinzip liefert einen objektiven Bestimmungsgrund des Handelns²⁸, nämlich dass man nach eigenen Maximen handelt, von denen man wollen kann, dass sie allgemeine Gesetze werden.²⁹ Zudem greift Kant zweitens immer noch nicht auf den ursprünglich politischen Begriff der „Autonomie“ zurück, um einen Parallelismus dieser alten Staatsform zur ethischen Selbstbestimmung des Menschen zu ziehen. Erst in der Vorlesung Moral Mrongovius II von 1784/85 und in der gleichzeitig verfassten Grundlegung prägt Kant den ethischen Autonomiebegriff. Daher konzipiert Kant zur Zeit des Kollegs Kaehler den Gesetzgeber noch nicht als den Urheber des Gesetzes³⁰. Zwar hat das Moralgesetz seinen Ursprung in der reinen Vernunft³¹, anhand derer das vernünftige Wesen das Gesetz konstatiert und „declarirt“. Dennoch erreicht die Moralkonzeption noch nicht den Höhepunkt, nämlich: dass der Wille „ihm selbst […] ein Gesetz ist“ (GMS, 440.17). Zuletzt legt Kant als „letzte Bestimmung des menschlichen Geschlechts“ „die gröste moralische Vollkommenheit“ fest, „sofern sie durch die Freyheit des Menschen bewerkstelliget wird, wodurch alsdenn der Mensch der grösten Glückseligkeit fähig ist“ (V-Mo, 364.22 ff./451 ff.)³². Hierbei wird diese letzte Be Sc. das pflichtgemäße Handeln („manches dem, was Pflicht gebietet, gemäß geschehen mag“). GMS, 406.08: „Vielmehr, wenn wir auf die Erfahrung vom Thun und Lassen der Menschen Acht haben, treffen wir häufige und, wie wir selbst einräumen, gerechte Klagen an, daß man von der Gesinnung, aus reiner Pflicht zu handeln, so gar keine sichere Beispiele anführen könne, daß, wenn gleich manches dem, was Pflicht gebietet, gemäß geschehen mag, dennoch es immer noch zweifelhaft sei, ob es eigentlich aus Pflicht geschehe und also einen moralischen Werth habe. Daher es zu aller Zeit Philosophen gegeben“. Dazu siehe 7.1.2.4.1 (e) [bes. den letzten Absatz]. Es ist reduktionistisch, die moralische Handlung bei Kant als Erfüllung des kategorischen Imperativs, also als Erfüllung der Pflicht als bloßer Pflicht, zu definieren. Dieser Ansicht versuche ich im gesamten Kap. 7 zu widersprechen. Dazu siehe bes. 7.1.2.4, 7.1.2.4.2 (d.3), 7.1.2.4.2 (e.3). Siehe oben 5.1.3.10. Kant verwendet „reine Vernunft“ und „Verstand“ ohne Unterschied (siehe V-Mo, 026.23 – 027– 08, 060.02– 07/74). Als Erinnerung besteht diese Vollkommenheit in der „moralischen Bonitaet“, d. h. in der „Vollkommenheit des Willens“, „sich aller […] Vollkommenheiten gut und wohl zu bedienen“ (VMo, 043.25 f./050 f.). Man ist deshalb der Glückseligkeit würdig, weil jene moralische Vollkom-
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Schlüsse zum Zweiten Teil
stimmung als „der allgemeine Zwek der Menschheit“ festgesetzt. Dieser dient als Bild einer harmonischen Welt, in der alle vernünftigen Wesen ihr Verhalten nach diesem allgemeinen Zweck richten würden: „so wäre dadurch die höchste Vollkommenheit erreicht“ (V-Mo, 365.11/451). Bereits in den Träumen ³³ wurde die „Welt aller denkenden Naturen“ erwähnt. Nun widmet Kant dieser Überlegung noch einige Zeilen: Es handelt sich um eine nach der moralischen Vollkommenheit eingerichtete Welt, die dem „allgemeinen Volker Senat“ des Abts von Saint Pierre gemäß (V-Mo, 366.05/452) „das Reich Gottes auf Erden“ genannt wird (V-Mo, 367.23/454)³⁴. Dieses Bild hat aber auch noch nicht die „kritische“ Funktion vom „Reich der Zwecke“ als einer idealischen Welt (GMS, 433.32, 462.29 f.), wo ein Wesen mit Würde, d. h. nicht bloß als ein unter den gemeinschaftlichen Gesetzen untergeordnetes Glied (passiv), sondern auch als ein gesetzgebendes Glied (aktiv), somit als Oberhaupt (GMS, 434.34) leben würde (GMS, 434.31). Die reife Idee vom „Reich der Zwecke“ impliziert im Unterschied zum damaligen „Reich Gottes auf Erden“ also die dritte Formel des kategorischen Imperativs, nämlich das „Princip der Autonomie“, das „das alleinige Princip der Moral sei“ (GMS, 440.28).³⁵ Die Untersuchung der Kantischen Moralkonzeption besonders in den Jahren der Vorlesung weist den festen Vorsatz Kants auf, sich nicht nur künftig mit der praktischen Philosophie zu beschäftigen, sondern diese systematisch zu behandeln und ihr eine solide Grundlage zu verschaffen. Die Vorlesung bot Kant zum ersten Mal einen Rahmen, sich lange und ausschließlich auf die Moralphilosophie zu konzentrieren. Jedoch wurden weder Kants eigenhändige Notizen zur Moralphilosophie in seinen Handexemplaren von Baumgartens Ethica und Initia, noch die zahlreichen studentischen Nachschriften
menheit auf die Freiheit der menschlichen Willkür zurückgeht. Dazu siehe oben 5.1.3.7 u. 5.1.3.8. – Zur Freiheit von äußeren Dingen und geschaffenen Bedürfnisse (Rousseau′scher Provenienz), anhand der sich das Glück uns eröffnen soll, geht bereits Bem., 025.01– 16: „Wenn ich mich jetzo in eine große obzwar nicht gäntzliche Unabhängigkeit von Menschen setzen wolte so müste ich arm seyn können ohne es zu fühlen und gring gehalten ohne es zu achten. Wäre ich aber ein Reicher so würde ich vornemlich in meine Vergnügen Freyheit von Sachen und von Menschen hineinbringen. Ich würde mir nicht mit Dingen als Gästen Pferden Unterthanen überladen über deren Verlust ich müste besorgt seyn. Ich würde keine Juwelen haben weil ich sie verlieren kann p. p. Ich würde […] mich dem Wahne andrer gemäß einrichten damit er mir nicht wirklich schade z. B. meinen Umgang verringern aber nicht damit er mir Bequemlichkeit mache. Wie die Freyheit im eigentlichen Verstande (die moralische nicht die metaphysische) das oberste Principium aller Tugend sey und auch aller Glückseeligkeit“. Siehe oben Punkt (15) in der dargestellten Reihenfolge und besonders letzte Seiten von 4.2.2. Zum Überblick auf die chronologische Entwicklung der Idee des „Reiches der Zwecke“ siehe Stark (Hg.) 2004, Kommentar 244. Dazu siehe Román-Maestre/Gutiérrez-Xivillé 2008, 427– 434.
Schlüsse zum Zweiten Teil
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in eine eigene Schrift gefasst und veröffentlicht. Kant hatte dadurch zwar seinen eigenen Weg gebahnt, welcher etwa ein Jahrzehnt später in die Grundlegung einmünden sollte: ein ethisches System, welches in die Anthropologie hineinblickt, um kein Hirngespinst zu werden; welches also hinsichtlich des unvollkommenen, zu bestimmenden Menschenwillens die Moralität als eine eigentlich menschliche Disziplin vorstellt; denn auf der Basis eines vollkommenen, mithin vollendeten und vollständigen Willens, der keiner Selbstbestimmung und -verwirklichung bedarf, findet keine praktische Nötigung statt und kann keine Sittlichkeit gestiftet werden. Trotzdem war die im Ethikkolleg dargelegte Konzeption noch nicht so weit vorangekommen, dass darauf ein exhaustives Moralsystem hätte gegründet werden können. – Vielleicht hat Kant deswegen die längst versprochene „Metaphysik der Sitten“ nicht niedergeschrieben und publiziert! Vom Standpunkt der Grundlegung, also retrospektiv sind manche dargestellten moralphilosophischen Begrifflichkeiten und Unterscheidungen entweder noch in einem anfänglichen bzw. mittleren Stadium, (sofern sie nicht die spätere Entfaltung und geschlossene Systematisierung bekommen) oder sie werden bloß eine experimentelle Funktion erfüllen (Paradebeispiel dafür ist die Unterscheidung zwischen dem Beurteilungs- und dem Ausübungsprinzip, auf die Kant nicht mehr zurückgreifen wird). Demzufolge erscheint der Schluss berechtigt, dass Kant in den 1770er Jahren weder über ein „kritisches“ Bild der Ethik verfügte, noch über ein solches hätte verfügen können: Obwohl die „Handlung“ eine zentrale Rolle spielt³⁶, vorhanden ist keine Handlungstheorie³⁷ wie auch keine Formulierung von einem obersten Prinzip der Sittlichkeit bzw. einem kategorischen Imperativ. Die zu beantwortende moraltheoretische Frage im Moralkolleg besagt: Worin soll das Moralprinzip bestehen?, während sie in der Grundlegung heißt: Wie soll das Moralprinzip „lauten“?³⁸. D. h., dem Kant der 1770er Jahre ist schon klar, dass der menschliche Wille
V-Mo, 031.06/034 f.: „Die moralische Bonitaet ist also die Regierung unserer Willkür durch Regel, wodurch alle Handlungen meiner Willkür allgemein gültig übereinstimmen“.V-Mo, 046.29/ 056: „Wir thun die Handlungen zwar ungern, aber wir thun sie doch, weil sie gut seyn“. Manchmal spricht Kant auch von „Uebereinstimmung der freyen Willkür mit sich selbst und anderer“ (V-Mo, 026.17 f./027 f.) bzw. „Uebereinstimmung aller freyen Willkür“ oder auch von „Uebereinstimmung mit meinen Zwekken und mit andern“ (V-Mo, 030.32 f./34 f.). V-Mo, 040.27/046: „Die Quaestion ob etwas moralisch sey ist eine Frage, die die Handlung selbst angeht“. Dagegen wird anfangs des zweiten Abschnittes der Grundlegung das vernünftige Handeln folgendermaßen definiert: „Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Principien, zu handeln, oder einen Willen“ (GMS, 412.26). GMS, 420.04, 420.22, 421.18. Diese Frage führt auf die zweite Frage des Kanons in der KrV zurück: „Was soll ich thun?“ (KrV, 522.33//A805/B833).
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Schlüsse zum Zweiten Teil
im Unterschied zum göttlichen einer moralischen Bestimmung bedarf, und zwar durch allgemeine Regeln. Trotzdem hat Kant noch nicht eingesehen, dass diese „allgemeinen Regeln“ eigentlich in selbstbestimmten und selbstauferlegten Maximen bestehen, welche unter ein einziges, auch selbstbestimmtes oberstes Prinzip fallen (dessen Formel „Kategorischer Imperativ“ genannt werden kann), und wodurch der Mensch sich als ein autonomes Wesen behauptet. Zwar kommt der Begriff der „Maxime“ vor, aber sie wird der „Vorschrift“ entgegengesetzt³⁹ und wird keineswegs als Quelle des moralischen Wertes einer Handlung dargestellt (siehe GMS, 399.35). Ebenfalls gibt es keine eindeutige Verwendung der Begriffe: Beispielsweise werden einerseits „Verstand“ und „reine Vernunfft“, andererseits „Regel“, „Gesetz“, „Prinzip“ und „Imperativ“ in etwa gleichbedeutend benutzt. Ebenso werden Nötigung und Notwendigkeit anhand des Adjektivs „objektiv“ im Allgemeinen charakterisiert und thematisiert, wobei die „objektive Nötigung“ bzw. „objektive Notwendigkeit“ bei der Einteilung der Imperative nicht nur den sittlichen „unbedingten“ und „kategorischen“ Imperativen, sondern auch den „subjektiven“, „bedingten“, „hypothetischen“ Imperativen der Klugheit und der Geschicklichkeit zukommt (siehe V-Mo, 007.15/008 ff., 028.16/030). Schließlich erweist sich zum ersten Mal durch die Vorlesung zur Moralphilosophie, dass Kant den Weg einer Entwicklung nimmt, die nicht mehr bloß auf einen Veränderungsprozess hinweist, bei dem er sowohl die eigene als auch die zur Tradition gehörige ethische Begrifflichkeit (auch seiner reiferen Zeit) auf die Probe stellt. Vielmehr eröffnet der Moralkolleg eine Phase, bei der der begriffliche Rahmen experimentell ausgearbeitet, erforscht und umgrenzt wird. Kants ausgeführte Überlegungen ermöglichen jetzt einen qualitativ neuen Gang. Aufgrund dessen fungiert der Kolleg als Auslöser einer bestimmten, in der Ethik absolut neuartigen Richtung, was von der Öffentlichkeit mehrfach wahrgenommen wurde.⁴⁰ Die Vorlesung ist also insofern wertvoll, als sie die Schritte Kants im Bereich der Moral innerhalb der Jahre des Schweigens, und zwar mit großer Gewissheit von 1774 bis 1777 bezeugt.⁴¹ Aber Kant muss seinen Gedanken noch eine argumentative und systematische Entfaltung geben, sie von unpräzisen Erläuterungen befreien, mit Hauptkonzepten ergänzen und durch eine fundamentale Bearbeitung strukturieren. Daher ist es hinsichtlich des philosophischen Standpunkts
Siehe V-Mo, 040.7/045, 066.11 f./082 ff.; dennoch vergleiche V-Mo, 179.2/224, wo „Maximen und Principien“ auch den „Antrieben und Neigungen“ entgegengesetzt werden. Siehe Jachmann 1804, 30 f. (zitiert durch Schilpp [1938] 21997, 27), wo er erzählt, wie zauberhaft die Vorlesungen über Moral bei Kant waren – allerdings erst ab Frühjahr 1783 bis 1793/94, als er ihn hörte und als Amanuensis diente. Hingegen bieten die Reflexionen insgesamt angesichts der unfesten Datierung keine so sichere Grundlage. Siehe Adickes (Hg.) 1911, AA 14: XLV.
Schlüsse zum Zweiten Teil
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Kants in den 1770er Jahren noch unzutreffend zu behaupten, dass sich die Grundlegung bereits in der Vorlesung „gegenwärtig ist“⁴². So erweist sich beispielsweise nach der Vertiefung in die Vorlesungsnachschrift, dass die spätere Möglichkeit des Autonomiebegriffs vom Kollegheft ausgehend in gutem Maße erst dann und deswegen nachvollziehbar ist und sich offenbart, (1) wenn die von Kant dargestellten Gedanken nach einem systematischen Versuch geordnet werden⁴³; und (2) weil uns die Grundlegung als Ende des Weges, an dem Kant das Autonomieprinzip formuliert, bekannt ist. Aber zur Zeit der Vorlesung konnte Kant selbst noch nicht wissen, wie er etwa ein Jahrzehnt später seine Moraltheorie formulieren würde. Es begann eine bewusste Reflexionsphase und damit unbewusst die Entstehungsgeschichte der Grundlegung. Die Untersuchung von 1762 erklärt, warum Kant Mitte der 1770er Jahre keine Schrift aus seinen Gedanken der Vorlesung entworfen hat: Zunächst musste die Grundlage der Metaphysik bzw. der „höheren Philosophie“ feststehen (UD, 275.02); erst dann konnte man darauf eine Moralphilosophie einrichten⁴⁴. Kant musste also vorab diese erste Aufgabe erledigen. Erst aus diesem Unternehmen entstand die Kritik der reinen Vernunft, die 1781 erschien. Nun ist im folgenden Teil die Frage zu behandeln, ob die Kritik der reinen Vernunft hinsichtlich der Sittlichkeit neue Elemente anführt und ob sie der in der Vorlesung vertretenen Position gegenüber treu bleibt, somit ob die Moralkonzeption Kants in der ersten „kritischen“ Schrift durch das Fassen der theoretischspekulativen Gründe der Philosophie linear zur Vorlesung bleibt oder ob sie einen davon abweichenden Standpunkt einnimmt.
Vergleiche Henrich 1965, 253: „dass das Ende eines Weges an seinem Anfang gegenwärtig ist“. Das habe ich in 5.1.3 versucht. UD, 275.02: „Die vorgelegte Frage ist von der Art, daß, wenn sie gehörig aufgelöset wird, die höhere Philosophie dadurch eine bestimmte Gestalt bekommen muß. Wenn die Methode fest steht, nach der die höchstmögliche Gewißheit in dieser Art der Erkenntniß kann erlangt werden, und die Natur dieser Überzeugung wohl eingesehen wird, so muß an statt des ewigen Unbestands der Meinungen und Schulsecten eine unwandelbare Vorschrift der Lehrart die denkende Köpfe zu einerlei Bemühungen vereinbaren; so wie Newtons Methode in der Naturwissenschaft die Ungebundenheit der physischen Hypothesen in ein sicheres Verfahren nach Erfahrung und Geometrie veränderte.Welche Lehrart wird aber diese Abhandlung selber haben sollen, in welcher der Metaphysik ihr wahrer Grad der Gewißheit sammt dem Wege, auf welchem man dazu gelangt, soll gewiesen werden? […] Ich werde daher sichere Erfahrungssätze und daraus gezogene unmittelbare Folgerungen den ganzen Inhalt meiner Abhandlung sein lassen. Ich werde mich weder auf die Lehren der Philosophen, deren Unsicherheit eben die Gelegenheit zu gegenwärtiger Aufgabe ist, noch auf Definitionen, die so oft trügen, verlassen. Die Methode, deren ich mich bediene, wird einfältig und behutsam sein. Einiges, welches man noch unsicher finden möchte, wird von der Art sein, daß es nur zur Erläuterung, nicht aber zum Beweise gebraucht wird“.
III Das Stadium der Methode: Kants Propädeutik von 1781
6 Der Ort der Moralität in der Kritik der reinen Vernunft (1781): die „dritte Antinomie“ und der „Kanon der reinen Vernunft“¹ 6.1 Einleitung Der gegenwärtigen Bearbeitung der KrV liegt die erste Auflage derselben von 1781 zugrunde: Einerseits soll auf diese Weise der festgesetzten Arbeitsmethode, die Materialien chronologisch zu betrachten, Rechnung getragen werden. Andererseits würde mich eine Studie über die Differenzen zwischen der ersten und zweiten Auflage der KrV von meinem Ziel ablenken. Trotzdem werden die Korrekturen Kants in der zweiten Auflage dann berücksichtigt, wenn diese den Text sprachlich klarer machen und verbessern. Sprachlich umstrittene bzw. philosophisch essentielle Änderungen, welche ein moralphilosophisches Ausreifen Kants implizieren (können), werden also übergangen: Entscheidend ist, die moralphilosophische Konzeption Kants im Jahr 1781 möglichst deutlich zu machen. Die Kritik der reinen Vernunft ist eine lange und sehr komplexe Schrift, deren Gebiet vornehmlich die reine, bloß formale Philosophie ist. Trotzdem wird die praktischen Philosophie bzw. der „praktische Gebrauch“ der reinen Vernunft erwogen, und zwar in der Einleitung², dann punktuell in der ersten Hälfte des
Für die Untersuchung des Werks verwende ich sowohl die Akademie-Ausgabe als auch die Edition von Jens Timmermann, da letztere die gewöhnliche Paginierung nach den Auflagen A und B sowie einen ausführlichen, mit Anmerkungen versehenen textkritischen Apparat wiedergibt: Kant, Immanuel, 1781/21787. Kritik der reinen Vernunft. Hg. von Jens Timmermann, mit einer Bibliographie von Heiner Klemme. Hamburg: Meiner, 1998 (abgekürzt: KrV). Obwohl meine Arbeit aus methodischen Gründen auf der 1781er Auflage (A) beruht, zitiere ich nach der zweiten Auflage in AA 03 statt nach der ersteren in AA 04, weil die benutzten elektronischen Hilfsmittel (Bonner Kant-Korpus und WordCruncher Software from Johnston and Company©) nicht über die ganze Originalpaginierung von der ersten Auflage verfügen, sondern nur bis zum Hauptstück „Von den Paralogismen der reinen Vernunft“, welches Kant für die zweite Auflage gänzlich neu geschrieben hat. [Zur Diskussion über die daraus neu entstandene philosophische Konzeption Kants in der zweiten Auflage, siehe Ludwig 2012, 155 – 194]. Hervorhebungen werden aus Timmermanns Edition entnommen. Beim Zitieren wird, wenn möglich, sowohl auf die Originalpaginierung der zweiten Auflage (AA 03) als auch auf A und B verwiesen: KrV, 000.00//A000/B000. Zitate aus der ersten Auflage werden mit der Bandnummer versehen: KrV, AA 04: 000.00//A000/B000. Wenn es hilfreich ist, gebe ich den Absatz wieder: Abs. 00. Die Nummerierung von Absätzen geschieht abschnittsweise. Siehe KrV, AA 04: 024.32 f./AA 03: 016.16//A014 f./B028 f. https://doi.org/10.1515/9783110584288-011
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6 Der Ort der Moralität in der Kritik der reinen Vernunft (1781)
Werkes (siehe „Transzendentale Elementarlehre“³, besonders „Dritter Widerstreit“⁴ und „Dritte Auflösung“⁵) und schließlich in der zweiten Hälfte des Werkes (siehe „Transzendentale Methodenlehre“, hierin mit besonderer Rücksicht auf den „Kanon der reinen Vernunft“⁶). Daher ist es erforderlich, sich hier mit den für das gegenwärtige Ziel relevanten Texten zu beschäftigen. Die Untersuchung derselben wird zeigen, dass Kant zwar in streng ethischer Hinsicht keine Fortschritte in Beziehung auf die Vorlesung zur Moralphilosophie macht: Er unternimmt keine bedeutsamen Verfeinerungen der im Moralkolleg dargelegten ethischen Definitionen und Klassifikationen. Doch in rein praktisch-metaphysischer Hinsicht geht er einen wichtigen Schritt weiter. Die „Transzendentale Dialektik“ entwickelt anhand der Auflösung der Antinomie der Freiheit, also durch den spekulativen Gebrauch der reinen Vernunft, eine Freiheitstheorie. Die Freiheit wird auch im „Kanon der reinen Vernunft“, aber durch den praktischen Gebrauch der reinen Vernunft begründet, und zwar auf der Konzeption einer Moraltheologie. Der analytische Teil wird zweierlei zeigen: Einerseits inwiefern Kants moralphilosophische Fortschritte in der KrV den Höhepunkt einer zurückgelegten Etappe erreichen: Relikte derselben sind u. a. – und am wichtigsten – die noch geltenden Rousseau′schen Begriffe eines allgemeinen Willens und Gesetzes und deren Erbe, das Münden des bereits in der Vorlesung zur Moralphilosophie auftauchenden Begriffs einer „moralischen Theologie“ in einer „Moraltheologie“; in dieser sind auch die im Moralkolleg ausgearbeiteten Begriffe des höchsten Guts und der Glückseligkeit ausgereift. Andererseits liefert Kant noch keine Systematisierung der Ethik, weil es nicht Aufgabe der KrV ist, die besonderen Systeme der Philosophie zu entfalten⁷ (siehe KrV, 549.13//A850 f./B878 f.): „Daher ist die Metaphysik der Sitten eigentlich die reine Moral, in welcher keine Anthropologie (keine empirische Bedingung) zum Grunde gelegt wird. […] [S]o fern aber reine Sittenlehre doch gleichwohl zu dem besonderen Stamme menschlicher und zwar philosophischer Erkenntniß aus reiner Vernunft gehört, so wollen wir ihr jene Benennung [sc. Metaphysik] erhalten, obgleich wir sie, als zu unserm Zwecke jetzt nicht gehörig, hier bei Seite setzen“ (KrV, 544.17//A841 f./B869 f.).
Insofern wird hier die These vertreten und begründet, dass die KrV kein eigener Ort der Ethik als Disziplin des richtigen freien Handelns ist, obwohl sie – wie sich
Siehe KrV, 045.21//A043 f./B061, 077.12//A054 f./B079, 246.31 ff.//A314 ff./B371 ff., 254.22 f.// A328 f./B384 f., 260.20//A337/B395. Siehe KrV, 308 ff.//A444 ff./B472 ff. Siehe KrV, 362.24 ff.//A532 ff/B560 ff. Siehe KrV, 517 ff.//A795 ff./B832 ff. Siehe Natorp 1913, AA 05: 491 ff.
6.1 Einleitung
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zeigen wird – für Kants metaphysischen Werdegang in praktischer Hinsicht von großer Signifikanz ist. Dass „[die] Sittlichkeit an sich selbst ein System aus [macht]“ (KrV, 526//A811/B839), wird von Kant mehrmals⁸ behauptet. Aber erstmals 1784/85 wird Kant ein „System der Sitten“ (GMS, 404) aufbauen und hiermit eine neue Phase eröffnen.
6.1.1 Der Ort der Moralität in der Kritik der reinen Vernunft Der erste, umfangreichste Hauptteil des Werkes, die „Transzendentale Elementarlehre“, hat die Methode ⁹ der Metaphysik festzusetzen, nach der diese allein fortschreiten kann. In Kants Worten hat sie „den Bauzeug überschlagen …“ und bestimmt, zu welchem Gebäude[¹⁰], zu welcher Höhe und Festigkeit er zulange“ (KrV, 465.04//A707/B735): Sie definiert nur die Elemente, mit denen der Mensch rechnet und auf die er sich begrenzen soll, wenn er mit Gewissheit zu Erkenntnissen a priori gelangen will. Diese sind einerseits die Sinnlichkeit und die Formen a priori der sinnlichen Anschauung, mit denen sich die „Transzendentale Ästhetik“ beschäftigt, und andererseits die Begriffe und Regeln a priori des reinen Verstandes, die im ersten Teil der „Transzendentalen Logik“, nämlich der „Transzendentalen Analytik“ dargelegt werden. Die in der Ästhetik ergründete und festgesetzte Rolle der Sinnlichkeit als einer der Grundpfeiler des menschlichen Erkenntnisvermögens macht die sogenannte „kopernikanische Wende“ aus: Dem Menschen ist, seiner Natur gemäß, einzig und allein eine sinnliche, aber keine intellektuelle Anschauung möglich.Von den Gegenständen der Welt kann er nicht erkennen, was sie an sich sind, sondern nur das, was er durch seine Sinnlichkeit wahrnimmt und durch seine Erkenntnisstrukturen formt. Somit bleibt eigentlich kein Platz für die Ontologie übrig. Die reine Erkenntnis a priori ist also bloß auf die reinen Begriffe und Grundsätze des Verstandes beschränkt. Diese
Siehe KrV, 542.03//A838/B866, 543.18 f.//A840 f./B868 f., 549.13//A850 f./B878 f. Siehe Natorp 1913, AA 05: 494. Kant verwendet häufig die Metapher eines „Gebäudes“ in Bezug auf den Bau der reinen Philosophie sowohl in der KrV (z. B. siehe KrV, 031.16//A003/B007, 249.20//A319/B376, 329.21// A474/B502, 483.31//A738/B766) als auch in früheren Schriften (siehe NEV, AA 02: 310.35): Genau wie der Architekt sich zum Aufbau eines Gebäudes zuerst um die Materialien, die allgemeine Anordnung und die Grundmauern und -pfeiler kümmern muss, so muss auch der Philosoph eine „Kritik“ der Vernunft als „Organs“ (KrV, 022.15//BXXXVI) üben, die ihm erlaubt, diese – ihre Quellen und Grenzen (die Natur der menschlichen Sinnlichkeit und die Formen der sinnlichen Anschauung sowie die Begriffe und Prinzipien) – gründlich zu kennen, und somit eine Methode zu entwickeln, anhand deren letztlich der Bau eines sicheren, d. i. wissenschaftlichen Systems möglich ist.
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6 Der Ort der Moralität in der Kritik der reinen Vernunft (1781)
Festsetzung der apriorischen Elemente des Verstandes in der „Analytik“ liefert einen auf der „a l l g e m e i n e [n], aber r e i n e [n] L o g i k “ (KrV, 076.14//A053/ B077) fußenden Kanon (d. i. die Gesamtheit der Grundsätze für den richtigen Gebrauch des Verstandes). „Ästhetik“ und „Analytik“ legen also die Grenzen fest, an die sich die reine und spekulative Vernunft halten muss, um die metaphysische Aufgabe im engen Sinne (eine „Metaphysik der Natur“ [KrV, 544.10//A841/B869]) richtig durchzuführen, nämlich: Die Erkenntnis „aus lauter reinen Begriffen […] zu erweitern und zu vermehren“ (KrV, 013.27//AXX). Der Tradition folgend¹¹ konzentriert sich die zweite Abteilung der „Transzendentalen Elementarlehre“, nämlich die „Transzendentale Dialektik“ auf die drei Ideen, die „alles Interesse“ (KrV, 522.30//A804/B832) der reinen Vernunft darstellen: das Ich („das denkende Subject“ [KrV, 258.15//A334/B391]) bzw. die Unsterblichkeit der Seele, die Welt („der Inbegriff aller Erscheinungen“ [KrV, 258.15//A334/B391]), darunter auch die „Freiheit“ (KrV, 518.23//A797 f./B825 f.), und Gott („das Ding, welches die oberste Bedingung der Möglichkeit von allem, was gedacht werden kann, enthält (das Wesen aller Wesen)“ [KrV, 258.17//A334/ B391]). Diese drei sind die „Aufgaben, deren Auflösung ihren [sc. der reinen Vernunft] letzten Zweck ausmach[en]“ (KrV, 518.23//A797 f./B825 f.)¹². Dabei wird aber die reine Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauch dialektisch¹³, indem sie auf der Suche nach einem möglichst einheitlichen Verständnis dieser Ideen und anhand der bloß formalen Logik ungültige Schlüsse zieht (siehe KrV, 081.12//
Siehe beispielsweise Baumgartens Metaphysica (http://www.korpora.org/Kant/agb-metaphysica/synopsis.html), die in vier Hauptteile gegliedert ist: „Ontologia“, „Cosmologia“, „Psychologia“ („empirica“ sowie „rationalis“) und „Theologia naturalis“. Siehe KrV, 031.06//B007 („unvermeidlichen Aufgaben“), KrV, 260 Fn.//A337/B395 Fn., A797 f./ B825 f. („Die höchste Zwecke“; „Die Endabsicht, worauf die Spekulation der Vernunft im transzendentalen Gebrauche zuletzt hinausläuft“), KrV, 518.29//A799/B827 („diese drei Kardinalsätze“), KrV, 520.17//A800/B828 („Die ganze Zurüstung also der Vernunft, in der Bearbeitung, die man reine Philosophie nennen kann, ist in der Tat nur auf die drei gedachten Probleme gerichtet“), siehe KrV, 522.30//A804 ff./B832 ff. Die Vernunft wird zwar in Hinblick auf die drei Ideen von der Freiheit, Gott und der Unsterblichkeit (bzw. einer künftigen Welt) dialektisch; aber diese machen nicht die Fragen aus, die die reine Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauch „belästigen“, die sie weder „beantworten“ noch „abweisen“ kann (KrV, 007.03//AVII). Denn tatsächlich werden die vier Antinomien im theoretischen Bereich aufgelöst (siehe KrV, 354 ff.//A517 ff./B545 ff.) und die Fragen nach den drei Ideen finden im praktischen Bereich eine Antwort (siehe KrV, 523//A805/B833, 525//A808 f./ B836 f.; vergleiche Brandt 2002, 132): Die Antwort auf die erste Frage ist der erste Teil der KrV (siehe KrV, 523.01//A805/B833); die zweite Frage bekommt eine direkte Antwort mit der Formel: „Thue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein“ und die dritte Frage wird im Folgenden gemäß einer Analogie (KrV, 525.12//A808 f./B836 f.) beantwortet und durch die Entwicklung einer „Moraltheologie“ abgehandelt.
6.1 Einleitung
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A061/B086). Hierin sollen die Untersuchungen also zur abgesicherten Entwicklung der Psychologie, der Kosmologie und der Theologie beitragen. Die KrV ist also für die Moralphilosophie ein Wegweiser, da Kant erstmals in der „Transzendentalen Dialektik“ seine metaphysische Konzeption der Freiheit bzw. seine Freiheitstheorie systematisch darlegt. Die „Transzendentale Methodenlehre“, der zweite Hauptteil der Kritik der reinen Vernunft, enthält nur vier Hauptstücke, wo Kant die Gründe der im ersten Teil gefolgerten Maximen zur Festsetzung der Methode der Metaphysik darstellt: (1) „Die Disziplin der reinen Vernunft“ (466 ff.//A708 ff./B736 ff.) ist das Negative der „Unterweisung“ (siehe KrV, 467.05//A709 f./B737 f. u. Fn.) und wird „ihren Hang [sc. der Vernunft] zur Erweiterung, über die Grenze möglicher Erfahrung, bändig[en], und sie von Ausschweifung und Irrtum abhalt[en]“ (KrV, 467.25//A711/B739). So richtet sich die Disziplin „bloß auf die Methode der Erkenntnis aus reiner Vernunft“ (KrV, 468.13//A712/B740). (2) „Der Kanon der reinen Vernunft“ (KrV, 517 ff.//A795 ff./B823 ff.) betrachtet im ersten Hauptteil der Elementarlehre die drei zugrunde liegenden Ideen von der Unsterblichkeit der Seele, von der Freiheit und von Gott, jetzt aber aus der Perspektive der reinen Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch. Denn dem bloß spekulativen Gebrauch, der die Vernunft zu dialektischen Schlüssen führt, gelingt es zwar hierin das Vernünftelnde zu zeigen und eine Auflösung anzubieten. Aber er kann zu dem praktischen Interesse der Vernunft am ganzen Aufbau des Gebäudes nichts sagen. Also werden nun diese grundlegenden Ideen anhand der mit ihnen verbundenen Fragen nach dem Sollen und der Hoffnung, mithin mit der Zielrichtung auf den Endzweck hin erwogen. Dies macht die eminent praktische Perspektive der KrV aus. Insofern ist das Kanonkapitel ein entscheidender Ort der Kantischen Moralphilosophie. (3) „Die Architektonik der reinen Vernunft“ (KrV, 538.17 ff.A832 ff./B860 ff.) betrifft die „Systeme […] und sie gehört also notwendig zur Methodenlehre“ (KrV, 538.20//A832/B860)¹⁴: Die Vernunft ordnet ihre „gemeine Erkenntnis“ (KrV, 538.20//A832/B860) nach bestimmten Ordnungsprinzipien, sodass diese an Sinn und Gewissheit gewinnen und wissenschaftliche Erkenntnisse werden, d. h. Systeme bilden. Aufgabe der KrV ist also, nicht die Erkenntnissysteme als vollendete Wissenschaften zu bilden, sondern bloß die gemeinsame Methode der „philosophischen Erkenntnis“ (KrV, 542.03//A838/ DWDS: „System. (hierarchisch strukturierte) Gesamtheit von Aussagen, die eine Einheit bildet und ein wissenschaftliches Schema, ein Lehrgebäude darstellen kann“. „Methode. System von Regeln, das dazu geeignet ist, planmäßig wissenschaftliche Erkenntnisse zu erlangen oder darzustellen oder die praktische Tätigkeit rationell zu organisieren, planmäßiges Verfahren“. (In: www.dwds.de, am 25. 8. 2013).
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B866) darzustellen, sofern sie „Vernunfterkenntnis […] aus Prinzipien“ ist (siehe KrV, 540.07 ff.//A835 ff./B863 ff., Abs. 5 – 7):¹⁵ „Denn sie [sc. die Metaphysik] betrachtet die Vernunft nach ihren Elementen und obersten Maximen, die selbst die M ö g l i c h k e i t einiger Wissenschaften, und dem G e b r a u c h e aller, zum Grunde liegen müssen“ (KrV, 549.27//A851/B879). (4) „Die Geschichte der reinen Vernunft“ (KrV, 550ff.//A852ff./B880ff.) erwähnt nur die wesentlichen Positionen der Metaphysik in der Philosophiegeschichte, welche fälschlicherweise nicht mit dem Umriss und der Entfaltung ihrer Methode anfingen (siehe KrV, 550.05//A852/B880), sondern sich mit ihr als einem Erkenntnissystem und ohne alle Kritik unserer Vermögen beschäftigten. Mit Ausnahme des Kanonkapitels sind also die anderen drei Kapitel der Methodenlehre von großer Hilfe, um die Aufgabe und den Bau der KrV zu verstehen. Trotzdem ist der Platz der Methodenlehre der zweite Hauptteil des Werkes, und zwar deswegen, weil sie auch auf die Frage nach dem Endzweck alles Erkenntnisinteresses unserer Vernunft abzielt. Und um diese Frage richtig zu beantworten, bedarf die Vernunft der im ersten Hauptteil entwickelten Methode.
6.1.2 Debatte und Ausgangspunkt Zur Ausarbeitung dieses Kapitels wurden mehrere Materialien berücksichtigt. Trotzdem ist das Werk von Dieter Schönecker Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit. Eine entwicklungsgeschichtliche Studie (2005) die einzige der jüngeren Arbeiten, die eine ähnliche Methode wie die meinige anwendet: Er beschäftigt sich mit dem Wortlaut und versucht, diesen durch eine entwicklungsgeschichtliche Studie zu erklären. Aufgrund der Schwierigkeit meiner Aufgabe im gegenwärtigen Kapitel und der großen Hilfe, die Schöneckers Studie bedeutet hat, wird diese die wesentliche Grundlage für meine Analyse sein. Zuerst werde ich skizzenhaft Schöneckers Thesen nennen, seine Begründung darstellen und auf die wichtigsten Gründe hinweisen, warum ich seiner Auslegung nicht zustimmen kann.
Von einer künftig zu liefernden Metaphysik der Natur und Metaphysik der Sitten spricht Kant bereits in der Vorrede zur ersten Auflage (KrV, AXXI) und auch in alten Briefen (z. B. siehe Br, AA10: 056 [an J. H. Lambert, 31.12.1765], 145 [an M. Herz, Ende 1773]). Dazu siehe oben 5.2.2 meine Fn. zu den Briefen, wo der Vorsatz Kants, eine Metaphysik der Sitten (o. Ä.) zu liefern, angesprochen wird.
6.1 Einleitung
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Schöneckers Studie zeichnet sich durch den Versuch aus, die Begriffe der „transzendentalen“ und „praktischen Freiheit“ in der KrV zu erläutern. Der Umstand aber, dass der Autor sich vornehmlich auf die kommentarische Interpretation einer sehr begrenzten, von ihm von vornherein genannte „Problempassage“ der KrV (siehe KrV, 521.03//A801/B829, Abs. 8–522.14//A804/B832, Abs. 9) beschränkt, wirkt sich negativ auf seine entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen und philologischen Analysen aus. Denn dies führt ihn m. E. dazu, problematische oder falsche Bedingungen anzunehmen, eine verfälschende Lektüre der KrV anzufertigen, und dann fälschlicherweise zu schließen, Kant vertrete in der „Dialektik“ und dem „Kanon“ der KrV jeweils zwei einander widersprechende Freiheitstheorien und daher sei es nicht möglich, eine befriedigende Erklärung für die erwähnte, für kontrovers gehaltene Passage zu finden. Zur Realisierung seiner Aufgabe beschreibt Schönecker zunächst zusammenfassend die Freiheitstheorie in der „Dialektik“ und im „Kanon“; dann führt er eine entwicklungsgeschichtliche Studie durch, die ihm Belege für seine anfängliche Auslegung von zwei sich widersprechenden Freiheitstheorien liefert. Für die entwicklungsgeschichtliche Studie bedient sich Schönecker der von Pölitz 1821 herausgegebenen Nachschrift Metaphysik L1 aus den späten 1770er Jahren, der Nachschrift Metaphysik Mrongovius (1782/83), der Recenzion von Schulz’s Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre (1783), der GMS und der 1817 auch von Pölitz veröffentlichten Vorlesung Philosophische Religionslehre (1784/85). Anhand deren Analyse erweise sich, Kant verwende „theoretisch“ und „praktisch“ nicht nur als Attribute für den Freiheitsbegriff, sondern er wende sie auch auf die Absicht an, in der dieser Begriff betrachtet wurde, nämlich den „Theoriekontext“ oder „Praxiskontext“. Auf diese Weise gelingt es Schönecker, durch eine detaillierte philologische und begriffliche Analyse der Texte die überwiegende Dunkelheit derselben zu erhellen. Gestützt auf diese zweifache Bedeutung einer „transzendentalen“ und „praktischen Freiheit“, versucht Schönecker Kants Freiheitstheorie um 1781 zu entwickeln. Die Ergebnisse aber seien nicht imstande, die vorgestellte Unstimmigkeit zwischen dem Dialektik- und dem Kanonansatz aufzuheben: Im Rahmen der „Dialektik“ stellen die Leser_innen fest: (1.) dass die Freiheit bloß eine „reine transzendentale Idee“ sei, die durch Erfahrung weder erweislich noch erkennbar sei, (2.) dass „auf diese transzendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben gründe“, und (3.) dass „die Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen würde“. Angesichts dessen kommt Schönecker zu dem Schluss, die Begriffe der praktischen und der transzendentalen Freiheit seien in der „Dialektik“ identisch: Es handle sich um ein und dieselbe Freiheit, welche aber aus zwei verschiedenen Perspektiven, und zwar der theoretischen und der praktischen erwogen werde; daher kann sie auch
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„transzendental-praktische Freiheit (TPF)“¹⁶ genannt werden. Die transzendentale Freiheit sei ein anspruchsvoller, weil nicht beweisbarer Begriff der Freiheit, während die praktische Freiheit einen bescheidenen, „für die Moralität hinreichenden“ Freiheitsbegriff ermöglichen würde, welcher die transzendentale Freiheit für bewiesen hielte: Wir sollen so handeln, als ob wir frei wären. Daher wird diese von Schönecker „als-ob-praktische Freiheit (APF)“¹⁷ genannt. Beide würden sich begrifflich aber nicht unterscheiden. TPF stelle den Freiheitsbegriff im „Theoriekontext“¹⁸ dar, während APF denselben Begriff transzendentaler Freiheit im „Praxiskontext“¹⁹ betrachte. Dagegen stelle Kant in der „Problempassage“ im Rahmen des „Kanons“ einen „grundverschiedenen“ Begriff praktischer Freiheit vor. Schönecker sieht zwar auch die Interpretationsmöglichkeit, dass die praktische Freiheit im „Kanon“ als erfahrbare das empirische Phänomen der intelligiblen, d. i. „transzendental-praktischen Freiheit“²⁰ sei. Aber auf Basis der Ergebnisse seiner entwicklungsgeschichtlichen Studie und des Vergleichs mit der Metaphysik L1 sowie mit der Kritik der praktischen Vernunft schließt er²¹, dass der Freiheitsbegriff im praktischen Verstande im „Kanon“ vom transzendentalen Freiheitsbegriff (und also auch von APF) „strikt unterschieden“²² sei, daher könne jener nicht das Phänomen von diesem sein. Der Begriff praktischer Freiheit im „Kanon“ sei „als eine Form von Naturkausalität“ durch Erfahrung beweisbar und erkennbar und für die Moralität hinreichend. Deswegen sollte oder könnte dieser Begriff auch „naturalisierte Freiheit“²³ genannt werden. Trotzdem gelinge Kant die im „Kanon“ angestrebte Einschränkung auf den Begriff „praktischer Freiheit“ nicht: Die transzendental-praktische Freiheit sei diejenige, die tatsächlich im Schönecker 2005, 12 ff., 160. Schönecker 2005, 19 f. Schönecker 2005, 20. Schönecker 2005, 20. Schönecker 2005, 93. Hier begeht Schönecker eine methodische Inkonsequenz: Er vertritt die gemäßigte „Patchwork-These“, laut der Kant für die Fassung der KrV Materialien benutzt hat, die er in den 1770er Jahren niedergeschrieben hat. Dies solle erklären, dass der Dialektik- nicht mit dem Kanonansatz der KrV 1781 zusammenstimmt. Damit nimmt Schönecker eine konzeptionelle Entwicklung vom Kant der 1770er zum Kant der 1780er Jahre an. Jedoch greift er auf zeitlich, inhaltlich und qualitativ disparate (Hand‐)Schriften zurück, wie es die Vorlesungsnachschriften aus den 1770er Jahren und die KpV von 1788 sind, um seine These zur KrV von 1781 zu belegen. Schönecker 2005, 105. Schönecker stützt sich darauf, dass der Begriff „psychologische Freiheit“ in der KpV sich „in wesentlichen Zügen“ mit dem naturalisierten Begriff praktischer Freiheit im „Kanon“ decke, aber die psychologische Freiheit in der KpV vom transzendentalen Freiheitsbegriff strikt unterschieden sei. Schönecker 2005, IX, 19 ff., 78 ff. Dabei führt Schönecker eine in der Forschung verbreitete Redeweise an, siehe Schönecker 2005, 94 ff.
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zweiten und dritten Abschnitt des Kapitels, obwohl implizit, ins Spiel komme. All dies erkläre die überwiegende Dunkelheit der Freiheitstheorie (wenn nicht im Plural: Freiheitstheorien²⁴) in der KrV. Schließlich bekräftigt Schönecker seine Auslegung anhand einer gemäßigten „Patchwork-These“²⁵, welche sich auf seine Analyse der Nachschrift Metaphysik L1 stützt und laut derer der „Kanon“ auf eine ältere, nämlich in den 1770er Jahren entwickelte Freiheitskonzeption Kants zurückgehe. Diese skizzierte Auffassung von zwei unverträglichen, weil auf zwei widersprechenden Begriffen der praktischen Freiheit beruhenden Freiheitstheorien halte ich aus mehreren Gründen für abwegig. Die Thesen bzw. Verfahrensweisen, denen ich mit meiner Studie entgegentrete, sind u. a.: (1) In der „Dialektik“ identifiziere sich der Begriff der transzendentalen mit dem der praktischen Freiheit. – Dagegen werde ich vertreten, dass die transzendentale Freiheit nur eine Idee ist (siehe KrV, 363.11– 12//A533/B561), während die praktische Freiheit die „Bestimmung des Willens“ (KrV, 364.03//A534/ B562, 521.35//A803/B831) bzw. den „Gebrauch der Freiheit“ betrifft (KrV, 524.10//A807/B835, Abs. 6, A810/B838, Abs. 11). (2) Der Freiheitsbegriff in der von Schönecker genannten Problempassage des „Kanons“ (KrV, 521.03//A801/B829, Abs. 8–522.14//A804/B832, Abs. 9) sei ein weiterer, welcher angeblich auf „pflichtmäßige Handlungen“ eingehe, und nach dem die Handlungen sowohl aus pragmatischen als auch aus moralischen Prinzipien möglich seien; das sei ja möglich, weil die Vernunft (und ihre Freiheit) im „Kanon“ als mögliche Natur diskutiert werde: „Ob sie […] nicht wiederum Natur sein möge“ (KrV, 521.26//A803/B831, Abs. 9). Daraus schließt Schönecker, dass praktische Freiheit – weil „durch Erfahrung erkennbar“ (KrV, 521.26//A803/B831, Abs. 9) – als Naturursache²⁶, mithin als „naturalisiert“ verstanden und bezeichnet werden könne²⁷. Kants „nicht aufzulösende Inkonsistenz“ bestehe aber darin, dass der im Folgenden geltende Freiheitsbegriff der transzendental-praktische ist. – Diese Interpreta-
Siehe Schönecker 2005, 1. Schönecker 2005, 98 ff. Diese Auslegung widerspricht Kants Gedanken, weil dann nicht von Freiheit gesprochen werden könnte. Schönecker übersieht, dass Kant in der „Dialektik“ nach dem Untertitel „Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit, in Vereinigung mit dem allgemeinen Gesetze der Naturnotwendigkeit“ (KrV, 366 ff.//A538 ff./B566 ff.) die Lehre vom empirischen und intelligiblen Charakter festlegt. Ob diese Lehre richtig ist oder nicht, ist eine ganz andere Frage. Obwohl er dann diese These des naturalisierten Freiheitsbegriffs nur für die „Problempassage“ vertritt: Im ganzen Kanonkapitel komme die Freiheit implizit als transzendental-praktische Freiheit ins Spiel (siehe Schönecker 2005, 148 ff.).
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tion der praktischen Freiheit in der auf diese Weise isolierten „Problempassage“ steht meiner Lesart nach aber zum darauf folgenden Satz aus der „Dialektik“ (!) im Widerspruch²⁸: „Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung als eine von den Naturursachen, nämlich eine Causalität der Vernunft in Bestimmung des Willens, indessen daß die transscendentale Freiheit eine Unabhängigkeit dieser Vernunft selbst (in Ansehung ihrer Causalität, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen) von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt fordert und so fern dem Naturgesetze […] zuwider zu sein scheint und also ein Problem bleibt“ (KrV, 521.33 f.//A803/B831).²⁹
Den Wortlaut „als eine von den Naturursachen“ (aus der Kanonpassage) verstehe ich als eine zur Physik analoge Erläuterung Kants (siehe KrV, 366 ff.//A538 ff./ B566 ff.). Denn eine Naturursache ist der Freiheit entgegengesetzt und m. E. darf Kant ein solcher flagranter Widerspruch (die praktische Freiheit für eine Naturursache zu halten) nicht unterstellt werden. Entgegen Schöneckers Lektüre verstehe ich, dass mit dem „nämlich“ „die praktische Freiheit“ vervollständigt wird. Bei der transzendentalen Freiheit liegt der entscheidende Faktor in der Unabhängigkeit der Vernunft als Vermögen, eine Reihe von selbst anzufangen³⁰. Auslöser der vermeintlichen Inkonsistenz ist u. a., dass Schönecker die Passage zur freien Willkür im „Kanon“ von ihrem unmittelbaren und allgemeinen Kontext (jeweils des „Kanons“ und der „Dialektik“) vollkommen trennt. (3) Die nicht rigorose Verwendung der Begrifflichkeit: (a) Schönecker stützt sich bei seiner Ablehnung eines naturalisierten Freiheitsbegriffs im „Kanon“ u. a. darauf, dass diese Freiheit sich sowohl nach „hypothetischen“ als auch „kategorischen Imperativen“ richte, wodurch sowohl „pflichtmäßige“ als auch „aus Pflicht“ geschehende Handlungen durchgeführt werden. Diese Zurückweisung kann aber nicht stimmen, nicht nur weil die Distinktion „pflichtmäßig – aus Pflicht“ hier keine Rolle spielt (Kant macht sie erst in der GMS [397– Man muss diesen Satz aber vorsichtig lesen, da Kant hier nicht die transzendentale Freiheit definiert, sondern betont, dass sie Unabhängigkeit „fordert“. Von hier an werde ich mich auf diese, von Schönecker sogenannte „Problempassage“ als die „Passage zur freien Willkür“ beziehen (KrV, 521.03//A801/B829 – 522.14/A804/B832). Willaschek 1992, 308 Fn. 1 (zitiert durch Schönecker 2005, 81) liest: „als eine [Freiheit] von den Naturursachen“. Dies bekräftigt meine Lesart: Es gibt zweierlei Freiheit von den Naturursachen: (a) Bei der transzendentalen Freiheit impliziert es, erster Anfang von meinen Handlungen zu sein (Zurechenbarkeit); (b) bei der praktischen Freiheit wird hingegen das Gewicht darauf gelegt, dass entsprechend meiner vernünftigen, bestimmbaren Natur eine moralische Willensbestimmung stattfindet (Zwecke der Vernunft werden den „von den Sinnen empfohlenen Zwecke[n]“ entgegengesetzt [KrV, 520.09//A800/B828]).
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399]³¹); sondern es wird sich zeigen, dass die „hypothetischen Imperative“ (welche in der KrV nur als „pragmatische Gesetze“³² [KrV, 520.08// A800/B828] vorkommen [!]) einerseits als gerades Gegenspiel der „reinen praktischen Gesetze“ (KrV, 520.08//A800/B828), andererseits als Klugheitsregeln herangezogen werden, anhand derer die Glückseligkeit (als Bestandteil des höchsten Guts) erreicht werden kann. Die pragmatischen Regeln sind also nicht das, was durch moralische Freiheit bzw. „freie Willkür“ im strengen Sinne möglich ist³³. Deswegen betont Kant, dass „moralische Gesetze allein zum praktischen Gebrauch der reinen Vernunft [gehören] und einen Kanon [erlauben]“ (KrV, 520.15//A800/B828). (b) Ebenso spricht Schönecker bei seiner mehrdeutigen Interpretation des „Praktischen“ vom praktischen Vernunftgebrauch als „principium diiudicationis“ und „principium executionis“³⁴. Aber Kant greift auf das von ihm im Moralkolleg eingeführte, ausgearbeitete Binom vom „principium diiudicationis“ und „principium executionis“ nicht zurück. Höchstens spricht er von „Beurteilung der Sittlichkeit“ (KrV, 527.18//A812/B840) und „Ausübung“ (KrV, 527.29//A813/B841), aber nicht vom „Prinzip“, noch weniger vom „moralischen Prinzip der Beurteilung“ und „der Ausübung“ (bzw. „principium diiudicationis“ und „principium executionis“). Schöneckers Hervorhebungen der auf den ersten Blick auftretenden Unstimmigkeiten zwischen „Dialektik“ und „Kanon“ sind völlig gerechtfertigt und hilfreich: Kants Stellungnahme 1781 zur Freiheit ist wegen solcher scheinbaren Wenn Kant von Handlungen spricht, die „den sittlichen Vorschriften gemäß“ (KrV, 524.21// A807/B835) sind, meint er nicht „pflichtmäßige“ Handlungen im Sinne der GMS, sondern eben moralische Handlungen. Das wird m. E. nicht nur aus dem Kontext dieser Passage, sondern auch anderer (z. B. KrV, 525.35 f.//A810/B838) deutlich. Diese Lesart wird plausibler durch meine Analyse der Passage zum „Praktischen“ (siehe KrV, 520.01//A800/B828 und siehe unten 6.2.2.1, 6.2.2.2). Außerdem sollte beachtet werden: Sogar nach der Definition in der GMS kann die pflichtmäßige Handlung auch eine Handlung aus Pflicht sein. Die Pointe liegt nur darin, dass „[uns] die eigentliche Moralität der Handlung (Verdienst und Schuld) […] gänzlich verborgen [bleibt]“ (KrV, 373 Fn.//A551/B579), weil sie auf die Gesinnung zurückführt, nach der die Handlung ausgeübt wird. Daher „[sei] es immer noch zweifelhaft, ob es [sc. die der Pflicht gemäße Handlung] eigentlich aus Pflicht geschehe und also einen moralischen Wert habe“ (GMS, 406). Kant greift nicht auf seinen plakativen Ausdruck „hypothetische Imperative“ zurück (siehe VMo, 007.33/009), sondern er benutzt in der KrV andere synonyme Redeweisen, z. B. „pragmatische Gesetze“ (KrV, 520.08//A800/B828) versus „objektive Gesetze der Freiheit“ (KrV, 521.22//A802/ B830). Vergleiche Schönecker 2005, 117. Siehe Schönecker 2005, 114.
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Diskordanzen überwiegend dunkel und schwierig.³⁵ Im Folgenden versuche ich, dem „Kanon“ einen Ausweg aus der Bedrängnis zu verschaffen³⁶, und zwar: Erstens, indem dem Wortlaut nach die Definitionen von transzendentaler und praktischer Freiheit in der „Dialektik“ und dem „Kanon“ verglichen werden³⁷, und zweitens, indem Kants in der „Dialektik“ dargelegte zweifache Betrachtung der Kausalität durch Freiheit einerseits als intelligibel – hinsichtlich des Menschen als Ding an sich (Spontaneität) – und andererseits als Gegenstand der „bloßen Apperzeption“ (KrV, 370.04//A546/B574) – hinsichtlich der Handlung als eine von uns „erzeugte“ (siehe KrV, 373.07//A550/B578) Erscheinung bzw. Begebenheit in der Sinnenwelt – herangezogen wird. Aus der Perspektive der praktischen Freiheit ist die „Vorschrift des Verhaltens“ (KrV, 521.31//A803/B831) relevant, denn da lautet die Frage: „Was soll ich thun?“ (KrV, 522//A805/B833). In Hinblick auf die transzendentale Freiheit ist dagegen für diese Frage kein Platz. Denn sie verhandelt nur die Möglichkeit, dass eine Handlung gleichzeitig nach zwei Arten von Kausalität, unter denen sie steht, aufklärbar ist, nämlich der Kausalität durch Freiheit und der Naturkausalität. Um meine Position zu entwickeln, werde ich die Analysen auf die m. E. entscheidendste Passage des „Kanons“ KrV, 520.01//A800/B828 fokussieren, wo Kant das „Praktische“ definiert: „Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist. Wenn die Bedingungen der Ausübung unserer freien Willkür aber empirisch sind, so kann die Vernunft dabei keinen anderen als regulativen Gebrauch haben und nur die Einheit empirischer Gesetze zu bewirken dienen; wie z. B. in der Lehre der Klugheit die Vereinigung aller Zwecke, die uns von unseren Neigungen aufgegeben sind, in den einigen, die Glückseligkeit und die Zusammenstimmung der
Bereits in seiner Einleitung kündigt Schönecker an, dass die Literatur zum Kanon nicht umfangreich ist: Die Autoren, die sich damit beschäftigen, lieferten keine detaillierte Analyse der „Problempassage“; und die, die auf das „Kanonproblem“ eingehen, erwähnten entweder nur den Begriff praktischer Freiheit – ohne ihn zu diskutieren –, oder sie ignorierten ihn. Und diejenigen, die die „Problempassage“ zwar erwähnen oder aus ihr sogar zitieren, machten aber keine Interpretationsvorschläge. – Hierin ist Schönecker nicht ganz gerecht, da Allison in seiner (von Schönecker übersehenen) Studie von 1983 Kant’s Transcendental Idealism (span. Üb. 1992, 470 ff., bes. 476 ff.) eine komparative Analyse der Freiheitsbegriffe in der „Dialektik“ und dem „Kanon“ anbietet. Bis ich die Studie Schöneckers gelesen hatte, habe ich auch hauptsächlich eine ähnliche Auffassung der Texte wie er vertreten. Nach der Untersuchung von Schöneckers Studie und gleichzeitigen in nochmaliger Betrachtung des Wortlauts in der KrV scheint es mir zu gelingen, eine Erklärung der mutmaßlichen Unstimmigkeiten anbieten zu können. Es gelte als vorhergehender Schritt meiner Auslegung: Die transzendentale Freiheit bezieht sich auf die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, d. h. erste Ursache seiner Handlungen zu sein; während die praktische Freiheit die Selbstbestimmung selbst angeht.
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Mittel, um dazu zu gelangen, das ganze Geschäfte der Vernunft ausmacht, die um deswillen keine andere als pragmatische Gesetze des freien Verhaltens zu Erreichung der uns von den Sinnen empfohlenen Zwecke und also keine reine Gesetze, völlig a priori bestimmt, liefern kann. Dagegen würden reine praktische Gesetze, deren Zweck durch die Vernunft völlig a priori gegeben ist, und die nicht empirisch bedingt, sondern schlechthin gebieten, Producte der reinen Vernunft sein. Dergleichen aber sind die moralischen Gesetze; mithin gehören diese allein zum praktischen Gebrauche der reinen Vernunft und erlauben einen Kanon“ (KrV, 520.01//A800/B828).
Die Erläuterung dieser Passage wird u. a. auf die Passage der „Dialektik“ zurückgreifen, die ich „Apperzeptionspassage“ nennen werde: „Der Mensch ist eine von den Erscheinungen der Sinnenwelt und in so fern auch eine der Naturursachen, deren Causalität unter empirischen Gesetzen stehen muß. Als eine solche muß er demnach auch einen empirischen Charakter haben, so wie alle andere Naturdinge. Wir bemerken denselben durch Kräfte und Vermögen, die er in seinen Wirkungen äußert. Bei der leblosen oder bloß thierisch belebten Natur finden wir keinen Grund, irgend ein Vermögen uns anders als bloß sinnlich bedingt zu denken. Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann, und ist sich selbst freilich eines Teils Phänomen, anderen Teils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibler Gegenstand, weil die Handlung desselben | gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann“ (KrV, 370.33 f.//A546 f./B574 f.).
Davon ausgehend werde ich Schönecker entgegen vertreten: – [6.2.2] Das „Praktische“ bedeutet im „Kanon“ das „Moralische“, was das Kanonkapitel mit einem eminent moralischen Charakter prägt. Die Rolle der „pragmatischen Gesetze“ im „Kanon“ ist also bloß abgrenzend. – [6.2.3] Kants Exklusion der transzendentalen (siehe 521.03//A801 f./B829 f., 522.10//A803/B831) und anscheinend³⁸ der praktischen Freiheit (siehe 522.06//A803/B831, 523.13//A805/B833) aus dem „Kanon“ ergibt sich daraus, dass Kants Absicht hier auf die „Moraltheologie“ (KrV, 421.01//A632/B660, 528.25//A814/B842) abzielt, welche die Hoffnung betrifft, dass das moralische Handeln und ein moralisch geführtes Leben nicht vergeblich sind, sondern zu einer moralisch besseren Welt beitragen werden. Hierbei bedeutet Kants Ansatz einer „Moraltheologie“ einen Fortschritt sowohl gegenüber der von Rousseau³⁹ vertretenen (jedoch von ihm selber nicht explizit so genannten) Vergleiche Schönecker 2005, 119. Siehe Rousseau [1762] 2012, Bd. 2, 125 ff. [Span. 407– 414, 416], wo der Genfer aus der zweckmäßigen Einheit und Ordnung der Natur auf einen Welturheber, eine höchste Intelligenz bzw. Gott schließt.
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„Physikotheologie“ als auch gegenüber sich selbst⁴⁰. Der Begriff einer Glückseligkeit, die nicht in dieser Welt zu erreichen ist, und derer wir uns durch unser moralisches Handeln würdig erweisen sollen (V-Mo, 020.08/21, 286.03/ 358), ist eine Idee, die Kant implizit in den Träumen ⁴¹ betrachtet, aber in der Vorlesung zur Moralphilosophie explizit vom Christentum entleiht (V-Mo, 020.01/21). „So muß Gott nothwendig die Menschen, deren Verhalten den moralischen Gesetzen gemäß ist, belohnen“ (V-Mo, 046.14/055). Mit dem Einführen des Gedankens einer „Moraltheologie“ in der KrV ersinnt Kant ein System, welches sich auf die apriorische und unumgängliche Notwendigkeit moralischer Gesetze gründet: Da diese als „Producte der reinen Vernunft“ (KrV, 520.13//A800/B828) nicht „leere Hirngespinste“ (KrV, 526.36//A811/ B839) und chimärisch, sondern „Prinzipien der M ö g l i c h k e i t d e r E r f a h r u n g “ (KrV, 524.20//A807/B835) sind, soll das sich nach ihnen richtende Handeln nicht vergeblich sein; das wäre aus der Perspektive einer reinen Vernunft absurd⁴². Das moralische Handeln muss sich zu Gunsten einer
Die Redeweise von einer „moralischen Theologie“ gegenüber einer „theologischen Moral“ findet sich bereits im Moralkolleg: „Dieses principium ist das theologische principium der moral, man hat also eine theologische moral, so wie man auch eine moralische Theologie hat. Dieses theologische principium ist aber auch irrig; denn der Unterscheid des sittlich Guten und Bösen besteht nicht im Verhältniß auf ein anderes Wesen, sondern das principium morale est intellectuale internum“ (V-Mo, 027.15/028). Siehe V-Mo, 061.06/075 f., 063.03/078. Die Suche mit elektronischen Hilfsmitteln zählt auch Passagen in den Reflexionen und anderen Handschriften, jedoch nicht in den veröffentlichten Schriften Kants: „Die moral-theologie erfodert allein einen bestimten Begrif eines höchsten Wesens; die naturtheologie nicht, macht aber das Daseyn intuitiv“ (5516 [φ1. M 335. E II 1563], AA 18: 205.05). „Eine […] Theologische moral ist nicht geziemend, weil daselbst die moral das Daseyn und den Willen Gottes zum principio (g der Sittlichkeit) macht; aber eine moralische theologie ist gut, weil die moral zum principio des Glaubens gemacht wird“ (Refl. 6046 [ψ? (χ?) M 353’.], AA 18: 433.02– 08). TG, 335.35 f.: „Denn es scheinen in diesem Falle die Unregelmäßigkeiten mehrentheils zu verschwinden, die sonst bei dem Widerspruch der moralischen und physischen Verhältnisse der Menschen hier auf der Erde so befremdlich in die Augen fallen. Alle Moralität der Handlungen kann nach der Ordnung der Natur niemals ihre vollständige Wirkung in dem leiblichen Leben des Menschen haben, wohl aber in der Geisterwelt nach pneumatischen Gesetzen. […] Denn weil das Sittliche der That den inneren Zustand des Geistes betrifft, so kann es auch natürlicher Weise nur in der unmittelbaren Gemeinschaft der Geister die der ganzen Moralität adäquate Wirkung nach sich ziehen“. Vorlesung über Metaphysik, AA 28: 320.10: „Nimmst du die moralischen Gesetze an, und handelst rechtschaffen; so hängst du eine Vorschrift nach, die dir keine Glückseligkeit erwerben kann, und die Tugend ist nur eine Chimäre; also verfällst du dem absurdum practicum und handelst als ein Thor“. (Den freundlichen Hinweis verdanke ich meinem Betreuer Werner Stark). Ebenso betont Rousseau im Emil: „Gibt es keine Gottheit, so kann man nur dem Bösen Vernunft
6.1 Einleitung
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vollkommeneren Welt auswirken. Daher verschafft die Moraltheologie die einzige vernünftige „Überzeugung vom Dasein eines höchsten Wesens“ (KrV, 421//A632/B660 Fn.), welche also nicht als ein Beweis Gottes gelten kann: Diese höchste Intelligenz verspricht uns die künftige Glückseligkeit.⁴³ Trotzdem wirkt sich dieses Heranreifen Kants nicht auf seine ethischen Gedanken aus: Weder die Klassifikation der Handlungsimperative, noch den Verbindlichkeitsbegriff, die Idee eines guten Willens oder die Unterscheidung objektiver Bewegungsgründe und subjektiver Triebfedern werden hier ausgearbeitet. Denn die KrV betrifft nicht die Systeme (u. a. der Ethik), sondern die Methode der Metaphysik, welche jenen Systemen zugrunde liegt. [6.2.4] Die Redeweise von „praktischer Freiheit“ im „Kanon“ betrifft den Gebrauch derselben zwar im weiten wie im engeren Sinne, aber letzterer macht die relevante Bedeutung derselben aus, indem die Moraltheologie, als Idee einer systematischen moralischen Einheit, sich auf die Moralität, somit den moralischen Gebrauch der Freiheit gründet. Die transzendentale Freiheit, als bloße Idee, fungiert als eine regulative Idee zur Erläuterung der nicht erfahrbaren Kausalität durch Freiheit (denn weder diese noch irgendeine Art der Kausalität überhaupt ist erfahrbar). Hingegen ist die praktische Freiheit eine konstitutive Idee, indem sie die Vernunfturheberschaft sowohl der moralischen Gesetze⁴⁴ als auch der sich nach ihnen richtenden Bestimmung des Willens und der daraus entstandenen, erfahrbaren Handlungen betrifft.
Diese hier vertretenen Hauptthesen sollen vornehmlich dem „Kanon“ entnommen und durch die „Dialektik“ bekräftigt werden. Damit werde ich der Grundthese Schöneckers entgegentreten, dass „Dialektik“ und „Kanon“ zwei unverträgliche und widersprechende Freiheitstheorien entfalten.
zugestehen; der Gute handelt dann aber wie ein Unvernünftiger“ (Rousseau [1762] 2012, Bd. 2, 161 [Span. 436]). Ebenso sprach bereits Rousseau im „Glaubensartikel des Savoyischen Vikars“ von der Würdigkeit der Glückseligkeit und der künftigen Glückseligkeit (siehe Rousseau [1762] 2012, Bd. 2, 140, 143 ff. [Span. 420, 422 ff.]). Diese werden als „Producte der Vernunft“ (KrV, 520.13//A800/B828) bezeichnet.
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6 Der Ort der Moralität in der Kritik der reinen Vernunft (1781)
6.2 Analytischer Teil 6.2.1 Passagen Der bisherigen Arbeitsmethode entsprechend werde ich mich in erster Linie auf die Untersuchung der dritten Antinomie⁴⁵ und des „Kanons der reinen Vernunft“⁴⁶ einschränken, wo Kant hauptsächlich auf Begriffe bzw. Ideen des späteren moralphilosophischen Systems eingeht.⁴⁷ Nun soll hier weder die Funktion dieser Passagen innerhalb der KrV erläutert, noch ein ordentlicher Textkommentar derselben angeboten werden.⁴⁸ Vielmehr soll beantwortet werden, ob Kant besonders im Hinblick auf die Begriffe des Willens (bzw. der Willkür), der Notwendigkeit (bzw. Verbindlichkeit, des Gesetzes, des Guten) und der Freiheit (bzw. der Kausalität und Imputabilität) eine wirkliche moralphilosophische Leistung vollbringt und welcher moralphilosophische Standpunkt Kant beizumessen ist.
6.2.2 Das Praktische: Der moralische Charakter des „Kanons“ 6.2.2.1 Das Mögliche durch pragmatische und moralische Gesetze? Es gibt zumindest zwei Lesarten der oben zitierten Passage zum „Praktischen“, KrV, 520.01//A800/B828. Nach der ersten Lesart wird der Begriff des „Praktischen“ im weiten Sinne verwendet, welcher das Pragmatische wie das „rein Praktische“ mit einschließt: Das „Praktische“ betrifft im Hinblick auf die „empirischen“ „Bedingungen der Ausübung unserer freien Willkür“ einen „regulativen Gebrauch der Vernunft“, durch welchen die Vernunft „keine andere als p r a g m a t i s c h e Gesetze des freien Verhaltens […] liefern kann“. Damit vermag sie, „Einheit empirischer Ge-
Siehe KrV, 308//A444/B472– 313//A451/B479; 362.25//A532/B560 – 377//A558/B586; 381.22 f.// A565 f./B593 f. Siehe KrV, 518.11– 522.14//A795/B823–A819/B847. Ich werde mich darauf mit folgenden Abkürzungen beziehen: „Dialektik“ und „Kanon“. Die Untersuchung des Kanons wird hauptsächlich auf die ersten beiden Abschnitte eingeschränkt, wo Kant jeweils die Problematik des Freiheitsbegriffs betrachtet (so auch Schönecker 2005, vi und 1) und eine hohe Anzahl moralphilosophischer Begriffe vorstellt. Der dritte Abschnitt wird außer Acht gelassen, weil er das Thema der Freiheit nicht berührt (so auch Schönecker 2005, 107). Ebenso werden Vorwort und Einleitung des Werkes sowie mehrere, für unser Ziel relevante Passagen aus der „Transzendentalen Elementarlehre“ insgesamt sowie aus der „Einleitung“ in die „Transzendentale Logik“ betrachtet. Beides gehört nicht zur gegenwärtigen Arbeit. – Dazu sind bereits aufschlussreiche Studien vorhanden, und a. siehe Brandt 2002, Höffe 2003, Mohr/Willaschek (Hg.) 1998, Schönecker 2005.
6.2 Analytischer Teil
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setze zu bewirken […], wie z. B. in der Lehre der Klugheit“ sowohl „die Vereinigung aller Zwecke […] in den einigen Zweck, die G l ü c k s e l i g k e i t “, als auch „die Zusammenstimmung der Mittel, um dazu zu gelangen“. Für diese Lesart spricht zweierlei: Einmal die Behauptung in der Passage zur freien Willkür: „Diejenige [sc. Willkür] aber, welche unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden, bestimmet werden kann, heißt die f r e i e W i l l k ü r (arbitrium liberum), und alles, was mit dieser, es sei als Grund oder Folge, zusammenhängt, wird P r a k t i s c h genannt. Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden. Denn, nicht bloß das, was reizt, d. i. die Sinne unmittelbar affiziert, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden“ (KrV, 521.10//A802/B830). „Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung“ (KrV, 521.14//A803/B831).
Zum anderen muss darauf hingewiesen werden: Das Moralische impliziert zwar das Praktische, aber das Praktische beschränkt sich nicht auf das Moralische, sondern dazu gehört auch das Pragmatische⁴⁹.
6.2.2.2 Einwand: Der moralische Charakter des „Kanons“ Gegen diese erste Lesart spricht:
Diese Distinktion vor Augen zu halten, ist wichtig, damit die Passage zur Willkür (sowie die Passage zum „Praktischen“) richtig interpretiert werden kann. Vergleiche Schönecker 2005, 114 f., wonach eine vierfache Mehrdeutigkeit des „Praktischen“ besteht, unter dem sowohl das Pragmatische als auch das Moralische möglich sein soll, denn: (a) ‚Praktisch’ ist im Allgemeinen alles, was mit Moralität und damit zusammenhängend mit Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zu tun hat; (b) ‚Praktisch’ bezieht sich auf die praktische Philosophie, mithin auf die Theorie rationalen Handelns (es betrifft also Handlungen sowohl nach hypothetischen als auch nach kategorischen Imperativen); (c) ‚Praktisch’ ist nur das Moralische; (d) ‚Praktisch’ bezieht sich auf den Vernunftgebrauch, welcher wiederum in das „principium diiudicationis“ und das „principium executionis“ zerfällt. Meines Erachtens decken sich diese Definitionen des Praktischen: Bei (a) und (b) ist das Praktische zweideutig, es wird gemeint sowohl das Moralische (das Handeln richtet sich bloß nach dem Sollen) als auch das Pragmatische (das Handeln hat die Glückseligkeit zum Zweck). Die Definitionen (c) und (d) beziehen sich bloß auf das Moralische, wobei (d) zum einen bloß die moralischen Handlungsregeln, zum anderen den Auslöser des moralischen Handelns angeht.
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Erstens, dass die Aufgabe des Praktischen lautet: „w a s z u t u n s e i , wenn der Wille frei, wenn ein Gott und eine künftige Welt ist“⁵⁰ (KrV, 520//A801/B829). Da mag „frei“ zwar im Sinne von „transzendental-praktisch frei“ (TPF) zu verstehen sein⁵¹: Theoretisch hieße das, unabhängig von allen bestimmenden Ursachen, ganz von selbst etwas anfangen zu können (so Schönecker). Aber bestimmend sind da das fragende „Was“ und der Charakter des Sollens in der Frage: Letzterer zielt einzig und allein auf die Moralität ab (KrV, 371.15//A547/B575), wobei das fragende „Was“ ausschließlich einen moralischen Inhalt sucht. Also bezieht sich das „Praktische“ im „Kanon“ überwiegend auf das „Moralische“⁵². Zweitens, wenn die angeführte Lektüre von Schönecker richtig wäre und TPF sowohl pragmatische als auch moralische Gesetze mit einschließen sollte, dann wären mehrere Ausdrücke im Zitat, die eine Abgrenzung vornehmen, sowie die Fortführung des Wortlauts unverständlich: (1) „aber“: „Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist. Wenn die Bedingungen der Ausübung unserer freien Willkür aber empirisch sind, […]“. Dieses „aber“ setzt hier eine Abgrenzung des Empirischen vom Moralischen fest: Die Vernunft hat bei der empirischen Bestimmung der „freien Willkür“ nur eine regulative Aufgabe zu erfüllen, welche Ordnung und Kohärenz („Vereinigung der Zwecke“ und „Einheit der Mittel“) herstellen soll. (2) „keinen“: „Wenn die Bedingungen der Ausübung unserer freien Willkür aber empirisch sind, so kann die Vernunft keinen anderen als regulativen Gebrauch haben“. Der regulative Gebrauch steht dem „praktischen Gebrauch der reinen Vernunft“ entgegen, welcher „konstitutiv“ (KrV, 349.10//508 f./ 536 f.) ist. Die „reinen praktische Gesetze“ sind „Producte der reinen Vernunft“ (KrV, 520.13//A800/B828) und sofern daraus „den sittlichen Vorschriften gemäß“ (KrV, 524.21//A807/B835) moralische Handlungen entstehen, sollen diese auch als Produkte der Vernunft angesehen werden.
Wie im nächsten Abschnitt 6.2.3 zu sehen ist, sind die „drei Kardinalsätze“ darum Thema des „Kanons“, weil sie für die da aufzulösenden Hauptaufgaben entscheidend sind: „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ bzw. „Was ist zu tun, wenn der Wille frei, wenn ein Gott und eine künftige Welt ist“? Einerseits war die theoretische Frage nach der Freiheit in der „Dialektik“ abgehandelt und aufgelöst. Andererseits aber wird die Freiheit im „Kanon“ im Hinblick auf die zu wählenden Bestimmungsgründe unserer Handlungen erneut betrachtet, und zwar deswegen, weil es davon abhängt, ob wir das höchste Gut erreichen können. Dieses macht das Hauptinteresse des „Kanons“ aus. Siehe Schönecker 2005, 117 (134, 149). Vergleiche Schönecker 2005, 117 f. Für Schönecker schließt die Definition vom „Praktischen“ als „alles, was durch Freiheit möglich ist“, sowohl hypothetische als auch moralische Imperative mit ein.
6.2 Analytischer Teil
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(3) „allein“: „Dergleichen [sc. reine praktische Gesetze] aber sind die moralischen Gesetze, mithin gehören diese allein zum praktischen Gebrauch der reinen Vernunft, und erlauben einen Kanon“. Damit legt Kant fest, dass der „Kanon“ nur die reine Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch, mithin das Moralische betrifft. (4) Die gleich darauffolgenden Absätze setzen fort: „Die ganze Zurüstung also der Vernunft, in der Bearbeitung, die man reine Philosophie nennen kann, ist in der Tat nur auf die drei gedachten Probleme gerichtet. Diese selber aber haben wiederum ihre entferntere Absicht, nämlich w a s z u t h u n s e i , wenn der Wille frei, wenn ein Gott und eine künftige Welt ist. Da dieses nun unser Verhalten in Beziehung auf den höchsten Zweck betrifft, so ist die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur bei der Einrichtung unserer Vernunft eigentlich nur aufs Moralische gestellt. Es ist aber Behutsamkeit nöthig, um, da wir unser Augenmerk auf einen Gegenstand werfen, der der transscendentalen Philosophie fremd ist, nicht in Episoden auszuschweifen und die Einheit des Systems zu verletzen, andererseits auch, um, indem man von seinem neuen Stoffe zu wenig sagt, es an Deutlichkeit oder Überzeugung nicht fehlen zu lassen. Ich hoffe beides dadurch zu leisten, daß ich mich so nahe als möglich am Transscendentalen halte und das, was etwa hiebei psychologisch, d. i. empirisch, sein möchte, gänzlich bei Seite setze“ (KrV, 520.25//A801/B829).
Die „reine Philosophie“ ist „auf die drei gedachten Probleme gerichtet“ (KrV, 520.18//A800/B828) [welche „durch unsere Vernunft dringend empfohlen werden“ (KrV, 519.35//A799/B827)]; und diesen aber liegt das Moralische („was zu tun sei“) zugrunde, welches die Erreichung des höchsten Guts ermöglichen soll. Ebenso: Wenn die Frage im „Kanon“ „w a s z u t u n s e i , wenn der Wille frei“ eine Frage der reinen Philosophie sein soll, dann muss sie die praktische Freiheit als Ermöglichung durch transzendentale Freiheit (bzw. als Wirkung der transzendentalen Freiheit) betreffen und impliziert also die transzendentale Freiheit selbst (deren Idee, in der „Dialektik“, aus der zweifachen Perspektive des intelligiblen und empirischen Charakters als notwendig und kompatibel mit der Natur angegeben wurde, obwohl wir von ihr keine Anschauung haben). Dann kann die Frage so umformuliert werden: ‚Wie soll ich mich bestimmen, wenn ich absolut unabhängig von allen bestimmenden Ursachen bin und das Vermögen habe, ganz von selbst eine Reihe von Begebenheiten anzufangen?’ Der „Kanon“ sollte also auf das fragende „Was“ einen Inhalt als Antwort geben. Und das passiert tatsächlich im zweiten Abschnitt: „T h u e d a s , w o d u r c h d u w ü r d i g w i r s t , g l ü c k l i c h z u s e i n“ (KrV, 525.12//A808/B836).
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6 Der Ort der Moralität in der Kritik der reinen Vernunft (1781)
Diese Ergebnisse sprechen für eine zweite Lesart der Passage zum Praktischen (KrV, 520//A800/B828), nämlich die strenge These: Das Praktische beschränkt sich nur auf das Moralische.⁵³ Widersprechend mit diesem Einwand scheint allerdings zu sein, dass Kant vom „Kanon“ die „bloß praktisch[e]“ bzw. „moralische“ (KrV, 523.11//A805/B833) Frage („Was soll ich tun?“) ausschließt, weil sie zur Moral gehört und nicht Aufgabe der transzendentalen Philosophie sein kann (siehe KrV, 024.32//A014 f., 520.25//A801/B829 Fn., 523.11//A805/B833). Wie rechtfertigt sich dann die Behauptung, dass das Kanonkapitel sich durch einen eminent moralischen Charakter auszeichnet? Einerseits dadurch, dass die Erreichung des höchsten Guts (als harmonische Verbindung von Moralität und Glückseligkeit) die erhabenste Aufgabe der reinen Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch ist; also ist dieser höchste praktische Zweck ihre letzte Aufgabe. Andererseits, solange die Hoffnung auf Glückseligkeit sich zwar metaphysisch auf das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele (welche die Glückseligkeit ermöglichen sollen), aber allererst praktisch auf die ausgeübte Moralität gründen soll, so kann das Praktische in enger, d. i. moralischer Hinsicht vom „Kanon“ nicht ganz ausgeschlossen werden. Das erklärt, warum Kant die Aufgabe des Praktischen so formuliert: „w a s z u t u n s e i , wenn der Wille frei“. Letztlich: Aufgrund der bereits in der Einleitung des Werks festgelegten Exklusion der Moralphilosophie⁵⁴ aus der Transzendentalphilosophie ist also hier „Behutsamkeit nötig“: Kant versucht zur Aufklärung dieser Aufgabe des Praktischen (KrV, 519.34//A799/B827) sich möglichst „am Transzendentalen [zu⁵⁵] halte[n], und das, was etwa hiebei psychologisch, d. i. empirisch sein möchte, gänzlich bei Seite [zu⁵⁶] setze[n]“ (KrV, 520.30//A801/ B829). So soll es ihm gelingen, dass die Betrachtung von diesem Gegenstand, nämlich dem Moralischen, weder „ausschweift“, noch dass es ihr „an Deutlichkeit und Überzeugung“ fehlt⁵⁷.
Damit stimmt Bernd Ludwigs These überein, dass das Hauptstück des „Kanons“, welches Kant schon 1781 der spekulativen „Transzendentalphilosophie [für (ACGX)] fremd“ (KrV, 520.26// A801/B829) erklärt, nach 1786 „in der Dialektik einer Kritik der praktischen Vernunft [seine] gleichsam natürliche Heimat“ findet (siehe Ludwig 2012, Fn. 27 und 183). KrV, 024.32//A014.f.: „[…] obzwar die obersten Grundsätze der Moralität und die Grundbegriffe derselben Erkenntnisse a priori sind, so gehören sie doch nicht die Transscendental-Philosophie, weil die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen, der Willkür etc., die insgesamt empirischen Ursprungs sind, dabei vorausgesetzt werden müßten“. Ebenso siehe KrV, 520.31//A801/B829 Fn., 523.11//A805/B833. Zusatz ACGX. Zusatz ACGX. Ähnlich Schönecker 2005, 149: „Kant ‚schweift’ also nicht aus, er sagt von seinem ‚ Stoffe’ [sc. Moralität (ACGX)] aber auch nicht zu wenig“.
6.2 Analytischer Teil
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Immerhin: Wenn der „Kanon“ sich mit „dem Praktischen“ beschäftigen soll, da er einen „richtigen Gebrauch der reinen Vernunft“, nämlich „den praktischen Vernunftgebrauch“ (KrV, 518.09//A797/B825) betrifft; wenn aber das „bloß Praktisch[e]“ nicht zur Transzendentalphilosophie gehört (siehe KrV, 520.26//A801/ B829): Müsste „das Praktische“ im Kanonkapitel dann nicht eine Mehrdeutigkeit⁵⁸ bezeichnen, die etwas jenseits des bloß Moralischen meint? Abermals muss die Antwort nein lauten. Das Praktische bezieht sich im Rahmen seiner Bestimmung (siehe KrV, 520.01//A800/B828) immer auf das Moralische und somit auf die Freiheit: Denn das höchste Gut (hiermit die Glückseligkeit) ist als höchster Zweck der Vernunft erst durch das moralische Handeln zu erreichen, und somit zielt alles praktische Interesse meiner Vernunft, ihre letzte Absicht, letztendlich auf das Moralische und die Frage: „Was soll ich tun?“. Obwohl man die drei Kardinalsätze theoretisch erfolgreich erörtern könnte, es wird immer die moralische Frage zu beantworten bleiben: „w a s z u t u n s e i , wenn der Wille frei, wenn ein Gott und eine künftige Welt ist“ (KrV, 520.20//A800/B828). Anders ausgedrückt: Erst indem ich mich frage, was ich tun soll – was dem Fatalismus entgegen die Freiheit im praktischen Verstande impliziert –, erst dann frage ich mich auch nach der transzendentalen Freiheit, d. h. ob ich frei bin; und erst diese Freiheitsperspektive lässt mich erneut fragen, ob es Platz für die Hoffnung auf die Erreichung des höchsten Guts, wenn nicht in dieser, so anhand Gottes in einer künftigen Welt, gibt. Dieser Auslegung entsprechend muss also die Antwort lauten: Der „Kanon“ konzentriert sich eigentlich auf das Praktische im strengen Sinne, nämlich auf das Moralische. Das steht nicht im Widerspruch dazu, (1) dass im „Kanon“ auch die pragmatischen Gesetze vorkommen: Kant greift auf die pragmatischen Gesetze einerseits als Gegenspiel zu den moralischen Gesetzen zurück, wodurch das Moralische negativ definiert und von den nicht reinen Zwecken des sinnlichen Glücks abgegrenzt wird. Andererseits auch weil sowohl Moralität als auch Glückseligkeit konstituierende Zwecke des höchsten Guts sind. Und schließlich sind zur Erreichung der Glückseligkeit auch pragmatische Regeln erforderlich⁵⁹; (2) dass das „bloß [P]raktisch[e]“ als das „[M]oralisch[e]“, trotz dessen expliziter Exklusion aus der Transzendentalphilosophie, im zweiten Abschnitt des „Kanons“ kurz betrachtet wird (siehe KrV, 524//A806 ff./B834 ff., Abs. 5 – 9)⁶⁰: Kant muss auf das Moralische eingehen, weil das Erreichen des höchsten Guts Schönecker 2005, 114. Dazu siehe Schwaiger 1999, 19 f. Zur Rolle der pragmatischen Gesetze im „Kanon“ siehe unten 6.2.3.2. Siehe Schönecker 2005, 148 f.
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(eingeleitet durch die Frage nach der Hoffnung) das Hauptthema des „Kanons“ ausmacht und das Moralische die Bedingung der Möglichkeit seiner Erlangung ist. Aber wie Kant hervorhebt, bietet die KrV keinen Platz für die Vertiefung in die Ethik. Daher entwickelt er hier kein „System der Sitten“ (GMS, 404.31 f.). Schließlich: Abgesehen davon, ob eine Mehrdeutigkeit des „Praktischen“ besteht oder nicht: Es hat nur dann Sinn, vom „Praktischen“ zu sprechen, wenn Freiheit theoretisch (d. i. im transzendentalen Verstande) vorausgesetzt wird. Denn nicht nur in Hinblick auf moralische, sondern auch auf kluge (und allerlei nicht-moralisch relevante) Handlungen halten wir das handelnde Subjekt für den ersten Anfang derselben. Daher stellt Kant in der Passage zur freien Willkür fest: „alles, was mit dieser [sc. der freien Willkür], es sei als Grund oder Folge, zusammenhängt, wird Praktisch genannt“ (KrV, 521.12//A802/B830)⁶¹.
6.2.3 Das höchste Gut als der höchste Zweck der menschlichen Vernunft und Kants Exklusion der transzendentalen Freiheit aus dem „Kanon“ Die in diesem Abschnitt zu beantwortenden Fragen sind: (a) Welche Aufgabe bzw. Absicht hat der „Kanon“? (b) Warum exkludiert Kant die transzendentale Freiheit aus den Betrachtungen in diesem Kapitel? (c) Wie soll die Erörterung der drei Gegenstände (Freiheit, Gott und Unsterblichkeit) im Rahmen des „Kanons“ gerechtfertigt werden? Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass die Leser_innen der „Dialektik“ und des „Kanons“ auf drei unterschiedliche Leitfragen stoßen: α) Ist es sinnvoll von „menschlicher Freiheit“ bzw. der „Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit“ zu sprechen? Dies ist ein theoretisches Thema, mit dem sich Kant in der „Dialektik“ auseinandersetzt und eine Antwort gibt. β) „W a s s o l l i c h t h u n ?“ (KrV, 522.33//A805/B833): Dies ist eine „bloß praktische“ Frage, die nach einem Handlungsprinzip sucht und die Kant im zweiten Abschnitt des „Kanons“ [Abs. 5 – 9] anhand des Freiheitsbegriffs „im praktischen Verstande“ erörtert. Die drei Gegenstände hat er bereits in der „Dialektik“ theoretisch abgehandelt. γ) „Wie, wenn ich mich nun so verhalte, daß ich der Glückseligkeit nicht unwürdig sei, darf ich auch hoffen, ihrer dadurch teilhaft werden zu können?“ (KrV, 525//A809/B837, Abs. 9): Dies ist eine praktische und zugleich theoretische Frage, auf welche sich größtenteils der zweite Abschnitt des „Kanons“ konzen-
Zur Definition des Praktischen in KrV, 520.01//A800/B828 gleich mehr.
6.2 Analytischer Teil
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triert (siehe KrV, 525 – 531//A809/B837-A819/B847, Abs. 9 – 23). Anhand dessen werden dann auch die Ideen von Gott und der Unsterblichkeit der Seele „im praktischen Verstande“ erörtert.
6.2.3.1 Die Aufgabe des „Kanons“ Die im „Kanon“ zu lösende Aufgabe ist es, eine legitime Betrachtung derjenigen „Gegenstände“ (KrV, 518.30//A798/B826) zu bieten, für die die Vernunft das größte praktische Interesse hat, weil sie zusammen auf den höchsten Zweck der Menschen, nämlich das höchste Gut abzielen, welches im Binom eines moralisch geführten Lebens und der Erlangung der Glückseligkeit besteht. Diese Gegenstände sind die Freiheit, Gott und die Unsterblichkeit der Seele⁶². Da die Vernunft beim spekulativen Nachdenken dialektisch wird⁶³, und indem das höchste Gut sowohl hinsichtlich der Moralität als auch der Glückseligkeit mit dem Praktischen eng verbunden ist, so ist der „richtige[] Gebrauch der reinen Vernunft“ (KrV, 518.06//A797/B825), nach dem „diese höchste Zwecke“ (KrV, 518.26//A797/B825) betrachtet werden sollen, der „p r a k t i s c h e [] Ve r n u n f t g e b r a u c h“ (KrV, 518.09//A797/B825).
6.2.3.2 Die Exklusion der transzendentalen Freiheit aus dem „Kanon“ Im ersten Abschnitt des „Kanons“ wird die Exklusion einer dieser drei Ideen, nämlich die der transzendentalen Freiheit⁶⁴ vorgenommen. Dies geschieht aus den drei folgenden Gründen: (1) Die transzendentale Freiheit ist eine theoretisch notwendige, aber nicht praktisch hinreichende Bedingung für das moralische Handeln: Das moralische Handeln bedarf nicht nur der Spontaneität, sondern auch noch einer faktischen Bestimmung des Willens nach dem Moralgesetz. Diese Bestimmung ist also eine Tätigkeit, die durch das Vermögen der transzendentalen Freiheit zwar ermöglicht,
Die Unsterblichkeit der Seele ermögliche uns ein künftiges Leben in einer moralischen Welt, wobei Kant „Unsterblichkeit“, „künftiges Leben“ bzw. „künftige“ oder „moralische Welt“ gleichbedeutend verwendet. Die spekulative Erwägung der reinen Vernunftideen führt die Vernunft „über die Grenze der Erfahrung hinaus“ (KrV, 517.22//A796/B824), weil ihr das empirische Korrelat solcher Gegenstände fehlt. Der Gedanke der transzendentalen Freiheit kommt bereits in den Nachschriften von den Vorlesungen über Metaphysik vor, die hier nicht bearbeitet werden. Dazu siehe Schönecker 2005, 21– 62, der die Mitschriften Metaphysik L 1 (Pölitz 1) und Metaphysik Mrongovius umfassend bearbeitet und die Begriffe der transzendentalen und praktischen Freiheit analysiert.
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aber nicht realisiert wird. Sie kann daher nicht bloß als eine „Praktizität“⁶⁵ der transzendentalen Freiheit angesehen werden, die aller Handlung beigemessen wird⁶⁶. Sondern es handelt sich vielmehr um eine spezifische Tätigkeit, die einer besonderen Gesetzlichkeit bedarf. Und das ist die praktische Freiheit. – Der „Kanon“ skizziert im ersten Abschnitt seine Aufgabe, bestimmt den praktischen Bereich der Freiheit und schließt die transzendentale Freiheit von seiner Aufgabe aus. Ganz am Ende dieses ersten Abschnittes wird aber auffälligerweise auch die Frage nach der praktischen Freiheit aus der Aufgabe des „Kanons“ exkludiert, denn zur „Vernunft im praktischen Gebrauche gehört dieses Problem nicht“ (KrV, 522.05//A803/B831). Der zweite Abschnitt des „Kanons“ geht dann – obwohl nur kurz (Abs. 5 – 9) – auf die moralische Frage ein: „Was soll ich tun?“. Während im ersten Abschnitt die moralischen Gesetze definiert werden, wird im zweiten eine Antwort auf die Frage nach dem Sollen, und zwar anhand des Gegenspiels der pragmatischen Gesetze (siehe KrV, 523.27//A806/B834) gegeben⁶⁷. (2) Die transzendentale Freiheit „[fordert] eine Unabhängigkeit dieser Vernunft selbst (in Ansehung ihrer Causalität, eine Reihe von selbst anzufangen) von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt und [scheint] so fern dem Naturgesetze, mithin aller möglichen Erfahrung zuwider zu sein und [bleibt] also ein Problem“ (KrV, 523.27//A806/B834).⁶⁸ Was heißt es aber, dass die transzendentale Freiheit als bloße Idee „ein Problem bleibt“ (siehe KrV, 522//A803/B831)? Die Betrachtung der transzendentalen Freiheit führt die Vernunft immer wieder auf dialektische, gleichgewichtige Schlüsse, auch wenn sie die Gründe des Wider-
Siehe Schönecker 2005, 17, der das Verständnis der praktischen Freiheit als Praktizität im Zuge der „Dialektik“ als Anwendung des transzendentalen Freiheitsbegriffs auf die Willkür annimmt, aber nicht für den praktischen Freiheitsbegriff im „Kanon“. Schönecker sieht in dieser Bestimmung der praktischen Freiheit (in der „Dialektik“) also keine Spezifizität derselben; sondern er identifiziert sie mit der transzendentalen Freiheit (siehe Schönecker 2005, 14 ff.), und zwar aus dem Grund, dass die „Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen [würde]“ (KrV, 364.08//A534/B562). Deswegen werden auch unmoralische und nicht moralisch relevante Handlungen für spontan gehalten und dem Handelnden zugeschrieben. Dazu gleich mehr in der Weiterführung meines Kommentars („zweiter Lesart“) zur Passage über das Praktische (KrV, 520.01//A800/B828). Eine Parallelstelle in der „Dialektik“ ist KrV, 363//A533/B561, Abs. 3: „Es ist überaus merkwürdig, daß auf diese transscendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben gründe, und jene in dieser das eigentliche Moment der Schwierigkeiten ausmache, welche die Frage über ihre Möglichkeit von jeher umgeben haben“. Umstritten ist also nicht die praktische Freiheit bzw. Freiheit im praktischen Verstande, sondern die transzendentale, welche bloß eine Idee ist, von der die Vernunft nur die Möglichkeit (im Sinne von Kompatibilität mit der Natur), aber nicht die Wirklichkeit feststellen kann.
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streits ausfindig gemacht und aufgelöst hat.⁶⁹ – Hingegen bringt die praktische Freiheit kein solches Problem mit sich (siehe KrV, 522//A803/B831), weil sie nicht die Möglichkeit der Freiheit (welche sie eigentlich voraussetzt), sondern bloß die Bestimmung des Willens angeht, die nach moralischen Gesetzen vorgehen soll. Kant weist hier indirekt auch die Position des Naturdeterminismus bzw. Fatalismus damit zurück, dass die Überwindung der Nötigung durch sinnliche Antriebe (siehe KrV, 521//A802/B830) – abgesehen von der metaphysischen Frage, ob wir eigentlich transzendental frei sind – feststellbar ist.⁷⁰ Also muss unser Handeln sich nach „subjective[n] Grundsätze[n]“ bzw. eigenen „Maximen“ (KrV, 527.18// A812/B840) und „Ideen“ (KrV, 527.24//A812/B840), d. h. nach moralischen Gesetzen⁷¹ richten können, und zwar nach denjenigen, die eine Handlung als not-
Vergleiche Schönecker 2005, 150 f.; siehe KrV, 330.09 ff.//A476 ff./B504 ff. (vierten Abschnitt), 342.16 f.//A499 f./B527 f., Abs. 3 f. (siebten Abschnitt) und 345.02//A501 f./B529 f. – Wie Kant ganz am Anfang des zweiten Hauptstücks zur „Antinomie der reinen Vernunft“ in der „Dialektik“ erklärt: „Hier zeigt sich […] eine ganz natürliche Antithetik, […] in welche die Vernunft von selbst und zwar unvermeidlich gerät“ (KrV, 282.10//A407/B434). Im Versuch, eine „vollständige Begreiflichkeit der Wirklichkeit“ (KrV, 284.31//A411/B428) zu erreichen, sucht die Vernunft die unbedingte Totalität der Bedingungen und verwendet ihre Begriffe auch da, wo es keine Erscheinungen mehr gibt, nämlich auf „alle mögliche Dinge überhaupt“ (KrV, 282.31//A408/B435). Die Vernunft bleibt also wegen ihrer Natur dialektisch, obwohl sie selbst vermag, den Grund von ihren dialektischen Schlüssen zu finden, und diese aufzulösen (siehe KrV, 330.09 ff.//A 476 ff./B 504 ff., 342.16 f.//A499 f./B527 f.). Klipp und klar stellt Kant fest: „Nach der Überweisung eines solchen Fehltritts, des gemeinschaftlich zum Grunde (der kosmologischen Behauptungen) gelegten Arguments, können beide streitende Teile mit Recht, als solche, die ihre Foderung auf keinen gründlichen Titel gründen, abgewiesen werden. Dadurch aber ist ihr Zwist noch nicht in so fern geendigt, daß sie überführt worden wären, sie oder einer von beiden hätte in der Sache selbst, die er behauptet, (im Schlußsatze) Unrecht, wenn er sie gleich nicht auf tüchtige Beweisgründe zu bauen wußte. Es scheint doch nichts klärer, als daß von zween [sic], deren der eine behauptet: die Welt hat einen Anfang, der andere: die Welt hat keinen Anfang, sondern sie ist von Ewigkeit her, doch einer Recht haben müsse. Ist aber dieses, so ist es, weil die Klarheit auf beiden Seiten gleich ist, doch unmöglich, jemals auszumitteln, auf welcher Seite das Recht sei; und der Streit dauert nach wie vor, wenn die Parteien gleich bei dem Gerichtshofe der Vernunft zur Ruhe verwiesen worden. Es bleibt also kein Mittel übrig, den Streit gründlich und zur Zufriedenheit beider Teile zu endigen, als daß, da sie einander doch so schön widerlegen können, sie endlich überführt werden, daß sie um Nichts streiten, und ein gewisser transzendentaler Schein ihnen da eine Wirklichkeit vorgemalt habe, wo keine anzutreffen ist. Diesen Weg der Beilegung eines nicht abzuurtheilenden Streits wollen wir jetzt einschlagen“ (KrV, 345.02//A501 f./B529 f.). Schönecker 2005, 94: „Daß praktische Freiheit ‚durch Erfahrung beweisbar’ ist, wird von Kant nicht wirklich bewiesen, sondern als basale Tatsache behauptet“. Zur sittlichen „Vorschrift“ siehe KrV, 521//A803/B831 („Vorschriften des Verhaltens“), KrV, 524.21//A807/B835, 528.15//A814/B842 und 536.21//A828/B856. „Vorschrift“ in moralischem Sinne wird von Kant nicht definiert; es geht aber aus dem wörtlichen sowie entwicklungsgeschichtli-
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wendig charakterisieren und „sagen, w a s g e s c h e h e n s o l l , ob es gleich nie geschieht“ (KrV, 521//A802/B830). Dieses Können ist die praktische Freiheit (bzw. die Freiheit im moralischen Sinne), welche die moralische Bestimmung unseres Willens betrifft⁷². Was sonst von der Freiheit zu sagen ist, betrifft die theoretische Hinsicht. (3) In Bezug auf die transzendentale Freiheit ist „in der Antinomie der reinen Vernunft schon hinreichende Erörterung zu finden“ (KrV, 522.13//A803 f./B831 f.; siehe KrV, 521.07//A802/B830)⁷³: Die Frage nach der transzendentalen Freiheit lautet: Ob Freiheit möglich sein könnte, also ob ich der Anfang meiner Handlungen sein kann und ob diese Spontaneität und Unabhängigkeit von anderen Ursachen mit der Natur verträglich ist. Tatsächlich ist die transzendentale Freiheit aber nur eine Idee der Vernunft⁷⁴; und die Aufgabe wird auf der reinen spekulativen Ebene, nämlich durch die Unterscheidung zwischen intelligiblem und empirischem Charakter gelöst. Hingegen lautet die Frage gemäß der praktischen Freiheit: „Was soll ich tun?“, und da werden die Gesetze des Sollens bzw. die Moralgesetze untersucht, nach denen ich mich bestimmen soll (und kann). Zutreffend weist Schönecker darauf hin, dass Kant auch die Fragen nach dem Dasein Gottes und der Unsterblichkeit bereits in der „Dialektik“ erörtert hat und trotzdem werden sie im „Kanon“ abermals abgehandelt.⁷⁵ Aber Schönecker übersieht erstens, dass diese Erörterung in der „Dialektik“ nicht im Zuge vom praktischen Gebrauch der reinen Vernunft stattfindet (wie es im „Kanon“ der Fall ist), sondern allein aus der Perspektive der reinen spekulativen Vernunft. Und zweitens, dass wir „durch bloße Apperception und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen“ (KrV, 317.04//A546/B574), d. h. durch unsere praktische Freiheit sowohl auf die Unabhängigkeit unseres Willens von der sinnlichen Nötigung schließen als
chen (siehe V-Mo, 040.07/045, 066.12/082) Zusammenhang hervor, dass Kant damit „reine praktische“ bzw. „moralische“ Gesetze meint. Zum eminent moralischen Charakter des „Kanons“ siehe oben 6.2.2.2 und unten 6.2.4. Der Mensch handelt angesichts der sinnliche Antriebe unabhängig – das beweist, dass wir nach anderen als Naturgesetzen handeln können. Deswegen sagt Kant ausdrücklich, ihn interessiert nun nicht, ob Vernunft (und Freiheit) „nicht wiederum Natur sein möge“ (KrV, 521//A803/B831). Wichtig ist nur, dass der Mensch seinen Willen nach einer „Vorschrift des Verhaltens“ (KrV, 521// A803/B831) bestimmen kann bzw. dass er nicht durch die Nötigung der sinnlichen Antriebe vorherbestimmt ist, denn er kann sie „überwinden“ (KrV, 521//A802/B830). Vergleiche Schönecker 2005, 112 f., 149 f., 156. So auch Schönecker 2005, 138 Fn. 65. Deswegen sieht Schönecker 2005, 151 in diesem dritten genannten Grund für die Exklusion transzendentaler Freiheit aus dem „Kanon“ keine gute Erklärung: „Denn eine solche ‚hinreichende Erörterung’ gibt es in der „Dialektik“ ja auch zu den problematischen Begriffen von Gott und der Unsterblichkeit der Seele“.
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auch die Möglichkeit unserer Selbstbestimmung (nach Vernunftgesetzen), d. h. unsere Spontaneität behaupten können⁷⁶.
6.2.3.3 Rechtfertigung für die Erörterung der praktischen Freiheit sowie der Ideen Gottes und der Unsterblichkeit im „Kanon“. Kurze Erläuterung So wie es die Ideen von Gott und der Unsterblichkeit aufgrund ihres Verhältnisses zur vollendeten Glückseligkeit verlangen, erneut abgehandelt zu werden⁷⁷, genau aus demselben Grund muss nun die Freiheit erneut betrachtet werden. Aber da die Idee der Freiheit eine theoretische (transzendentale) und der Vernunftgebrauch, in dem hier die Diskussion weitergeführt wird, der praktische ist, muss die Freiheit entsprechend im praktischen Verstande untersucht werden: Die metaphysische Erörterung über die menschliche Freiheit kann nicht die Grenze überschreiten, die in der „Dialektik“ aufgezeigt wurde: Als bloße Idee mangelt es der Freiheit an aller sinnlichen Anschauung und sie bleibt unerkennbar. Aber abgesehen davon erlauben uns die absolute Notwendigkeit des Moralgesetzes, auf der Ebene der reinen Vernunft, und unsere „Handlungen und inneren Bestimmungen“, auf der Ebene der „bloße[n] Apperception“ (KrV, 317.04// A546/B574), auf unsere praktische Freiheit zu schließen. In diesem Sinne ist die praktische Freiheit also keine Idee und braucht deswegen nicht postuliert zu
Beide sind die Grundcharakteristika der transzendentalen Freiheit. Das bedeutet aber nicht, dass die praktische Freiheit sich mit ihr identifiziert (siehe oben den ersten angegebenen Grund für die Exklusion der transzendentalen Freiheit). Eines teile ich also mit Schöneckers Ansicht: Dass die praktische Freiheit die transzendentale impliziert und es in dieser Hinsicht nicht sinnvoll scheint, dass die transzendentale Freiheit vom „Kanon“ ausgeschlossen wird. Immerhin meine ich eine besser fundierte Auslegung anzubieten, indem meine Lesart eine Erklärung des Textes ermöglicht, während die von Schönecker zu wenig in die „Dialektik“ hineinsieht, zu begrenzt auf bestimmten Passagen und zu fixiert auf das Hervorheben der scheinbaren Unstimmigkeiten bleibt. Merkwürdigerweise sieht Schönecker 2005, 135 aber ganz zutreffend: „Wenn Kant fortfährt, daß die moralischen Gesetze nur dann ‚Gebote’ sein könnten, wenn sie mit angemessenen ‚Verheißungen und Drohungen’ verknüpft sind, dann bezieht sich diese Aussage also offenkundig nur auf die moralischen Gesetze, sofern sie in ihrer Verknüpfung mit der Idee der Glückseligkeit betrachtet werden“. – Außerhalb des „Kanons“ wird die Idee Gottes entweder als praktisches Postulat – obwohl dann nicht gründlich erörtert, sondern nur erwähnt (und dann nur in der BAuflage [!]: siehe KrV, „Vorrede“, 018.34/BXXX, „Einleitung“, 031.07/B7, „Dialektik“: 260//A337/ B395 Fn.]); oder sie wird als regulatives Prinzip aus der Perspektive der spekulativen Vernunft abgehandelt, und also nicht in Zusammenhang mit der Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Guts (siehe „Dialektik“: KrV, 390.22//A580/B608, 399.07//A595/B623, 401.11//A598 f./ B626; „Dialektik“, „Anhang“: 421.05//A632/B660, 445.32//A675/B703, A685/B713, 459.10//A699/ B727).
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werden. Sie schließt eine besondere Kausalität ein, nämlich das Moralgesetz, das parallel zur und kompatibel mit der Naturkausalität wirkt und die moralische Willensbestimmung fordert. Nun tritt diese praktische Freiheit hinsichtlich des praktischen Interesses der Vernunft, also mit der Absicht das höchste Gut zu erlangen (siehe KrV, 521//A802 f./B830 f.) als conditio sine qua non desselben auf, hiermit auch als conditio sine qua non der Glückseligkeit. Daher wird sie im Kanonkapitel vor und unabhängig⁷⁸ von der Glückseligkeit behandelt⁷⁹. Im Unterschied dazu treten die Ideen von Gott und der Unsterblichkeit bzw. der künftigen Welt als Gewährleistung des durch die ausgeübte Moralität verdienten Erlangens des höchsten Guts auf – und zwar erst in Hinblick auf das Erreichen der Glückseligkeit: Da in dieser Welt kein Kausalverhältnis zwischen Moral- und Naturgesetzen besteht⁸⁰, folgt die Glückseligkeit nicht notwendig aus unserem moralischen Handeln, obwohl sie davon abhängt. Diese Ideen sollen also die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der⁸¹ moralischen Freiheit ergänzen. So lautet die theoretische und zugleich praktische Frage (siehe KrV, 522.34//A805/B833): Darf ich hoffen, das höchste Gut, mithin die Glückseligkeit als wesentlichen Bestandteil des letzten Zweckes zu erreichen? „[…] nothwendig sei es auch nach der Vernunft, in ihrem t h e o r e t i s c h e n Gebrauch[⁸²] anzunehmen, daß jedermann die Glückseligkeit in demselben Maße zu hoffen Ursache habe, als er sich derselben in seinem Verhalten würdig gemacht hat, und daß also das System der
So auch Schönecker 2005, 158 f. KrV, 528.07//A813/B841: „[…] daß die moralische Gesinnung als Bedingung den Antheil an Glückseligkeit und nicht umgekehrt die Aussicht auf Glückseligkeit die moralische Gesinnung zuerst möglich mache. Denn im letzteren Falle wäre sie nicht moralisch und also auch nicht der ganzen Glückseligkeit würdig“. KrV, 526.03//A810/B838: „Da aber die Verbindlichkeit aus dem moralischen Gesetze für jedes besonderen Gebrauch der Freiheit gültig bleibt, wenn gleich andere diesem Gesetze sich nicht gemäß verhielten, so ist weder aus der Natur der Dinge der Welt, noch der Kausalität der Handlungen selbst und ihrem Verhältnisse zur Sittlichkeit bestimmt, wie sich ihre Folgen zur Glückseligkeit verhalten werden; und die angeführte notwendige Verknüpfung der Hoffnung, zu sein, mit dem unablässigen Bestreben, sich der Glückseligkeit würdig zu machen, kann durch die Vernunft nicht erkannt werden, wenn man bloß Natur zum Grunde legt, sondern darf nur gehofft werden, wenn eine h ö c h s t e Ve r n u n f t , die nach moralischen Gesetzen gebietet, zugleich als Ursache der Natur zum Grunde gelegt wird“. KrV, 526.25//A811/B839: „[…] so werden wir jene [sc. moralische Welt] als eine Folge unseres Verhaltens in der Sinnenwelt, da uns diese eine solche Verknüpfung nicht darbietet, als eine für uns künftige Welt annehmen müssen. Gott und also ein künftiges Leben, sind zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, nach Prinzipien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen“. Siehe KrV, 528.13// A814/B842. Dieselbe Bemerkung bereits in TG, 335.35 f., 337.03. Genitivus objectivus. „Gebrauch“: Kants Zusatz in B-Auflage.
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Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich, aber nur in der Idee der reinen Vernunft verbunden sei“ (KrV, 525.21//A809/B837).
Wenn ja, weil die Glückseligkeit sich kohärenterweise aus meinem moralischen Handeln, d. h. aus dem richtigen Gebrauch meiner Freiheit ergeben sollte (Antwort in theoretischer Hinsicht [siehe KrV, 525.21//A809/B837]): Wie? Nämlich: Aufgrund der Ideen Gottes und einer künftigen Welt bzw. der Unsterblichkeit der Seele (Antwort in praktischer Hinsicht [KrV, 525.21//A809/B837]).⁸³ Erst Gott kann
Vergleiche Schönecker 2005, 118, der hingegen meint, dass die Hoffnungsfrage im Hinblick auf das Sollen und das mit diesem verbundenen Können praktisch ist und im Hinblick auf die Ideen Gottes und einer künftigen Welt theoretisch ist. Für Schöneckers Auslegung siehe KrV, 421.17//A633/B661, wo Kant „theoretisch“ und „praktisch“ bestimmt. Gegen Schöneckers Auslegung aber spricht die Antwort Kants auf die Frage nach dem Hoffen: „Ich sage demnach: daß eben sowohl, als die moralischen Principien nach der Vernunft in ihrem p r a k t i s c h e n Gebrauche nothwendig sind, eben so nothwendig sei es auch nach der Vernunft, in ihrem t h e o r e t i s c h e n Gebrauch[*] anzunehmen, daß jedermann die Glückseligkeit in demselben Maße zu hoffen Ursache habe, als er sich derselben in seinem Verhalten würdig gemacht hat, und daß also das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich, aber nur in der Idee der reinen Vernunft verbunden sei“ (KrV, 525.19//A809/B837) [* Zusatz in B-Auflage]. Außerdem ist die folgende Passage heranzuziehen, wo Kant den Glauben an Gott und die künftige Welt als einen moralischen bezeichnet und feststellt: „Denn da ist es schlechterdings nothwendig, daß etwas geschehen muß, nämlich, daß ich dem sittlichen Gesetze in allen Stücken Folge leiste. Der Zweck ist hier unumgänglich festgestellt, und es ist eine einzige Bedingung nach aller meiner Einsicht möglich, unter welcher dieser Zweck mit allen gesamten Zwecken zusammenhängt, und dadurch praktische Gültigkeit habe, nämlich, da ein Gott und eine künftige Welt sei: ich weiß auch ganz gewiß, daß niemand andere Bedingungen kenne, die auf dieselbe Einheit der Zwecke unter dem moralischen Gesetze führen. […] Nein, die Überzeugung ist nicht logische, sondern moralische Gewißheit, und, da sie auf subjektiven Gründen (der moralischen Gesinnung) beruht, so muß ich nicht einmal sagen: es ist moralisch gewiß, daß ein Gott sei etc., sondern, ich bin moralisch gewiß etc. […]. Das einzige Bedenkliche, das sich hiebei findet, ist, daß sich dieser Vernunftglaube auf die Voraussetzung moralischer Gesinnungen gründet. Gehn wir davon ab, und nehmen wir einen, der in Ansehung sittlicher Gesetze gänzlich gleichgültig wäre, so wird die Frage [sc. Was darf ich hoffen? (ACGX)], welche die Vernunft aufwirft, bloß eine Aufgabe für die Spekulation, und kann alsdenn zwar noch mit starken Gründen aus der Analogie, aber nicht mit solchen, denen sich die hartnäckigste Zweifelsucht ergeben müßte, unterstützt werden“ (KrV, 536.12 f.//A828 f./B856 f.). – Trifft meine Lesart zu, so ist die dritte Frage eigentlich insofern theoretisch, als die Glückseligkeit als eine kohärente bzw. logische Folge der Moralität anzusehen ist. Und sie ist insofern praktisch, als sie erstens auf einen moralischen Glauben abzielt und indem sie zweitens in bloß spekulativer Absicht „vor der Vernunft flieht“ (siehe KrV, 517.26//A796/B824). Diese Lektüre würde auch dadurch unterstützt, dass der „Kanon“ „den praktischen Vernunftgebrauch“ (KrV, 518.09//A797/ B825) betrifft und eine „Moraltheologie“ aufbaut, obwohl er sich möglichst „am Transzendentalen hält“ (siehe 520.30 f.//A801/B829).
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die systematische Einheit beider Sphären (Moralität und Glückseligkeit), hiermit das höchste Gut, sichern. Diese Einheit aber ist eben aufgrund des essentiellen Unterschieds zwischen beiden Ebenen erst in einer künftigen Welt⁸⁴ zu erwarten. Insofern darf man hoffen, die verdiente Glückseligkeit zu erlangen. Deswegen müssen die Ideen Gottes und einer künftigen Welt bzw. der Unsterblichkeit der Seele in Erwägung gezogen werden. Im Unterschied zur Freiheit gelten diese als „zwei Glaubensartikel“ (KrV, 537.27//A830/B858). Die Idee einer moralischen Welt geht von dem Gedanken aus, wie die Welt „nach der Freiheit […] sein k a n n , und, nach den notwendigen Gesetzen der S i t t l i c h k e i t , sein s o l l “ (KrV, 524.33//A808/B836). Sie hat „objektive Realität […] als ein[en] Gegenstand der reinen Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch“ (KrV, 525.04//A808/B836), weil sie „wirklich ihren Einfluss auf die Sinnenwelt haben kann und soll, um sie dieser Idee so viel als möglich gemäß zu machen“ (KrV, 525.04//A808/B836). Und sie enthält „ein corpus mysticum der vernünftigen Wesen“ (KrV, 525.04//A808/B836): Die freie Willkür derselben hat „unter moralischen Gesetzen sowohl mit sich selbst, als mit jedes anderen Freiheit durchgängige systematische Einheit an sich“ (KrV, 525.04//A808/B836), „als ob sie aus einem obersten Willen, der alle Privatwillkür in sich, oder unter sich befaßt, entsprängen“⁸⁵ (KrV, 526.02//A810/B838). Die moralische Welt „[müssen] wir als eine künftige ansehen“ (KrV, 526.27//A811/B839), weil „deren Ausführung auf der Bedingung beruht“, dass „j e d e r m a n n“ wirklich nach dem Moralgesetz handelt (KrV, 526.01//A810/B838) – und das ist in dieser Welt nicht zu erwarten. Die Idee Gottes rechtfertigt sich dadurch, dass es absurd wäre, wenn die reine Vernunft ein praktisches, absolut notwendiges Gesetz (das Moralgesetz) gebieten würde, dessen entsprechende (gute) Handlungen nicht mit ihm zusammenstimmende (gute) Folgen hätten. Aus der Notwendigkeit des Moralgesetzes schließt die Vernunft also auf die Notwendigkeit des Daseins eines Wesens, welches die Möglichkeit der Glückseligkeit als faktische Realisierung bzw. Folge der Moralität in der Welt garantiert. Diese beiden Ideen gelten also als metaphysische Gründe von der Möglichkeit der irgendwann zu erreichenden „Glückseligkeit“. Sie bezieht sich nicht auf einen sinnlichen Zustand, sondern formal ist sie als sittliche Vollkommenheit der Per-
Vorbegriffe davon finden wir in Bem., 011.01: „Es giebt eine vollkommenste Welt (moralische) nach der Ordnung der Natur und nach dieser fragen wir imgleichen eine übernatürliche“. (Dazu siehe Rischmüller [Hg.] 1991, 156 f.). TG, 335.10: „in der Welt aller denkenden Naturen eine m o r a l i s c h e E i n h e i t und systematische Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen“. V-Mo, 367.23/ 454: „Reich Gottes auf Erden“. Später: GMS, 433: „Reich der Zwecke“. Dazu siehe oben Einleitung 4.2 und oben 4.2.2. Siehe Johnson 2009, 83 und 89. Hier ist der Einfluss Rousseaus noch deutlich, dazu siehe unten 6.3.3.
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son qua moralisch handelndem Subjekt und als sittliche Vollkommenheit der Welt qua Produkt des moralischen Handelns zu verstehen. Deshalb spricht Kant vom „höchsten Gut“. Und auch deshalb fungieren die zwei Ideen als „Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung“ (KrV, 527.29//A813/B841) der moralischen Aufgabe: Diese ist keine Sisyphusarbeit, sondern es ist vernünftig, „ein solches System der mit der Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit […] als notwendig [zu⁸⁶] denken“ (KrV, 525.29//A809/B837) und daher auch die verdiente Glückseligkeit zu erwarten. Die beiden Ideen erteilen den moralischen Gesetzen weder Daseinsberechtigung noch Gültigkeit; sie treten aber jeweils als der idealische raumzeitliche ⁸⁷ Rahmen und Garant einer (künftigen) Verwirklichung des höchsten Guts „als ein[en] Bestimmungsgrund[es] des letzten Zwecks der reinen Vernunft“ (KrV, 522.18//A804/B833) auf. Sofern die Glückseligkeit qua Bestandteil des höchsten Guts notwendig zum Erreichen desselben ist und sofern das höchste Gut „dasjenige Interesse der Menschheit [ist⁸⁸], welches keinem höheren untergeordnet ist“ (KrV, 518.27//A798/B826), so sind die Ideen Gottes und der künftigen Welt diejenigen, die Kant jetzt eigentlich erörtern muss. Mit Blick auf die zu Beginn dieses Abschnitts 6.2.3 dargestellten drei Leitfragen, auf die die Leser_innen der „Dialektik“ und des „Kanons“ stoßen, wird schließlich festgestellt, dass der „Kanon“ zwar die genannte „bloß praktische“ Frage stellt, aber mit Absicht erst die Frage nach der Hoffnung beantwortet; denn die Erörterung letzterer macht das eigentliche Ziel des Kapitels aus. Durch die Beantwortung der Frage nach dem Gesollten (in dessen Erfüllung die Würdigkeit der Glückseligkeit besteht) kann Kant auf die anderen zwei Gegenstände der Vernunft (und zwar die Ideen Gottes – der nach moralischen Gesetzen regiert – und der Unsterblichkeit der Seele bzw. der künftigen Welt) über gehen und sie von der Freiheit und dem mit ihr verbundenen Sollen als notwendig ableiten, d. i. postulieren ⁸⁹. Kurz: Wie am Anfang dieses Abschnittes erwähnt⁹⁰ und nun gezeigt, werden die drei Gegenstände der reinen Vernunft mit Absicht auf das höchste Gut, darunter auch auf die Glückseligkeit [!] hin, erwogen. Die Freiheit interessiert Kant im „Kanon“ also insofern, als erst der gute, und zwar moralische Gebrauch derselben
Zusatz ACGX. Das Ideal der moralischen Welt bietet einen Raum, der sich in einer künftigen Zeit befinden wird; und die Unsterblichkeit gewährt, dass man diese Realität früher oder später erleben wird. Zusatz ACGX. KrV, 518.01//A796/B824: „[…] alle synthetische Erkenntnis der reinen Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauche [ist] […] gänzlich unmöglich“. Schönecker spricht von Postulieren. Aber diese Redeweise kommt im Text des „Kanons“ nicht vor. Ebenso siehe oben 6.1.1.
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eine vollendete Glückseligkeit (als ein, auch mit unserer vernünftigen Natur zusammenhängendes Glied des höchsten Gutes) ermöglicht. Das erklärt also, warum Kant sich methodisch auf den „Begriff der Freiheit nur im praktischen Verstande“ (KrV, 521.03//A801/B829) beschränkt. Die Ideen Gottes und einer künftigen Welt treten hingegen jeweils als Garant und ideelles Szenario auf, dank derer sowohl das Gebot der Moralität vernünftig als auch die Erreichung des höchsten Gutes absehbar wird.
6.2.4 Die Bedeutungen der Freiheit in der „Dialektik“ und dem „Kanon“ 6.2.4.1 Die Freiheit in weitem Sinne und die Rolle pragmatischer Gesetze im „Kanon“ Gegen die zweite, moralische Lesart der Passage zum Praktischen scheint Folgendes zu sprechen: Der „Kanon“ soll keine Stütze in einer Erfahrung oder dem Psychologischen und Empirischen suchen, sondern sich „so nahe als möglich am Transzendentalen halte[n]“, auch wenn der zu betrachtende Gegenstand [sc. das Moralische] „der transzendentalen Philosophie fremd ist“ (KrV, 520.26//A801/B829). Demzufolge sollte sich der „Kanon“ auf die „reinen praktischen Gesetze, […] die schlechthin gebieten“, (KrV, 520.13//A800/B828) einschränken. Diese sind „nicht empirisch bedingt, sondern […] Producte der reinen Vernunft“ (KrV, 520.12//A800/ B828), also völlig a priori durch die Vernunft „konstituiert“ (KrV, 349.10//508 f./ 536 f.). „Dergleichen aber sind die m o r a l i s c h e n Gesetze, mithin gehören diese allein zum praktischen Gebrauche der reinen Vernunft und erlauben einen Kanon“ (KrV, 520.14//A800/B828). Aber demgegenüber stellt die Passage zur freien Willkür anscheinend mehrere damit unvereinbare Ansätze vor, weshalb Schönecker sie „Problempassage“ nennt und von „Kanonproblem“ spricht: (1.) liegt ein Freiheitsbegriff im weiten Sinne zugrunde: „Diejenige [sc. Willkür] aber, welche unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden, bestimmt werden kann, heißt die f r e i e W i l l k ü r (arbitrium liberum), und alles, was mit dieser, es sei als Grund oder Folge, zusammenhängt, wird P r a k t i s c h genannt“.
Dieses weite, das Moralische und Pragmatische mit aufnehmende Verständnis der Freiheit ist bereits in der kommentierten Passage KrV, 520.01//A800/B828 zur Definition des Praktischen zu finden, wo Kant von den „pragmatischen Gesetzen des freien Verhaltens“ spricht;
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(2.) wird aufgrund des weiten Freiheitsverständnisses behauptet: „Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden“ (KrV 521.14//A802/B830); und: „Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung“ (KrV, 521.33// A803/B831). Das scheint im Widerspruch zur „Dialektik“ zu stehen, wo Kant feststellt: „Die Freiheit ist in dieser Bedeutung eine reine transscendentale Idee, die erstlich nichts von der Erfahrung Entlehntes enthält, zweitens deren Gegenstand auch in keiner Erfahrung bestimmt gegeben werden kann“ (KrV, 362.11// A533/B561). Angesichts dessen vertrete die praktische Freiheit im „Kanon“ einen „naturalisierten Freiheitsbegriff“⁹¹; (3.) wird neben dem Moralischen auch das Pragmatische erörtert: Kant erklärt zum einen, worauf die „Lehre der Klugheit“ abzielt, nämlich: auf „die Vereinigung aller Zwecke, die uns von unseren Neigungen aufgegeben sind, in den einigen[⁹²] der Glückseligkeit, und die Zusammenstimmung der Mittel“ (KrV, 520.05//A800/ B828)⁹³; dazu sind pragmatische Regeln erforderlich. Zum anderen greift Kant in dieser Passage sowohl auf moralische als auch auf pragmatische Gründe zurück, um seine Behauptung zu erläutern, dass die „praktische Freiheit durch Erfahrung bewiesen werden [kann]“: „Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden. Denn nicht bloß das, was reizt, d. i. die Sinne unmittelbar afficirt, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden; diese Überlegungen aber von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswerth, d. i. gut und nützlich, ist, beruhen auf der Vernunft. Diese giebt daher auch Gesetze, welche Imperativen, d. i. objective G e s e t z e d e r F r e i h e i t , sind, und welche sagen, w a s g e s c h e h e n s o l l , ob es gleich vielleicht nie geschieht, und sich darin von N a t u r g e s e t z e n , die nur von dem handeln, w a s g e s c h i e h t , unterscheiden, weshalb sie auch praktische Gesetze genannt werden“ (KrV, 521.14//A802/B830).
Warum betrachtet Kant sowohl im Kontext der Passage zum Praktischen als auch in der Passage zur freien Willkür die pragmatischen Gesetze?⁹⁴ Wie bereits gezeigt⁹⁵, haben die pragmatischen Gesetze in der Passage zum Praktischen hauptsächlich eine abgrenzende Funktion, sie trennen nämlich das Siehe Schönecker 2005, IX, 19 und 79 – 96. Lies: „einzigen“. Ähnlich siehe KrV, 523.25//A806/B834. Diese Frage zu beantworten ist umso wichtiger, als sich daraus die kontroverse Schlussfolgerung Kants ergibt, dass „die praktische Freiheit durch Erfahrung bewiesen werden [kann]“ (KrV 521.14//A802/B830) bzw., dass „wir […] die praktische Freiheit durch Erfahrung [erkennen]“ (KrV, 521.33//A803/B831). Siehe oben 6.1.2 (3, a) und 6.2.2.2.
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6 Der Ort der Moralität in der Kritik der reinen Vernunft (1781)
Gebiet des Moralischen vom Pragmatischen; und sie haben im zweiten Abschnitt des „Kanons“ (KrV, 523.25//A806/B834) die Aufgabe, zum Erreichen der Glückseligkeit beizutragen; denn letztere macht samt der ausgeübten Moralität das höchste Gut aus. Schwieriger ist die Erklärung für die Passage zur freien Willkür (KrV, 521.03 f.// A801 f./B829 f.), wo das Praktische definiert wird als „alles, was mit dieser [sc. der freien Willkür], es sei als Grund oder Folge, zusammenhängt“. So verstanden wäre dieser Satz mit der gelieferten zweiten Lesart der Passage zum Praktischen nicht vereinbar: Dort beschränkt sich der „Kanon“ bloß auf das Moralische, hier aber wird auch das Pragmatische mit eingeschlossen, und zwar aufgrund eines weiten Verständnisses der Freiheit. Liest man den betreffenden Absatz in der Passage zur freien Willkür aufmerksam bis zum Ende, so ist es aber sehr auffällig, wie Kant diesen abschließt: „Diese giebt daher auch Gesetze, welche Imperativen, d. i. objective G e s e t z e d e r F r e i h e i t , sind, und welche sagen, w a s g e s c h e h e n s o l l , ob es gleich vielleicht nie geschieht, und sich darin von N a t u r g e s e t z e n , die nur von dem handeln, w a s g e s c h i e h t , unterscheiden, weshalb sie auch praktische Gesetze genannt werden“ (KrV, 521.21//A802/B830).
Die Freiheit der Willkür soll also durch Erfahrung deswegen beweisbar sein, weil festgestellt werden kann, dass: „nicht bloß das, was reizt, d. i. die Sinne unmittelbar afficirt, die menschliche Willkür [bestimmt], sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden“ (KrV, 521.15//A802/B830).
Dieser Textausschnitt deckt⁹⁶ sich fast völlig mit einer Passage in der Auflösung der dritten Antinomie⁹⁷:
Die Grundthese Schöneckers (2005, 1 und 79), dass der Begriff praktischer Freiheit in der „Dialektik“ und dem „Kanon“ „grundverschieden“ ist, woraus sich zwei unterschiedliche, sogar widersprechende Freiheitstheorien ergeben, wird hier auch insofern zurückgewiesen, als für mehrere Textstellen der von ihm sogenannten „Problempassage“ Parallelstellen in der „Dialektik“ herangezogen werden können. Hier wird die vorhin zitierte Passage aus dem zweiten Abschnitt der Auflösung nicht vergessen [siehe oben 6.2.4.1 (2.)]: „Die Freiheit ist in dieser Bedeutung eine reine transscendentale Idee, die erstlich nichts von der Erfahrung Entlehntes enthält, zweitens deren Gegenstand auch in keiner Erfahrung bestimmt gegeben werden kann“ (KrV, 362.11//A533/B561). Dazu gleich.
6.2 Analytischer Teil
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„Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht nothwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen“ (KrV, 363.33//A534/B562).⁹⁸
Nur das, „was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist“, bzw. „was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswerth, d. i. gut und nützlich, ist“, ist in beiden Passagen unterschiedlich. Die Grundidee bleibt aber gleich: Die menschliche Willkür wird durch das Sinnliche nicht absolut und unvermeidlich bestimmt, und zwar aufgrund eines vernünftigen Vermögens, nach dessen Vorstellungen wir handeln können. Es ist also plausibel, dass Kant in der Passage zur freien Willkür zur Erläuterung seiner Behauptung, „die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden“, deswegen auf das Pragmatische zurückgreift, weil das Pragmatische (als zur Erfahrung gehörend) etwas Feststellbares und Unleugbares hervorhebt, und zwar: Dass wir die Eindrücke unserer Sinnlichkeit überwinden können. Allerdings führt Kant im Folgenden eben nicht die Regeln der Klugheit bzw. die hypothetischen Imperative⁹⁹ ein, nach welchen sich solche feststellbaren Taten und „Überlegungen […] von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswerth, d. i. gut[¹⁰⁰] und nützlich, ist“, richten. Sondern auffälligerweise stoßen wir auf „Gesetze, welche Imperativen, d. i. objective Gesetze
Dialektik
Kanon
„Sinnlichkeit [macht] ihre Handlung [sc. der menschlichen Willkür] nicht notwendig, …“
„nicht bloß das, was reizt, d. i. die Sinne unmittelbar affiziert, bestimmt die menschliche Willkür, …“
„… sondern dem Menschen [wohnt] ein Vermögen [bei], sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen“
„… sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen […] die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden“; „… diese Überlegungen aber von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswerth, d. i. gut und nützlich, ist, beruhen auf der Vernunft“.
Diese Redeweise, die bereits im Moralkolleg-Kaehler auftaucht, kommt aber in der KrV nicht vor. Aus dem Kontext geht hervor, dass dieses „gut“ nicht als das moralisch Gute zu verstehen ist, denn Kant spricht von dem, was „nützlich und schädlich“ ist, bzw. „was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswerth“ ist, also nicht von dem, was an und für sich gut ist. Vergleiche Schönecker 2005, 142.
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6 Der Ort der Moralität in der Kritik der reinen Vernunft (1781)
der Freiheit, sind, und welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht“¹⁰¹. Damit gibt Kant zu verstehen: Wir können die Eindrücke der Sinnlichkeit überwinden, und zwar nicht nur hinsichtlich (in weitem Sinne) bloß rationaler (!), auf eigene subjektive Interessen gerichteter Überlegungen; sondern auch und eben aufgrund vernünftiger, rein moralischer Zwecke¹⁰². In Hinblick darauf behauptet bereits die „Dialektik“ kurz nach der im Abschnitt 6.1.2 zitierten Apperzeptionspassage: „Es mag ein Gegenstand der bloßen Sinnlichkeit (das Angenehme) oder auch der reinen Vernunft (das Gute) sein: so giebt die Vernunft nicht demjenigen Grunde, der empirisch gegeben ist, nach und folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung darstellen; sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hinein paßt, und nach denen [sc. Ideen (ACGX)] sie sogar Handlungen für nothwendig erklärt, die doch n i c h t g e s c h e h e n s i n d und vielleicht nicht geschehen werden, von allen [sc. aus empirischen sowie notwendigen Gründen geschehenen Handlungen (ACGX)] aber gleichwohl voraussetzt, daß die Vernunft in Beziehung auf sie Causalität haben könne; denn ohne das würde sie nicht von ihren Ideen Wirkungen in der Erfahrung erwarten“ (KrV, 372.01//A548/B576).
Beispielsweise: Wir können einerseits auf eine Kleinigkeit zu Essen am späten Nachmittag verzichten, weil uns am Abend ein köstliches, reichhaltiges Mahl erwartet oder weil wir Abnehmen wollen. Andererseits können wir aber auch wegen eines eng mit der Moralität verbundenen Ideals der Gerechtigkeit hungern. Besonders im zweiten und dritten Fall erwarten wir „von unseren Ideen“ bestimmte „Wirkungen in der Erfahrung“. Und in diesem Punkt ist die ganz am Anfang zitierte, von Schönecker aber anders aufgefasste¹⁰³ und sich auf seine Ausgangsthese wenig auswirkende Apperzeptionspassage der „Dialektik“ heranzuziehen: „Der Mensch ist eine von den Erscheinungen der Sinnenwelt und in so fern auch eine der Naturursachen, deren Causalität unter empirischen Gesetzen stehen muß[¹⁰⁴]. Als eine solche muß er demnach auch einen empirischen Charakter haben, so wie alle andere Naturdinge. Wir bemerken denselben durch Kräfte und Vermögen, die er in seinen Wirkungen äußert. Bei der leblosen oder bloß thierisch belebten Natur finden wir keinen Grund, irgend ein Vermögen uns anders als bloß sinnlich bedingt zu denken. Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Ein-
Kants Hervorhebungen sind getilgt. Hier ist die Rawls′sche Distinktion wieder ins Gedächtnis zu rufen. Schönecker 2005, 92. D. h. wir können nicht außerhalb der Natur und ihrer Gesetze handeln: z. B. es ist für Menschen nicht möglich, unter Wasser zu atmen.
6.2 Analytischer Teil
271
drucke der Sinne zählen kann[¹⁰⁵], und ist sich selbst freilich eines Teils Phänomen, anderen Teils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibler Gegenstand, weil die Handlung desselben | gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann“ (KrV, 370.33//A546 f./B574 f.).
Die Handlungen¹⁰⁶ und inneren Bestimmungen des Menschen gehören „nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit“, denn ihre Ursache, und zwar die „reine Vernunft […] ist der Zeitform und mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge nicht unterworfen“ (KrV, 373.28//A551/B579). Sie sind der empirischen Kausalverknüpfung und also der Sinnlichkeit nicht beizumessen. Vielmehr sind sie Wirkungen einer Kausalität durch Freiheit, die sich aber auf die Sinnenwelt auswirkt: Während eine solche Kausalität intelligibel ist und „unter keinen Bedingungen der Sinnlichkeit steht“ (KrV, 367.02//A539/B567), treffen wir deren Wirkungen als Erscheinungen (d. h. die Handlungen, die sich aus inneren Bestimmungen ergeben) in der Sinnenwelt an. – Insofern „[würde] man von ihm [sc. dem tätigen Subjekt] ganz richtig sagen, daß es seine Wirkungen in der Sinnenwelt v o n s e l b s t anfange[¹⁰⁷], ohne daß die Handlung[¹⁰⁸] i n i h m selbst anfängt“ (KrV, 368.02//A541/B569): Der Mensch als intelligibles tätiges Wesen ist spontan, daher fängt er seine Wirkungen – bzw. Handlungen – (in der Sinnenwelt) von selbst an, d. h. nach eigenen Bestimmungen. Hingegen lassen sich diese Wirkungen als Erscheinungen und Begebenheiten dieser Sinnenwelt, nämlich die Handlungen durch die Gesetze der Naturnotwendigkeit erklären: Sie müssen als zur Natur
In diesem Sinne ist auch das Stück in der Passage zur freien Willkür zu verstehen: „Wir erkennen die praktische Freiheit als [sc. wie (? ACGX)] eine von den Naturursachen, nämlich eine Causalität der Vernunft in Bestimmung des Willens“ (KrV, 521.33//A803/B831): Kant behauptet hier nicht, dass die praktische Freiheit eine Naturursache sei (vergleiche Schönecker 2005, 4 f.) – dann wäre sie gar keine Freiheit. Sondern er betont, dass wir die Ursache jeder Begebenheit, auch jeder Handlung (!), erst durch die Wirkung derselben erkennen. Im Fall praktischer Freiheit heißt das: Durch unsere (äußeren) Handlungen und (inneren) Willensbestimmungen, „die […] gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden [können]“ (KrV, 371.08//A456 f./B574 f.), erkennen wir die Kausalität unserer Vernunft. Offenkundig meint Kant damit nicht ein Erkennen im streng spekulativen Sinne, denn es handelt sich um die „bloße Apperzeption“. Es zielt also vielmehr auf ein faktisches Bemerken. Dazu siehe die folgende Analyse von KrV, 370.35//A546/B574, 373//A551/ B579 Fn. und 376.32//A557/B585 in 6.2.4.2. – Ob dies entwicklungsgeschichtlich in das Faktum der Vernunft in der KpV mündet, ist eine interessante Frage. Damit kann ich mich hier aber nicht beschäftigen. Siehe 373.17//A551/B579. KrV, 374.17//A552/B580: „Seine [sc. des Menschen] Willkür hat einen empirischen Charakter, der die (empirische) Ursache aller seiner Handlungen ist“. Und zwar angesichts der Ursachen der Handlungen. Und zwar qua Erscheinung.
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6 Der Ort der Moralität in der Kritik der reinen Vernunft (1781)
gehörige eine Naturursache haben und zur empirischen Kausalverknüpfung gehören; in dieser Hinsicht fangen sie nicht im Menschen selbst an. Die von Schönecker als problematisch bezeichnete Beweisbarkeit der praktischen Freiheit durch Erfahrung im Kanon lässt sich also folgendermaßen erklären: Wenn der Mensch „sich selbst auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen [erkennt]“, und wenn seine Handlungen aber als Erscheinungen auch zur Sinnenwelt gehören, so kann der Mensch die Freiheit seiner inneren Bestimmungen in den durchgeführten Handlungen erkennen, die er als „Wirkungen von [seiner] Ideen in der Erfahrung [erwartete]“ (KrV, 372.10//A548/B576). Mehr noch: „Wir können also mit der Beurtheilung freier Handlungen in Ansehung ihrer Causalität nur bis an die intelligibele Ursache, aber nicht über dieselbe hinaus kommen; wir können erkennen, daß sie frei, d. i. von der Sinnlichkeit unabhängig bestimmt, und auf solche Art die sinnlich unbedingte Bedingung der Erscheinungen sein könne“¹⁰⁹ (KrV, 376.32//A557/B585).
Die laut Schönecker¹¹⁰ größte Kontroverse bzw. Verwirrung, die nach der Lektüre der „Dialektik“ das Kanonkapitel sowohl hinsichtlich der Gleichgültigkeit der transzendentalen Freiheit für das Moralische (und deren Exklusion¹¹¹) als auch die Behauptung der Beweisbarkeit der praktischen Freiheit durch Erfahrung verursacht, ist also keine: Weder liegt darin ein Widerspruch – wie sich anhand der Parallelstellen der „Dialektik“ und des „Kanons“ gezeigt hat –, noch gewinnt der Text durch eine „gemäßigte“, geschweige denn durch eine „starke PatchworkThese“¹¹² an Klarheit: Beide dienen nur dazu, die scheinbaren Gründe für eine
Und es folgt: „Warum aber der intelligibele Charakter gerade diese Erscheinungen und diesen empirischen Charakter unter vorliegenden Umständen gebe, das überschreitet so weit alles Vermögen unserer Vernunft es zu beantworten, ja alle Befugniß derselben nur zu fragen, als ob man früge: woher der transscendentale Gegenstand unserer äußeren sinnlichen Anschauung gerade nur Anschauung im Raume und nicht irgend eine andere gebe“. Siehe Schönecker 2005, vi, 5 ff., 94 ff., 142 ff. Obwohl die praktische Freiheit aufgrund des Moralischen (des Sollens) Spontaneität voraussetzt (siehe KrV, 364//A534/B562, Abs. 4). Siehe Schönecker 2005, 96 ff. Die Patchwork-These verteidigt, dass manche Passagen der KrV alte Schriftstücke Kants sind, welche er „bei der Niederschrift der KrV in diese eingebaut habe (wie etwa der Kanon)“ (Schönecker 2005, 97). Schönecker weist die starke Patchwork-These zurück erstens aufgrund des „principle of charity“ und zweitens, weil Kant sich innerhalb der Passage zur freien Willkür auf die Auflösung der dritten Antinomie bezieht (siehe KrV, 521.03//A801/B829 – 522.14/A804/B832). Demgegenüber vertritt er die schwache und gemäßigte Patchwork-These: Laut der schwachen soll man aufgrund der stetigen Entwicklung und Veränderung der Philosophie Kants nicht Textpassagen und Definitionen einer Schrift mit einer anderen erklären. Nach der gemäßigten „[ist] Kant im Kanon durch eine ältere und eigentlich überwundene Phase seines
6.2 Analytischer Teil
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Dunkelheit des Textes zu verdeutlichen; aber sie gehen dann auf die Passagen nicht vertiefend ein, sondern begnügen sich mit einer Inkompatibilitätsthese.
6.2.4.2 Die Freiheit im engen Sinne: Die praktische Freiheit bzw. die Freiheit „im praktischen Verstande“ in der „Dialektik“ und dem „Kanon“ Dass Kant sich im „Kanon“ keines naturalisierten Freiheitsbegriffs bedient¹¹³, (a) erweist sich aus den dargestellten Ausführungen zur Passage zur freien Willkür (KrV, 521.10//A802/B830) sowie der vorläufigen Passage zur Definition des Praktischen (KrV, 520.01//A800/B828). Die darin gefundenen Ergebnisse haben zu dem Schluss geführt, dass der „Kanon“ einen eminent moralischen Charakter hat; (b) ergibt sich aus der methodischen Passage KrV, 520.25//A801/B829, wo Kant die Strategie zur Untersuchung des Moralischen (als der „letzte[n] Absicht der […] Natur“) im Rahmen der Transzendentalphilosophie festlegt, nämlich: „[s]ich so nahe als möglich am Transzendentalen [zu¹¹⁴] halte[n], und das, was hiebei psychologisch, d. i. empirisch sein möchte, ganz bei Seite [zu¹¹⁵] setze[n]“; (c) erweist sich daraus, dass der praktische Freiheitsbegriff in der „Dialektik“ mit dem im „Kanon“ übereinstimmt¹¹⁶:
Denkens beeinflußt, und zwar so stark, daß dies zu theoretischen Spannungen innerhalb der KrV geführt hat – zum Kanonproblem“ (Schönecker 2005, 98). – Auch Kreimendahl 1990, 2, stimmt wegen der verschiedenen Absichten und Lehren, welchen die KrV nachgeht, der „PatchworkThese“ zu. Jedoch ist Kants Intention mit dem Werk eindeutig eine: die Methode der reinen Philosophie, namentlich der Metaphysik festzulegen. Also folgen die verschiedenen Lehren im Werk einer einheitlichen Intention. Nach Ludwig 2012, 183, wurde die 2. Auflage der KrV nur bis zum Paralogismenkapitel revidiert, weil die bereits verfasste KpV eine Revision der „Auflösung der Dritten Antinomie“ und des „Kanons“ impliziert. Die in den betreffenden Abschnitten der 2. Auflage hinzugefügten Korrekturen beschränken sich auf die sprachliche Ebene. Schönecker weist auch die These eines naturalisierten Freiheitsbegriffs im „Kanon“ zurück, aber aus dem Grunde, „daß der Freiheitsbegriff als (uneigentliche) ‚Tatsache’ keinesfalls als ‚Naturursache’ verstanden wird“ (Schönecker 2005, 83). Die Freiheit im praktischen Verstande sei also beweisbar und erfahrbar aber nicht im engen Sinne, weil wir uns von ihr „keine Darstellung in der Anschauung“ machen können und sie „mithin auch keines theoretischen Beweises ihrer Möglichkeit fähig ist“ (KU, AA 05: 468; beide Textausschnitte zitiert durch Schönecker 2005, 82). Zusatz ACGX. Zusatz ACGX. So auch Allison 1983 (span. Üb. 1992, 478 f.). Trotzdem vermag Allison keine Erklärung für die Behauptung der Beweisbarkeit und Erfahrbarkeit der Freiheit im „Kanon“ zu geben; von ihr stellt er nur fest, sie habe keine Parallelstelle in der „Dialektik“ (Allison 1992, 477 f.). Vergleiche Schönecker 2005, 19 ff., 78 f., der in der „Dialektik“ und dem „Kanon“ zwei „grundverschiedene“
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6 Der Ort der Moralität in der Kritik der reinen Vernunft (1781)
Dialektik
Kanon
transzendentale Freiheit, auch sog. „Spontaneität“ positiv: „Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen“ (A/B).
positiv: „in Ansehung ihrer Kausalität, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen“ (A/ B).
negativ: „Unabhängigkeit von empirischen Be- negativ: „Unabhängigkeit der Vernunft selbst dingungen“ (A/B). von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt“ (A/B). Freiheit im praktischen Verstande bzw. praktische Freiheit negativ: „Unabhängigkeit der Willkür von der Nöthigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“ (A/B).
negativ: „Unabhängigkeit von sinnlichen Antrieben“ (A/B).
positiv: „Vermögen […], sich […] von selbst zu bestimmen“ (A/B); „Daß […] Vernunft […] Causalität habe, […] ist aus den Imperativen klar, welche wir in allem Praktischen den ausübenden Kräften als Regeln aufgeben“ (A/B).
positiv: „[Bestimmung] durch [von der Vernunft vorgestellt(e)] Bewegursachen“; „nach Imperativen, d. i. objektiven Gesetzen der Freiheit, […] welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht“ (A/B).
Gegen Schöneckers Auslegung spricht auch noch sein eigenes Argument, dass die Textpassage zur Freiheit im zweiten Abschnitt des „Kanons“ ein Verständnis der
Begriffe praktischer Freiheit sieht, und zwar: Die als-ob-praktische Freiheit (APF) in der „Dialektik“ und die naturalisierte Freiheit im „Kanon“. (Dazu siehe oben 6.1.2). – Bei all den folgenden Passagen wird praktische Freiheit als Vermögen der Selbstbestimmung bzw. werden die Handlungen als Folge einer Bestimmung durch Gründe der Vernunft festgesetzt (es handelt sich hier um die positive praktische Freiheit): siehe KrV, [Dialektik] 364.02//A534/B562, 371.05//A548/B576, 373.16//A550/B578, 375.16 f.//A554 f./B582 f.; siehe KrV, [Kanon] 521//A802/B830. „[…] in diesen Handlungen, dadurch sie [sc. Vernunft] Gesetze vorschreibt, […] erkennen [wir] die praktische Freiheit […] als […] eine Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens“ (KrV, 521//A803/ B831). Die „reinen moralischen Gesetze“ betreffen „den Gebrauch der Freiheit“: Sie „bestimmen das Thun und Lassen“ und „gebieten schlechterdings“; sie „[bringen] freie Handlungen […] hervor“ (KrV, 524//A807/B835) und haben also „objektive Realität“ (KrV, 524//A808/B836). Siehe KrV, 527//A812/B840. „Die Idee einer moralischen Welt hat daher objective Realität, nicht als wenn sie auf einen Gegenstand einer intelligibelen Anschauung ginge (dergleichen wir uns gar nicht denken können), sondern auf die Sinnenwelt, aber als einen Gegenstand der reinen Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche“ (KrV, 525//A808/B836). „Die Moraltheologie ist nur von immanentem Gebrauche, nämlich unsere Bestimmung hier in der Welt zu erfüllen“ (KrV, 531.16//A819/ B847). Schließlich: Nur aus der Perspektive der positiven praktischen Freiheit hat es Sinn, von einem „System der sich selbst lohnenden Moralität“ zu sprechen.
6.2 Analytischer Teil
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Freiheit als transzendentaler Freiheit impliziert¹¹⁷. Schönecker sieht, dass die praktische Freiheit zwar die transzendentale voraussetzt. Dagegen unterscheidet er aber nicht zwischen notwendiger und hinreichender Bedingung: Denn Menschen können zwar transzendental frei sein (d. h., unabhängig von allen fremden, bestimmenden Ursachen sein und das Vermögen haben, eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen). Das bringt aber nicht mit sich, dass sie sich de facto und unausbleiblich moralisch selbstbestimmen (d. h. unabhängig von sinnlichen Antrieben, sich nach Imperativen, d. i. objektiven Gesetzen der Freiheit selbstbestimmen).
6.2.4.3 Fazit: Die Bedeutungen der Freiheit in der KrV Die Freiheit in der KrV hat also zwei Bedeutungen, die sich sowohl in der „Dialektik“ als auch im „Kanon“ finden: Die transzendentale Idee der Freiheit betrachtet unser Freiheitsvermögen im negativen und positiven Sinne und definiert uns insofern jeweils als vom natürlichen Kausalverhältnis unabhängig und nach uns selbst gewählten Prinzipien als selbstbestimmbar. Diese metaphysische Bedeutung der Freiheit impliziert also die Möglichkeit der Selbsttätigkeit („Spontaneität“ [KrV, 363.21//A533/B561]) des Handelnden und somit die Zurechenbarkeit aller seiner moralisch relevanten (hiermit auch unmoralischen) und nicht relevanten Handlungen (siehe KrV, 375.13 f.//A554 ff./B582 ff.). „Die Freiheit ist in dieser Bedeutung eine reine transscendentale Idee“ (KrV, 363.11//A533/B561), die alle unsere Vermögen, sie zu beweisen, überschreitet. Insofern gilt sie als ein „regulative[s] Prinzip der Vernunft“ (KrV, 375.13//A554/B582), anhand dessen gezeigt werden kann, dass Freiheit mitten in der Natur stattfinden kann. Hingegen betrifft die praktische Freiheit die Bestimmung des Willens selbst, die Handlungsprinzipien folgt: Sind dies pragmatische Gesetze, mit denen man beabsichtigt, bestimmte gesetzte Ziele zu verfolgen, so macht man von der Freiheit im weiten Sinne Gebrauch: Man ist selbsttätig, sofern man spontan bzw. von selbst handelt, d. h. man setzt sich seine eigenen Ziele und ist erster Anfang seiner Handlungen. Sind jene Prinzipien aber moralische Gesetze, deren Zweck die moralische Willensbestimmung an und für sich selbst ist, dann macht man von der Freiheit im engen Sinne Gebrauch: Es handelt sich um eigene, genuin menschliche Gesetze¹¹⁸, nach denen man sich nur richtet, um moralisch zu
Siehe Schönecker 2005, 159 ff. Nach Klugheitsregeln können auch Kinder und (anscheinend) bestimmte Arten Tiere handeln. Beiden wird Intelligenz (Rationalität) in einem gewissen Grad beigemessen, aber nicht
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6 Der Ort der Moralität in der Kritik der reinen Vernunft (1781)
handeln. Hier ist der Mensch nicht nur selbsttätig, d. h. erster Anfang seiner Handlungen, sondern diese geschehen außerdem aus praktischen Gesetzen der reinen Vernunft: Solche Gesetze und die diesen entsprechenden Handlungen implizieren einen konstitutiven Vernunftgebrauch, da beide als „Producte der reinen Vernunft“ (KrV, 520.13//A800/B828) gelten. Daher bringen sie einen Gebrauch der Freiheit im strengen Sinne mit sich. Folgt der Mensch in moralisch relevanten Beziehungen wegen eigener Interessen pragmatischen Gesetzen, – obwohl er sich seiner Natur gebührend nach moralischen Gesetzen bestimmen sollte –, dann missbraucht er seine Freiheit und verhält sich wider die Moralität. Dank dieser beiden Bedeutungen des Freiheitsbegriffs macht Kant einen weiteren Schritt hin zu seiner Konzeption der Ethik als einer, die eben keine Chimäre ist, sondern eine realisierbare Ethik.¹¹⁹ (siehe KrV, 526.36//A811/B839): Das Sollen ist mit dem Können verbunden: Wenn du sollst, dann kannst du. Das moralische Können (bzw. die moralische Freiheit) wird einerseits praktisch durch die transzendentale Freiheit als Vermögen der Selbsttätigkeit ermöglicht, andererseits ideell durch die Ideen von Gott und einer künftigen Welt aufgemuntert und unterstützt. Zum einen sind die moralischen Gesetze „Prinzipien der M ö g l i c h k e i t d e r E r f a h r u n g , nämlich solcher Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß[¹²⁰] in der G e s c h i c h t e des Menschen anzutreffen sein k ö n n t e n“ (KrV, 524.20//A807/B835). Denn, wie bereits in der „Dialektik“ gesagt: „Um das regulative Princip der Vernunft durch ein Beispiel aus dem empirischen Gebrauch desselben zu erläutern, nicht um es zu bestätigen […] man könne es gänzlich bei Seite setzen, wie dieser [sc. der vorgeführte Lebenswandel] beschaffen gewesen, und die verflossene Reihe von Bedingungen als ungeschehen, diese That [sc. eine boshafte Lüge] aber als gänzlich unbedingt in Ansehung des vorigen Zustandes ansehen, als ob der Thäter eine
Vernünftigkeit. Letztere ist aber hinsichtlich der Ethik, d. h. der ethischen Willensbestimmung und also der Bestimmung des Menschen als solchen eine notwendige Bedingung. Eine Ethik, die dem Menschen etwas gebietet, das er nicht realisieren und erfüllen kann, ist keine Ethik. Diesen Gedanken äußert Kant in seinen Bemerkungen der 1760er (siehe Bem., 139.01,21.) und besonders in der Vorlesung zur Moralphilosophie der 1770er Jahre (siehe V-Mo, 005.09 f./006 f. und oben 5.2.2). Kant meint hier moralische Handlungen. Vergleiche Schönecker 2005, 139 f. Fn. 69, wonach das „gemäß“ im spezifischen Sinne der GMS gelesen werden soll und hier also für die Lesart „pflichtmäßige Handlungen“ plädiert; und dies obwohl Schönecker der Meinung ist (und richtig sieht), dass dieser Gedanke mit dem unmittelbaren Kontext vom „Kanon“ im Ganzen nicht übereinstimmt und er daher letztlich nicht die von ihm als „einzig mögliche“ vorgestellte „Interpretationshypothese“ der „naturalisierten Freiheit“ sekundiert (was alles für die Leser_innen sehr verwirrend ist). Dazu siehe oben 6.1.2 (2), (3, a).
6.2 Analytischer Teil
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Reihe von Folgen ganz von selbst anhebe[¹²¹]. Dieser Tadel[¹²²] gründet sich auf ein Gesetz der Vernunft, wobei man diese als eine Ursache[¹²³] ansieht, welche das Verhalten des Menschen unangesehen aller genannten empirischen Bedingungen anders habe bestimmen können und sollen“ (KrV, 375.31 f.//A555/B583).
Zum anderen sagt Kant im „Kanon“: „die herrlichen Ideen der Sittlichkeit [sind] zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und durch dieselbe Vernunft a priori bestimmt und nothwendig ist, erfüllen“ (KrV, 527.28//A813/B841)¹²⁴.
Zwar „ist die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur bei der Einrichtung unserer Vernunft eigentlich nur aufs Moralische gestellt“ (KrV, 520.22// A801/B829). Aber dieses erschöpft nicht „den ganzen Zweck“ des Menschen; denn seiner zweifach empirischen und rationalen Natur nach setzt er sich „natürlich“ die Glückseligkeit und „durch dieselbe Vernunft a priori“ die Moralität als Zweck. Beide Zwecke bezeichnen ihn. Die zu erreichende Glückseligkeit ist aber keine bloß hedonistische Befriedigung von eigenen Bedürfnissen und Wünschen, sondern sie zielt auch dem Vernünftigsein gemäß auf die Vervollkommnung seiner Vermögen, d. h. die „Erfüllung seiner Bestimmung hier in der Welt“¹²⁵ (siehe KrV, 531.17//A819/B847). Erst durch die Realisierung von diesen beiden, den Menschen charakterisierenden Aufgaben kann er das höchste Gut erreichen.
Wie bereits dargestellt (siehe oben 6.1.2), vertritt Schönecker 2005, 19 ff. die Ansicht, dass sich der praktische Freiheitsbegriff in der „Dialektik“, im Unterschied zum „Kanon“, mit dem transzendentalen Freiheitsbegriff identifiziere, wobei „praktische“ Freiheit sich eigentlich nur auf die Anwendung der transzendentalen Freiheit im Praxiskontext bezieht. Während Schönecker im Theoriekontext die transzendentale Freiheit transzendental-praktische Freiheit nennt (TPF), nennt er die transzendentale Freiheit im Praxiskontext „als-ob-praktische Freiheit“ (APF); letztere soll einen bescheidenen Freiheitsbegriff schaffen, welcher für die Moralität praktisch hinreichend sei. Hingegen sei TPF als transzendentaler ein anspruchsvoller Begriff, der sich nicht beweisen lässt, und wird nur „praktisch“ genannt, weil er auf die Praxis und die Freiheit des Willens eingeht. Gemeint ist die Zurechnung der Handlung. Darunter versteht Schönecker 2005, 114 ff., 129, 137, die Vernunft als principium executionis. Siehe KrV, 526.36 f.//A811/B839: Ohne Gott und ein künftiges Leben wären die „moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der nothwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne jene Voraussetzung wegfallen müßte“. Dazu wird vorausgesetzt, dass Grund- bzw. Lebensbedürfnisse gedeckt werden können; erst dann hat man die Umstände, die ihm erlauben, sich moralisch zu entwickeln.
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6 Der Ort der Moralität in der Kritik der reinen Vernunft (1781)
Dass der Mensch „[seinen empirischen Charakter] […] durch Kräfte und Vermögen, die er in seinen Wirkungen äußert, [bemerkt]“ (KrV, 370.35//A546/B574), heißt, dass er irgendeine Art Erkenntnis von seiner Kausalität durch Freiheit im weiten Sinne hat: Der Mensch kann in seinen Handlungen bemerken, dass sie Folge einer eigenen Bestimmung seines Willens durch (pragmatische oder moralische) Vernunftgesetze sind; oder negativ, dass die Handlung nicht der Notwendigkeit der Natur, sondern einer anderen, und zwar „eigenen Ordnung nach Ideen“ gehorcht, d. h. der Vernunft; denn der Mensch kann z. B. hungern, weil er will, was die Tiere durch die Nötigung der Instinkte (sinnlichen Antriebe) nicht können. Deswegen betont Kant: „Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden.[¹²⁶] Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten“ (KrV, 373.32//A551/B579 Fn.). „Wir können also mit der Beurteilung freier Handlungen, in Ansehung ihrer Kausalität, nur bis an die intelligibele Ursache, aber nicht über diesselbe hinaus kommen; wir können erkennen,[¹²⁷] daß sie frei, d. i. von der Sinnlichkeit unabhängig bestimmt, und, auf solche Art, die sinnlichunbedingte Bedingung der Erscheinungen sein könne. Warum aber der intelligibele Charakter gerade diese Erscheinungen und diesen empirischen Charakter unter vorliegenden Umständen gebe, das überschreitet […] alles Vermögen unserer Vernunft es zu beantworten […]. Allein die Aufgabe, die wir aufzulösen hatten, verbindet uns hiezu gar nicht, denn sie war nur diese: ob Freiheit der Naturnotwendigkeit in einer und derselben Handlung widerstreite, und dieses haben wir hinreichend beantwortet, da wir zeigten, daß, da bei jener [sc. Freiheit] eine Beziehung auf eine ganz andere Art von Bedingungen möglich ist, als bei dieser, das Gesetz der letzteren die erstere nicht affiziere, mithin beide von einander unabhängig und durch einander ungestört stattfinden können“ (KrV, 376.32//A557/ B585).
Diese zwei Passagen aus der „Dialektik“ samt der Apperzeptionspassage geben also Auskunft, warum die praktische Freiheit im strengen Sinne, d. i. die moralische Freiheit in Worten des „Kanons“ durch Erfahrung beweisbar und erkennbar ist: Durch die Befolgung moralischer Gesetze, d. h. durch die Ausübung der Moralität – und bereits durch die bloße Überwindung von sinnlichen Antrieben bzw. das bloße Nicht-Nachgeben denselben gegenüber – weiß ich mich frei. Es handelt sich also um ein Erkennen im weiten Sinne, d. h. ein faktisches Bemerken von der
Das wird von Schönecker übersehen. Auch das übersieht Schönecker.
6.3 Exegetischer Teil
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Tätigkeit unseres Vermögens.¹²⁸ Kant geht im „Kanon“ auf „das Praktische“, d. h. auf die praktischen Bestimmungsgründe ein, indem diese die Äußerung des praktischen Vernunftgebrauchs sind. Wir haben also ein gewisses empirisches Bewusstsein unserer (im weiten Sinne) freien Handlungen, welches darauf zurückgeht, dass wir die Bestimmungsgründe unserer Handlungen wählen und diese zum Phänomen unserer Kausalität durch Freiheit gehören¹²⁹. Aufgrund dessen kann gesagt werden, dass wir tatsächlich freie Handlungen durchführen. Daher kann die transzendentale Idee der Freiheit im „Kanon“, welche nur theoretisch ergründet werden kann, „bei Seite gesetzt werden“ (KrV, 521.07//A802/ B830, 521.33//A803/B831). Nun: Indem die Frage „Was soll ich tun?“ nicht im Zuge der Begebenheiten nach der Naturnotwendigkeit gestellt wird, sondern eben nach dem „Grund einer möglichen Handlung“, der „ein bloßer Begriff ist“ (KrV, 371.27// A547/B575) sucht, so zielt diese Frage auf die Bestimmungsgründe, sofern diese frei und moralisch relevant sein können.
6.3 Exegetischer Teil Angesichts der philologischen Analyse und der daraus gezogenen Ergebnisse werde ich in diesem exegetischen Teil auf diejenigen Begriffe kommen, die für das Verständnis der Moralkonzeption Kants 1781 entscheidend sind. Dabei soll geklärt werden, inwiefern Kant in Hinblick auf den bisher zurückgelegten Weg – besonders hinsichtlich der Träume von 1766 und der Vorlesung zur Moralphilosophie, aber punktuell auch hinsichtlich der Bemerkungen von Mitte der 1760er Jahre – neue Schritte oder Neuansätze ausarbeitet.
Dazu siehe oben 6.2.4.1 meine Anm. zur zitierten Apperzeptionspassage (KrV, 370.33// A546 f./B576 f.). Schönecker 2005, 94 und 169, betont, dass Kant die praktische Freiheit „nicht wirklich“ beweist, sondern als eine „basale Tatsache behauptet“. Das veranlasst ihn aber nicht, andere Interpretationsmöglichkeiten zu ergründen, welche einen harmonischen Blick und hierbei erhellendes Licht auf die Texte der „Dialektik“ und des „Kanons“ hätten werfen können. Darunter können sowohl die pragmatischen Gesetze des freien Verhaltens (Freiheit in weitem Sinne, d. h. die Vernunft hat bloß einen regulativen Gebrauch zur „Vereinigung aller Zwecke“ und „Zusammenstimmung der Mittel“ [KrV, 520.01//A800/B828]) als auch die „reinen praktischen Gesetze“, d. i. „moralischen Gesetze“ (KrV, 520.14//A800/B828) fallen (Freiheit im strengen Sinne).
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6 Der Ort der Moralität in der Kritik der reinen Vernunft (1781)
6.3.1 Das höchste Gut Wie am Anfang dieses Kapitels gezeigt¹³⁰, zielt der „Kanon“ hauptsächlich auf die Frage nach der Hoffnung auf das höchste Gut, nämlich: dass das irdisch moralische Verhalten die entsprechende Folge der Glückseligkeit – wenn nicht auf Erden, so in einer künftigen Welt – mit sich bringt. In den Träumen hatte Kant bereits auf die „unvollendete[] Harmonie zwischen der Moralität und ihren Folgen in dieser Welt“ hingewiesen¹³¹ und warnte vor der „Schwierigkeit“, wegen des daraus entsprungenen „Übelstand[es] […] zu einem außerordentlichen göttlichen Willen eine Zuflucht [zu¹³²] nehmen […]: weil […] immer ein starker Verdacht übrig bleibt, daß die schwache Begriffe unseres Verstandes vielleicht auf den Höchsten sehr verkehrt übertragen worden“ (TG, 337.04). Im Moralkolleg Kaehler ruht die ganze Moralkonzeption auf dem summum bonum, sofern dieses aus Moralität und Glückseligkeit bestehend vorgestellt und thematisiert wird (V-Mo, 009.24 ff./012 ff.). Dort schließt sich Kant einer alten Position an: Das höchste Gut kann ohne Moralität oder ohne Glückseligkeit nicht erreicht werden. Davon ausgehend beruft sich Kant auf das Christentum als Ideal der Heiligkeit: Denn dieses macht weder die Moralität von der Glückseligkeit, noch die Glückseligkeit von der Moralität abhängig, sondern vielmehr lehrt es „ein Ideal der grösten reinen sittlichen Vollkommenheit“, an der „die Würdigkeit der Glükseligkeit“ teilhat. Anhand eines „göttlichen Beystandes“ hat dieses Ideal bei einer künftigen Welt „die gröste Triebfeder“ (V-Mo, 020.01/021). In der KrV gehört die Unstimmigkeit zwischen Moralität und Glück immer noch zu Kants Hauptproblemen. Es betrifft zwar die reine Philosophie; aber darum kann sich nicht die spekulative, sondern nur die praktische Vernunft kümmern, da die Frage nach der Hoffnung ein praktisches Interesse der Vernunft ausmacht. Zur Betrachtung und Lösung derselben greift sie auf Ideen zurück, welche für die spekulative Vernunft „transzendent“ sind, nämlich die Freiheit, Gott und die Unsterblichkeit der Seele. Diese sind nichts als Ideen, für die die Erfahrung keine empirische Anschauung darbietet, und als solche können sie nicht erkannt werden, „sondern sind, an sich betrachtet, ganz müßige und dabei noch äußerst schwere Anstrengungen unserer Vernunft“ (KrV, 519.31//A799/B827). Sofern diese Hoffnung also eine Hoffnung mit Blick auf das höchste Gut ist, wird sich die „dritte Frage“ allererst zwar mit der Moralität und deren reinen Prinzipien
Siehe oben 6.1.1, 6.1.2, 6.2.2.2. Ebenso siehe TG, 335.37. Zusatz ACGX.
6.3 Exegetischer Teil
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beschäftigen müssen; aber eigentlich ist sie keine moralphilosophische (das ist die zweite, „Was soll ich tun?“), sondern eine „moraltheologische“¹³³ Frage¹³⁴: Denn sie betrifft die höchste, quasi göttliche Bedingung, die das Erreichen des höchsten Guts ermöglichen soll, indem man „sich [des]selben in seinem Verhalten würdig gemacht hat“ (KrV, 525.23//A809/B837). Die Moralität ist also Bestandteil des höchsten Guts und conditio sine qua non des anderen Bestandteils, nämlich der Glückserfüllung; daher hat sie, als Glückswürdigkeit, gegenüber der Glückseligkeit die Oberhand¹³⁵. Ihrerseits erhält die „Glückseligkeit“ – in der Linie des Moralkollegs¹³⁶ – eine moralische Implikation¹³⁷ als mögliche, nicht in dieser Welt
Nachdem Kant die dritte Frage beantwortet und begründet hat, nennt er dieses System „Moraltheologie“ (KrV, 528.25//A814/B842; siehe KrV, 531.16//A819/B847). Davon hatte er bereits in KrV, 421.04, 33 Fn.//A632/B660 und 426.10//A641/B669 gesprochen. Kant gibt im zweiten Abschnitt des „Kanons“, von Absatz 9 bis 23, eine Antwort auf diese dritte Frage nach der Hoffnung (KrV, 525.14//A809/B837) und eine Begründung für dieselbe. Diese Begründung geht auf ein „System der sich selbst lohnenden Moralität“ (KrV, 525.34//A809/B837) und auf die Idee einer „höchsten Vernunft“ (KrV, 526.13//A810/B838) und auf das dank dieser „Intelligenz“ künftig zu erreichende Ideal des höchsten Guts (KrV, 526.19//A810/B838) zurück. KrV, 528.06//A813/B841: „[…] denn in der praktischen Idee sind beide Stücke wesentlich verbunden, obzwar so, daß die moralische Gesinnung als Bedingung den Antheil an Glückseligkeit und nicht umgekehrt die Aussicht auf Glückseligkeit die moralische Gesinnung zuerst möglich mache. Denn im letzteren Falle wäre sie nicht moralisch und also auch nicht der ganzen Glückseligkeit würdig“. V-Mo, 011.04 f./012 f.: „Das summum bonum ist kaum möglich, sondern ist nur ein Ideal, das ist eine MusterIdee, ein Urbild aller unsrer Begriffen vom Guten. […] Die vollkommenste Welt ist das höchste erschaffene Guth. Zu der vollkommensten Welt gehört aber die Glückseligkeit der vernünftigen Geschöpfe und die Würdigkeit dieser Geschöpfe solcher Glückseligkeit“. V-Mo, 020.01/021: „Das Ideal der Heiligkeit ist nach der Philosophie genommen das vollkommenste Ideal, denn es ist ein deal der grösten reinen sittlichen Vollkommenheit, weil aber solche von dem Menschen nicht kann erreicht werden, so gründet es sich auf den Glauben eines Göttlichen Beystandes. Nicht allein die Würdigkeit der Glükseligkeit hat in diesem Ideal die gröste sittliche Vollkommenheit, sondern dieses Ideal hat auch die gröste Triebfeder und das ist die Glükseligkeit aber nicht in dieser Welt. Also das Ideal des Evangelii hat die gröste Reinlichkeit der Sitten und auch die gröste Triebfeder, das ist die Glükseligkeit oder die Seligkeit“. V-Mo, 113.17/145: „Sittlichkeit und Glükseligkeit sind zwey Elemente des höchsten Guts, die von verschiedener Art sind und also unterschieden werden müssen. Aber sie sind in nothwendiger Beziehung auf einander. Die Sittlichkeit hat nothwendige Beziehung auf die Glükseligkeit, denn das moralische Gesetz führt natürliche Verheissung mit sich, habe ich mich so verhalten, daß ich der Glükseligkeit würdig bin, so kann ich auch hoffen dieselbige zu genüssen; und das sind die Triebfeder der Sittlichkeit. Die Glükseligkeit hat auch nothwendige Beziehung auf die Sittlichkeit, ich kann keinem versprechen die Glükseligkeit ohne die Sittlichkeit zu erlangen. Die Glükseligkeit ist kein Grund, ein principium der moralitaet, aber ein nothwendiges corolarium derselben“. Siehe V-Mo, 364.22 ff./451 ff.
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zu erreichende, d. h. künftige Wirkung eines irdischen moralisch geführten Lebens. Aber die angedeutete Unstimmigkeit zwischen beiden fordert den Eingriff einer höchsten Intelligenz, die beide Elemente irgendwann in Einklang bringt, somit der Ausübung moralischer Handlungen Sinn und Kräfte gibt. In dieser Hinsicht stellt der „Kanon“ einen Fortschritt bezüglich der Träume, aber eine gewisse Kontinuität bezüglich des Moralkollegs dar: Denn während Kant in den ersteren aufgrund der Grenzen unserer Vernunft vor der Gefahr warnte, zu einem verfälschten Begriff des höchsten Willens „Zuflucht zu nehmen“, stellt er im „Kanon“, in Übereinstimmung mit der Vorlesung zur Moralphilosophie, die Glückseligkeit und mit ihr „den Glauben eines Göttlichen Beystandes“ (V-Mo, 020.04/021) als notwendige Folgen der Sittlichkeit dar: „Gott also und ein künftiges Leben sind zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, nach Principien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen“ (KrV, 526.27//A811/ B839). Wie im Ethikkolleg kommt sowohl Gott als Triebfeder moralischen Handelns als auch als dem Moralgesetz unterworfen vor¹³⁸:
Diese Implikation des Glücksbegriffs mit der Moralität wird in der GMS nicht auftauchen, denn die GMS will ein System der reinen Ethik sein. Die Glückseligkeit ist höchstens als eine Pflicht zu verstehen, denn das Unglück kann uns zur Immoralität verführen (GMS, 399). Vergleiche Ludwig 2010, Fn. 21: „Komplementär fällt die Gotteslehre von 1781 schon 1786 öffentlich dem Heteronomie-Verdikt zum Opfer“. V-Mo, 062.02 f./77 f. „Allein zur Beurtheilung der Moralitaet brauchen wir kein drittes Wesen. Alle moralischen Gesetze können richtig seyn ohne ein drittes Wesen. Aber in der Ausübung wären sie leer, wenn kein drittes Wesen uns dazu nicht nöthigen möchte. Man hat also mit Recht eingesehen, daß ohne einen obersten Richter alle moralischen Gesetze ohne Effect wären, alsdenn wäre keine Triebfeder, keine Belohnung und keine Bestrafung. Also die Erkenntniß Gottes ist in Ansehung der Ausübung der moralischen Gesetze nothwendig. Allein zu Beurtheilung der moralischen Gesetze müssen wir kein drittes Wesen voraussetzen.Wie erkennen wir denn den göttlichen Willen? Es fühlt keiner den göttlichen Willen in seinem Herzen, und wir können auch aus keiner Offenbarung das moralische Gesetz erkennen, denn sonst wären diejenige darin völlig unwissend, die keine hätten, da doch Paulus selbst sagt, daß auch solche nach ihrer Vernunft gerichtet werden. Wir erkennen also den göttlichen Willen durch die Vernunfft. […] der göttliche Wille ist diesem moralischen Gesetz gemäß und deswegen ist sein Wille der heiligste und vollkommenste“. – Zur Betonung „Man hat also mit Recht eingesehen, daß …“, Stark (Hg.) 2004, Kommentar 41: „Vermutlich nicht auf eine bestimmte literarische Quelle beziehbar“. Dazu auch Schönecker 2005, 124, der m. E. zutreffend interpretiert, „daß Kant hier nicht seine eigene Position beschreibt, sondern eine andere Position referiert. Er bezieht sich nämlich auf die theologisch-moralischen Auffassungen der ‚Völker’ (V-Mo, 061.16/ 076) über Gott und Moral. […] ohne Gott [befolgen] die Menschen das Moralgesetz nicht. […] Kant will keineswegs sagen, daß man bloß mit Blick auf ‚Belohnung und Bestrafung’ moralisch handeln soll. Er will auch nicht sagen, daß Menschen nur allein aus diesen Triebfedern überhaupt handeln können. […] vielmehr […] bedürfen Menschen tatsächlich sehr oft […] der Hoffnung auf Belohnung und der Angst vor Bestrafung als Triebfeder“.
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„Einen solchen [weisen Urheber und Regierer], sammt dem Leben in einer solchen Welt […] sieht sich die Vernunft genöthigt anzunehmen, oder die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der nothwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne jene Voraussetzung wegfallen müßte. Daher auch jedermann die moralischen Gesetze als G e b o t e ansieht, welches sie aber nicht sein könnten, wenn sie nicht a priori angemessene Folgen mit ihrer Regel verknüpften, und also Ve r h e i ß u n g e n und D r o h u n g e n mit sich führten“ (KrV, 526.34 f.//A811/B839). „Ohne also einen Gott und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft a priori bestimmt und nothwendig ist, erfüllen“ (KrV, 527.26//A812/B841). „Wenn aber praktische Vernunft nun diesen hohen Punkt erreicht hat, nämlich den Begriff eines einigen[¹³⁹] Urwesens als des höchsten Guts, so darf sie sich gar nicht unterwinden, gleich als hätte sie sich über alle empirische Bedingungen seiner Anwendung erhoben und zur unmittelbaren Kenntniß neuer Gegenstände emporgeschwungen, um von diesem Begriffe auszugehen und die moralischen Gesetze selbst von ihm abzuleiten. Denn diese waren es eben, deren i n n e r e praktische Nothwendigkeit uns zu der Voraussetzung einer selbständigen Ursache oder eines weisen Weltregierers führte, um jenen Gesetzen Effect zu geben; und daher können wir sie nicht nach diesem wiederum als zufällig und vom bloßen Willen abgeleitet ansehen, insonderheit von einem solchen Willen, von dem wir gar keinen Begriff haben würden, wenn wir ihn nicht jenen Gesetzen gemäß gebildet hätten. Wir werden, so weit praktische Vernunft uns zu führen das Recht hat, Handlungen nicht darum für verbindlich halten, weil sie Gebote Gottes sind, sondern sie als göttliche Gebote ansehen, darum weil wir dazu innerlich verbindlich sind. Wir werden die Freiheit unter der zweckmäßigen Einheit nach Principien der Vernunft studiren und nur so fern glauben dem göttlichen Willen gemäß zu sein, als wir das Sittengesetz, welches uns die Vernunft aus der Natur der Handlungen[¹⁴⁰] selbst lehrt, heilig halten, und ihm dadurch allein zu dienen glauben, daß wir das Weltbeste an uns und an andern befördern. Die Moraltheologie ist also nur von immanentem Gebrauche, nämlich unsere Bestimmung hier in der Welt zu erfüllen, indem wir in das System aller Zwecke passen, und nicht schwärmerisch oder wohl gar frevelhaft den Leitfaden einer moralisch gesetzgebenden Vernunft im guten Lebenswandel zu verlassen, um ihn unmittelbar an die Idee des höchsten Wesens zu knüpfen, welches einen transscendenten Gebrauch geben würde, aber eben so wie der der bloßen Speculation die letzten Zwecke der Vernunft verkehren und vereiteln muß“ (KrV, 530.33//A818 f./B846 f.)¹⁴¹.
Lies: „einzigen“. In der Vorlesung zur Moralphilosophie spricht Kant auch von der „Natur“ und der „Beschaffenheit der Handlungen“. Der Gedanke kommt bereits vor in: Bem., 008.02 als „Bewegungsgrunde der Hoffnung“, Bem., 022.15 als „Belohnungen des künftigen Lebens“ und in V-Mo, 062.06/077 : „Man hat also mit Recht eingesehen, daß ohne einen obersten Richter alle moralischen Gesetze ohne Effect wären, alsdenn wäre keine Triebfeder, keine Belohnung und keine Bestrafung. Also die Erkenntniß Gottes ist in Ansehung der Ausübung der moralischen Gesetze nothwendig. Allein zur Beurtheilung der moralischen Gesetze müssen wir kein drittes Wesen voraussetzen“.
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In entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht erscheint auffällig, dass Kant zwar von „Triebfedern der Ausübung“ spricht, aber auf seine eigene Prägung eines „principium executionis“ nicht zurückgreift¹⁴²: Wie vorhin gezeigt¹⁴³, stellt Kant die Frage nach einem moralischen Ausübungsprinzip (bzw. nach einer moralischen Triebfeder), nämlich, wie das reine Sittengesetz „Triebfeder“ des Handelns sein kann, bereits im Moralkolleg¹⁴⁴ und auch später in der Grundlegung. Im Rahmen der Vorlesung wurde sie als unbeantwortbar dargestellt¹⁴⁵ und dadurch die Möglichkeit eines „principium executionis“ abgelehnt¹⁴⁶. Ebenso ergibt sich aus der Grundlegung (und zwar deutlicher), dass die Frage unbeantwortet bleiben muss, nämlich aufgrund der Grenzen der Vernunft¹⁴⁷. Aus der Perspektive der KrV soll
Vergleiche Schönecker 2005, der die Redeweise „principium executionis“ häufig benutzt: 114, 116, 121, 124, 128 Fn. 48, 129, 131, 137, 139. Siehe oben 5.2.2. V-Mo, 056.08/070: „[W]as bewegt mich, diesen Gesetzen gemäß zu leben“. V-Mo, 068.14 f./085: „[D]as subjective principium, die Triebfeder der Handlung ist das moralische Gefühl. […] Das moralische Gefühl ist eine Fähigkeit durch ein moralisches Urtheil afficirt zu werden. […] Das kann und wird auch keiner einsehen, daß der Verstand sollte eine bewegende Krafft zu urtheilen haben. Urtheilen kann der Verstand freylich, aber dieses Verstandes-Urtheil eine Krafft zu geben, und daß es eine Triebfeder werde den Willen zu bewegen, die Handlung auszuüben, das ist der Stein der Weisen“. [Zum „Stein der Weisen“ siehe Stark (Hg.) 2004, 69, Kommentar Nr. 47]. V-Mo, 111.12/142: „Die sittlichen BewegungsGründe müssen gantz besonders vorgetragen werden, und alles übrige, auch die gutartigen Triebfeder abgesondert werden“. V-Mo, 072.01/088: „Der Mensch hat nicht solche geheime Organisation durch obiective Gründe bewogen zu werden, es ist keine Feder von Natur, die da könnte aufgezogen werden solches hervorzubringen“. Dazu siehe oben 5.2.2. GMS, 461.25: „Wie nun aber reine Vernunft, ohne andere Triebfedern, die irgendwoher sonst genommen sein mögen, für sich selbst praktisch sein, d. i. wie das bloße Prinzip der Allgemeingültigkeit aller ihrer Maximen als Gesetze […], ohne alle Materie (Gegenstand) des Willens, woran man zum voraus irgendein Interesse nehmen dürfe, für sich selbst eine Triebfeder abgeben […], oder mit anderen Worten: wie reine Vernunft praktisch sein könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend“. Zu den Grenzen der Vernunft siehe GMS, 458, Abs. 27 und 28; 462, Abs. 34; 463). – Auf Hinske 1994, 28 zurückgreifend (Kant „hat […], sehr zugespitzt formuliert, gar keine Grundlegung schreiben wollen“) vertritt Schwaiger 1999, 75, Kant beabsichtigte mit der GMS, eigentlich keine Grundlegung, sondern eine Metaphysik der Sitten zu liefern; daher verstände es sich, dass die Redeweise einer „Grundlegung“ erst in der Vorrede, und zwar viermal angewendet wird, während sie in der ganzen Schrift nicht vorkommt. „Den endgültigen Titel [hat Kant] erst in allerletzter Minute gefunden“ (Hinske 1994, 28). Dieser Auffassung gegenüber möchte ich vertreten, dass die GMS keine Metaphysik, sondern eine eigentliche Grundlegung ist, indem „nichts mehr als die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“ (GMS Vorrede, 392) sein soll. Mit dieser Absicht analysiert Kant die grundlegenden moralischen Begriffe und Ideen, erforscht die Beziehung zueinander und leitet davon die grundsätzliche Form des Moralprinzips (GMS I, 402), die allgemeine Formel desselben (den kategorischen Imperativ) (GMS, 421) und die grundlegenden Formulierungen desselben (GMS II, 421,
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429, 431; 436, 436) ab. Dies erlaubt uns, die grundsätzliche, moralische Frage „Wie soll ich handeln?“ zu beantworten und dadurch das Beurteilungsprinzip zu gewinnen, anhand dessen auch die Frage nach dem moralischen Wert der Handlung erörtert werden kann. Beweise für diese Lesart gibt es mehrere: 1) Die aus der ganzen Analyse entstehenden metaphysischen Fragen werden immer auf den letzten, synthetischen Abschnitt (GMS III) geschoben, wo die letzten Gründe der Moraltheorie, nämlich die transzendentale und praktische Freiheit, die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs und auch die der reinen praktischen Vernunft thematisiert werden. (Dennoch müssen sie letztlich aufgrund der Grenzen der menschlichen Vernunft unergründet bleiben). 2) Ebenso spricht Kants zehnte Fussnote in der GMS gegen Hinskes Auslegung: „Man muß hier wohl merken, daß ich die Eintheilung der Pflichten für eine künftige Metaphysik der Sitten mir gänzlich vorbehalte, diese hier also nur als beliebig (um meine Beispiele zu ordnen) dastehe“ (GMS, 421.26). 3) Kant kündigt die Ausarbeitung der Metaphysik der Sitten im Brief an Schütz vom September 1785 an (nach der Veröffentlichung der GMS) und spricht von der Bearbeitung des „Systems der praktischen Weltweisheit“ im Brief an Berig vom April 1786 (siehe Natorp 1913, 496). Daraus schließt Natorp, Kant hat nach dem Erscheinen der GMS vor, erstens eine „Metaphysik der Sitten“ und eine „Metaphysik der Natur“ zu liefern, und zweitens eine „Kritik der praktischen Vernunft“ zu schreiben. Erst wegen der negativen Beurteilungen, die seine KrV und GMS bekommen, entscheidet Kant, die KpV davor zu schreiben, die alle Missdeutungen heben sollte (siehe Natorp 1913, 496). – Im Rahmen der GMS bleibt also wenig Platz für die Metaphysik, die Fragestellung beschränkt sich ganz trocken auf das Moralprinzip und die Frage: „was ich […] zu thun habe, damit mein Wollen sittlich gut sei“ (GMS, 403.18). Damit liefert die GMS die Grundlage für die Metaphysik der Sitten. Im Unterschied zur KrV ist sie aber keine Propädeutik, da Kant die Festsetzung der Methode der reinen Philosophie (bzw. der Metaphysik im Allgemeinen) bereits mit der KrV geliefert hat (KrV, 465 f.//A707 f./B735 f., 543//A841/B869; siehe Natorp 1913, 491, 494). Hingegen macht die GMS die Grundlage des Systems der Sitten aus und gehört als solche zu ihm. – Sogar die Anwendung des dargelegten Prinzips der Moral wird ausgeschlossen, weil, „wenn es auch niemals Handlungen gegeben habe, die aus solchen reinen Quellen entsprungen wären, dennoch hier auch davon gar nicht die Rede sei, ob dies oder jenes geschehe, sondern die Vernunft für sich selbst und unabhängig von allen Erscheinungen gebiete, was geschehen soll, mithin Handlungen, von denen die Welt vielleicht bisher noch gar kein Beispiel gegeben hat, an deren Thunlichkeit sogar der, so alles auf Erfahrung gründet, sehr zweifeln möchte, dennoch durch Vernunft unnachlaßlich geboten seien“ (GMS, 407.36,3). – In der KpV von 1788 (vielleicht aufgrund der durch die unbeantworteten Fragen in der GMS III entstandenen Unzufriedenheit? – Oder vielleicht mit Blick auf seine alte Absicht, einmal eine Metaphysik der Sitten zu liefern? Dazu siehe Natorp 1913) wird Kant zum Teil auf diese praktische Metaphysik eingehen: Nach einer Elementarlehre, wo er Grundsätze, Gegenstand und Triebfedern der reinen praktischen Vernunft analysiert, befasst er sich mit der Lehre des höchsten Guts und der Dialektik, in die die reine praktische Vernunft beim Erwägen des höchsten Guts gerät. So stellt Kant deutlich fest: „Unter der Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft kann man nicht die Art (sowohl im Nachdenken als im Vortrage) mit reinen praktischen Grundsätzen in Absicht auf ein wissenschaftliches Erkenntniß derselben zu verfahren verstehen, welches man sonst im Theoretischen eigentlich allein Methode nennt (denn populäres Erkenntniß bedarf einer Manier, Wissenschaft aber einer Methode, d. i. eines Verfahrens nach Principien der Vernunft, wodurch das Mannigfaltige einer Erkenntniß allein ein System werden kann). Vielmehr wird unter dieser Methodenlehre die Art verstanden, wie man den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemüth, Einfluß auf die Maximen desselben verschaffen, d. i. die ob-
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also die Frage nach der moralischen Triebfeder als eine dialektische typisiert werden, d. h. als eine solche, die die Vernunft weder abweisen noch beantworten kann¹⁴⁸. Denn sie ist analog zur in der Vorrede der ersten Auflage der KrV gestellten Frage im theoretischen Bereich: „Die andere [sc. Frage] geht darauf aus, den reinen Verstand selbst, nach seiner Möglichkeit und den Erkenntniskräften, auf denen er selbst beruht, mithin ihn in subjektiver Beziehung zu betrachten und, obgleich diese Erörterung in Ansehung meines Hauptzwecks von größer Wichtigkeit ist, so gehöret sie doch nicht wesentlich zu demselben; weil die Hauptfrage immer bleibt, was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen und nicht, wie ist das Ve r m ö g e n z u D e n k e n selbst möglich?“ (KrV, 011.33 f.// AXVIf.).
Nun bleibt zwar der moralphilosophische Ansatz der Vorlesung: Ein moralischer Wert kann nur auf der moralischen Gesinnung beruhen (siehe KrV, 529.04//A815/ B843; 528.07//A813/B841). Aber der markant moraltheologische Ansatz im „Kanon“ wird jenen verschleiern: Denn zum einen konzentriert Kant offenbar seine Rede auf eine individuelle Glückseligkeit, da die Glückseligkeit letztlich als ein notwendiger Zweck für jedermanns moralischen Handeln (als ein zum ganzen Zweck gehörender Bestandteil) angesehen wird; und zum anderen weil Kant auf der Triebfeder des Gesetzes (bzw. dessen „verbindende Kraft“, „angemessene Folgen“, „Effekt“, „notwendigen Erfolg“ usw.) beharrt. Erst im zuletzt zitierten Absatz vom zweiten Abschnitt des „Kanons“ (KrV, 530.33//A818 f./B846 f.)kehrt er zu seinem moralphilosophischen Ansatz zurück, um die Bodenhaftung nicht zu verlieren. Dann heißt es: „Wenn aber praktische Vernunft nun diesen hohen Punkt erreicht hat, nämlich den Begriff eines einigen Urwesens, als den höchsten Guts, so darf sie sich gar nicht unterwinden, […] um von diesen Begriff auszugehen, und die moralischen Gesetze selbst von ihm abzuleiten“ (KrV, 530.33//A818 f./B846 f.).
Aber, wenn es so ist, stellt sich einerseits die Frage: Warum sollten überhaupt die Moralgesetze als bloße Hirngespinste angesehen werden, wenn nicht Gott und ein jectiv praktische Vernunft auch subjectiv praktisch machen könne“ (KpV, AA 05: 151). Die Grundlage des 1785 dargelegten Systems der Sitten wird dabei (siehe KpV, Die Analytik der reinen praktischen Vernunft, Erstes Hauptstück) zwar durch den verdeutlichen Ansatz des „Faktums der Vernunft“ aktualisiert, aber nicht gründlich bearbeitet. Hingegen wird die im „Kanon“ der KrV dargestellte „Moraltheologie“ bzw. seine praktische Metaphysik mit der Lehre des höchsten Guts und der Postulatenlehre bezüglich der Ideen Gottes und der Unsterblichkeit der Seele sorgfältig ergründet. (Auf diese lange Fn. werde ich mich in Kap. 7 beziehen). So auch Schönecker 2005, 128 Fn. 48 (auch 125, 127).
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künftiges Leben angenommen werden? Da – so Kant – die reine Vernunft in ihrem moralischen Gebrauch „P r i n z i p i e n d e r M ö g l i c h k e i t d e r E r f a h r u n g “ (KrV, 524//A807/B835, Abs. 7) enthält, sollte das, was sie durch „sittliche Vorschriften“ gebietet, keine „leere[n] Hirngespinste“ (KrV, 526//A811/B840) sein, sondern praktisch realisierbare Zwecke, d. h. „Handlungen, die […] in der G e s c h i c h t e des Menschen anzutreffen sein k ö n n t e n“: Das, was „geschehen soll“, muss auch „geschehen können“ (KrV, 524//A807/B835; siehe KrV, 376.01// A555/B583) und hat also „objektive Realität“ (KrV, 525//A808/B836). Warum tritt dann die Hoffnung im „Kanon“ mit einer umso bedeutsameren Wichtigkeit als die Sittlichkeit selbst auf, wenn wir auf die Idee Gottes und des künftigen Lebens erst aufgrund des Sittengesetzes kommen sollen und wenn die Moralgesetze als „P r i n z i p i e n d e r M ö g l i c h k e i t d e r E r f a h r u n g “ gelten? Andererseits war Kant bemüht, die Anthropologie immer im Auge zu behalten, um keine schwärmerische, sondern eine von Menschen durchführbare Moralphilosophie zu entwickeln.¹⁴⁹ D. h., ob und welche angeblichen Pflichten als „leere Hirngespinste“ zu schildern sind, sollte sich nicht aus der Moraltheologie, sondern, wenn nicht direkt aus dem eigentlichen moralphilosophischen Diskurs, so zuletzt aus der Anthropologie ergeben. Die Antwort auf diese fragenden Gedanken lautet also folgendermaßen: In diesen Passagen der KrV gewinnt die „systematische Einheit aller Zwecke“ und darunter der Blick auf den letzten Sinn moralischen Handelns die Oberhand: Erst wenn ein Gott da ist, der nicht nur die verdiente Folge meines moralischen Handelns zusichern und meine Aufopferung und Schmerzen mit der (individuellen) Glückseligkeit belohnen kann, sondern auch die den moralischen Handlungen entsprechenden Wirkungen in der hiesigen Welt gewährt und dadurch den Fortschritt der Geschichte der Menschheit garantiert, erst dann finde ich die genügenden Kräfte, bei meinen aufwendigen moralischen Zwecken zu bleiben, „das Weltbeste an uns und an andern [zu¹⁵⁰] befördern“ und nicht aufzugeben.¹⁵¹ Es
Siehe V-Mo, 004.32 ff./005 ff.; ebenso (zitiert durch: Stark (Hg.) 2004, Kommentar 2) siehe VAnth/Fried, AA 25: 472; Refl. 6706 und 7203, AA 19: 137.05 und 283.02 f. Zusatz ACGX. Für die Reifung dieses Gedankens der Moraltheologie als einer der Moralität Sinn gebenden Perspektive danke ich meiner Zweitbetreuerin Prof. Dr. Andrea Esser und meiner Erstbetreuerin Begoña Román. Siehe Schönecker 2005, 132. KrV, 523.18//A805 f./B833 f.: „Denn alles H o f f e n geht auf Glückseligkeit und ist in Absicht auf das Praktische und das Sittengesetz eben dasselbe, was das Wissen und das Naturgesetz in Ansehung der theoretischen Erkenntniß der Dinge ist. Jenes läuft zuletzt auf den Schluß hinaus, daß etwas s e i (was den letzten möglichen Zweck bestimmt), w e i l e t w a s g e s c h e h e n s o l l ; dieses, daß etwas s e i (was als oberste Ursache wirkt), w e i l e t w a s g e s c h i e h t “.
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wäre völlig absurd, dass die Vernunft uns etwas (das Sollen) als schlechthin notwendig gebietet, wenn dies weder realisierbar noch einen „notwendigen Erfolg“ haben und vergeblich sein sollte. Dann wären doch „die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen […]. Daher auch jedermann die moralischen Gesetze als Gebote ansieht, welches sie aber nicht sein könnten[¹⁵²], wenn sie nicht a priori angemessene Folgen mit ihrer Regel verknüpften“ (KrV, 526.36// A811/B839). In der KrV gelingt es Kant mit der „Transzendentalen Ästhetik“, die Grenzen des Verstandes und der Vernunft zu ziehen, aber mit dem Kanon bestimmt er den Rahmen, in dem die notwendige Idee Gottes eine legitime Abhandlung bekommen darf: „Die Moraltheologie ist also nur von immanentem Gebrauche, nämlich unsere Bestimmung hier in der Welt zu erfüllen“ (KrV, 531.16//A819/B847). Auf diese Weise durchläuft das alte, im Moralkolleg von Kant gefasste Ideal des höchsten Guts eine grundlegende Entwicklung von der Konzeption einer Glückswürdigkeit bis zu der einer Moraltheologie, die – aus dem notwendigen Moralgesetz auf die Ideen Gottes und einer künftigen Welt notwendig schließend – nicht nur die Moral (als Kompendium der richtigen Verhaltensregeln) vom Einwand einer Chimäre befreit (siehe V-Mo, 005.09/006), sondern auch die Moralität (als ausgeübte Moral) mit einem allgemeinen, die ganze Geschichte der Menschheit mit einschließenden Sinn auflädt: Mit meiner Moralität trage ich zur einer künftigen moralisch besseren Welt bei.
6.3.2 Die Gesetze des Handelns und der Begriff der Notwendigkeit Hinsichtlich des Begriffs der Notwendigkeit und der Gesetze, die menschliche Handlungen regieren, liefert die KrV im Vergleich zum Moralkolleg keinen besonderen Beitrag: In der Vorlesung zur Moralphilosophie hatte Kant die bekannte Klassifikation der Imperative dargestellt. Aber hier wird eine solche nicht erneut vorgetragen, denn die Ethik ist jetzt nicht der eigentliche Gegenstand, Kant sucht nicht Begriffe und Grundsätze der Moral zu bestimmen und zu ergründen, bzw. eine Moraltheorie als System festzusetzen. „Das Sollen“ (KrV, 371.17//A547/B575) bzw. „das Moralische“ (KrV, 520.24//A801/B829) kommt nur in Betracht, sofern es mit Blick auf den richtigen Gebrauch der Freiheit in der „Dialektik“ und auf die Hoffnung auf eine bessere Welt im „Kanon“ eine notwendige Bedingung ist. Der allgemeine Rahmen der KrV ist aber die Transzendentalphilosophie, welche die
Damit bezieht sich Kant nicht auf die Essenz der Moralgesetze, sondern auf ihre Gegenwärtigkeit und Wirksamkeit in der Wirklichkeit.
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Grenzen des Verstandes und der Vernunft zu ziehen hat und sich größtenteils (nämlich in der „Transzendentalen Elementarlehre“) mit der Frage beschäftigt: „Was kann ich wissen?“ (KrV, 522.32//A805/B833). In der „Transzendentalen Methodenlehre“ wird Kant die Freiheit samt dem Sollen und die Hoffnung auf Glückseligkeit insofern behandeln, als beide das praktische Interesse unserer reinen Vernunft betreffen. Nun wird von den „N a t u r g e s e t z e n“ gesprochen, „die nur von dem handeln, w a s g e s c h i e h t “ (KrV, 521.24//A802/B830), während die moralischen Gesetze „schlechthin gebieten“¹⁵³ (KrV, 520.13//A800/B828), „w a s g e s c h e h e n s o l l , ob es gleich vielleicht nie geschieht“ (KrV, 521.23//A802/B830)¹⁵⁴. „Dieses Sollen nun drückt eine mögliche Handlung aus, davon der Grund nichts anders als ein bloßer Begriff ist; da hingegen von einer bloßen Naturhandlung der Grund jederzeit eine Erscheinung sein muß“ (KrV, 371.27//A547 f./B575 f.). Die moralische Handlung geht bloß auf das Sollen zurück: Sie hat keinen anderen Grund oder Zweck als die Erfüllung des Sollens durch die Handlung selbst, denn sie wird wegen ihrer „i n n e r e [n] praktische[n] Nothwendigkeit“ (KrV, 531.02//A818/ B846), d. h. für sich selbst durchgeführt. Dagegen kann eine nicht moralische Handlung einzig und allein als Wirkung oder Folge einer vorigen Begebenheit angesehen werden. Der Grund derselben muss also auf eine Naturursache zurückgehen, die die Handlung auf die eine oder andere Weise bedingt, d. h. notwendig macht. Die Handlung geschieht also nicht an und für sich selbst, sondern um eines weiteren Zieles willen. Das ist der Fall bei den Handlungen, welche nach „p r a g m a t i s c h e [n] Gesetzen“ (KrV, 520.08//A800/B828) bzw. „Klugheitsregel [n]“ (KrV, 523.28//A806/B834) vorgenommen werden und deren letzte Bestimmung ein „bedingtes Wollen“ (KrV, 371.36//A548/B576) ist, nämlich „der Glückseligkeit […] teilhaftig […] zu werden“ (KrV, 523.32//A806/B834). Zwar „muß die Handlung […] unter Naturbedingungen möglich sein, wenn auf sie das Sollen gerichtet ist; aber diese Naturbedingungen betreffen nicht die Bestimmung der Willkür selbst, sondern nur die Wirkung und den Erfolg derselben in der Er-
A807/B835, Abs. 6: „[…] und daß diese Gesetze s c h l e c h t e r d i n g s (nicht bloß hypothetisch, unter Voraussetzung anderer empirischen Zwecke) gebieten und also in aller Absicht nothwendig seien“. Diese Formulierung und Entgegensetzung von Natur- und Moralgesetzen kommt mehrmals vor: Bereits in der „Dialektik“, siehe KrV, 371//A547 f./B575 f., 373//A550/B578; und im „Kanon“, siehe KrV, 523//A805 f./B833 f. Ähnlich bereits im Moralkolleg, wo der Gegensatz aber zwischen Moral und Anthropologie bzw. Klugheit aufgemacht wird: „Eine jede objective Regel sagt, was geschehn soll, wenn es auch niemals geschicht, die subjective Regel aber sagt, was da würklich geschicht“ (V-Mo, 004.29/005). Siehe V-Mo, 053.03/065. In der Vorrede der GMS, 387 f. wird aber zur Abgrenzung der Moral wieder auf dieselbe Gegensätzlichkeit mit der Natur zurückgegriffen.
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scheinung“ (KrV, 371.30//A547 f./B575 f.). Im Gegensatz zu moralischen Handlungen werden aber die Zwecke von pragmatischen Handlungen „von den Sinnen empfohlen[]“ (KrV, 520.09//A800/B828). Die hier vorgestellte Unterscheidung fungiert aber nicht als kanonische Klassifikation praktischer Regeln, wie wir sie aus der Vorlesung zur Moralphilosophie und der Grundlegung kennen. Denn, wie gesagt, Kant geht es hier nicht um eine Typisierung möglicher Handlungsweisen, sondern um die Hoffnung auf das „Weltbeste“ (KrV, 531.16//A819/B847). Erst mit dieser Absicht werden also die unterschiedlichen Handlungstypen betrachtet, und, wie gesehen, werden die „pragmatischen Gesetze“ häufig nur zur Abgrenzung von den „moralischen“ verwendet. Ebenso werden die Regeln der Geschicklichkeit – die zur bekannten Triade in Kants Handlungstheorie gehört¹⁵⁵ – überhaupt nicht betrachtet. Aus diesen Gründen bezeugen Kants Ausführungen in der KrV zu moralischen und pragmatischen Gesetzen und der sie charakterisierenden Notwendigkeit kein weiterer Schritt, sondern eine Kontinuität mit Blick auf das Moralkolleg.
6.3.3 Wille: arbitrium liberum versus arbitrium brutum Die Begriffe des (menschlichen) Willens und der (menschlichen) Willkür werden in der KrV alternierend und gleichbedeutend angewendet. Das Konzept wird zweimal definiert, einmal in der „Dialektik“ und ein anderes Mal im „Kanon“; beide Male wird aber auf die „Willkür“ und ihre lateinische Entsprechung „arbitrium“ zurückgegriffen. In beiden Fällen geht diese Definition auf die Unterscheidung zwischen „freier Willkür“ bzw. „arbitrium liberum“ und „tierischer Willkür“ bzw. „arbitrium brutum“ zurück, eine Distinktion, die bei Kant nicht neu ist: Sie ist bereits in der Ethik-Nachschrift in denselben Fachtermini zu finden¹⁵⁶:
Siehe GMS, 412 ff. und siehe V-Mo, 007.11/008. V-Mo, 045.25/054 passim 047.11/057: „Die menschliche Willkür ist ein arbitrium liberum, indem sie nicht per stimulos necessitirt wird. Die Thierische Willkür ist ein arbitrium brutum und nicht liberum, weil sie durch stimulos necessitirt werden kann zE. Wenn ein Mensch zu einer Handlung gedrungen wird durch viele und grausame Quaal, so kann er doch nicht gezwungen werden die Handlung zu thun, wenn er nicht will, er kann ja die Quaal ausstehen. Comparative kann er zwar gezwungen werden, aber nicht stricte, es ist doch möglich die Handlung ohnerachtet aller sinnlichen Antriebe dennoch zu unterlassen, das ist die Natur des arbitrii liberi. Die Thiere werden per stimulos necessitirt; so muß ein Hund essen wenn ihm hungert und er was vor sich hat, der Mensch kann sich aber in demselbigen Fall enthalten. Demnach kann ein Mensch pathologice gezwungen werden, aber nur comparative zE durch die Tortur. [passim] Moralisch zwing ich einen durch motiva objective moventia, durch BewegungsGründe der Vernunfft mit seiner grösten Freyheit, ohne allen Antrieb. Demnach gehört ein grosser Grad der Freyheit um moralisch
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Ein „freyer Wille“ bzw. „arbitrium liberum“ ist derjenige, der „von den stimulis frey“ (V-Mo, 047.17/057) ist, und dem ein „grosse[r] Grad der Freyheit“ (V-Mo, 045.25/054) eigen ist. Er ist sinnlich, aber kann nur durch einen „practischen Zwang“ (V-Mo, 045.20/53 f.), d. h. „durch motiva objective moventia“ bzw. „durch BewegungsGründe der Vernunfft“ (V-Mo, 047.12/056 f.) genötigt werden. Hingegen ist die „thierische Willkür“ bzw. „arbitrium brutum“ (V-Mo, 045.26/054) nicht frei, weil sie durch den „pathologischen Zwang“ bzw. „durch stimulos necessitirt wird“ (V-Mo, 045.20/53 f.). Insofern leistet Kant 1781 auch hier keinen besonderen neuen Beitrag¹⁵⁷. Die einzige Passage im „Kanon“ der KrV, die den Willensbegriff betrifft und in Hinblick auf das gesamte entwicklungsgeschichtliche Stadium bemerkenswert ist, lautet: „Aber dieses System der sich selbst lohnenden Moralität ist nur eine Idee, deren Ausführung auf der Bedingung beruht, daß j e d e r m a n n thue, was er soll, d. i. alle Handlungen vernünftiger Wesen so geschehen, als ob sie aus einem obersten Willen, der alle Privatwillkür in sich oder unter sich befaßt, entsprängen“ (KrV, 525.34 f.//A810/B838).
gezwungen zu werden, denn alsdann ist das arbitrium liberum mächtiger, es kann durch BewegungsGründe gezwungen werden und ist von den stimulis frey. Ie mehr also jemand von den stimulis frey ist, desto mehr kann er moralisch necessitirt werden. Die Freyheit wächst mit dem Grade der Moralitaet“. Dass Kant auf die Natur des Willens bzw. der Willkür viel Gewicht legte, und dass er darauf fußend eine Reihe ethisch-begrifflicher Unterscheidungen unternommen hat, wird mit der hier gelieferten Studie über die Bemerkungen aus den 1760er Jahren bestätigt (siehe oben Kap. 3). Als Beispiel zur Erinnerung gelte hier die Sorge Kants um die Menschenwürde, und zwar als Resultat eines der Spontaneität unseres Willens entsprechenden Verhaltens (siehe oben 3.2.2.1): Ein von Natur aus spontaner Wille wie der menschliche, der sich jedoch dem Willen eines Anderen unterwirft, ist widersprechend und verachtungswürdig (siehe Bem., 052.12). Daher ist es eine Anforderung an den Menschen, seiner Spontaneität Rechnung zu tragen, und sich „aus inneren Bewegungsgründen“ (Bem., 053.22) zu verhalten, letztlich ein „vollkommener Wille“ zu sein, „in so fern er nach den Gesetzen der Freyheit der großte Grund des Guten überhaupt ist“ (Bem., 109.05). – In den Bemerkungen ist ebenso die Unterscheidung zwischen einem im strengen Sinne „vollkommenen“ bzw. „göttlichen“ und „unvollkommenen“ bzw. „menschlichen“ Willen zu finden. Diese Distinktion betrifft aber – im Gegensatz zur Differenzierung im Ethikkolleg und der KrV zwischen arbitrium liberum und brutum – die Charakteristika, die eine moralisch gute menschliche Willkür haben soll, und hebt hervor, warum die Moralität erst in Hinblick auf das menschliche Handeln, nicht aber auf ein vollkommenes Wesen wie Gott verbindlich ist: Ein völlig vollkommener Wille kann nur das wollen, was an sich gut ist, während unser unvollkommener Wille auch das Böse wollen kann und insofern Entscheidungen treffen muss. Zur Problematik des menschlichen Handelns kommt Kant in den 1770er Jahren und typisiert systematisch, ganz nah zur GMS, die verschiedenen Handlungsregeln, die er zum ersten Mal „Imperative“ nennt (siehe oben 5.1.3.3).
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Hier wird ein Willensbegriff hervorgehoben, welcher eher als unentwickelt zu charakterisieren ist: Kant begreift den guten Willen noch nicht wie in der Grundlegung als eine Idee bzw. als ein Muster, wonach sich der Privatwille richten soll, sondern immer noch – wie in den Bemerkungen ¹⁵⁸ und insbesondere in den Träumen ¹⁵⁹ – als eine Rousseau′sche volonté générale, die alle Privatwillkür enthält. Umso klarer wird sein Punkt in der folgenden Passage: „Dagegen wenn wir aus dem Gesichtspunkte der sittlichen Einheit als einem nothwendigen Weltgesetze die Ursache erwägen, die diesem allein den angemessenen Effect, mithin auch für uns verbindende Kraft geben kann, so muß es ein einiger oberster Wille sein, der alle diese Gesetze in sich befaßt. Denn wie wollten wir unter verschiedenen Willen vollkommene Einheit der Zwecke finden?“ (KrV, 528.34//A815/B843)¹⁶⁰.
Zwar findet sich bereits in den Bemerkungen, und noch ausgearbeiteter im Moralkolleg die deutliche Unterscheidung zwischen „vollkommenem“ und „unvollkommenem“ bzw. „göttlichem“ und „menschlichem“ Willen. In den Träumen wird die „Nötigung“ des menschlichen Willens durch die „Regel des allgemeinen Willens“ (TG, 335.08) kurz abgehandelt; und in der Nachricht zur Ethik wird ausdrücklich das Verhältnis von jeder Art Willen zur moralischen Nötigung (d. h. zur Moralität) betrachtet – wo Kant feststellt, diese betreffe den göttlichen Willen nicht. In der gerade zitierten Passage des „Kanons“ (KrV, 525.34 f.//A810/B838) kommt abermals die Vorstellung eines allgemeinen als eines „obersten Willen[s], der alle Privatwillkür in sich oder unter sich befaßt“ vor. Es handelt sich also noch nicht um das Bild eines menschlichen, aber vollkommenen Willens, der als ein zu verfolgendes Ideal für den unvollkommenen menschlichen Willen auftritt; sondern es geht um einen allgemeinen, obersten Willen, der in demselben Sinn der Träume ¹⁶¹ (und analog zu dem Willen eines politischen Herrschers) eine „systematische Einheit der Zwecke in dieser Welt der Intelligenzen […] als ein System der Freiheit“ verschafft, „welche […] unausbleiblich auch auf die zweckmäßige Einheit aller Dinge […] nach allgemeinen Naturgesetzen, so wie die erstere nach allgemeinen und nothwendigen Sittengesetzen[,] [führet] und vereinigt die praktischen Vernunft mit der spekulativen“ (KrV, 529.09//A815/B843).
Siehe oben 3.2.2.1 (2), siehe unten Anhang 3, (vii) Bem., L 125.18, und oben 3.3.1 (2, c1). Siehe oben 4.2.2. Siehe eine dem Inhalt nach verwandte Passage bei Rousseau [1762] 2012, Bd. 2, 123 [Span. 413 f.]. TG, 335.08: „Dadurch sehen wir uns in den geheimsten Beweggründen abhängig von der R e g e l d e s a l l g e m e i n e n W i l l e n s , und es entspringt daraus in der Welt aller denkenden Naturen eine m o r a l i s c h e E i n h e i t und systematische Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen“.
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6.3.4 Die zweifache Freiheitskonzeption in der KrV Der erste auf eine zweifache Freiheitskonzeption abzielende Nachweis bei Kant findet sich in den Bemerkungen ¹⁶² der 1760er Jahre, wo die „moralische“ und die „metaphysische Freiheit“ angeführt werden. Doch dort werden diese Bezeichnungen nur einmal erwähnt und bekommen keine Erklärung. Im dritten Kapitel zu den Bemerkungen habe ich mit großer Umsicht versucht, diese zwei Begriffe der Freiheit dem Kontext der verschiedenen Aufzeichnungen gemäß zu erläutern, und zwar als Vorbegriffe jeweils der „kritischen“ Begriffe praktischer und transzendentaler Freiheit.¹⁶³ Was die „praktische Freiheit“ betrifft, erwies sich aus dem fragmentarischen Charakter, der Kürze des Textes und der eudämonistischen Tendenz der in Frage kommenden Passage Bem., 025.18, dass hier nicht nur Zurückhaltung und Besonnenheit erforderlich sind. Sondern es hat sich auch gezeigt, dass das begriffliche Instrumentarium noch nicht genug und „kritisch“ entfaltet wird. Daher kann der vorkommende Begriff „moralischer Freiheit“ nicht dem „kritischen“ Begriff „praktischer Freiheit“ (noch weniger dem der „Autonomie“) entsprechen. Wir können höchstens, und zwar erst retrospektiv, anerkennen, dass dieser Begriff „moralischer Freiheit“ auf den späteren Begriff „praktischer Freiheit“ abzielt.¹⁶⁴ Etwas anders steht es um den Begriff „transzendentaler Freiheit“. Denn in den Bemerkungen spielt die Spontaneität als absolute Unabhängigkeit und als Vermögen des Willens, zu wählen und sich selbst zu bestimmen, eine gewichtige Rolle: Hinsichtlich dieses Zuges wird der Wille für „gut an sich selbst“ bzw. „vollkommen“ gehalten, und daher kann er sich selbst „nicht widersprechen“. Vermutlich ist also der Begriff „metaphysischer Freiheit“ der Bemerkungen der Ursprung und Ansatzpunkt der in der KrV auftauchenden „transzendentalen Freiheit“. Auffälligerweise verwendet Kant im Rahmen seiner Ethik-Vorlesung ein derartiges Begriffspaar nicht. Vielmehr: Weder ist da von der „Spontaneität“ bzw. der „metaphysischen“, noch von der „moralischen“ bzw. „praktischen Freiheit“ die Rede. Gesprochen wird aber doch von „Persönlichkeit“ (V-Mo, 036.35 f./042) und „arbitrium liberum“ versus „arbitrium brutum“ (V-Mo, 045.25/054), vom „guten Gebrauch der Freiheit“ (V-Mo, 004.07/004, siehe V-Mo, 036.35 f./042) und von „Graden der Freiheit“ (V-Mo, 047.14/057), vom Unterschied zwischen dem „Vermögen der Freiheit“ und dem „Zustand der Freiheit“ (V-Mo, 048.27/059), von der Bem., 025.14 (xviii): „Wie die Freyheit im eigentlichen Verstande (die moralische nicht die metaphysische) das oberste Principium aller Tugend sey und auch aller Glückseeligkeit“. Dazu siehe oben 3.2.3.1 und 3.3 (1) und (2). Siehe oben 3.3 (2).
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Freiheit „von den stimulis“ (V-Mo, 047.17/057) bzw. der „Unabhängigkeit von aller Neigung“ (V-Mo, 059.25/074) und der „ungebundenen Freiheit“ (V-Mo, 175.17 f./ 220 f.). Angesichts der durchgeführten Analysen der Bemerkungen ¹⁶⁵ und der Vorlesung zur Moralphilosophie ¹⁶⁶ zu den Begriffen der „Spontaneität“ (siehe Bem., 052.15, 053.01, 075.02, 109.05, L 125.33, L 129.12), der „freien“ versus der „tierischen“ Willkür (siehe V-Mo, 045.20/053 f.) sowie des „göttlichen“ (siehe Bem., L 129.07, V-Mo, 040.11 f./45 ff.) versus des „menschlichen“ Willens (siehe Bem., L 129.02, V-Mo, 040.11 f./45 ff.) darf entwicklungsgeschichtlich Folgendes angenommen werden: Die in der KrV, auf der Basis eines „arbitrium sensitivum“ (KrV, 363.34//A534/B562), eingeführte Unterscheidung zwischen „arbitrium liberum“ und „arbitrium brutum“ ergibt sich begrifflich aus derselben Unterscheidung im Ethikkolleg und aus den früheren Gedanken über die „Spontaneität“ in den Bemerkungen. Anhand des in den Träumen 1766 eingeführten Begriffs der „Nötigung“ und seiner vertiefteren Ausarbeitung in der Vorlesung entfaltet Kant in dieser eine Konzeption der menschlichen Freiheit, die also zwar nicht die spätere Begrifflichkeit anwendet und festlegt, aber, der Bedeutung nach, der KrV nahe kommt:¹⁶⁷ Es gibt keine „ungebundene Freiheit“, sondern die Freiheit wirkt nach bestimmten Gesetzen, nämlich den moralischen, welche „aus reiner Vernunfft abgeleitet werden“ (V-Mo, 027.01/027) und „a priori feststehen“ (V-Mo, 027.04/028). Die menschliche „Persönlichkeit“ besteht eben darin, dass der Mensch über ein „arbitrium liberum“ verfügt, d. h. er ist wesentlich frei. Also soll der Mensch sich in Hinsicht auf das „freye Verhalten“ (V-Mo, 004.04,28/004), seiner Natur entsprechend, nach „objectiven Regeln“ (V-Mo, 004.28/005) richten und somit einen „guten Gebrauch seiner Freiheit“ machen (V-Mo, 004.07/004). „Also können Handlungen nothwendig seyn, ohne der Freyheit zu wiederstreiten. Es kann eine practische Nothwendigkeit statt finden ohne der Freyheit zu wiederstreiten“ (VMo, 046.20/056). Definiert wird daher die Moralität in der Vorlesung und implizit auch in der KrV analog zu den Träumen – gewissermaßen noch mit der Rousseau′ schen Konzeption behaftet – als eine „Übereinstimmung der freyen Willkür mit sich selbst und anderer“ (V-Mo, 026.21/027)¹⁶⁸, bzw. als „[e]ine Verfassung von der
Siehe oben 3.2.2.1, 3.2.3.1. Siehe oben 5.1.3.7, 5.1.3.8. Zur Freiheit in der Vorlesung zur Moralphilosophie siehe oben 5.1.3.7. „Und solche Regel, die das principium der Möglichkeit der Uebereinstimmung aller freyen Willkür ist, ist die moralische Regel“ (V-Mo, 031.08/35). „Die Moralitaet ist die Uebereinstimmung der Handlung mit einem allgemein gültigen Gesetz der freyen Willkür“ (V-Mo, 064.25/080). „Das principium aller Pflichten ist also die Uebereinstimmung des Gebrauchs der Freyheit mit den wesentlichen Zwekken der Menschheit“ (V-Mo, 180.12/226).
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größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, daß jedes Freiheit mit der andern ihrer zusammen bestehen kann“ (KrV, 247.29//A316/B373)¹⁶⁹. In Einklang mit der Einsicht der Vorlesung ist nun die Moralität im Rahmen der KrV an die transzendentale Freiheit bzw. den arbitrium liberum gebunden, d. h.: Die freie Natur des menschlichen Willens ermöglicht es dem Menschen, moralisch zu handeln. Insofern ist die transzendentale Freiheit (als Bedingung der Möglichkeit der Moralität) der für die Moralität notwendige Freiheitsbegriff. Die Moralität selbst (mit anderen Worten: die ausgeübte Moralität bzw. die praktische Freiheit) aber bezieht sich auf den „[guten (V-Mo, 004.07/004)] Gebrauch der Freiheit“ (KrV, 524.10//A807/B835, 526.05//A810/B838), den die freie Willkür macht: Handelt sie nach den „objective[n] G e s e t z e [n] d e r F r e i h e i t […], […] welche sagen, w a s g e s c h e h e n s o l l , ob es gleich vielleicht nie geschieht“ (KrV, 521.22//A802/B830), dann verfährt sie moralisch. Indem die praktische Freiheit also nur die Willensbestimmung bzw. „die Vo r s c h r i f t des Verhaltens“ (KrV, 521.31//A803/B831) betrifft, so ist diese die hinreichende Bedingung zur Ausübung einer moralischen Handlung und zur Beurteilung von deren moralischem Wert.¹⁷⁰ Aus dem Begriff des Zwanges, welcher nur durch Bewegungsgründe der Vernunft stattfinden kann und der auf den Begriff der Nötigung der Träume zurückgeht, schloss Kant im Ethikkolleg: „Ie mehr also jemand von den stimulis frey ist, desto mehr kann er moralisch necessitirt werden. Die Freyheit wächst mit dem Grade der Moralitaet“. Der Satz könnte folgendermaßen in die Sprache der KrV übersetzt werden: Je größer der Grad der Spontaneität im Menschen ist, desto mehr kann er genötigt werden, und zwar durch moralische Gesetze, die den richtigen Gebrauch der Freiheit festsetzen. Die Spontaneität wächst mit dem Grad der Moralität.
„[…] so fern deren [sc. der vernünftigen Wesen] freie Willkür unter moralischen Gesetzen sowohl mit sich selbst, als mit jedes anderen Freiheit durchgängige systematische Einheit an sich hat“ (KrV, 525.08//A808/B836). „Aber dieses System der sich selbst lohnenden Moralität ist nur eine Idee, deren Ausführung auf der Bedingung beruht, daß jedermann thue, was er soll, d. i. alle Handlungen vernünftiger Wesen so geschehen, als ob sie aus einem obersten Willen, der alle Privatwillkür in sich oder unter sich befaßt, entsprängen“ (KrV, 525.34 f.//A810/B838). Hier ist das anzumerken, was von der Gesinnung sowohl in der Vorlesung zur Moralphilosophie als auch in der KrV gesagt wird: „Die Gesinnung kann nicht vom Landesherrn gefordert werden, weil sie nicht erkannt werden, indem sie innerlich ist“ (V-Mo, 054.26/068). „Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten“ (KrV, 374.31//A551/B579 Fn.).
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6 Der Ort der Moralität in der Kritik der reinen Vernunft (1781)
Nun muss darauf hingewiesen werden: Die Kontinuität des moralphilosophischen Gedankens Kants in der KrV im Vergleich zur Ethik-Nachschrift ist in einem wichtigen Punkt unterbrochen, nämlich beim Ansatz der Antinomie der reinen Vernunft. Diese erforscht, ob es bei einer und derselben Wirkung, nämlich einer Handlung, welche „nach den unwandelbaren Naturgesetzen“ determiniert ist, „auch Freiheit stattfinden könne“ (KrV, 365.10//A536/B564). Dieser Beitrag Kants ist in spekulativer Hinsicht „äußerst subtil“ (KrV, 365.34//A537/B565): Alle Begebenheiten, die in der Natur vorgehen – darunter auch die menschlichen Handlungen (siehe KrV, 363.24//A533/B561) sowie die „Causalität der Ursache“ selbst (KrV, 363.16//A533/B561) – haben eine Ursache und müssen auf dieser Weise nach den Naturgesetzen erklärbar sein (siehe KrV, 363.14//A533/B561). Die Besonderheit menschlicher Handlungen ist aber, dass sie nicht nur als bloße Naturbegebenheiten, d. h. „Erscheinungen“ einzusehen, sondern auch als Wirkungen der sogenannten „Kausalität durch Freiheit“ anzusehen sind (siehe KrV, 364.04– 15//A534/B562): Anhand der Lehre von der Unterscheidung zwischen „Erscheinung“ und „Ding an sich“¹⁷¹ (siehe 364.27 ff.//A535/B563 ff.) gelingt es Kant, die Handlungen gleichzeitig sowohl als Erscheinungen als auch als Erfolg einer „intelligibele[n] Ursache“ (KrV, 365.25//A537/B565) darzustellen, d. h. einer Ursache, die nicht zur Sinnenwelt gehört. „Denn sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten. Alsdann ist Natur die vollständige und an sich hinreichend bestimmende Ursache jeder Begebenheit“ (KrV, 365.17//A536/ B564). Demgemäß können die Handlungen als frei angesehen und dem handelnden Subjekt zugerechnet werden. Und deshalb werden sie ihm tatsächlich zugerechnet (siehe KrV, 375.13 f.//A554 f./B582 f.), und zwar nach einem „Gesetz der Vernunft“ (KrV, 375.36//A555/B583), laut dem es sein Verhalten „anders habe bestimmen können und sollen“ (KrV, 376.01//A555/B583): Denn als spontanes (d. h. der erste Anfang seiner Handlungen ist unabhängig von aller bestimmenden Ursache) wählt das Subjekt den Auslöser (sei dieser ein Bestimmungsgrund oder ein Bedürfnis) seiner Handlungen und ist insofern die freiheitskausale Ursache derselben: „[…] wenn gleich die sinnlichen Triebfedern gar nicht dafür, sondern wohl gar dawider wären; die Handlung wird seinem intelligibelen Charakter beigemessen, er hat jetzt, in dem Augenblicke, da er lügt, gänzlich Schuld; mithin war die Vernunft unerachtet aller empirischen Bedingungen der That völlig frei, und ihrer Unterlassung ist diese gänzlich beizumessen“ (KrV, 376.01//A555/B583).
Zur Diskussion über die Richtigkeit der Lehre der Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung siehe Brandt 2002, 155 f.
6.3 Exegetischer Teil
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Diese „Kausalität der Vernunft“ ist zwar nicht beweisbar, aber doch „aus den I m p e r a t i v e n klar, welche wir in allem Praktischen den ausübenden Kräften als Regeln aufgeben“ (KrV, 371.15//A547/B575). Wie bereits angemerkt, „bemerken“ wir diese Kausalität „durch Kräfte und Vermögen, die er [sc. der Mensch] in seinen Wirkungen äußert“. Denn: „Allein der Mensch […] erkennt sich selbst auch durch bloße Apperception und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann, und ist sich selbst freilich eines Teils Phänomen, anderen Teils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann“ (KrV, 370.36 f.//A546 f./ B574 f.).
Die Wahl von Handlungsbestimmungsgründen wird in moralisch relevanten Zusammenhängen einem „Sollen“ gegenüber getroffen, welches die Notwendigkeit von Gründen der Vernunft ausdrückt. Dieses Sollen wird also in Imperativen formuliert. Analog zur Natur fungieren solche Imperative als Gesetze; aber im Unterschied zu ihr „[ist] der Grund nichts anders als ein bloßer Begriff; da hingegen von einer Naturhandlung der Grund jederzeit eine Erscheinung sein muß“ (KrV, 371.27//A547 f./B575 f.). Diese Konzeption einer Kausalität durch Freiheit, gemäß der der Mensch durch seine Vorstellungen der Anfang seiner Wirkungen bzw. Handlungen ist (siehe KrV, 368.02//A541/B569), wird der Grund der eigenen Handlungstheorie in der GMS.
Schluss zum Dritten Teil: Mit einem Blick auf die Grundlegung Der Kantische Freiheitsbegriff mündet 1781 zwar in eine deutlich zweifache Konzeption, die in spekulativer Hinsicht durch den Ansatz der dritten Antinomie – auf dem Gegensatz von Natur und Freiheit fußend – subtil entwickelt wird: Einerseits betrifft die Freiheit theoretisch das positive Vermögen zu wählen, was negativ „Freiheit von“ allen (diesem Vermögen) fremden Bestimmungen impliziert. Dieses Vermögen wird „Spontaneität“ bzw. „Idee der transzendentalen Freiheit“ genannt. Andererseits betrifft sie aber praktisch die Gesetze selbst, nach denen die eigenen Bestimmungen stattfinden können. Aber diese Doppelkonzeption unterliegt stillschweigend der Moralvorlesung. Also darf angesichts der begrifflichen Kontinuität zwischen der Vorlesung und der KrV behauptet werden: Mit der KrV erreicht die Freiheitstheorie Kants einen Höhepunkt, der sowohl dem Umbruch in den Träumen durch die Festsetzung der moralischen Nötigung und Abschaffung des moralischen Gefühls qua moralischer Instanz als auch der kritischen Erforschung moralischer Begriffe in der Vorlesung zu verdanken ist. Trotzdem hat Kant noch zwei grundlegende Schritte zu tun: einerseits sich programmatisch auf den Aufbau eines „Systems der Sitten“ (GMS, 404.31) und damit einer Ethiktheorie zu konzentrieren; andererseits systematisch den Rousseau′schen Willensbegriff definitiv zu überwinden, und zwar anhand der Konzeption vom Ideal eines „guten Willens“ (GMS, 393.07) bzw. eines „allgemein gesetzgebenden Willens“ (GMS, 431.17), dessen „Beschaffenheit [ist] […], […] ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz“ (GMS, 440.16) zu sein. Auf seine feste Basis wird Kant seine Handlungstheorie (siehe GMS, 412.26 f.) und „die Autonomie des Willens als oberstes Princip der Sittlichkeit“ stellen (GMS, 440.14).
https://doi.org/10.1515/9783110584288-012
IV Das Stadium der Metaphysik: Die Genese des ethischen Autonomiebegriffs
„Wie? Ich vermag die Wesen und ihre gegenseitigen Beziehungen zu beobachten und zu erkennen, ich vermag zu empfinden, was Ordnung, Schönheit und Tugend ist; ich vermag das Weltall zu betrachten und mich bis zu der Hand zu erheben, die es lenkt, ich vermag das Gute zu lieben und zu üben, und sollte mich mit den Thieren auf eine Stufe stellen? Niedrige Seele, deine traurige Philosophie macht dich ihnen ähnlich, oder du gibst dir vielmehr vergeblich Mühe, dich zu erniedrigen; deine natürliche Befähigung legt Zeugniß wider deine Grundsätze ab, dein wohlwollendes Herz straft deine Lehre Lügen, und selbst der Mißbrauch deiner Fähigkeiten bestätigt dir zum Trotz ihre Vortrefflichkeit“. Rousseau, Emil, 134 (Bd. 2)
7 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) Das Projekt einer reinen Moralphilosophie. System und Implikationen Seit der zweite Hälfte der 1760er Jahre hat Kant als philosophisches Ziel, ein System bzw. eine Metaphysik der Sitten zu liefern. Zahlreiche Aussagen Kants und Anderer im Briefwechsel¹ sowie Passagen seiner späteren Schriften² sind Zeugnis davon. – Die KrV ist noch nicht als das System der Metaphysik gedacht; sondern Dazu siehe Br, AA 10: 056.22– 29 (an Lambert, 31.12.1765: „Daher um nicht etwa einer neuen philosophischen Proiektmacherey beschuldigt zu werden, ich einige kleinere Ausarbeitungen voranschicken muß, deren Stoff vor mir fertig liegt, worunter die metaphysische Anfangsgründe der natürlichen Weltweisheit, und die metaph: Anfangsgr: der praktischen Weltweisheit die ersten seyn werden, damit die Hauptschrift nicht durch gar zu weitläuftige und doch unzulängliche Beyspiele alzu sehr gedehnet werde“); 067.06 – 15 (von Lambert, 3. 2.1766: Ich erwarte mit Ungedult, daß die beyden Anfangsgründe der natürlichen und practischen Weltweisheit im Drucke erscheinen, und bin ganz überzeugt, daß sich eine ächte Methode am besten und sichersten durch Vorlegung wirklicher Beyspiele anpreist […]“); 074.08 – 24 (an Herder, 9. 5.1768: „Was mich betrift da ich an nichts hänge und mit einer tiefen Gleichgültigkeit gegen meine oder anderer Meinungen das gantze Gebäude ofters umkehre und aus allerley Gesichtspunkten betrachte um zuletzt etwa denienigen zu treffen woraus ich hoffen kan es, nach der Warheit zu zeichnen, […] mein Augenmerk vornemlich darauf gerichtet ist die eigentliche Bestimmung und die Schranken der Menschlichen Fähigkeiten und Neigungen zu erkennen so glaube ich daß es mir in dem was die Sitten betrift endlich ziemlich gelungen sey und ich arbeite ietzt an einer Metaphysik der Sitten […]“); 097.26 – 35 (an Lambert, 2.9.1770: „die reine moralische Weltweisheit, in der keine empirische principien anzutreffen sind u. gleichsam die Metaphysic der Sitten, in Ordnung zu bringen u. auszufertigen“); 123.01– 09 (an Marcus Herz, 7.6.1771: „Ich bin daher ietzo damit beschäftigt ein Werk welches unter dem Titel: Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft das Verhältnis der vor die Sinnenwelt bestimten Grundbegriffe und Gesetze zusammt dem Entwurfe dessen was die Natur der Geschmackslehre, Metaphysick u. Moral ausmacht enthalten soll etwas ausführlich auszuarbeiten“); 145.03 – 22 (an Herz, gegen Ende 1773: „Ich werde froh seyn wenn ich meine Transscendentalphilosophie werde zu Ende gebracht haben welche eigentlich eine Critik der reinen Vernunft ist alsdenn gehe ich zur Metaphysik die nur zwey Theile hat: die Methaphysik der Natur und die Metaph: der Sitten wovon ich die letztere zuerst herausgeben werde und mich darauf zum voraus freue“); 279.28 – 30 (von Hartknoch, 19.11.1781: „Ich hoffe von Dero Güte, daß Sie mir noch die Metaphysick der Sitten, u. der Naturlehre im Verlag geben werden, da dies zur Vollendung Ihres Plans gehört, u. ein Ganzes ausmacht“); 393.23 – 25 (von Schütz, 10.7.1784: „Ich brenne vor Begierde und Sehnsucht nach Ihrer Metaphysik der Natur; der Sie doch auch gewiß eine Metaph. der Sitten folgen lassen werden“); 396.17 (von Schütz, 23. 8. 1784: „Höchst erstaunlich war mirs, daß Sie den Plan zur Metaphysik der Sitten auf Michaelis herausgeben wollen“). Siehe Natorp 1913, 489 – 491 und Vorländer 1906, VIIf. KrV, 543.10//A840/B868: „Der erstere [sc. Zweck] ist kein anderer, als die ganze Bestimmung des Menschen, und die Philosophie über dieselbe heißt Moral“. https://doi.org/10.1515/9783110584288-013
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7 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
sie ist als „Kritik“ die Propädeutik, d. h. die methodische Grundlage, für diesselbe. Unter einer Propädeutik versteht Kant auch eine apriorische Untersuchung der Vernunft als Vermögen der reinen Erkenntnis (siehe KrV, 543.27//A841/B869). In der Vorrede zur ersten Auflage der KrV kündigt Kant an: „Ich verstehe aber hierunter nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie unabhängig von aller Erfahrung streben mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Gränzen derselben, alles aber aus Principien“ (KrV, 009.11//AXII).
Erst dann, wenn wir ergründen, was wir erkennen können, sind wir in der Lage, „[…] mannigfaltige[] Erkenntnisse unter eine[] Idee“ (KrV, 538.29//A832/B860) zu bringen, d. h. Erkenntnissysteme zu bilden. Daher gehört die Architektonik als „Kunst der Systeme […] nothwendig zur Methodenlehre“ (KrV, 538. 20//A832/ B860). Das eigentümliche System der Metaphysik bzw. der reinen Philosophie soll in zwei Teile zerfallen, je nachdem, ob ihr Gegenstand die Natur und ihre Gesetze oder die Freiheit und das Sittengesetz ist (siehe KrV, 543.18//A840/B868). Jene betrifft die „Metaphysik der Natur“ (bzw. „de[r] s p e c u l a t i v e [] Gebrauch[]), diese die „Metaphysik der Sitten“ [bzw. „de[r] p r a k t i s c h e n Gebrauch[] der reinen Vernunft“ (KrV, 544.09//A841/B869)]. Sobald die Methode der Metaphysik durch die Kritik, als Propädeutik, festgelegt und erklärt³ worden ist, kann der Philosoph sich mit der Materie beschäftigen⁴. So folgt der KrV zunächst die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 1785, als System der Sitten: Endlich erblickt sein altes Projekt das Licht der Welt. 1786 lässt Kant dann seine Metaphysische[n] Anfangsgründe der Naturwissenschaft, als System der Natur folgen.
(b) Das System der reinen Moralphilosophie In der „Architektonik“ der KrV 1781 definiert Kant ein „System“ als das, „was gemeine Erkenntniß allererst zur Wissenschaft […] macht“ (KrV, 538.21//A832/
Nach der KrV schreibt Kant die Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783), welche die Missverständnisse bei der Rezeption seiner KrV wegschaffen soll. Ausgehend von der Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, legen die Prolegomena den synthetischen Weg der KrV zurück und stellen erneut die Methode vor, nun aber analytisch. Siehe Schilpp [1938] 21997, 221, der im Hinblick auf die „Lösung des ethischen Problems“ auch die Signifikanz betont, die für Kant die Feststellung der korrekten Methode hatte.
Das Projekt einer reinen Moralphilosophie. System und Implikationen
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B860), bzw. was „die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee“ (KrV, 538.28//A832/B860) bringt. Dementsprechend ist nun zu untersuchen, ob die GMS „den eigentümlichen Inhalt, die Articulation (systematische Einheit) und Grenzen der Wissenschaft[⁵] […] bestimm[t]“ (KrV, 540.04//A834/B863). In der Vorrede zur GMS konzipiert Kant die Ethik als aus zwei Disziplinen bestehend, und zwar als ihr reiner Teil die Metaphysik der Sitten⁶ (auch die „reine Moralphilosophie“), und als ihr empirischer Teil die praktische Anthropologie.⁷ Jene, als reine Disziplin, muss dieser vorangehen: Denn auf solche Weise können wir wissen, „wie viel reine Vernunft […] leisten könne, und aus welchen Quellen sie selbst diese ihre Belehrung a priori schöpfe“ (GMS, 388.37 f.)⁸. Daher ist die Metaphysik der Sitten als theoretischer Teil der Ethik „unentbehrlich nothwendig“ (GMS, 388.36), erstens „um die Quelle der a priori in unserer Vernunft liegenden praktischen Grundsätze zu erforschen“ (GMS, 389.37 f.), und zweitens um der Vernunft „Leitfaden und oberste Norm [der] richtigen Beurtheilung“ (GMS, 390.03) zu geben. Kant entwirft die GMS als die Grundlage zur reinen Moralphilosophie (siehe GMS, 391.16 f.).⁹ Das muss aber nicht bedeuten, dass sie als eine solche Grundlegung die Methode des Verfahrens im Gebiet der Metaphysik der Sitten darstellt.¹⁰ In diesem Zusammenhang lies „Wissenschaft“ als „Metaphysik der Sitten“ überhaupt bzw. als das Gebäude der praktischen Philosophie. Es lassen sich jedoch zumindest zwei Bedeutungen von „Metaphysik der Sitten“ feststellen: zum einen als Synonym für „reine Moralphilosophie“, nämlich die Disziplin, die sich a priori mit den Begriffen und dem Aufbau eines moralphilosophischen Systems beschäftigt (dazu siehe GMS, 389.29); und zum andern als Synonym für „Moral“, nämlich das „gesellschaftlich bedingte[] System geltender Normen und Regeln sittlichen Verhaltens“ (Etymologisches Wörterbuch [nach Pfeifer]. In: www.dwds.de, am 27. 3. 2014). Mit anderen Worten ist die Moral das System, das bestimmte Vorschriften als Pflichten festlegt (dazu siehe GMS, 421 Fn.). Ähnlich auch Schönecker 1999, 44 ff., bes. 62– 65. Ähnlich findet sich diese Konzeption bereits zur Zeit der Vorlesung zur Moralphilosophie (siehe oben 5.1.3.1). Aus demselben Grund muss auch die Metaphysik der Natur der (empirischen) Physik vorhergehen. Vergleiche Allison 2011, 5, der anlässlich des gegebenen Zitats einen konzeptionellen Bruch zwischen der KrV 1781 und der GMS 1784 sieht: Erstere sollte eine genügende Grundlage für jedes metaphysische System liefern. Jedoch stelle die GMS als solche Grundlegung ein „preliminary work“ zur Gründung einer Metaphysik der Sitten vor. Gegen Allisons Position siehe auch die folgenden Ausführungen. Diese Grundlage – so Kant – kann keine andere sein „als die Kritik einer reinen praktischen Vernunft“ (GMS, 391.18). Siehe Allison 2011, 5 f. Hernández Marcos (Hg.) 2010, XII wundert sich, dass Kant eine „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ liefert, die eigentlich eine „Kritik der Moralität“ darstellt, die – analog zur KrV 1781 (die eine Kritik „des Vernunftvermögens überhaupt in Ansehung […] der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl
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7 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
Wie erwähnt, unternimmt die KrV eine Untersuchung der Menschenvernunft als eines Ganzen (Elemente, Quellen und Grenzen ihres Erkenntnisvermögens), da eine und dieselbe Vernunft sich mit theoretischen und praktischen Fragen beschäftigt. Die Propädeutik soll festlegen, wie die verschiedenen metaphysischen Systeme dargestellt werden können: „[…] theils erfordere ich zur Kritik einer reinen praktischen Vernunft, daß, wenn sie vollendet sein soll, ihre Einheit mit der speculativen in einem gemeinschaftlichen Princip zugleich müsse dargestellt werden können, weil es doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß“ (GMS, 391.24).¹¹
Schlussfolgernd liegen die Ergebnisse der KrV der GMS zugrunde. Als Grundlage für die Moral untersucht diese die moralischen Ideen¹² in ihrem Verhältnis zu den apriorischen Begriffen¹³. Dadurch legt sie den Rahmen des reinen moralphilo-
der Quellen, als des Umfanges und der Gränzen derselben“ [KrV, 009.11//AXII]) – „zur Vorbereitung für das angekündigte System“, d. h. für die „Metaphysik“ (diesmal „der Sitten“) „dienen“ sollte. Denn nach der KrV 1781 waren eine „Metaphysik der Sitten“ und eine „Metaphysik der Natur“ zu erwarten (Hernández Marcos (Hg.) 2010, XII). Dennoch ist merkwürdig, dass Hernández Marcos diese in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft 1786, aber jene nicht in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten erkennen will. Tatsächlich zeigt der Vertreter einer solchen Position, die Bedeutung der „Metaphysik der Sitten“ als „reine Moralphilosophie“ nicht als Teil des Moralsystems verstanden zu haben. Siehe GMS, 388.09 – 14, 388.32– 389.04, 389.08, 391.16 – 34, 410.19, 412.01– 14.Vergleiche GMS, 421 Fn., wo Kant mit dem Ausdruck „Metaphysik der Sitten“ auf die Moral als die Feststellung und „Einteilung der Pflichten“ verweist. Aber da Kant das gemeinschaftliche Prinzip der reinen spekulativen und reinen praktischen Vernunft noch nicht festlegen kann, bevorzugt er den Titel „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ statt „Kritik der reinen praktischen Vernunft“ (siehe GMS, 391.24). – Hier wäre eine strukturelle Frage zu bedenken: Ob die GMS eine Kritik der reinen praktischen Vernunft ist oder enthält, die von der „Popularität“ absieht (GMS, 391) (denn anscheinend vollzieht Kant die Aufgabe einer Kritik der reinen praktischen Vernunft in den Sektionen 3 – 6 des Dritten Abschnitts, wo er die Fragen nach der Möglichkeit sowohl eines moralischen Interesses als auch des kategorischen Imperativs als synthetischen praktischen Satzes a priori auflöst und die Grenzen der praktischen Philosophie festsetzt). Oder ob innerhalb der GMS überhaupt keine Kritik der reinen praktischen Vernunft stattfindet (denn dieses Werk zielt noch nicht darauf ab, ein gemeinschaftliches Prinzip zu liefern, das die Einheit der Vernunft, jenseits ihrer unterschiedlichen Gebräuche, gründet und ausdrückt). Aufgrund der Grenzen dieser Studie kann einer solchen Frage hier nicht nachgegangen werden. Das sind die Ideen des reinen Willens, des Guten, der Freiheit, des Prinzips. Die Idee eines Zwecks an sich selbst gehört zur Metaphysik der Sitten (siehe GMS, 426.28 ff.). Das sind die Begriffe der Notwendigkeit und der Kausalität.
Das Projekt einer reinen Moralphilosophie. System und Implikationen
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sophischen „Systems“ fest¹⁴ und gehört dazu. Die GMS konzentriert sich auf das Spezifische der reinen praktischen Vernunft, weil „es von der äußersten Nothwendigkeit sei, einmal eine reine Moralphilosophie zu bearbeiten, die von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert wäre; denn daß es eine solche geben müsse, leuchtet von selbst aus der gemeinen Idee der Pflicht und der sittlichen Gesetze ein. Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Nothwendigkeit bei sich führen müsse“ (GMS, 389.07).
So kündigt Kant „die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Princips der Moralität, welche allein ein in seiner Absicht ganzes und von aller anderen sittlichen Untersuchung abzusonderndes Geschäfte ausmacht“ (GMS, 392.03) als Hauptaufgabe der GMS an. Diese Festlegung des Moralprinzips als des Grundes der reinen Moralphilosophie wird – der skeptischen Meinung entgegen – ermöglichen, die Ethik als ein philosophisches System, d. h. eine besondere philosophische Disziplin aufzustellen. Mit dieser Absicht wird die GMS prinzipiell die praktischen Ideen und moralisch relevanten Begriffe, zu denen die „gemeine Vernunft“ (GMS, 394.35) gelangt, ergründen, und davon das Moralprinzip ableiten. So soll „das Subtile“ (GMS, 391.37) vertiefend betrachtet werden, auf dessen Basis „[dereinst] eine Metaphysik der Sitten[¹⁵] [soll geliefert werden]“ (GMS, 391.16). Demnach wird nicht dieselbe GMS, sondern erst die künftige Metaphysik der Sitten die Kant’sche Moral als Vorschriftenkatalog darstellen¹⁶. Diese setzt die durch die GMS festgelegte „systematische Einheit“ (KrV, 538.21//A832/B860, 546.08//A845/B873)¹⁷ der reinen Moralphilosophie als reines System der Vernunft voraus. In dieser Hinsicht bedeutet das Programm der GMS zwar eine Kontinuität dem „kritischen“ bzw. methodischen Programm der KrV 1781 gegenüber. Aber sie wirft inhaltlich aus der rein moralphilosophischen Perspektive – also hinsichtlich
Im Dritten Abschnitt betitelt Kant die fünfte Sektion „Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie“ (GMS, 455). Hier ist „Metaphysik der Sitten“ im Sinne „besonderer Moral“ gemeint. Diese Aufgabe wird die Tugendlehre in der Metaphysik der Sitten 1797 erfüllen. Vergleiche Hinske 1994, 28 und Schwaiger 1999, 75. Dieser vertritt, dass die GMS – u. a. aufgrund dessen, dass das Wort „Grundlegung“ nur vier Male, und zwar nur innerhalb der Vorrede vorkommt – hätte nur „Metaphysik der Sitten“ heißen sollen. Gegen diese Position siehe auch die zehnte Fußnote Kants in der GMS, nach der es auch feststeht, dass die Aufgabe beider Disziplinen unterschieden ist: „man muß hier wohl merken, daß ich die Eintheilung der Pflichten für eine künftige Metaphysik der Sitten mir gänzlich vorbehalte, diese hier also nur als beliebig (um meine Beispiele zu ordnen)“ darstelle (GMS, 421.26). Zur Diskussion siehe oben 6.3.1 Fn. 147. Siehe KrV, 538.28//A832/B860, 539.02//A832/B860, 539.14//A833/B861, 540.05//A834/B862.
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7 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
der analysierten Begrifflichkeit – eine neue, und zwar „systematische“ Aufgabe auf. In dieser Hinsicht ist festzustellen, dass die GMS – nicht nur aufgrund des festgelegten Moralprinzips – einen weiteren Bruch impliziert. Im Folgenden werde ich skizzieren und anhand einer begrifflichen Analyse begründen, worin dieser Bruch besteht.
(c) Die Implikationen des Projekts Wie gerade gesagt, legt die GMS den Fokus auf die reine Moralphilosophie als philosophisches System. Es ist Kants Absicht, aus der Moralphilosophie eine reine Disziplin zu machen, die dieselbe Gültigkeit wie die Natur- oder die reine mathematische Wissenschaft hat.¹⁸ Das bringt erstens mit sich, dass sie sich selbst definieren können soll. Und zweitens, dass alles, was nicht essenziell dazu gehört, außer Acht gelassen werden muss. Die leitende Frage, die Kant dabei hilft, den Bereich zu begrenzen, ist eng mit der Frage verknüpft, was an und für sich selbst als gut gilt. Sie lautet: Worin liegt der moralische Wert? Sie führt ihn dazu, die bereits seit der Vorlesung zur Moralphilosophie aus diesem Feld ausgeschlossene empirische Glücklichkeit mit renovierten Kräften zu exkludieren.¹⁹ Wenn wir uns für die Moralität des Handelns interessieren, müssen wir von umstandsbedingten Aspekten absehen.
7.1 Analytischer Teil 7.1.1 Struktur des Werks Die GMS ist in vier Teile gegliedert: die Vorrede und drei Abschnitte. Die Vorrede hat zur Absicht, das Projekt einer „Metaphysik der Sitten“, einer „Moral“ (GMS, 388.10/13) bzw. der „reinen Moralphilosophie“ (GMS, 389.08) zu beschreiben. Diese in der Geschichte der Philosophie noch nicht entwickelte Disziplin (a) wird im Bereich der Ethik²⁰ platziert (GMS, 388.12), (b) gehört zum
Zu Physik und Mathematik als Muster für die reine Philosophie (bzw. Metaphysik) und zur Ungenauigkeit dieser Analogie zwischen der Moralphilosophie und diesen Wissenschaften siehe unten 7.1.2.4.2 (b). Siehe GMS, 393.15, 395.04– 396.37 und siehe unten 7.1.2.1. Kant folgt hier der dreifachen Einteilung der Philosophie nach den alten Griechen in Physik, Ethik und Logik. Siehe GMS, 387.02. Physik und Ethik gelten als materielle Vernunfterkenntnisse, weil sie sich jeweils mit einem Gegenstand beschäftigen, und zwar mit der Natur und der Freiheit. Hingegen konzentriert sich die Logik auf die „Form des Verstandes und der Vernunft selbst und d
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reinen Teil derselben, weil Objekt ihrer Betrachtungen ein Apriorisches, d. h. ein Gegenstand der Vernunft ist, nämlich die Freiheit und deren Gesetze, und (c) muss schließlich dem empirischen Teil der Ethik, und zwar der „praktischen Anthropologie“ vorangehen (siehe GMS, 387.08 – 388.14). Das Wertvolle von Kants Projekt einer Metaphysik der Sitten gegenüber der „so genannten allgemeinen praktischen Weltweisheit [des berühmten Wolff]“ (GMS, 390.20) besteht darin, dass sie „die Idee und die Principien eines möglichen reinen Willens untersuchen [soll] und nicht die Handlungen und Bedingungen des menschlichen Wollens überhaupt, welche größtentheils aus der Psychologie geschöpft werden“ (GMS, 390.34). So kündigt die Vorrede „die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Princips der Moralität“ als Absicht der „gegenwärtige[n] Grundlegung“ an (GMS, 392.03). Der Erste Abschnitt hat zum Vorsatz, festzulegen, worin überhaupt der moralische Wert einer Handlung liegen und bestehen kann, somit was der Grund und der Zweck einer reinen Moral sein soll. Hier folgt Kant einer mäeutischen Vorgehensweise, indem er „ohne sie [sc. die Menschenvernunft] im Mindesten etwas Neues zu lehren, sie nur, wie Sokrates that, auf ihr eigenes Princip aufmerksam macht“ (GMS, 404.03). So lässt sich entdecken: (i) dass der moralische Wert im Willen als Ursprung jeden Handelns überhaupt liegt (siehe GMS, 393.05 – 394.31, 396.14– 37) und nicht in der Glückseligkeit oder irgendeiner Wirkung der Handlung besteht (siehe GMS, 394.32– 396.13); (ii) dass nur die Handlung, die aus Pflicht geschieht, einen moralischen Wert hat; (iii) dass dieser in der Maxime liegt, also dem Prinzip, aus dem die Handlung ausgeübt wird, und (iv) dass „Pflicht die Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz [ist]“ (GMS, 400.18; siehe GMS, 397.01– 401.02). Letztendlich entspringt „der moralische Wert der Handlung“ bzw. „das so vorzügliche Gute, welches wir sittlich nennen“ und „in der Person selbst schon gegenwärtig ist, die darnach handelt“, aus „[der] Vorstellung des Gesetzes an sich selbst […], so fern sie […] der Bestimmungsgrund des Willens ist“ (siehe GMS, 401.03 – 16). Daher hat eine reine Moral ihren Grund in der Vorstellung eines guten Willens und ist ihr Zweck, „einen […] an sich selbst guten Willen [lies: Willkür] hervorzubringen“ (GMS, 396.20). Aus dieser „moralischen Erkenntniß der gemeinen Menschenvernunft“ (GMS, 403.34) schließt Kant auf die „allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlung überhaupt“ als das einzig mögliche moralische „Prinzip“: „ich soll niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“ (GMS, 402.07). Dennoch weist Kant hier auf eine erste Schwie-
[ie] allgemeinen Regeln des Denkens überhaupt“, wobei sie als eine formale Vernunfterkenntnis gilt (GMS, 387.08).
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rigkeit hin, die auf der Ebene der gemeinen Menschenvernunft entsteht und zu einem „Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen“ (GMS, 393.02) führt, nämlich: Der reale Mensch will wegen seiner sinnlichen Natur nicht notwendig die „Bewegungsgründe“²¹, die der reine Wille unvermeidlich will und die mit dem vernünftigen, allgemein geltenden Moralprinzip übereinstimmen. Sondern er ist auch einem starken Antrieb zur Befriedigung von Neigungen und Interessen unterworfen, woraus eine „natürliche Dialektik“ (GMS, 405.13) entsteht. Daher sieht er sich durch das Moralprinzip genötigt: Es handelt sich dabei nicht um die Beschreibung einer bloßen Kausalverknüpfung, bei der die Wirkung ein durch die Ursache unvermeidlich verursachtes Geschehnis ist. Sondern, es wird sich hier zeigen, dass das Moralprinzip eine besondere Notwendigkeit ausdrückt: Diese, im Unterschied zur Notwendigkeit der Naturgesetze, geht zuallererst auf die Freiheit als Spontaneität zurück und fußt auf dem objektiv, unbedingt und notwendig Guten, d. h. dem Gegenstand eines jeden vernünftigen Wollens, aus welchem das Moralprinzip seine nötigende Kraft entlehnt. Das bedeutet: Die Realisierung moralischer Handlungen hängt von einer entsprechenden Wahl bzw. Willensbestimmung ab, die sich unbedingt nach bloß vernünftigen Regeln, hiermit nach moralischen Kategorien richtet und alle sinnlichen Triebfedern unterdrückt und ausschließt. Gerade aus dieser Unterdrückung alles Pathologischen ergibt sich das, was Kant „Nötigung“ nennt; die entsprechende Willensbestimmung macht die Autonomie des Willens aus. So stellt sich das Moralprinzip für den menschlichen Willen nicht als ein Müssen auf, da es eine Wahl impliziert. Sondern es besteht in einem Sollen, das nur die Form der bloßen Gesetzmäßigkeit haben kann. Autonomes Handeln wird daher jenes sein, das sich nach einem dieser Form entsprechenden Inhalt bestimmt (somit einen moralisch guten Gebrauch der Freiheit macht). Kant kündigt als Aufgabe des Zweiten Abschnitts an, die „philosophische sittliche Vernunfterkenntnis“ (GMS, 392.23) zu entfalten. Diese soll sich in Gespräch mit der „populären sittlichen Weltweisheit“ (GMS, 406.02), der „populären Moralphilosophie“ (GMS, 392.25) bzw. „populären praktischen Philosophie“ (GMS, 409.17) entwickeln. Daher wird der Abschnitt mit einer Auseinandersetzung mit der Popularphilosophie²² (GMS, 406.05 – 407.16, 408.12– 14, 409.15 f.), dem
Ich werde Kants Redeweise eines „Bewegungsgrundes“ benutzen statt vom „Beweggrund“ sprechen, da der in der GMS angeführte (später aber aufgegebene) Unterschied zwischen „Bewegungsgrund“ und „Triebfeder“ im „Übergang“ zur Metaphysik der Sitten und für deren Entwicklung eine wichtige Rolle spielt. Siehe GMS, 426.27 f. Auf die Popularphilosophie weist Kant in der Überschrift des Zweiten Abschnitts hin: „Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten“ (GMS, 406.02). Mit der „populären sittlichen Weltweisheit“ bezieht sich Kant vermutlich auf Christian Garve, der
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Skeptizismus (GMS, 407.17– 408.11) und zuletzt mit der auf ein beispielhaftes²³ Muster zurückgreifenden, christlichen Moral (GMS, 408.28 f.) eröffnet. Ansatzpunkt der Popularphilosophie war, die Philosophie dem interessierten, jedoch nicht unbedingt gelehrten Publikum anzunähern. Kants lapidares Gegenargument lautet: Sie [sc. die Popularphilosophie] „[geht] nicht weiter, als sie durch Tappen vermittelst der Beispiele kommen kann“ (GMS, 412.17)²⁴. Außerdem gibt sie wegen ihrer Oberflächlichkeit Anlass für eine skeptische Position. Insofern soll Kants „philosophische sittliche Vernunfterkenntnis“ in etwas Anderem bestehen, nämlich: die sittlichen Begriffe und die „ihnen zugehörigen Principien a priori […] im Allgemeinen (in abstracto) vorzutragen“ (GMS, 409.12). Gegenüber anderen Positionen soll zunächst gerechtfertigt werden, warum ein Schritt in die „philosophische sittliche Vernunfterkenntnis“ und darüber hinaus ein Schritt in die „Metaphysik der Sitten“ nötig sei. Es stimmt allerdings, „daß, wenn gleich manches dem, was Pflicht gebietet, gemäß geschehen mag, dennoch es immer noch zweifelhaft [ist], ob es eigentlich aus Pflicht [geschieht] und also einen moralischen Werth [hat]“ (GMS, 406.11). Daher schließt Kant die „Achtung“ bzw. die „Gesinnung, aus reiner Pflicht zu handeln“ (GMS, 406.10), von der im Zweiten Abschnitt folgenden Untersuchung aus. Stattdessen wird sich die „philosophische sittliche Vernunfterkenntnis“ auf die Vorstellung eines „apodiktischen Gesetzes“, das „für alle vernünftige Wesen überhaupt“, d. h. „schlechterdings nothwendig gelten [muss]“ (GMS, 408.17– 19) konzentrieren. Jedoch wird die moralphilosophische Untersuchung an die „Grenzen“ (GMS, 458.06) der „philosophischen sittlichen Vernunfterkenntnis“ stoßen. Die Begründung moralischer Entscheidungsprozesse wird noch der Untersuchung einer „Metaphysik der Sitten“ (GMS, 406.03) bedürfen.
die KrV rezensiert und Kant gewarnt hatte, „daß das Ganze Ihres Systems, wenn es wirklich brauchbar werden soll, populär ausgedrückt werden müsse, und wenn es Wahrheit enthält, auch ausgedrückt werden könne“ (Br, AA 10: 331; zitiert nach Ritter 1971– 2007, Artikel „Popularphilosophie“, sp. 1093 – 1100). Die nachwolffschen Popularphilosophen fordern unter anderem von der Philosophie auf, dass sie sich auf „die bürgerliche Welt“ richtet [so M. Hissmann, 1778. Briefe über Gegenstände der Philosophie, an Leserinnen und Leser, Vorwort], weil sie „eine Wissenschaft für jeden Menschen“ ist [so J. C. Sulzer 1755, 2, in seiner Vorrede zur deutschen Ausgabe von D. Humes Vermischten Schriften]. Andererseits, so Garve, reflektiere der Philosoph Erfahrungen, die grundsätzlich allen Menschen eigen sind (zitiert nach Ritter 1971– 2007, sp. 1096 f.). Als solche bezeichnet Kant in der Vorlesung zur Moralphilosophie – außer dem Christentum (siehe V-Mo, 018.01, 020.01) – die von ihm genannten „empyrischen Systeme des Lehrbegriffs der Moralitaet“ von Montaigne und Hobbes, die auch aus Beispielen die moralische Beurteilung ableiten (dazu siehe V-Mo, 024.01 f./025 f.). Dazu siehe GMS, 409.09 – 410.18 und besonders 409.15 – 36.
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Die „philosophische sittliche Vernunfterkenntnis“ geht von einer eigenartigen Handlungstheorie²⁵ aus (siehe GMS, 412.26 f., Abs. 12), mit der die philosophische „Grundlegung“ der Moral eigentlich anfängt: Denn Moralität wird dadurch sowohl aufgrund der allgemeinen Gegenüberstellung von Natur und vernünftigem Wesen als auch aufgrund der besonderen Gegenüberstellung von bloß vernünftigem und empirisch vernünftigem Wesen definiert und so als eine besondere Eigenschaft des Menschen schlechthin bestimmt. Erst anhand der Darlegung einer Handlungstheorie kann einerseits die im Ersten Abschnitt erlangte „gemeine sittliche Vernunfterkenntnis“ (GMS, 392.23) (aus dem gefundenen Pflichtcharakter des an sich Guten und des grundsätzlich festgesetzten Moralprinzips bestehend) philosophisch begründet und nachvollzogen werden. Darauf fußend wird eine „philosophische sittliche Vernunfterkenntnis“ (GMS, 392.23) entwickelt. Da sich ein „objektives Prinzip“ des Sollens, „sofern es für einen Willen[²⁶] nöthigend ist“, eigens als ein „Gebot (der Vernunft)“ auferlegt „und die Formel des Gebots I m p e r a t i v [heißt]“ (GMS, 413.09), so betrifft die „philosophische sittliche Vernunfterkenntnis“: (1) eine dreifache Klassifikation der Imperative²⁷, welche sich auf menschliche Handlungen richten (siehe GMS, 414.12– 417.02, Abs. 16 – 23). Diese führt (2) zur Erörterung der Möglichkeit von Imperativen (siehe GMS, 417.03 – 420.17, Abs. 24– 29). Daraus schließt Kant (siehe GMS, 419.12 – 35), dass das Bestehen sittlichen, d. h. nach dem kategorischen Imperativ gerichteten, Handelns unbeweisbar ist, da dessen objektive und unbedingte Notwendigkeit nichts voraussetzt und auf nichts weiteres zurückzuführen ist. Schließlich kann man nie sicher sein, ob eine Handlung de facto aus einem guten Grund und dazu noch aus guter Gesinnung durchgeführt wurde. Doch mit den bisherigen Ergebnissen in der Hand weiß man, „daß der kategorische Imperativ allein als ein praktisches G e s e t z laute“ (GMS, 420.03). Damit ist es erlaubt, (3) den kategorischen Imperativ zu formulieren. Daraus wird (4) die erste Naturgesetz-Formel des kategorischen Imperativs entlehnt. Aus den beiden Formeln ergibt sich deutlich, (5) dass nicht das bloße „Denken-Können“, sondern das „Wollen-Können“ der Maxime „der Kanon der moralischen Beurtheilung derselben [sc. Maxime] überhaupt [ist]“ (GMS, 424.01) ). Als reine begeht die praktische Vernunft bei der moralisch relevanten Willensbestimmung (die zwar auf eine „[der] Vorschrift der Vernunft [widerstandsleistende]“, aber nicht „widersprechende“
Siehe unten 7.1.2.3 (b), (c). Lies „Willkür“. Siehe unten Anhang 5.
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[siehe GMS, 424.28] Maxime zurückgehen kann [siehe GMS, 423.36 f., Abs. 39]) unmöglich einen Kardinalfehler²⁸ begehen. Dieser fünffache Beitrag zum systematischen Aufbau seiner Moraltheorie genügt Kant²⁹, um „an[zu]zeigen […], was wir dadurch [sc. durch den Pflichtbegriff] denken und was dieser Begriff sagen wolle“ (GMS, 421.12). Dennoch zeigt die Formulierung des kategorischen Imperativs noch nicht, ob er zuletzt als „absolutes Gebot möglich sei“ (GMS, 420.21)³⁰ und somit reicht sie nicht aus, um „a priori zu beweisen, [1.] daß dergleichen Imperativ wirklich stattfinde, [2.] daß es ein praktisches Gesetz gebe, welches schlechterdings und ohne alle Triebfedern für sich gebietet, und [3.] daß die Befolgung dieses Gesetzes Pflicht sei“³¹ (GMS, 425.08)³². Denn: „Wenn es ein solches [sc. nothwendiges Gesetz] ist, so muß es (völlig a priori) schon mit dem Begriffe des Willens eines vernünftigen Wesens überhaupt verbunden sein“ (GMS, 426.25). Diese „Verknüpfung“ a priori zwischen Gesetz und Willen kann aber erst dann „entdeckt“ werden, wenn man „einen Schritt hinaus [tut], nämlich zur Metaphysik […] der Sitten“ (GMS, 426.27– 30). So verschiebt Kant die Lösung dieser Aufgabe in den Dritten Abschnitt. Nun setzt er im Hinblick darauf seinen Argumentationsgang fort: Die Dreiteilung der Imperative gründet auf einer „Ungleichheit der Nöthigung des Willens“. Aber das Besondere eines kategorischen Imperativs gegenüber den Geschicklichkeits- und Klugheitsprinzipien liegt eben darin, dass er in sich ein
Siehe unten 7.1.2.4.2 (d.3). GMS, 412.15 – 25: „Um aber in dieser Bearbeitung nicht bloß von der gemeinen sittlichen Beurtheilung (die hier sehr achtungswürdig ist) zur philosophischen, […] sondern von einer populären Philosophie, die nicht weiter geht, als sie durch Tappen vermittelst der Beispiele kommen kann, bis zur Metaphysik (die […] allenfalls bis zu Ideen geht, wo selbst die Beispiele uns verlassen) durch die natürlichen Stufen fortzuschreiten, müssen wir das praktische Vernunftvermögen von seinen allgemeinen Bestimmungsregeln an bis dahin, wo aus ihm der Begriff der Pflicht entspringt, verfolgen und deutlich darstellen“. GMS, 419.36 f.: „Wir werden also die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs gänzlich a priori zu untersuchen haben, da uns hier der Vortheil nicht zu statten kommt, daß die Wirklichkeit desselben in der Erfahrung gegeben und also die Möglichkeit nicht zur Festsetzung, sondern bloß zur Erklärung nöthig wäre“. Die Antwort darauf: „Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?“ wird aber erst in der vierten Sektion des dritten Abschnittes angegangen (GMS, 453.16 – 455.09). Aufzählung: Zusatz ACGX. GMS, 426.22: „[…] ist es ein nothwendiges Gesetz für alle vernünftige Wesen, ihre Handlungen jederzeit nach solchen Maximen zu beurtheilen, von denen sie selbst wollen können, daß sie zu allgemeinen Gesetzen dienen sollen?“. Diese Frage wird in der dritten Sektion des dritten Abschnittes umformuliert (siehe GMS, 449.11) und, nach der Darlegung der zwei-Welten-Lehre (siehe GMS, 450.30 – 452.30), beantwortet (siehe GMS, 452.31– 453.02, 453.11– 15).
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eigenartiges „Verhältnis[] eines Willens[³³] zu sich selbst“ birgt, „so fern er sich bloß durch Vernunft bestimmt“³⁴ (GMS, 427.14). Doch: Wie ist es möglich, dass „die Vernunft für sich allein das Verhalten bestimmt“ (GMS, 427.16)? Mit anderen Worten: Wie ist die notwendige apriorische Selbstbestimmung möglich? Dies ist die Frage, die Kant im Anschluss bearbeitet (siehe GMS, 427.19 – 437.04). Nun fordert eine angemessene Betrachtung derselben, das Gebiet der Metaphysik der Sitten zu betreten und ein reines Moralsystem vorzubereiten. Als solche wird die Metaphysik der Sitten zwar nicht erlauben, in strengem Sinne beweisbare Erkenntnisse zu erwerben. Aber, wie es in der Auflösung zur „Dritten Antinomie“ mit der Kausalität durch Freiheit geschieht (siehe KrV, 377.13//A557 f./B585 f.), ist hier auch nicht der Vorsatz, die Wirklichkeit der Moralität zu beweisen, sondern nur die Möglichkeit einer praktisch-notwendigen Selbstbestimmung bei Menschen zu zeigen. Dazu wird die Ausarbeitung der zweiten und dritten Formel des kategorischen Imperativs (welche jeweils die zugrunde liegende „Materie“ und die „vollständige Bestimmung“ [siehe GMS, 436.13 – 26] aller Moralität festlegen) samt deren theoretischen Voraussetzungen³⁵ und Folgen³⁶ sowie die Vorstellung eines Reiches der Zwecke dienen. Im Dritten Abschnitt wird ein weiterer Übergang vollzogen, und zwar zur Kritik der reinen praktischen Vernunft: Die Aufgabe in den zwei ersteren Abschnitten führt die Vernunft aus unbefriedigter Wissbegier unvermeidlich zu metaethischen Fragestellungen: Genau wie auf dem Gebiet der spekulativen Philosophie³⁷ lehnt sich die praktische Vernunft auf und zieht gegen ihre unüberschreitbaren Grenzen zu Felde. Zwar kann die zweifache, der Moralkonzeption Kants zugrunde liegende Kausalität der Vernunft mangels einer empirischen Anschauung nicht erklärt werden (siehe GMS, 455.11– 459.31). Aber dieser Widerstreit wurde von der spekulativen Vernunft verursacht und sowohl durch den zweifachen Charakter des Intelligiblen und des Empirischen (KrV, 366//A538 – 547/B566 – 575) als auch durch die Zwei-Welten-Lehre (siehe GMS, 450.30 – 452.30;
Hier schließt der „Wille“ die zweifache Bedeutung ein, sowohl im Sinne einer reinen praktischen Vernunft als auch im Sinne einer freien Willkür. Siehe unten 7.1.2.3 (b), (c). GMS, 412.26: „Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anders als praktische Vernunft“. Kant beschäftigt sich erst in diesem Punkt der Schrift mit den Unterscheidungen „Mittel/ Zweck“, „Triebfeder/Bewegungsgrund“, „formale/materielle praktische Prinzipien“, „relativen/ absoluten Wert“ und „Sachen/Personen“(GMS, 427.19 – 428.25). Dies sind die Idee eines „Zwecks an sich selbst“ als „Grund eines möglichen kategorischen Imperativs“ (GMS, 428.04) und die der „Würde eines vernünftigen Wesens“ (GMS, 434.29 f.). Die Aufgabe der KrV war eben „die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Gränzen derselben [sc. der Vernunft], alles aber aus Principien“. Siehe oben 7.1 [das vollständige Zitat: KrV, 009.11//AXII].
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457.04– 24) aufgelöst³⁸ (siehe GMS, 456.27). Schließlich sind die Aufgaben des Dritten Abschnitts: (1) den Status der Freiheit (GMS, 446 – 448.22), der weder im Ersten noch Zweiten Abschnitt des Werks bearbeitet wird³⁹, angesichts der dargestellten Moraltheorie (bzw. der „[aufgesuchten und festgesetzten] Princips der Moralität“) zu bestimmen; (2) das Verhältnis des Moralgesetzes zum Willen als ein moralisches Interesse zu untersuchen. Dies ist wegen der zweifachen, empirischen und vernünftigen Natur des Menschen möglich⁴⁰; (3) die Entwicklung der Zwei-Welten-Lehre (siehe GMS, 448.23 – 453.15); (4) die Erläuterung, „wie ein kategorischer Imperativ möglich [ist]“ (GMS, 453.16 – 455.09); und (5) die Darstellung der „äußersten Grenze aller praktischen Philosophie“ (GMS, 455.10, 458.06 – 459.31, siehe GMS, 456.34, 462.22), und zwar insofern, a. als zunächst die Dialektik der „speculativen Vernunft“ (GMS, 456.36) wegen eines „Scheinwiderspruchs“ (GMS, 456.07) der Willensfreiheit mit der Naturnotwendigkeit (genau wie bereits in der KrV von 1781) anhand der reinen Vernunft in ihrem „speculativen“ (GMS, 455.31 ff.) Gebrauch aufgelöst wird (GMS, 455.10 – 456.33); b. als „selbst die gemeine Menschenvernunft“ wegen des „Bewusstseins“ von ihrer „Unabängigkeit […] von bloß subjectiv bestimmenden Ursachen“ (GMS, 457.04) zwei „Standpunkte“ (GMS, 458.19), und zwar „als Intelligenz […] in eine andere Ordnung der Dinge“ und als „ein Phänomen in der Sinnenwelt“ (GMS, 457.09) annimmt; und c. als keine Erklärung für ein „reines Vernunftinteresse“ an dem Gesetz (GMS, 460 Fn.) bzw. für die Achtung davor („als die subjective Wirkung,
Gemeint ist hier die Auflösung der dritten Antinomie in der KrV. Die Spontaneität als Wahlfreiheit (welche die „transzendentale Idee der Freiheit“ ausmacht) „gründet sich auf das Bewußtsein und die zugestandene Voraussetzung der Unabhängigkeit der Vernunft von bloß subjectiv bestimmenden Ursachen“ (GMS, 457.05); und die Autonomie (welche im Begriff der „praktischen Freiheit“ in der KrV einen Vorbegriff hat) geht als Wirksamkeit der Achtung bloß auf das „Bewußtsein der Unterordnung meines Willens unter einem Gesetze ohne Vermittelung anderer Einflüsse auf meinen Sinn“ zurück (GMS, 401 Fn.). Die Freiheit des Willens wird im Hinblick auf den Bau einer Moraltheorie vorausgesetzt, denn die „Ethik“ ist „die Wissenschaft von [den Gesetzen der Freiheit]“ (GMS, 387.14); trotzdem kommt der Begriff der Freiheit nur einmal im relevanten moralphilosophischen Sinne vor: „Das vernünftige Wesen muß sich jederzeit als gesetzgebend in einem durch Freiheit des Willens möglichen Reiche der Zwecke betrachten, es mag nun sein als Glied, oder als Oberhaupt“ (GMS, 434.02). Aus dieser zweifachen Natur ergeben sich die im Folgenden aufgezählten Beiträge (3.–5.) des Dritten Abschnitts.
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die das Gesetz auf den Willen ausübt, […] wozu Vernunft allein die objectiven Gründe hergiebt“ [GMS, 460.05]), gegeben werden kann (459.32– 461.06). Zufolge der Grenzen der reinen praktischen Vernunft besteht nur die Möglichkeit: (i) die Notwendigkeit, die Freiheit des Willens anzunehmen, zu „verteidigen“ (GMS, 459.16); (ii) zu zeigen, dass diese notwendige Voraussetzung „zum praktischen Gebrauche der Vernunft, d. i. zur Überzeugung von der Gültigkeit dieses Imperativs, mithin auch des sittlichen Gesetzes hinreichend ist“ (GMS, 461.11); und (iii) die Nützlichkeit der Idee einer Verstandewelt zu zeigen, um „ein[en] vernünftigen Glauben[]“ zu fördern, der „ein lebhaftes Interesse an dem moralischen Gesetze in uns [bewirkt]“ (GMS, 462.30).
7.1.2 Kants Darstellung der moralischen Begriffe 7.1.2.1 Die Glückseligkeit⁴¹ Bereits 1762 gründet Kant die Moral auf das Sollen und das unbedingte Gute.⁴² Aber auch der Gedanke der Glückswürdigkeit in der KrV von 1781⁴³ stammt aus den früheren 1760er Jahren. In der Moral-Nachschrift Herders heißt es: „Glückseligkeit besteht aus Glück; unmoralisch Gutem: physischer Wohlfart. da diese von außen abhängt: so kann sie sehr fehl schlagen, und sehr veränderlich sein und Seligkeit; moralisch Gutem“ (V-PP/Herder, AA 27: 046.03).
In der Moralvorlesung der 1770er Jahre vertrat Kant, dass das summum bonum weder bloß in der Tugend (gegen die Stoiker) noch bloß in der Glücklichkeit (gegen Epikur) erschöpft werden kann, sondern in dem Zusammenhang von beiden bestehen soll. Wie damals wird die Moralität 1781 innerhalb einer moraltheologischen Perspektive ⁴⁴ betrachtet: Diese achtet auf des Menschen wirklichen
Diese Arbeit konzentriert sich nicht auf Kants Idee der Glückseligkeit. Trotzdem ist es für den Argumentationsgang relevant, den Ort des Glücks in Kants Moralphilosophie zu skizzieren. Zum besonderen Sinne des „Guten“ in der UD siehe oben 1.1.3. Wie gezeigt (siehe oben 6.2.3.3, 6.3.1), zielt die Moral auf das höchste Gut auch als die Erfüllung der Glückseligkeit und wird als ein „System der sich selbst lohnenden Moralität“ (KrV, 525.34 f.//A809/B837) bzw. als ein „System der mit der Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit“ (KrV, 525.29//A809/B837) charakterisiert. Nun bekommt der Gedanke einer moralischen Theologie eine Bearbeitung. Aus dieser ergibt sich sowohl Kants Prägung der „Moraltheologie“ als auch seine Konzeption des höchsten Guts.
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Zweck (nämlich die Glückseligkeit)⁴⁵ und kümmert sich dadurch um den Sinn der Moralität. Denn jenseits dieser (moralpsychologischen) Perspektive kann der Mensch für Kant, im Unterschied zur Stoischen Schule⁴⁶, von den Widrigkeiten dieser Welt nicht vollständig absehen: Zwar nimmt Kant in Kauf, dass Menschen als phänomenale, endliche Wesen in dem hiesigen Leben nicht völlige Glückseligkeit erreichen können. Diese besteht sowohl aus dem empirischen, zufälligen Glück als auch aus der Tugend als Würdigkeit der Glückseligkeit: Während letztere prinzipiell von den Menschen selber abhängt – indem sie die Handlungsmaxime bestimmen und die Handlung ausüben –, liegen dagegen die Effekte der moralischen Bestimmung (sowohl die Handlung, ob sie tatsächlich als moralisch gelungen angesehen werden kann, als auch die Wirkungen derselben) nicht mehr in ihren Händen. Ebenso ist das Glück (i) ganz und gar umstandsbedingt (seine Verwirklichung hängt vom Sachverhalt ab), (ii) bloß subjektiv (Neigungen, Bedürfnisse und Wünsche werden bei jedem, und sogar in einem selbst sein Leben lang unterschiedlich erlebt und befriedigt), und (iii) gewissermaßen undurchführbar (der empirischen Glücklichkeit ist sowohl zu eigen, dass sie vorübergehend ist, als auch, dass die Vorschrift derselben „einigen Neigungen großen Abbruch thut“ [GMS, 399.10]: die Befriedigung von gewissen Affekten bringt häufig den Verzicht auf anderer Befriedigung mit sich). Zuallerletzt „[kann sich] der Mensch […] unter dem Namen der Glückseligkeit[⁴⁷] keinen bestimmten und sichern Begriff machen“ (GMS, 399.10). Aber trotz aller begrifflichen und praxisbezogenen Schwierigkeiten macht die Glückseligkeit nach Kant den wirklichen Zweck des Menschen aus: Tatsächlich suchen alle Menschen ihrer Natur nach, glücklich zu sein, d. h. einen (sinnlichen) Ausgewogenheitszustand (felicitas) zu erreichen. Dieser besteht in der Befriedi-
Letzteres umfasst sowohl die Synthese der Moralität und der damit proportionierten Glückseligkeit (als das „abgeleitete höchste Gut“) als auch die Idee Gottes (als das „ursprüngliche höchste Gut“). Dazu siehe oben 6.2.3.3 und 6.3.1. Diese Idee der Glückseligkeit als eines wirklichen Zwecks des Menschen lässt sich in TG, 335.35 f. u. 337.03 ahnen: Da weist Kant auf den „Widerspruch der moralischen und physischen Verhältnisse der Menschen hier auf der Erde“ und den „Übelstand […], der aus der unvollendeten Harmonie zwischen der Moralität und ihren Folgen in dieser Welt entspringt“ hin. In der Moralvorlesung heißt es: „Die Klugheit ist die Fertigkeit im Gebrauch der Mittel zum allgemeinen Zwek der Menschen, das ist zur Glükseligkeit“ (V-Mo, 008.08/010). Die GMS, 399.07 deutet darauf hin: „alle Menschen [haben] schon von selbst die mächtigste und innigste Neigung zur Glückseligkeit, weil sich gerade in dieser Idee alle Neigungen zu einer Summe vereinigen“. Z. B. siehe Seneca, De vita beata, § 4, Abs. 2. Diesen historischen Verweis verdanke ich meinem Zweitbetreuer Salvi Turró. Hier ist die empirische Glücklichkeit gemeint.
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gung von Bedürfnissen auf der pathologischen Ebene; aber ebenso in der Erfüllung von individuellen Wünschen und Interessen⁴⁸, bei welchen die Beteiligung der Vernunft sowohl an deren Konzipierung als auch an deren Verwirklichung notwendig ist. Das Urteil über ein Objekt bzw. Ereignis (Tat), welches mit den eigenen moralischen Wertvorstellungen übereinstimmt, erzeugt ein Lustgefühl bzw. Wohlgefallen. Also findet dieses seinen Ursprung in der adaequatio des Geschehens mit den apriorischen moralischen Ideen. Die Anerkennung einer solchen adaequatio wirkt sich dann auf den sinnlichen Zustand aus. Nach Kant ist diese empirische Glücklichkeit Pflicht, „denn der Mangel der Zufriedenheit mit seinem Zustande in einem Gedränge von vielen Sorgen und mitten unter unbefriedigten Bedürfnissen könnte leicht eine große Versuchung zu Übertretung der Pflichten werden“ (GMS, 399.03). Dennoch ist das besondere Merkmal der menschlichen Glückseligkeit nicht die bloße Befriedigung natürlicher Bedürfnisse; sie kommt auch bei Tieren zustande und letztlich „[hat] weit sicherer [durch Instinkt] erhalten werden können“ (GMS, 395.14). Sondern der Kant’sche Ausdruck „Glückseligkeit“ weist (bereits 1781) eher auf eine Vollendung hin, nämlich auf die Stimmung oder Gemütsverfassung einer Person hin, die aus dem Bewusstsein resultiert, dass sie nebst einer gewissen, erlangten empirischen Glücklichkeit das moralisch Gute realisiert hat und dadurch würdig ist, verhältnisgleich („proportioniert“) glücklich zu werden. Diese Glückswürdigkeit, die mit der Moralität eng verknüpft ist, bezieht sich nicht sowohl auf den körperlichen Zustand (die empirische Glücklichkeit), als auf die Gewissensruhe ⁴⁹ aus dem Bewusstsein, die moralische Aufgabe erfüllt zu haben. Denn in der Moralität liegt der spezifische Zweck des Menschen als freies Wesen. Im Ersten Abschnitt der GMS spricht Kant von einer „Zufriedenheit [der Vernunft] nach ihrer eigenen Art […] aus der Erfüllung eines Zwecks, den […] nur Vernunft bestimmt“, nämlich die „Gründung eines guten Willens“⁵⁰. Im Dritten
Ein Beispiel wäre die Realisierung eines eigenen Lebensprojekts oder das eines Anderen. Diese ist den Gewissensbissen entgegengesetzt. Es handelt sich weder um die „Selbstsucht des Wohlgefallens (Arrogantia)“ (KpV, 073), noch um eine „moralische Glückseligkeit“(MSTL, AA 06: 377.16; zur ganzen Argumentation: siehe MSTL, AA 06: 377.13 – 378.18). GMS, 396.14, Abs. 7: „Denn da die Vernunft dazu nicht tauglich genug ist, um den Willen in Ansehung der Gegenstände desselben und der Befriedigung aller unserer Bedürfnisse (die sie zum Theil selbst vervielfältigt) sicher zu leiten, als zu welchem Zwecke ein eingepflanzter Naturinstinct viel gewisser geführt haben würde, gleichwohl aber uns Vernunft als praktisches Vermögen, d. i. als ein solches, das Einfluß auf den Willen haben soll, dennoch zugetheilt ist: so muß die wahre Bestimmung derselben sein, einen nicht etwa in anderer Absicht als Mittel, sondern an sich selbst guten Willen hervorzubringen, wozu schlechterdings Vernunft nöthig war, wo anders die Natur überall in Austheilung ihrer Anlagen zweckmäßig zu Werke gegangen ist. Dieser Wille darf also zwar nicht das einzige und das ganze, aber er muß doch das höchste Gut
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Abschnitt greift er die Thematik auf und führt ein „Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht“ an, das die Vernunft „einzuflößen“ vermag, „mithin eine Causalität derselben, die Sinnlichkeit ihren Principien gemäß zu bestimmen“ (GMS, 460.10).⁵¹ Es handelt sich also um eine Zufriedenheit, die erst a posteriori, und zwar nach der ausgeführten moralischen Aufgabe zustande kommt (bzw. kommen kann). Schließlich ist die Kantische Glückseligkeit die Summe des Bewusstseins der ausgeführten Moralität, einerseits, und der empirischen Glücklichkeit, andererseits. Letztere sucht nicht die vollständige körperliche und affektive Befriedigung (welche für Menschen aufgrund ihrer endlichen Natur undurchführbar ist). Vielmehr zielt sie auf einen sinnlichen Ausgewogenheitszustandes ab, der auch auf die Sättigung bestimmter Neigungen verzichtet. Die legitim gesuchte empirische Glücklichkeit ist für Kant von Vernunft begleitet.⁵² Somit ist die Glückseligkeit die Gemütsverfassung eines Wesens, das sowohl seiner sinnlichen als auch vernünftigen Natur Rechnung trägt, und in sich durch die Verwirklichung seiner zwei qualitativ unterschiedlichen Zwecke – Moralität und Glückseligkeit – die Vollendung erreicht.
7.1.2.2 Das höchste Gut und der moralische Wert: Das Gute und die Pflicht Der Tradition gemäß zielt die Moral auf die Vollziehung des Guten. Daran schließt sich Kant an. Aber er wird eine Revolution durchführen, sofern eine reine Moralphilosophie auf einem neuen, nämlich formalen Verständnis des Guten fußend fixiert wird. und zu allem Übrigen, selbst allem Verlangen nach Glückseligkeit die Bedingung sein, in welchem Falle es sich mit der Weisheit der Natur gar wohl vereinigen läßt, wenn man wahrnimmt, daß die Cultur der Vernunft, die zur erstern und unbedingten Absicht erforderlich ist, die Erreichung der zweiten, die jederzeit bedingt ist, nämlich der Glückseligkeit, wenigstens in diesem Leben auf mancherlei Weise einschränke, ja sie selbst unter Nichts herabbringen könne, ohne daß die Natur darin unzweckmäßig verfahre, weil die Vernunft, die ihre höchste praktische Bestimmung in der Gründung eines guten Willens erkennt, bei Erreichung dieser Absicht nur einer Zufriedenheit nach ihrer eigenen Art, nämlich aus der Erfüllung eines Zwecks, den wiederum nur Vernunft bestimmt, fähig ist, sollte dieses auch mit manchem Abbruch, der den Zwecken der Neigung geschieht, verbunden sein“. In der MSTL wird Kant von einer „Seelenruhe“ sprechen, bei der der Tugendhafte „glücklich (oder innerlich selig)“ (MSTL, AA 06: 377.32) ist: „Der denkende Mensch nämlich, wenn er über die Anreize zum Laster gesiegt hat und seine oft sauere Pflicht gethan zu haben sich bewußt ist, findet sich in einem Zustande der Seelenruhe und Zufriedenheit, den man gar wohl Glückseligkeit nennen kann, in welchem die Tugend ihr eigener Lohn ist“ (MSTL, AA 06: 377.18). Daher identifiziert sie sich auch nicht mit der bloßen tierischen Befriedigung von Bedürfnissen.
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7 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
Wie ausgeführt, hat der Mensch nebst dem wirklichen Zweck der Glückseligkeit einen spezifischen Zweck zu realisieren. Darin, wie letzterer bestimmt wird, liegt der Schlüssel, um den Auslöser eines konzeptionellen Umbruchs bei Kants moralphilosophischem Werdengang aufzufinden. 1781 war das Moralprinzip als Glückswürdigkeit gedacht, zumal der spezifische Zweck des Menschen die Moralität bzw. die Tugend war. Seinerseits wurde das höchste Gut, einmal, als „abgeleitetes“ definiert, nämlich als die „sich selbst lohnende[] Moralität“ (KrV, 525.34//A809/B837) bzw. als die durchs moralische Handeln erlangte Glückseligkeit. Und, andermal, wurde es als „ursprüngliches höchstes Gut“ konzipiert, und zwar als ein „nothwendiges“ (KrV, 527.06//A811/ B839), „allgewaltig[es] […], „allwissend[es] […], allgegenwärtig[es] […], ewig[es]“ Wesen (KrV, 529.02//A815/B843), d. i. als Gott. Im Jahre 1785 führt Kant eine dezidierte Wende zur reinen Moralphilosophie durch: Der an sich selbst gute Wille wird als „das höchste Gut und zu allem Übrigen, selbst allem Verlangen nach Glückseligkeit die Bedingung“ (GMS, 396.24) ausgedacht und daher als die von der praktischen Vernunft angewiesene moralische Aufgabe gestellt. „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“ (GMS, 393.05). Deswegen wird „einen […] an sich selbst guten Willen hervorzubringen“ (GMS, 396.20), sofern dieser der Grund und Ursprung, somit die Bedingung der Möglichkeit selbst alles Guten, der spezifische Zweck der Menschen. Dementsprechend ist der durchgeführte Umbruch in der GMS der KrV gegenüber radikal. Die erste Konsequenz dieser Wende ist, dass Glückseligkeit⁵³ und Gott aus der Thematik der reinen Moral ausgeschlossen werden: Zwar bedeutete Kants altes⁵⁴ Verständnis des höchsten Guts ein Novum bei seinen veröffentlichten Schriften. Aber irrelevant sind 1785 die Beunruhigungen über die Glückseligkeit und Gott, die 1781 auf die Frage nach dem Sinn und der Motivation der Moralität zurückzuführen sind und zur Konzeption einer „Moraltheologie“ führen. In der GMS dreht sich die Frage nicht mehr darum, ob das Gebot der Vernunft, nach moralischen Prinzipien zu handeln, einerseits widersprüchlich wäre, wenn diese Prinzipien „nicht a priori angemessene Folgen mit ihrer Regel verknüpften“ (KrV, 526.31 f.//A811 f./B839 f.). Andererseits betrifft die Frage auch nicht mehr, ob dieses Vernunftgebot sinnlos wäre, „wo sie [sc. die moralischen Prinzipien] nicht in einem nothwendigen Wesen […] liegen, welches eine solche zweckmäßige Einheit Hier meine ich, wie hingewiesen, die gerade ausgeführte, genuin Kant’sche Glückseligkeit, die in sich die sinnliche Glücklichkeit und vernünftige Seelenruhe umfasst. Zur Erinnerung: Kant beschäftigt sich bereits in den 1770er Jahren mit dem „summum bonum“. Siehe oben 5.1.3.2.
7.1 Analytischer Teil
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allein möglich machen kann“ (KrV, 527.03//A811/B839). Vielmehr liegt das Interesse Kants 1785 darin, zu erforschen, was der Handlung einen moralischen Wert gibt. Und darin spielt weder Glückseligkeit noch Gott eine Rolle. Die Glückswürdigkeit qua Grund der Moral verliert 1785 ihre konstitutive Kraft und Gültigkeit. Und das höchste Gut als Zusammensetzung von Tugend und Glückseligkeit löst sich auf, verliert seine motivierende, auf Hoffnung beruhende Kraft. Außerdem, was die Glückseligkeit sei, und ob sie nach jeder moralischen Handlung, bzw. während eines moralisch geführten Lebens – als eine beständige Zufriedenheit mit sich selbst (siehe GMS, 396.07) – oder erst nach einem ganzen moralisch geführten Leben, mithin post mortem zu erfahren ist, bleibt zuallerletzt unbestimmt. ⁵⁵ Kants Absicht in der GMS ist von der Aufgabe der KrV grundlegend verschieden – was auch beide Schriften stilistisch ganz unterschiedlich prägt. Aus diesen Gründen wird sowohl der eudämonistische Rest im Prinzip: „Thue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein“ (KrV, 52512//A808 f./B836 f.), als auch die theologische Perspektive um einer teleologischen Fassung des moralischen Handelns willen, wie diese in der KrV skizziert wird, – wenigstens für einige Zeit⁵⁶ – aufgegeben. Gemäß dem Angeführten macht das moralisch Gute den allgemein zu vollziehenden ethischen Zweck überhaupt aus. Nun soll das Verständnis dieses Guten einen Perspektivwechsel andeuten: Im Unterschied zu anderen ethischen Theorien der Tradition⁵⁷ konstituiert sich der Wert des Guten objektiv und notwendig: Etwas ist moralisch gut, (i) weil es an und für sich selbst gut ist, somit „aus Gründen, die für jedes vernünftige Wesen als ein solches gültig sind“ (GMS, 413.19, siehe GMS, 420 f. Fn. 2), d. i. unbedingt gut ist, und (ii) weil es „nicht böse sein […]
Aufgrund des Angeführten (siehe oben 7.1.2.1 u. 6.3.1) neige ich zu einer immanenten Interpretation der Glückseligkeit: Der Mensch will heute und hier glückselig sein. Kant schreibt eine Moraltheologie für lebendige Menschen, obwohl das Postulat Gottes zuallerletzt die Glückseligkeit in einer künftigen Welt sichern möchte. So schließt Kant den „Kanon“: „Die Moraltheologie ist also nur von immanentem Gebrauche, nämlich unsere Bestimmung hier in der Welt zu erfüllen, indem wir in das System aller Zwecke passen, und nicht schwärmerisch oder wohl gar frevelhaft den Leitfaden einer moralisch gesetzgebenden Vernunft im guten Lebenswandel zu verlassen, um ihn unmittelbar an die Idee des höchsten Wesens zu knüpfen, welches einen transscendenten Gebrauch geben würde, aber eben so wie der der bloßen Speculation die letzten Zwecke der Vernunft verkehren und vereiteln muß“ (KrV, 531.16//A819/B847). Diese Perspektive wird Kant in der KpV 1788 erneut einnehmen, wo sich die „Analytik der reinen praktischen Vernunft“ auf das Moralgesetz und die Begründung der reinen Moralphilosophie konzentriert, und die „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ das höchste Gut und die sogenannten Postulate Gottes und der Unsterblichkeit bearbeitet. In der V-Mo galten als Paradebeispiel die Stoiker und Epikureer, welche das Gute jeweils als Tugend und Glücklichkeit verstanden. Siehe oben 5.1.3.2.
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7 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
kann“ (GMS, 437.07). Darin gründet sich die neue Konzeption Kants einer reinen Moralphilosophie. Auf diese Weise definiert sich der moralische Wert einer Handlung, deren Grund das an sich Gute ist, indem sie unbedingt und notwendig getan wird, unabhängig von ihren Wirkungen. Und eben weil sie an sich wertvoll ist, soll sie deswegen durchgeführt werden bzw. darf nicht unterlassen werden. Darauf fußt der Pflichtcharakter der Kant’schen Moral. Dementsprechend definiert sich eine moralische Handlung als „Pflicht“ (GMS, 397.11 ff.)⁵⁸ und der erste Satz ⁵⁹, zu dem die „gemeine Menschenvernunft“ gelangt, besagt, dass nur die Handlung, die „aus Pflicht geschieht“ (GMS, 400.15), einen „innern Werth“ (GMS, 397.36) bzw. „einen moralischen Gehalt [oder] Werth“ (GMS, 398.07, 398.27) hat. Eine moralische Handlung setzt sich derjenigen entgegen, die im Hinblick auf etwas Anderes getan (oder unterlassen) wird. In solchem Fall sind subjektive Ziele⁶⁰ (und zwar Vorteile und Nachteile, die man als Konsequenzen seiner Handlungen ersinnt und erwartet oder vermeiden will) das, was die Handlung veranlasst. Also ist diese bedingt, wird aufgrund eines „materiellen Prinzips“ (GMS, 400.15) getan, welches sie als ein notwendiges Mittel zur Erreichung des bezweckten Zieles vorschreibt. Insofern wird die Handlung erst hinsichtlich ihres Erfolgs, aber nicht für sich selbst als wertvoll beurteilt. Darunter gehören die von Kant sogenannten „pflichtmäßigen“ Handlungen: Diese können zwar der Form nach der Pflicht entsprechen, aber nicht dem Inhalt nach, da sie nicht aufgrund der Pflicht und ihres Grundes, nämlich deren absoluten Werts, sondern im Hinblick auf weitere Ziele (Neigungen und Privatinteressen) vollzogen werden. Nun fußt der Wert einer jeden Handlung als empirisches Geschehen überhaupt nicht in der „Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung“; denn, ob die Handlung tatsächlich zustande kommt, wie man sie geplant hat bzw. ob sie tatsächlich die erwarteten Wirkungen mit sich bringt, bleibt außerhalb des menschlichen Einflussbereichs und muss daher unberücksichtigt bleiben. Dem-
GMS, 397.01: „Um aber den Begriff eines an sich selbst hochzuschätzenden und ohne weitere Absicht guten Willens, […] der in der Schätzung des ganzen Werths unserer Handlungen immer obenan steht und die Bedingung alles übrigen ausmacht, zu entwickeln: wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen, der den eines guten Willens, obzwar unter gewissen subjectiven Einschränkungen und Hindernissen, enthält […]“. Dieser Satz wird von Kant nicht ausdrücklich angekündigt. Siehe GMS, 397.19 – 399.34. Ab diesem Punkt werde ich zwischen „Zweck“ und „Ziel“ unterscheiden: „Zweck“ werde ich für den spezifischen Zweck des Menschen vorbehalten, nämlich die moralische Aufgabe, „einen […] an sich selbst guten Willen hervorzubringen“. Hingegen werde ich mich mit „Ziel“ auf die anderen, nicht moralischen Werts Absichten beziehen, sowohl wirkliche Ziele, die auf Glückseligkeit abzielen, als auch diejenigen, die die Auflösung von wissenschaftlichen Problemen und technischen bzw. künstlerichen Aufgaben anstreben.
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zufolge bleibt zur moralischen Beurteilung einer Handlung nichts als die Maxime übrig, die der Handlung zugrunde liegt. So schließt Kant den „zweiten Satz“ der „gemeinen Menschenvernunft“: „eine Handlung hat ihren moralischen Werth nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird, hängt also […] blos von dem Princip des Wollens [ab], nach welchem die Handlung unangesehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens geschehen ist“ (GMS, 399.35).
Das impliziert, dass der moralische Wert zuallerletzt „im Willen [besteht]“ (GMS, 400.06), woraus die Handlungsprinzipien entspringen: „[…] der Wille[⁶¹] ist mitten inne zwischen seinem Princip a priori, welches formell ist, und zwischen seiner Triebfeder a posteriori, welche materiell ist, gleichsam auf einem Scheidewege, und da er doch irgend wodurch muß bestimmt werden, so wird er durch das formelle Princip des Wollens überhaupt bestimmt werden müssen, wenn eine Handlung aus Pflicht geschieht, da ihm alles materielle Princip entzogen worden“ (GMS, 400.10).
Infolgedessen ist der moralische Wert einer Handlung nicht aus ihr als empirischer Sachverhalt, sondern aus ihrer Maxime als ihrer rationaler Ursache zu beurteilen – ob diese für sich selbst oder im Hinblick auf eine weitere Absicht beschlossen worden ist. Kant erschließt einen „dritten Satz, als Folgerung aus beiden vorigen“: „Pflicht ist die Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz“ (GMS, 400.17). Das heißt: Beachtet man das Moralprinzip a priori bzw. für sich selbst und widersteht man ihm aus guter Gesinnung (d. h. eben deswegen, weil es das an sich Gute aussagt⁶²) nicht, dann soll die Handlung, deren Maxime an sich gut, somit unbedingt und notwendig ist und daher als Gebot des Moralgesetzes gilt, für sich selbst realisiert werden. Denn, wie am Anfang dieses Absatzes angedeutet, enthält der Begriff der Notwendigkeit⁶³, und darunter der der Pflicht, das an sich Gute⁶⁴, indem dieses nur gut sein kann, somit unbedingt und notwendig gut ist.
Lies „Willkür“. Bei Kant ist die gute Gesinnung oder Disposition nicht ein Habitus im Aristotelischen Sinne. Denn es handelt sich nicht um eine Haltung, die anhand der klugen Anweisungen eines Weisen und durch die Wiederholung bestimmter Handlungen als Gewohnheit angenommen wird. Vielmehr ist bei Kant die gute Gesinnung auf die reine Vernunft zurückzuführen: Die gute Gesinnung impliziert eine gewisse Erkenntnis des moralisch Guten und Bösen, ist also das Resultat der kritischen Tätigkeit der praktischen Vernunft, bereits in ihrem gemeinen Gebrauch. Kant spricht von „Gesetz“, welches schlechthin einen notwendigen Zusammenhang beschreibt. Dazu siehe unten 7.1.2.4.2 (a). Siehe oben GMS, 397.01 (7.1.2.2 Fn. 58).
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7 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
Angesichts der bisherigen Ergebnisse sei hier schon der Hinweis genannt, dass das subjektive „Princip a priori“ (d. i. die Maxime) nicht so „formell“ ist, wie Kant es darstellt. Denn erstens entsteht der Pflichtbegriff nicht aus sich selbst, sondern aus dem an sich Guten. Und zweitens, wenn „[e]s überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich [ist], was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“ (GMS, 393.05), dann ist die Pflicht keine leere Aufgabe, sondern „einen […] an sich selbst guten Willen hervorzubringen“ bzw. die „Gründung eines guten Willens“ (GMS, 396).⁶⁵ Schließlich beruht der moralische Wert einer Handlung auf ihrer Notwendigkeit: Diese geht objektiv (aus der Handlungsperspektive selbst) auf das inhärente objektive Gutsein ihrer Maxime, subjektiv (aus der Perspektive des Handelnden) auf die ihr gebührende gute Disposition zurück. – Bevor ich nun genauer schildere, worin die moralische Notwendigkeit besteht, möchte ich näher ausführen, was ein guter Wille ist.
7.1.2.3 Der Wille und seine Begriffe Die Recherche mit einer elektronischen Suchmaschine ergibt eine Frequenz des Willensbegriffs in der GMS von etwa 235 Mal, eine beträchtliche Häufigkeit in Verhältnis zum 75-seitigen Umfang der Schrift. Außerdem verwendet Kant zweimal den verwandten Ausdruck „Willkür“⁶⁶. Jedoch kommt der Willensbegriff in mehreren Bedeutungen, dazu aber weder eine Definition desselben noch eine theoretische Unterscheidung zwischen Willen und Willkür vor; vielmehr sind diese in mehreren Passagen anscheinend austauschbar. Angesichts der grundlegenden Rolle des Willensbegriffs für die Konzeption der ethischen Autonomie soll seine genaue Bedeutung etwas ausführlicher erörtert werden.
(a) Der Wille als ein Oberbegriff der Moral Das System einer Moralphilosophie als reine Disziplin stellt das moralisch, objektiv fixierte Gute (summum bonum) als den eigentlichen Zweck eines freien Willens als Objekt seines Handelns dar. Aber sie richtet sich primär an den freien Willen, der sich fragt, „was ich […] zu thun habe, damit mein Wollen sittlich gut sei“ (GMS, 403.18). Deswegen eröffnet Kant die GMS mit dem „guten Willen“: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken
Siehe unten 7.1.2.3. Gegen den Formalismus-Vorwurf siehe unten 7.1.2.4.1 Fn. 109. Das Adjektiv „willkürlich“ kommt auch zweimal, „unwillkürlich“ einmal vor.
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möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein g u t e r W i l l e “ (GMS, 393.05). Damit wird eine Vorstellung des Willens qua ein absolut Gutes als Gegenstand der Moral festgelegt: Im Unterschied zu den Bemerkungen von 1765⁶⁷ weist das an sich Gute eines rein, für sich selbst wollenden Willens nicht auf die alleinige Spontaneität desselben hin, welche die Bedingung der Möglichkeit aller Handlung überhaupt ist. Sondern es geht auf die Richtigkeit des Wollens, d. h. auf dieselbe Willenstätigkeit zurück, welche durch reine praktische Vernunft bestimmt wird und den Naturgaben des „Charakters“ (darunter des „Temperaments“ und der „Talente“) sowie den „Glücksgaben“ Richtung gibt (siehe GMS, 393). „Dieser Wille darf also zwar nicht das einzige und das ganze, aber doch das höchste Gut und zu allem übrigen selbst allem Verlangen nach Glückseligkeit, die Bedingung sein […]“ (GMS, 396.24).⁶⁸ Aus diesem Grund bestimmt die reine Moral als spezifischen Zweck des Menschen, „einen […] an sich selbst guten Willen hervorzubringen“ (GMS, 396.20) bzw. die „Gründung eines guten Willens“ (GMS, 396.33). Wie angedeutet, ist der Wille ein unter „Gesetzen der Freiheit“ (GMS, 387.14) agierendes Subjekt im Gegensatz zu anderen Wesen, die bloß unter Naturgesetzen wirken: „Der Wille ist eine Art von Causalität lebender Wesen, so fern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Causalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann: so wie Naturnothwendigkeit die Eigenschaft der Causalität aller vernunftlosen Wesen, durch den Einfluß fremder Ursachen zur Thätigkeit bestimmt zu werden“ (GMS, 446.07).⁶⁹
Diese Konzeption eines freien Willens knüpft an den Ansatz der Dialektik der KrV an, die alte Festsetzung einer zweifachen Kausalität⁷⁰, unter der sich alles befindet und entwickelt, in eine Freiheitstheorie einzugliedern.
Siehe unten Anhang 3, (iv) Bem., 109.05 (kommentiert oben 3.2.2.1). Wie gezeigt, wird in der GMS die teleologische Konzeption der KrV von einem höchsten, ursprünglichen und abgeleiteten Guts jeweils als eines Gottes und als der durch die Moralität verdienten Glückseligkeit, welche uns jenes allmächtige Wesen gewährt, aufgegeben. Siehe oben 7.1.2.1 u. 7.1.2.2. Siehe GMS, 412.26, 427.19. Die Dichotomie von Natur und Freiheit spielt eine wichtige Rolle in Kants Gedanken seit jüngeren Jahren. Beispielsweise macht der Text des Beweisgrundes 1763 auf den Unterschied zwischen der Naturnotwendigkeit alles Mechanischen „in der körperlichen Welt“ und der „Zufälligkeit“ der „Handlungen aus Freiheit“ aufmerksam (BDG, AA 02: 110.20), wo Kant anmerkt: „Und um deswillen kann man erwarten, daß übernatürliche Ergänzungen nöthig sein dürften, weil es möglich ist, daß in diesem Betracht der Lauf der Natur mit dem Willen Gottes bisweilen widerstreitend sein könne“ (BDG, AA 02: 111.01).
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7 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
Zum einen soll selbst die Idee des Chaos für eine Vernunft, die a priori über Kategorien verfügt und nach Prinzipien verfährt, völlig absurd⁷¹ bzw. nur aus dem Gegensatz zur Idee der Ordnung nach Gesetzen zu verstehen sein. So, nebst dem von Newton festgesetzten Gravitationsgesetz, welches das Universum a priori erklären soll, soll ebenso ein Moralgesetz unseren Willen a priori regieren; denn aus Erfahrung bemerken wir, dass unser Handeln weder chaotisch ist, noch einer Determinierung durch Kausalgesetze unterliegt: „Der Rechtsanspruch aber selbst der gemeinen Menschenvernunft auf Freiheit des Willens gründet sich auf das Bewußtsein und die zugestandene Voraussetzung der Unabhängigkeit der Vernunft von bloß subjectiv bestimmenden Ursachen, die insgesammt das ausmachen, was bloß zur Empfindung, mithin unter die allgemeine Benennung der Sinnlichkeit gehört“ (GMS, 457.04).⁷²
Zum anderen gibt die Natur dem Menschen zwar keinerlei Anschauung von freien Handlungsregeln, aber er bemerkt bei seinem Verfahren überhaupt eine von ihr unterschiedene Ordnung: Menschen setzen sich Zwecke und Ziele⁷³ und können bei letzteren sogar entscheiden, wie sie erreicht werden sollen. Hierbei legen wir uns ein Vermögen bei, nämlich den Willen, der vermag, sich selbst zu bestimmen. In diesem Sinne tritt der Wille als ein Oberbegriff der Moral auf, auf welchen die Freiheit als Spontaneität – d. h. die Möglichkeit einer jeden Handlung überhaupt – zurückgeht. Demgemäß definiert sich der Wille affirmativ als das Vermögen, nach Prinzipien zu handeln, bzw. negativ als das Vermögen, unabhängig von fremden Ursachen wirkend zu sein.
(b) Der Wille als reine praktische Vernunft 1785 geht Kant in Übereinstimmung mit früher festgelegten Unterscheidungen zwischen Naturnotwendigkeit und Freiheit⁷⁴ sowie zwischen „arbitrium brutum“
Dementsprechend behauptet Kant am Anfang des Dritten Abschnitts der GMS: „Da der Begriff einer Causalität den von Gesetzen bei sich führt, nach welchen durch etwas, was wir Ursache nennen, etwas anderes, nämlich die Folge, gesetzt werden muß: so ist die Freiheit, ob sie zwar nicht eine Eigenschaft des Willens nach Naturgesetzen ist, darum doch nicht gar gesetzlos, sondern muß vielmehr eine Causalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art sein; denn sonst wäre ein freier Wille ein Unding“ (GMS, 446.15). Dazu siehe unten 7.2.2.1 Absatz (b). Ebenso siehe oben 6.2.4.3 (darunter siehe Zitate: KrV, 373.32//A551/B579 Fn., 376.32//A557/ B585) u. die „Schlüsse zum Dritten Teil“ (darunter siehe Zitat: KrV, 370.36 f.//A546 f./B574 f). Zu Unterschied zwischen „Zweck“ und „Ziel“ siehe oben 7.1.2.2 Fn. Dazu siehe die dritte Antinomie in der „Dialektik“ (KrV, 308 ff.//A444 ff./B472 ff.). GMS, 446.07: „Der Wille ist eine Art von Causalität lebender Wesen, so fern sie vernünftig sind, und Freiheit
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und „arbitrium liberum“⁷⁵ von der grundlegenden Konzeption aus, dass alles in der Welt gesetzlich geordnet ist. Entsprechend setzt er in wenigen Worten seine Handlungstheorie fest: „Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Principien, zu handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anders als praktische Vernunft“ (GMS, 412.26).
Diese Handlungstheorie stützt sich stillschweigend auf die zweifache Freiheitskonzeption der KrV.⁷⁶ Nun greift Kant in der GMS nicht die alte Dichotomie „arbitrium liberum“ vs. „arbitrium brutum“ auf, die seit Mitte der 1760er in den Bemerkungen und über die 1770er Jahre hinaus im Moralkolleg bis zur KrV entwickelt wird. Sondern die Pointe liegt im Verhältnis des menschlichen freien Willens zur Vernunft und zur Sinnlichkeit (jeweils als Bestimmung oder Affizierung). Daher wird die Dichotomie zur Unterscheidung zwischen zusammengesetztem (menschlichem) und einfachem (bloß vernünftigem oder bloß tierischem) Willen umgearbeitet. Im Gegensatz zu dem göttlichen und dem tierischen Willen (der jeweils nur und unmittelbar unter Vernunftgesetzen bzw. Naturgesetzen steht) ist der freie Wille spontan, somit gesetzgebend: Er kann über die Prinzipien und Maximen nachdenken und danach sein Handeln bestimmen. Als „praktische Vernunft“ (GMS, 412.30) führt der Wille eine rein formale Tätigkeit durch, nämlich „die Vorstellung des [Moralg]esetzes an sich selbst“ (GMS, 401.11) nach bloß vernünftigen Elementen (und zwar den reinen Begriffen und Ideen). Der Wille ist daher gesetzgebend, zumal diese Vorstellung des Moralgesetzes im engen Sinne ein „Bestimmungsgrund“ (GMS, 401.13) in „objektiver“ Hinsicht ist (GMS, 400.32). Sie gilt als eine allgemeine, d. h. zeitlose und umstandsunabhängige Richtschnur zum moralischen Urteilen und Handeln: „ein vernünftiger unparteiischer Zuschauer [kann] sogar am Anblicke eines ununterbrochenen Wohlergehens eines Wesens, das kein Zug eines reinen und guten Willens ziert, nimmermehr ein Wohlgefallen haben, und so [scheint] der gute Wille die unerlaßliche Bedingung selbst der Würdigkeit glücklich zu sein auszumachen“ (GMS, 393.19).
würde diejenige Eigenschaft dieser Causalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann: so wie Naturnothwendigkeit die Eigenschaft der Causalität aller vernunftlosen Wesen, durch den Einfluß fremder Ursachen zur Thätigkeit bestimmt zu werden“. Siehe GMS, 412.26, 427.19 und 446.07. Siehe oben 5.1.3.7, 6.2.4 und 6.3.3. Zum zusammengefassten Blick auf diese Freiheitskonzeption siehe oben „Schlüsse zum Dritten Teil“.
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7 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
Nach diesem Verständnis ist der Wille das Vermögen reiner praktischer Erkenntnis, d. h. das Vermögen „zu unterscheiden, was gut, was böse, was pflichtmäßig oder pflichtwidrig sei“ (GMS, 404.03). Als Leitungsvermögen des Handelns überhaupt ist er die Bedingung der Möglichkeit des guten Gebrauchs unserer „Natur-“ und „Glücksgaben“ (GMS, 393.12– 13). Deswegen kann er als „reiner Wille“ dem Menschen zugeschrieben werden. Daher wird jeder, „selbst der ärgste Bösewicht“ (GMS, 454.21), wenn er von Umständen absieht, feststellen können, ob eine Handlung moralisch richtig ist (siehe GMS, 404.04). Und nichts wird für gut gehalten werden, das nicht abermals auf einen reinen, d. i. zeitlosen und umstandsunabhängigen Willen zurückzuführen ist. Denn nicht die Handlung (oder ihre Wirkungen), sondern erst die Beschaffenheit des Bestimmungsgrunds, welcher der Maxime zugrunde liegt, lässt zuletzt beurteilen, ob die Maxime moralisch gebilligt werden kann.⁷⁷
(c) Der Wille als freie Willkür Der Willensbegriff, auf den der Leser der GMS sonst vornehmlich stößt,⁷⁸ ist als (menschliche) freie Willkür zu verstehen. Es handelt sich um die praktische Vernunft als ein spontanes Vermögen, Maximen und Handlungen zu bestimmen. Demzufolge ist es das Vermögen, wodurch ein freies Wesen Moralität vollziehen kann. Die zusammengesetzte (vernünftige und sinnliche) Natur der freien Willkür schlägt sich in einer dreifachen materiellen Tätigkeit nieder. Erstens ist sie das Vermögen, sich Zwecke und Ziele zu setzen, wodurch man eine „Apperception“ seines Selbst (siehe KrV, 370.33 f.//A546 f./B574 f.) hat.⁷⁹ Die freie Willkür ist aber auch das empirische Pendant des Willens, denn zweitens ist sie das Vermögen, vernünftig, d. h. der Vorstellung des moralischen Gesetzes entsprechend zu wollen, und drittens ist sie das Vermögen der Selbstbestimmung. Die materielle Tätigkeit des Wollens (die der formalen Tätigkeit des Willens als praktische Vernunft entspricht) nennt Kant „Achtung“ und dient als Bestimmungsgrund in „subjektiver“ Hinsicht (GMS, 400.32).⁸⁰ Schließlich ist auch die Selbstbestimmung nach besonderen Maximen eine materielle Tätigkeit, wodurch sich die freie Willkür bestimmte Zwecke moralischen Werts setzt. Die zusammengesetzte Natur der Willkür schafft den Spielraum für die freie Wahl und Selbstbestimmung: Die freie Willkür kann sich entweder nach den ge
Dazu siehe unten 7.1.2.4.2 (c) u. Anhang 5. Siehe GMS, 397.19 – 401, 412.30 – 421.04. Siehe oben 7.1.2.3 (a). Zur Achtung siehe unten 7.1.2.4.1.
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nannten Bestimmungsgründen der Vernunft richten (das sind objektiv das Moralgesetz als der Gegenstand des reinen Willens und subjektiv die Achtung als das vernünftige Wollen selbst) oder von Bedürfnissen und Begierden bestimmen lassen. Daraus ergibt sich: (1) dass die freie Willkür „von Prinzipien der Vernunft [abhängig]“ (siehe GMS, 413 Fn.) ist. D. h.: All ihre Tätigkeit – sowohl ihr Tun als auch ihr Unterlassen – folgt nach Maximen als „subjektive Prinzip[ien] des Wollens“ (GMS, 400 Fn.). (2) Die freie Willkür „[erkennt] mit Achtung“ das Gesetz (GMS, 401 Fn.) und daher kann sie von allem Empirischen absehen: Die Achtung tritt in Form eines „reinen Vernunftinteresse[s]“ auf ⁸¹ (GMS, 460 Fn.), das zugleich das sinnliche Begehren der Willkür nach Bedürfnissen und Privatinteressen „nötigt“ (GMS, 413.04) bzw. unterdrückt.⁸² Die Maximen, welche die Willkür nach Gesetz und Achtung wählt, fungieren als „objektive [Gründe] des Wollens“, d. h. als „Bewegungs[gründe]“ (GMS, 427.27) und sie und die entsprechenden Handlungen haben einen moralischen Wert. Dennoch wird die Willkür durch die Sinnlichkeit stets von Bedürfnissen affiziert, wobei sie auch begehrt, diese zu befriedigen. Sobald sie „abhängig von Empfindungen“ (siehe GMS, 413 Fn.) wird, werden die Bedürfnisse zu Neigungen. Die Maximen, die die Willkür danach beschließt, gelten als „Triebfedern“ des „subjektiven Begehrens“ (siehe GMS, 427.26) und die zusammengehörigen Handlungen sind pragmatisch. Auf seiner originalen Konzeption des Willens fußend, nach der weder die Tätigkeit des reinen Willens noch die der freien Willkür Wirkung von Naturgesetzen ist, sondern in dem Wollen und der Bestimmung nach eigenen Begriffen und Prinzipien besteht, entfaltet Kant jetzt seine vorhin wiedergegebene Handlungstheorie ⁸³: „Wenn die Vernunft[⁸⁴] den Willen[⁸⁵] unausbleiblich bestimmt, so sind die Handlungen eines solchen Wesens, die als objectiv nothwendig erkannt werden, auch subjectiv nothwendig, d.
„Der Gegenstand der Achtung ist also lediglich das Gesetz und zwar dasjenige, das wir uns selbst und doch als an sich nothwendig auferlegen. Als Gesetz sind wir ihm unterworfen, ohne die Selbstliebe zu befragen; als von uns selbst auferlegt, ist es doch eine Folge unsers Willens und hat in der ersten Rücksicht Analogie mit Furcht, in der zweiten mit Neigung“ (GMS, 401 Fn.). Diese zwei analogen Bedeutungen der Achtung entsprechen jeweils dem reinen Wollen des menschlichen reinen Willens und dem reinen Vernunftinteresse der menschlichen Willkür für das Gesetz und die von ihm abgeleiteten Maximen. „Eigentlich ist Achtung die Vorstellung von einem Werthe, der meiner Selbstliebe Abbruch thut“ (GMS, 401 Fn.). Zu ausführlichen Betrachtungen zu „Achtung“, „reinem Wollen“, „reinem Vernunftinteresse“ und „Nötigung“ siehe unten 7.1.2.4.1. Siehe oben 7.1.2.3 (b) Zitat GMS, 412.26. Gemeint ist die praktische Vernunft bzw. der reine Wille.
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i. der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als praktisch nothwendig, d. i. als gut, erkennt“ (GMS, 412.30).
Der Willensbegriff deutet hier auf eine Willkür als ein bloß vernünftiges Bestimmungs- und Handlungsvermögen hin. Nun folgt nach Kant: „Bestimmt aber die Vernunft für sich allein den Willen nicht hinlänglich, ist dieser noch subjectiven Bedingungen (gewissen Triebfedern) unterworfen, die nicht immer mit den objectiven übereinstimmen; mit einem Worte, ist der Wille nicht an sich völlig der Vernunft gemäß (wie es bei Menschen wirklich ist): so sind die Handlungen, die objectiv als nothwendig erkannt werden, subjectiv zufällig, und die Bestimmung eines solchen Willens objectiven Gesetzen gemäß ist Nöthigung; d. i. das Verhältniß der objectiven Gesetze zu einem nicht durchaus guten Willen wird vorgestellt als die Bestimmung des Willens eines vernünftigen Wesens zwar durch Gründe der Vernunft, denen aber dieser Wille seiner Natur nach nicht nothwendig folgsam ist“ (GMS, 412.35 f.).
Also wäre eine Willkür, die sich immer ausschließlich und unvermeidlich nach der reinen praktischen Vernunft richtete, eine „göttliche“ (GMS, 413 Fn., 414.05)⁸⁶ bzw. „heilige“ (GMS, 414.06, 439.29) Willkür. Diese würde sich durch keine Spontaneität auszeichnen, denn eine göttliche bzw. heilige Willkür könnte einzig und allein, also müsste nach Vernunftgesetzen wirken. Sie würde nur an sich gute Zwecke deswegen verfolgen, weil das an sich Gute das einzig mögliche Objekt ihrer ganzen Tätigkeit ausmachen würde. Daher wären bei einer solchen Willkür die objektiv notwendigen Handlungen auch subjektiv notwendig, somit hätten sie keinen moralischen Wert. Demgegenüber ist die „menschliche“ (GMS, 413 Fn.)⁸⁷ Willkür ein vernünftiges Vermögen bei einem sinnlichen Wesen. Sofern der Mensch durch die Sinnlichkeit affiziert wird, spielt die Naturnotwendigkeit bei seinen Bestimmungen eine bedeutsame Rolle. Die Naturnotwendigkeit wirkt auf seine Willkür zwar nicht determinierend, aber doch maßgebend, denn sie konkurriert mit demjenigen, was der reine Wille durch die alleinige Vernunft „als praktisch nothwendig, d. i. als gut, erkennt“. Auf diese Weise stellt sich die objektiv notwendige Handlung als subjektiv zufällig dar. D. h.: Sie ist trotz des gesetzlich notwendigen Charakters ihrer Maxime kein unabänderliches Tun: „die Vernunft [bestimmt] für sich allein den Willen nicht hinlänglich, […] [denn] der Wille [ist] nicht an sich völlig der
In der ganzen Passage von GMS, 412.30 bis GMS, 413.08 lies „Willkür“ für „Willen“. Siehe GMS, 412.30 – 34. Siehe GMS, 412.35 f.
7.1 Analytischer Teil
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Vernunft gemäß“⁸⁸. Also ist das menschliche Handeln wesentlich frei (bzw. spontan) und eines moralischen Werts fähig. Demzufolge weist die menschliche Willkür einen besonderen Charakter auf, und zwar: Ihre Spontaneität und Unabhängigkeit von der Naturnotwendigkeit impliziert im Gegensatz zu Gott, dass sie über Wahlfreiheit verfügt und ein Bestimmungsvermögen ist, denn sie letztendlich immer entscheiden soll, sich nach „Bewegungsgründen“ des objektiven Wollens zu richten oder sich von den sinnlichen „Triebfedern“ mitreißen zu lassen:⁸⁹ „Worin kann also dieser Werth [sc. der Handlungen] liegen, wenn er nicht im Willen[⁹⁰] in Beziehung auf deren [sc. der Handlung] verhoffte Wirkung bestehen soll? Er kann nirgend anders liegen, als im Princip des Willens [⁹¹] unangesehen der Zwecke[⁹²], die durch solche Handlung bewirkt werden können; denn der Wille ist mitten inne zwischen seinem Princip a priori, welches formell ist, und zwischen seiner Triebfeder a posteriori, welche materiell ist, gleichsam auf einem Scheidewege […]“ (GMS, 400.06)⁹³.
Schließlich ist zum Verhältnis der freien Willkür zur praktischen Vernunft zweierlei zu bemerken: Erstens kann die freie Willkür sich zweifach auf die praktische Vernunft berufen, nämlich in einem weiten und einem engen Sinne: Im ersten Fall greift sie zur Wahl und Richtung ihres Handelns auf einen instrumentellen Gebrauch der praktischen Vernunft zurück, und zwar bloß im Hinblick auf die Entdeckung der besten Mittel zur Erreichung eines subjektiven, durch Bedürfnisse oder Interessen veranlassten Ziels. Dann entwirft sie bloß subjektive „Handlungsprinzipien“ bzw. „Maximen“ (GMS, 420 f. Fn. 2), die nicht allgemein, sondern nur in Beziehung auf das beabsichtigte Ziel und in Abhängigkeit von ihrem Erfolg wertvoll sein können. Im engen Sinne hingegen richtet die Willkür ihre Tätigkeit nach Bewegungsgründen, d. h. vernünftigen Zwecken, die dem Moralgesetz des reinen Willens, mithin der reinen Vernunft entsprechen. So schafft sie a priori Handlungsprinzipien bzw. Maximen, die allgemeingültig sind, weil sie mit dem Moralgesetz
Lies „Willkür“ statt „Willens“. Weil eine Bestimmung in der einen oder der anderen Richtung notwendig ist, ist die Handlung stets dem handelnden Subjekt zuzurechnen: Auch wenn der Anlass derselben eine sinnliche Triebfeder ist, stammt der bestimmende Charakter derselben vom Subjekt selbst. Siehe KrV, 375.13 f.//A554 ff./B582 ff. Lies „Willkür“ in der ganzen Passage. D. h., in der Maxime der Willkür. Lies „Ziele“. Lies „Willkür“ statt „Willens“. Siehe oben 7.1.2.2 die Fortsetzung des Zitats GMS, 400.10.
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7 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
übereinstimmen, und deren Realisierung für sich allein einen an sich selbst guten Zweck ausmacht.⁹⁴ Davon ausgehend ist, zweitens, die freie Willkür die Urheberin der Moralität: Der reine Wille entdeckt zwar die allgemeine Richtschnur, nach der die moralische Richtigkeit bzw. das moralisch Gute einer jeden Handlungsmaxime beurteilt werden kann. Aber der moralische Wert bzw. die Moralität von Maximen geht letztendlich auf die freie Willkür als Vermögen der Selbstbestimmung zurück, und zwar sofern ihre Maximen (d. h. Ziele und Zwecke) dem Moralgesetz entsprechen. Daher fungiert diese als ein gesetzgebendes Vermögen, das die eigenen Prinzipien zum Handeln beschließt, und als ein ausübendes Vermögen, das für die letzte Erfüllung dieser Prinzipien verantwortlich ist. – Nota bene: Die Darstellung der dritten Formel des kategorischen Imperativs, d. h. der Autonomie-Formel (GMS, 431.16)⁹⁵ weist mit der Idee des „allgemein gesetzgebenden“ (GMS, 431.17) bzw. „obersten gesetzgebenden“ (GMS, 432.07) Willens⁹⁶ nicht auf den reinen Willen (der nur nach Begriffen der Vernunft verfährt), sondern auf die moralisch gesetzgebende und ausübende Willkür, d. h. auf das handlungsbestimmende Vermögen in engem Sinne hin: Denn nur die freie Willkür beschließt Handlungsregeln, somit auch die Maximen, die mit dem allgemeinen Moralgesetz des reinen Willens zusammenstimmen,⁹⁷ und hierbei wird sie selbstgesetzgebend, d. h. autonom.⁹⁸ Zusammengefasst: Der reine Wille identifiziert sich mit der reinen praktischen Vernunft und wird als ein gesetzgebendes Vermögen bei endlichen, für sich nicht vollkommen wollenden und handelnden Wesen gedacht, das ihnen eine allgemeingültige Richtung abgibt. Seinerseits ist der Willensbegriff im Sinne einer freien Willkür das höchste Gut, weil sie nicht nur die Bedingung der Möglichkeit, sondern auch als durch Maximen gesetzgebend die tatsächliche Vollstreckerin des moralisch Richtigen ausmacht.⁹⁹ Diese zweifache Konzeption des Willensbegriffs in der GMS als ein auf zwei Ebenen gesetzgebendes Vermögen sieht sich zuletzt mit Kants Worten unterstützt: Hier möchte ich an die schon zitierte Rawlsche Unterscheidung zwischen „rational“ und „vernünftig“ erinnern. Zur dritten Formel des kategorischen Imperativs siehe unten 7.1.2.4.2 (3.e). GMS, 459.11: „[…] eines Willens, d. i. eines vom bloßen Begehrungsvermögens noch verschiedenen Vermögens, (nämlich sich zum Handeln als Intelligenz, mithin nach Gesetzen der Vernunft unabhängig von Naturinstincten zu bestimmen) […]“. Ähnlich auch Reath 2013, 41 ff., der den eigenen formalen Zweck der Willkür („its formal aim […] of realizing the objects of one’s practical judgements“, [2013, 45]) hervorhebt. Zum Unterschied zwischen göttlichem und menschlichem Willen in der GMS komme ich im Folgenden. Siehe oben 7.1.2.2 u. 7.1.2.3 (a).
7.1 Analytischer Teil
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„Dadurch, daß die praktische Vernunft sich in eine Verstandeswelt hinein denkt, überschreitet sie gar nicht ihre Grenzen, wohl aber wenn sie sich hineinschauen, hineinempfinden wollte. Jenes ist nur ein negativer Gedanke in Ansehung der Sinnenwelt, die der Vernunft [sc. dem reinen Willen] in Bestimmung des Willens [sc. der freien Willkür] keine Gesetze giebt, und nur in diesem einzigen Punkte positiv, daß jene Freiheit als negative Bestimmung [sc. Unabhängigkeit] zugleich mit einem (positiven) Vermögen und sogar mit einer Causalität der Vernunft verbunden sei, welche wir einen Willen nennen, so zu handeln, daß das Princip der Handlungen [sc. die Maxime] der wesentlichen Beschaffenheit einer Vernunftursache [sc. dem Moralgesetz], d. i. der Bedingung der Allgemeingültigkeit der Maxime als eines Gesetzes, gemäß sei“ (GMS, 458.06 – 16).
Obwohl Kant im Rahmen der GMS die Unterscheidung zwischen Willen und Willkür nicht ausführt und üblicherweise vom Willen spricht, ergibt sich aus der Textanalyse, dass er den Willensbegriff bereits in den drei bestimmten Bedeutungen verwertet¹⁰⁰: als Oberbegriff der Moral (wo er ihn als das Moralvermögen überhaupt darstellt), als spezifisch vernünftiges Vermögen (d. i. der reine Wille bzw. die reine praktische Vernunft) und als Wahl- und Bestimmungsvermögen (d. i. die freie Willkür). Daher werde ich mich im Folgenden daran halten und die zum Willensbegriff jeweils gehörige Wortbedeutung anwenden.
7.1.2.4 Die praktische Notwendigkeit als Grund der Achtung und des Moralprinzips Wie angedeutet, entsteht die praktische Notwendigkeit in moralischer Hinsicht aus der Idee eines an sich Guten, das unbedingt gut ist, und nicht böse sein kann, mithin notwendig gut ist. Das Prinzip, das der Wille durch die praktische Vernunft formuliert, definiert das Verhältnis der Willkür zu ihm. Wegen der Unbestimmtheit der menschlichen freien Willkür stellt sich dieses Prinzip (als notwendiger Gegenstand eines reinen Willens, und zwar als das an sich Gute) als eine besondere praktische Notwendigkeit dar. Denn es handelt sich nicht um das notwendig gute Handeln eines „heiligen Willens“¹⁰¹, bei dem „das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz nothwendig einstimmig ist“ (GMS, 414.01), bei der das Gutsein kein zu erreichender, sondern ein aktueller Zweck wäre, bzw. bei der „die Handlungen, die als
Ludwig 2010, 621 f. Fn. 48 weist auch darauf hin, dass der Unterschied zwischen Willen (als „reinem Willen“) und Willkür (als „sinnlich affiziertem“ bzw. „freiem Willem“), der erst 1797 in der Tugendlehre expliziert wird, „in der Sache […] seit (spätestens) der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten präsent und dort auch bereits systematisch unverzichtbar [ist]“. Jedoch liefert er dazu keine weiteren begrifflichen Ausführungen. Lies „Willkür“.
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7 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
objectiv nothwendig erkannt werden, auch subjectiv nothwendig“ wären (GMS, 412.31). Im Gegensatz dazu ist das Gutsein bei einer freien Willkür ein zu verwirklichender Zweck bzw. etwas, das „geschehen soll, ob es gleich niemals geschieht“ (GMS, 427.03). Entscheidend ist also, dass bei diesem Verhältnis und bei der Formulierung von Handlungsprinzipien noch ein weiterer Faktor außer dem Moralprinzip eine maßgebende Rolle spielt, nämlich: die Sinnlichkeit, wodurch die freie Willkür jederzeit affiziert wird. Ihretwegen ist das subjektive Verhältnis der Willkür zum Willen (bzw. zur praktischen Vernunft) „zufällig“ (siehe GMS, 413.02). Denn sie unterliegt den Naturgesetzen und dringt jederzeit auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse und Neigungen.¹⁰² Demgegenüber legt das Moralprinzip die Allgemeingültigkeit der Maximen als Richtschnur moralischen Handelns fest. Danach zu handeln, impliziert eine Nötigung, und zwar, dass die sinnlichen Triebfedern außer Acht gelassen werden sollen. Diese bedeuten ein Hindernis für die moralische Bestimmung von Maximen und Handlungen. Die moralische Nötigung entsteht also aus der Konfrontation zwischen dem Prinzip der Vernunft und der natürlichen Neigung, die Sinnlichkeit zu befriedigen. Zuletzt liegt die Entscheidung für die Moralität, wie die für die Befriedigung der Bedürfnisse, in den Händen der Menschen. Die Konfrontation beleuchtet, warum der Mensch immer „ungern“ (V-Mo, 045.13/053 ff.) die moralischen Prinzipien befolgt. Diese Konzeption der Nötigung der Willkür als Anlass zur Moralität weist auf eine begriffliche Vertiefung gegenüber früheren Ausführungen Kants zur praktischen Notwendigkeit hin. Auf der Suche nach dem Grund aller Verbindlichkeit (als der Oberbegriff der Moral) legt die Untersuchung die fruchtbare Unterscheidung zwischen „necessitatem problematicam“ und „necessitatem legalem“ (UD, 298.14) fest, wo diese die Notwendigkeit der Handlung als eines Zwecks, d. h. eine Verbindlichkeit, jene aber die Notwendigkeit der Handlung bloß als eines Mittels zu etwas Anderem ausspricht.¹⁰³ In der Moralvorlesung identifiziert sich der Begriff der praktischen Notwendigkeit sowohl mit der moralischen (d. i. „cathegorischen Nothwendigkeit“ [V-Mo, 027.02/028]¹⁰⁴) als auch mit der pragmatischen (d. i. „pathologischen“ [V-Mo, 027.30/029]) Notwendigkeit: Einerseits entstammt die moralische Notwendigkeit (im engen Sinne) aus Gesetzen, die die objektive Nötigung im Men-
Nach dem zweiten Satz (im Ersten Abschnitt) steht fest, dass das menschliche Handeln – sowohl die Moralität als auch die Genugtuung, die bloß auf subjektive Ziele blickt –, sich nach Prinzipien richtet, worin letztendlich dessen Wert (sei moralisch, pragmatisch oder technisch) liegt. Siehe oben 1.1.3 (erstere Absätze). Im engen Sinne wird sie auch „practische Nothwendigkeit“ (GMS, 027.09/029) genannt.
7.1 Analytischer Teil
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schen (siehe V-Mo, 027.24/029 f.) begründen; und auf dieser Nötigung beruht letztlich alle Verbindlichkeit (siehe V-Mo, 029.02/031).¹⁰⁵ Andererseits entspringt die pragmatische Notwendigkeit aus „pragmatischen“ (V-Mo, 007.18/009) Gesetzen (auch „Gesetzen der Sinnlichkeit“ [V-Mo, 027.33/029] genannt), die den „Gebrauch der Mittel zum allgemeinen Zwek der Menschen, das ist zur Glückseligkeit“ (V-Mo, 008.08/010) regeln und somit dringen sie pathologisch oder subjektiv (siehe GMS, 028.02/029), aber können nicht nötigen bzw. können keine Verbindlichkeit gründen (siehe V-Mo, 029.03/031). In der GMS beruht Kants Interesse am Notwendigkeitsbegriff zwar auf dem theoretischen Vorsatz, den Pflichtbegriff aufzuklären; aber dieser liegt nicht bereits vor und ist zu allererst herauszuarbeiten. Daher darf man nicht schließen, dass die Kant’sche reine Moral eine Moral der Pflicht aus bloßer Pflicht sei. Das systematische Programm zielt primär darauf, eine reine Moral auf der Vorstellung eines an sich selbst guten Willens und auf der Idee des an sich Guten zu begründen (siehe GMS, 397.01) – zumal der Wille der Oberbegriff bzw. das Subjekt, das Gute aber das Objekt einer Moral ist. Erst die Idee des objektiven Guten führt zur Idee einer unbedingten und notwendigen Zielsetzung, mithin zu dem Pflichtbegriff. Zusammenfassend ist die Idee eines menschlichen guten Willens im Begriff des an sich Guten¹⁰⁶ enthalten, dieser wird seinerseits vom Pflichtbegriff umfasst, und schließlich ist letzterer in den Notwendigkeitsbegriff einbezogen¹⁰⁷. Also geht der Aufklärungsbedarf des Pflichtbegriffs und insgesamt der begrifflichen Vertiefung und Ergründung in der GMS auf die subtile Konzeption einer reinen Moralphilosophie als Theoriegebilde bzw. als Grund eines reinen Systems zurück. Eben im Laufe der Untersuchung des Pflichtbegriffs ergibt sich zunächst, im bloß „gemeinen sittlichen Vernunfterkenntniß“ (GMS, 392.23), eine erste, „analytische“ Definition: „Pflicht ist die Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz. […] Nun soll eine Handlung aus Pflicht den Einfluß der Neigung und mit ihr jeden Gegenstand des Willens ganz absondern, also bleibt nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als objectiv das Gesetz und subjectiv reine Achtung für dieses praktische Gesetz, mithin die
Siehe oben 5.1.3.6. Der „Begriff der Pflicht […], der den eines guten Willens, obzwar unter gewissen subjectiven Einschränkungen und Hindernissen, enthält“ (GMS, 393.07). Der Begriff der Pflicht enthält also den eines guten, doch menschlichen Willens, der wegen der Sinnlichkeit den Gründen der Vernunft „nicht nothwendig folgsam ist“ (GMS, 413.08). Siehe oben 7.1.2.2.
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7 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
Maxime, einem solchen Gesetze selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen Folge zu leisten“¹⁰⁸ (GMS, 400.18 f.).
Eine Handlung ist Pflicht, d. h. soll ausgeübt werden, wenn das Gesetz, das diese Handlung anordnet, Objekt einer unmittelbaren Achtung für den Empfänger des Gebots ist. Das Gesetz stellt einen objektiven Bestimmungsgrund für die freie Willkür dar, weil es als solche Allgemeingültigkeit besitzt. Aber es wird nur dann moralisch gehandelt, wenn die Pflicht aus dem subjektiven Bestimmungsgrund erfüllt wird, dass das Gesetz aufgrund seiner Allgemeingültigkeit etwas an sich Gutes und daher notwendig ein Objekt des Wollens ist. Dieses Wollen ist vernünftig, sofern es auf reine Begriffe zurückgeht, und heißt Achtung. Demzufolge sind im Hinblick auf die moralische Aufgabe, „einen […] an sich selbst guten Willen“ als „[Bedingung] zu allem übrigen [Gut hervorzubringen]“ (GMS, 396.20 – 26), zwei Bestimmungsgründe a priori zu beachten: Einerseits, das Moralprinzip, nach dem die Handlungsmaxime, die als ein Gebot desselben anzusehen ist, notwendig erfüllt werden soll; und, andererseits, die Achtung vor diesem Gesetz, wobei die Moralität gerade aufgrund ihres absolut guten Werts und nicht hinsichtlich der Wirkungen, die die Handlung haben mag, realisiert wird. – Im gegenteiligen Fall würde das an sich Gute verachtet, mithin das Moralprinzip übertreten und moralisch widrig gehandelt werden. Der Zweck der Ethik, ein ethos (ἦθος) zu schmieden, d. h. die Ausprägung des eigenen Charakters, würde verhindert. Nun ist näher einzusehen, worin die praktische Notwendigkeit der zwei genannten Bestimmungsgründe besteht.
7.1.2.4.1 Die Achtung und ihre Gestalten: „Nötigung“, „gute Gesinnung“ und „reines Vernunftinteresse“ Nach Kant ist die Achtung vor dem Gesetz der subjektive Ursprung der Moralität (bzw. der moralische Auslöser in der Willkür). Sie wird aber nur in einer Fußnote des Werks genauer betrachtet (siehe GMS, 401 Fn.). Deshalb wird ihr Ort in der Moraltheorie nicht erschöpfend definiert. Aus diesem Grund möchte ich an dieser Stelle diejenigen Passagen der GMS in Erwägung ziehen, aus denen sich eine Bedeutung der Achtung ergibt, die dem, was Kant (in der GMS) ein „moralisches Gefühl“ nennt, entgegengesetzt ist. Daraus soll begründet werden, warum die Achtung in dieser Schrift nicht als „das moralische Gefühl“ definiert werden sollte.
Statt „Willens“ lies „Willkür“ im ganzen Zitat.
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Unter Kant-Interpreten herrscht ein großer Konsens, dass die Achtung das moralische Gefühl ist.¹⁰⁹ Beispielsweise bestimmt Heiner Klemme die Achtung als eine „subjektive (sinnliche) Triebfeder“¹¹⁰. Diese Auslegung sieht sich durch Kants moralphilosophische Kursabweichung in der KpV bekräftigt. Dort wird die Achtung, trotz deren Begrenzung auf eine „Zufriedenheit mit sich selbst“¹¹¹ und trotz der erneut dargestellten, vehementen Kritik gegen den empiristischen Ausdruck eines moralischen Gefühls,¹¹² als das einzig mögliche moralische Gefühl definiert.¹¹³ Tatsächlich wird die Achtung in der GMS mit dem Wort „Gefühl“ definiert: Sie ist ein „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl und daher von allen Gefühlen der ersteren Art, die sich auf Neigung oder Furcht bringen lassen, specifisch unterschieden“ (GMS, 401 Fn.). Aber warum bestimmt er die Achtung als ein „Gefühl“, obwohl sie kein „empfangenes, sondern ein durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl“ sein soll? Wenn die Achtung nicht in einem äußerlich oder empirisch verursachten Affekt, sondern im „Bewußtsein der Unter-
Siehe Klemme, Heiner F./Kuehn, M./Schönecker, D. (Hg.), 2006. Moralische Motivation. Kant und die Alternativen. Hamburg: Meiner. Siehe Schadow, Steffi, 2012. Achtung für das Gesetz. Moral und Motivation bei Kant. Berlin: W. de Gruyter). Vielleicht durch den Eifer, den FormalismusVorwurf – laut dem Kant eine bloß formale Ethik gedacht hätte (dazu siehe Hegel [1802] 1968, Bd. 4, 436 f. [zitiert durch: Grünewald 2004, 183] und Habermas 1991, 7 ff.) – entgegenzuarbeiten, aus Furcht, dass er irgendwann zutreffen sollte, sucht man selten einen Beleg bei den zahlreichen Kant’schen Elementen der Theorie, die dagegen sprechen. Stattdessen spricht man von der Achtung als „Triebfeder moralischen Handelns“ bzw. als Ursprung der sog. „moralischen Motivation“. Allerdings übersieht man dabei, dass auf solche Weise die Brücke vom Moralgesetz zur Achtung und von der Achtung zur Handlung expliziert und erklärt würde. So verfährt man entgegen der Kant’schen Einstellung, indem die Grenzen der Vernunft übertreten werden. (Gegen den Formalismus-Vorwurf siehe auch Schilpp [1938] 21997, 54, 165 f., der darauf hinweist, dass die moralische Handlung erst in einer Welt von Ereignissen und wirklichen Geschehnissen vorfällt, wobei „besonders bestimmente Verbindlichkeit[en]“ [UD, 299.16] schwierigerweise aus nicht besonderen materiellen Sachverhalten entstehen könnten. Ebenso schließt Schilpp aus der Refl. 6954, dass bei Kant keine vermeintlich oberste und allgemeingültige Verbindlichkeit zu finden ist, welche sich allen Menschen und abgesehen aller Umstände auferlegen sollte. Denn kein moralisches Subjekt kann durch etwas Äußeres bzw. gegen seinen eigenen Willen füglich genötigt werden. (Reflexionen zur Moralphilosophie, AA 19: 212.29 f.: „Es kan niemand den andern obligiren, als durch eine nothwendige einstimung des Willens anderer mit dem seinen nach allgemeinen Regeln der Freyheit. Also kan er niemals den andern obligiren, als vermittelst desselben eignen Willen“). – Gegen den Formalismus Vorwurf siehe Grünewald 2004, 191 ff. Klemme 2006, 123. Siehe KpV, AA 05: 038.36, 075.03. Darin setzt Kant den in der GMS begonnenen Gang fort. Siehe unten 7.1.2.4.1 (a). Siehe KpV, AA 05: 038.12 f. Siehe KpV, AA 05: 075.16.
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7 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
ordnung meines Willens unter dem Gesetz“ besteht; wenn sie sich aus der innerlich bewirkten Inzidenz von einem Vernunftbegriff (und zwar dem des Gesetzes) auf das Subjekt ergibt, dann besteht das „Bewußtsein der Unterordnung meines Willens unter dem Gesetz“ in einem aktiven Vorgehen, das auf eine Art Erkenntnis zurückgeht. Dementsprechend sollte die Achtung – gemäß der „Stufenleiter [der Vorstellungsarten]“¹¹⁴, die Kant in der KrV darstellt – nicht mit dem Namen ‚Gefühl’ bestimmt werden, welcher (anscheinend) auf eine sensatio (Empfindung) bzw. Emotion¹¹⁵ hindeutet, die passiv auf der sinnlichen Ebene stattfindet. Aus einer philosophiegeschichtlichen und genetischen Perspektive, indem ich mich an die hier bearbeiteten Texte und die daraus gezogenen Ergebnisse halte, möchte ich der Auslegung der Achtung als das moralische Gefühl entgegenwirken und zeigen, dass Kant in der Grundlegung 1785, seinem Hauptwerk zur Moraltheorie bzw. zur „reinen Moralphilosophie“, nicht die (durch die Empiristen geprägte) Redeweise eines „moralischen Gefühls“ zur Bestimmung der Achtung aufnimmt.
(a) Kants Abschaffung des moralischen Gefühls als moralische Instanz In der GMS¹¹⁶ hält Kant seine Kritik in derselben Richtung wie im Moralkolleg: „das moralische Gefühl, dieser vermeintliche besondere Sinn“, für den Hutcheson plädierte, „[kann] doch niemals Grundsätze abgeben, die die Vernunft dictirt, und
KrV, 249.37 f.//A320/B376 f.: „Die Gattung ist Vo r s t e l l u n g überhaupt (repraesentatio). Unter ihr steht die Vorstellung mit Bewußtsein (perceptio). Eine P e r c e p t i o n , die sich lediglich auf das Subject als die Modification seines Zustandes bezieht, ist E m p f i n d u n g (sensatio), eine objective Perception ist E r k e n n t n i ß (cognitio). Diese ist entweder A n s c h a u u n g oder B e g r i f f (intuitus vel conceptus). Jene bezieht sich unmittelbar auf den Gegenstand und ist einzeln, dieser mittelbar, vermittelst eines Merkmals, was mehreren Dingen gemein sein kann. Der Begriff ist entweder ein e m p i r i s c h e r oder r e i n e r B e g r i f f , und der reine Begriff, so fern er lediglich im Verstande seinen Ursprung hat (nicht im reinen Bilde der Sinnlichkeit), heißt Notio. Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt, ist die I d e e oder der Vernunftbegriff. Dem, der sich einmal an diese Unterscheidung gewöhnt hat, muß es unerträglich fallen, die Vorstellung der rothen Farbe Idee nennen zu hören. Sie ist nicht einmal Notion (Verstandesbegriff) zu nennen“. Etymologisches Wörterbuch [nach Pfeifer]. In: www.dwds.de (am 31.01. 2014): „fühlen Vb. ‘mit dem Tastsinn wahrnehmen, empfinden’ […]. Gefühl n. ‘Empfindung, Tastsinn’, im 17. Jh. wohl nach Vorbildern wie Gehör, Geschmack, Gesicht entstanden, älteres gleichbed.“. Zu einem Überblick zu den verschiedenen Positionen Kants bezüglich eines „moralischen Gefühls“ von 1762 bis zu den 1770er Jahren siehe oben meinen „Exkurs“ in den „Schlüssen zum Zweiten Teils“.
7.1 Analytischer Teil
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die durchaus völlig a priori ihren Quell und hiemit zugleich ihr gebietendes Ansehen haben müssen“ (GMS, 426.01). Ein solcher Grund geht auf Neigungen und deren Befriedigung zurück und zielt letztendlich auf das Glückseligkeitsprinzip – wie dies bereits die Vorschläge Aristoteles’ und Epikurs beinhalten. Mit einer Fußnote am Ende des Werks deutet Kant an: „Wenn sie [sc. die Vernunft] aber den Willen[¹¹⁷] nur vermittelst eines anderen Objects des Begehrens, oder unter Voraussetzung eines besonderen Gefühls des Subjects bestimmen kann, so nimmt die Vernunft nur ein mittelbares Interesse an der Handlung, und da Vernunft für sich allein weder Objecte des Willens, noch ein besonderes ihm zu Grunde liegendes Gefühl ohne Erfahrung ausfindig machen kann, so würde das letztere Interesse nur empirisch und kein reines Vernunftinteresse sein“ (GMS, 460 Fn.).
Ein „besonderes […] Gefühl ohne Erfahrung“! Kant kämpft erneut gegen das empiristische moralische Gefühl, indem die bloße Idee desselben, als einer intellektuellen Neigung, einen Widersinn einschließt.¹¹⁸ Dennoch findet der Leser der GMS ein positiv definiertes Gefühl, das mit der Moralität verbunden ist. Aber bevor ich es in Betracht ziehe, gilt es hier noch, Kants Betrachtungen bezüglich des moralischen Gefühls in der KpV von 1788 kurz zu skizzieren. Die Kritik an den Empiristen konzentriert sich hier auf die „Zufriedenheit und [das] Vergnügen“ sowie auf die „Seelenunruhe“ und den „Schmerz“ (KpV, AA 05: 038.14). Diese entstehen jeweils aus dem Bewusstsein der Tugend und des Lasters. Weiterhin muss eben der „Begriff der Moralität und Pflicht“ solchen Empfindungen notwendig vorangehen (KpV, AA 05: 038.23), denn widrigenfalls könnte der Mensch sich der Tugend und des Lasters seiner Handlungen nicht bewusst sein, also würde er weder Zufriedenheit noch Bedauern für die Ausübung derselben erfahren. Daher können die Gefühle keinen Grund der Verbindlichkeit liefern. Kant schließt: „Daß übrigens, so wie vermöge der Freiheit der menschliche Wille durchs moralische Gesetz unmittelbar bestimmbar ist, auch die öftere Ausübung diesem Bestimmungsgrunde gemäß subjectiv zuletzt ein Gefühl der Zufriedenheit mit sich selbst wirken könne, bin ich gar nicht in Abrede; vielmehr gehört es selbst zur Pflicht, dieses, welches eigentlich allein das moralische Gefühl genannt zu werden verdient, zu gründen und zu cultivieren“ (KpV, AA 05: 038.33).¹¹⁹
Statt „Willens“ lies „Willkür“ im ganzen Zitat. Zum reinen Vernunftinteresse siehe unten 7.1.2.4.1 (d). Ebenfalls siehe KpV, AA 05: 074.33 f.: „[…] so begreifen wir, wie es möglich ist, a priori einzusehen, daß das moralische Gesetz […] eine Wirkung aufs Gefühl[*] ausüben könne, welche einerseits blos negativ ist, andererseits und zwar in Ansehung des einschränkenden Grundes der
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Dieser Schluss belegt Kants Abschaffung des moralischen Gefühls als Grund und Anlass der Moralität:¹²⁰ Letztendlich bieten insgesamt die Träume 1766, die Moralvorlesung aus den 1770er Jahren bis auf die GMS 1785 einhellig Zeugnisse sowohl von Kants Verwerfung des „moralischen Gefühls“ als leitender Instanz von der Moralität als auch davon, dass er nicht diesen Ausdruck aufnimmt, um das „Gefühl der Achtung“ zu bestimmen. Nun, zurück zur GMS, nimmt Kant eine Fähigkeit der Vernunft an, ein mit der Moralität verbundenes Gefühl hervorzubringen, nämlich: „ein Vermögen der Vernunft, ein Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht einzuflößen, mithin eine Causalität derselben, die Sinnlichkeit ihren Principien gemäß zu bestimmen“ (GMS, 460.09). Dies Gefühl kann aber (i) nicht mit der Achtung verwechselt werden: Denn diese, als durch den Vernunftbegriff eines Gesetzes verursacht, tritt a priori, d. h. vor aller Bestimmung der Willkür bzw. vor „der Erfüllung der Pflicht“ auf. Noch kann es (ii) mit der körperlichen Glücklichkeit identifiziert werden: Denn diese wird als Absicht der praktischen Vernunft bereits im Ersten Abschnitt der GMS aus dem Grund ausgeschlossen, dass der Mensch sie „weit sicherer dadurch [sc. durch Instinkt] [hätte] erhalten […] können“ (GMS, 395.14). Dagegen bestimmt Kant als den eigentümlichen Zweck der praktischen Vernunft „einen […] an sich selbst guten Willen hervorzubringen“ (GMS, 396.20). Dieser „muß doch das höchste Gut und zu allem Übrigen, selbst allem Verlangen nach Glückseligkeit die Bedingung sein“ (GMS, 396.25). Und eben „bei Erreichung dieser Absicht nur [ist] [die Vernunft] […] einer Zufriedenheit nach ihrer eigenen Art, nämlich aus der Erfüllung eines Zwecks, den wiederum nur Vernunft bereinen praktischen Vernunft positiv ist, und wozu gar keine besondere Art von Gefühle unter dem Namen eines praktischen oder moralischen als vor dem moralischen Gesetze vorhergehend und ihm zum Grunde liegend angenommen werden darf“. [*] Zu bemerken ist, dass Kant hier vom Gefühl nicht als einer psychologischen Wirkung, sondern als einem menschlichen Vermögen spricht. Es handelt sich um ein Wahrnehmungsvermögen, das also auf die Sinnlichkeit hinweist. Dennoch wirkt das Gesetz auf das Subjekt nicht nur „pathologisch“ (KpV, AA 05: 075.07), (wobei wir „Schmerz“ oder „Unannehmlichkeit“ [KpV, AA 05: 075.06] empfinden), sondern auch vernünftig: Denn eben das Bewusstsein des Moralgesetzes ist die Ursache sowohl der „Demüthigung (intellektuellen Verachtung)“ als auch der „Achtung“ (KpV, AA 05: 075.11). Letztendlich ist es „im Urtheile der Vernunft“, wo „die Wegräumung eines Hindernisses [sc. des Widerstands der Neigungen] einer positiven Beförderung der Causalität gleichgeschätzt wird“ (KpV, AA 05: 075.14). Verwirrend ist der Schluss in der auf der vorangehenden Fußnote zitierten Passage (KpV, AA 05: 075.16): „Darum kann dieses Gefühl nun auch ein Gefühl der Achtung fürs moralische Gesetz, aus beiden Gründen zusammen aber ein m o r a l i s c h e s G e f ü h l genannt werden“. Im Unterschied zur hier im Text-Korpus zitierten Passage (siehe KpV, AA 05: 038.33) behauptet Kant nun, nicht die Zufriedenheit, sondern die Achtung sei das moralische Gefühl. Nach meiner Lesart begeht Kant damit eine konzeptionelle Kursabweichung von der GMS.
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stimmt, fähig“ (GMS, 396.32). Es handelt sich um ein „Gefühl der Lust“ (GMS, 460.14), das trotz des „Abbruch[s], der den Zwecken der Neigung geschieht“ (GMS, 396.36), stattfindet. Also identifiziert sich die Verwirklichung des letzten Zwecks der praktischen Vernunft, d. h. das Gestalten einer guten Willkür nicht mit deren Wirkung auf die Sinnlichkeit, d. h. der Zufriedenheit mit sich selbst aus der Erfüllung des Sollens.¹²¹ Nun: Wie die Bestimmung der Willkür zu Handeln nach einer Idee der reinen Vernunft die Ursache einer Wirkung in meiner Sinnlichkeit sein könne, ist zwar problematisch: Denn nach den metaphysischen Vorschriften der KrV ist es sensu stricto weder die Erkenntnis von einem selbst noch von der Gesinnung, aus der man sich beschließt, zu handeln, möglich.¹²² Dennoch, genauso wie wir von Gewissensbissen sprechen, so ist die Auslegung dieser „Zufriedenheit mit sich selbst“ als die Gewissensruhe¹²³ plausibel, welche aus der Erfüllung dessen entsteht, was man für richtig hält, – obwohl man im Urteilen irren oder in der Ausführung unglücklich oder erfolglos sein kann.
(b) Die „Nötigung“ als negatives Moment der Achtung Wie dargelegt, entsteht der Begriff der „Nötigung“ in Kants Werdegang aus der in der Untersuchung festgesetzten „Notwendigkeit der Zwecke“ und der mit ihr verbundenen Vorstellung des „an sich Guten“. Erstmals in den Träumen 1766 wird die moralische „Nötigung“ als die „Abhängigkeit von der Regel des allgemeinen Willens“ qua Wirkung der Allgemeinheit dieser Regel auf die individuelle Willkür definiert: Sie wird vom sogenannten „sittlichen Gefühl“ unterschieden, weil dieses „nur […] die Erscheinung dessen, was in uns wirklich vorgeht“ bedeutet, aber nicht „die Ursachen desselben [ausmacht]“ (TG, 335.12). Die Vorlesung zur Moralphilosophie bezeugt Kants Ausarbeitung vom Begriff der „Necessitation“ bzw. „Nöthigung“ als unterschiedlich von dem der „Necessitas“ bzw. „Nothwendigkeit“. Die „Nöthigung“ bzw. „Obligation“ bildet sich nur bei einem „unvollkommenen Wesen“ wie dem „menschlichen Willen“ heraus, bei dem die „objektive praktische Notwendigkeit“ nicht zugleich „subjektiv notwendig“, sondern „zufällig“ ist.¹²⁴ Die Nötigung wird definiert als eine „Noth-
Siehe oben 7.2.2.4.1 (a) sowie die darin zitierte Passage der KpV, AA 05: 038.33 und meine Anm. dazu (Fn. 119). Siehe Palacios 2003, 17– 39. Die Gewissensruhe liegt den Gewissensbissen gegenüber und jenseits der Arroganz, die „das Wohlgefallen an sich selbst“ mit einschließt (KpV, AA 05: 073.13). „Also in Ansehung eines vollkommenen Willens, bey dem die moralische Nothwendigkeit nicht allein objectiv, sondern subjectiv nothwendig ist, findet keine Necessitation und Obligation
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wendigmachung der Handlung“ (V-Mo, 029.08/031), die von der Konkurrenz zwischen objektiven Gründen der Vernunft (eines unbedingten Werts) und den subjektiven Antrieben der Sinnlichkeit (eines bedingten Werts) herrührt. Letztere unterdrücken die bindende Kraft der Ersteren: Diese „[sind] […] nicht vermögend die elateres der Sinnlichkeit zu überwiegen“ (V-Mo, 071.08/087). Also haben die Stimuli Stärke, natürliche Kraft. Aber Gründe der Vernunft sind verpflichtend, sie haben praktisch vernünftige (moralische) Kraft, wodurch die Antriebe aufgezwungen werden.¹²⁵ Die an sich gute Handlung beruht auf einem Prinzip, das ein Sollen ausdrückt, welches uns unmittelbar gebietet oder nötigt, diese Handlung zu tun.¹²⁶ Sie ist für sich selbst auszuüben. Dennoch, dass man sie „aus Pflicht“ tut, heißt, sie aufgrund ihres Gutseins auszuüben.Wie vorhin angedeutet, entsteht der Pflichtbegriff weder aus sich selbst noch aus dem Nichts, sondern aus dem (vernünftigen) Begriff des Guten. In der GMS entwickelt Kant diese im Rahmen der Vorlesung dargelegte Definition der Nötigung nicht weiter:¹²⁷ Abermals beruht die Nötigung auf der im engen Sinne „praktischen Notwendigkeit“ (GMS, 413.01)¹²⁸. Auf der Suche nach der Bestimmung des an sich Guten stößt Kant auf einen unbedingten, objektiven und notwendigen Charakter, der nur einem Gesetz eigen sein kann: „das höchste und unbedingte Gute […] kann nichts anderes als die Vorstellung des Gesetzes an sich selbst, […] sofern sie […] der Bestimmungsgrund des Willens ist, […] ausmachen“ (GMS, 401.10). Daher sucht er aus Begriffen und Ideen der reinen praktischen Vernunft, die Vorstellung eines solchen Gesetzes zu bestimmen, das man sich zum „obersten Princip der Moralität“ machen kann. Von ihm soll die „Form“ und „Materie“ moralischer Maximen abgeleitet werden können; nach ihm soll letztlich die menschliche Willkür ihre Maximen, d. h. sich selbst „vollständig bestimmen“ können.
statt“ (V-Mo, 029.27/032). Das „moralisch Gute“ ist bereits Maßstab seines Handelns (siehe V-Mo, 041/047, 044 ff./052 ff.). Ähnlich auch die GMS, 410.25 f.: „Denn die reine und mit keinem fremden Zusatze vom empirischen Anreizen vermischte Vorstellung der Pflicht und überhaupt des sittlichen Gesetzes hat auf das menschliche Herz durch den Weg der Vernunft allein (die hiebei auch inne wird, daß sie für sich selbst auch praktisch sein kenn) einen eben so viel mächtigeren Einfluß, als alle andere Triebfedern, die man aus dem empirischen Felde aufbieten mag, daß sie im Bewußtsein ihrer Würde die letzteren verachtet und nach und nach ihr Meister werden kann“. Siehe oben 5.1.3.6, 5.1.3.6.1 (hier bes. die Absätze zur aktiven Verbindlichkeit, der die moralische Nötigung zugrunde liegt) und Zitat V-Mo, 007.12/008 f. (in 5.1.3.3). Er hält an der Unterscheidung des vollkommenen göttlichen vom unvollkommenen menschlichen Willens (im Sinne einer Willkür) fest (GMS, 412.30 f.). Ebenso liegt die Nötigung am Verhältnis der Vernunft zur Unvollkommenheit des Wollens (siehe GMS, 413.13). Siehe GMS, 412.34, 414.17, 416.21, 434.16, 439.33.
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Daraus ergibt sich zweierlei: Einerseits spricht Kant vom „Bewußtsein der Unterordnung meines Willens unter einem Gesetze ohne Vermittelung anderer Einflüsse auf meinen Sinn“ (GMS, 401 Fn.). Dieses „Bewusstsein“ – das auf einen vernünftigen Sachverhalt hindeutet – nennt Kant „Nötigung“: Der Wille als „praktische Vernunft“ (siehe GMS, 412.29) gebietet dem Menschen als einem mit freier Willkür begabten Wesen, sich entsprechend der freien Beschaffenheit seiner Willkür nach dem Moralgesetz zu richten (siehe GMS, 424.15). (Das bloß subjektive Begehren wird hier durch das Procedere der Vernunft bei Seite gesetzt und durch das obere Begehrungsvermögen übertroffen). Andererseits ist das Moralgesetz (als etwas an sich Gutes) ein Gegenstand alles vernünftigen Wollens überhaupt, somit ein obligatorisches Wollen bei der freien Willkür, das ihr ganzes Handeln nötigend betrifft. Dieses Wollen nennt Kant „Achtung fürs Gesetz“ und definiert sie als die Meta-„Maxime, einem solchen Gesetze selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen Folge zu leisten“ (GMS, 401.01).¹²⁹ Hinsichtlich ihres negativen Aspekts verdankt die Achtung ihren Ursprung zugleich der Sinnlichkeit und der praktischen Vernunft (dem Willen). Die Sinnlichkeit spielt eine passive Rolle, sofern der Mensch durch sie abhängig von Empfindungen (Bedürfnissen, Wünschen) ist. Sie führen ihn dazu, die Glück(se)ligkeit (Befriedigung) anzustreben. Hingegen spielt die praktische Vernunft (der reine Wille) eine aktive Rolle bei dem Ursprung der Achtung: Ihr Erzeugnis, das Moralgesetz, ist notwendig ein Gegenstand des Wollens – etwas, dem die freie Willkür sich nicht entziehen kann, und nötigt dazu, andere nicht an sich gute Absichten ihm, dem Gesetz, zu unterwerfen. Schließlich macht die Achtung als Nötigung einen Grundpfeiler der Moralität aus. Wie gesehen, besteht diese nicht in der bloßen Gemäßheit zwischen der Handlungsmaxime und dem Gesetz: Da würde die Handlung entweder im Hinblick auf andere, bloß subjektive Ziele durchgeführt (GMS, 397 ff.) oder sich einfach aus dem Wirken des Gesetzes ergeben (siehe GMS, 412.30) – wie es bei einer
Eine Handlung stellt sich als notwendig dar, wenn ihre Maxime Gegenstand des Wollens eines jeden vernünftigen Wesens sein kann, und zudem wenn die Unterlassung derselben notwendig entweder die Übertretung oder die nicht Beobachtung des Gesetzes implizieren würde. – Da die „Übertretung einer Pflicht“ (GMS, 424.15) für Kant eine „Ausnahme [vom Gesetz]“ (GMS, 424.20) ist, die wir uns „für uns oder (auch nur für diesesmal)“ (GMS, 424.19) verstatten, folgt, dass diese Ausnahme streng genommen einen Abbruch der Achtung bedeutet: Aus der objektiven Vernunftperspektive sieht die Willkür ihre Unterordnung unter dem Moralgesetz ein; und daher versteht sie diese Ausnahme als einen Widerspruch mit sich selbst. Aber trotzdem erlaubt sie, dass „der Widerstand der Neigung gegen die Vorschrift der Vernunft“ (GMS, 424.29) die „Kraft [des Gesetzes]“ überwindet (GMS, 439.03).
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vollkommenen (göttlichen bzw. heiligen) Willkür geschähe. Im letzteren Fall suchte das agierende Subjekt nicht, das zu realisieren, was nicht da ist, aber geschehen soll.
(c) Die „gute Gesinnung“ als affirmative Disposition gegenüber dem Moralgesetz Als vernünftig sucht der Mensch unvermeidlich nach dem Allgemeinen, und zwar nicht nur im Bereich der Erkenntnis. Sondern auch im Bereich des Handelns, wo er frei ist, beansprucht er insgesamt, das an sich Gute zu verwirklichen. Dieses Wollen nennt Kant eine „gute Gesinnung“. Es stimmt zwar mit dem Wollen eines vollkommenen Willens überein, aber ist im Unterschied dazu materiell: Der Mensch will tatsächlich, und zwar nicht das Gute überhaupt, sondern gute Taten ausüben bzw. sein Handeln nach konkreten, guten Maximen bestimmen. Einerseits findet die freie Willkür als vernünftige unvermeidlich in der Vorstellung des Moralgesetzes von der reinen praktischen Vernunft eine oberste Richtschnur zum allgemeingültigen Handeln; daher will die freie Willkür eine solche Richtschnur. Andererseits hat das materielle Wollen, insgesamt moralisch gut zu handeln, nur dann einen moralischen Wert, wenn es seinen Grund darin findet, dass allein das Moralgesetz (das sich aus der Suche der praktischen Vernunft ergibt, das absolut Gute zu bestimmen) die genannte Richtschnur sein kann. Demzufolge identifiziert sich die gute Gesinnung mit der Achtung affirmativ, nämlich als vernünftiges Wollen des Moralgesetzes, sofern dieses der freien Willkür ermöglicht, das Allgemeine auf der praktischen Ebene der Freiheit (das an sich Gute) zu erreichen. Die gute Gesinnung fungiert als apriorischer Bestimmungsgrund zur Moralität.
(d) Das „reine Vernunftinteresse“ als positives Moment der Achtung In der GMS wird die Achtung auch positiv als ein „moralisches Interesse“ definiert (GMS, 401 Fn.). Ebenso taucht sowohl die Redeweise eines „praktischen Interesses“ (GMS, 413 Fn.)¹³⁰ als auch eines „reinen Vernunftinteresses“ (GMS, 460 Fn.)
GMS, 413 Fn.: „Die Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von Empfindungen heißt Neigung, und diese beweiset also jederzeit ein Bedürfniß. Die Abhängigkeit eines zufällig bestimmbaren Willens aber von Principien der Vernunft heißt ein Interesse. Dieses findet also nur bei einem abhängigen Willen statt, der nicht von selbst jederzeit der Vernunft gemäß ist; beim göttlichen Willen kann man sich kein Interesse gedenken. Aber auch der menschliche Wille kann woran ein Interesse nehmen, ohne darum aus Interesse zu handeln. Das erste bedeutet das
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als ein synonymer Ausdruck für die Achtung auf. Aber wofür steht der Ausdruck „Interesse“ überhaupt und was ist ein „praktisches“ Interesse? Laut Fußnote auf Seite 413 deutet ein „Interesse“ primär auf den Mangel an einer Vorherbestimmung durch (natürliche oder vernünftige) Gesetze hin. Daher „[kann man sich] beim göttlichen Willen [lies: Willkür] kein Interesse gedenken“ (GMS, 413 Fn.). Sodann weist ein Interesse bei einer freien Willkür (die im strengen Sinne „handeln“¹³¹ kann) auf die Unentbehrlichkeit hin, sich nach Prinzipien zu bestimmen (siehe GMS, 413 Fn.). Nun gilt: Hängt die Willkür von Prinzipien ab, die auf Empfindungen beruhen, bedeutet das ein „pathologisches“ Interesse; hängt sie hingegen von Prinzipien der Vernunft ab, bedeutet das ein „praktisches“ Interesse. So erbringt diese Passage einen Nachweis dafür, (1) dass jedes Interesse auf die Suche nach einem Handlungsprinzip zurückzuführen ist, das von vornherein nicht bestimmt vorliegt. Insofern kann (2) ein „reines Vernunftinteresse“ als solches nicht in dem Interesse an der Wirkung des moralischen Handelns, nämlich die Aussicht auf die „Zufriedenheit“ (GMS, 396.34) bzw. „das Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht“ (GMS, 460.10), sondern soll selbst in dem Interesse an der moralischen Maxime und dem moralisch Handeln bestehen.¹³² Nun betrachtet die GMS die Definition des praktischen Interesses in drei Passagen: Erstens schließt die Fußnote auf Seite 401: „Alles moralische so genannte Interesse besteht lediglich in der Achtung fürs Gesetz“. Die Achtung vor dem Gesetz ist auf die „Wirkung des Gesetzes aufs Subjekt“ zurückzuführen und wird schon hier als „das Bewußtsein der Unterordnung meines Willens [lies: Willkür]
praktische Interesse an der Handlung, das zweite das pathologische Interesse am Gegenstande der Handlung. Das erste zeigt nur Abhängigkeit des Willens von Principien der Vernunft an sich selbst, das zweite von den Principien derselben zum Behuf der Neigung an, da nämlich die Vernunft nur die praktische Regel angiebt, wie dem Bedürfnisse der Neigung abgeholfen werde. Im ersten Falle interessirt mich die Handlung, im zweiten der Gegenstand der Handlung (so fern er mir angenehm ist).Wir haben im ersten Abschnitte gesehen: daß bei einer Handlung aus Pflicht nicht auf das Interesse am Gegenstande, sondern bloß an der Handlung selbst und ihrem Princip in der Vernunft (dem Gesetz) gesehen werden müsse“. GMS, 412.26: „Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Principien, zu handeln, oder einen Willen“. Vergleiche Schadow 2012, 226, für die das Vernunftinteresse mit der Aussicht auf Lust verbunden ist, welche man als Wirkung der Moralität erwartet.
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unter einem Gesetz ohne Vermittlung anderer Einflüsse auf meinen Sinn“ betrachtet (GMS, 401 Fn.).¹³³ Bemerkenswert ist, dass Kant sich derselben Definition der Achtung „als Wirkung des Gesetzes aufs Subject“ bedient, um im Dritten Abschnitt des Werks das „Interesse“ zu bestimmen, „welches der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen könne“. Diese zweite Passage stellt fest: „es [sc. das Interesse an moralischen Gesetzen] [muß] vielmehr als die subjective Wirkung, die das Gesetz auf den Willen [lies: Willkür] ausübt, angesehen werden, wozu Vernunft allein die objectiven Gründe hergiebt“ (GMS, 459.33 f.).¹³⁴ Also entspricht dem reinen Wollen des Moralgesetzes¹³⁵ ein rein vernünftiges Interesse bei der freien Willkür. D. h.: Als vernünftige Wesen „[…] [interessir[t]] uns die Allgemeinheit der Maxime als Gesetzes, mithin die Sittlichkeit“ (GMS, 460.22), und zwar für sich selbst. Daher ist die genannte Allgemeingültigkeit in objektiver Hinsicht ein „gnugsamer Bestimmungsgrund des Willens [lies: Willkür]“ (GMS, 460 Fn.). Nur ist sie in subjektiver Hinsicht unzureichend, weil die zusammengesetzte freie Willkür sich nicht nur am Handlungsprinzip selbst, sondern auch „am Gegenstand der Handlung“ (d. i.
Obwohl die Achtung in dieser bekannten Fußnote vielfältig definiert wird, ist die in der KantForschung verbreitetere und allen Untersuchungen meist zugrundeliegende Definition nur die Kurzdefinition der Achtung als ein „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirkte[n] Gefühl“ (GMS, 401 Fn.). Dagegen werde ich unter Beachtung der gesamten Fußnote und mit Hinzuziehung weiterer Textpassagen aus der GMS belegen, dass die Achtung nicht unbedingt als ein motivationales Geschehnis, sondern richtiger und attraktiver als ein vernünftiger Ablauf oder eine Art Erkenntnis zu verstehen ist. Hier möchte ich darauf hinweisen, dass die Lesart dieser Passage umstritten ist: „Die subjective Unmöglichkeit, die Freiheit des Willens zu erklären, ist mit der Unmöglichkeit, ein Interesse ausfindig und begreiflich zu machen, welches der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen könne, einerlei; und gleichwohl nimmt er wirklich daran ein Interesse, wozu wir die Grundlage in uns das moralische Gefühl nennen, welches fälschlich für das Richtmaß unserer sittlichen Beurtheilung von einigen ausgegeben worden, da es [sc. das moralische Interesse(!) (ACGX) vs. sc. das moralische Gefühl (nach anderen Interpreten)] vielmehr als die subjective Wirkung, die das Gesetz auf den Willen ausübt, angesehen werden muß, wozu Vernunft allein die objectiven Gründe hergiebt“ (GMS, 459.32 f.). Meine Lektüre weicht also von der üblichen im Bezug von „es“ ab. Darunter verstehe ich das „moralische Interesse“, weil dieses das Hauptsubjekt bzw. der Leitbegriff des Absatzes ist. Indessen lesen die Interpreten hier quasi einstimmig „das moralische Gefühl“ (siehe Schadow 2012, 226; Ritter: Gefühl, moralisches, sp. 97). Dieser Ansatz macht jedoch wenig Sinn, (1) wenn man darauf achtet, dass Kant die Unmöglichkeit darstellen will, unser Interesse an der Moralität sowohl in irgendeinem Vermögen zu plazieren als auch selbst zu verstehen; (2) weil Kant an der Idee eines moralischen Gefühls nicht nur in diesen Zeilen, sondern auch in anderen Passagen des Werks vehemente Kritik übt; (3) weil das reine Interesse, wie ich gerade zeige, mit der moralischen Gesinnung, mithin der Achtung identifiziert wird. Der reine Wille als reine praktische Vernunft findet das Moralgesetz aus den Kategorien der reinen Vernunf heraus. Dazu siehe unten 7.1.2.4.2 (b) und Anhang 5.
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das, was anhand der Handlung, aber unterschiedlich von ihr bewirkt werden kann) interessiert (GMS, 413 Fn.). Dementsprechend spricht Kant von „praktischem“ Interesse, denn denn (i) die Suche nach Handlungsprinzipien ist für eine freie Willkür unentbehrlich; und (ii) die freie Willkür soll dabei die Sittlichkeit (Allgemeingültigkeit der Maximen) zu ihrem „Bewegungsgrund“ bzw. zum „objektive[n] [Grund] des Wollens“ [GMS, 427.27]) machen. Weil „[a]lles moralische so genannte Interesse lediglich in der Achtung fürs Gesetz [besteht]“ (GMS, 401 Fn.), ist für Kant Achtung und das reine Vernunftinteresse einerlei.¹³⁶ Schließlich tritt das moralische Interesse noch in einer dritten Passage als Wirkung des reinen Wollens auf die Willkür auf, das für jedes vernünftige Wesen gültig ist: „Warum aber soll ich mich denn diesem Princip unterwerfen und zwar als vernünftiges Wesen überhaupt, mithin auch dadurch alle andere mit Vernunft begabte Wesen? Ich will einräumen, daß mich hiezu kein Interesse treibt, denn das würde keinen kategorischen Imperativ geben; aber ich muß doch hieran nothwendig ein Interesse nehmen und einsehen, wie das zugeht; denn dieses Sollen ist eigentlich ein Wollen, das unter der Bedingung für jedes vernünftige Wesen gilt, wenn die Vernunft bei ihm ohne Hindernisse praktisch wäre; für Wesen, die wie wir noch durch Sinnlichkeit als Triebfedern anderer Art afficirt werden, bei denen es nicht immer geschieht, was die Vernunft für sich allein thun würde, heißt jene Nothwendigkeit der Handlung nur ein Sollen, und die subjective Nothwendigkeit wird von der objectiven unterschieden“ (GMS, 449.11).
Das Interesse, das man „hieran nothwendig [zu] nehmen“ hat, weist erneut auf ein positives Korrelat der Nötigung der Willkür, dem Moralprinzip (Sollen) folgend zu handeln, hin. Denn sieht man von sinnlichen Bedingungen ab, die zu Wünschen und Neigungen (Privatinteressen) führen, bleibt dann einzig und allein der Gegenstand der reinen praktischen Vernunft, nämlich das an sich Gute als ein unbedingtes, objektives und notwendiges Interesse bzw. als das alleinige, für die Willkür unmittelbar zu begehrende Objekt übrig:¹³⁷ „Es kann daher nichts anders als die Vorstellung des Gesetzes an sich selbst, die freilich nur im vernünftigen Wesen stattfindet, so fern sie, nicht aber die verhoffte Wirkung der Bestimmungsgrund des Willens ist, das so vorzügliche Gute [sc. das höchste und unbedingte Gute], welches wir sittlich nennen, ausmachen […]“ (GMS, 401.10).
Vergleiche Schadow 2012, 226. Siehe oben 7.1.2.3 (a). Eben weil der Gegenstand des reinen Willens das an sich Gute ist, kann der Wille weder anders wollen noch aufhören, es (als unbedingt, objektiv und notwendig gut) zu wollen. In diesem Sinn ist er hierin nicht frei, sondern sein Wollen ist durch das Vernunftgesetz „unausbleiblich bestimmt“ und daher rein.
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Aus dem Gesichtspunkt einer freien Willkür kommen das Sollen und das Wollen als die zwei Seiten ein und derselben Münze vor: Die Idee des absolut Guten, woraus die Vorstellung des Moralgesetzes, die die Willkür nötigt, entsteht, ist zugleich ein Gegenstand des vernünftigen Wollens der Willkür. Daher hat sie ein unmittelbares Interesse daran. Aus diesem Grund „[wünsche] selbst der ärgste Bösewicht, wenn er nur sonst Vernunft zu brauchen gewohnt ist, […] daß er auch so [moralisch gut¹³⁸] gesinnt sein möchte“ (GMS, 454.21). Aus dem Dargelegten kann geschlossen werden, dass dieses reine Vernunftinteresse Achtung bedeutet. Darüber hinaus erlaubt erst diese Auslegung zu verstehen: (1) dass Kant seine Fußnote zur Achtung mit dem Hinweis schließt: „Alles moralische so genannte Interesse besteht lediglich in der Achtung fürs Gesetz“ (GMS, 401 Fn.); und (2) dass dieses Interesse alle „als vernünftige Wesen überhaupt“ zwingt (GMS, 449.11, 426.22), sich dem Moralgesetz zu unterordnen. Ist die dargestellte Interpretation korrekt, ist Achtung als reines Vernunftinteresse, somit als Abhängigkeit von reinen Vernunftprinzipien, nicht als Gefühl einzuordnen.¹³⁹ Nun aber: Auf die Frage, wie die praktische Vernunft eine derartige Kausalität besitzen kann, das heißt, durch welche Wege der reine Wille die drei dargestellten Formen der Achtung als Nötigung, als gute Gesinnung und als reines Vernunftinteresse bei der Willkür bewirkt, „d. i. wie das bloße Princip der Allgemeingültigkeit aller ihrer Maximen als Gesetze […] für sich selbst eine Triebfeder abgeben und ein Interesse, welches rein moralisch heißen würde, bewirken könne“ (GMS, 461.27), darauf wird Kant bescheiden antworten: „das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend, und alle Mühe und Arbeit, hievon Erklärung zu suchen, ist verloren“ (GMS, 461.27). „Hier ist nun die oberste Grenze aller moralischen Nachforschung“ (GMS, 462.22).
(e) Vom Gefühl in zweifacher Hinsicht Dass Kant die Achtung als ein „Gefühl“ typisiert, begünstigt, wie gesagt, die Interpretation der Achtung als ein Ereignis, welches auf der emotionalen sinnlichen Ebene geschieht. Gegenüber derselben haben sich dennoch mehrere Nachweise erbringen lassen. Blicken wir in die genannte „Stufenleiter“ [der Vorstellungsar-
Zusatz: ACGX. Siehe unten 7.1.2.4.1 (e).
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ten]“ der KrV,¹⁴⁰ so ergibt sich daraus, dass das „Gesetz“ ein „Begriff“ der reinen Vernunft ist.¹⁴¹ Damit geht der Wille als gesetzgebendes Vermögen voran und wirkt unmittelbar auf die freie Willkür, indem er a priori festlegt, wie sich die freie Willkür zu verhalten hat. Die Achtung der Willkür vor dem Gesetz entspricht also einem vernünftigen Wollen und disponiert den Menschen notwendig, obwohl nicht hinreichend, dem „Gesetze […] Folge zu leisten“ (GMS, 401.01). Aus der KrV wissen wir auch, dass die Handlung zwar Phänomen, physikalisches Geschehen, aber als solche auch spontan ist, das heißt: Sie ist nicht auf eine Kausalkette „in indefinitum“ (KrV, 350.17//A511/B539) zurückzuführen, sondern hat ein metaphysisches Substrat, aus der sie sich ergibt: „Diese Causalitat führt auf den Begriff der Handlung, diese auf den Begriff der Kraft und dadurch auf den Begriff der Substanz“ (KrV, 176.19//A204/B249). Anhand dieser Substanz, welche der Handlung zugrunde liegt und auf das Handlungsprinzip (Maxime) hindeutet, kann der moralische Wert der Handlung beurteilt werden. Demzufolge kann die ausgeführte Moralität als „Abbruch [meiner Selbstliebe]“ (GMS, 401 Fn.) bzw. die ausgeübte Unmoralität als Missbrauch der „Freiheit“ bzw. als gesetzwidrig, und zwar als eine „Ausnahme“, die wir „zum Vortheil unserer Neigung [machen]“ (GMS, 424.19) eingesehen bzw. anerkannt, aber nie gefühlt werden.¹⁴² Entsprechend seiner spekulativen Vorgaben, seiner Kritik am empiristischen moralischen Gefühl und besonders infolge der Fortschritte von den Moralvorlesungen bis zu seiner Moraltheorie 1785 hätte Kant also die Achtung als die moralische Gesinnung, d. h. als eine grundsätzlich moralische Haltung definieren sollen. Und streng genommen hätte er als „Gefühl“ oder „Gefühle“ nur die Wirkungen auf die Sinnlichkeit bezeichnen sollen, welche durch unsere Urteile über die moralische Richtigkeit der Handlungen hervorgebracht werden. Beispiel davon wären nur die aus der Gewissensruhe¹⁴³ oder den Gewissensbissen entsprungenen Empfindungen wie das Gefühl eines inneren Gleichgewichtes – welches Kant „die Zufriedenheit mit sich selbst“ bzw. das „Gefühl der Lust aus der Erfüllung der Pflicht“ nennt – sowie die Empörung, das Bedauern, der Harm, die Reue, etc. Also sollten letztendlich einzig und allein die emotionalen Ereignisse, welche sich aus einem moralisch relevanten Urteil (dem Gewissen) ergeben,
Siehe oben 7.1.2.4.1 und Zitat KrV, 249.37 f.//A320/B376 f. (7.1.2.4.1 Fn. 114). GMS, 446.15: „Da der Begriff einer Causalität den von Gesetzen bei sich führt, nach welchen durch etwas, was wir Ursache nennen, etwas anderes, nämlich die Folge, gesetzt werden muß“. Man treibt Missbrauch der Freiheit, wenn man einen seiner vernünftigen Natur nach ungebührenden Gebrauch derselben macht. Obwohl „es aber daraus gar nicht mit Sicherheit geschlossen werden [kann], daß wirklich gar kein geheimer Antrieb der Selbstliebe unter der bloßen Vorspiegelung jener Idee die eigentliche bestimmende Ursache des Willens gewesen sei“ (GMS, 407.08).
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„moralische Gefühle“ genannt werden. Die Achtung aber, als vernünftiges Wollen und Grund all dieser Gefühle, sollte als moralische bzw. praktische Erkenntnis, demnach als moralische Gesinnung verstanden werden. Warum Kant die Achtung als ein Gefühl bestimmt, erklärt er zwar explizit nicht.¹⁴⁴ Dennoch ist sein Gebrauch von „Gefühl“ als Bezeichnung für die Achtung von allem Pathologischen frei. Kant konnte die Achtung der Willkür deswegen als Gefühl typisiert haben, weil sie sich aus der strukturellen Einschränkung der Sinnlichkeit (als des Pathologischen) im Ganzen durch das Moralgesetz ergibt; denn dieses bringt ein vernünftiges Wollen hervor, oder umgekehrt, das vernünftige Wollen hat unausbleiblich das Moralgesetz als Gegenstand. Auf diese Weise könnte Kant dem Begriff des Gefühls eine neue Wortbedeutung beschafft haben.¹⁴⁵ Philosophisch betrachtet, kann der Mensch aus kantischer Sicht von der Achtung keine Erkenntnis sensu stricto haben: Weder ist sie ein reiner Begriff der Vernunft, noch ein Konstrukt a priori aus der Synthesis von reinen Begriffen der Vernunft und reinen Formen der Sinnlichkeit, noch eine Erkenntnis aus der Synthesis von diesen reinen Begriffen und Formen mit empirischen Anschauungen. Trotzdem ist der Mensch der Unterdrückung der Sinnlichkeit durch die Achtung „bewusst“ (siehe GMS, 401 Fn.). Diese Unterdrückung als Nötigung kann sich nicht im bloß Sinnlichen selbst gründen. Aber sie entstammt auch nicht dem bloß Rationalen, denn es ist einem vollkommenen Willen kein Interesse¹⁴⁶, auch keine Nötigung¹⁴⁷ – somit keine Achtung zurückzuführen (siehe GMS, 414.01). Die Unterdrückung soll also vom bloß praktisch Vernünftigen herkommen, nämlich der Idee eines „guten Willens“ bzw. des intrinsisch Guten. Hinsichtlich Kants moralphilosophischen Werdegangs macht die Achtung einen positiven Beitrag im Hinblick auf die jahrelang, gegen das moralische Gefühl der Empiristen ausgeübten, negativen Kritik aus. Moralgesetz und Achtung machen jeweils die objektive und subjektive Seite (jeweils eines reinen Wollens und
Siehe Schadow 2012, 226. Aber aus der Perspektive der Philosophiegeschichte ist von Kant her eine allmähliche Entleerung des Gefühlsbegriffs von allem Pathologischen festzustellen. So sprach Fichte vom Fühlen der Handlung, wo das Handeln als Anschauung und Gefühl verstanden wird. Die früheren Romantiker benutzten die Kunst, nicht um das Pathologische zu berühren, sondern damit der Zuschauer sich seiner selbst und seines Handelns bewusst wird. Kants Wortbedeutung des Gefühls konnte den früheren Romantikern den Weg einleiten haben. Den philosophiegeschichtlichen Hinweis verdanke ich meinem Zweitbetreuer Salvi Turró. Siehe oben 7.1.2.4.1 (d). Siehe oben 7.1.2.4.1 (b).
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des Sollens) ein und derselben Münze aus:¹⁴⁸ Für beide, wie für den moralischen Wert der aus ihnen entstehenden Maximen, ist ein apriorischer Charakter bezeichnend. Demzufolge, obwohl erst die Sinnlichkeit einen Spielraum für die Achtung eröffnet, soll die Achtung (genauso wie das Moralgesetz) von der Sinnlichkeit qualitativ unterschieden sein. Kant kennzeichnet das „moralische Gefühl“ (GMS, 460.03) als dasjenige, das erst als Wirkung der Moralität, d. h. a posteriori, und näher an einer Empfindung (sensatio) auftritt. Es handelt sich einzig und allein um die „Zufriedenheit […] aus der Erfüllung eines Zwecks[¹⁴⁹], den wiederum nur Vernunft bestimmt“, bzw. um „ein Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht“ (GMS, 460.10). – Eine Position, die Kant, wie schon erwähnt, auch in der KpV¹⁵⁰ beibehält. Vergleiche den Widerstreit zwischen Heidegger und Cassirer in Davos (dazu siehe Cassirer 1931, 14 ff. und siehe Heidegger 1929, 279 f.) darüber, ob (Heideggers Auffassung nach) das Moralgesetz im Gefühl der Achtung gründet oder ob (Cassirers Auffassung nach) das Gefühl der Achtung die Bedingung der Anwendung dieses Gesetzes ist. (Den freundlichen Hinweis auf den Widerstreit verdanke ich meinem Zweitbetreuer Salvi Turró). – Die Lösung zur Diskussion könnte sich in der klaren Distinktion Kants (siehe GMS, 427.26) zwischen dem „Bewegungsgrund“ (als „de[m] objective[n] [Grund] des Wollens“) und der „Triebfeder“ (als „de[m] subjective[n] Grund des Begehrens“) finden lassen: Denn erst die moralische Handlungsmaxime als Bewegungsgrund stimmt sowohl formal mit der Vorstellung des Moralgesetzes als auch materiell mit der Achtung vor demselben überein. Der Achtung liegt das Wollen des reinen Willens (als praktischer Vernunft) zugrunde. Die Achtung definiert sowohl die affirmative als auch die negative Einstellung der freien (d. h. vernünftigen und zugleich sinnlichen) Willkür vor dem Moralgesetz – zum einen als dem an sich Guten, das jeder unmittelbar will; zum anderen als einem Sollen, das unmittelbar nötigt. Also fördert sie bei der freien Willkür (affirmativ) eine „gute Gesinnung“ bzw. ein „reines Vernunftinteresse“ und (negativ) die Nötigung und die Selbstbeherrschung bzw. Autokratie. (Dazu siehe oben 7.1.2.4.1 [c]). – Die Pointe liegt eben darin, dass Kant hier nicht das Gesetz vor der Achtung (oder umgekehrt) bevorzugt – wie er seit den früheren 1760er Jahren im spekulativen Bereich auch nicht den Verstand vor der Sinnlichkeit bevorzugt hat. So Kant: „Denn die reine und mit keinem fremden Zusatze von empirischen Anreizen vermischte Vorstellung der Pflicht und überhaupt des sittlichen Gesetzes hat auf das menschliche Herz durch den Weg der Vernunft allein (die hiebei zuerst inne wird, daß sie für sich selbst auch praktisch sein kann) einen so viel mächtigern Einfluß, als alle andere Triebfedern, die man aus dem empirischen Felde aufbieten mag, daß sie im Bewußtsein ihrer Würde die letzteren verachtet und nach und nach ihr Meister werden kann“ (GMS, 410.25 f.). – Zum „Herz“ als „gute Gesinnung“ siehe bereits V-Mo, 054.23 f./ 068 f. und siehe unten 7.1.2.4.1 (e) den letzten Absatz. Nämlich die „Gründung eines guten Willens“ (GMS, 396.33). Siehe KpV, AA 05: 038.36, 075.03. – Das Verständnis der Achtung als ein Gefühl scheint auch hinsichtlich des neuropsychologistischen und szientistischen Eifers abwegig zu sein. Denn damit sucht man eben kein Moralprinzip, sondern verfolgt eine psychoszientifische, mithin empiristische Erklärung des faktischen Handelns durch dessen physikochemische Ursachen. Dies impliziert die Negation aller Freiheit als Spontaneität, mithin die Unmöglichkeit einer Autonomie.
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Schlussfolgernd lässt Kant mit seiner Definition der Achtung als „selbstgewirktes Gefühl“ eine Homonymie von dem sinnlichen Ereignis (sensatio) und der Achtung entstehen, die hinsichtlich des Verständnisses dieser im Rahmen der Moraltheorie Kants mehr Verwirrung als Klarheit bringt. Daher schlage ich eine alternative Nomenklatur für die Definition der Achtung vor: Ist die Achtung nicht nur „von allen Gefühlen der ersteren Art, die sich auf Neigung oder Furcht bringen lassen, specifisch unterschieden“ (GMS, 401 Fn.), sondern auch und zuallererst eine Meta-Maxime, nach der sich mein Handeln im Ganzen richten soll, nämlich „die Maxime, einem solchen Gesetze selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen Folge zu leisten“ (GMS, 400.33 f.), dann hätte Kant sie im Rahmen der GMS besser nicht mit dem Wort „Gefühl“, sondern ausschließlich als „moralische“ oder „gute Gesinnung“ definieren sollen – wie er es auch tut (siehe, GMS, 406, 412.13, 416.12, 435.15/29). Diese ist die affirmative Einstellung, die der Mensch als vernünftiges Wesen notwendig gegenüber dem Moralgesetz annimmt: Er nimmt daran ein reines Interesse; seine von Prinzipien abhängige Willkür (siehe GMS, 413 Fn.) will notwendig diejenigen Maximen, die mit dem Moralgesetz übereinstimmen. Jedoch begehrt auch der Mensch als sinnliches Wesen die Befriedigung seiner Bedürfnisse. Dadurch entwickelt er auch eine negative Einstellung gegenüber den vernünftigen Prinzipien und stellt sich diese wegen ihrer inhärenten erzwingenden Notwendigkeit als „Nötigung“ (GMS, 413.04) vor. Schließlich: (1) Dass die Achtung als ein vernünftiges Geschehnis aufgefasst wird, bedeutet keineswegs, notwendigerweise einen reinen ethischen Kognitivismus zu vertreten.¹⁵¹ Ich plädiere nicht für eine Interpretation der Achtung als bloße Kognition des Moralgesetzes und seines Inhaltes, sondern dafür, dass die Achtung (als moralische Gesinnung bzw. als reines Vernunftinteresse) ein notwendiges, durch die Vorstellung des Moralgesetzes unmittelbares Wollen ausdrückt. Dieses fördert, dass man sich gegenüber den Triebfedern für Bewegungsgründe als Handlungsmaximen entscheidet. Aber weder besteht die Achtung in der „Einsicht in moralische Gründe“¹⁵² (obwohl sie diese impliziert) noch schließt sie schon die moralische Bestimmung der Willkür mit ein. Letztere macht den Höhepunkt des moralischen Verfahrens aus, wodurch die moralische Beurteilung letztlich in eine entsprechende Handlung mündet, und welches Kant „Autonomie“ nennt.¹⁵³ Mit anderen Worten: Die Achtung vor dem Moralgesetz ist im konkreten Subjekt das
Vergleiche Klemme 2006, 143 Fn. Vergleiche Klemme 2006, 144. Zur Autonomie siehe unten 7.1.2.4.2 (e).
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erste Stadium zur Moralität. Aber diese wird erst durch die Setzung eines Zwecks durch eine Maxime (die einen objektiven Bewegungsgrund ausmacht) und durch die Ausübung der entsprechenden Handlung erfüllt. Erst dann kann das reine Wollen des Willens als praktischer Vernunft das faktische, vernünftige, die freie Willkür bestimmende Wollen werden. Wie sich das begibt, das heißt, wie es geschieht, dass die bloße Vorstellung des Moralgesetzes Achtung davor hervorbringt, und dass dadurch sich die menschliche Willkür für Gründe der Vernunft statt der Triebfedern der Sinnlichkeit entscheidet und bestimmt, bleibt jenseits unseres Verstandes. (2) Infolgedessen heißt die Auffassung der Achtung als etwas ursprünglich nicht-Sinnliches¹⁵⁴, sondern Vernünftiges auch nicht unbedingt, dass wir „nur vernünftig sein wollen“ und dass wir „moralische Finsterlinge [wären], die freudlos ihre Pflichten erfüllen“¹⁵⁵. Wir erfüllen unsere Pflichten nicht deshalb, weil wir bloß auf der rationalen Ebene den Widerspruch mit uns selbst zu vermeiden suchen (GMS, 424.01). Die Moral entsteht aus der Notwendigkeit überhaupt, das (menschliche) Wollen richtig zu bestimmen: Da der Mensch weder bloß rational noch bloß empirisch ist, sind bei ihm sowohl vernünftige als auch empirische Gesetze in Kraft; er wird aber durch keine absolut vorherbestimmt. Die Aufgabe der Moral besteht somit darin, das richtige, weil unserer vernünftigen Natur gebührende Wollen festzulegen. So erfüllt man seine Pflichten, weil die freie Willkür allein aus dem Standpunkt der Vernunft notwendig ihre praktische Erkenntnis als einen an sich guten Zweck verwirklichen will. ¹⁵⁶ Und dies enthält sowohl die „strengen“ als auch die „weiten Pflichten“ (GMS, 424.10) und führt zur Autonomie (siehe GMS, 436.06). (3) Dass die Achtung vernünftigen Ursprungs ist, muss also nicht implizieren, dass die Moralität ein „bloßer Selbstzweck“ sei.¹⁵⁷ Moralität ist eine notwendige Bedingung der vollendeten Verwirklichung des Menschen. Da ihm als vernünftigem, mithin selbstgesetzgebendem, selbsterhaltendem Wesen ein absoluter Wert beigelegt werden kann, so ist es eine mit seiner Natur verknüpfte Forderung und ist von ihm zu erwarten, dass er die moralische Aufgabe für eine unent-
Vergleiche Klemme 2006, 123. Vergleiche Klemme 2006, 146. Beispielsweise heißt dies aus der Perspektive der zweiten Formel des kategorischen Imperativs, dass die Menschheit in der eigenen und in der Person Anderer nur dann gebührend berücksichtigt werden kann, wenn der eigenen „Selbstliebe“ Grenzen gesetzt werden (siehe GMS, 401 Fn.). Vergleiche Klemme 2006, 134.
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behrliche Herausforderung hält und möglichst vollkommen erfüllt.¹⁵⁸ Zudem versetzt die moralische Aufgabe den Menschen in die Perspektive des Anderen, wer als ein gleiches, bedürftiges und mit vernünftigem Willen begabtes Wesen die eigene Freiheit einschränkt, d. h. gesetzlich formt.¹⁵⁹ Eben von dieser Deutung der Achtung als der subjektive apriorische (weil vernünftige) Bestimmungsgrund der Handlung her gelingt es Kant festzustellen, (i) dass den Menschen der ethische Zweck, nämlich die Ausprägung eines tugendhaften Charakters bzw. die „Gründung eines guten Willens“ (GMS, 396.33) für sich selbst (a priori) interessiert. Dieses Handeln aus einem Grund des Wollens objektiven, moralischen Werts, d. h. aus einer affirmativen Grundeinstellung gegenüber dem unbedingten Gutsein, mithin dem Moralgesetz ist das, was Kant als „aus Pflicht [thuend]“ oder „geschehend“ (GMS, 398.20, 400.15) bestimmt; und (ii) dass die Verwirklichung des ethischen Zwecks bei dem Menschen eine „Zufriedenheit mit sich selbst“¹⁶⁰ (siehe GMS, 396.34, 460.10) (a posteriori) hervorbringt. Nun kann man aufgrund der Grenzen der Vernunfterkenntnis nicht aufklären (siehe GMS, 406.08 f.), ob eine anscheinend moralische Handlung zuallerletzt einen moralisch guten Grund hat oder ob sie vielmehr durch „ein[en] geheime[n] Antrieb“ (GMS, 407.09) verursacht wurde. Daher setzt Kant die Achtung als moralische „Gesinnung“ (GMS, 406.10) im Zweiten Abschnitt der GMS beiseite und konzentriert sich auf deren Grund (siehe GMS, 403.26), der sich moralphilosophisch ergründen lässt. Zwar liegt der moralische Wert der Handlung erst in der Achtung: So sprach Kant bereits in der Vorlesung zur Moralphilosophie – nebst dem „Bewegungsgrund“ des „principium der Möglichkeit der Übereinstimmung aller freyen Willkür“ (V-Mo, 031.09/035) bzw. des „principium der Diiudication der Verbindlichkeit“ (V-Mo, 055.25/069) – auch von der „Gesinnung“ (V-Mo, 012.13/01, 039.01/043 f., besonders 051.07/063 und 054.29/068), von dem „Herzen“ (V-Mo, 055.10/069, siehe GMS, 410.27) bzw. von der „inneren Bonitaet“ (V-Mo, 009.17/012) als der „caussa impulsiva“ (V-Mo, 030.08/033) bzw. „Triebfeder“ (V-Mo, 030.03/ 033, 032.018/036, besonders 040.20/046) aller moralischen Handlungen. Aber die Unmöglichkeit, die wahre Ursache der Handlung mit Sicherheit zu bestimmen, erfordert es, sich auf einen unbedingt, objektiv und notwendig bestimmbaren
Hier kann eine Parallele zur Aristotelischen Ethik gezogen werden, indem die gebührende Verwirklichung des Menschen erst durch die Aktualisierung seiner Potenzen geschieht. Sowohl für den Griechen als auch den Königsberger ist eine Forderung bzw. ein Zweck, sich den eigenen Vermögen und Fähigkeiten entsprechend zu verhalten, durch die man sich insbesondere auszeichnet, und diese der eigenen Beschaffenheit nach möglichst zu erweitern. Zur Formel der Menschheit als Zweck an sich selbst siehe unten 7.1.2.4.2 (e.2). KpV, 038.36.
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Bestimmungsgrund der Handlungsmaxime (als des „Bewegungsgrundes“) zu konzentrieren, nämlich: das Moralgesetz. Ihm kann man noch anhand der philosophischen Vernunfterkenntnis weitere moralische Nachforschung widmen.
7.1.2.4.2 Das Moralprinzip: Grundzüge, „Festsetzung“ und Formeln versus Verallgemeinerungsprinzip und Goldene Regel¹⁶¹ Die „Aufsuchung und Festsetzung“ (GMS, 392.03) des Moralprinzips macht das theoretische Ziel in der GMS aus, da es als ein solches Prinzip das ganze System der reinen Moral gründen, mithin ermöglichen soll. Also nicht zufällig spricht Kant in der Vorrede zur GMS vom „obersten Princip der Moralität“ (GMS, 392.03) statt eines „obersten Gesetzes der Moralität“. Doch dieses Prinzip muss sehr speziell sein: Es soll eben die Form eines Gesetzes haben, dank dessen unbedingte, objektive Notwendigkeit Allgemeingültigkeit gestiftet wird. Aber worin soll der Unterschied zwischen Prinzip und Gesetz liegen? Und warum werden beide Ausdrücke verwendet?
(a) Allgemeine semantische Überlegungen zum Gesetzes- und Prinzipbegriff Etymologisch betrachtet verweist der Begriff „Gesetz“ auf das „Festgesetzte“¹⁶². Man kann den Begriff in Analogie zur Mathematik auffassen, da er auf einen notwendigen Zusammenhang rekurriert. Mathematische Theoreme werden per Deduktion aus klaren und deutlichen Begriffen und Sätzen bzw. Axiomen gewonnen. Sie gründen eine universalitas, indem es den Zusammenhang zwischen zwei Elementen unabänderlich beschreibt. Ein solches Gesetz fundiert Allgemeingültigkeit, d. h. es gilt jederzeit und überall, unabhängig von aller zufälligen Bedingung. Im Unterschied dazu werden die Naturgesetze aus der Erfahrung per Induktion (z. B. durch die Beobachtung von vielen konkreten Fällen) abgeleitet.¹⁶³ Ge-
Für spannende, aufschlussreiche Gespräche über Mathematik und Physik, die die Abfassung dieses Abschnittes begleiteten, danke ich meinem lieben Bruder, Mario Gutiérrez Xivillé. Siehe Etymologisches Wörterbuch [nach Pfeifer], Artikel „Gesetz“. In: www.dwds.de, am 17.02. 2014). So z. B. das Hebelgesetz. Trotzdem kann es auch den Fall des Naturgesetzes geben, das zwar anhand der Erfahrung abgeleitet wurde, obwohl es mathematisch demonstriert, mithin per Deduktion abgeleitet werden kann. Das Archimedische Prinzip gibt uns ein Beispiel davon: Dieses entsteht zwar induktiv, aus einer Intuition, welche bestimmte Zusammenhänge erklärt. Aber es wurde später nach den Navier-Stokes-Gleichungen rein mathematisch als Theorem demonstriert. (Zur mathematischen Beweisführung siehe Wikipedia, Artikel „Principio de Arquímedes“, http://
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setze, die induktiv gewonnen sind, haben generelle, aber nicht universelle Gültigkeit; denn die (empirische) Beobachtung ist der Zeit, dem Raum, den Unzulänglichkeiten des Beobachtungsvermögens und -instrumentariums und sogar den Grenzen der Natur¹⁶⁴ nach bedingt. Die Beobachtung kann nie die Gesamtheit der Fälle absolut betreffen,¹⁶⁵ wobei sie unvermeidlich mit Fehlbarkeit behaftet ist. So lassen die physikalischen, per Induktion abgeleiteten „Gesetze“, gegen die etymologische Definition, Ausnahmen zu¹⁶⁶ und können sogar umformuliert bzw. abgeschafft und geändert werden, wenn sie aufgrund neuer empirischer Entdeckungen oder beobachteter Umstände nicht mehr in der Lage sind, die Wirklichkeit zu beschreiben und zu erklären bzw. zu ordnen. Seinerseits rührt „Prinzip“ etymologisch vom Latein „principium“ her, das der „Anfang“¹⁶⁷, „Ursprung“ oder die „erste Stelle“ bedeutet.¹⁶⁸ – Beispielsweise schreibt Kant in seinem noch nicht edierten Exemplar der Metaphysica von A. G. Baumgarten (1750) gegenüber von Paragraf 307: „Das principium ist das woraus sich die moglichkeit einer Sache verstehen läßt“.¹⁶⁹
Auf der Ebene der Moralphilosophie, die sich mit dem freien Verhalten beschäftigt,¹⁷⁰ soll das Prinzip zuallererst als der Grund begriffen werden, der das Handeln überhaupt¹⁷¹ ermöglicht – oder Kants Notiz paraphrasierend: aus dem sich die Möglichkeit des Handelns, und mithin die Möglichkeit der Rede von „Sittlichkeit“ (GMS, 407.17, 408.12) verstehen lässt. Also bezieht sich das „Prinzip“ auf
es.wikipedia.org/wiki/Principio_de_Arqu%C3 %ADmedes, am 11. 3. 2014.). Allerdings lasse ich diese physikalischen Gesetze beiseite, da der Physiker auf sie erst durch die Erfahrung trifft. Darauf gründet sich z. B. die Heisenberg’sche Unschärferelation, welche festlegt, dass das Verhalten eines Elektrons nicht bestimmbar ist, indem die Photonen der Lichtstrahlung beim Beobachten das Verhalten der Elektrone modifiziert. Daher ist die Welt nach Kant eine transzendentale Idee. Die bekannte Redensart besagt: „Ausnahmen bestätigen die Regel“ (nicht das Gesetz). D. h., auch wenn es Sachverhalte gibt, die der Regel widersprechen, muss die Regel nicht falsch sein. Siehe oben in 3.3 meine Fn. zum „principium“. Siehe Etymologisches Wörterbuch [nach Pfeifer], Artikel „Prinzip“. In: www.dwds.de (am 21. 2. 2014). Für den freundlichen Hinweis auf diese Notiz danke ich meinem Erstbetreuer Werner Stark. In Frage kommen also nicht die skeptischen Positionen, nach denen der Mensch sich nicht der Naturnotwendigkeit und deren Kausalverknüpfung entziehen kann, sondern die Rationalistischen, die auf den Satz vom hinreichenden Grund zurückgreifen (siehe Kawamura 1996, 82 f., 140 ff.) bzw. die Kantische Position, die die Möglichkeit, weil ohne Widerspruch denkbare Idee der transzendentalen Freiheit zeigt (KrV, 362.25 ff.//A532/B560 ff.). Kant definiert das Agieren als das Handeln „nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Principien“ (GMS, 412.27).
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dasjenige, das am Ursprung aller Handlung liegt. Das betrifft aber zweierlei: (i) das Handelnde überhaupt, das die Handlung unternimmt, und (ii) die Handlungsregel, nach der es die Handlung ausrichtet. (i) Der Anfang bzw. Ursprung einer Handlung liegt bei einem handelnden Subjekt, das sich jederzeit zum Tun oder Unterlassen entschließt. Indem das Subjekt der Ursprung aller Handlung ist, so setzt die Rede vom Handelnden als „Prinzip“ die Spontaneität seiner Willkür, d. h. die Freiheit derselben voraus.¹⁷² Diese ist aber nicht auf ein Chaos einer Gesetzlosigkeit bezogen, „denn sonst wäre ein freier Wille [lies: „eine freie Willkür“] ein Unding“ (GMS, 446.21). Sondern diese Freiheit als Spontaneität weist auf ein wesentliches „Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen“ (KrV, 363.09//A533/B561) hin, welches die Unabhängigkeit des Subjekts von der Naturkausalität impliziert. Dementsprechend deutet die Spontaneität der Willkür tatsächlich auf eine Gesetzmäßigkeit hin, die das Handeln regeln und formen soll. (ii) Mit diesem Verständnis des Handelnden als einer spontanen, regelnden Willkür wird die oben¹⁷³ bearbeitete Passage GMS, 412 f. umso deutlicher. Alles Geschehen muss einer Ordnung folgen, und zwar: Natürliche Begebenheiten folgen den Naturgesetzen, Handlungen aber der „Vorstellung der Gesetze, d. i. […] Principien“. So führt das Verständnis des „Prinzips“ als der handelnden, mithin nicht gesetzlosen Instanz zum Nachdenken über das „Prinzip“ als Handlungsregel, nach der eine jede Handlung ausgeübt wird.Wie Clemens Schwaiger bemerkt¹⁷⁴, ist das richtige Handeln des Menschen nicht nur das moralische. Sondern der Mensch befindet sich im Leben in vielfältigen Umständen, bei denen das richtige Handeln auch in der Geschicklichkeit besteht, ein Problem zu lösen (siehe GMS, 415.14– 27), oder in der Klugheit zu wissen, welche Ziele zu meiner oder Anderer Glückseligkeit treffend beitragen können, und welche Mittel zur Erreichung der beabsichtigten Ziele dienen werden (siehe GMS, 415.21 f.).
Dazu siehe erste und zweite Sektionen vom Dritten Abschnitt der Grundlegung (GMS, 446.01– 448.22). Siehe oben 7.1.2.3 (b), (c). Siehe Schwaiger 1999, 19: „Doch Kants sichtliche Anstrengungen auf dem Gebiet der Klugheit oder des Pragmatischen illustrieren gerade, wie verkürzend eine moralistische Engführung seiner Position ist. Das Leben bestand für ihn eben nicht nur aus kategorischen Imperativen […]; das Handeln nach hypothetischen Imperativen galt ihm keineswegs per se als moralisch anstößig“.
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Dies gibt Kant Anlass zur Darlegung seiner Einteilung der Handlungsprinzipien aufgrund der Modalität, die diesen zugrunde liegt,¹⁷⁵ in Problematische, Assertorische oder Apodiktische.¹⁷⁶
(b) Die Grundzüge des Moralprinzips Das Prinzip der Sittlichkeit unterscheidet sich von den sogenannten „Geschicklichkeits-“ und „Klugheitsprinzipien“ darin, dass es eine Handlung „kategorisch“ (KrV, 087.08//A070/B95) (d. i. absolut unbedingt) anordnet, weil sie an sich einen „inhärent“ (KrV, 093.09//A080/B106) guten Zweck ausmacht, der sich „apodiktisch“ (KrV, 087.15//A070/B95) (d. i. unwiderlegbar) durchsetzt. Eben aufgrund der „Einheit“ (KrV, 093.04//A080/B106) des „inhärent“ oder an sich Guten, worauf sich das Prinzip bezieht, ist dieses ein „allgemeiner“ (KrV, 087.03//A070/B95) Satz. Daher gebietet es nicht besondere Handlungen mit Blick auf besondere Ziele, sondern die „Gründung eines guten Willens“ als einen allgemeinen Zweck. Also bloß aus der durch reine Vernunftbegriffe gerichteten Reflexion und aus der Kombination derselben Begriffe ergibt sich nicht nur die Vorstellung eines reinen guten Willens, sondern auch die Vorstellung eines mit ihm verbundenen Moralgesetzes, das von der Achtung bei der Willkür als Korrelat des reinen Wollens begleitet und als ein synthetischer praktischer Satz a priori gefunden und formuliert¹⁷⁷ wird. Sobald das an sich Gute der Gegenstand der Moral ist, so konkurrieren (möglicherweise) mit ihm die Klugheitsprinzipien, die bloß subjektive Güter verfolgen. Gerade wegen dieser Konkurrenz mit der Moral zieht Kant die Klugheitsprinzipien in Betracht. Nun schlussfolgert er anhand derer Analyse, dass sie nicht Teil der reinen Moralphilosophie sind, weshalb er sie von dieser ausschließt (siehe GMS, 394.32– 136.37). Behalten wir von dem vorigen Absatz 7.1.2.4.2 (a) im Auge: (1) dass nur die per Deduktion abgeleiteten Gesetze Allgemeingültigkeit aufweisen, weil sie bloß auf Vernunftbegriffen fußen und keinerlei Verifizierung bzw. Falsifizierung brauchen, sondern durch ihre Anwendung nur eine Bestätigung in der Erfahrung finden; und
Wie bereits angedeutet, greift Kant hierin auf die im Moralkolleg entwickelte Konzeption seiner alten, dichotomischen Unterscheidung zwischen „necessitam problematicam“ und „necessitam legalem“ zurück. Die Darstellung von Kants Klassifikation der Imperative in der GMS würde hier den Leitfaden der Exposition ablenken. Dazu siehe unten Anhang 5. Darauf komme ich später zurück.
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(2) dass mehrere Arten von Handlungsprinzipien bestehen, einerseits diejenigen, die eine mittelbare Verknüpfung der Handlung als die Ursache zu einer beabsichtigten Wirkung als Ziel, also hypothetisch anordnen; und andererseits diejenigen, die einen Zweck aufgrund seines inhärenten Guten apodiktisch setzen und kategorisch gebieten. Daraus folgt, dass das Moralprinzip einzig und allein die Form der Handlungsmaximen festsetzen kann. Daher bezieht sich Kant darauf auch als „das Gesetz“¹⁷⁸, „d[a]s sittliche[] Gesetz[]“ (GMS, 410.27) bzw. „d[as] praktische[] Gesetz []“ (GMS, 420 Fn. 2) (im Singular¹⁷⁹). „Hier ist nun bloße Gesetzmäßigkeit überhaupt (ohne irgend ein auf gewisse Handlungen bestimmtes Gesetz zum Grunde zu legen) das, was dem Willen zum Princip dient und ihm auch dazu dienen muß, wenn Pflicht nicht überall ein leerer Wahn und chimärischer Begriff sein soll; hiemit stimmt die gemeine Menschenvernunft in ihrer praktischen Beurtheilung auch vollkommen überein und hat das gedachte Princip jederzeit vor Augen“ (GMS, 402.04).
Selbst der Umstand, dass alle anderen Imperative einen materiellen Inhalt haben, der entweder bloß möglich oder nicht aus Vernunftbegriffen abgeleitet wird, schließt sie als mögliche allgemeingültige Gesetze des freien Handelns aus. Mehr noch: Die Prinzipien der Geschicklichkeit sind eigentlich „Regeln“ (GMS, 416.19) als Mittel zur Lösung mathematischer, technischer oder künstlerischer Aufgaben; und die Prinzipien der Glückseligkeit sind bloße „Rathschläge“ (GMS, 416.19) zur Bestimmung und Erlangung derselben. Also, obwohl die Regeln der Geschicklichkeit die allgemeingültige Notwendigkeit synthetischer Sätze a priori besitzen können (z. B. in der Mathematik), sind sie nur im Hinblick auf das Ziel gültig: „daß, wenn ich weiß, durch solche Handlung allein könne die gedachte Wirkung geschehen, ich, wenn ich die Wirkung vollständig will, auch die Handlung wolle, die dazu erforderlich ist“ (GMS, 417.21). Das gilt auch für die Ratschläge der Klugheit, die ihrerseits aller objektiven Notwendigkeit unvermögend sind und, „genau zu reden, gar nicht gebieten, d. i. Handlungen objectiv als praktischnothwendig darstellen, [mithin kein(e) Imperativ(e) […] sei(n)] können“ (GMS, 418.29). Denn sowohl das mit der Absicht der Glückseligkeit konkret gesetzte Ziel als auch die Mittel zu dessen Ausführung sind auf das Subjekt und seine Umstände bezogen, wobei „die Aufgabe: sicher und allgemein zu bestimmen, welche Handlung die Glückseligkeit eines vernünftigen Wesens befördern werde, völlig unauflöslich […] sei“ (GMS, 418.32). Siehe GMS, 400.19/32, 401.11 und Fn. Kant verwendet „Gesetz“ im Singular, wenn er vom allgemeinen Moralprinzip spricht. Mit dem Plural deutet er auf die konkreten Pflichten hin, die eine Moral festsetzt (z. B. „Du sollst nicht morden“ ist eins der zehn Gebote der Christlichen Moral). Dazu siehe GMS, 421.09, Abs. 32.
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„[…] nur das Gesetz führt den Begriff einer unbedingten und zwar objectiven und mithin allgemein gültigen Nothwendigkeit bei sich, und Gebote sind Gesetze, denen gehorcht, d. i. auch wider Neigung Folge geleistet, werden muß. Die Rathgebung enthält zwar Nothwendigkeit, die aber bloß unter subjectiver zufälliger Bedingung, ob dieser oder jener Mensch dieses oder jenes zu seiner Glückseligkeit zähle, gelten kann; dagegen der kategorische Imperativ durch keine Bedingung eingeschränkt wird und als absolut-, obgleich praktischnothwendig ganz eigentlich ein Gebot heißen kann. Man könnte die ersteren Imperative auch technisch (zur Kunst gehörig), die zweiten pragmatisch (zur Wohlfahrt), die dritten moralisch (zum freien Verhalten überhaupt, d. i. zu den Sitten gehörig) nennen“ (GMS, 416.20 f.). „So viel ist indessen vorläufig einzusehen: daß der kategorische Imperativ allein als ein praktisches Gesetz laute, die übrigen insgesammt zwar Principien des Willens, aber nicht Gesetze heißen können: weil, was bloß zur Erreichung einer beliebigen Absicht zu thun nothwendig ist, an sich als zufällig betrachtet werden kann, und wir von der Vorschrift jederzeit los sein können, wenn wir die Absicht aufgeben, dahingegen das unbedingte Gebot dem Willen kein Belieben in Ansehung des Gegentheils frei läßt, mithin allein diejenige Nothwendigkeit bei sich führt, welche wir zum Gesetze verlangen“ (GMS, 420.04).
Der Umstand, dass nur dem kategorischen Imperativ eine absolute Notwendigkeit innewohnen kann, impliziert, dass nur er Allgemeingültigkeit statuieren, somit als die Vorstellung des sittlichen Gesetzes bzw. als das „oberste[] Princip der Moralität“ angesehen werden kann. Dieses (sowie die besonderen moralischen Gesetze, die diesem Prinzip unterliegen und wodurch die konkreten Pflichten der Moral ausgesprochen werden) gestattet weder Ausnahmen noch Umformulierungen noch Abschaffung. Es wird einzig und allein aus Vernunftbegriffen und -ideen gefunden und dient zu einem Vernunftmuster (dem „guten Willen“¹⁸⁰), das einen „Zweck an sich selbst“ (GMS, 427.21 f.) ausmacht. In Hinblick auf die Festsetzung des Moralprinzips gibt es anscheinend eine doppelte Parallele der von Kant gesuchten Allgemeingültigkeit, und zwar eine Parallele zur Physik und eine zur Mathematik: Die Physik beansprucht durch ein vereinheitlichtes Gesetz eine Beschreibung der Gesamtheit physikalischer Ereignisse der Welt im Ganzen. Ebenso versucht die Moralphilosophie (nach Kant) ein Moralprinzip festzusetzen. Dieses soll a priori einen Grundsatz für das menschliche freie Handeln überhaupt abgeben. Dieses geschieht zwar unter empirischen Umständen, aber dessen Grund ist metaphysisch. Doch Physik und Moralphilosophie unterscheiden sich voneinander, und zwar darin: (1) Bei der mathematischen Formulierung physikalischer Gesetze wird versucht, eine Notwendigkeit als eine Determiniertheit, d. h. ein Müssen festzulegen,
Lies „Willkür“.
7.1 Analytischer Teil
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wodurch der Zusammenhang zwischen Phänomenen als ein notwendiger beschrieben wird. Der freie Ablauf eines Prozesses kommt gar nicht in Betracht. – Hingegen bestimmt das Moralprinzip auf der Voraussetzung der Freiheit als Spontaneität fußend eine Notwendigkeit nur als ein Sollen, welches zwar den legitimen, d. h. des Menschen vernünftigen Natur nach gebührenden Gebrauch dieser Spontaneität festsetzt, aber ihn nicht notwendig determiniert. (2) Die Newton’schen physikalischen Gesetze, die Kant für a priori hielt, gehen doch auf empirische Phänomene der scheinbar wandelbaren Erfahrung zurück (siehe GMS, 431.01) und sind umstandsbezogen. Daher können sie nur induktiv abgeleitet werden. Somit kann (und muss) ihre Gültigkeit immer nur a posteriori verifiziert (bzw. falsifiziert) werden. – Im Gegensatz dazu liegen dem Moralprinzip nicht empirische Geschehnisse, mithin nicht wechselhafte historische, kulturelle, soziale, biologische oder psychologische Umstände zugrunde.¹⁸¹ Sondern es ist als solches „Prinzip“ der allererste Anfang irgendeines möglichen Ablaufs. Insofern bieten die bloß aus Erfahrung abstrahierten, physikalischen Gesetze – trotz des Vergleichsanspruches Kants – keine richtige Analogie zum gesuchten Moralgesetz und dienen nicht als Muster zur Aufhellung des genuin Kant’schen Beitrags zum Feld der Moralphilosophie.¹⁸² Ihrerseits stimmt die Mathematik mit der reinen Philosophie in der deduktiven Arbeitsmethode überein. Anhand derselben werden aus der Verbindung (Synthesis) von reinen Begriffen (von Euklid „Elementen“ genannt) neue, klare und deutliche Erkenntnisse (von Euklid „Propositionen“ genannt) konstruiert. Sodann ist die Gültigkeit mathematischer Lehrsätze wie die des Moralprinzips allgemein. So gibt es mathematische Theoreme, welche a priori ein Geschehnis erklären können – wie beispielsweise das Archimedische Prinzip¹⁸³. Sie sind unabänderlich und allgemeingültig und brauchen keine Verifizierung. Doch im Unterschied zum Moralprinzip, gleichwie in der Physik, beschreiben sie eine Determiniertheit, ein Müssen. – Die reine Moralphilosophie erwirbt zwar auch aus rein intelligiblen Gegenständen (Vernunftbegriffen und -ideen) Erkenntnis darüber, wie sich die menschliche, zusammengesetzte, freie Willkür zu verhalten hat.
Siehe Natorp 1896, § 10. So auch Arana Cañedo-Argüelles 2004, 592 f., der darauf hinweist, dass Kant zwar Newtons Prinzipien der Physik annimmt, aber insofern, als diese seiner Meinung nach nicht durch die Erfahrung, sondern durch die Vernunft a priori erkannt werden. Arana verweist auf die Danziger Physik, AA 29.1,1: 101.01, wo es heißt: „N a t u r ( f o r m a l i t e r ) b e d e u t e t d i e G e s e t z m ä ß i g k e i t d e r B e s t i m m u n g e n e i n e s D i n g e s . […] Naturlehre. diese trägt die Gesetze vor nach denen körperliche Erscheinungen können erklärt werden; diese ist rational“. Zur Besonderheit des Archimedischen Prinzips, das mathematisch als Theorem demonstriert werden kann, siehe oben 7.1.2.4.2 (a) meine Fn.
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Aber die dadurch a priori deduzierte Richtschnur setzt den richtigen Gebrauch der Freiheit fest. Also wird dadurch nicht beschrieben, „was geschieht“, sondern es wird festgelegt, „was geschehen soll“ (siehe GMS, 387.25 f., 408.01, 427.01). Also eifert die reine Moralphilosophie einerseits der Mathematik insofern nach, als die konstruierten Erkenntnisse letzterer „apodiktisch“ (d. h. unwiderlegbar) gelten, deren Allgemeingültigkeit wesentlich ist. Und andererseits bildet die reine Moralphilosophie insofern die Physik nach, als diese Gesetze sucht, die in der gesamten Natur gelten. Ebenso sucht die reine Moralphilosophie ein „apodiktisches“ Prinzip, welches das Handeln des Menschen allgemeingültig führen soll. Schließlich ist für das Moralprinzip im Unterschied zu den anderen Wissenschaften wesentlich bezeichnend, dass es sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht moralisch stiftend bzw. moralisch konstitutiv und nicht bloß regulativ ist: Einerseits legt der Wille als reine praktische Vernunft durch das Moralprinzip praktische Notwendigkeit fest, welche auf das an sich Gute zurückgeht und auf die „Gründung eines guten Willens[¹⁸⁴]“ abzielt. So unterliegen dem Moralprinzip (als objektivem Bestimmungsgrund) alle moralischen Gesetze, die als „Bewegungsgründe“ bzw. Maximen von besonderen moralischen Handlungen fungieren. Theoretisch deutet dieses auf die Möglichkeit selbst der Moralität, somit auf ein spontan handelndes¹⁸⁵ Subjekt hin, das weder chaotisch noch vorherbestimmt, sondern nach gewissen praktisch-notwendigen Regeln agieren kann (aber nicht muss). Damit wird der Gedanke selbst eines Moralsystems und dessen Aufbau gerechtfertigt. Ist es aber möglich, ein Moralprinzip festzusetzen, so wird die Möglichkeit der reinen Moralphilosophie überhaupt statuiert, mithin begründet werden können und die Moralität wird nicht für ein „bloßes Hirngespinst“ (GMS, 407.17)¹⁸⁶, sondern für eine durch Menschen realisierbare Aufgabe zu halten sein. Andererseits wird die bloße Vorstellung des Moralprinzips unmittelbar von Achtung begleitet. Wie vorhin dargelegt,¹⁸⁷ gründet sich die Achtung auf das Moralgesetz des Willens und auf sein reines Wollen desselben. Seine formale Tätigkeit, aus reinen Begriffen und Ideen die Form des Moralgesetzes festzusetzen, ist zugleich auf der empirischen Ebene wirksam: Er will unmittelbar den Gegenstand seiner Schöpfung und leitet entsprechend die Willkür in der Wahl Lies „Willkür“. Erneut: „Handeln“ bedeutet nach der GMS das Agieren „nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Principien“ (GMS, 412.26). Dazu siehe GMS, 408.12, 445.08. Siehe oben 7.1.2.4.1 (c), (d), (e).
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ihrer Maximen. Demzufolge ist das Moralprinzip auch praktisch konstitutiv: Es begründet bei der Willkür die Achtung, welche als ein Wollen (affirmativ) eine gute Gesinnung und ein reines Vernunftinteresse gegenüber den Bewegungsgründen veranlasst und (negativ) das sinnliche Begehren nach Bedürfnissen nötigt und einschränkt. Der Zusammenhang beider, des Moralgesetzes mit der Achtung, fordert das moralisch gute Handeln, d. i. die Moralität bzw. dass sich die Willkür tatsächlich nach Maximen bestimmt, welche als subjektive Prinzipien eines „vernünftigen Wesens überhaupt“ gelten. Aus diesen Gründen ist es für Kant entscheidend, die „Vorstellung“¹⁸⁸ eines Moralgesetzes als das oberste Prinzip der Moralität gerade als etwas Vernünftiges gegenüber einem bloßen „Hirngespinst“ festzusetzen.
(c) Die „Festsetzung“ des Moralprinzips Wie gesehen, stellt der Erste Abschnitt der GMS deduktiv fest, (1.) dass nur das an und für sich selbst Gute das Objekt einer reinen Moral sein kann, indem nur es als objektiv, unbedingt und notwendig gelten kann. Daraus gehen (2.) die drei grundlegenden Sätze der gemeinen Vernunft hervor, nach denen es feststeht, (a) dass nur die aus Pflicht geschehende Handlung einen moralischen Wert hat; (b) dass der Wert einer Handlung nicht in der Absicht liegt, die dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, mithin im Prinzip, wonach sie beschlossen wird; (c) dass „Pflicht die Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz [ist]“.¹⁸⁹ Daraus wird im Ersten Abschnitt der Schluss gezogen, dass nichts als die aus dem formellen Prinzip des Wollens und aus guter Gesinnung ausgeübte Handlung moralisch ist. Dennoch enthält die „gute Gesinnung“ bzw. die „Achtung fürs Gesetz“ (von der jene eine Gestalt ist) metaphysisch problematische Implikationen, weil sie an und für sich nicht nachgewiesen werden kann. Daher lässt Kant sie beiseite und setzt, von der durch Analysis gelangten Definition der Pflicht ausgehend, das Moralprinzip fest: „ich soll niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“ (GMS, 402.07).
GMS, 401.11, 402.01/17, 410.26, 412.27, 413.09, 427.19, 428.36. Dazu siehe oben 7.1.2.2.
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Nun möchte ich diese Formulierung näher betrachten, um zu verstehen, wie sie entsteht und welche Grenzen sie darstellt, weshalb eine weitere Forschung, und zwar „Metaphysik der Sitten“ bzw. „reine Moralphilosophie“ im Zweiten Abschnitt betrieben werden soll. (1) Aus dem einleitenden Hauptsatz ist ersichtlich, dass hier ein „Prinzip“ (GMS, 402.07/11/15, 403.35) des moralischen Verhaltens ausgesprochen wird.¹⁹⁰ Hier wird ein Sollen angekündigt bzw. was getan werden soll. Es wird also darauf hingewiesen, worin die Pflicht besteht, moralisch zu handeln. Also steht dieser einleitende Hauptsatz „ich soll niemals anders verfahren als so“ für das Subjekt (nämlich „Pflicht“) des oben genannten dritten Satz, der die Definition der Pflicht darstellt. (2) Der letzte Satz spricht aus, was man formell zu tun hat bzw. worin die Tätigkeit in formaler Hinsicht bestehen soll: „meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“. Diese Aufforderung ist „formell“, indem sie nicht das von der Maxime unabhängige Ziel, mithin nicht die von der Handlung erwartete Wirkung, sondern nur die Form der Maxime als „subjective[s] Princip des Wollens“ (GMS, 400 Fn.) betrifft. Hierbei wird bestimmt, wie eine jede Maxime überhaupt sein soll, damit sie moralisch gelten kann. Insofern steht dieser Satz für das Attribut des oben genannten dritten Satzes: „die Nothwendigkeit einer Handlung“. Denn erst die Maxime als Handlungsregel (gemäß der das Subjekt gesetzlich handelt [siehe GMS, 420 f. Fn.]) kann der entsprechenden Handlung Notwendigkeit beilegen. (3) Durch den ersten Nebensatz bestimmt der Wille (als Vermögen bloß vernünftigen Wollens) die Tätigkeit der Willkür überhaupt (als Vermögen empirischen Wollens und Handelns): „daß ich auch wollen könne“. Der Wille als praktischen Vernunft liefert der Willkür durch das Moralprinzip ein „Richtmaß“ für die moralische „Beurteilung“ (siehe GMS, 403.37) und Selbstbestimmung.¹⁹¹ So begünstigt er eine unbedingt affirmative Haltung der Willkür vor dem inhärent Guten, obwohl sie als sinnlich affiziert auch Anderes begehren kann. Diese Haltung ist das, was Kant die „Achtung fürs Gesetz“¹⁹² (GMS, 400.19), die „Gesinnung, aus reiner Pflicht zu handeln“ (GMS, 406.10) oder auch die „sittlich gute Gesinnung“ (GMS, 435.29) nennt. Denn die Willkür, als vernünftiges Handlungsvermögen, erfasst die Unbedingtheit, Objektivität und Notwendigkeit des inhärent Guten, nämlich dasjenige, das alles Dazu siehe oben 7.1.2.4.2 (b) Zitat GMS, 402.04. Siehe oben 7.1.2.3 (b), (c). Wie vertreten (bes. siehe 7.1.2.4.1 (b), (c), (d), (e) ergibt sich die Achtung aus der Entstehung eines allgemeingültigen Moralprinzips bei einem vernünftigen, doch zugleich endlichen, sinnlichen Subjekt.
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andere Gute ermöglicht. Vom Standpunkt der Vernunft will sie es unmittelbar (siehe GMS, 420 Fn. 1). Demzufolge steht der erste Nebensatz des Prinzips („daß ich auch wollen könne“) für das Präpositionalobjekt des oben genannten dritten Satzes zur Definition der Pflicht: „aus Achtung fürs Gesetz“.¹⁹³ Die moralphilosophische Begründung und metaphysische Entfaltung dieses Prinzips wird Kant im Zweiten Abschnitt darlegen, und dessen Möglichkeit erst im Dritten Abschnitt des Werks begründen.¹⁹⁴ Zunächst erläutert Kant noch im Ersten Abschnitt (mithin auf der Ebene einer „gemeinen Menschenvernunft“, die Philosophie treibend an ihre Grenzen stößt) das grundsätzlich konzipierte Prinzip durch das Beispiel schlechthin für ein unmoralisches Verhalten, nämlich das falsche Versprechen und dessen Gegenteil, der Wahrhaftigkeit, und zieht den moralischen Wert von beiden in Betracht, sowohl hinsichtlich der Klugheit als auch der Sittlichkeit. Vom Standpunkt einer Verlegenheit aus könnte man die Lüge zwar wollen, um daraus zu entkommen. Aber umso klüger würde man handeln, wenn man wahrhaft wäre, da dadurch die „nachtheiligen Folgen“ der Lüge vermieden würden (siehe GMS, 402.33). Dennoch kann es manchmal zumindest vorteilhaft sein, zu lügen (siehe GMS, 402.37 f.). Daraus folgt, dass das Klugheitsprinzip keinerlei sicheres Richtmaß für die praktische Beurteilung erteilt. Demgegenüber bietet der Standpunkt des Moralprinzips eine sichere Antwort auf die Frage, ob ein lügenhaftes Versprechen moralisch richtig sein könnte: Denn man könnte zwar eine Lüge als Mittel zur Flucht aus einer Verlegenheit wollen. Aber man könnte nie „ein allgemeines Gesetz zu lügen“ wollen (GMS, 403.11). Der Sprachgebrauch und das Kommunizieren – umso mehr, wenn man lügt – implizieren die Wahrhaftigkeit: Man würde nie lügen, wenn man nicht davon ausginge, dass der Belogene die Aussage für wahr hält. Die Wahrhaftigkeit ist somit die transzendentale Bedingung selbst der Möglichkeit der Sprache überhaupt als grundlegendes Kommunikationsmittel. Daher würde ein allgemeines Gesetz zu lügen die Kommunikation und Verständigung grundsätzlich verhindern und zugrunde richten: Niemand könnte sich an das von Anderen Gesagte halten. Es wäre immer zweifelhaft, ob dies wahr oder falsch ist. So wäre sogar unmöglich und sinnlos, Bedienungsanleitungen für ein Gerät oder Anwendungsempfehlungen für ein Arzneimittel aufzusetzen. Man wüsste nie, wonach man sich richten Zum „Wollen-Können“ siehe unten 7.1.2.4.2 (d.4). Die Frage nach der Möglichkeit des kategorischen Imperativs taucht bereits im Zweiten Abschnitt der GMS auf (siehe GMS, 419.12), und zwar gerade vor der Formulierung desselben (siehe GMS, 421.07; dazu siehe unten 7.1.2.4.2 [c]). Jedoch schiebt Kant die Auflösung der Aufgabe zum Dritten Abschnitt auf (siehe GMS, 420.23, 452.31– 453.02, 453.16 ff.).
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könnte. Daher schließt Kant: „meine [sc. lügenhafte] Maxime [müsse], so bald sie zum allgemeinen Gesetze gemacht würde, sich selbst zerstören“ (GMS, 403.16): Sie könnte nur insofern bestehen, als sie mit der Wahrhaftigkeit verkleidet wäre; sobald sie verallgemeinert würde, würde sie sich selbst nicht aushalten (mithin zu ihrem Zweck nicht dienen) können. Die Verderbtheit der Lüge bzw. die „Würde“ der Wahrhaftigkeit liegt also nicht jeweils in ihrer Schädlichkeit bzw. Nützlichkeit für die Sprache, sondern in einem metaphysischen (kantisch ausgedrückt: transzendentalen) Grund. Daraus ist gerechtfertigt zu schließen, dass die Wahrhaftigkeit an sich moralisch gut, die Lüge dagegen an sich moralisch böse ist. Nun ist einerseits zu beachten, dass Kant die hier analysierte Formulierung („ich soll niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“ [siehe GMS, 402.04¹⁹⁵, 403.35]) zwar als „das Prinzip“ der Moral typisiert. Jedoch ist diese Formulierung eigentlich die Übersetzung der „allgemeine[n] Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt“, die übrig bleibt, wenn „ich [sc. Kant] den Willen aller Antriebe beraubt habe“ (GMS, 402.04). Strukturell fungiert dieses Prinzip nur als Grund des Theoriegebildes, innerhalb dessen die reinen moralischen Begriffe und Vorstellungen philosophisch (also nicht mehr durch die „gemeine Menschenvernunft“) bearbeitet werden. Davon ausgehend wird die allgemeine Formulierung des kategorischen Imperativs (siehe GMS, 421.06) festgestellt und ebenso die erste grundlegende Formel desselben, die Naturgesetz-Formel (siehe GMS, 421.18) untersucht. Andererseits sind die zwei ersteren Sätze betreffend die „aus Pflicht geschehende Handlung“ und den „moralischen Wert der Handlung“,¹⁹⁶ aus welchen die oben genannten Definition der Pflicht vermittelst der rationalen Analyse von Begriffen und Vorstellungen durch die „gemeine Menschenvernunft“ hergeleitet wird. Es handelt sich also nicht um eine empirische Induktion, die erfahrungsbzw. anthropologisch bezogen auf Beobachtungen gründet. Auf dieser Basis gelingt es Kant eine logische Definition der Pflicht anzubieten, die mehrere apriorische Elemente eingliedert, und zwar: die theoretischen Kate-
GMS, 402.04: „Hier ist nun bloße Gesetzmäßigkeit überhaupt (ohne irgend ein auf gewisse Handlungen bestimmtes Gesetz zum Grunde zu legen) das, was dem Willen zum Princip dient und ihm auch dazu dienen muß, wenn Pflicht nicht überall ein leerer Wahn und chimärischer Begriff sein soll; hiemit stimmt die gemeine Menschenvernunft in ihrer praktischen Beurtheilung auch vollkommen überein und hat das gedachte Princip jederzeit vor Augen“. Sie besagen nämlich, implizit (a) dass nur die aus Pflicht geschehende Handlung einen moralischen Wert hat; und explizit (b) dass „eine Handlung aus Pflicht ihren moralischen Werth nicht in der Absicht hat, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird“.
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gorien der Notwendigkeit und der Kausalität (welche dem Begriff der „Handlung“ zugrunde liegen), den praktischen Begriff des an sich Guten¹⁹⁷ und die „Voraussetzung“ (GMS, 447.08 f.) der Freiheit¹⁹⁸. Aber die Verwandlung dieser Pflichtdefinition in das Moralprinzip nimmt explizit noch ein weiteres Element auf, welches zuallererst den Ausgangspunkt aller moralphilosophischen Überlegung ausmachen soll, nämlich das menschliche Vermögen zu handeln und sich hierbei zu bestimmen: die Willkür¹⁹⁹. So wird die menschliche zusammengesetzte Willkür in den Zusammenhang mit dem Muster eines vollkommen guten Willens gestellt, dessen bloß reines (apriorisches) Wollen „ohne Einschränkung für gut [kann] gehalten werden“ (GMS, 393.06). Durch diese Zusammensetzung ergibt sich dann ein Prinzip, welches in sich verschiedene Begriffe und Ideen vereint. Daher wird Kant dieses, analog zu seinen Ergebnissen in der theoretischen Philosophie, einen „synthetischen-praktischen Satz a priori“ (GMS, 420.14) nennen: „Synthetisch“, weil es mehrere Elemente verbindet; „praktisch“, weil es den Gebrauch der Freiheit betrifft; und „a priori“, weil sowohl dessen konstitutiven Glieder als auch „die Wirklichkeit desselben [nicht] in der Erfahrung gegeben“ (GMS, 420.01) sind.
(d) Die Formulierung des Moralprinzips als ein Imperativ (d.1) Die Erörterung über die Möglichkeit der Imperative Im Zweiten Abschnitt der GMS wird die allgemeine Formulierung des kategorischen Imperativs (siehe GMS, 421.06) und ebenso die erste grundlegende Formel desselben, die Naturgesetz-Formel, festgestellt (siehe GMS, 421.18). Angekündigt werden beide im Anschluss an die Untersuchung der praktischen Notwendigkeit im engen Sinne (als Nötigung des Willens durch ein Handlungsprinzip) und im weiten Sinne (ausgedrückt in Handlungsregeln, die zwei verschiedene Sachverhalte als Ursache und Wirkung verknüpfen). Die Erörterung über die Möglichkeit der Imperative als Ausdruck einer Notwendigkeit ist das, was Kant schließlich zur sprachlichen Fassung des kategorischen Imperativs führt. Diese Frage betrifft nur die philosophische Ebene dessen,
Wie gezeigt (siehe oben 7.1.2.2), steht der praktische Begriff des an sich Guten im Zusammenhang mit der Kategorie der Notwendigkeit und auf ihn gründet sich das „moralische Gesetz“. Zum Verhältnis des Begriffs des Guten mit den Kategorien der reinen Vernunft siehe unten Anhang 5. Kant legt in der KrV die transzendentale Freiheit als ein „regulatives Princip der Vernunft“ fest (KrV, 375.13//A554/B582). Dazu siehe oben 7.1.2.3 und darunter (c).
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„wie bloß die Nöthigung des Willens[²⁰⁰], die der Imperativ in der Aufgabe ausdrückt, gedacht werden könne“ (GMS, 417.05). Die Fragestellung bringt angesichts der Spezifität der Notwendigkeit bei hypothetischen Imperativen keine Schwierigkeit mit sich. Denn ein hypothetischer Imperativ ist nur dann bindend, wenn man ein Ziel verfolgt, für dessen Erreichung der Imperativ die notwendigen adäquaten Mittel darstellt:²⁰¹ Das Ziel zu kennen ist die Bedingung oder Voraussetzung zur Bestimmung solcher Imperative.²⁰² Die angewiesene Handlung kann man (und wird man) nur als Teil eines Ganzen als notwendig denken (können). Diese Imperative nennt Kant wie die Sätze, die das Prädikat bereits im Subjekt enthalten, „analytisch“ (GMS, 417.11 und 417.29). Dagegen bedarf die Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit eines Imperativs als Notwendigkeit, dass sich eine jede freie Willkür eben als vernünftiges Wesen nach dem kategorischen Imperativ richten soll, d. h. als „synthetischpraktischer Satz a priori“ (GMS, 420.14), einer besonderen, und zwar apriorischen Untersuchung (siehe GMS 419.12 ff., Abs. 26 ff.). Denn zum einen liegt das praktisch-notwendige Verhältnis der Willkür zur Handlung bloß in der Handlung als Zweck selbst. (Aber, was heißt, ein „Zweck“ zu sein?). Und zum anderen kann es empirisch nicht geprüft werden, „ob es überall irgend einen dergleichen Imperativ gebe“ (GMS, 419.17), da sein praktisches Korrelat, nämlich die Gesinnung, nach der wir handeln, letztlich „nicht [wahrnehmbar]“ (GMS, 419.31) ist. Deswegen schiebt Kant die Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit eines kategorischen Imperativs (siehe GMS, 419.12 f., 426.27) auf den Dritten Abschnitt (GMS, 420.23, siehe GMS, 431.32) auf. Die weitere Aufgabe des Zweiten Abschnitts soll die Erörterung über die Möglichkeit sein, dass „die Vernunft für sich allein das Verhalten bestimmt“ (GMS, 427.16). Infolge dieser Frage führt Kant den zweiten „Übergang“, nämlich zur Metaphysik der Sitten durch (siehe GMS, 426.22 f.). Dieser erlaubt, sich in die Konzeption des Menschen als „Zweck an sich selbst“ (GMS, 428.08, siehe GMS, 427.19 f.) zu vertiefen, worauf die Bearbeitung sowohl der zweiten (siehe GMS, 429.10) als auch der dritten grundlegenden Formel (siehe GMS, 431.16) des kategorischen Imperativs fußt. Kant bedient sich der drei genannten Formeln, um die allgemeine Formulierung des Imperativs²⁰³ „der Anschauung zu nähern“²⁰⁴ (GMS,
Lies „Willkür“. GMS, 415.30: „wer den Zweck will, will auch (der Vernunft gemäß nothwendig) die einzigen Mittel, die dazu in seiner Gewalt sind“. GMS, 420.24: „Wenn ich mir einen hypothetischen Imperativ überhaupt denke, weiß ich nicht zum voraus, was er enthalten werde: bis mir die Bedingung gegeben ist“. GMS, 421.07: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“.
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437.04). Die Entfaltung der zwei ersteren grundlegenden Formeln des kategorischen Imperativs und die ganze sittlich-metaphysische Analyse führt zu dem Schluss, „das alleinige Prinzip der Moral“ (GMS, 440.28) sei die dritte Formel der Autonomie des Willens (siehe GMS, 431.14– 440.32). Damit wird die Aufgabe abgeschlossen, eine reine Moralphilosophie zu begründen, und somit eine neue Moraltheorie vollständig a priori dargestellt. Schließlich, während die Frage nach der Möglichkeit der Imperative bei den Hypothetischen „[bloß zur Erklärung] [ihrer] Wirklichkeit […] in der Erfahrung [nötig]“ ist, ist sie dagegen bei dem Kategorischen doch nötig, und zwar „zu [dessen] Festsetzung“ (GMS, 420.01, siehe GMS, 392.04). Die durchzuführende Untersuchung wird in zwei Momente zerfallen: – Zunächst soll noch in Gespräch mit der „populären sittlichen Weltweisheit“ (GMS, 406.02 ff., 412.17), und zwar anhand der bisherigen Ergebnisse, „versuch[t] [werden], ob nicht vielleicht der bloße Begriff eines kategorischen Imperativs auch die Formel desselben an die Hand gebe, die den Satz enthält, der allein ein kategorischer Imperativ sein kann“ (GMS, 420.18). Dies Moment soll uns noch in diesem Absatz (d) beschäftigen. – Zweitens soll auf dem Feld der „Metaphysik der Sitten“ (GMS, 426.22 ff.) untersucht werden, ob „die Vernunft für sich allein das Verhalten bestimmt, […] [was] sie […] nothwendig a priori thun muß“ (GMS, 427.16) und wodurch sich ihr Charakter als ein Zweck an sich selbst erweist. Denn erst dann kann die Frage beantwortet werden, ob „es ein nothwendiges Gesetz für alle vernünftige Wesen [ist], ihre Handlungen jederzeit nach solchen Maximen zu beurtheilen, von denen sie selbst wollen können, daß sie zu allgemeinen Gesetzen dienen sollen“²⁰⁵ (GMS, 426.22).
(d.2) Die sprachliche Fassung des kategorischen Imperativs Zuerst ist daran zu erinnern, dass das im ersten Abschnitt grundsätzlich festgesetzte Moralprinzip der „allgemeinen Gesetzmäßigkeit“ aus einer apriorischen Zusammensetzung von mehreren vernünftigen Elementen besteht, nämlich von dem Willen als Bestimmungs- und Handlungsvermögen, von dem praktischen Begriff des an sich Guten, von den reinen Kategorien der Notwendigkeit und Kausalität und schließlich von der „Voraussetzung“ (GMS, 447.08 f.) der Freiheit.²⁰⁶ Bzw. „dem Gefühle näher zu bringen“ (GMS, 436.13), sagt Kant auch. Die Antwort darauf wird Kant auch im Dritten Abschnitt geben, und zwar unter dem Titel „Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt“ (GMS, 448.23 ff.). Siehe oben 7.1.2.4.2 (c).
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Zweitens wissen wir aus den bisherigen Ergebnissen, dass freie Wesen wie Menschen weder chaotisch noch durch Naturgesetze vorherbestimmt wirken noch „unausbleiblich“ nach moralischen Gesetzen handeln. Sondern sie handeln gemäß ihrer Wahlfreiheit nach Regeln, die für sie nur zufällig gelten. Diese sind unterschiedlicher Natur je nach der Notwendigkeit, mit der sie die Willkür zur gebotenen Handlung – und zwar als Mittel oder Zweck – verbinden. So können sie die Ausübung der Handlung entweder aufgrund ihrer moralischen Beschaffenheit selbst wollen – wo die Handlung derselbe Zweck des Agierens ist –, oder wegen ihrer Tauglichkeit als Mittel zur Erlangung eines beliebigen Ziels. Drittens führen bereits die gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnisse dazu, „daß der kategorische Imperativ allein als ein praktisches G e s e t z laute“²⁰⁷ (GMS, 420.03). Das heißt, nur ein Imperativ, der etwas zu tun kategorisch (absolut unbedingt) gebietet, kann einwandfrei einen Zweck apodiktisch (absolut notwendig, unwiderlegbar) auferlegen und legitim Allgemeingültigkeit (d. h. für alle vernünftigen Wesen geltend, mithin Objektivität) beanspruchen. Viertens legt sich dem Menschen ein „formelle[s] Princip des Wollens überhaupt“ (GMS, 400.14) eigentümlich als ein „Gebot (der Vernunft)“ auf, „sofern es für einen Willen nöthigend ist“, „und die Formel des Gebots heißt I m p e r a t i v “ (GMS, 413.09). Fünftens ist noch ein unterscheidendes Merkmal zwischen den hypothetischen und kategorischen Imperativen, und zwar: Man kann durch die bloße Vorstellung eines „hypothetischen Imperativ[s] überhaupt […] nicht zum voraus [wissen]“ (GMS, 420.24), was zu tun ist; da sie nicht das gesuchte Ziel als Bedingung gibt, zu dem die Handlung als Mittel dienen muss. Hingegen weiß man sofort durch den bloßen Begriff des kategorischen Imperativs, was er enthält (siehe GMS, 420.26), nämlich dass die Maxime sich durch die bloße Gesetzmäßigkeit auszeichnen soll. Denn nur ein Gesetz überhaupt hat den Zug, allgemein zu sein. „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger“²⁰⁸ (GMS, 421.06). So ergibt sich daraus, dass das im ersten Abschnitt grundsätzlich formulierte Prinzip²⁰⁹ die Form eines Imperativs nimmt, der nämlich so lautet: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (GMS, 421.07).
Zur Erklärung dieses Schlusses siehe oben 7.1.2.4.2 bes. (c). Siehe GMS, 402.01, Abs. 17, 403.18, Abs. 19. Diese These vertritt Kant seit den 1770er Jahren, und zwar in seiner Vorlesung zur Moralphilosophie. Siehe oben 5.1 und 5.2.2. GMS, 402.07: „ich soll niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“.
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Damit wird die moralische Frage, „was ich also zu thun habe, damit mein Wollen sittlich gut sei“ (GMS, 403.18), formal beantwortet: Das Gebot bezieht sich nicht auf einen konkreten Inhalt²¹⁰ bzw. materiellen Zweck der Handlung, der in der Maxime zum Ausdruck gebracht wird, sondern nur auf die Beschaffenheit bzw. die Form der Maxime, mithin auf einen weiteren, und zwar formellen Zweck, dem eine jede Handlung unterliegt. Insofern zeichnet sich die Moral dadurch aus, dass ihr Gebot a priori ist. So bestimmt die Beschaffenheit des Gebotenen (des Zwecks bzw. der Maxime) die Beschaffenheit des Gebots: Erst ein inhärent, d. h. unbedingter guter Zweck²¹¹ kann absolut notwendig gut und einheitlich, d. h. an und für sich bzw. objektiv gut sein. Daher gebietet das moralische Gebot kategorisch, apodiktisch und allgemein (er verbindet unbedingt, unwiderlegbar und jederzeit und überall den Willen mit dem gebotenen Zweck). Demzufolge erlaubt die Formel des kategorischen Imperativs „wenigstens an[zu]zeigen, was wir dadurch [sc. durch die Pflicht] denken und was dieser Begriff sagen wolle“ (GMS, 421.12). Dadurch wird eine der im ersten Abschnitt aufgeworfenen (GMS, 397.06 ff.) und „aus dem gemeinen Gebrauche unserer praktischen Vernunft“ (GMS, 406.05) behandelten Aufgaben, nämlich die Bestimmung des Pflichtsbegriffs, nun mit einem „synthetisch-praktischen Satz a priori“ (GMS, 420.14) gelöst. Da bereits aufgeklärt wurde, woraus das Moralprinzip entsteht und wie und warum es in Form eines Imperativs vorzustellen ist, möchte ich mich jetzt auf ein genuin Kant’sches Element desselben konzentrieren, nämlich: Warum spricht Kant von „Wollen-Können“?
(d.3) Das „Wollen-Können“: ein praktischer Grund für die Sittlichkeit und ein theoretischer für die Unmöglichkeit eines Kardinalfehlers²¹² bei moralisch relevanten Willensbestimmungen Wie gezeigt²¹³, verfügt die freie Willkür wegen ihrer zusammengesetzten Natur über Wahlfreiheit: Sie kann sich entweder durch objektive Bewegungsgründe
Das ist der Fall der „Regeln der Geschicklichkeit“ und der „Ratschläge der Klugheit“ (GMS, 416.19). Wie anfangs erwähnt (siehe oben 7.1.2.2), besteht Kants Revolution gegenüber der Tradition in seiner Konzeption einer reinen Moralphilosophie, die eine neue, und zwar formale, d. h. auf den reinen Kategorien der Vernunft fußende Auffassung des Guten fordert. Dazu siehe unten Anhang 5. Die Entwicklung dieses Gedankens verdanke ich den philosophischen Gesprächen mit Claudia Laos (Barcelona / Santiago de Compostela). Siehe oben 7.1.2.3 (c).
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bestimmen, die sie vernünftig will, oder sich von sinnlichen Triebfedern der Neigungen mitreißen lassen²¹⁴, die sie zu befriedigen wünscht und die mit jenen (und dem objektiv Guten) konkurrieren. Dennoch ist das Bezeichnende der freien Willkür, dass sie das vernünftige Handlungsvermögen ist, wodurch die „Vernunft […] praktisch sein kann“ (GMS, 410.28), und zwar durch „Ableitung der Handlungen von Gesetzen“ (siehe GMS, 412.29). Daher ist das ihr gerechte Verhalten dasjenige, welches auf [Bewegungs] Gründen des vernünftig Wollens fußt. Diese Gründe stimmen eben mit dem beim Menschen – auch bei dem „ärgsten Bösewicht“ (GMS, 454.21) – anwesenden, objektiven sowie subjektiven Bestimmungsgrund der Vernunft überein, nämlich mit der Vorstellung des Moralgesetzes und mit der daraus erzeugten Achtung (verstanden als das vernünftige Wollen bei einem endlichen Wesen). Demzufolge wird das vernünftige Wollen als „der Kanon der moralischen Beurtheilung derselben [sc. der Maxime der Handlung] überhaupt“ fungieren. „Man muß wollen können, daß eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde“ (GMS, 424.01). Die moralische Maxime charakterisiert sich nicht bloß dadurch, dass sie logisch bzw. intrinsisch denkbar ist (siehe GMS, 424.05). Denn die Maximen, Hilfe zu verweigern, oder eigene Vermögen und Naturanlagen zu vernachlässigen (siehe GMS, 423.17,02), stellen anscheinend kein intrinsisches Hindernis für ihr eigenes Dasein dar, wären als ein allgemeines Gesetz nicht widersprüchlich und insofern möglich. Tatsächlich ist nach Kant eine Welt der Faulenzer, eine Welt der Egoisten oder sogar eine Welt der egoistischen Faulenzer, wo die angeführten Handlungsprinzipien verallgemeinert würden, doch denkbar und möglich. ²¹⁵ Aber keineswegs entsprechen solche Prinzipien und Gebilde Kants begrifflicher Entfaltung der praktischen Notwendigkeit zur apodiktischen Verknüpfung des Willens mit dem Zweck durch einen Imperativ, der Allgemeingültigkeit beinhaltet. Infolgedessen stiftet weder die bloße (quantitative) Verallgemeinerbarkeit²¹⁶ noch das (bloß logische) Denken(‐Können) Moralität. Die Aufforderung des Wollen-Könnens, das jeder moralischen Maxime zugrunde liegen soll, geht über die bloße Verallgemeinerbarkeit und über die Vermeidung der Widersprüchlichkeit der Maxime hinaus. Dies weist auf, dass die Auffassung des kategorischen
Die natürlichen Bedürfnisse bringen auf einem interessierten Vernunftgebrauch fußend neue geschaffene, nicht mehr natürliche Neigungen hervor. Diese Auffassung der Neigungen als geschaffene, ausgeartete, perfide Bedürfnisse vertritt auch Rousseau 1755, II. Abs. 13, 57. Kant selbst spricht in der Friedensschrift 1795 von einem möglichen „Volk von Teufeln“ (ZeF, AA 08: 366.16). Vergleiche Höffe 1977, 356, 370 ff. der die Aufforderung des kategorischen Imperativs („das als-allgemeines-Gesetz-Wollen-können“) als „das Verfahren der Verallgemeinerung“ versteht.
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Imperativs in Analogie zu einem mathematischen Testverfahren (mit dem die moralische Richtigkeit einer Maxime kalkuliert und geprüft werden könnte²¹⁷) von einem partiellen, reduktionistischen, bloß auf logische Kategorien angewiesenen Verständnis des kategorischen Imperativs herrührt. Eine moralische Maxime soll sich also, nicht nur durch ihre logische Konsistenz, sondern auch durch eine innere Beschaffenheit auszeichnen, wodurch sie auch frei und allgemein gewollt werden kann (siehe GMS, 424.03). Dies ist dasjenige, was der Maxime eigens „Allgemeingültigkeit“ (siehe GMS, 424.24)²¹⁸ erteilt: Daher eine jede Maxime, die gewollt werden kann, ist auch denkbar, während es möglich ist, dass eine Maxime, die bloß (rational) denkbar ist, zugleich nicht vernünftig gewollt werden kann. Die gemeinte Beschaffenheit fordert, von allem Subjektiven, Bedingten und Zufälligen abzusehen. – Alles, was durch „irgend eine[] subjective[] Disposition oder Geschmack [empfohlen]“ wird (siehe GMS, 435.18), ist erstens mit hypothetischer Notwendigkeit behaftet, mithin kann gerecht nicht aufgefordert werden.²¹⁹ Und zweitens kann es nur dann gewollt werden, wenn man mit eben derselben Disposition oder demselben Geschmack zusammenstimmt. Dementsprechend charakterisiert sich durch Allgemeingültigkeit diejenige Maxime²²⁰, die einen Zweck aufgrund seines objektiven, unbedingten und notwendigen Charakters apodiktisch setzt, weswegen sie doch frei und allgemein gewollt werden kann. Damit wird einerseits der praktische Grund dafür gegeben, dass die Sittlichkeit im Hinblick darauf kein „bloßes Hirngespinst“ (GMS, 407.17) ist, dass sie, ohne das handelnde Subjekt zu überfordern, verlangt werden kann. Andererseits lassen die theoretischen Implikationen des vernünftigen Wollens auch den theoretischen Schluss zu, dass man bei seinen moralisch relevanten Willensbestimmungen unmöglich einen Kardinalfehler begehen kann: Das mit Vernunft und freier Willkür begabte Wesen ist immer ein potenziell vernünftig Handelnder. Bereits anhand eines gemeinen Gebrauchs der Vernunft kann er/sie (a) sich den objektiven Bestimmungsgrund des Moralgesetzes vorstellen²²¹ und (b) des subjektiven Bestimmungsgrunds der reinen Achtung vor dieser Vorstellung inne-
Vergleiche Korsgaard 2009, 10, Höffe 1977, 365 ff. und Zimmermann 2011, 52, 56, Fn. 115. Siehe GMS, 433.19, 437.37, 438.02, 449.32, 458.15, 459. Fn., 461.27, 462.14. Will ich nicht das Ziel der Maxime, dann brauche ich nicht die Handlung zu wollen (siehe GMS, 417.22). Unter „Maxime“ darf hier verstanden werden sowohl die Disposition, die ein Subjekt von vornherein vor dem Moralprinzip – ihm zu folgen oder nicht – hat, als auch eine jede besondere Handlungsregel bzw. das „subjektive Prinzip des Wollens“ oder die „Absicht“. Dies kann als Vorbegriff der Lehre zum Faktum der Vernunft angesehen werden, welches Kant in der 1788 erschienenen KpV vorstellt.
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werden. Beide Elemente können dann zu einem vernünftigen Willensgebrauch führen, d. h. zur „Ableitung der Handlungen von Gesetzen“ (siehe GMS, 412.29). In dieser Hinsicht ist die Handlung immer auf den Handelnden zurückzuführen. Diese Zurechenbarkeit fußt aber nicht nur negativ auf seiner Unabhängigkeit von äußeren Triebfedern, sondern auch positiv auf seiner Spontaneität: der Handelnde und nur er schafft die Maximen all seiner Handlungen. Folgt man hierbei dem reinen Willen, der sich bloß nach Begriffen und notwendigen Ideen der Vernunft richtet, so findet er damit eine Antwort auf die Frage seiner Willkür: „was ich also zu thun habe, damit mein Wollen [²²²] sittlich gut sei“ (GMS, 403.18).
(d.4) Das „Wollen-Können“ gegenüber dem Verallgemeinerungsprinzip und der Goldenen Regel Aus dem Ausgeführten geht hervor, dass der kategorische Imperativ weder aus bloß rationalen Elementen noch in einem bloß subjektiven Wollen besteht. Vielmehr fordert er das mögliche, weil allgemeingültige Wollen der Handlungsmaxime. Mithin unterscheidet er sich sowohl vom Verallgemeinerungsprinzip als auch von der Goldenen Regel.²²³ Das Verallgemeinerungsprinzip hat seinen historischen Ausgangspunkt in der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. Der Rechtslehrer Johann Balthasar Wernher hat es 1698 – 99 im Rahmen einer Vorlesung dargestellt und in seinen 1704 publizierten Elementa dem weiten Publikum bekannt gemacht: „Was dem einen erlaubt ist, ist auch allen anderen erlaubt!“²²⁴. Das Prinzip entstand als eine richtige Methode, das Natur- und Völkerrecht zu untersuchen,²²⁵ und besteht aus einer zweiteiligen Regel, nämlich: Die Unterlassung bzw. Ausübung einer Handlung sei jeweils geboten bzw. verboten, wenn sie den Untergang der Menschheit mit sich bringen sollte.
Hervorhebung: ACGX. Aus diesem Zitat geht hervor, dass die der moralphilosophischen Begründung zugrunde liegende Frage nicht mehr nach einem Objekt der Handlung sucht, das realisiert werden soll („Was soll ich thun?“ [KrV, 522.33//A805/B833] „Thue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein“ [KrV, 525.12//A808/B836]), sondern nach der Beschaffenheit des Wollens, das einer jeden Handlung vorausgeht. Die im Folgenden verwendeten philosophischgeschichtlichen Kenntnisse sind auf Hruschka 1987 zurückzuführen, doch nicht die daraus gezogenen Schlüsse. Wernher 21705, 125 (zitiert durch Hruschka 1987, 945). Wenn ein einziges Mitglied das Recht hat, dann kann dieses nicht den anderen verweigert werden (so auch Rutherforth 1756, 35; nach Hruschka 1987, 944). Das Argument findet sich in der Frage: „What must become of the world, if such practices prevail? How could society subsist under such disorders?“ (Hume 1751 [T. H. Green & Th. H. Grose (Hg.), 1882, Bd. 4, 167 ff., 196]; nach Hruschka 1987, 944). Siehe Hruschka 1987, 945.
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Der kategorische Imperativ ist aber mit dem Verallgemeinerungsprinzip aus den folgenden Gründen nicht austauschbar: 1.) unterliegt dem Verallgemeinerungsprinzip der Gleichheitssatz. Es kann daher nicht als ein ursprüngliches, unabhängiges, allgemeingültiges Prinzip gelten, da der Gleichheitssatz selbst kein allgemein notwendig geltendes Satz ist, sondern Abweichungen duldet; 2.) ist der Maßstab des Verallgemeinerungsprinzips „das Wohl und Wehe der menschlichen Gattung“²²⁶. Wohl und Wehe verschaffen aber erneut keine allgemein notwendig geltende Richtschnur, sondern bedürfen einer Begründung²²⁷, die sogar mit einer allgemeinen empirischen Kenntnis von den möglichen Konsequenzen²²⁸ einer jeden Handlung begleitet werden soll. Denn selbst die Antwort auf die Frage, ob Durchführung oder Unterlassung einer Handlung verheerend für die Menschheit und nicht bloß für die bürgerliche Gesellschaft ist,²²⁹ setzt ein vorhergehendes, und zwar allgemeines Wissen darüber voraus, was schädlich für die Entwicklung der Menschheit sein kann (auf erzieherischer und gesellschaftlicher, oder der rechtlichen und politischen, oder der biomedizinischen und technischen Ebene, usw.). Da jede Person und jeder Umstand unterschiedlich ist, so ist ein solches Wissen unmöglich; 3.) geht das Verallgemeinerungsprinzip bloß auf die logische Konsistenz, somit die Forderung der Widerspruchslosigkeit der Maxime zurück.²³⁰ Ihrerseits betrifft die Goldene Regel²³¹ zwar das Wollen, wie der kategorische Imperativ es tut. Aber es handelt sich nicht um ein objektiv, unbedingt, notwendig gutes, weil apriorisches Wollen, mithin drückt sie nicht die Forderung des „Wollen-Könnens“ aus. Die Goldene Regel ist kein klares und deutliches Axiom, da sie begründet werden muss: Ihr liegt – wie dem Verallgemeinerungsprinzip – der Gleichheitssatz und außerdem der Maßstab zugrunde, nämlich was ein jeder auf der einen Seite für gut, vorteilhaft, wohl oder auf der anderen, böse, nachteilig,
Hruschka 1987, 945. Denn es „lässt sich […] keine einzelne moralische Regel denken, für die man nicht mit vollem Recht eine Begründung verlangen kann“ – so Locke (1690 [1975, Book I, Chap. III, § 4, 68]) nach Hruschka 1987, 948. Siehe Paley 1785, zitiert durch Hruschka 1987, 947. Siehe Hruschka 1987, 945. Dazu siehe oben 7.1.2.4.2 (d.3). Deren positive und negative Fassungen lauten: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst“; „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu“.
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weh hält. Insofern ist sie mit dem soeben im zweiten Punkt erläuterten Hindernis beim Verallgemeinerungsprinzip behaftet. Daraus geht hervor, 1.) dass die Goldene Regel sich auf das Wollen einer Handlung (als Mittel zu einem Ziel) und nicht auf das Wollen einer Handlungsmaxime als allgemeines Gesetz konzentriert; 2.) dass sie nicht zwischen Ungleichen²³² bzw. nur unter der „ceteris paribus“Klausel²³³ richtig angewandt werden könnte; 3.) dass sie auch nur für gerechtfertige Ansprüche²³⁴ angenommen werden könnte. – Aber hier stellt sich die Frage: Wie soll ein „gerechtfertiger Anspruch“ definiert werden? Die Goldene Regel vermag nicht, die Frage zu beantworten, ist also selbst keine definitive Richtschnur zur moralischen Beurteilung. – Also ist der Missbrauch der Regel immer möglich,²³⁵ indem sie auf dem bloß subjektiven Wollen des Subjekts als kontigenten Wesens fußt; 4.) und schließlich: „enthält [sie] nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst[²³⁶], nicht der Liebespflichten gegen andere (denn mancher würde es gerne eingehen, daß andere ihm nicht wohlthun sollen, wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohlthat zu erzeigen), endlich nicht der schuldigen Pflichten gegen einander; denn der Verbrecher würde aus diesem Grunde gegen seine strafenden Richter argumentiren[²³⁷], u. s. w.“ (GMS, 430 Fn.).
Aus diesen Gründen ist auch die Goldene Regel aus einer reinen Moraltheorie auszuschließen und kann nicht dem kategorischen Imperativ gleichkommen.
Siehe Thomasius 1688, Lib. I Cap. IV, § 18, nach Hruschka 1987, 943. Denn bei disparaten Umständen der betroffenen Menschen führt die Goldene Regel zu „unannehmbaren Ergebnissen“. So kann z. B. der Richter dem Angeklagten nicht verurteilen, oder man kann dem preistreibenden Krämer nicht dazu verpflichten, selbst überzogene Preise zu bezahlen (so Hutcheson 1755 [1969, Bd. 6, 16 Fn.], nach Hruschka 1987, 942). Zur kritischen Position von schottischen und englischen Philosophen gegenüber der Goldenen Regel siehe Hruschka 1987, 942 f. Siehe Schwarz 1722 [1738, 13], „der […] noch einmal die Angewiesenheit der Goldenen Regel auf einen vorgängigen Maßtab und ihre Mißbrauchsmöglichkeit hervorhebt“ (Hruschka 1987, 944). Siehe Thomasius 1688, Lib. I Cap. IV, § 18, nach Hruschka 1987, 943. Siehe Pufendorf 1672 [21684, Lib. II Cap. III § 13 am Ende], Hutcheson 1755 [1969, Bd. 6, 16 Fn. (nach Hruschka 1987, 942).
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(e) Die Formeln des kategorischen Imperativs hinsichtlich der Autonomie-Formel An dieser Stelle wollen wir kurz innehalten, um uns erneut an das Ziel dieser Dissertation zu erinnern und die weiteren Schritte vorzuzeichnen. Denn mein Anliegen ist weder, einen ausführlichen Kommentar zur GMS anzubieten, noch eine vertiefende Studie zum Autonomiebegriff in der GMS zu liefern. Sondern die gesamte Untersuchung dieser Dissertation zielt auf eine genetische Rekonstruktion des moralphilosophischen Werdegangs und der Entstehung des Begriffs der moralischen Autonomie bei Kant von 1762 bis 1785. Mit dem Untersuchungsziel in toto vor Augen ist der Gegenstand dieses Absatzes der folgende: Nicht nur aus zeitlichen sowie räumlichen Gründen, sondern auch aus methodischen²³⁸ und aber vornehmlich philosophischen Gründen werde ich hier die unterschiedlichen Formeln des kategorischen Imperativs nicht einer genauen philosophischen Analyse (mit Blick auf eine möglichst innovative Exegese derselben) unterziehen. Diese Entscheidung findet philosophische Unterstützung im handfesten Grund, dass Kant selbst am Ende des zweiten Abschnittes „die Autonomie des Willens als das oberste Princip der Sittlichkeit“ (GMS, 440.14) vorstellt und von ihr sogar behauptet, dass sie „das alleinige Princip der Moral sei, [was²³⁹] sich durch bloße Zergliederung der Begriffe der Sittlichkeit gar wohl darthun [läßt]“ (GMS, 440.28). Damit bin ich zu einer der zwei Hauptfragen angekommen, die diese Dissertation auslösten und die aufgeklärt werden sollen: Warum hielt Kant das Prinzip der Autonomie für das oberste Prinzip der Sittlichkeit?²⁴⁰ Um dies zu klären, werde ich mich also zwar mit dem kategorischen Imperativ sowohl als Naturgesetz- als auch als Zweck-an-sich-selbst-Formel beschäftigen, aber nur aus den philosophischen Gründen, (1.) dass die Naturgesetz-Formel die „Form“, die Zweck-an-sich-selbst-Formel die „Materie“ einer jeden moralischen Maxime bestimmt (GMS, 436.13); und (2.) dass der Argumentationsgang in der GMS die Formel der Autonomie aus den zwei Genannten folgen lässt: Wie anfangs der Arbeit hingewiesen, halte ich mich aus der bloß systematischen Diskussion heraus. Siehe oben Hinweis zur Lektüre und Einleitung, 3 (a). Zusatz ACGX. In der Sekundärliteratur bekommt die Auslegung Gewicht, die dafür plädiert, dass die oberste Formel des kategorischen Imperativs die Zweck-an-sich-selbst-Formel ist. (Dazu siehe Yovel 2001, 297, der vertritt, dass die Zweck-Formel nicht aus der allgemeinen Formulierung abgeleitet werden kann und dass der erste Schritt der Moralität nicht so sehr die „universalization“ als „to recognize every other rational being as „end in itself“ and an equal moral partner“). Dagegen sind jedoch mehrere Passagen der GMS mit dem Schluss Kants übereinstimmend, beispielsweise: „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ (GMS, 436.06). Ebenso siehe GMS, 435.05 – 09.
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„Es liegt nämlich der Grund aller praktischen Gesetzgebung objectiv in der Regel und der Form der Allgemeinheit, die sie ein Gesetz (allenfalls Naturgesetz) zu sein fähig macht (nach dem ersten Princip), subjectiv aber im Zwecke; das Subject aller Zwecke aber ist jedes vernünftige Wesen, als Zweck an sich selbst (nach dem zweiten Princip): hieraus folgt nun das dritte praktische Princip des Willens, als oberste Bedingung der Zusammenstimmung desselben mit der allgemeinen praktischen Vernunft, die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens“ (GMS, 431.09 – 18).
Allerdings ist auch auf Kants Schluss aufmerksam zu machen: „Die angeführten drei Arten, das Princip der Sittlichkeit vorzustellen, sind aber im Grunde nur so viele Formeln eben desselben Gesetzes, deren die eine die anderen zwei von selbst in sich vereinigt. Indessen ist doch eine Verschiedenheit in ihnen, die zwar eher subjectiv als objectiv-praktisch ist, nämlich um eine Idee der Vernunft der Anschauung (nach einer gewissen Analogie) und dadurch dem Gefühle näher zu bringen“ (GMS, 436.09 – 13).
Aber das Übergewicht der Autonomie-Formel gegenüber den anderen Formeln und sogar der allgemeinen Formulierung des kategorischen Imperativs wird erstens dadurch betont, dass die dritte Formel der Autonomie die zwei Ersteren „in sich vereinigt“; und zweitens dadurch, dass Kant am Ende des Abschnittes die Autonomie des Willens – und keine andere der dargestellten Formeln – „als das oberste Princip der Sittlichkeit“ vor- und feststellt.²⁴¹
(e.1) Die erste Formel des kategorischen Imperativs Für Kants moralphilosophischen Werdegang ist, wie bereits erwähnt, Newtons Fund eines allgemeinen Gravitationsgesetzes von Belang, welches das Universum im Ganzen beschreiben soll. Dieses ist vornehmlich von der Allgemeinheit bestimmt, dank deren ein Gesetz als ein Mittel, physikalische Zusammenhänge aufzuklären und vorherzusehen, fungiert.
Kant kündigt auf den letzten Seiten vom zweiten Abschnitt noch zwei Varianten des kategorischen Imperativs an. Die vierte Formel gilt als dessen allgemeinste selbstreflexive Form und lautet: „handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann“ (GMS, 436.31 f.). Die fünfte Formel entsteht aus der „Analogie“ zwischen der Gesetzlichkeit des Willens und der Naturgesetzlichkeit als zweierlei Verknüpfungen vom Gesetz mit Handlungen (im ersteren Fall) oder mit natürlichen Zusammenhängen (im zweiten Fall) (siehe GMS, 437.13): „handle nach Maximen, die sich selbst zugleich als allgemeine Naturgesetze zum Gegenstande haben können“ (GMS, 437.17). Da diese (von der Sekundärliteratur leider übersehenen) Formeln nicht zur Entstehung der Autonomie-Formel beitragen und erst nach deren Ausarbeitung (GMS, 431.14– 433.11) vorkommen (die vierte Formel wird als Abschluss von der Lehre eines Reichs der Zwecke [GMS, 433.12– 437.04], die fünfte Formel aber, im Rahmen eines Fazits angekündigt [GMS, 437.05 – 440.13]), werde ich mich hier damit nicht beschäftigen.
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Vermutlich nach diesem Vorbild der neuzeitlichen Naturwissenschaft konzipiert Kant das moralphilosophische Vorhaben, ein einziges Prinzip der Moralität festzulegen: Nur auf einer solchen Basis kann man eine reine Moral gründen und sich den Gegnern der Moral widersetzen. Zudem sucht Kant unserem Verhalten eine praktische Richtschnur zu verschaffen, woraus konkrete moralische Handlungsregeln entlehnt werden sollen. Darum hat diese sowohl eine Form als auch eine Materie. Mit Blick auf die Bestimmung der Form einer jeden moralischen Maxime formt Kant die erste Formel des kategorischen Imperativs um, und zwar zunächst, indem er auf dessen ausnahmlose Allgemeinheit – angeblich²⁴² einem Naturgesetz zu eigen – Wert legt. So lautet sie: „handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum a l l g e m e i n e n N a t u r g e s e t z e werden sollte“ (GMS, 421.18).
Diese Formel erhält die drei Elemente, aus denen die allgemeine Formulierung des kategorischen Imperativs besteht, nämlich: (a) die Maxime und deren Handlung (die den Begriff der Kausalität – durch Freiheit – impliziert), (b) den Willen (als Handlungsvermögen, d. h. als Willkür) und (c) das Gesetz (als einen vom Begriff der Notwendigkeit²⁴³ abgeleiteten²⁴⁴ reinen Begriff). – Gemäß ihrem Ort innerhalb des Argumentationsgangs markiert diese erste Formel²⁴⁵ die „Erklärung“ (siehe GMS, 431.32)²⁴⁶ der „Pflicht“ als „praktisch-unbedingte[r] Nothwendigkeit der Handlung“²⁴⁷ (GMS, 425.16). Ein neues Element ist die Charakte-
Siehe oben 7.1.2.4.2 (b). Siehe oben 7.1.2.4.2 (c). Siehe KrV, 094.09//A081 f./B107 f. GMS, 425.01: „Wir haben so viel also wenigstens dargethan, daß, wenn Pflicht ein Begriff ist, der Bedeutung und wirkliche Gesetzgebung für unsere Handlungen enthalten soll, diese nur in kategorischen Imperativen, keinesweges aber in hypothetischen ausgedrückt werden könne; imgleichen haben wir, welches schon viel ist, den Inhalt des kategorischen Imperativs, der das Princip aller Pflicht (wenn es überhaupt dergleichen gäbe) enthalten müßte, deutlich und zu jedem Gebrauche bestimmt dargestellt“. GMS, 431.25: „Die Imperativen nach der vorigen Vorstellungsart, nämlich der allgemein einer Naturordnung ähnlichen Gesetzmäßigkeit der Handlungen, oder des allgemeinen Zwecksvorzuges vernünftiger Wesen an sich selbst, schlossen zwar von ihrem gebietenden Ansehen alle Beimischung irgend eines Interesse als Triebfeder aus, eben dadurch daß sie als kategorisch vorgestellt wurden; sie wurden aber nur als kategorisch angenommen, weil man dergleichen annehmen mußte, wenn man den Begriff von Pflicht erklären wollte“. GMS, 421.09: „Wenn nun aus diesem einigen Imperativ alle Imperativen der Pflicht als aus ihrem Princip abgeleitet werden können, so werden wir, ob wir es gleich unausgemacht lassen, ob nicht überhaupt das, was man Pflicht nennt, ein leerer Begriff sei[*], doch wenigstens anzeigen
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risierung der Maxime als ein „Naturgesetz“. Dadurch gewinnt man ein Muster davon, was es heißt, dass eine Maxime die Form der Allgemeinheit haben soll. Und das ist: Dass sie jederzeit und überall, für jedermann gilt. Merkwürdig aber wirkt der irreale Charakter, in den uns diese erste Formel durch die Einleitung des Nebensatzes mittelst eines „als ob“ und durch das konjunktivische Präteritum „sollte“ versetzt. Dazu möchte ich zunächst an meine Fußnote 59 im fünften Kapitel²⁴⁸ zu der „activen Verbindlichkeit“ und den moralischen Imperative als „lege naturale“ anknüpfen: Kant unterscheidet in der Vorlesung zwischen der „activen“ und „passiven“ Verbindlichkeit, sobald die Quelle derselben entweder innerlich (aus einem selbst) oder äußerlich (aus jemand anderem zu verdanken) ist. Hierzu ist wichtig, darauf zu achten, dass er die moralischen Imperative der aktiven Verbindlichkeit bloß wegen der unbedingt guten Beschaffenheit der Handlungen, die sie gebieten, „leges naturales“ nennt. Das heißt, sie sind ihrer Natur nach verbindlich. Trotzdem wird man nur dann moralisch handeln, wenn man aus „der Gesinnung und Bestimmung des Willens der Regel ein Gnüge zu thun“ (V-Mo, 051.08/063), seine Verbindlichkeiten erfüllt. Zurück in die GMS: Dass Kant den kategorischen Imperativ als NaturgesetzFormel formuliert, gibt uns m. E. zweierlei Auskunft, einerseits, von der Form der Allgemeinheit, die unsere Maximen haben sollen, damit man sie für moralisch halten kann: Das Muster eines Naturgesetzes dient uns dazu zu erklären, was die Allgemeinheit einer Maxime heißen soll, nämlich dass sie jederzeit und überall gilt. Andererseits weist dieses Muster auch auf die besondere Beschaffenheit der Maxime hin: Sie ist an und für sich selbst, d. h. unbedingt gut. Deswegen hat sie erstens die Form der Allgemeinheit und zweitens macht man sie motu proprio zur Maxime. Denn erst diese Beschaffenheit erteilt ihr die „praktisch-unbedingte Nothwendigkeit“ (GMS, 425.16), welche die moralische Pflicht ausmacht und die zusammengehörige Selbstbestimmung fordert. Daraus soll geschlossen werden, dass die erste Formel des kategorischen Imperativs nicht nur die Form der Allgemeinheit, sondern auch die Materie aller moralischen Maximen bestimmt, und zwar im an sich Guten. Die irreale Ausdrucksweise dieser Formel kann auf zweierlei zurückgeführt werden:
können, was wir dadurch [sc. durch den Begriff der Pflicht] denken und was dieser Begriff sagen wolle“. [*] GMS, 425.06: „(wenn es überhaupt dergleichen gäbe)“ (siehe oben das vollständige Zitat GMS, 425.01 in meiner Fn.). Siehe oben 5.1.3.6.1.
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(1.) dass man weder von der inneren Notwendigkeit seiner Maximen noch von der guten Gesinnung (den beiden Grundpfeilern aller Moralität) Erfahrung hat und beide letztlich nicht bestätigen kann;²⁴⁹ (2.) dass das Naturgesetz gerade bloß zu einem von Allen begreiflicheren Vorbild der Allgemeinheit dient. Denn, obwohl die Naturgesetze ein Muster von jederzeit und überall geltenden Regeln bieten, werden sie trotzdem, wie gezeigt,²⁵⁰ zuallerletzt anhand der empirischen Methode aus der Beobachtung von äußeren Zusammenhänge hergeleitet. Deshalb können sie nur mit Vorbehalt als Muster dienen.
(e.2) Die zweite Formel des kategorischen Imperativs Wie anfangs des Kapitels gesagt,²⁵¹ ist das absolut Gute die Materie der reinen Moral als Disziplin. Es handelt sich aber nicht um eine leere Idee, sondern um den Gegenstand des vernünftigen Wollens. Der Wille ist das Vermögen, wodurch vernünftige Wesen handeln; also ist das Wollen die Tätigkeit, welche unser Handeln auslöst. Daher schlägt Kant die Vorstellung eines guten Willens (welcher richtig, d. h. nach reinen Prinzipien will und sich dementsprechend an sich gute Zwecke vornimmt) als Muster und spezifischen Zweck der reinen Moral vor. Daraus ergibt sich der Unterschied zwischen Zwecken und Zielen: Während erstere zu der Menschen spezifisch moralischem Zweck beitragen, beziehen sich letztere aber auf problematische Ziele sowie auf die wirkliche Absicht des Glücklichseins. Dieser einleitende Gedanke bindet sich an die Funktion, die die Zweck-an-sichselbst-Formel erfüllt, nämlich die Materie des kategorischen Imperativs zu bestimmen: Welcher Zweck soll allen meinen Maximen unterliegen?, bzw.: Welcher Zweck prägt alle moralichen Maximen? Auf der Basis der bereits mehrmals verwendeten begrifflichen Unterscheidungen zwischen „Zweck“ und „Mittel“ (siehe GMS, 395.25 – 26; 396.21 u. 35, 414– 417) sowie „formal“ und „material“ (siehe GMS, 400.11– 16, 416.10 – 14) arbeitet Kant jetzt systematisch diese samt den Unterscheidungen zwischen „Bewegungsgrund“²⁵² und „Triebfeder“, „absolutem Wert“ und „relativem“ bzw. „be-
Dazu siehe GMS, 406.10 f. und oben 7.1.2.4.1 (e) [letzten Absatz]. Siehe oben 7.1.2.4.2 (a) [besonders das, was der Unterschied zwischen den per Induktion abstrahierten und per Deduktion abgeleiteten Gesetzen betrifft]; 7.1.2.4.2 (b) [darunter insbesondere die Unterschiede zwischen Moral und Physik, weshalb keine geeignete Analogie zwischen beiden Disziplinen gezogen werden kann]. Siehe oben 7.1.2.3. Häufig ist Kant beim Gebrauch der Begrifflichkeit nicht treu. Zu „Bewegungsgrund“ mit anderen Wortbedeutungen siehe GMS, 389.22, 389.37, 401.05, 403.32.
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dingtem Wert“, „Personen“ und „Sachen“ aus (siehe GMS, 427.19 – 428.02, 428.11– 33). Anhand dessen wird das grundlegende Konstrukt eines „Zwecks an sich selbst“ vorgestellt, worauf sich der Rest des Gebäudes der reinen Moral, nämlich der Metaphysik der Sitten stützt: „Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Werth hat, was als Zweck an sich selbst ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm und nur in ihm allein der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Gesetzes, liegen“ (GMS, 428.03).
Denn „wenn […] aller Werth bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte für die Vernunft überall kein oberstes praktisches Princip angetroffen werden“ (GMS, 428.31). (Dagegen sprechen jedoch alle bisher erlangten Ergebnisse in Bezug auf den Pflichtbegriff, obwohl die Wirklichkeit eines solchen Prinzips letztendlich unbeweisbar ist). Nun braucht sowohl das Gebilde eines „Zwecks an sich selbst“ als auch die Auszeichnung eines „absoluten Werts“ manche Erläuterungen.²⁵³ – In Hinsicht auf die biologische Konnotation des Begriffs eines „Zwecks an sich selbst“²⁵⁴ ist ein Zweck dasjenige, das als Ganzes für sich selbst besteht. Auf das Feld der reinen Moral übertragen bezeichnet dieser das vernünftige Wesen, das sich in der Bestimmung seines Willens²⁵⁵ selbst genügt, d. h. autark ²⁵⁶ ist. Ein solches Wesen, das Ursprung (und sogar Zweck) seiner eigenen Handlungsregeln (bzw. Gesetze) ist, ist eben darum ein im weiten
Im Folgenden werden die Ergebnisse zusammengefasst, die ein mit meiner Erstbetreuerin Prof. Begoña Román gemeinsamer Beitrag zum Kongress Jornadas de Diálogo Filosófico 2007 (Salamanca) brachte. Dazu siehe Román/Gutiérrez 2008, 427– 434. Der Begriff eines „Zwecks an sich selbst“ könnte seinen Ursprung im biologischen Begriff des „Organismus“ haben, und so ein bestimmtes Merkmal gewisser Wesen, der Lebendigen sein. Diese, als Organismen, können als Zweck verstanden werden: Sie enthalten alle notwendigen Glieder und Organe, welche ihre Existenz als lebendige Wesen ermöglichen. Jedes Organ spielt eine gewisse Rolle im Ganzen, sodass der Verlust eines einzigen das Überleben des ganzen Organismus gefährden würde. – Der deutsche Begriff des Organismus entsteht am Ende des 18. Jahrhunderts und wird verwendet, um sich auf eine Gefüge, ein einheitliches gegliedertes [lebendiges] Ganzes bzw. ein Lebewesen zu beziehen (siehe dazu DUDEN. Das Herkunftswörterbuch. Mannheim (u. a.), 20013, Bd. 7). Kant könnte sich dieser Bedeutung des Begriffes im Feld der Naturwissenschaften bedient haben, um seinen Begriff des Zwecks im Feld der Moral zu entwickeln. GMS, 446.07: „Der Wille ist eine Art von Causalität lebender Wesen, so fern sie vernünftig sind“. Denn nicht nur schafft des Menschen Wille, als gesetzgebendes Vermögen, durch die reine Vernunft das Moralgesetz, sondern er, als bestimmendes und handelndes Vermögen, erlegt sich selbst durch seine Maximen das Gesetz auf.
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Sinne selbtsbestimmendes (im strengen Sinne selbstgesetzgebendes) Wesen und in praktischer Hinsicht besteht es für sich selbst ²⁵⁷. Das heißt, auch für die moralische Handlung bedarf es nichts mehr als sich selbst.²⁵⁸ – Nun: Inwiefern ist Kant gemäß seinen eigenen philosophisch-spekulativen Vorgaben berechtigt, von „absolutem Wert“ zu sprechen? Übertritt eine derartige ontologische Beschreibung nicht die Grenzen des Phänomenalen? Allerdings. Doch anhand des Konstrukts eines Zwecks an sich selbst kann ein Wesen vorgestellt werden, das: (1.) für sich selbst besteht und sich selbst genügt, und das nicht bloß um irgendetwas Anderes willen werthaltig ist. Seine ratio essendi liegt in ihm: Es dient sich selbst. Daraus ensteht eine weite Wortbedeutung der menschlichen Würde bei Kant, welche bloß auf der Potenzialität zur Autonomie²⁵⁹ beruht; (2.) sich selbst bestimmen kann und es tatsächlich tut. Ein solches Wesen erteilt seinem Dasein einen Wert bzw. vervollkommnet sein Dasein, indem es eine Fähigkeit bei ihm kultiviert. Also bekommt es nicht von etwas Äußerem seinen Wert, sondern es wertet sich durch sich selbst auf. Darin liegt eine enge Wortbedeutung der menschlichen Würde bei Kant, welche sich aus der lebenslang zielstrebigen und ausdauernden Beschäftigung mit der „Gründung eines guten Willens“, mithin aus der praktizierenden Autonomie ergibt.²⁶⁰ So kann als Zweck an sich selbst nichts als der Mensch gelten, indem er als vernünftig und zugleich sinnlich weder allein durch Vernunft oder Naturgesetze Das Gebilde eines „Zwecks an sich selbst“ trägt direkt zum Gedanken der Autonomie bei. Meinem Erstbetreuer Prof. Werner Stark danke ich für seine Überlegungen zum Begriff des Zwecks an sich selbst. Siehe GMS, 428, Abs. 48. Als einschlägiges Zitat gelte die Passage GMS, 439.08 – 16: „Nun folgt hieraus unstreitig: daß jedes vernünftige Wesen als Zweck an sich selbst sich in Ansehung aller Gesetze, denen es nur immer unterworfen sein mag, zugleich als allgemein gesetzgebend müsse ansehen können, weil eben diese Schicklichkeit seiner Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung es als Zweck an sich selbst auszeichnet, imgleichen daß dieses seine Würde (Prärogativ) vor allen bloßen Naturwesen es mit sich bringe, seine Maximen jederzeit aus dem Gesichtspunkte seiner selbst, zugleich aber auch jedes andern vernünftigen als gesetzgebenden Wesens (die darum auch Personen heißen) nehmen zu müssen“. – Die zwei Wortbedeutungen der Würde bestimmt Kant nicht ausdrücklich, sondern sie ergeben sich aus seinem Wortgebrauch. Daher schließt Kant: „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“ (GMS, 436.06). GMS, 435.05: „Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann, weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebendes Glied im Reiche der Zwecke zu sein. Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat“.
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bestimmt ist. Er ist ein freies und daher selbstgesetzgebendes und zugleich selbstbestimmendes Wesen. Kant schreibt: „Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existirt als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden“ (GMS, 428.07).
Aufgrund dieser eigenartigen Natur „schränkt“ der Mensch „alle Willkür ein“, das heißt, er stellt sich als „Gegenstand der Achtung“ (GMS, 428.24) vor. So führt die Annahme eines „Zwecks an sich selbst“ sowie die davon herrührende Behauptung zum nächstfolgenden „Postulat“ (GMS, 429 Fn.): „Wenn es denn also ein oberstes praktisches Princip und in Ansehung des menschlichen Willens einen kategorischen Imperativ geben soll, so muß es ein solches sein, das aus der Vorstellung dessen, was nothwendig für jedermann Zweck ist, weil es Zweck an sich selbst ist, ein objectives Princip des Willens ausmacht, mithin zum allgemeinen praktischen Gesetz dienen kann. Der Grund dieses Princips ist: die vernünftige Natur existirt als Zweck an sich selbst. So stellt sich nothwendig der Mensch sein eignes Dasein vor; so fern ist es also ein subjectives Princip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objectives Princip, woraus als einem obersten praktischen Grunde alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können“ (GMS, 428.34 f.).
Ein oberstes praktisches Prinzip sollte auf einem handfesten, für sich wertvollen Grund fußen. Also wäre der Mensch das notwendige „Prinzip“²⁶¹ aller sowohl möglichen als auch ausgeübten Sittlichkeit, indem er als Exemplar eines freien Wesens überhaupt die Zwecke seines Verhaltens bestimmen kann. Er ist der „objektive Zweck“ aller „subjektiven Zwecke“ (GMS, 431.06 – 08). Deshalb erkennt er sich wegen seiner selbstgesetzgebenden und selbstbestimmenden Beschaffenheit als ein Zweck an sich selbst an. Schließlich verschafft der Mensch aufgrund des inneren Werts den gesuchten Grund als die Materie, woraus alle moralischen Maximen gebildet werden sollen. Daher lautet die zweite Formel des kategorischen Imperativs: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (GMS, 429.10).
Strukturell bemerkenswert ist, dass die drei gemeinsamen Elemente sowohl bei der grundsätzlichen Festsetzung des Moralprinzips als auch bei der allgemeinen Dazu siehe oben 7.1.2.4.2 (a) die Ausführungen zum Prinzip als handelndes Subjekt.
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Formulierung und der ersten Formel des kategorischen Imperativs (nämlich die Handlungsmaxime, der Wille und das Gesetz) nun nicht mehr vorkommen. Der Grund dafür liegt eben in der geänderten Funktion dieser Formel: Die allgemeine Formel und die Naturgesetz-Formel bestimmen gleichermaßen nur die Form der Allgemeingültigkeit einer moralischen Maxime, die „einem allgemeinen Gesetz“ ähneln soll, das „keine Bedingung enthält, auf die es eingeschränkt“ (GMS, 421.01) ist. Hingegen enthält die Zweck-an-sich-selbst-Formel bereits diese Form der Allgemeinheit mit deren konstitutiven Elementen (i) der „Menschheit“ (als Ganzheit), (ii) des „Zwecks an sich selbst“ (als unberührbarer Geschlossenheit) und (iii) eines Gebots jenseits aller zeit-räumlichen Grenzen. Dazu erweitert sie den Begriff eines kategorischen Imperativs (siehe GMS, 436.08) insofern, als sie die Materie als impliziten Zweck jeder moralisch gültigen Maxime, und zwar negativ bestimmt, nämlich: die Einschränkung „der Freiheit der Handlungen eines jeden Menschen“ (GMS, 430.28 f., siehe GMS, 431.07) um des absoluten Werts „der Menschheit und jeder vernünftigen Natur überhaupt, als Zwecks an sich selbst“ willen (GMS, 430.28): „die Menschheit [wird] nicht als Zweck der Menschen (subjectiv), d. i. als Gegenstand, den man sich von selbst wirklich zum Zwecke macht, sondern als objectiver Zweck, der, wir mögen Zwecke haben, welche wir wollen, als Gesetz die oberste einschränkende Bedingung aller subjectiven Zwecke ausmachen soll, vorgestellt“ (GMS, 431.04).
(e.3) Die dritte Formel des kategorischen Imperativs: Das Prinzip der Autonomie Es wurde in der Eröffnung dieses Abschnittes (e) betont, dass die Betrachtung der ersten und zweiten Formel des kategorischen Imperativs auf die Entstehung der Dritten abzielt. Kant weiß von vornherein wohl, wo er hin will, nämlich: die Autonomie-Formel als das oberste Prinzip der Moralität zu etablieren. Bereits die Vorrede des Werks kündigt (für den Ersten und Zweiten Abschnitt) eine induktive Verfahrensweise an, die „vom gemeinen Erkenntnisse zur Bestimmung des obersten Princips desselben […] den Weg nehmen will“ (GMS, 392.18). So ist die begriffliche und begründende Entfaltung weder im Ersten Abschnitt mit der Erlangung einer grundsätzlichen Form des Moralprinzips (GMS, 402.07) noch im Zweiten Abschnitt mit den hier gerade bearbeiteten Formeln des kategorischen Imperativs beendet (siehe GMS, 421.07, 421.18, 429.10). Denn eine vollendete Antwort auf die moralische Frage („was ich also zu thun habe, damit mein Wollen sittlich gut sei“ [GMS, 403.18]) erfordert, nicht nur die „Form“ und „Materie“ der Maxime, sondern auch deren „vollständige Bestimmung“ (GMS, 436.13 – 26) zu definieren. Was heißt das?
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Folgen wir dem roten Faden des vorigen Absatzes (e.2): Die Zweck-an-sichselbst-Formel ist – so Kant – wegen ihrer Allgemeinheit²⁶² und wegen ihres Grundes in der Vorstellung der Menschheit als eines Zwecks an sich selbst „nicht aus der Erfahrung entlehnt“ (GMS, 431.01), „[muß] mithin […] aus reiner Vernunft entspringen“ (GMS, 431.09): „hieraus folgt nun das dritte praktische Princip des Willens, als oberste Bedingung der Zusammenstimmung desselben mit der allgemeinen praktischen Vernunft, die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens“²⁶³ (GMS, 431.14).
Aus der zweiten Formel, welche durch ihre Allgemeinheit die Erstere einschließt, zieht Kant die Dritte als den Schluss seines Argumentationsgangs: Alles praktische Prinzip – es sei als Gesetz bzw. objektives Prinzip²⁶⁴ des reinen Willens, es sei als Maxime bzw. subjektives Prinzip der Willkür – entsteht aus reiner praktischer Vernunft als reiner Wille bzw. aus dem „allgemein gesetzgebenden Willen“ als die freie Willkür (Bestimmungs- und Handlungsvermögen).²⁶⁵ Damit ist es ihm gelungen, aus reinen Vernunftbegriffen und -prinzipien auf den Oberbegriff eines „unbedingt guten Willens“ (GMS, 437.06) zu schließen, mit dem er das Werk eröffnet (siehe GMS, 393.04) und auf den sich seine Handlungstheorie gründet (siehe GMS, 412.26): Der Begriff der Sittlichkeit und der Autonomie beziehen sich „auf ein mögliches Object“ (GMS, 408.13), nämlich den Wille, dem sie „unvermeidlicher Weise anhänge[n], oder vielmehr zum Grunde liege[n]“ (GMS, 445.04). Nun ist erneut wichtig, die zwei weiteren, im Abschnitt 7.1.2.3 dargestellten Wortbedeutungen des Willens vor Augen zu haben, nämlich: einerseits als das schlechthin „gesetzgebende“ Vermögen bzw. den „reinen Willen“ eines endlichen Wesens; und andererseits als das besondere „Bestimmungs-“ und „Handlungsvermögen“ bzw. die „gemischte Willkür“²⁶⁶. Denn das Prinzip der Autonomie ist
Wie vorhin (e.2) erwähnt, implizieren die Ideen der „Menschheit“ (als Ganzheit), des „Zwecks an sich selbst“ (als unberührbarer Geschlossenheit) und das Gebot jenseits der zeiträumlichen Grenzen in der Zweck-an-sich-selbst-Formel bereits die Form der Allgemeinheit. Das hier erstmals dargestellte Prinzip der Autonomie des Willens wird im Unterschied zu den anderen nicht wie ein Imperativ formuliert. Es gelten als solche die allgemeine Formulierung des kategorischen Imperativs und deren unterschiedlichen Formeln, welche alle als das allgemeine Gesetz der Moral angesehen werden können. Zu den Bedeutungen des Willensbegriffs in der GMS siehe oben 7.1.2.3 (a), (b), (c). Diese Distinktion zwischen „Willen“ und „Willkür“ führt Kant selber später ein. Dazu siehe Einleitung in die MS und La Rocca 1987. Obwohl er diese zwar einige Jahre später in sein Mor-
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zwar – wie die vorigen Formeln des kategorischen Imperativs – durch die gesetzgebende Tätigkeit des reinen Willens (als praktischer Vernunft) festgesetzt. Doch der Empfänger desselben, d. h. das eigentliche Subjekt der Moral ist die zusammengesetzte Willkür: Sie soll ihre Tätigkeit, d. h. ihre Handlungsmaximen danach beschließen. Demzufolge könnte das Prinzip von der „Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens“ angekündigt werden als „das dritte praktische Princip der Willkür ²⁶⁷, als oberste Bedingung der Zusammenstimmung derselben mit der allgemeinen praktischen Vernunft, die Idee der Willkür jedes vernünftigen Wesens als eine allgemein gesetzgebende Willkür“. Folglich ist die gesetzgebende Tätigkeit nicht dem reinen Willen als praktischer Vernunft vorbehalten (indem er objektiv²⁶⁸ das Moralgesetz beschließt). Sondern auch die Willkür ist in der Wahl und Bestimmung der Maximen, welche ihr moralisches Handeln leiten, gesetzgebend. Denn diese subjektiven (d. h. im Subjekt entsprungenen) Regeln fungieren de facto als moralische Handlungsprinzipien, weil sie sich nach dem allgemeinen Moralgesetz (und dessen verschiedene Formeln) richten. Mit anderen Worten: Die Maximen sind einerseits von der Willkür jeden Subjekts geschaffene und ihm selbst auferlegte Handlungsregeln. Also werden sie durch die Urheberschaft der Willkür beschlossen. Andererseits nimmt das Subjekt zur Bestimmung moralischer Maximen eine überlegene Stellung ein: Dank seiner vernünftigen Natur kann es sich ein allgemeingültiges Richtmaß bzw. ein objektives Moralgesetz verschaffen. Insofern gelten Maximen als moralisch wertvolle Handlungsregeln. Daher tritt die Willkür als selbstgesetzgebendes und im strengen Kant’schen Sinne handelndes²⁶⁹ Vermögen auf: Sie bestimmt sich selbst durch ihre eigenen Maximen. Daraus kann der Schluss gezogen werden: Der Mensch bestimmt sich zweifach „aus eigener Gesetzgebung“ (GMS, 436.24): einerseits theoretisch durch das objektive Moralgesetz seines reinen Willens als praktischer Vernunft; andererseits praktisch durch die Maximen seiner gemischten Willkür, welche mit dem Moralgesetz zusammenstimmen. Diese Vorstellung wird unvermeidlich von Achtung begleitet. Ihrerseits wird die Willkür aufgrund ihrer zusammengesetzten Natur entscheiden und wählen, ob sie diese Vorstellung und das reine Wollen des Willens zum Richtmaß für vernünftige Maximen (d. i. zu Bewegungsgründen)
alsystem aufnimmt, erlaubt sie trotzdem– wie gezeigt – eine erhellendere Lektüre der GMS. Siehe oben 7.1.2.3 die Bedeutungen des Willensbegriffs. Genitivus obiectivus. Das heißt, jenseits der konkreten zusammengesetzten Willkür, an die er gebunden ist. Denn nur „vernünftige[] Wesen“ – im Gegensatz zu den „Ding[en] der Natur“ – handeln (GMS, 412.26). Siehe oben 7.1.2.3.
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macht; oder ob sie sich vom bloß sinnlichen Begehren mitreißen lässt und ihre Maximen nach empirischen Triebfedern beschließt. Schließlich besteht der Beitrag der Autonomie-Formel den zwei vorigen gegenüber darin: Die Naturgesetz-Formel und die Zweck-an-sich-selbst-Formel ergeben sich aus der moralphilosophischen Absicht, den Pflichtbegriff zu „erklären“ (GMS, 431.32, siehe GMS, 421.12, 397.01). Kurzum: (1.) Nur die aus Pflicht geschehende, von allem Gegenstand abstrahierende Handlung kann einen moralischen Wert haben. Dieser muss also (2.) in deren an sich guter Maxime liegen²⁷⁰. So wurde induktiv geschlossen, dass die Pflicht eine „unbedingte[] und zwar objective[] und mithin allgemein gültige[] Nothwendigkeit“ (GMS, 416.22) bedeutet. Eine solche kann aber nur ein kategorischer Imperativ mit einschließen, welcher – im Unterschied zu einem hypothetischen – unbedingt gebietet und einem Gesetz ähnelt. Zuallerletzt wurden die zwei ersteren Formeln des moralischen Imperativs um des Pflichtbegriffs willen „als kategorischen angenommen“; und dies setzte voraus, dass „alle Beimischung irgend eines Interesse [sic²⁷¹] als Triebfeder“ muss ausgeschlossen werden (siehe GMS, 431.25 – 32). Hingegen wird durch die Autonomie-Formel der soeben angedeutete, überlegene Standpunkt verschafft: Meine Willkür (als vernünftiges Wesen) findet „Richtmaß“ (GMS, 404.37) [bzw. „Richtschnur“ (GMS, 430 Fn.)] und „Gerichtshof“ (GMS, 443.25) im reinen Willen (als praktischer Vernunft). Hiermit wird jene bisher notwendig vorausgesetzte Unbedingtheit durch die „Idee des […] allgemein gesetzgebenden Willens“ wie eine „Lossagung von allem Interesse beim Wollen aus Pflicht […] mit angedeutet“ (GMS, 431.35). Daher liefert das Prinzip der Autonomie die „oberste Bedingung der Zusammenstimmung“ der zusammengesetzten Willkür (als Bestimmungs- und Handlungsvermögen) mit dem gesetzgebenden reinen Willen als der „allgemeinen praktischen Vernunft“ (GMS, 431.15). – Nota bene: Also wenn ich einen Freund nicht demjenigen verrate, der mich dazu mit der Absicht zwingen möchte, ihn zu töten,²⁷² habe ich mir nicht zur Maxime gemacht: „Lüge dann, wenn du dich in Verlegenheit befindest“. Denn derjenige, der mich auf solche Weise zwingt, lässt keinen Raum zu einer solchen Wahl: Sage ich die „Wahrheit“, dann ordne ich mich dem Begehren des Verbrechers unter, der mich als bloßes Mittel braucht. Und dabei betrachte ich sowohl meine Person als bloßes Mittel zu dessen verwerflichem Ziel als auch die Person meines Freundes als bloßes Mittel zu meiner „Wahrheit“. Aber darin kann weder die wahre Wahrheit noch die Moralität bestehen. Nein. Der Schutz eines Freundes
Siehe oben 7.1.2.2 die Ausführungen zum moralischen Wert. Lies „Interesses“. So auch Kraft/Schönecker (Hg.) 1999, 58. Constant 1797, Bd. 2, 123 f.
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in diesem Beispiel oder meines 14-jährigen Kindes vor einem SS-Offizier entspricht keiner Lüge, sondern vielmehr der Maxime: „Erlaube nicht, dass jemand anderer seine Maximen zu deinigen macht“. Also nicht wegen der bloßen Pflicht als solcher, auch nicht wegen der bloßen Allgemeinheit soll ich eine Maxime beschließen. Ganz im Gegenteil: Meiner Natur gebührend soll ich mich selbst bestimmen bzw. autonom sein. Und erst dies bringt mit sich, dass meine Maximen auf keine Interessen fußend die Form der Allgemeinheit haben und durch die Menschheit als Zweck an sich selbst eingeschränkt werden sollen: Ich darf weder aktiv (durch meine Willkür) noch passiv (unter Anderer Willkür) die Menschheit als bloßes Mittel brauchen. Und aufgrund dieses meines Gewissens darf und sogar soll ich mich gegen allen perfiden Zwang wehren. Allein dieser Blick der Kant’schen Moralphilosophie auf dem Autonomiebegriff beruhend erlaubt, Kants System der reinen Moral und den dazu gehörigen Pflichtbegriff, hiermit den Schluss zu verstehen: „Moralität ist also das Verhältniß der Handlungen zur Autonomie des Willens[²⁷³], das ist zur möglichen allgemeinen Gesetzgebung durch die Maximen desselben[²⁷⁴]. Die Handlung, die mit der Autonomie des Willens[²⁷⁵] zusammen bestehen kann, ist erlaubt; die nicht damit stimmt, ist unerlaubt. Der Wille[²⁷⁶], dessen[²⁷⁷] Maximen nothwendig mit den Gesetzen der Autonomie zusammenstimmen, ist ein heiliger, schlechterdings guter Wille[²⁷⁸]. Die Abhängigkeit eines nicht schlechterdings guten Willens[²⁷⁹] vom Princip der Autonomie (die moralische Nöthigung) ist Verbindlichkeit. Diese kann also auf ein heiliges Wesen nicht gezogen werden. Die objective Nothwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit heißt Pflicht“ (GMS, 439.24– 34).
7.2 Exegetischer Teil 7.2.1 Kants mehrfache Absicht Zwei Fragestellungen eröffneten den Weg dieser Dissertation. Allererst: Warum denkt Kant die Autonomie des Willens als das oberste Prinzip der Moralität? Und
Lies „Willkür“. Lies „derselben“. Lies „Willkür“. Lies „Willkür“. Lies „deren“. Lies „Willkür“. Lies „einer zusammengesetzten Willkür“.
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zweitens: Warum schreibt er überhaupt die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)? Beide Fragen zielen auf Kants Vorsätze ab. Die Zweite rahmt ein jahrelang verfolgtes philosophisches Projekt Kants ein, nämlich das System der Moralphilosophie bzw. reinen Moral, abgesondert von aller Anthropologie zu liefern.²⁸⁰ Das bedurfte aber zuerst der Bestimmung der Fähigkeiten (Elemente und Quellen) so wie der Grenzen der menschlichen Vernunft, hiermit der Festlegung der Methode von der reinen Philosophie überhaupt. Darauf ist es zurückzuführen, dass die in Briefen mehrmals angekündigte „Metaphysik der Sitten“ tatsächlich nicht erschienen ist und dass Kant erst nach der KrV die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (wie auch die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft) verfasst hat.²⁸¹ Bevor ich mich aber mit der ersten Hauptfrage systematisch²⁸² beschäftige, möchte ich noch auf eine weitere, eher konzeptionelle Absicht Kants hinweisen, welche den zwei vorigen, mithin dem Projekt im Ganzen unterliegt. Es handelt sich um den offenen Kampf Kants gegen die skeptische Einstellung, laut der die Moralität ein bloßes „Hirngespinst“²⁸³ (GMS, 407.17, 445.08) sei²⁸⁴: Wir seien durch Naturgesetze determiniert; das heißt, es sei uns nicht möglich, uns eigenen Zwecke frei zu setzen, sondern höchstens die Mittel zur Erfüllung gewisser, durch die Natur vorherbestimmter Ziele zu wählen. Für Kant bedeutet diese amoralische Haltung eine noch perfidere Position als die des Unmoralisten; denn letzter nimmt zumindest das moralische Richtmaß an, obwohl er dann dagegen handelt. Hingegen leugnet der Amoralist die Wahlfreiheit und hiermit die Möglichkeit der Moralität überhaupt. So beansprucht er, davon zu überzeugen, dass der Mensch keine Verantwortung für seine Handlungen übernimmt. Nicht er, sondern persönliche, biologische, psychologische, sozioökonomische und geschichtliche Umstände verursachen sein Verhalten. Frontal gegen den starken Skeptiker schreibt Kant die GMS und stellt das Prinzip der Autonomie auf: Das „Bewußtsein seiner Causalität in Ansehung der Handlungen“²⁸⁵ (GMS, 449.02) erlaubt dem Menschen, seine Wahlfreiheit, mithin Siehe oben 7 (a), (b). So auch Cassirer 1931, 16. Eine ähnliche gedankliche Struktur findet sich in der Preisschrift von 1762: Obwohl die Frage (siehe oben Kap. 1 Fn. 3) „besonders“ die Möglichkeit der Deutlichkeit und Gewissheit der Theologia naturalis und der Moral betrifft, widmet Kant zuerst etwa 20 Seiten der Metaphysik als reiner Philosophie (im Vergleich zur Mathematik) und dann eineinhalb Seiten der natürlichen Theologie und 3 Seiten der Moral. Moralphilosophisch, d. i. strukturell wurde sie soeben betrachtet. Siehe oben 7.1.2.4.2 (e.3). Siehe GMS, 402.13 („leerer Wahn“), 408.12– 18. Dazu siehe oben 6.2.4.3. Siehe KrV, 370.33//A546 f./B574 f., 521.33 f.//A803/B831 (zu Zitaten siehe oben 6.1.2), 373.32// A551/B579 Fn., 376.32//A557/B585 (zu Zitaten siehe oben 6.2.4.3).
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seine Spontaneität als eine Kausalität durch Vernunft vorauszusetzen. Außerdem schließt diese Kausalität, „da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann“ (GMS, 446.09), die „Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein“ (GMS, 447.01) mit ein.
7.2.2 Kritische Rekonstruktion Die im „Analytischen Teil“ durchgeführte Untersuchung des Werks soll nun helfen, zu zeigen, warum Kant die Autonomie des Willens als das oberste Prinzip der Moralität denkt. Schließlich ist in Betracht zu ziehen, inwiefern die GMS diese Aufgabe zufriedenstellend löst.
7.2.2.1 Kants Moralkonzeption und die Möglichkeit der Autonomie des Willens Wie entsteht die Moralität nach Kant? Die Antwort soll zwei Standpunkte, und zwar den des Willens und den der Willkür beachten.²⁸⁶ Einerseits entspricht der Tätigkeit eines reinen Willens sowohl die Suche als auch das reine Wollen des an sich Guten. Die erste, bloß formale Tätigkeit des Willens besteht in der Vorstellung des allgemeinen Moralgesetzes, das einen formalen (objektiven) Bestimmungsgrund besorgt. Die zweite, praktische Tätigkeit des Willens verschafft den materiellen Inhalt dieses formalen Bestimmungsgrundes. Somit macht der Wille a priori, als reine praktische Vernunft, das für die Moralität reine, notwendige Element vollständig aus, nämlich seiner Form (eines allgemeinen Gesetzes) und seinem Inhalt (eines reinen Wollens) nach. Weiterhin ist hier auf dreierlei hinzuweisen: Es ist (1.) daran zu erinnern, dass nicht der Wille selbst, sondern die freie Willkür als handelndes Vermögen Moralität üben kann, und zwar nur dann, wenn sie – trotz der sinnlichen Antriebe – dem Willen (dem oberen Begehrungsvermögen) folgend handelt. Denn die menschliche Willkür, trotz ihrer sinnlichen Natur, beschränkt sich nicht auf das bloße „Begehren“ (GMS, 427.26).²⁸⁷ Sondern sie will, gegenüber ihren Triebfedern, die Bewegungsgründe der Vernunft notwendig. Deswegen ist sie einer moralischen Praxis fähig: Sie fungiert als das ausführende Vermögen eines „oberen Begehrungsvermögens“ (V-Mo, 004.19/ 005), nämlich des reinen Willens, durch welchen sie an der Vernunft teilnimmt.
Den folgenden Gedanken habe ich schon genauer dargestellt (siehe oben 7.1.2.3). Wegen seiner Bedeutsamkeit für das Verständnis der Achtung nehme ich ihn kurz wieder auf. Siehe GMS, 459.11, 395.20, 400 Fn., 427.35.
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Zu bemerken ist auch (2.), dass bei einer freien Willkür, wegen der Sinnlichkeit, das reine Wollen nicht als solches vorkommen kann. Vielmehr kann die freie Willkür, wegen des Vernünftigseins, vernünftig wollen, d. h. dem reinen Wollen entsprechend wollen. Dieses ist nicht als rein, aber doch als praktisch vernünftig definierbare Wollen das, was Kant „Achtung“ nennt. Anhand desselben können moralische (das sind, praktisch notwendige) Handlungen in der phänomenalen Welt geschehen. Hierbei ist der Wille ein gesetzgebendes Vermögen, das auf die freie Willkür und, darüber hinaus, auf Handlungen wirken kann. Dementsprechend behauptet Kant: „[…] also bleibt nichts für den Willen[²⁸⁸] übrig, was ihn[²⁸⁹] bestimmen könne, als objectiv das Gesetz und subjectiv[²⁹⁰] reine Achtung für dieses praktische Gesetz, mithin die Maxime, einem solchen Gesetze selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen Folge zu leisten“ (GMS, 400.31 f.).
Das Gesetz bietet der freien Willkür jenseits der Triebfedern der Sinnlichkeit einen objektiven Bestimmungsgrund an. Ihrerseits stellt die Achtung den subjektiven Bestimmungsgrund objektiven Werts, welcher der Wahl der freien Willkür zum Handeln die richtige Leitung gibt. Der Wille verschafft also der Willkür durch das Moralgesetz und das reine Wollen eine notwendig affirmative Disposition ²⁹¹ gegenüber dem Moralgesetz bei einem empirischen, vernünftigen Wesen. Achtung bzw. vernünftiges Wollen der Willkür fordert eine gesunde praktische Vernunft, die überhaupt ein Gesetz „unmittelbar als ein Gesetz für [s]ich erkenne[n]“ kann. Daher kann Achtung auch „selbst de[m] ärgste[n] Bösewicht“ innewohnen (GMS, 454.21)²⁹² und deutet überhaupt auf den immer geltenden Vorsatz einer freien Willkür hin, „einem solchen Gesetze […] Folge zu leisten“.²⁹³ Lies „Willkür“. Lies „sie“. „Subjektiv“ ist hier gemeint im Sinne „aus dem Subjekt entstehend“, nicht im (pejorativen) Sinne des Bedingten, Zufälligen. Sobald die gemischte Willkür (durch die Sinnlichkeit affiziert) einen „Hang“ erlebt, „wider jene strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln und ihre Gültigkeit, wenigstens ihre Reinigkeit und Strenge in Zweifel zu ziehen“ (GMS, 405.13), so richtet sich die Achtung bei der Willkür als Nötigung auf. Denn sie, als Korrelat des reinen Wollens des Willens, wird zur leitenden Instanz der Willkür und dadurch beschränkt sie das Pathologische im Ganzen. Und auch daher ist für Kant hinsichtlich der Moral nicht (!) die Position des Bösewichts, sondern die des Skeptikers, als die gefährlichste Haltung zu bekämpfen: Der Skeptiker wäre jemand mit einem verdorbenen, aller formaler Tätigkeit unfähigen Willen; jemand, der „alle Sittlichkeit als bloßes Hirngespinst einer durch Eigendünkel sich selbst übersteigenden menschlichen Einbildung verlach[t]“ (GMS, 407.17) und „dem Begriffe von Sittlichkeit […] alle Wahrheit und Beziehung auf irgend ein mögliches Object bestreiten will“ (GMS, 408.12).
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Zuletzt soll (3.) im Hinblick auf die Frage, wie Moralität entsteht, nicht außer Acht gelassen werden, dass Moralgesetz und Achtung zwar notwendig, aber nicht zureichend für moralisches Handeln sind. Zusammen mit ihnen ist für die Moralität die zusammengehörige Bestimmung der Willkür ein dritter notwendiger Faktor. Diese besteht aus zwei Momenten: (a) Die (durch das Gesetz und reine Wollen des Willens sowie durch die Achtung geleitete) Beschließung bzw. Wahl einer Handlungsmaxime, die mit dem Moralgesetz zusammen bestehen kann. Und (b) die faktische Handlung danach, statt einer unmoralischen (aufgrund von Willensschwäche). Alles menschliche Handeln hängt von Prinzipien ab (siehe GMS, 413 Fn.), wobei es immer im Menschen liegt, ob er sich nach Prinzipien der Vernunft („Bewegungsgründen“) oder der Sinnlichkeit („Triebfedern“) richtet (siehe GMS, 427.26). Also führt nicht die Spontaneität als Wahlfreiheit und Vermögen des Handelns überhaupt, sondern die ausübende moralische Freiheit in strengem Sinne²⁹⁴ den Menschen dazu, einen objektiven „Bewegungsgrund“ als Handlungsmaxime zu beschließen und somit moralisch richtig zu wählen und zu handeln. Im Gegensatz dazu: Setzt sich die Willkür einen guten Zweck bloß aus subjektiven Interessen, ggf. neigt sie den Bedürfnissen zu, dann wird ihr Handeln nicht als moralisch gelten können. Ausschlaggebend ist sowohl die formale als auch die materielle Zusammenstimmung der Handlungsprinzipien einerseits mit dem allgemeinen Moralprinzip und andererseits mit dem reinen Wollen (als mögliche Gegenstände desselben). Resümierend wird die Moralität bzw. moralische Bestimmung der Willkür insgesamt durch das zweifache, praktische Vermögen des Willens (als praktische Vernunft und als freie Willkür) und fünf konstitutive Elemente vollbracht, von denen die drei ersteren notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für die Moralität sind, während die zwei letzteren notwendige Elemente der Moralität ausmachen: (1) Das objektive Richtmaß des Moralgesetzes, welches sich aus der formal gesetzgebenden Tätigkeit des Willens ergibt. (2) Das reine Wollen (des Willens) vom Moralgesetz als dem an sich Guten.²⁹⁵ (3) Die Achtung. Sie ist die notwendig, prinzipiell affirmative Disposition einer freien Willkür gegenüber dem Moralgesetz und impliziert eine formale MetaMaxime, dem Moralgesetz zu folgen. Die Achtung fungiert notwendig als So spricht Claudio La Rocca von der „máxima de la máxima“ [Maxime der Maxime], um die moralische Gesinnung zu erläutern. Siehe La Rocca 1987, 26 f. Diese Freiheit wird Kant „Autonomie“ nennen. Aber damit ich in der Reihenfolge der Ausführungen nicht vorauseile, führe ich hier diesen Hauptbegriff noch nicht ein. Bei (1) und (2) identifiziert sich der Wille mit der reinen praktischen Vernunft.
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Leitung für moralisch gutes Handeln und insofern geht sie aller Wahl vorher. Dementsprechend mahnt sie, das Begehren und die Sinnlichkeit einzuschränken, sofern diese das moralische Handeln verhindern bzw. verhindern sollten, und nötigt zur Moralität. (4) Die Beschließung einer moralischen Maxime als eines „Bewegungsgrundes“, welcher auf die Bestimmungsgründe des Willens (nämlich das Moralgesetz und die Achtung) zurückgeht. (5) Die Handlung, die der moralischen Maxime entspricht. Die Vollziehung der Moralität ist also unmittelbar auf die Willkür als handelndes Vermögen zurückzuführen: Sie verfährt, in Hinblick auf die Bestimmungsgründe, vernünftig; in Hinblick auf die Bewegungsgründe, nimmt sie an ihr aus „guter Gesinnung“ ein „reines Vernunftinteresse“; und, in Hinblick auf ihre Neigungen, wird sie „genötigt“²⁹⁶. Das impliziert: Ohne Selbst (auto) – welches denkt, will und agiert – und ohne einen Grundsatz und darauf fußende Maximen (nomos) – jeweils als ein allgemeines Gesetz und eine allgemeingültige Handlungsregel – kann keine Moralität entstehen. Dementsprechend ist die Autonomie des Willens möglich. Aus der Feststellung der fünf genannten Elemente ergibt sich, dass Kant in der GMS einen neuen bedeutenden Entwicklungsschritt vollzieht: Die Maxime, die im Gedankengang der Moralvorlesung keine relevante Rolle spielt, ist nun der Schlüssel moralischen Handelns.²⁹⁷ Denn jedermann (der Skeptiker ausgeschlossen) kann – durch den praktischen Gebrauch der reinen Vernunft – auf das Moralgesetz schließen und es wollen, wodurch „selbst [beim] ärgsten Bösewicht“ Achtung entsteht. Aber der Beschluss einer moralischen Maxime fordert, dass die
Den Triebfedern gegenüber (mithin ein mögliches akratisches Verhalten überwindend) und trotz aller Schwierigkeiten zur Ausführung der Moralität (welche uns die außer unserer Gewalt liegenden Umständen bereiten können) fordert der reine Wille die moralische Bestimmung der Willkür als handelndes Vermögen. Der Mensch ist nicht nur in der Lage, in Hinblick auf die Befriedigung seiner Neigungen und die Erfüllung seiner Privatinteressen die besten Mittel auszusuchen. Seine Wahlfreiheit betrifft zudem und genuin die Wahl der Zwecke insgesamt und somit der Prinzipien: Denn es ist für den Menschen bezeichnend, sich – nebst den durch Bedürfnisse bedingten Zielen – unbedingte Zwecke vorzunehmen und seine Willkür danach zu bestimmen. Die Bearbeitung der Nachschrift Kaehlers zeigt, dass die Moralität aus drei Momenten besteht: dem Verstandesurteil (auf dem Gesetz beruhend), der guten Gesinnung (als Auslöser moralischen Handelns) und der Handlung selbst (siehe oben 5.3). Die Maxime spielt in der Vorlesung eine absolut sekundäre Rolle. Zwar liegt die Moralität in der „inneren Beschafenheit der Handlungsregel“, aber der argumentative Faden deutet zuletzt auf die Gesinnung hin (siehe oben „Schlüsse zum Zweiten Teil“).
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Achtung wirksam, mithin zu guter Gesinnung der freien Willkür und zum reinen Vernunftinteresse wird. Diese bleiben aber unerkennbar. Daher tritt die Maxime als der einzige Nachweis auf, worüber Menschen moralphilosophisch nachdenken und moralische Urteile fällen können.
7.2.2.2 Autonomie des Willens und Möglichkeit eines kategorischen Imperativs Die Pointe liegt nun darin, aufzuklären: Wie das Moralprinzip der Autonomie, welches ein „synthetisch-praktischer Satz a priori“ (GMS, 420.14) ist, „als absolutes Gebot“ (GMS, 420.21) möglich ist. Mit anderen Worten: „woher das moralische Gesetz verbinde“ (GMS, 450.16). Eingehend antwortet Kant auf die Frage in der vierten Sektion des dritten Abschnittes (siehe GMS, 453 ff.). Aber auch eine Passage der dieser vorangehenden Sektion ist erhellend: „Warum aber soll ich mich denn diesem Princip unterwerfen und zwar als vernünftiges Wesen überhaupt, mithin auch dadurch alle andere mit Vernunft begabte Wesen? Ich will einräumen, daß mich hiezu kein Interesse treibt, denn das würde keinen kategorischen Imperativ geben; aber ich muß doch hieran nothwendig ein Interesse nehmen und einsehen, wie das zugeht; denn dieses Sollen ist eigentlich ein Wollen, das unter der Bedingung für jedes vernünftige Wesen gilt, wenn die Vernunft bei ihm ohne Hindernisse praktisch wäre; für Wesen, die wie wir noch durch Sinnlichkeit als Triebfedern anderer Art afficirt werden, bei denen es nicht immer geschieht, was die Vernunft für sich allein thun würde, heißt jene Nothwendigkeit der Handlung nur ein Sollen, und die subjective Nothwendigkeit wird von der objectiven unterschieden“ (GMS, 449.11– 22)²⁹⁸.
Wie im Abschnitt zum Willen erläutert,²⁹⁹ verschafft uns das Ideal eines reinen guten Willens ein Muster vom richtigen, d. h. nach der praktischen Vernunft ge-
Diese Passage erbringt einen Nachweis dafür, dass die Frage nach der Verbindlichkeit der Unterordnung unter das Moralgesetz („Warum moralisch sein?“) nicht sinnlos ist. Sondern eher umgekehrt: Die Frage wäre gerade dann unsinnig, wenn die Moralität tatsächlich ein Hirngespinst wäre, das heißt, wenn man zum Prinzip der Autonomie nicht durch den Begriff der praktischen Notwendigkeit gelangen könnte: „Wenn es denn keinen ächten obersten Grundsatz der Sittlichkeit giebt, der nicht unabhängig von aller Erfahrung bloß auf reiner Vernunft beruhen müßte, so glaube ich, es sei nicht nöthig, auch nur zu fragen, ob es gut sei, diese Begriffe, so wie sie sammt den ihnen zugehörigen Principien a priori feststehen, im Allgemeinen (in abstracto) vorzutragen, wofern das Erkenntniß sich vom gemeinen unterscheiden und philosophisch heißen soll. Aber in unsern Zeiten möchte dieses wohl nöthig sein […]“ (GMS, 409.09 – 15). Eben aufgrund des Menschen gemischter Willkür und der daraus entspringenden Freiheit (d. h. der Spontaneität als Wahlfreiheit) gewinnt die gestellte Frage an Sinn. Siehe oben 7.1.2.3.
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richteten Wollen. Das Subjekt eines solchen Willens ist die Vorstellung eines „vernünftigen Wesens überhaupt“³⁰⁰. Dies dient dazu, einen Standpunkt einzunehmen, welcher jedem ermöglicht, von den sinnlichen Triebfedern, die seine zusammengesetzte Willkür affizieren, zu abstrahieren. Dadurch wird festgestellt, dass das Moralprinzip, welches uns sich als ein Imperativ, mithin als eine „Nötigung“ bzw. ein „Sollen“ vorstellt, „eigentlich ein Wollen“ ist: Würde unser Wollen nicht durch die Sinnlichkeit abgelenkt, dann würde es nur von der Vernunft geleitet, mithin wollten wir nur das an sich Gute. Aber da unsere Bedürfnisse und Begierden damit konkurrieren, so stellt es sich vor uns wegen seiner notwendig guten Beschaffenheit nötigend hin und wird von uns wie ein Sollen erlebt. Hierin liegt die gesuchte Antwort: Das Moralprinzip ist als „synthetischpraktischer Satz a priori“ möglich, denn: (a) mit der Anschauung meines empirischen, sinnlich affizierten Willens verbinde ich dennoch, wegen des Bewusstseins meiner Unabhängigkeit beim Handeln von äußeren bestimmenden Ursachen, die Idee der Freiheit desselben; (b) diese Idee setzt mich in eine gesetzmäßige Ordnung, denn Freiheit bedeutet nicht Chaos. Aber diese Ordnung kann nicht in der Ordnung der Naturgesetze bestehen (was eben meine Unabhängigkeit widerpräche und zur Heteronomie führte). Die Unabhängigkeit impliziert Spontaneität, mithin die Fähigkeit, sich nach eigenen Regeln zu bestimmen. Also muss es sich um eine Ordnung nach Vernunftgesetzen handeln; (c) nun wäre ein Wille, der nicht unter Naturgesetzen läge, sondern sein Wollen nur nach eigenen Vernunftgesetzen richtete, ein „reine[r], für sich selbst praktische[r] Wille[]“³⁰¹ (GMS, 454.13): rein, weil er nicht durch die Sinnlichkeit affiziert wäre; und für sich selbst praktisch, weil seine Handlungen und Urteile auf eigene, in ihm entstehende Regeln zurückgehen. Zusammenfassend kommt zu der Anschauung des eigenen Willens die Idee eines reinen Willens hinzu, wodurch das, was vom Standpunkt des bloßen Vernünftigseins das eigene Wollen ist, d. i. das an sich Gute, sich als ein Sollen auferlegt. Anders ausgedrückt: Die Möglichkeit des kategorischen Imperativs besteht in einem Zusammenspiel von zwei in der Handlung beteiligten Vermögen, nämlich: der zusammengesetzten handelnden Willkür mit dem reinen gesetzgebenden Willen als praktischer Vernunft. Kant arbeitet bereits im „Kanon“ auf der Basis dieser Vorstellung (KrV, 524.03,11//A806 f./ B834 f.: „Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt“). Ein Vorbegriff derselben kommt bereits im Moralkolleg vor (siehe V-Mo, 004.25/005: „ein jedes vernünftiges Wesen“). Hervorhebung: ACGX.
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7.2.2.3 Verbindlichkeit zur Autonomie des Willens Wie die vorhergehenden Kapitel gezeigt haben, hat Kant weder in den Schriften und Bemerkungen des hier genannten Rezeptionsstadiums – von 1762 bis 1765 – noch in den Schriften und der Vorlesung zur Moralphilosophie der kritisch reflexiven Phase – von 1766 bis in den 1770er Jahren – den systematischen Vorsatz, das Moralprinzip auszuarbeiten. Zwar bezeugt die Kaehler-Nachschrift eine beträchtliche Entfaltung moralphilosophischer Begriffe und Lehre. Doch ihre Fragestellung zielt auf die Charakteristik einer reinen Moral als formaler Disziplin. Ein Moralprinzip wird jedoch nicht formuliert. Anders sieht das im Hinblick auf die KrV aus. Im „Kanon“ stellt Kant ausdrücklich die moralische Frage in den Termini: „W a s s o l l i c h t h u n ? “ (KrV, 522.33//A805/B833). Und darauf gibt er die Antwort: „T h u e d a s , w o d u r c h d u w ü r d i g w i r s t , g l ü c k l i c h z u s e i n“ (KrV, 525.12//A808 f./B836 f.). Zwar hat dies die Form eines Imperativs, aber Kant selber weist darauf hin, er werde sich in dem Werk mit dem Praktischen bzw. dem Moralischen nur insofern beschäftigen, als dieses unausbleiblich mit der moraltheologische Frage nach der Hoffnung verbunden ist.³⁰² Sonst wird in der KrV keine Moralphilosophischie systematisch ausgearbeitet.³⁰³ Zum ersten Mal stellt Kant die Frage nach der „Aufsuchung und Festsetzung des obersten Princips der Moralität“ in der GMS (392.03). Die Analyse reiner moralphilosophischer Begriffe führt ihn zur „Autonomie des Willens“. Diese wird „als oberstes Princip der Sittlichkeit“ (GMS, 440.15) vorgetragen: Ein solches Prinzip enthält erstens unbedingte, mithin objektive Notwendigkeit, d. h. einen moralischen Wert; es hat zweitens die Form der Allgemeinheit und die Materie der Menschheit als einschränkende Bedingung der menschlichen Freiheit; und drittens beruht es auf der Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu bestimmen. Das Prinzip der Autonomie bedeutet: Erstens, dass „der Wille[³⁰⁴] in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz [ist]“ (GMS, 447.02): Die Maxime, welche zum Bewegungsgrund des Handelns wird, stimmt mit dem allgemeinen Moralgesetz zusammen. So ist das Wollen der Willkür vernünftig, d. h. aus ihrer Achtung vor dem durch den reinen Willen eingesehenen Moralgesetz gemäß. Zweitens bedeutet das Prinzip der Autonomie eine Verbindlichkeit. Ein der menschlichen Natur gebührender Gebrauch der Willensfreiheit kann nur autonom sein: Ein menschlicher, nach Naturgesetzen bzw. göttlichen Geboten wir-
Siehe oben 6.2.3. Siehe KrV, A014 f., 520.25//A801/B829 und Fn., 523.11//A805/B833. Lies „Willkür“.
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kender Wille wäre heteronom. Zugleich wäre eine Freiheit des Willens als Gesetzlosigkeit verstanden „ein Unding“ (siehe GMS, 446.18 – 24). Nach Entfernung der genannten äußeren Arten von Regelmäßigkeit bleibt für das freie, moralische Handeln nur eine Regelmäßigkeit nach inneren Gesetzen: „also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei“ (GMS, 447.06). Spontaneität und Autonomie binden sich aneinander. Schließlich ist die Autonomie des Willens, sofern dieser frei ist und moralisch handeln kann und soll, eine Verbindlichkeit: „Moralität ist also das Verhältniß der Handlungen zur Autonomie des Willens, das ist zur möglichen allgemeinen Gesetzgebung durch die Maximen desselben. Die Handlung, die mit der Autonomie des Willens zusammen bestehen kann, ist erlaubt; die nicht damit stimmt, ist unerlaubt. Der Wille, dessen Maximen nothwendig mit den Gesetzen der Autonomie zusammenstimmen, ist ein heiliger, schlechterdings guter Wille. Die Abhängigkeit eines nicht schlechterdings guten Willens vom Princip der Autonomie (die moralische Nöthigung) ist Verbindlichkeit. Diese kann also auf ein heiliges Wesen nicht gezogen werden. Die objective Nothwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit heißt Pflicht“ (GMS, 439.24).
7.3 Schluss: Die GMS, ein unglücklich geschlossenes Werk? Es wird immer wieder diskutiert, ob die GMS eine gelungene oder eine misslungene Schrift ist. Die Kant-ForscherInnen, die dafür plädieren, durch die KpV hätte Kant etwa ein Ersatzwerk für die GMS verfasst, tendieren dazu, die GMS sei ein unvollendetes Werk; Kant selber zeige seine Unzufriedenheit am Ende des dritten Abschnittes, wenn er in Kauf nehmen soll, er konnte die Frage nicht beantworten: „wie reine Vernunft praktisch sein könne“ (GMS, 461.32). Dies war „[…] die Aufgabe […], die wir nicht auflösen können“ (GMS, 462.20). Denn das bedeute, dass er zuallerletzt auch nicht die „Möglichkeit eines kategorischen Imperativs“ (GMS, 419.36), mithin die Notwendigkeit desselben als „absolute[n] Gebot[s]“ (GMS, 420.21) und als des „Kanon[s] der moralischen Beurtheilung […] überhaupt“ (GMS, 424.03) begründet. Dagegen vermeide Kant diese Verlegenheit in der KpV, erstens indem das Werk vom Faktum der Vernunft ausgeht: „wenn sie als reine Vernunft wirklich praktisch ist, so beweiset sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die That, und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit, es zu sein, ist vergeblich“ (KpV AA 05: 003.11). Und zweitens, indem Kant festlegt, „daß die Freiheit […] die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei“ (KpV AA 05: 004 Fn.). Allerdings sind dieser Position gegenüber mehrere Argumente vorzubringen. „[Sie] [sc. die praktische Vernunft] überschreitet […] ihre Grenzen, […] wenn sie sich hineinschauen, hineinempfinden wollte“ (GMS, 458.07). Wie gesagt, impliziert die Spontaneität als Wahlfreiheit, der Vernunft ein gesetzgebendes und
7.3 Schluss: Die GMS, ein unglücklich geschlossenes Werk?
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bestimmendes „(positive[s]) Vermögen“, d. h. einen „Willen“ bzw. eine „Causalität“ beizulegen, wonach das Moralprinzip „einer Vernunftursache […] gemäß“ ist (GMS, 458.12– 16)³⁰⁵. Aber diese durch Vernunft feststellbare Gemäßheit für eine wirkende „Bewegursache“ zu halten, würde bedeuten, dass die praktische Vernunft „ein Objekt des Willens […] aus der Verstandeswelt herholen [würde]“. Und dabei „überschritte sie [sc. die praktische Vernunft] ihre Grenzen und maßte sich an, etwas zu kennen, wovon sie nichts weiß“ (GMS, 458.17). Denn die Kausalverknüpfung des Moralgesetzes als objektiver Bestimmungsgrund mit dem Bewegungsgrund, der zur Handlungsmaxime wird, ist kein „Gegenstand in irgend einer möglichen Erfahrung“ (GMS, 459.04). Also stößt die praktische Vernunft an ihre Grenzen, wenn sie solche Fragen zu „erklären“ versucht: „wie reine Vernunft praktisch sein könne“ bzw. „wie Freiheit möglich sei“ (GMS, 458.37 f.). Ebenso verhält es sich mit der Achtung (hier auch gute Gesinnung bzw. reines Vernunftinteresse genannt): Einerseits können wir als grundlegende Maxime unseres Handelns überhaupt haben, „einem solchen Gesetze selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen Folge zu leisten“ (GMS, 400.33 f.). Andererseits können wir unser Interesse an moralischen Gesetzen feststellen (siehe GMS, 460.02). Trotzdem kann die angebliche Kausalkette zwischen dem reinen Wollen des Willens und der Achtung bei meiner gemischten Willkür nicht entdeckt werden. Und zuletzt nehmen wir auch die „Empfindung der Lust oder Unlust“ (GMS, 460.14) wahr, welche wir als Wirkungen jeweils unseren moralischen oder unmoralischen Bestimmungen als deren Ursachen zurechnen: Denn erstere lösen in uns Gewissensruhe, letztere aber Gewissensbisse aus. Dennoch sind wir nicht in der Lage, ein solches Kausalverhältnis zwischen „bloßen Ideen“ der reinen Vernunft (die keinen Gegenstand der Erfahrung ausmachen) und derartigen Empfindungen („die freilich in der Erfahrung lieg[en]“) zu erklären (GMS, 460.18 – 22). Da solche Fragen nicht beantwortet werden können,³⁰⁶ liefert „das herrliche Ideal eines allgemeinen Reichs der Zwecke an sich selbst (vernünftiger Wesen)“
Diese Passage dient als Beleg für die hier dargestellte zweifache Konzeption des Willens als gesetzgebendes Vermögen der praktischen Vernunft und als Bestimmungs- und Handlungsvermögen bzw. Willkür. Die wollende Tätigkeit jenes ist rein, die von dieser aber wegen ihrer gemischten Natur und, sofern sie von allem Sinnlichen absieht, vernünftig. Also besteht zwischen beiden Vermögen Gemäßheit. GMS, 460.22 f.: „[…] so ist die Erklärung, wie und warum uns die Allgemeinheit der Maxime als Gesetzes, mithin die Sittlichkeit interessire, uns Menschen gänzlich unmöglich. So viel ist nur Gewiß: daß es nicht darum für uns Gültigkeit hat, weil es interessirt (denn das ist Heteronomie und Abhängigkeit der praktischen Vernunft von Sinnlichkeit, nämlich einem zum Grunde liegenden Gefühl, wobei sie niemals sittlich gesetzgebend sein könnte), sondern daß es interessirt, weil es für uns als Menschen gilt, da es aus unserem Willen als Intelligenz, mithin aus unserem ei-
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(GMS, 462.34) „die oberste Grenze aller moralischen Nachforschung“ (GMS, 462.22):³⁰⁷ Es handelt sich bloß um eine Vorstellung, derer Kant sich bedient, und zwar am Ende des Zweiten Abschnitts nach der Festsetzung der dritten Formel des kategorischen Imperativs, um seine Moralkonzeption (bzw. was Moralität oder moralisches Handeln bedeutet) im Rahmen eines gedachten Szenarios vorzutragen. Keineswegs strebt Kant an, dem sogenannten „Reich der Zwecke“ Wirklichkeit zuzuschreiben. Ein solches Reich würde aus den vernünftigen Wesen (Zwecken an sich selbst) und allgemeingültigen gemeinschaftlichen Gesetzen bestehen. Diese würden jene miteinander „systematisch verbinden“, sodass die objektiven Vorsätze (bloß durch die reine Vernunft festgesetzt) so wie die subjektiven (pragmatischen und geschicklichen) Absichten jedes Mitglieds zugleich mit der allgemeingültigen Gesetzlichkeit bestehen könnten (siehe GMS, 433.17– 25, 438.08 – 26). Die vernünftigen, aber mit einem heiligen Willen begabten Wesen würden zu diesem Reich allein als gesetzgebende Glieder, d. h. als Oberhäupter; die Menschen aber sowohl als gesetzgebende (aktiv) als auch als untergeordnete Glieder (passiv) gehören³⁰⁸. So stellt sich die Moralität auf, als „[…] die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann […]“ (GMS, 435.05): Nur ein solches Wesen genügt sich selbst als Ursprung und Ziel des moralischen Gesetzes und kann seinen Handlungen durch deren Maximen einen moralischen Wert erteilen; „[…] nur durch sie [sc. die Moralität] [ist] es möglich, ein gesetzgebendes Glied im Reiche der Zwecke“ (GMS, 435.06), d. i. autonom zu sein. Das Bild eines Reiches der Zwecke impliziert also die zweite und besonders die dritte Formel des kategorischen Imperativs: das Prinzip der Autonomie, „[…] das alleinige Princip der Moral […]“ (GMS, 440.29). Auf diese Weise kann Kant seine Moralkonzeption anschaulicher darstellen – sowohl den passiven Aspekt unseres Verhältnisses zum Moralgesetz, d. h. unser ihm unumgängliches Unterliegen, als auch den aktiven Aspekt desselben. Wir sind sowohl durch praktische Vernunft als auch durch die Maximen unserer Willkür gesetzgebend. „[…] auf gentlichen Selbst Entsprungen ist; was aber zur bloßen Erscheinung gehört, wird von der Vernunft nothwendig der Beschaffenheit der Sache an sich selbst untergeordnet“. Ich fasse hier wie vorhin manche Ergebnisse eines publizierten Beitrags zum Kongress Jornadas de Diálogo Filosófico 2007 (Salamanca) zusammen. Dazu siehe Román/Gutiérrez 2008, 427– 434. GMS, 434.07– 19: „Moralität besteht also in der Beziehung aller Handlung auf die Gesetzgebung, dadurch allein ein Reich der Zwecke möglich ist. Diese Gesetzgebung muß aber in jedem vernünftigen Wesen selbst angetroffen werden und aus seinem Willen entspringen können, dessen Princip also ist: keine Handlung nach einer andern Maxime zu thun, als so, daß es auch mit ihr bestehen könne, daß sie ein allgemeines Gesetz sei, und also nur so, daß der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne“.
7.3 Schluss: Die GMS, ein unglücklich geschlossenes Werk?
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solche Weise [ist] eine Welt vernünftiger Wesen (mundus intelligibilis) als ein Reich der Zwecke möglich, und zwar durch die eigene Gesetzgebung aller Personen als Glieder“ (GMS, 438.17). Insofern macht dieses Bild „eine brauchbare und erlaubte Idee zum Behufe eines vernünftigen Glaubens[³⁰⁹] […] [aus], um [dadurch] […] ein lebhaftes Interesse an dem moralischen Gesetze in uns zu bewirken“ (GMS, 462.32 f.), ohne dabei die Grenzen unserer praktischen Vernunft zu überschreiten. Erneut, wie im „Kanon“ der KrV spielt der „vernünftige Glaube“ die Rolle der moralischen Motivation – eine Frage dennoch, welche Kant überhaupt nicht im ganzen Prozess zum Aufbau der Moraltheorie, d. h. im Ersten und Zweiten Abschnitt der GMS aufwirft. Die aufzulösende Hauptfrage ist, „was ich also zu thun habe, damit mein Wollen sittlich gut sei“ (GMS, 403.18), während sie im „Kanon“ lautete: „Was darf ich hoffen?“. – Abermals gilt dies als Nachweis für die vorhin vertretenen Thesen bzgl. der Achtung³¹⁰, dass sie nämlich im Rahmen der GMS nicht auf die moralische Motivation und Ausübung abzielt; letztere zählt hier nicht zu Kants Sorgen. Demzufolge ist der Kant der GMS mit den von ihm erlangten Ergebnissen auf dem Gebiet der reinen Philosophie völlig konsequent: Auf das darin entwickelte methodische Verfahren, somit die „Quellen, […] de[n] Umfang[] und die Gränzen“ der Vernunft achtend arbeitet er jetzt die moralphilosophischen Begriffe und Prinzipien aus. Damit wird eine reine Moraltheorie erstmals konzipiert, welche den Ursprung der Nötigung des Willens durch das Moralprinzip aufklären kann. Zwar bedeutet die theoretische Begründung der moralischen Nötigung (siehe GMS, 413.03) von 1785 – im Grunde genommen – kein Novum dem Moralkolleg der 1770er Jahre gegenüber. Aber die systematische Entwicklung der GMS, die Kant auf seiner Konzeption einer gesetzmäßigen moralischen Ordnung (siehe GMS
Der hier angeführte „vernünftige Glaube“ hängt abermals mit der dritten Frage nach der Hoffnung und dem Gedanken einer Moraltheologie im „Kanon“ der KrV zusammen: Sobald wir „ein lebhaftes Interesse an dem moralischen Gesetze“ nehmen, so befördern wir unser moralisches Handeln, wodurch wir in der hiesigen Welt der Glückseligkeit würdig sein können und endlich in einer künftigen Welt glückselig sein würden. Dazu vergleiche Allison 2011, 5, der die These vertritt, dass Kant den Grund seines Projekts einer Metaphysik der Sitten ursprünglich, nämlich im „Kanon der reinen Vernunft“ in den Postulaten von Gott und der Unsterblichkeit erblicke; wegen Garves Kritik sollte er dies für unzutreffend halten. Meines Erachtens sollte aber der theoretische Grund des moralphilosophischen Systems Kants vom teleologischen Grund seiner philosophischen Perspektive im Ganzen unterschieden werden: Ersteres geht bloß der ethischen Frage nach: „was ich also zu thun habe, damit mein Wollen sittlich gut sei“ (GMS, 403.18). Als reine Moralphilosophie macht sie also nur einen Teil des philosophischen Vorschlags Kants in toto aus. Siehe oben 7.1.2.4.1.
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7 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
412.26) (somit der moralischen Nötigung) fußend durchführt, bringt den neuen Beitrag des Autonomieprinzips mit sich. Also sollte die GMS unabhängig von den Beiträgen, die die KpV³¹¹ leisten mag, als eine gelungene Schrift angesehen werden, wozu ich abschließend noch einige Bemerkungen machen will.³¹² Kant geht von der Voraussetzung der transzendentalen Freiheit aus, welches der spekulative Schluss der Auflösung der dritten Antinomie in der KrV ist. Dieser, wie ich im vorigen Kapitel gezeigt habe, gründet sich zuletzt auf die des Menschen „bloße Apperception“ seines Selbst, d. h. auf das „Bemerken seines empirischen Charakters durch Kräfte und Vermögen, die er in seinen Wirkungen äußert“³¹³ (siehe KrV, 370.33 f.//A546 f./B574 f.). Der Mensch stellt somit nicht nur seine Spontaneität fest (z. B. darin, dass ich mich von selbst entschließe, „von meinem Stuhl aufzustehen“ [KrV, 312.12//A450/B478]); sondern auch seine praktische Freiheit, und zwar „in seinen Wirkungen“, die auf eine auf „Imperative […] [des] Sollens“ (KrV, 371.16//A547/B575) gegründete „Bestimmung der Willkür“ (KrV, 371.32//A548/B576) zurückgeht. Kurzum impliziert der „negative“ Gedanke der Spontaneität (als Unabhängigkeit von der Naturnotwendigkeit) den „positiven“ Gedanken derselben (als Fähigkeit, erste Ursache meiner Handlungen zu sein) (siehe KrV, 375.03//A553 f./ B581 f.). Denn Freiheit (als Unabhängigkeit), die nicht deswegen Chaos bedeutet, muss auf eine Bestimmung nach eigenen Regeln (d. h. Selbstbestimmung). Und
Bzgl. der Faktum-Lehre und des Freiheit-Moralität-Verhältnisses. Es soll hier nicht einen Vergleich zwischen der GMS und der KpV anstellen; das sprengt den Rahmen dieser Arbeit. Dazu siehe die jüngst veröffentlichte Arbeit Ludwigs 2010. Daher behauptet Kant im „Kanon“: „Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden“. Und: „Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung als eine von den Naturursachen, nämlich eine Causalität der Vernunft in Bestimmung des Willens“ (KrV, 521.14, 33//A802/B830). – Diese besondere Erkenntnis („durch bloße Apperception“) besteht also nicht unbedingt (und nur) in einer intellektuellen Anschauung des Ich, wie Ludwig (2012, 177) vertritt, sondern wird aus empirischen Begebenheiten, nämlich den „Wirkungen“ – d. h. den Handlungen – logisch hergeleitet: Wenn meine Handlung, statt einer Naturursache, aus einer Entschließung meinerseits zutage tritt, die auf „Imperativen“ fußt, „welche wir in allem Praktischen den ausübenden Kräften als Regeln aufgeben“ (KrV, 371.16//A547/B575), dann muss sie zu einer besonderen Kausalordnung gehören (dem Feld der transzendentalen Freiheit). Und diese charakterisiert sich durch eine besondere „Art von Nothwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt“ (KrV, 371.18//A547/B575) und wodurch sich dem Menschen eine eigentümliche Handelnsmöglichkeit eröffnet. Die KpV, AA 05: 097.32 sagt: „Aber ebendasselbe Subject, das sich anderseits auch seiner als Dinges an sich selbst bewußt ist, betrachtet auch sein Dasein, so fern es nicht unter Zeitbedingungen steht, sich selbst aber nur als bestimmbar durch Gesetze, die es sich durch Vernunft selbst giebt, und in diesem seinem Dasein ist ihm nichts vorhergehend vor seiner Willensbestimmung […]“ (zitiert nach Cassirer 1931, 15).
7.3 Schluss: Die GMS, ein unglücklich geschlossenes Werk?
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dieser positive Gedanke der Spontaneität führt seinerseits zur logischen Annahme der Freiheit „in praktischer Absicht“ (KrV, 373.08//A550/B578), – von welcher man auch ³¹⁴ tatsächlich durch die Erfahrung, d. h. durch die eigenen Handlungen [die „eine eigene Ordnung nach Ideen“ (KrV, 372.06//A548/B576) schaffen] eine Erkenntnis hat (siehe KrV, 521.14,33//A802 f./B830 f.). Außerdem unterscheidet sich die Naturnotwendigkeit von der „Bestimmung der Willkür“ darin, dass sie sich durch ein Müssen bezeichnet, welches „die Wirkung und den Erfolg derselben [sc. Bestimmung der Willkür (ACGX)] in der Erscheinung [betrifft]“ (KrV, 371.19 – 33//A548/B576), aber nicht die Bestimmung selbst. Die Vernunft stellt fest, dass sie „nicht demjenigen Grunde, der empirisch gegeben ist, nach[giebt], und nicht der Ordnung der Dinge [folgt], so wie sie sich in der Erscheinung darstellen; sondern [sie³¹⁵] macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hinein paßt, und nach denen sie sogar Handlungen für nothwendig erklärt, die doch n i c h t g e s c h e h e n s i n d und vielleicht nicht geschehen werden, von allen aber gleichwohl voraussetzt, daß die Vernunft in Beziehung auf sie Causalität haben könne; denn ohne das würde sie nicht von ihren Ideen Wirkungen in der Erfahrung erwarten“ (KrV, 372.03//A548/B576).
Im Rahmen der GMS fungiert eben dasselbe unmittelbare „Bewusstsein“ seines Selbst, welches nicht bloß auf spekulativem Wissen beruht – sowohl aufgrund dessen „Unabhängigkeit“ (GMS, 457.05) von der Naturnotwendigkeit als auch dessen „Unterordnung“ unter dem Moralgesetz, d. i. dessen Achtung davor (GMS, 401 Fn.) – als Ausgangspunkt für den Aufbau des reinen Moralsystems. Denn dieses Bewusstsein ist der Grund dafür, (a) dass es einem jeden „wie Sokrates“ durch die sittliche Erkenntnis aus dem gemeinen Gebrauch seiner Vernunft erlaubt ist „zu wissen, was man zu thun habe, um ehrlich und gut, ja sogar um weise und tugendhaft zu sein“ (GMS, 404.04). Darauf fußt der Argumentationsgang im Ersten Abschnitt, welche durch die Unterscheidung zwischen einer „pflichtmäßigen Handlung“ und einer „aus Pflicht geschehenen Handlung“ die Basis für die moralphilosophische Entfaltung im Zweiten Abschnitt liefert; (b) dass es „der subtilsten Philosophie eben so unmöglich, wie der gemeinsten Menschenvernunft [wird], die Freiheit wegzuvernünfteln“³¹⁶ (GMS, 456.01); (c) dass Kant schließt: „Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei
Vergleiche Ludwig 2012, 174. Zusatz: ACGX. Siehe oben Zitat: KpV, 003.11.
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7 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
[…]. Nun behaupte ich: daß wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, nothwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen unter der es allein handle“ (GMS, 448.04). Nun ist es unstrittig, dass das unmittelbare Bewusstsein der Achtung vor dem Gesetz eine bedeutsame Rolle bei der Entwicklung der oben hingewiesenen³¹⁷ Faktum-Lehre in der KpV spielt. Denn diese „That“ deutet nicht nur auf die Herstellung der Vernunft einer gesetzmäßigen Ordnung durch ihre Tätigkeit (d. h. durch eigene Prinzipien und Begriffen) hin, sondern sie bezieht sich auch auf das unmittelbare Bewusstsein, das die Vernunft von dieser ihrer eigenen gesetzgebenden und konstitutiven Tätigkeit hat. Davon abweichend vertritt Bernd Ludwig³¹⁸, dass die KpV mit der FaktumLehre nicht nur einen neuen Beitrag zu Kants Freiheitslehre leistet, sondern eine „radikale Umgestaltung“ derselben bedeutet. Seine These zusammenfassend: Die Selbst-Erkenntnis als „bloße Apperzeption“ darzustellen, dank dessen wir durch selbst bestimmte, d. h. nach eigenen Regeln entschlossene Handlungen unsere Spontaneität „bemerken“, wäre keine „konsequente Denkungsart“ mit dem Kritischen Programm. Davor warnte Pistorius in seiner Rezension, was Kant zur „Umgestaltung“ führte: Nicht aufgrund der spekulativen Vorgaben über die Freiheit in der „Dialektik“ der KrV weiß ich mich frei und deduziere daraus das Sittengesetz. Sondern dass ich durch reine praktische Vernunft zu einer unmittelbaren Erkenntnis des Sittengesetzes gelange, wobei diese unleugbar ist. Und eben diese Unleugbarkeit des Sittengesetzes stelle sich als eine Tat, ein Faktum hin, was die ratio cognoscendi der Freiheit darstelle: Dadurch, dass ich unleugbar nach einem Moralgesetz handle, welches meine Vernunft selber herstellt, kenne ich meine Freiheit. Also lege Kant in der KpV – im Unterschied zur „Dialektik“ in der KrV und zur GMS nicht mehr den Weg zurück von der theoretisch gezogenen, negativen Freiheit (d. h. der transzendentalen Freiheit bzw. Spontaneität als Unabhängigkeit) und daraus theoretisch notwendig anzunehmenden positiven Spontaneität (als Fähigkeit, erste wirkende Ursache des eigenen Handelns zu sein) bis zur praktischen Freiheit (als Selbstbestimmung) und von hier an zum Sittengesetz. Sondern dass er nun vom Sittengesetz (und hierbei davon, dass die reine Vernunft praktisch ist) ausgehe und daraus auf die Freiheit schließe: „Die Freiheit wird 1788 aus ihren Folgen (XXVIII, 356 und 648) erkannt“³¹⁹ –. Aber aus den gerade angeführten Gründen gilt Ludwigs Schluss auch für 1781 und 1785.
Erneut: siehe oben Zitat: KpV, 003.11. Vergleiche Ludwig 2010, 597 f. Ludwig 2010, 598.
7.3 Schluss: Die GMS, ein unglücklich geschlossenes Werk?
405
Nun: Wenn Ludwigs Analyse zutrifft, dann könnte die Frage lauten: Wie kann eine Theorie der reinen Moral (GMS I und II) richtig sein, welches auf einer falschen Methode (KrV) fußt? Wie ich bereits in Erinnerung gerufen habe, nimmt Kant in der KpV dasjenige an, was mit der Pflicht und dem Sittengesetz zu tun hat – das sind, mit anderen Worten, die zwei ersteren Abschnitte der GMS. Also sollte Kant 1787– 88 seine alte Moraltheorie immer noch für richtig halten. Zurück zur GMS: Es ist zwar unleugbar, dass der Idee eines „guten Willens“, mit der Kant den Argumentationsgang des Werks beginnt, die Idee der Freiheit zugrunde liegt (wie sie in der „Dialektik“ der KrV dargestellt und für spekulativ notwendig und dann praktisch möglich erklärt wird), und zwar insofern: Wären wir nicht frei, dann hätte es keinen Sinn, vom guten Willen, mithin von Sittlichkeit überhaupt zu sprechen, also noch weniger eine reine Moraltheorie zu bauen. Einen Nachweis davon, dass die ganze, in der GMS gebildete Moraltheorie zumindest auf die „Voraussetzung“ der transzendentalen Freiheit zurückgeht, erbringt nicht nur der Dritte Abschnitt (siehe GMS, 447.08 – 448.22), sondern primär die Tat, dass der moralische Skeptiker bereits im Zweiten Abschnitt als Kants Gesprächspartner³²⁰ gilt (siehe GMS, 406, 407 ff.). Dementsprechend sagt Kant anfangs des Zweiten Abschnitts: „Wenn es denn keinen ächten obersten Grundsatz der Sittlichkeit giebt, der nicht unabhängig von aller Erfahrung bloß auf reiner Vernunft beruhen müßte, so glaube ich, es sei nicht nöthig, auch nur zu fragen, ob es gut sei, diese Begriffe, so wie sie sammt den ihnen zugehörigen Principien a priori feststehen, im Allgemeinen (in abstracto) vorzutragen, wofern das Erkenntniß sich vom gemeinen unterscheiden und philosophisch heißen soll“ (GMS, 409.09 – 14).
Aufgrund der in der KrV erbrachten Leistung hinsichtlich der Freiheit sieht sich Kant legitimiert, eine reine Moraltheorie auszuarbeiten, auf deren Basis „eine Metaphysik der Sitten dereinst zu liefern“ (GMS, 391) ist. Nun ist er davon überzeugt, dass Moralität möglich, d. h. kein „Hirngespinst“ (GMS, 407 f., 445), „Wahn“ (GMS, 402) oder „chimärischer Begriff“ (GMS, 402 und 445) ist. Durch begriffliche Analyse und Synthese der reinen Vernunft wird dann das bereits genannte Ziel des Werks erreicht. Damit zeigt Kant, dass wir das Sittengesetz bloß durch Vernunft kennen können, und zwar völlig unabhängig von der theoretischen Idee der Freiheit – mithin, von der in der „Dialektik“ spekulativ festgesetzten Freiheitslehre.³²¹
Vergleiche Ludwig 2010, Fn. 54. Vergleiche Ludwig 2012, 175.
406
7 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
Daraus folgt zweierlei: Einerseits war es möglich, dass Kant sein Ziel in der GMS („die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Princips der Moralität“ [GMS, 392.03]) trotz der von Pistorius angezeigten „inkonsequenten Denkungsart“³²² im spekulativen Bereich der Kritischen Philosophie erfolgreich erreichte. Andererseits und abermals war Kant bereits 1785 nah an seiner Konzeption des Sittengesetzes als eines Faktums. – Diesen Schluss sollte auch Ludwig annehmen können, da er Folgendes vertritt: „Kant selbst hat freilich in keiner der hier betrachteten Phasen seiner Beschäftigung mit dem Freiheitsproblem diese Frage als eine skeptische thematisiert (möglicherweise hätte er sie als eine solche nicht einmal verstanden), sondern allenfalls als eine erklärungssuchende (siehe etwa IV, 449.11 ff.; vgl. XIX, 228 [Refl. 7019]). Die Verbindlichkeit sittlicher Forderungen wird ja – wie Kant 1781 ja ausdrücklich betont (KrV A 807 […]) – von den als Leser (beziehungsweise Hörer) anvisierten Zeitgenossen überhaupt nicht in Frage gestellt; und ab 1788 ist sie dann sogar ein dezidiert unleugbares Datum, welches man genauso wenig herbeiphilosophieren muss (geschweige denn kann) wie etwa die Data der Erscheinung (vgl. V, 42.20 ff.; KrV B XXI f.)“³²³.
Ludwig weist richtig darauf hin,³²⁴ es finde in der GMS keine Deduktion des kategorischen Imperativs statt, sondern des reinen Willens, wodurch eine Aufklärung vom Sittengesetz als „synthetisch-praktischer Satz a priori“ möglich sei (siehe GMS, 420, 453). Tatsächlich ist Kants Verfahrensweise im Ersten und Zweiten Abschnitt der GMS, wo die Formulierung des kategorischen Imperativs und dessen unterschiedliche Formeln gegeben werden, „analytisch“: Kant gelangt zu ihnen durch Analyse von praktischen Ideen und reinen Verstandesbegriffen und deren Verbindung miteinander. In dieser Verfahrensweise könnte m. E. (nebst der von Ludwig hingewiesenen theoretisch-epistemischen, von mir³²⁵ gezeigten moralphilosophischen Kontinuität mit der KrV von 1781) auch der Grund dafür liegen, dass Kant 1785 nicht vom „Faktum“ spricht: Ausgangspunkt ist 1785 noch nicht die „Realität“ der reinen praktischen Vernunft und ihrer Begriffe (KpV, 003). Vielmehr hält Kant immer noch an seinen in der KrV festgesetzten spekulativen Vorgaben fest und zeigt sich, wie 1781, viel bescheidener. Eben die Konsistenz seiner Ergebnisse in der GMS I und II wird ihm Anlass geben, in der KpV eine viel selbstbewusstere Einstellung zu entwickeln. Dieselbe Nähe zwischen dem unmittelbaren „Bewusstsein der Unterordnung meines Willens unter einem Gesetz“ (GMS) und dem Faktum (KpV), die ich soeben
Ludwig 2010, 596 und III. Ludwig 2010, Fn. 54. Siehe Ludwig 2010, Fn. 8 und 2012, Fn. 35. Siehe oben 7 (a).
7.3 Schluss: Die GMS, ein unglücklich geschlossenes Werk?
407
hervorgehoben habe, scheint auch zwischen der alten Zwei-Welten-Lehre von 1785 (siehe GMS, 450.30 – 452.30) (welche wiederum auf die 1781 bei der Auflösung der dritten Antinomie durchgeführte Unterscheidung von Phänomenon und Noumenon stützt [siehe KrV, 366.05//A538/B566 – 368.13//A541/B569]) und der Freiheitslehre der KpV zu bestehen. 1788 definiert Kant die Freiheit als „[…] die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei“ (KpV, 004 Fn.): Einerseits, „wenn wir uns als frei denken, so versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt und erkennen die Autonomie des Willens sammt ihrer Folge, der Moralität“ (GMS, 453.11– 13). Wie ich aus den Ergebnissen der KrV gezeigt habe, impliziert die theoretische Idee der Freiheit (Spontaneität), sofern sie weder auf ein Chaos noch auf ein Müssen (Naturnotwendigkeit) hindeutet, ein „Sollen“ (KrV, 371.18 f.//A547 f./B575 f.), welches den Spielraum für eine Freiheit „in praktischer Absicht“ eröffnet.³²⁶ Die GMS trägt zu diesen Ergebnissen noch bei, indem sie stillschweigend eine Handlungstheorie darauf gründet, welche darin mündet, die Moralität als Resultat des autonomen Handelns zu definieren. Gäbe es keine Freiheit, wäre es müßig von Moralitat (somit vom Moralgesetz) zu sprechen. Mit anderen Worten: „die Freiheit [sei] […] die ratio essendi des moralischen Gesetzes“. Andererseits „denken wir uns aber als verpflichtet, so betrachten wir uns als zur Sinnenwelt und doch zugleich zur Verstandeswelt gehörig“ (GMS, 453.14). Und eben dies ist der zurückgelegte Weg Kants in der GMS: Seine moralphilosophische Untersuchung geht nicht von der theoretischen Idee der Freiheit aus, sondern von dem, was einen moralischen, d. h. praktisch notwendigen Wert hat, d. i. der an sich selbst guten Handlung bzw. der „aus Pflicht geschehenen Handlung“. Sowohl von dieser „gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis“ (aus welcher man auf ein „Princip“ der „allgemeinen Gesetzmäßigkeit“ [GMS, 402.06] schließen kann) als auch von der darauf beruhenden moralphilosophischen Ausarbeitung (welche „die Autonomie des Willens als oberstes Princip der Sittlichkeit“ bestimmt) gelangt Kant im Dritten Abschnitt, über seine Handlungstheorie³²⁷ hinaus, zur bereits 1781 konzipierten Idee der „Freiheit“ als „die Eigenschaft dieser Causalität [aus Freiheit³²⁸] […], sofern sie unabhängig von fremden sie [sc. die Kausalität³²⁹] bestimmenden Ursachen wirkend sein kann“ (GMS, 446.09). Also erkennt sich die Vernunft dadurch, dass sie das
Dazu siehe oben 7.1.2.3. Danach besteht die Tätigkeit eines vernünftigen Wesens nicht bloß im Wirken gemäß der Ordnung der Natur, sondern im Handeln nach Prinzipien. Zusatz: ACGX. Zusatz: ACGX.
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7 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
Moralgesetz bestimmen und es sich selbst durch Maximen auferlegen kann, als frei. Mit anderen Worten: „das moralische Gesetz [sei] […] die ratio cognoscendi der Freiheit“.³³⁰ Wenngleich also die Faktum-Lehre zum Gedankengut der KpV gehört, schuldet sie jedoch dem vorherigen Werdegang viel. Zwar ist nun die Freiheit in der KpV nicht mehr (wie 1781 und 1785) eine spekulativ notwendige Voraussetzung der reinen Vernunft (wenn sie sich als praktisch denken möchte), welche am Ende der durchgeführten moralphilosophischen Untersuchung verschärft wird (siehe GMS, 448.25 f.). Vielmehr: eben aufgrund der „Unmöglichkeit, sie wegzuvernünfteln“, wird die Freiheit etwa eine metaphysische Realität, die zum Faktum der Vernunft gehört. Diese neue, auf dem Faktum des Moralgesetzes fußende Freiheitskonzeption wird ein weiteres, weder ganz neues noch rein moraltheoretisches Projekt veranlassen, nämlich: Erneut die Beschäftigung mit der Frage nach der moralischen Motivation und demzufolge mit der Lehre des höchsten Guts (mit der sich Kant bereits in der KrV auseinandergesetzt hatte). Nun wird die Achtung nicht mehr bloß als ein „vernünftiges Wollen“ oder als das „Bewußtsein der Unterordnung meines Willens unter einem Gesetz ohne Vermittlung anderer Einflüsse auf meinen Sinn“, von dem man zum anderen keinen Beweis anführen kann (siehe GMS, 406.10).³³¹ Sondern Achtung wird tatsächlich als das „moralische Gefühl“³³² aufgefasst und auf diese Weise philosophisch belebt. Trotzdem soll darauf aufmerksam gemacht werden: Auch wenn die Annahme des Selbstbewusstseins als „bloße[r] Apperzetion“ seines Selbst eine vorkritische Last der spekulativen Freiheitstheorie aus der ersten Auflage der KrV sein möchte, wie Bernd Ludwig plausiblerweise vertritt,³³³ berührt dies die Gültigkeit und Konsistenz der reinen, moraltheoretischen Vorgaben im Hinblick auf das System der Sitten nicht im Mindesten, dessen Bau das Leitmotiv der GMS ausmacht. Die aufzulösende Aufgabe, nämlich „die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Princips der Moralität, welche allein ein in seiner Absicht ganzes und von aller anderen sittlichen Untersuchung abzusonderndes Geschäfte ausmacht“ (GMS, 392.03), hat Kant im Ersten und besonders im Zweiten Abschnitt des Werks reichlich und ausführlich bewältigt.
Vergleiche Ludwig 2010, 600, für den die Freiheit in der GMS sowohl als ratio essendi als auch als ratio cognoscendi des Gesetzes sei. Siehe oben 7.1.2.4.1 (e), wo ich aufgeklärt habe, warum Kant seine moralphilosophische Untersuchung auf das Moralprinzip als den objektiven Bestimmungsgrund, und nicht auf die Achtung als den subjektiven Bestimmungsgrund der Moralität abzielt. Siehe KpV, 075.16. Siehe Ludwig 2012.
Ertrag des Ganzen Wie die Einleitung in diese Dissertation ankündigte, waren Kants geschichtliche Quellen nicht Gegenstand meiner Forschung. Die Betrachtung derselben fußt allein auf den Textanalysen und Kants eigenen ausdrücklichen Verweisen. Meine Absicht ist, Kants Werdegang aus moralphilosophischer und handlungstheoretischer Perspektive, d. h. im Hinblick auf seinen ethischen Autonomiebegriff als vollständigen Ausdruck der Moralität¹ zu erläutern. Denn Kant definiert: „Moralität ist […] das Verhältniß der Handlungen zur Autonomie des Willens“ (GMS, 439.24). Und ebenso betitelt er eine Sektion am Ende des zweiten Abschnittes der GMS: „Die Autonomie des Willens als oberstes Princip der Sittlichkeit“ (GMS, 440.14). Damit will diese Dissertation zu einem besseren Verständnis von Kants moralphilosophischer Leistung und seiner Moralkonzeption beitragen.
1 Die Metapher „Entwicklung“ Wie bereits in der Einleitung erwähnt, legt Henrich seiner Auslegung von einer „Entwicklung“ von Kants Moralphilosophie die These zugrunde, „dass das Ende eines Weges an seinem Anfang gegenwärtig ist“². Aber die Metapher „Entwicklung“ schließt diese Bedeutung als „die Phase oder das Ergebnis der Erforschung oder Ausarbeitung von etwas“³ nicht unbedingt ein. Sondern sie kann auch auf eine zweite und dritte Bedeutung hindeuten, nämlich „de[n] Prozess, bei dem sich jemand bzw. Etwas verändert“ und „das Entstehen von Etwas“⁴. Die erste Bedeutung würde implizieren – so die Position Henrichs und Schmuckers –, dass Kant von Anfang an ein endgültiges Konzept der Moralphilosophie hatte: Das spätere komplexe moralphilosophische System hätte demnach bereits in den 1760er Jahren entstehen können. Aber erstens zeigte die interne Betrachtung der Materialien eingehend den Neuansatz eines jeden in moralphilosophischer Hinsicht relevanten Textes Kants; und zweitens wurde gezeigt, dass Kant seine alte Absicht, eine „Metaphysik der
Siehe GMS, AA 04: 439.24 ff. und 440.16 ff. Henrich 1965, 253. So der Artikel „Entwicklung“, in: Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache, 1998 (auf CD). Für einen ausführlicheren Blick auf die Bedeutungen siehe Artikel „Entwicklung“. In: www.dwds.de (siehe oben Schlüsse zum zweiten Teil, Fn.). Siehe den Artikel „Entwicklung“ in: Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache, 1998, und in: www.dwds.de. https://doi.org/10.1515/9783110584288-014
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Ertrag des Ganzen
Sitten“ zu liefern⁵, erst mit der GMS erfüllt. Dementsprechend plädiere ich für ein Verständnis der moralphilosophischen Entwicklung Kants als eines allmählichen, doch manchmal sprunghaft und abrupten Veränderungsprozesses: Die Konzeption einer reinen Moral gewinnt gegenüber den sowohl intellektuellen als auch materiellen moralischen Strömungen ab 1766, also relativ früh an Boden und mündet in eine erst 1785 definierte und nachhaltige Moralphilosophie und Handlungstheorie.
2 Kants gedankliche Phasen Meine Forschung ergab in moralphilosophischer Hinsicht vier klare Stadien in Kants gedanklicher Werdegang, welche die Grundlage für die vierteilige Gliederung der Dissertation ausmachen. Durch den folgenden Überblick über diese Stadien möchte ich nun zusammenfassend erläutern, wo die moralphilosophisch relevantesten Gedanken bzw. wann und welche neuen Prägungen und Anordnungen in dieser Entwicklung auftreten. Auf diese Weise soll erstens ersichtlich werden, dass die früh realisierten Fortschritte Kants in moralphilosophischer Hinsicht noch nicht erlauben, von einer Moralphilosophie zu sprechen, und zweitens dass und inwiefern sie zur 1785er Moraltheorie beitragen.
2.1 Das Rezeptionsstadium: 1762 – 1765 Der erste Teil dieser Dissertation stellt Kants frühes Interesse für die praktische Philosophie in den Vordergrund: Anhand der Unterscheidung zwischen der „Notwendigkeit der Mittel“ und „der Zwecke“ gelingt es, in der 1762 verfassten Untersuchung, ein erstes Element zur künftigen reinen Ethik zu schaffen, und zu beweisen, dass es in den Prinzipien der Ethik „Gewissheit“ (UD, 296.12) bzw. „philosophische[] Evidenz“ gibt (UD, 300.27). Dennoch sympathisiert Kant mit „Hutcheson und andere[n]“, bei denen er den „Anfang zu schönen Bemerkungen“ sieht (UD, 300.23): Der Mensch ist kein bloß rationaler Automat, sondern auch ein fühlendes Wesen, welches durch bestimmte Triebfedern, nämlich unmittelbare Empfindungen und Vorstellungen des Guten zum moralischen Handeln bewegt wird.
Von dieser Intention finden wir den ersten schriftlichen Nachweis im Brief Kants an Lambert vom 31.12.1765 (Br, AA 10: 056.22– 29).
2 Kants gedankliche Phasen
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Den Aufschwung der Schotten bezeugen die Beobachtungen (1764) augenfällig. Sie behandeln den Einfluss der Gefühle auf das Verhalten und zeigen, wie diese die moralischen Charaktere (die wahre Tugend vom Tugendhaften, die adoptierten Tugenden vom Sympathischen und den Tugendschimmer vom Eitelen) bestimmen. Zwar skizziert Kant schon den Schotten gegenüber ein besonderes, von den anderen Gefühlen unterschiedliches, und zwar echt moralisches Gefühl, um dessentwillen der Mensch nur auf die Allgemeinheit und Unbedingtheit bestimmter Normen und Prinzipien reagiert. Jedoch erörtert der Essay dieses Handeln nicht in moralphilosophischer Hinsicht, sondern als „Verhalten“, d. h. in psychologischer Hinsicht. Denn Kant erhebt keinen moralphilosophischen Anspruch, sondern greift auf Gefühle zurück, um menschliches Verhalten zu erklären. Außerdem spricht er von Grundsätzen, die sich nicht aus einer von allem Empirischen abgesonderten Entscheidung, sondern aus der Bestimmung durch Gefühle ergeben. Demzufolge gibt er dem moralischen Handeln die instabile Grundlage des Empfindungsvermögens, das „nicht einstimmig“ (GSE, 226.14), d. h. nicht regelmäßig ist. Und letztlich beschränkt er sich darauf, die verschiedenen Arten des Verhaltens zu beschreiben und sie gemäß ihrer nachteiligen oder vorteilhaften Folgen hinsichtlich des Ganzen der Menschheit zu beurteilen (bes. siehe GSE, 226.26 f.). Im Grunde genommen tragen also die Beobachtungen zur 1762er Moralkonzeption „notwendiger Zwecke“ nicht viel bei. Zuletzt bezeugten Kants Bemerkungen in seinem durchschossenen Exemplar der Beobachtungen (aus den Jahren 1764– 65) zwei entscheidende Merkmale: Einerseits eine erste, rudimentäre Klassifikation der Handlungsnotwendigkeit in problematische, pragmatische (bzw. kluge) und kategorische (bzw. moralische); und andererseits das Rousseausche „Gefühl des Rechts“, auf welches alles moralische Handeln zurückgeht. Die genannte Klassifikation ergänzt die 1762er Entgegensetzung von der „Formel der Verbindlichkeit“ und der „der problematischen Geschicklichkeit“ (UD, 299.06), welche auf der „Nothwendigkeit der Handlung“ jeweils als „eine[s] Zweck[s]“ oder „als eine[s] Mittel[s]“ beruht (UD, 298.10). Diese Einteilung zählt zu den späteren, reifen, wesentlichsten Gedanken Kants. Jedoch wird sie nur als eine elementare Skizze entworfen, welche im Rahmen der Moralvorlesung der Mitte der der 1770er Jahre Gegenstand einer grundlegenden Entfaltung sein wird. Seinerseits ist das Rechtsgefühl ein bloß „heuristisches Mittel“, wodurch der Mensch mittels der Fähigkeit, „sich auf Anderer Stelle zu versetzen“ (von der auch Rousseau⁶ spricht), ein Urteilskriterium des Guten und Bösen gewinnt.
Thematisiert wird diese Kapazität auch bei Smith [1759] 61790, 37– 43, 47, 461– 472. Zum unparteiischen Zuschauer siehe Smith [1759] 61790, 41, 47, 290 u. a.
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Ertrag des Ganzen
Dennoch weist die interne Textanalyse eine unüberwindbare konzeptionelle Konkurrenz zwischen den Gedanken einer moralischen, sogenannten „kategorischen“ Notwendigkeit und eines „Gefühl[s] des Rechts“ auf: Als objektive Notwendigkeit liegt ersterer eine Nötigung zugrunde, während letzteres letztlich auf der traditionellen Goldenen Regel⁷ gründet und mit ihm keinerlei Nötigung einhergeht. Außerdem weist Kants positive Besetzung des moralischen Gefühls als die ethische Instanz bzw. als handlungsbestimmenden Maßstab darauf hin, dass er immer noch in der Tradition verankert ist. Daher bezeichne ich diesen Zeitraum als Rezeptionsstadium. Dass diese Rezeption aber nicht passiv ist, zeigen die angedeuteten, ersten gründlichen Schritte, die auf eine reine Ethik richten.
2.2 Das kritisch-reflexive Stadium: 1766 bis Ende der 1770er Jahre Gegenüber der auf die damalige Debatte bezogenen Position aus der ersten Hälfte der 1760er Jahre zeigte der zweite Teil dieser Dissertation, dass Kant ab der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts zu Gunsten der moralischen Nötigung die Konzeption eines moralischen Gefühls ablehnt und die ersten eigenen rein moralphilosophischen Fundamente festlegt. Die Untersuchung der Texte beweist entgegen Menzers Interpretation, dass Kant sich ab 1766 und bis zum Ende der 1770er Jahre ausdrücklich von der Tradition entfernt: Kant soll nicht gegen seinen eigenen Willen bei dem sittlichen Gefühl „stehen bleiben“ müssen, wie Menzer meint, denn seine Absicht ist nicht, die „Ursachen desselben [sc. des sittlichen Gefühls] auszumachen“⁸. Ganz im Gegenteil: Kant wendet sich gegen die Idee, dass der Hauptgegenstand der Ethik das moralische Gefühl sei, und stellt das Moralgesetz als den geeigneten, moralischen Bestimmungsgrund der Handlung in den Fokus. Auf diese Weise bahnt Kant seinen Weg zu einer eigenen begrifflichen Entfaltung im Hinblick auf eine künftige Moralphilosophie bzw. eine „Metaphysik der Sitten“. Der Anfang dieses Weges befindet sich im Exkurs über Moralität in den Träumen. Kant verortet den – bisher im moralischen Gefühl liegenden – Ursprung moralischen Handelns in der „Regel des allgemeinen Willens“ und die dadurch bewirkte „moralische Nötigung“. So schafft Kant endgültig die bestimmende Rolle des moralischen Gefühls ab und verbannt es als bloße „Erscheinung“ der moralischen Nötigung (TG, 335.09) aus der Ethik. Denn Handlungen als spontane Taten einer „freien Willkür“ (TG, 336.13) richten sich nach den sogenannten
„Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg auch keinem anderen zu“. Vergleiche Menzer 1898, 322.
2 Kants gedankliche Phasen
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„pneumatischen Gesetzen“, während Wirkungen als physische Phänomene nach der unwandelbaren „Ordnung der Natur“ geschehen (TG, 336.01). Würden sich Handlungen aus dem „sittlichen Gefühl“ ergeben, dann würden sie durch eine „Erscheinung“ verursacht. Als solche wäre sie „als die Folge einer wahrhaftig thätigen Kraft […] vorzustellen […], so daß das sittliche Gefühl […] eine Folge der natürlichen und allgemeinen Wechselwirkung [wäre], dadurch die immaterielle Welt die sittliche Einheit erlangt, indem sie sich nach den Gesetzen dieses ihr eigenen Zusammenhanges zu einem System von geistiger Vollkommenheit bildet“ (TG, 335.23).
Hierin ist die erste konzeptionelle Wendung Kants zu erkennen: Nicht nur berichtigt er seine eigene Position den Schotten gegenüber, sondern er eröffnet der „necessitatem legalem“ den Weg zur philosophischen Entfaltung. Die gedankliche Wende „weg vom moralischen Gefühl“ ist der wichtigste Umbruch hin zur Konzeption einer „reinen Ethik“ (KrV, 050//A054/B079). Von einem „reinen moralischen System“⁹ spricht aber erst das Moralkolleg (V-Mo, 020.15/022); die prägnante, doch nur kurzgefasste und indirekte Bezeichnung der Moralphilosophie als „pura“ in der Dissertatio (MSI, 396.04) ist auf bereits früher entwickelte Gedanken zurückzuführen.¹⁰ Der Kant der Träume ist ein radikal anderer als der Kant der Untersuchung, welcher bei „Hutcheson und andere[n]“ den „Anfang zu schönen Bemerkungen“ sieht (UD, 300.23). In der Vorlesung zur Moralphilosophie der 1770er Jahre wird sich die Kritik Kants gegenüber der Tradition zuspitzen. Die Nachschrift bezeugt, warum (und inwiefern) Kant von den ethischen Einstellungen der Tradition Abstand nimmt und durch welche Züge sich die reine Ethik auszeichnet. Er reflektiert und begründet vertiefend seine neuen Ansätze und deren Richtigkeit. Anhand der leitenden Fragestellung, worin das Prinzip der Moralität bestehe (siehe V-Mo, 020.25/022), nimmt Kant den Weg zur gedanklichen Verfeinerung und Systematisierung seiner Ethik: Er behält der Ethik einen besonderen Platz in der Philosophie vor und weist ihr als Disziplin die spezifische Aufgabe zu, sichere Parameter moralischen Urteilens zu definieren (nämlich die der objektiven Notwendigkeit, der Unbedingtheit und der Allgemeinheit), wonach das Moralprinzip zu bestimmen ist. Kants Gedanken dieser Jahre befinden sich also in einem Veränderungsprozess, der sich durch einen kritischen und konstruktiven Eifer auszeichnet. Daher
Eine direkte Redewendung einer „reinen Ethik“ o.Ä. kommt in der Dissertatio nicht vor. Vergleiche Schwaiger 1999, 81 ff. Siehe Brandt, Reinhard: „Überlegungen zur Umbruchsituation 1765 – 1766 in Kants philosophischer Biographie“. In: Kant-Studien 99(2008), 46 f., 62 f.
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Ertrag des Ganzen
wird dieser Zeitraum von 1766 bis zum Ende des 1770er Jahrzehnts als kritischreflexives Stadium charakterisiert. Jedoch offenbart sich durch die Untersuchung der Vorlesung, dass Kant noch über kein ethisches System und Moralprinzip verfügt.
2.3 Das Stadium der Methode: Kants Propädeutik von 1781 Die erste Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1781) stellt die rein theoretischen Grundlagen und Grenzen der Vernunft fest und legt dadurch endlich die transzendentale Methode dar. Im Unterschied zur Untersuchung, wo Kant sich bloß von „Erfahrungssätze[n] und daraus gezogene[n] unmittelbare[n] Folgerungen“ bedient (UD, 275.17), leitet die KrV die apriorische Struktur der Vernunft, d. h. ihre apriorischen Formen der Sinnlichkeit und deren reine Begriffe und Grundsätze des Verstandes ab, durch deren Synthesis allein erweiternde Erkenntnisse a priori erworben werden können. Dadurch legt Kant Quellen, Umfang und Grenzen der Vernunft fest. Mit den Worten der Grundlegung „[trägt] [die] Transscendentalphilosophie […] bloß die besondern Handlungen und Regeln des reinen Denkens, d. i. desjenigen, wodurch Gegenstände völlig a priori erkannt werden, vor“ (GMS, 390.30). Damit gelingt es Kant, nicht nur das Philosophieren überhaupt, sondern auch die Metaphysik als Wissenschaft der apriorischen Erkenntnissysteme zu bestimmen und sie von allem „Geschwätz“¹¹ fernzuhalten. Mit der transzendentalen Methode leistet die KrV den bedeutendsten Beitrag in philosophisch-spekulativer Hinsicht. Daher wird diese Phase als das Stadium der Methode bezeichnet. Die erworbene Methode erlaubt Kant, im Rahmen der „Transzendentalen Dialektik“ die dialektischen Schlüsse, in die die reine Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauch bei Beschäftigung mit den Ideen von Ich, Welt und Gott gerät¹², in den Vordergrund zu rücken und aufzulösen. Im Hinblick auf das Forschungsfeld dieser Dissertation ist die KrV insofern relevant, da Kant im Kontext der Antinomie erstmals, und zwar in spekulativer Hinsicht, seine Freiheitstheorie darlegt: Der Mensch besitzt eine freie Willkür und ist daher erster Anfang seiner Handlungen; er wählt Maximen, also sind sie ihm zurechenbar. Damit gelangt Kant zu einer reiferen Position.
Dazu siehe KrV, 054.21//A062/B086, GMS, 409.33, KrV, 021.33//BXXV. Das sind, wie gewusst, die vierfachen Paralogismen bei der Psychologie, die vierfachen Antinomien bei der Kosmologie und das Ideal bei der Theologie.
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Durch diese Freiheitstheorie kann weder die „Wirklichkeit“ noch die „Möglichkeit“ der Freiheit (qua Begriffen der Modalität) bewiesen werden, da sie bloß eine Idee der Vernunft ist. Stattdessen besteht die theoretische Aufgabe darin, nur zu zeigen, „daß Natur der Causalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite“ (KrV, 377.28//A557 f./B585 f.). Und das gelingt insofern, als die betreffende Idee bzw. die „transzendentale Freiheit“ als „das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen“ bzw. als „Spontaneität“ (KrV, 363.08//A533/B561) definiert wird, welche die Unabhängigkeit vom „Gesetze der Causalverknüpfung“ impliziert (KrV, 363.23//A533/B561). Diese widerspruchsfreie Idee findet Bestätigung „durch bloße Apperception und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er [sc. der Mensch] gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann“ (KrV, 371.04// A546/B574). Das heißt: Die praktische Freiheit als „Vermögen, sich unabhängig von der Nöthigung durch sinnliche Antriebe von selbst[¹³] zu bestimmen“ (KrV, 364.02//A534/B562), gibt uns einen Nachweis der Widerspruchslosigkeit (bzw. der „objective[n] Realität“ als Kategorie der Qualität [KrV, 524.31//A808/B836]) und somit der „Möglichkeit“ (KrV, 366.05//A538/B566) unserer transzendentalen Freiheit. Denn erst diese verspricht die „Möglichkeit der Causalität durch Freiheit [lies: die praktische Freiheit] in Vereinigung mit dem allgemeinen Gesetze der Naturnothwendigkeit“ (KrV, 366.05//A538/B566). Trotz der dargelegten Freiheitstheorie zeigt die vielschichtige Analyse von Argumentation, Struktur und Absicht des Textes, dass sich kein reines moralphilosophisches System darauf gründet; die KrV verliert ihre propädeutische Absicht nicht aus den Augen. Dennoch betrachtet der „Kanon der reinen Vernunft“ erneut die Ideen Gottes und der Welt¹⁴, (die für die spekulative Vernunft notwendig sind und deshalb bereits in der „Dialektik“ abgehandelt wurden), und zwar nach dem ihnen gebührenden, d. i. praktischen Gebrauch der Vernunft; denn die Vernunft hat ein praktisches Interesse an ihnen. Mit der praktischen Freiheit und der moralischen Frage, „Was soll ich thun?“ (KrV, 522.33//A805/B833), beschäftigt sich zwar der „Kanon“, aber nur beiläufig, denn sein Ziel ist die sogenannte „Moraltheologie“ und deren Frage lautet: „wenn ich nun thue, was ich soll, was darf ich alsdann hoffen?“ (KrV, 523.15//A805/B833). In diesem Zusammenhang findet sich 1781 eine allererste Formulierung des Moralprinzips: „Thue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein“ (KrV, 525.12//A808 f./B836 f.). Aber meine Untersuchung zeigt, dass Gott als Garant einer künftigen moralischen und gerechten Welt die alleinige Motivation für das D. h.: nach „den Imperativen“ des „Sollen[s]“ (KrV, 371.15//A547/B575). Der „Kanon“ betrachtet nicht die Idee der Freiheit (die Kant bereits in der „Dialektik“ bestimmt), sondern die praktische Freiheit, und zwar nur um der Ideen Gottes und der Unsterblichkeit willen. Dazu siehe oben 6.2.2.2.
416
Ertrag des Ganzen
moralische Handeln ist (siehe KrV, 527.29//A813/B841). Obwohl die Moralität konzeptuell bereits auf allgemeingültige Maximen zurückgeht und die dargelegte Idee der Freiheit als notwendige Voraussetzung einer praktischen Freiheit auftritt, (die sowohl durch „bloße Apperception“ als auch durch die Erfahrung als handelndes Subjekt erkennbar ist), zielt der praktische Begriff der Freiheit zuletzt auf eine künftige Welt ab. Die Moraltheologie bzw. der „vernünftige Glaube“ (siehe GMS, 462.29) „bewirk[t]“ – in Worten der GMS – „ein lebhaftes Interesse an dem moralischen Gesetze in uns […]“ (GMS, 463.01). Zudem gründet sich das angekündigte Moralprinzip auf einer Glückswürdigkeit. Dies verweist darauf, dass Kant 1781 noch dem moralphilosophischen Standpunkt des Moralkollegs verhaftet ist, wo die erwähnte Frage nach dem Moralprinzip unter die umfassendere Betrachtung des summum bonum als Konglomerat von physischem und moralischem Gut subsumiert wird (siehe V-Mo, 009.24 ff./012 ff.). Ebenso resultiert aus meiner Analyse, dass die ethische Konzeption des Allgemeinwillens 1781 noch immer auf der Rousseauschen (politischen) volonté générale fußt, die „alle Privatwillkür in sich oder unter sich befaßt“ (KrV, 526.03//A810/B838). Es handelt sich also um einen allgemeinen, obersten Willen, der – in demselben Sinne der Träume ¹⁵ (1766) – als „eine[] selbstständige[] Ursache oder ein[] weise[r] Weltregierer[]“ (GMS, 531.03//A818/B846) eine „systematische Einheit der Zwecke in dieser Welt der Intelligenzen“ schafft. „Aber diese systematische Einheit der Zwecke [nach allgemeinen und nothwendigen Sittengesetzen] in dieser Welt der Intelligenzen, welche, obzwar als bloße Natur nur Sinnenwelt, als ein System der Freiheit aber intelligibele, d. i. moralische, Welt (regnum gratiae) genannt werden kann, führt unausbleiblich auch auf die zweckmäßige Einheit aller Dinge, die dieses große Ganze ausmachen, nach allgemeinen Naturgesetzen, […] und vereinigt die praktische Vernunft mit der speculativen“ (KrV, 529.09//A815/B844).
Die gesamte Untersuchung der moralphilosophisch relevanten Abschnitte ergibt, dass Kants Absicht sich darauf beschränkt, mit den „kritischen“ erkenntnistheoretischen Ansätzen nur die Propädeutik zur künftigen Einrichtung vom Gebäude der reinen Vernunft zu liefern, welches dann schon eine „Metaphysik der Sitten“ und eine „Metaphysik der Natur“ enthalten soll.
TG, 335.08: „Dadurch sehen wir uns in den geheimsten Beweggründen abhängig von der Regel des allgemeinen Willens, und es entspringt daraus in der Welt aller denkenden Naturen eine moralische Einheit und systematische Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen“.
2 Kants gedankliche Phasen
417
2.4 Das Stadium der Metaphysik: Die Genese des ethischen Autonomiebegriffs 1785 Wie der vierte Teil dieser Dissertation zeigt, spielt die Ansicht einer Moraltheologie (und somit auch die Ideen Gottes und einer künftigen Welt sowie die Glückswürdigkeit) im Hinblick auf die wesentliche Aufgabe der GMS keine Rolle mehr. Während die Moraltheologie eher auf den Sinn der Moralität hinarbeitet, zielt die GMS auf die grundlegende Beantwortung der moralischen Frage „Wie soll ich handeln?“ ab. Dazu soll zunächst eine „reine Moralphilosophie“ erarbeitet werden, welche den Grund bzw. die rationale Basis des ganzen „Systems einer Metaphysik der Sitten“ ausmacht.¹⁶ Auf solche Weise können wir wissen, „wie viel reine Vernunft […] leisten könne, und aus welchen Quellen sie selbst diese ihre Belehrung a priori schöpfe“ (GMS, 388.37 f.)¹⁷. Das heißt aber nicht, dass sie als eine solche Grundlegung die Methode des Verfahrens im Gebiet der Metaphysik der Sitten darstellt, wie von Allison vertreten.¹⁸ Denn: „es [kann] doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft sein, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß“ (GMS, 391.27). Anhand eines apriorischen Instrumentariums (das sind [i] die moralischen Vorstellungen des reinen Willens, des Guten, der sittlichen Gesetze und der Pflicht, zu denen die „gemeine Vernunft“ (GMS, 394.35) gelangt, [ii] die Modi der Urteile und die Kategorien¹⁹ und [iii] die transzendentale Idee der Freiheit) gelingt es Kant, erstens, das Objekt eines guten Willens, nämlich das an sich Gute zu bestimmen, und, zweitens, ein oberstes, rein apriorisches Moralprinzip zu formulieren, welches die normative Begründung moralischer Handlungsprinzipien ermöglicht. Dadurch legt die GMS den Rahmen²⁰ des reinen moralphilosophischen „Systems“ fest, wozu auch sie selbst gehört und worauf
Die „Metaphysik der Sitten“ im Ganzen (so die hier bearbeitete Konzeption Kants bis 1785) besteht aus einem rationalen und einem empirischen Teil. Ersterer beinhaltet die reine Moralphilosophie als Grund des Systems (was die GMS liefert) und die „Metaphysik der Sitten“ sensu stricto, welche dem Willen Gesetze gibt. Der empirische Teil enthält die praktische Anthropologie. Also weder verschafft die GMS eine neue Methode für den praktischen Gebrauch der Vernunft (die transzendentale Methode der KrV steht fest) noch hätte sie nur „Metaphysik der Sitten“ heißen sollen. Dazu siehe oben 7 (b). Siehe GMS, 389.36, 389.37 f., 390.03. Vergleiche Allison 2011, 5, der die GMS als ein „preliminary work“ zur Begründung einer Metaphysik der Sitten sieht. Siehe unten Anhang 5. Siehe GMS, 455.10.
418
Ertrag des Ganzen
„[dereinst] eine Metaphysik der Sitten[²¹] [geliefert werden]“ soll (GMS, 391.16).²² In dieser Hinsicht bedeutet das Programm der GMS zwar eine Kontinuität gegenüber dem propädeutischen Programm der KrV. Aber sie wirft inhaltlich, aus rein moralphilosophischer Perspektive, eine neue Frage auf. Die Funktion des Willensbegriffs wird 1785 wesentlich:²³ Neu konzipiert als „praktische Vernunft“ (siehe GMS, 412.30) wird der gute Wille sowohl der handlungstheoretische (siehe GMS, 412.26) als auch der moralphilosophische (siehe GMS, 393.05) Ansatzpunkt: Von ihm aus wird das an sich Gute eingesehen, die Idee der Pflicht untersucht, der Grund eines Moralprinzips entdeckt und die moralische Maxime einer Handlung normativ begründet. Gleichzeitig ist die „Gründung eines guten Willens“ qua des Musters einer guten freien Willkür der zu erfüllende ethische Zweck überhaupt (GMS, 396.20 – 33). Dies bedeutet eine Revolution, die als ein zweiter konzeptioneller Umbruch verstanden werden muss. Hinsichtlich der Ausgestaltung eines rein formalen Moralsystems spielen die Ideen Gottes und einer künftigen Welt sowie die Glückswürdigkeit, die alle drei das Fundament der kantischen Moraltheologie ausmachen, keine Rolle mehr. Außerdem hat sich die Idee des Willens von der politischen Bedeutung einer Rousseauschen volonté générale, nämlich als jede Privatwillkür vereinheitlichend (siehe KrV, 526.02//A810/B838) losgelöst. Schließlich ist diese Neukonzipierung des guten Willens in genetischer Hinsicht von äußerster Bedeutung, da sie einen dritten konzeptionellen Umbruch mit sich bringt, nämlich die Neuprägung eines ethischen Autonomiebegriffs, welcher sich aus der Synthese von den Begriffen des Willens, der Freiheit und des Gesetzes ergibt. Mit der „Autonomie“ deutet Kant erstens auf die freie Natur des menschlichen Willens (d. h. die Spontaneität, somit Unabhängigkeit von der allgemeinen Kausalverknüpfung), zweitens auf den moralischen Gebrauch der Freiheit nach allgemeingültigen Maximen, d. h. die moralische Selbstbestimmung, und drittens auf das „oberste Princip der Sittlichkeit“ (GMS, 440.14), welches die Freiheit des Menschen bestimmen soll und wonach allein von Moralität zu sprechen ist. Alles in allem ermöglichen die beiden zuletzt genannten Umbrüche, dass Kant mit der GMS das Erdgeschoss des ganzen „Gebäudes“ bzw. des „Systems der Metaphysik der Sitten“ errichtet. Daher nenne ich diese Phase, in der Kant endlich
Lies: „besonderer Moral“. Diese setzt die durch die GMS festgelegte „systematische Einheit“ (KrV, A832/B860, A845/B873; siehe KrV, A832/B860, A832/B860, A833/B861, A834/B862) der reinen Moralphilosophie als reines System der Vernunft voraus. Siehe GMS, AA 04: 421.26. Vergleiche Hinske, Norbert: „Vom Thesaurus zum Erkenntnisinstrument? Möglichkeiten und Grenzen EDV-erzeugter Indices im Umkreis der Philosophie“. In: Lexicographica 10(1994), 28. Vergleiche Schwaiger 1999, 75. Siehe GMS, AA 04: 396.20. So auch Engstrom 2015, 143 f.
3 Schluss
419
seine originäre reine Moralphilosophie und Handlungstheorie konzipiert und darlegt, das Stadium der Metaphysik.
3 Schluss Die vorgeführte prospektive chronologische Untersuchung erlaubt nun, Kants kritischen Charakter und seine moralphilosophischen Leistungen aus den 1760er und 1770er Jahren bis zur KrV retrospektiv zu verdeutlichen. Die erstmals in der GMS von 1785 systematisch dargelegte reine Moralphilosophie ist in den früheren Schriften (Werken, Handschriften und studentischen Kollegnachschriften) nicht auffindbar. Das heißt jedoch nicht, dass Kant sie sich plötzlich ausgedacht und kurzerhand aufs Papier geworfen hat. Wie der vorhergehende Abschnitt und die Arbeit im Ganzen zeigen, sind bereits in den frühen Jahren, in denen Kant sich mit moralphilosophischen Themen beschäftigt, einzelne Gedanken und Entwürfe zu erkennen, die im Nachhinein als Bausteine des Moralsystems fungieren und somit als fundamentale Beiträge gelten müssen. Aber für Kant ist (bereits seit 1762 [siehe UD, 275]) von enormer Bedeutung, eine einheitliche Methode zu finden, wodurch die Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauch ihre Quellen, ihren Umfang und ihre Grenzen festlegt (siehe KrV, 009.11//AXII) und sie die Richtlinien der reinen Philosophie setzen kann. Nur so erscheint ein Fortschritt in der Philosophie möglich. 1781, nachdem Kant seine transzendentale Methode erfunden und anhand derselben – sein Beispiel paraphrasierend – die Grundmauern und -pfeiler der philosophischen Erkenntnis errichtet hat, verfügt er über die Bedingungen für den Aufbau des Gebäudes der metaphysischen Systeme. Dennoch erweist sich die Transzendentalphilosophie nicht als ein geeigneter Rahmen für die Entfaltung einer „Metaphysik der Sitten“, mithin auch nicht der (reinen) Moralphilosophie, deren Begriffe, Ideen und Gesetze sich zuletzt an die pathologische Seite des Menschen richten (siehe KrV, 024.29 f.//A014 f., 520 Fn.//A801/B829 Fn.). Daher verschiebt Kant diese Aufgabe in die Zukunft. Nun: Wie ist Kant dazu gekommen, eine Ethiktheorie zu entwerfen, welche „die Autonomie des Willens“ sowohl „als oberstes Princip der Sittlichkeit“ (GMS, 440.14), d. h. als Grund, und auch als Hauptziel, d. h. als Zweck der Ethik (siehe GMS, 396.14– 37) festlegt? Die durchgeführten Analysen stellen Folgendes in den Vordergrund: Wenn Kant sich entschließt, eine reine Moralphilosophie darzulegen, erweist sich der moralphilosophische Ansatz des „Kanons der reinen Vernunft“ in der KrV sowohl in „kritischer“ als auch in systematischer Hinsicht als völlig ungenügend: Dreh-
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Ertrag des Ganzen
und Angelpunkt der ethisch relevanten Argumentation ist zuletzt die Moraltheologie; die verschiedenen Beiträge von 1781 unterliegen keinem System.²⁴ Frühestens 1784 stellt sich der Wille, sofern er das Moralvermögen ist, als Grund des ganzen „Systems einer Metaphysik der Sitten“ dar. Zwar sind die Gesetze der Freiheit der Gegenstand der „Ethik“ (siehe GMS, 387 f.) und das an sich Gute ihr Ziel. Aber das eigentliche Subjekt ist der Wille als das Vermögen, welches sich durch Freiheit auszeichnet. Bei seiner Tätigkeit macht er von seinen Gesetzen Gebrauch und kann dadurch das an sich Gute hervorbringen. Absicht einer reinen Moralphilosophie (als Fundierung der Ethik) ist die „Aufsuchung und Festsetzung des obersten Princips der Moralität“ (GMS, 392.03). So wird das Wollen nur auf den an sich guten Gebrauch der Freiheit, mithin auf die „Gründung eines guten Willens“ (GMS, 396.33) gerichtet, ist also unabhängig von anderen Zwecken des menschlichen Wollens, auch von der Hoffnung auf Glückseligkeit. Gefordert ist ein formales Prinzip, welches erstens das an sich Gute objektiv, unbedingt und notwendig, d. h. allgemeingültig definiert, was zweitens die formale Begründung der Moral ermöglicht und drittens die formale Beurteilung der materiellen Handlungsregeln und -maximen erlaubt. Demgegenüber zielt das erstmals im „Kanon“ formulierte Moralprinzip nicht bloß auf das moralisch Gute, sondern auf das höchste (aus Tugend und Glückseligkeit bestehende) Gut ab. Insofern vermengen sich unter diesem der dem Menschen spezifische Zweck der Tugend (wegen seiner moralischen Natur) und der wirkliche (weil psychologisch feststellbare) Zweck der Glückseligkeit. Aber daraus ergibt sich zuletzt eine moralphilosophische Konzeption, die nicht selbstständig ist, sondern von einer Moraltheologie abhängig bleibt: Da Glückseligkeit erst in einem künftigen Leben erreichbar ist, welches nur Gott gewährleisten kann, so verlangen die moralisch normativen Handlungsprinzipien hinreichende Triebfedern. Diese können nur durch die Unsterblichkeit und Gott vorgestellt werden. Die vorgelegte Dissertation zeigt, dass Kant erstmals in der GMS den Willen in das Zentrum seiner Überlegungen stellt (was hauptsächlich auf die 1766er Abschaffung des moralischen Gefühls als Vermögen, das Gute unmittelbar wahr-
In der KrV findet man keine Überlegungen zu einem Ideal des menschlichen Willens (der das moralisch Gute verkörpert und worauf die konsekutiven Handlungsbestimmungen abzielen sollen); keine moralphilosophischen Betrachtungen über die Pflicht und ihren begrifflichen Grund im Guten; keine Handlungstheorie und Erläuterung über den Ursprung moralischer Nötigung (obwohl das Moralkollegheft Kaehlers bezeugt, dass Kant mitten in den 1770er Jahren diesbezüglich schon manches Fortdauernde ersinnt); keine Klassifikation und vertiefende Darlegung der Imperative, ihrer Natur und Möglichkeit; viel weniger den Begriff eines Willens einerseits qua praktischer Vernunft, d. h. reinen gesetzgebenden Vermögens, andererseits qua freier Willkür, d. h. handelnden Vermögens. Zum Willensbegriff in der GMS siehe oben 7.2.2.
3 Schluss
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zunehmen, zurückgeht) und ihn als ein vielschichtiges Vermögen ausarbeitet, woraus der Gedanke der moralischen Autonomie entsteht. Der menschliche Wille ist als „praktische Vernunft“ das gesetzgebende Vermögen. Als Vernunft besteht die Tätigkeit in der Vorstellung eines allgemeingültigen Gesetzes; und als vernünftiger Wille ist die praktische Tätigkeit das reine Wollen dieses Gesetzes, bzw. die von Kant sogenannte Achtung vor dem Gesetz. Also versorgt sich der Wille mit zwei vernünftigen Bestimmungsgründen, nämlich einem formalen (dem Gesetz) und einem materiellen (der Achtung), welche sich aus seiner endlichen zugleich vernünftigen und wollenden Natur ergeben. So wird der Wille in moralphilosophischer Hinsicht Urheber eines obersten Moralprinzips. Aber dem Menschen, als freiem und durch Sinnlichkeit affiziertem Subjekt, ist eine freie Willkür inhärent. Als freie ist es ihre Tätigkeit, (nach dem Gesetz und der Achtung) Handlungsmaximen zu beschließen und zu wählen und schließlich sich danach selbst zu bestimmen, d. h. autonom zu handeln. Dementsprechend ist der Wille in handlungstheoretischer Hinsicht auch der Erfüller des obersten Moralprinzips. Schließlich besteht sowohl das oberste Prinzip der Moralität als auch die „Gründung eines guten Willens“ in nichts Anderem als in der Autonomie des Willens.
Anhänge zu verschiedenen Zwecken
Anhang 1: Untersuchung über die Deutlichkeit (1762)
https://doi.org/10.1515/9783110584288-015
Anhang 2: Beobachtungen (1764) A Inhaltliches Schema des 2. Abschnitts¹
B Schema der moralischen Konzeption Kants²
Die für den Phlegmatiker typische Fühllosigkeit bringt kein Korrelat als moralischen Charakter hervor. Siehe oben 2.1.2 und darin das Zitat Bem., 119.08. Das „Gefühl für die Schönheit und die Würde der menschlichen Natur“ geht auf ein bestimmtes harmonisches Bild der Menschheit zurück. Es handelt sich also nicht um das betrachtete Gefühl des Schönen, das auch „Gefühl einer unmittelbaren Lust an gütigen und wohlwollenden Handlungen“ genannt wird. https://doi.org/10.1515/9783110584288-016
Anhang 3: Bemerkungen in den „Beobachtungen“ (1764 – 65) Bemerkungen zum Begriff des „Willens“
„Ein Wille der eines andern seinem unterworfen | ist …[¹] unvollkommen … und wiedersprechend denn | der Mensch hat spontaneitatem, ist er dem Willen eines Menschen unter15|worfen (wenn er gleich selbst schon wählen kann) so ist er häßlich | und verächtlich allein ist dem Willen Gottes unterworfen so | ist er bey der Natur. Man muß nicht Handlungen aus Gehorsam | gegen einen Menschen thun die man aus innern Bewegungsgründen | … thun könnte und der Gehorsam fordert wo innere Bewe20|gungsgründe würden alles gethan haben macht Sclaven“ (Bem., 052.13)². (ii) Welcher Wille gut seyn soll muß wenn er allgemein | und gegenseitig genommen wird sich nicht selbst aufheben | um des willen wird der andre nicht dasjenige sein | nennen was ich gearbeitet habe[³] denn sonst würde | er voraus setzen daß sein Wille meinen Körper[⁴] bewegte 5| […]
(i)
Der Gehorsam des Kindes gegen die Eltern gründet | sich nicht 1. auf Dankbarkeit. 2. nicht darauf daß 10| sie sich nicht selbst erhalten können denn das wäre | auf den Nutzen gegründet sondern weil sie keinen eignen completen Willen haben und es
Die von Kant gestrichenen Worte, die Marie Rischmüller in eckigen Klammern wiedergibt, lasse ich weg und ersetze sie durch drei Punkte ohne Klammern. Bem., 062.01: „sensus subjecti bene vel male affectio afficiendi | … potestas legislatoria non nititur amore | sed reverentia et facultate morali extorquendi“. [„Die gesetzgebende Gewalt, die Sinne des Untertans gut oder schlecht zu affizieren, beruht nicht auf der Liebe, sondern der Hochachtung der moralischen Kraft des Nötigens“. Rousseau stellt in Emil (1762, 128, 1. Bd.) den Landbau als die beste Art und Weise dar, um zu erklären, was Eigentum ist. Bem., 052.22: „Der Leib ist mein denn er ist ein Theil meines Ichs und wird durch meine Willkühr bewegt. Die gantze belebte oder unbelebte Welt die nicht eigene Willkühr hat ist mein in so fern ich sie zwingen und sie nach meiner Willkühr bewegen kann. Die Sonne ist nicht mein. Bey einem andern Menschen gilt dasselbe, also ist keines Eigenthum eine Proprietat oder ein ausschliessendes Eigenthum. In so fern ich aber ausschließungsweise mir etwas zueignen will so werde ich des andern Willen wenigstens nicht gegen den meinigen oder nicht seine That wieder die Meinige voraussetzen. Ich werde also die Handlungen ausüben die das mein bezeichnen den Baum abhauen p. p. Der andre Mensch sagt mir das ist sein denn es gehört durch die Handlungen seiner Willkühr gleichsam zu seinem Selbst“. https://doi.org/10.1515/9783110584288-017
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Anhang 3: Bemerkungen in den „Beobachtungen“ (1764 – 65)
gut ist durch | den Willen anderer dirigirt zu werden[⁵]. Da sie aber | so fern eine Sache der Eltern seyn weil sie 15| nur durch ihre Willkühr leben so ist es | moralisch gut von ihnen regirt zu werden. Können | sie sich selbst … ernähren so hört | der Gehorsam auf[⁶]. | Wir gehören gleichsam zu den göttlichen Sachen und sind 20| durch ihn und seinen Willen … Es kann manches dem | Willen Gottes gemäß seyn was aus inneren | Bewegungsgründen gar nicht gut wäre e. g. seinen | Sohn zu schlachten. Die Bonitaet des Gehorsams | beruht nun darauf[⁷]. Mein Wille nach seinen Bestimmungen ist 25| jederzeit dem Willen Gottes unterworfen, er stimmt also mit | sich selbst am besten zusammen wenn er mit dem göttlichen | zusammenstimmt und es ist unmöglich … das es böse | sey dem göttlichen Willen gemäß zu seyn“ (Bem., 053.01). (iii) „Es ist in der Unterwurfigkeit … nicht allein | was äußeres Gefahrliches sondern … noch eine | gewisse Häßlichkeit und ein Wiederspruch der zugleich | seine Unrechtmäßigkeit anzeigt. Ein Thier ist noch nicht 5| ein completes Wesen weil es sich seiner Selbst | nicht bewust ist und seinem Triebe und Neigungen mag | nun durch einen andern wiederstanden werden oder nicht | so empfindet es wohl sein Übel aber es ist jeden | Augenblick vor ihm verschwunden und es weiß nicht 10| von seinem eigenen Dasein. Daß der Mensch aber selbst | gleichsam keiner Seele bedürfen und … keinen eigenen | Willen haben soll und daß eine andere Seele meine Gliedmaßen | bewegen soll das ist ungereimt und verkehrt: | Auch in unsern Verfassungen ist uns ein jeder Mensch verächtlich 15| der in einem großen Grade unterworfen ist – – – – – – |“ (Bem., 075.02). (iv) „Der Wille ist vollkommen in so fern er nach den Gesetzen der 5| Freyheit der großte Grund des Guten überhaupt ist | Das moralische Gefühl ist das Gefühl von der Vollkommenheit des Willens“ (Bem., 109.05). (v) „Das Gefühl der Lust und Unlust ist entweder über | das wogegen wir leidend seyn oder über uns 5| selbst als ein thätig principium durch Freyheit von dem Guten und Bösen. Das letztere ist das moralische Gefühl | Das vergangene physische Böse … erfreut | uns aber das moralische betrübt uns und | es ist eine gantz andre Art Freude über das Gute 10| was uns zufällt und das was wir thun“ (Bem., 116.04).
Es handelt sich also um kein Unterdrückungsverhältnis, wie im Fall des Lakais dem Herrn gegenüber (siehe Bem., 075.27). Siehe Rousseau 1755, I. Abs. 24, II. Abs. 40. Dazu siehe die Geschichte von Abraham und Isaak, Bibel, 1. Mose, 22 (bes. 22: 9 – 18) u. siehe unten Fn. zu Bem., L 129.01.
Bemerkungen zum Begriff des „Willens“
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(vi)
„Omnis bonitas conditionalis actionis est vel sub| conditione possibili (uti problemata) vel actuali 20| (uti regulae prudentiae quilibet vult sanus esse) | sed in bonitate mediata vel conditionali το | velle absolute non est bonum nisi adsint vires | et circumstantiae temporis loci. Et in tantum | quatenus voluntas est efficiens est bonum 25| sed poterit haec bonitas etiam qua voluntatem | solam spectari. si desint vires tamen est laudanda | voluntas in magnis voluisse sat est et perfectio | haec absoluta qvatenus utrum aliqvid inde | actuatur nec ne est indeterminatum dicitur moralis 30|“ (Bem., 118.19)⁸. (vii) „Quantumvis … falsiloquium aliis aliquando admodum sit | utile tamen erit mendacium nisi ad illud incumbat obligatio stricta | hinc videre est … veracitatem non a Philantropia sed a sensu 20| juris quo fas ac nefas distinguimus pendere. Hic sensus autem | originem ducit a mentis humanae natura per quam … | quid sit bonum categorice (non utile) judicat non ex privato | commodo nec ex alieno sed eandem actionem ponendo in aliis si oritur … | oppositio et contrarietas displicet si harmonia et consensus 25| placet. Hinc facultas stationum moralium ut medium | heuristicum. Sumus enim a natura sociabiles et quod | improbamus in aliis in nobis probare sincera mente non | possumus. Est enim sensus communis veri et falsi non nisi | ratio humana generatim tanquam criterium veri et falsi et sensus 30| boni vel mali communis criterium illius. Capita sibi | opposita certudinem logicam corda moralem tollerent. |“ (Bem., 125.18)⁹.
Bem., L 118.19 (vi): „Alle bedingte Bonität einer Handlung steht entweder unter einer möglichen Bedingung (wie die Probleme) oder unter einer wirklichen (wie die Regeln der Klugheit; jeder will gesund sein), aber in einer vermittelten oder bedingten Bonität ist das absolute Wollen nicht gut, wenn nicht Kräfte da sind und die Umstände der Zeit und des Ortes. Und es ist insofern ein Gutes, wie der Wille wirksam ist, aber man wird diese Bonität auch im Hinblick nur auf den Willen betrachten können. Mögen auch die Kräfte fehlen, so ist doch der Wille lobenswert. In großen Dingen genügt es, den Willen gehabt zu haben. Und diese absolute Vollkommenheit wird, sofern unbestimmt ist, ob etwas von ihr bewirkt wird oder nicht, moralisch genannt“. Bem., L 125.18 (vii): „Wenn auch die falsche Aussage manchmal für andere ziemlich nützlich sein mag, so ist es doch eine Lüge, wenn nicht eine strikte Verpflichtung dazu nötigt.Von hier aus kann man sehen, daß die Wahrhaftigkeit nicht von der allgemeinen Menschenliebe, sondern vom Gefühl des Rechts, durch das wir das Rechtliche abwägend zu unterscheiden lernen, abhängt. Dieses Gefühl aber hat seinen Ursprung in der Natur des menschlichen Geistes, durch die er das, was kategorisch gut ist (nicht nützlich), nicht nach dem privaten oder fremden Nutzen beurteilt, sondern dadurch, daß er dieselbe Handlung in andere verlegt; entsteht dann ein Gegensatz und Kontrast, so mißfällt sie, entsteht Harmonie und Einklang, so gefällt sie. Daher die Fähigkeit, sich in die Stelle anderer zu versetzen, als heuristisches Mittel. Wir sind nämlich von Natur gesellig und können ehrlicherweise das in uns nicht gutheißen, was wir bei andern tadeln. Es ist nämlich der Gemeinsinn des Wahren und Falschen nichts anderes als die menschliche Vernunft, allgemein genommen als Kriterium des Wahren und Falschen, und der (Gemein)sinn des Guten und
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Anhang 3: Bemerkungen in den „Beobachtungen“ (1764 – 65)
(viii) „Bonitas voluntatis … ab effectibus et earum immediata | voluptate repetita est vel privatae vel publicae utilitatis | et prior rationem habet in indigentia posterior in potentia boni 35| prior propriae utilitatis posterior communis utilitatis instinctus | ambo simplicitati naturali conformes. Sed voluntatis tanquam | principii liberi bonitas non quatenus proficiscuntur illae utilitates | inde sed quatenus in se sunt possibiles cognoscitur. 40|“ (Bem., 125.33)¹⁰. (ix) „Quatenus meae voluntati res modificabilis paret mea est | sed possum meam voluntatem alteri veluti devincire | Schuldigkeit ist der gemeinschaftliche Eigennutz in aequilibrio | Officium est vel beneplaciti … vel debiti | actiones priores sunt moraliter spontanae posteriores 5| moraliter coactae. (haec differt a coactione politica) | voluntas est vel propria hominis vel communis hominum. |…| (necessarium aliquod est ex voluntate bona hominis propria | vel communi) 10| fas nefas | … Actio spectata secundum voluntatem hominum | communem si sibimet ipsi contradicat est externe | moraliter impossibilis (illibitum) fac me alterius | frumentum occupatum ire tam si specto hominem 15| neminem sub ea conditione ut sibi ipsi eripiatur | quod acquisit acquirere velle quod alterius est | idem secundum privatum volo et secundum publicum aversor. | Quatenus enim aliquid a voluntate alicujus | plenarie pendet eatenus impossibile est ut sibi 20| ipsi contradicat (objective). Contradiceret autem | voluntas divina sibimet ipsi si vellet homines | esse quorum voluntas opposita esset voluntati | ipsius. Contradiceret hominum voluntas sibimet ipsi si | vellent quod ex voluntate communi abhorrent. 25| Es autem voluntas communis in statu collisionis | praegnantior propria |“ (Bem., 129.01)¹¹. Bösen ist das Kriterium eben davon. Entgegengesetzte Köpfe würden die Erkenntnisgewißheit, entgegengesetzte Herzen die moralische Gewißheit aufheben“. – Zur Notlüge siehe Praktische Philosophie Herder, AA 27: 062, MSTL, AA 06: 431; KpV, AA 05: 087 f. Bem., L 125.33 (viii): „Das Gutsein des Willens leitet sich von den Wirkungen des privaten oder öffentlichen Nutzens ab und von der unmittelbaren Lust an ihnen, und die erstere hat ihren Grund im Bedürfnis, die letztere in der Macht zum Guten, die erstere bezieht sich auf den eigenen Nutzen, die letztere auf den Allgemeinnutzen, beide Gefühle stimmen mit der natürlichen Einfalt überein. Aber das Gutsein des Willens als eines freien Prinzips wird erkannt, nicht sofern aus ihm jene Vorteile entspringen, sondern sofern sie in sich möglich sind“. Bem., L 129.01 (ix): „So weit ein Objekt meinem Willen veränderbar gehorcht, ist es meines, aber ich kann meinen Willen einem anderen gleichsam übereignen. Schuldigkeit ist der gemeinschaftliche Eigennutz in aequilibrio Die Pflicht ist entweder Liebespflicht oder Schuldigkeit. Die ersteren Handlungen sind moralisch spontan, die letzteren moralisch erzwungen. (Dieser unterscheidet sich vom politi-
Bemerkungen zum Begriff der „Notwendigkeit“
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Bemerkungen zum Begriff der „Notwendigkeit“
(x)
„Der Grund der potestatis legislatoriae divinae ist nicht in der Güte 5| denn alsdenn wäre der Bewegungsgrund Dankbarkeit (subjektive | moralische Grund Art des Gefühls) und mithin nicht strenge Pflicht[¹²] | Der Grund der potestatis legislatoriae setzet die Ungleichheit | voraus und macht daß … ein Mensch gegen den anderen einen | Grad Freyheit verliert. Dieses kann nur geschehen wenn 10| er seinen Willen selber eines anderen seinem aufopfert |
schen Zwang.) Der Wille ist entweder der eigene des Menschen oder der gemeinsame der Menschen. … (Etwas Notwendiges entspringt dem guten besonderen Willen des Menschen oder dem allgemeinen.) Recht, Unrecht. Eine unter dem Aspekt des allgemeinen Willens des Menschen betrachtete Handlung ist dann, wenn sie sich selbst widerspricht, äußerlich moralisch unmöglich (unerlaubt). Laß mich im Begriff sein, die Früchte eines anderen in Besitz zu nehmen. Wenn ich dann sehe, daß kein Mensch unter der Bedingung, daß ihm entrissen wird, was er erworben hat, etwas erwerben will, so will ich eben das, was einem andern gehört, in privater Hinsicht, in öffentlicher weise ich es ab. Soweit nämlich etwas von dem Willen eines Subjekts gänzlich abhängt, insoweit ist es unmöglich, daß er sich selbst (objektiv) widerspricht. Der göttliche Wille würde sich jedoch selbst widersprechen, wenn er wollte, daß es Menschen gibt, deren Wille seinem eigenen Willen entgegengesetzt wäre. Der Wille der Menschen widerspräche sich selbst, wenn sie wollten, daß sie mit dem Allgemeinwillen in Widerspruch stehen. Im Kollisionsfall ist nämlich der Allgemeinwille gewichtiger als der eigene“. – Zu dieser Passage stellt sich aber noch die Frage, wie man sie mit der Passage Bem., 053.21– 29 in Einklang bringen kann. In dieser räumt Kant ein: „Es kann manches dem 21| Willen Gottes gemäß seyn was aus inneren | Bewegungsgründen gar nicht gut wäre […]“. – Kant stellt hier fest, dass das gute Handeln allein durch innere Bewegungsgründe zustande kommen kann, denn nur dann kann es frei von Widersprüchlichkeit sein. Damit bietet er hier indirekt eine Interpretation zur Passage des Alten Testaments, in dem Gott Abraham fordert, seinen Sohn zu schlachten (siehe Bibel, 1. Mose, 22). Aber dazu stützt er sich ja nicht auf die alttestamentarische, Furcht erregende Gestalt Gottes, sondern auf die neutestamentarische, wohltuende und -gesinnte [da: „Der göttliche Wille sich jedoch selbst widersprechen würde, wenn er wollte, daß es Menschen gibt, deren Wille seinem eigenen Willen entgegengesetzt wäre“ (Bem., L 129.21); und: „es ist unmöglich … das es böse | sey dem göttlichen Willen gemäß zu seyn“ (Bem., 053.28)]. Dadurch deutet Kant darauf hin, dass die Forderung Gottes Abraham eher eine Probe seines Glaubens sein soll als ein richtiger Befehl. Letzteres würde bedeuten, der Wille Gottes widerspricht sich: Erstens weil es unsinnig wäre, dass Abrahams Schöpfer ihm ein Vermögen (nämlich den Willen) erteilt und zugleich befiehlt, dagegen zu handeln; und zweitens, weil ein Widerspruch etwas an sich Unvollkommenes ist, was eigentlich nicht einem vollkommenen Wesen wie Gott zukommen kann. Kant sieht das Gefühl bereits als etwas bloß Subjektives an (dazu siehe Bem., 120.14 [xi], 125.11 [xii]). Trotzdem deuten noch mehrere Passagen auf eine gewisse Nähe an der schottischen Moralphilosophie hin (siehe Bem., 109.05 [iv], 116.04 [v]).
432
Anhang 3: Bemerkungen in den „Beobachtungen“ (1764 – 65)
wenn er dieses in Ansehung aller seiner Handlungen thut so macht er | sich zum Sclaven“ (Bem., 052.05). (xi) „in Deo simul est subjectiva| Bonitas actionis liberae objectiva vel quod idem | est necessitas objectiva est vel conditionalis vel categorica | prior est bonitas actionis tanquam medii posterior tanquam finis illa igitur mediata haec immediata 5| illa continet necessitatem practicam problematicam haec pp | Actio libera conditionalis bona non est ideo categorie | necessaria. e. g. liberalitas mea aliis egenis est utilis | ergo oportet esse liberalem Minime. Sed si quis | vult esse aliis utilis esto liberalis. Si autem actio 10| … liberalitatis ingenuae non solum aliis sed et in | se bona sit tum est obligatio. | De sensu morali et possibilitate oppositi | Adstrinxit quidem providentia sensum moralem publicae ut | universali utilitati ut et privato commodo ita tantum … 15| ut arbitrii bonitas non judicetur tantum valere qvantum | valet |“ (Bem., 120.01)¹³. (xii) „Necessitas actionum objectiva (bonitatis) vel est conditionalis (sub conditione | alicujus boni appetiti) vel categorica prior est problematica 5| … et si appetitiones quae spectantur tanquam conditiones necessariae | actionis non solum ut possibiles sed ut actuales spectantur est | necessitas prudentiae. Ad eam cognoscendam necesse erit omnes | dignoscere animi humani appetitiones et instinctus ut fieri possit. | computatio quid sit pro inclinatione subjecti melius. et 10| hoc quidem non solum pro praesenti sed et futuro statu. | Necessitas categorica actionis tanti non constat sed poscit | solum applicationem facti ad sensum moralem |“ (Bem., 125.04)¹⁴.
Bem., L 120.01 (xi): „Das objektive Gutsein einer freien Handlung (ist in Gott zugleich subjektiv) oder, was dasselbe ist, die objektive Notwendigkeit ist entweder bedingt oder kategorisch. Das erstere ist das Gutsein einer Handlung als eines Mittels, das letztere als eines Zwecks; jenes ist daher vermittelt, dieses unmittelbar, jenes enthält eine problematische praktische Notwendigkeit, dieses pp“ (bricht ab) Eine bedingte gute freie Handlung ist deswegen nicht kategorisch notwendig, z. B. meine Freigiebigkeit ist andern Bedürftigen nützlich, also muß man freigiebig sein. Keineswegs. Aber wenn jemand anderen nützlich sein will, so soll er freigiebig sein. Aber wenn die Handlung einer offenherzigen Freigiebigkeit nicht nur anderen, sondern in sich gut ist, dann unterliegt sie einer Verpflichtung. Über das moralische Gefühl und die Möglichkeit des Gegenteils. Die Vorsehung hat das moralische Gefühl mit dem öffentlichen wie allgemeinen Nutzen wie auch mit dem privaten Vorteil so verknüpft, daß das Gutsein des Willens [im Original: arbitrii(!), d. i. der Willkür (ACGX)] nicht so hochgeschätzt wird wie es wert ist“. Bem., L 125.04 (xii): „Die objektive Notwendigkeit einer Handlung (ihres Gutseins) ist entweder bedingt (unter der Bedingung irgendeines begehrten Gutes) oder kategorisch. Die erstere ist
Bemerkungen zum Begriff der „Notwendigkeit“
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(xiii) „In primo hominis statu … obedientia ipsius | erat tanquam mancipii deinde tanquam subditi | post tanquam filii et facultas … 25| legislatoria tanquam domini, principis, patris 5| Obligans tanquam dominus despota mancipium causas impul|sivas non nisi poenas statuit obligans princeps subditum | (legitimum) praemia et poenas obligans pater tanquam | filium non nisi amorem et praemia 30| Ratio obligandi prior est … servitium naturale et | debitum secunda rationes morales pacti continet tertium | omnia priora ac internam simul moralitatem complectitur |“ (Bem., 126.23)¹⁵. (xiv) „Actionis hypothetica necessitas conditionalis ut medii ad finem possibilem est problema|tica ad finem actualem est necessitas […] prudentiae necessitas | categorica est moralis 30|“ (Bem., 129.28)¹⁶. (xv) „est obligatio stricta erga dominum ex obsequio reverentia erga benefactorem ex amore | in novo foedere licet deum amare in veteri revereri |“ (Bem., 143.01)¹⁷.
problematisch und ist, wenn die Triebe, die als notwendige Bedingungen der Handlungen betrachtet werden, nicht nur als möglich, sondern als wirklich angesehen werden, eine Notwendigkeit der Klugheit. Um sie zu erkennen, wird es notwendig sein, alle Triebe und Instinkte der menschlichen Seele zu erkennen, so daß eine Berechnung angestellt werden kann, was bei der Neigung des Subjekts besser ist. Und dies nicht nur im gegenwärtigen, sondern auch im zukünftigen Zustand. Die kategorische Notwendigkeit einer Handlung kostet nicht so viel Mühe, sondern fordert nur die Applikation des Sachverhalts an das moralische Gefühl“. Bem., L 126.23 (xiii): „Im ersten Zustand des Menschen war sein Gehorsam der eines Sklaven, darauf der eines Untertanen, danach der eines Sohnes. Die gesetzgebende Gewalt war die eines Herren, Fürsten, Vaters. Wer als Herr (Despot) den Sklaven verpflichtete, setzte als Antriebe nur Strafen fest, der den (legitimen) Untertan verpflichtende Fürst Belohnungen und Strafen, der ihn als Sohn verpflichtende Vater nur Liebe und Belohnungen. Der Verpflichtungsgrund ist im ersten Fall die natürliche Knechtschaft und die Schuld, der zweite enthält die moralischen Gründe eines Vertrags, das dritte umfaßt alle vorhergehenden und zugleich eine interne Moralität“. – Bei Rousseau wird die Abfolge der Ereignisse eben umgekehrt vorgestellt: Der erste errichtete bürgerliche Zustand ist die Familie; dann folgt die Gesellschaft, die sich auf gesellige Verträge stützt; und schließlich tritt der Despotismus auf, indem die Ämter ihre Macht missbrauchen (siehe Rousseau 1755, II. Abs. 37, 40, 43 f.). Bem., L 129.28 (xiv): „Die (hypothetische) bedingte Notwendigkeit einer Handlung als eines Mittels zu einem möglichen Ziel ist problematisch, zu einem wirklichen Ziel ist es Notwendigkeit der Klugheit, die kategorische Notwendigkeit ist moralisch“. [Brandt setzt „hypothetische“ in Klammern, obwohl Kant es strich]. Bem., L 143.01 (xv): „Es gibt eine strikte Pflicht gegen den Herrn aus Gehorsam/Verehrung, gegen den Wohltäter aus Liebe, im Neuen Bund kann man Gott lieben, im Alten verehren“. (Dazu siehe Bibel, 1. Johannes, 4: 8: „Wer nicht liebhat, der kennt Gott nicht; denn Gott ist Liebe“). Vergleiche diese Passage (xv) mit Bem., 053.24 (ii) und Bibel, 1. Mose, 22.
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Anhang 3: Bemerkungen in den „Beobachtungen“ (1764 – 65)
(xvi) „jus cum sit complexus obligationum debiti 15| habitus Actionum ex rationibus juris determi|nandarum est justitia quae vel est obligantis (activa) vel obligati (passiva). Prior … 18| exigit actiones 21| aliorum … ad quas quales per rationes | juris necessitantur Posterior … | est habitus se ad actiones determinandi quae | per rationes juris … ab aliis necessitantur :… 25| … Si actionum habitus sit justitiae | adaequatus prior erit justitia severa posterior – – – Habitum … officiorum limites justitiae activae excedentium | Aequitas, justitiae passivae itidem |“ (Bem., 143.15)¹⁸.
Bemerkungen zum Begriff der „Freiheit“
(xvii) „Es muß gefragt werden wie weit können die | innere moralische Gründe einen Menschen bringen. | … Sie werden ihn vielleicht dahin bringen daß 10 | er im Stande der Freyheit ohne große Ver|suchungen gut ist[¹⁹] aber wenn anderer Ungerechtigkeit oder | der Zwang des Wahnes ihm Gewalt | thun alsdenn hat diese innere Moralitaet | nicht Macht gnug. Er muß Religion haben 15| und vermittelst der Belohnungen des künftigen | Lebens sich aufmuntern und die menschliche | Natur ist nicht fähig einer unmittelbaren | moralischen Reinigkeit.Wenn aber übernatürlicher | Weise in ihm Reinigkeit gewirkt wird 20| so haben die künftigen Belohnungen nicht mehr | die Eigenschaft der Bewegungsgründe“ (Bem., 022.08). (xviii) „Wie die Freyheit im eigentlichen Verstande (die mora|lische nicht die metaphysische) das oberste Principium aller 15| Tugend sey und auch aller Glückseeligkeit“ (Bem., 025.14). (xix) „Es ist die Frage ob meine oder anderer Affecten | zu bewegen ich den Stützungspunkt ausser der Welt 5| oder in dieser nehmen soll. Ich antworte im Stande | der Natur d. i. der Freyheit finde ich ihn“ (Bem., 043.04).
Bem., L 143.15 (xvi): „Während das Recht der Inbegriff der Verpflichtungen des Geschuldeten ist, bildet die Gesinnung der Handlungen, die aus Gründen des Rechts zu bestimmen sind, die Gerechtigkeit, die entweder die des Verpflichtenden (die aktive) oder des Verpflichteten (die passive) ist. Die erster [sic] … ist die Gesinnung, sich zu Handlungen zu bestimmen, die durch Rechtsgründe von anderen erzwungen werden: … Wenn die Gesinnung der Handlungen der Gerechtigkeit korrespondiert, so wird die erstere die strenge Gerechtigkeit, die letztere … Die Gesinnung … der Pflichten, die die Grenzen der aktiven Gerechtigkeit überschreiten … Billigkeit, desgleichen der passiven Gerechtigkeit“. Rousseau zufolge hat der Mensch in natürlichem Zustand nur mäßige Leidenschaften, während diese in bürgerlichem Zustand aufgrund der geschaffenen Bedürfnisse (welche die bloß körperlichen überschreiten [siehe Rousseau 1755, I. Abs. 18]) viel stärker werden und dem Menschen zu leidenschaftlichem Handeln führen (siehe Rousseau 1755, I. Abs. 37 ff.).
Bemerkungen zum Begriff der „Freiheit“
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„Der Grund der potestatis legislatoriae divinae ist nicht in der Güte 5| denn alsdenn wäre der Bewegungsgrund Dankbarkeit (subjektive | moralische Grund Art des Gefühls) und mithin nicht strenge Pflicht | Der Grund der potestatis legislatoriae setzet die Ungleichheit | voraus und macht daß … ein Mensch gegen den anderen einen | Grad Freyheit verliert. Dieses kann nur geschehen wenn 10| er seinen Willen selber eines anderen seinem aufopfert | wenn er dieses in Ansehung aller seiner Handlungen thut so macht er | sich zum Sclaven. Ein Wille der eines andern seinem unterworfen | ist … unvollkommen … und wiedersprechend denn | der Mensch hat spontaneitatem, ist er dem Willen eines Menschen unter15|worfen (wenn er gleich selbst schon wählen kann) so ist er häßlich| und verächtlich allein ist dem Willen Gottes unterworfen so | ist er bey der Natur. Man muß nicht Handlungen aus Gehorsam | gegen einen Menschen thun die man aus innern Bewegungsgründen | … thun könnte und der Gehorsam fordert wo innere Bewe20|gungsgründe würden alles gethan haben macht Sclaven“ (Bem., 052.05). (xxi) „Der Wille ist vollkommen in so fern er nach den Gesetzen der Freyheit 5| der größte Grund des Guten überhaupt ist | das moralische Gefühl ist das Gefühl von der Voll|kommenheit des Willens“ (Bem., 109.05). (xxii) „Wir haben Vergnügen an gewissen von unseren Voll|kommenheiten aber weit mehr wenn wir selbst 25| die Ursache seyn. Am allermeisten wenn wir die | frey wirkende Ursache seyn. Der freien Willkühr | alles zu subordiniren ist die größeste Vollkommenheit. | Und die Vollkommenheit der freyen Willkühr als | einer Ursache der Möglichkeit ist weit größer als 30| alle andere Ursachen des Guten wenn sie gleich die | Wirklichkeit hervorbrächten“ (Bem., 114.24). (xxiii) „Das Gefühl der Lust und Unlust ist entweder über | das wogegen wir leidend seyn oder über uns 5| selbst als ein thätig principium durch Freyheit von dem Guten und Bösen“ (Bem., 116.04). (xx)
Anhang 4: Träume eines Geistersehers (1766)
https://doi.org/10.1515/9783110584288-018
Anhang 5: Grundlegung (1785) Die Klassifikation der Handlungsprinzipien auf der Basis des moralisch Guten Die Einteilung der Handlungsprinzipien bedient sich so weit wie möglich der Begrifflichkeit der in der KrV entfalteten Tafeln der Urteile und Kategorien: Jede Art Urteile beschreibt die Art Notwendigkeit, die mittels der Formel eines Imperativs eine Handlung (darüber hinaus die Willkür) und einen Zweck verknüpft. Ihrerseits beschreiben die Kategorien die Art Zwecke, die man sich setzen kann, und zwar hinsichtlich des Gutseins, mithin der Notwendigkeit, das jedem Zweck eigen ist.¹
Siehe KrV, 087//A070/B095, 093//A080/B106. Bereits in der Moralvorlesung bezeichnet Kant die Imperative der Geschicklichkeit als „problematisch“, die der Klugheit als „pragmatisch“ und „assertorisch“ und die der Sittlichkeit als „apodiktisch“ gegeben (siehe V-Mo, 007.17/009, 008.26/ 011 u. oben 5.1.3.3). In Kants Vorlesungen über Menschenkunde oder philosophische Anthropologie werden auch schon „dreierlei Arten von Lehren“ geteilt: „die eine Art macht uns geschickt, die andere klug, die dritte weise“ (siehe Hinske 1989, 134 u. von ihm die zitierten Belege: Immanuel Kant’s Menschenkunde oder philosophische Anthropologie. Hg. v. Fr. Ch. Starke. Quedlinburg u. Leipzig, 21838 (11831) [Neudruck: Hildesheim u. New York, 1976], 4). – Buchenau (1913, 46) erläutert Kants Einteilung der Imperative, indem er darauf aufmerksam macht, dass Kant die „Ausdrücke des Problematischen, Assertorischen und Apodiktischen“, denen die Charakterisierung der „drei Arten der Imperative im Praktischen [entsprechen]“ „seiner Logik entnimmt“. Manfred Moritz (1960, 9 f.) verteidigt, dass „nur die Kategorien „Relation“ und „Modalität“ auf die Imperative angewandt [werden]“. Er versteht, dass die Unterscheidung „hypothetisch – kategorisch“ auf die Art der Verpflichtung bezieht (siehe Brinkmann 2003, 38, der sich auf Moritz’s Aufsatz beruft: „Über einige formale Strukturen des kategorischen Imperativs“. In: Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses. Mainz, 1974. Kant-Studien-Sonderheft – Symposien. Hg. v. Gerhard Funke. Berlin/New York, 1974, 201– 206). Dennoch sieht Moritz keine Analogie zur Tafel der Kategorien, auch nicht zu den Begriffen und Urteilen der Quantität. Hinske (1989, 132) bemerkt, dass die „Dreiteilung der verschiedenartigen Handlungsanweisungen in problematische, assertorische und apodiktische Imperative“ auf „die drei Urteilsformen der Modalität“ zurückgeht. Ralf Geisler (1992, 92 f.) verteidigt, dass Kant zur Klassifikation der Imperative sich der „logischen Prädikaten der dritten (Relation) und vierten (Modalität) Klasse der Urteilstafel […] sowie [des] logischen Distinktionspaar „analytisch – synthetisch“ bedient. Schwaiger (1999, 175, 178) betrachtet die begriffliche Basis der Dreiteilung der Imperative auf den Urteils- und Kategorientafel nicht, obwohl er auch auf die Urteile der Modalität verweist. Brinkmann (2003, 39 f.) bemerkt auch, dass Kant sowohl die „Bezeichnungen“ „hypothetisch – kategorisch“ als auch die „Bezeichnungen“ „problematisch – assertorisch – apodiktisch“ „aus der Urteilstafel übernimmt“; ebenso versteht Brinkmann, dass diese Unterscheidung sich auf den „Modus des Gebietens“ bezieht, nämlich im Hinblick auf einen „vorausgesetzten Zwecks“ oder „unabhängig von einem bestimmten Zweck“. Timmermann (2007, 65) verweist auch auf die Kategorien und Urteile der Modalität zur Erläutehttps://doi.org/10.1515/9783110584288-019
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Anhang 5: Grundlegung (1785)
Kants Darlegung der Einteilung der Imperative stellt sich zunächst auf der fundamentalen Zweiteilung zwischen „hypothetischen“ und „kategorischen Imperativen“ (GMS, 414.12) analog zu den Urteilen der Relation (siehe KrV, 087.07– 09//A070/B095) vor. Diese Charakterisierung lässt erstens eine Verbindung mit den Kategorien der „Relation der Inhärenz und Subsistenz“ erkennen, sofern der Zweck intrinsisch gut oder nur zufällig, d. h. beziehungsweise gut ist. Hypothetische Prinzipien verfolgen eine mögliche oder wirkliche (doch nicht notwendige) Absicht, die daher (nicht an sich, sondern) nur beziehungsweise gut sein kann.² Deswegen verlangen sie zweitens, analog zur Kategorie der Relation der „Causalität und Dependenz“, eine Handlung als „Ursache“ (Mittel), die auch nur beziehungsweise, und zwar a posteriori, für gut gehalten werden kann, nämlich sofern sie sich als geeignetes Mittel zum Erreichen des vorgesetzten Ziels als „Wirkung“ erweisen.³ Daher unterliegen sie einer „Notwendigkeit der Mittel“. rung der dreifachen Einteilung der Imperative. Schließlich sieht Wolfgang Deppert (Kiel, Sommersemester 1996) laut Norbert Heyse (2013, 338) den Grund von Kants Dreiteilung der Imperative auch im Titel der Modalität der Urteilstafel. Trotzdem sieht keine der nachgeschlagenen Studien eine Analogie zur Urteilen und Kategorien der Quantität. Ebenso wird die gesamte These nicht verteidigt, dass Kant von der Tafel der Kategorien Charakteristika für die Handlungszwecke übernimmt und in der Tafel der Urteile die Art der Verknüpfung zwischen einer Handlung (bzw. der handelnden Willkür) und einen Zweck findet. Mir ist es nicht ganz gelungen, die Analogie zu Urteilen und Kategorien der Qualität zu erläutern. Ob man unter „verneinenden“, „bejahenden“ und „unendlichen“ Imperativen jeweils „pflichtwidrige“ bzw. „unerlaubte“, „pflichtmäßige“ bzw. „erlaubte“ und „aus Pflicht geschehende“ Handlungen verstehen könnte? Dann wäre der Zweck nach den Kategorien der Qualität „real“ (das eigene Glück), „negativ“ (die Ausübung etwas Verbotenen bzw. der Verstoß einer Pflicht) oder die eigene Freiheit „einschränkend“ (ein Zweck an sich selbst bzw. die Ausübung eines „Gebots“). „Ob der Zweck vernünftig und gut sei, davon ist hier gar nicht die Frage, sondern nur was man thun müsse, um ihn zu erreichen“ (GMS, 415.14). Kant betrachtet die Geschicklichkeitsprinzipien und -handlungen als axiologisch neutral, indem sie „bloß“ technisch sind und daraus kein Verhaltens- bzw. Freiheitskonflikt entstehen kann. – Trotzdem ist es eine interessante Frage, ob Kant hier nicht irrt: Sobald diese technischen Prinzipien die Menschen und deren Freiheitsgebrauch betreffen (können), nehmen sie eine moralische Dimension an. So, wenn medizinische Technik und Technologie beispielsweise Abtreibungen ermöglichen, muss geregelt werden, ob, wann und wie diese Praxis erlaubt wird. Und dabei wird man anhand moralphilosophischer Begründung seinen Schluss ziehen müssen. Infolgedessen ist die moralische Relevanz von Geschicklichkeitsprinzipien nicht direkt, aber doch möglich und sollte insofern erwogen werden. Demgegenüber bedingen die Prinzipien der Klugheit nach Kant das Verhalten und den Gebrauch der Freiheit unvermeidlich und treten daher in direkte Konkurrenz zu moralischen Prinzipien. Daher entfaltet er seine Moraltheorie im Gegensatz zu Glückstheorien. Das Urteil über die Richtigkeit von Geschicklichkeitsprinzipien per Induktion und von den diesen entsprechenden Handlungen ist nur a posteriori sinnvoll, denn man kann nur nach der Handlungsausübung abwägen, ob und inwiefern das gesuchte Ziel durch sie und deren Prinzip erreicht wurde bzw. werden konnte. Geschicklichkeitsprinzipien per Deduktion – wie die der
Die Klassifikation der Handlungsprinzipien auf der Basis des moralisch Guten
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Demzufolge setzen hypothetische Prinzipien eine mittelbare Kausalverbindung fest, bei der es, drittens, zwischen Handlung und Zweck keine notwendige „Wechselwirkung“ analog zur Kategorie der Relation der „Gemeinschaft“ besteht: Der hypothetische Imperativ ordnet eine Handlung X nur als Bedingung oder Mittel an, um ein beliebiges Ziel Y zu erreichen. Demgegenüber gebietet ein kategorischer Imperativ eine Handlung absolut unbedingt (unmittelbar), weil sie an sich, erstens analog zur Kategorie der Relation der „Inhärenz und Subsistenz“, einen „inhärent“ guten, daher an sich notwendigen Zweck darstellt. Der kategorische Imperativ setzt zweitens, analog zur Kategorie der Relation der „Causalität und Dependenz“, eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Substrat bzw. der „Ursache“ einer Handlung und dem Zweck derselben: Es handelt sich nicht mehr um eine übliche Kausalverknüpfung, wo die Handlung die Funktion des Mittels zum Erreichen eines Ziels erfüllt, sondern dass die gebotene Handlung (bzw. ihre Maxime) selbst als Zweck einen Eigenwert hat. Ihr liegt eine „Notwendigkeit der Zwecke“ zugrunde. Daher besteht es zwischen beiden eine „Wechselwirkung“, nach der sich drittens, analog zur Kategorie der Relation der „Gemeinschaft“, das Handlungsprinzip ihrer Form nach mit dem zu erfüllenden Zweck identifiziert. Die Handlung wird als etwas an sich Gutes für sich, d. h. unabhängig von aller Bedingung durchgeführt. So ordnet der kategorische Imperativ an, X zu tun, um X zu erreichen, wo X schließlich Autonomie heißt. Autonomie entsteht nur dann, wenn Autonomie ausgeübt wird; Moralität wird nur durch Moralität ausgeübt. Daraus entsteht eine moralische „Gemeinschaft“, eine moralische Welt, von Kant „ein Reich der Zwecke“ genannt, die nach Kant (i) deswegen „gedacht werden kann“ (GMS, 433.16/24), weil „jedes […] vernünftige Wesen“ (GMS, 429.05) sich als „allgemein gesetzgebend“ (GMS, 431.17) betrachten kann und daher „stellt [es] sich nothwendig sein eignes Dasein [als Zweck an sich selbst] vor“ (GMS, 429.03). (ii) „Ein solches Reich der Zwecke“, das „freilich nur ein Ideal“ (GMS, 433.32) ist, „würde nun durch Maximen, deren Regel der kategorische Imperativ allen vernünftigen Wesen vorschreibt, wirklich zu Stande kommen, wenn sie allgemein befolgt würden“ (GMS, 438.29). Das Reich der Zwecke bietet somit das Bild eines moralisch Ganzen par excellence, das aus der „Wechselwirkung“ zwischen
Geometrie oder wie das Archimedische Prinzip in der Physik, sofern sie aus reinen Begriffen gezogen sind, sind klar und deutlich. Daher ist es überflüssig, von ihnen a posteriori ein Urteil über ihre Richtigkeit zu fällen, denn die Richtigkeit solcher Prinzipien gründet sich auf sich selbst. So sind die von ihnen angeleiteten Handlungen nur Beispiele ihrer Anwendung, aber nicht die Verifizierung ihrer Richtigkeit.
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Anhang 5: Grundlegung (1785)
allen Gliedern als „Handelnden und Leidenden“ (KrV, 093.13//A080/B106) zustande käme, dass jedes Glied den eigenen Willen autonom bestimmen würde.⁴ Nun begründet das Gutsein des gesetzten Zwecks (analog zur ersten Kategorie der Relation, und zwar der Inhärenz) nicht nur die soeben dargestellte fundamentale Zweiteilung der Imperative in hypothetische und kategorische (analog zu den Urteilen der Relation), sondern auch die Modalität des Zwecks, den jede Art Imperativ anstrebt. So spricht Kant, analog zu den Kategorien der Modalität, jeweils von „möglichen“, „wirklichen“ und „notwendigen“ Zielen: Eine Handlung kann „zu irgend einer möglichen oder wirkliche Absicht gut sei[n]“ (GMS, 414.33) oder „für sich […] objectiv nothwendig“ bzw. „an sich gut“ (GMS, 414.17/23) sein. Entsprechend ist der Imperativ, analog zu dem Titel der Modalität in der Urteilstafel (siehe KrV, 087//A070/B095), (i) ein „problematisch-praktisches Prinzip“, wenn er ein mögliches Ziel setzt, (ii) ein „assertorisch-praktisches Prinzip“, wenn er das wirkliche Ziel der Glückselichkeit verfolgt, und (iii) ein „apodiktischpraktisches Prinzip“ (GMS, 415.01), wenn er einen an sich guten Zweck gebietet. Prinzipien der ersteren Art können „Imperative“ (GMS, 415.13) bzw. „Regeln der Geschicklichkeit“ (GMS, 416.19) oder „technisch (zur Kunst gehörig)“ (GMS, 416.29) heißen, weil sie auf die Lösung einer Aufgabe abzielen, die man haben mag oder nicht (siehe GMS, 414.13). Prinzipien der zweiten Art können „Imperativ [e]“ (GMS, 416.03) (auch „Vorschrift[en] (praecepta)“ [GMS, 416.04, 418.31], „Ratschläge“ [GMS, 416.19] bzw. „Anrathungen [consilia]“ [GMS, 418.31]) „der Klugheit“ oder „pragmatisch (zur Wohlfahrt)“ (GMS, 417.01) heißen, weil zweifach
Die intrinsische Wechselwirkung, die die Moralität hervorbringt, ist bereits in der moralphilosophischen Begründung Kants zu finden, sofern das individuelle Subjekt seine Einstellung „als Zweck an sich selbst“ auf „jedes andere vernünftige Wesen“ projeziert. Darüber hinaus kann man von einem primär „subjective[n] Princip menschlicher Handlungen“ auf die Objektivität bzw. Allgemeingültigkeit desselben schließen: „Wenn es denn also ein oberstes praktisches Princip und in Ansehung des menschlichen Willens einen kategorischen Imperativ geben soll, so muß es ein solches sein, das aus der Vorstellung dessen, was nothwendig für jedermann Zweck ist, weil es Zweck an sich selbst ist, ein objectives Princip des Willens ausmacht, mithin zum allgemeinen praktischen Gesetz dienen kann. Der Grund dieses Princips ist: die vernünftige Natur existirt als Zweck an sich selbst. So stellt sich nothwendig der Mensch sein eignes Dasein vor; so fern ist es also ein subjectives Princip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objectives Princip, woraus als einem obersten praktischen Grunde alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können. Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (GMS, 428.34 f., bes. 429.03 – 07).
Die Klassifikation der Handlungsprinzipien auf der Basis des moralisch Guten
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Scharfsinn gefordert ist: Erstens, was man unter Glückseligkeit versteht. Zweitens, welche Mittel die Glückseligkeit am meisten fördern können.⁵ Schließlich können Prinzipien der dritten Art „Gebote (Gesetze) der Sittlichkeit“ (GMS, 416.20) oder „moralisch (zum freien Verhalten überhaupt, d. i. zu den Sitten gehörig)“ (GMS, 417.02) genannt werden. (Dennoch wird in der einschlägigen Passage zur Einteilung der Imperative meistens von „eine[m]“ oder „diese[m] Imperativ der Sittlichkeit“ – im Singular – gesprochen [siehe GMS, 416.07]). Diese Imperative gebieten eine Handlung wegen „[der] Form und [des] Princips, woraus sie selbst folgt“, sofern dieses an sich notwendig, mithin absolut gut ist. Es handelt sich also nicht um einen beliebigen Zweck. Darüber hinaus lässt sich schließlich noch eine Analogie zu den Kategorien und Urteilen der Quantität erkennen: Geschicklichkeitsprinzipien als problematisch-praktische Sätze haben im Fokus die „Allheit“ (KrV, 093.06//A080/B106) der Zwecke einer Wissenschaft oder Kunst (bzw. eines Teils derselben) und beanspruchen eine „allgemeine“ (KrV, 087.03//A071/B095) Gültigkeit, die erlaubt, jederzeit diese Zwecke zu erreichen. Z. B. „Eine Fläche, die von drei geraden Linien begrenzt wird“ ist eine für die Gesamtheit der Dreiecke allgemeingültige Definition. Aber die Geschicklichkeitsprinzipien verknüpfen meine Willkür nur im Einzelnen, d. h. insofern, als ich den Zweck als ein für mich zu erreichendes Ziel gesetzt habe. Klugheitsprinzipen verfolgen die Glückseligkeit. Sofern diese einen „vielfältigen“ (KrV, 093.05//A080/B106), weil nur subjektiv bestimmbaren Zweck darstellt, können solche Prinzipien nur eine „besondere“ (KrV, 087.04//A071/B095) Gültigkeit beanspruchen, die nur für das betreffende Subjekt und nur zu diesem Mal taugen kann. Zuletzt gebietet der kategorische Imperativ einen „einheitlichen“ (KrV, 093.04//A080/B106), weil an sich guten Zweck, nämlich die Autonomie des Willens bzw. Moralität. Und eben das unbedingte Gutsein dieses Zwecks erfordert die „Allgemeingültigkeit“ (KrV, 087.03//A071/B095; GMS, 416.21, 433.19, 437.37, 438.02, 458.15, 460.28, 461.27, 462.14) dieses Imperativs bzw. der betreffenden Handlungsmaxime.
Da Glückseligkeit von der eigenen Sinnlichkeit und von subjektiven Parametern (wie Geschmack, Empfindlichkeit, Erziehung, Kenntnisse, Kultur, Alter, usw.) abhängt, so liegt den Klugheitsprinzipien das bloß subjektiv Gute, somit eine bloß subjektive Notwendigkeit zugrunde.
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Sachregister Absicht – Endabsicht 238, 253, 255, 262, 273, 277 – mögliche Absicht 381, 438 – Kants Absicht 2–4, 8, 18–22, 36–39, 46, 54–60, 66, 69, 72, 78, 94, 110, 124–128, 130, 142, 147, 193, 196, 207, 220, 222, 247, 256, 265, 284 f., 290, 307–309, 321, 409, 412, 415 f., , 420 – Naturabsicht 58 f., 108, 273 – praktische Absicht bzw. Absicht des Handelns 93, 119–122, 129, 137, 287, 340, 363, 373, 388, 389–391, 408 – rationale Absicht 2 – spekulative Absicht 263 – unbedingte Absicht 319 – wirkliche Absicht 63, 93, 101, 106, 177, 323, 331, 381, 438, 440 – wissenschaftliche Absicht 21 absurdum practicum 248 f., 264, 288 Achtung 6, 23, 50–53, 56, 93, 101, 126, 134, 169, 196 f., 201, 309, 311, 315, 323, 328 f., 334–355, 358, 362–365, 372 f., 384, 387, 391–395, 397, 399, 401, 403, 408, 421 Analyse (philologische) 4 f., 7 f., 15, 19, 116, 130, 138, 197, 217, 220, 240 f., 243, 245 f., 271, 279, 285, 294, 308, 369, 415 f., 419 Analyse (begriffliche) (siehe auch Zergliederung) 40, 192, 335, 358, 366, 377, 397, 405 f. Analytik – Analytik der reinen praktischen Vernunft 286, 321 – Transzendentale Analytik 237 f. Anschauung 17, 32, 253, 272–274, 280, 314, 326, 338, 350, 368, 378, 396 – intellektuelle Anschauung 237, 402 Anthropologie 11, 57, 77, 109, 121, 124, 132, 151, 172, 209 f., 229, 236, 287, 289, 305, 307, 309, 366, 390, 417, 437
https://doi.org/10.1515/9783110584288-021
Antike 9, 95, 116, 141–143, 151, 184 f., 196, 207, 227, 240, 280, 308, 358, 407, 431, 433 Antinomie 238 – Antinomie der reinen Vernunft 259 f., 296, 414 – Auflösung der dritten Antinomie 236, 268, 272 f., 315, 402, 407 – dritte Antinomie 21, 98, 235, 250, 298, 314, 326, 414 apodiktisch (siehe auch Imperativ) 9, 96, 311, 358 f., 362, 370–373, 437, 440 Apperzeption 5, 83, 114, 246 f., 260 f., 270– 272, 297, 328, 402, 404, 408, 415 f. – Apperzeptionspassage 247, 270, 278 f. arbitrium (siehe auch Willkür) 145, 171 f., 290 – arbitrium alterius externum 166 – arbitrium alterius internum (siehe auch Gewissen) 158 – arbitrium intellectuale oder transcendentale 182 assertorisch siehe Imperativ Ästhetik 35, 46, 55 f., 60, 74, 85, 218, 237 f., 288 Aufklärung 3, 23, 58, 214, 254, 406 autark 382 Autokratie (siehe auch Selbstbeherrschung) 171, 351 Autonomie 1–7, 9, 11 f., 19 f., 23, 65, 79 f., 92, 96, 99 f., 103 f., 127, 137, 150, 187, 192, 227 f., 230 f., 293, 298, 310, 315, 324, 351–353, 377 f., 383, 386, 389–391, 393–395, 397 f., 400, 407, 409, 418 f., 421, 439–441, 456 – Autonomie des Willens und Möglichkeit eines kategorischen Imperativs 395 f. – Prinzip der Autonomie bzw. Autonomie-Formel 2, 128, 228, 231, 332, 369, 377 f., 385–389, 391, 395–398, 400, 402 – Genese des ethischen Autonomiebegriffs 7, 22, 417
Sachregister
– Möglichkeit der Autonomie des Willens 351, 391–395 – Verbindlichkeit zur Autonomie des Willens 397 f. Bedürfnis 1, 58, 94 f., 102, 121, 166, 169, 174, 179, 188 f., 212, 277, 296, 317–319, 329, 331, 334, 343–345, 352, 363, 393 f., 396, 430 – bedürftig 89 f., 93, 102, 115, 133, 173, 220, 354, 432 – geschaffenes Bedürfnis 92, 95, 228, 372, 434 – unbefriedigtes Bedürfnis 92, 318 Befehl 34, 148, 156, 185 f., 207, 226, 431 Begehrungsvermögen, oberes 343, 391 Begehrungsvermögen, sinnliches 36, 38, 43, 251, 267–269, 323, 332, 344 Bestimmung – Bestimmung des Menschen 214, 274, 276, 303 – Bestimmung des Willens 150, 164, 168, 175, 190, 192, 243 f., 249, 257, 259, 262, 271, 274–276, 295, 310, 312, 330, 333, 371, 373, 380, 402 Beurteilung bzw. dijudication (siehe auch Exekution) 15 f., 19, 85, 107, 144 f., 147–150, 154 f., 180, 182–192, 194 f., 199–213, 215, 219, 222 f., 226, 229, 245, 251, 272, 278, 282 f., 285, 295, 305, 311–313, 323, 346, 352, 354, 359, 364– 366, 372, 376, 398, 420 Bewusstsein 33, 52 f., 67, 82 f., 89, 97, 109, 175, 178, 202, 231, 279, 315, 318 f., 326, 337–340, 342 f., 345, 350 f., 390, 396, 402–404, 408 – moralisches Bewusstsein (siehe auch Gewissen) 60, 202, 213, 404, 406 – Selbstbewusstsein siehe Apperzeption Bonitaet (siehe auch Gutes) 79 f., 88, 105, 108, 115, 146, 155, 158–160, 168, 181, 429 Böse (siehe auch Gutes: Erkenntnis des Guten und Bösen; Freiheit vom Guten und Bösen; Unterschied des Guten und Bösen; Kriterium des Guten und Bösen;
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Gemeinsinn des Guten und Bösen) 36, 97, 249, 291, 328 – Bösewicht 328, 348, 372, 392, 394 – Möglichkeit des Bösen 173 f., 202, 291 – moralisch böse 366 – nicht böse sein […] kann 321, 333 Briefwechsel bzw. Br, AA 10 132, 136, 158, 197 f., 200, 217, 240, 285, 303, 311, 390, 410 caussa impulsiva (siehe auch: Triebfeder, motivum) 144 f., 160 f., 166–169, 172, 180, 188 f., 192, 200 f., 354 – caussa impulsiva einer freien Handlung 161, 166, 226 Chaos (siehe auch Gesetzlosigkeit) 179, 326, 357, 362, 370, 396, 402, 407 Charakter des Intelligiblen und des Empirischen 314 – empirischer Charakter 46–48, 242, 247, 253, 257, 269–272, 278, 295, 328 f., 363, 402 – intelligibler Charakter 216, 243, 246, 271 f., 274, 278, 296, 416 Chimäre (siehe auch: Hirngespinst; Wahn) 79, 248 f., 276, 288, 359, 366, 405 Christentum 138, 143, 152, 248, 280, 311, 359 determinieren 214 Determiniertheit 326, 345, 360 f. diiudication siehe Beurteilung Ding an sich 134, 246, 296, 402 Einteilung (siehe auch: Klassifikation der Imperative; Philosophie) 29, 30, 101, 107, 116, 130, 147, 162, 205, 306, 411 Elementarlehre 236–239, 250, 285, 289 empirisch siehe empirischer Charakter Empirismus 39, 43, 45, 76, 87, 125 f., 141, 148, 151, 156, 161, 168, 185 f., 206 f., 223, 337–339, 349–351 Entwicklung (siehe auch Werdegang) 1–4, 7, 9 f., 13, 15, 19–21, 45, 55, 70, 73, 77, 87, 94, 108, 110 f., 122, 125, 135, 141, 197 f., 217, 219–221, 228, 230, 238 f.,
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Sachregister
242, 272, 288, 310, 315, 371, 375, 394, 401, 404, 409 f. – entwicklungsgeschichtlich 2–5, 8, 46, 60, 77, 122, 194, 240–242, 260, 271, 284, 291, 294, 456 epikureisch 152 f., 321 Erkenntnis (siehe auch: System; Wissenschaft) 16, 18, 28, 32 f., 37, 44, 75, 84, 108, 152, 161, 205, 210, 231, 236, 238 f., 278, 282 f., 285, 287, 304, 309, 323, 338, 341, 344, 346, 350, 361, 395, 402– 405 – Erkenntnisstruktur 237 – Erkenntnistheorie 416 – Erkenntnisvermögen 17, 29, 36, 38, 40, 43, 218, 237, 306 – philosophische Erkenntnis 240, 419 – praktische Erkenntnis 32, 328, 350, 353 – gemeine sittliche Vernunfterkenntnis 310, 312, 407 – philosophische sittliche Vernunfterkenntnis 310–312 – reine Erkenntnis 238, 304 – synthetische Erkenntnis 265 – theoretische Erkenntnis 41, 49, 85, 108, 215 Erscheinung (siehe auch Phänomenon) 18, 49, 99, 122, 126, 131, 136 f., 174, 184, 219, 221, 238, 244, 246 f., 259, 270– 272, 274, 278, 285, 289 f., 296 f., 341, 361, 400, 403, 406, 412 f. Erziehung 56, 132, 155, 168, 173, 209 f., 441 Ethik 1 f., 4, 7, 9 f., 13, 15, 18–20, 29 f., 37, 39, 46 f., 55 f., 61, 63, 65 f., 74, 77 f., 80, 86, 91, 94, 98 f., 101, 105, 107, 110 f., 122, 127, 129, 131–135, 139–142, 160, 164, 177, 183, 193, 195, 197 f., 203, 208– 211, 214–216, 236 f., 249, 256, 276, 282, 288, 290, 292 f., 296, 305, 307–309, 315, 336 f., 354, 410, 412 f., 419 f., 456 eudämonistisch 98 f., 293, 321 Exekution 42, 55, 62 f., 71, 77, 88 f., 123, 126, 130, 144 f., 147, 154, 161, 163, 165, 167, 169, 176, 181, 183, 186, 188 f., 194 f., 199–201, 203–210, 212–214, 241, 245 f., 250, 252, 264 f., 273, 276–278, 282–284, 290 f., 295, 305, 310, 318,
320, 332–334, 339, 341, 344, 353, 359, 370, 374, 384, 388, 393 f., 401, 438 – Exekutionsprinzip 114, 150, 182, 189, 191, 195, 200–204, 207–209, 212 f., 215, 219, 222 f., 229, 245, 251, 277, 284 Faktum 5 f., 196 f., 202, 213, 271, 286, 373, 398, 402, 404, 406, 408 Formalismus 115, 127 f., 138, 141, 324, 337 Gebot 34, 148, 158, 162, 164, 261, 266, 283, 285, 288, 312 f., 320, 323, 336, 359 f., 370 f., 374, 385 f., 395, 397 f., 438, 441 Gefühl 35 f., 74–76, 82, 84 f., 87, 94, 97, 103, 107 f., 125–127, 130, 135, 137, 148, 157, 167 f., 185, 191, 201, 207, 218 f., 222 f., 348–352, 369, 378, 399 – Gefühl des Guten 33, 35, 41 f., 45, 217 – Gefühl der Lust 33, 42, 44 f., 97, 130 f., 216, 319, 340 f., 345, 349, 351 – Gefühl des Rechts (siehe auch heuristisches Mittel) 75, 84, 107 f., 411 – Gefühlsvermögen bzw. Empfindungsvermögen 16, 29, 33, 35 f., 38, 41–44, 47, 50, 56 f., 60, 62, 64 f., 75, 218, 411 – moralisches Gefühl 13–15, 18, 38, 56, 64, 66, 74 f., 77, 79, 84, 87, 89, 99, 109, 111, 119, 122–127, 129, 131 f., 134–137, 142, 148, 150, 155, 184 f., 190 f., 195, 199– 202, 206, 208 f., 218 f., 336–341, 346, 349–351 – allgemeines moralisches Gefühl 49 f., 52, 60, 62, 64, 126 – physisches Gefühl 148, 207 – sinnliches Gefühl 46 f., 50, 56 Genese 2, 7, 9 f., 14, 197, 338, 377, 418 Gerichtshof (siehe auch Gewissen) 163, 259, 388 Geschmackslehre 198, 303 Gesetz 355–366, 369 f., 372, 374, 378 f., 381–386, 388 f., 391–394, 397–400, 402, 404, 406, 408, 440 f. – Gesetze der Freiheit 96 – Gesetzgeber 192, 227 – Gesetzlosigkeit 175, 326, 357, 398
Sachregister
– Gesetzmäßigkeit 309 f., 357, 359, 361, 366, 369 f., 379, 396, 401, 404, 407 – Moralgesetz 289, 326–329, 334–389, 391–398, 398–408 – Naturgesetz 17, 131, 163, 175, 196, 244, 258, 260, 262, 267 f., 287, 289, 292, 296, 310, 312, 325–327, 329, 334, 355, 357, 366 f., 370, 377–381, 383, 385, 388, 390, 396 f., 416 – Urheber des Gesetzes 192, 227 – Vernunftgesetz 179, 261, 277 f., 296, 327, 330, 332, 347, 396 Gesinnung 17, 50, 58, 60–63, 67, 77, 101, 104, 134, 160–169, 174, 180, 183, 187– 190, 192, 196, 201, 210–216, 262 f., 286, 295, 311 f., 323, 344, 346, 348–352, 354, 368, 380 f., 393–395, 399, 431 434 Gewissen (siehe auch: moralisches Bewusstsein; Gerichtshof) 3, 30, 43, 50, 62, 67, 75, 82, 89, 91, 95, 103, 113, 126, 163, 275, 317 f., 322, 330, 335, 349, 362, 378, 389, 435 – Gewissensbisse 318, 341, 349, 399 – Gewissensruhe 75, 110, 259, 318–321, 337, 339–341, 345, 349, 351, 354, 399 Gewissheit 18, 27 f., 30, 37, 39 f., 43, 45, 85, 113, 125, 230 f., 237, 239, 263, 390, 410, 430 Glück 30, 48, 87, 92, 94, 98–100, 113, 121, 123 f., 131, 143, 148, 151–154, 160, 162, 177, 184, 187, 208, 214, 220, 224 f., 227 f., 236, 245, 247–249, 251, 254–257, 261–268, 277, 280–282, 286 f., 289, 308 f., 316–322, 325, 335, 340, 343, 357, 359 f., 401, 420, 438, 441 Glückswürdigkeit 143, 249, 265, 281, 288, 316–318, 320 f., 416–418 – Formel der Glückswürdigkeit 29, 32, 34, 36, 44, 238, 253, 321, 374, 397, 415 Gott (siehe auch Moraltheologie) 6, 17 f., 23, 78, 80 f., 83, 86, 90 f., 93, 95, 101 f., 107, 115, 143–145, 148 f., 156, 160, 173 f., 178 f., 181, 185 f., 194, 202, 207, 210, 218, 221 f., 224, 228, 230, 317, 320 f., 325, 327, 330–332, 342, 344, 397, 401, 414 f., 417 f., 420, 427 f., 431–433, 435
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Grenze bzw. Schranken 6, 17 f., 23, 64, 131, 136, 159, 179, 215 f., 237–239, 257, 261, 282, 284 f., 288 f., 303, 305–307, 311, 314–316, 333, 337, 348, 353 f., 356, 364 f., 383, 385 f., 390, 398–401, 414, 418 f., 434 Grund – Bestimmungsgrund 107, 201, 212, 227, 265, 296, 309, 327 f., 336, 339, 342, 344, 346 f., 354 f., 362, 372 f., 391 f., 399, 408, 412 – Beweggrund (siehe auch caussa impulsiva; Bewegungsgrund; Triebfeder) 10, 46, 67, 126, 131, 135, 142, 169, 183, 190, 207, 218, 220 f., 230, 244, 251, 296, 310, 320, 336, 394 – Bewegungsgrund 56, 67, 79, 99 f., 144, 157 f., 161 f., 164–167, 169, 187–189, 196, 200 f., 226, 283, 310, 314, 347, 351, 353–355, 381, 393 f., 397, 399, 431, 435 Gutes 29, 32–36, 38, 41–45, 88–97, 100– 106, 113–115, 131, 135, 143–147, 149, 151–155, 157–166, 168, 173 f., 178, 180– 183, 211, 218, 270, 301, 319–325, 332– 336, 340–344 – absolut Gutes 188, 190, 325 – an sich Gutes (siehe auch Böse: nicht böse sein […] kann) 34, 43, 74, 81, 157, 164, 312, 322–325, 330, 333, 336, 341, 344, 347 f., 351, 358 f., 363–365, 369, 380, 391, 393, 396, 417 f., 420 – Bewusstsein des Guten 60 – Erkenntnis des Guten und Bösen 161, 323 – Freiheit vom Guten und Bösen 82, 114 – Gefühl des Guten 217, 420 – Gemeinsinn des Guten und Bösen 74, 84, 108 – Grund des Guten überhaupt 291, 320, – höchstes Gut 9, 20, 23, 35, 42, 77, 92, 143, 148, 151–153, 182, 184, 236, 245, 252–257, 261 f., 264–266, 268, 277, 280 f., 283, 285 f., 288, 316–321, 324 f., 332, 340, 347, 420, – intrinsisch Gutes 350 – kategorisch Gutes 89 – Kriterium des Guten und Bösen 84 f., 108, 168, 411
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Sachregister
– Lehre des höchsten Guts 132, 190, 221, 285 f., 408 – moralisch Gutes 269, 309, 316, 318, 321, 332, 342, 416, 420, 437 – notwendig Gutes 310, 333 – physisch Gutes 38, 63, 151, 156, 187, 316, 416 – unbedingt Gutes 310, 316, 333, 342, 347, 371, 380, 386 – Unterschied des Guten und Bösen 155, 248 – Handlung – Handlung aus Pflicht 93, 101, 107, 116, 161, 165, 245, 323, 335, 345, 363, 366, 388, 403, 407, 438 – Handlungstheorie 1 f., 7, 22 f., 196, 229, 290, 297 f., 312, 327, 329, 386, 407, 410, 419 f. – unmoralische Handlung 57, 182, 258, 275, 365, 393, 399 hedonistisch 277 Herz (siehe auch Gesinnung) 16, 59, 67, 74, 192, 197, 199–201, 240, 282, 303, 342, 351, 354, 430 Hirngespinst (siehe auch Chimäre; Wahn) 229, 248, 277, 283, 286–288, 362 f., 373, 390, 392, 395, 405 Hoffnung (siehe auch Moraltheologie) 23, 132, 136, 217, 239, 247, 252, 254–256, 262–265, 280–283, 287–290, 303, 321, 397, 401, 415, 420 Humanismus 143 Idee – Idee der Vernunft 216, 249, 258, 260 f., 263, 339, 341, 374, 378, 399, 415 – konstitutive Idee 249, 252 – regulative Idee 249 Identität, Satz der 32 Imperative, Klassifikation der 30, 77, 115, 139, 142, 153–155, 193, 222, 224, 226, 230, 249, 288, 312, 358, 411, 420, 437– 441 Imputabilität siehe Zurechnung intelligibel siehe Charakter
Interesse – Erkenntnisinteresse 240 – Vernunftinteresse 97, 215 f., 239, 255, 257, 262, 280, 289, 306, 315, 329, 336, 339, 344–348, 351 f., 363, 379, 388, 394 f., 399, 415 Irrtumsmöglichkeit 59, 63–65, 74, 239, 341 Kanon der reinen Vernunft 5 f., 21 f., 92, 97, 100, 152, 235 f., 239, 241–244, 246 f., 249 f., 252–258, 260 f., 263, 265–268, 273–277, 279 f., 282, 286–291, 321, 396 f., 401 f., 415, 419 f. Kardinalfehlers, Unmöglichkeit eines 313, 371–374 Kategorie 33, 42, 310, 326, 332, 337 f., 340, 346, 350, 358–361, 367, 369, 371, 373, 386, 415, 417, 437–441 kategorisch siehe Imperative, Klassifikation der Kausalität 175, 202, 216, 243 f., 246 f., 249 f., 256, 258, 262, 270–272, 274 f., 278 f., 296 f., 306, 314, 319, 325–327, 333, 340, 348 f., 367, 369, 379, 382, 390 f., 399, 402 f., 407, 415, 438 f. – Naturkausalität 242, 246, 262, 357 Kommentar 4, 7, 21 f., 31, 69, 75, 107, 142, 145, 150, 191, 207 f., 217, 228, 250, 258, 282, 284, 287, 377 Königsberg 3, 8, 69 f., 217, 354 konstitutiv siehe Idee; Vernunftgebrauch – moralisch konstitutiv 362 f., 404 Konzeption 5–7, 10, 12, 19, 21–23, 30, 38, 40, 43, 45, 49, 81, 86, 95–97, 111, 115, 127, 133–135, 140, 152, 163, 177, 183, 190, 195 f., 200, 209, 211, 214 f., 220, 222 f., 227, 229, 235 f., 239, 242, 276, 288, 294, 297 f., 305, 316, 320, 322, 324 f., 327, 329, 332, 334 f., 340, 358, 368, 371, 390, 399, 401, 406, 412 f., 416–418, 420, 426 – Freiheitskonzeption 5, 75, 243, 293, 327, 408 – Moralkonzeption 1, 5, 10, 13, 21, 40, 54, 61, 63, 74, 93, 99–101, 128–130, 134, 139–141, 152 f., 194, 199 f., 214, 223,
Sachregister
226–228, 231, 279 f., 314, 391, 400, 409–411 – teleologische Konzeption 325 Lehrbegriff der Moralität 143 Logik 28, 32, 53, 64, 74, 84, 87, 141, 198, 204 f., 207, 237–239, 250, 263, 308, 366, 372 f., 375, 402 f., 437 Lüge 79, 87, 108 f., 159, 178, 187, 365 f., 388 f., 429 – boshafte Lüge 276 – Notlüge 430 Maschinentieres, Lehre des 95 Mathematik 27 f., 30, 43, 122, 308, 355, 359–362, 373, 390 Meta-Maxime 352, 393 Menschheit 75, 127, 149, 176 f., 224 f., 228, 265, 287 f., 294, 353 f., 374 f., 383–386, 389, 397, 411, 426, 440 Metaphysik 17 f., 27 f., 37 f., 119, 135, 141, 231, 240, 284–286, 303–305, 308, 313, 390, 414, 417–419 – Metaphysik der Natur 238, 240, 285, 303–306, 416 – Metaphysik der Sitten (siehe auch Moralphilosophie) 21–24, 136, 197, 229, 236, 240, 284 f., 303–311, 314, 364, 368 f., 382, 390, 401, 405, 409 f., 412, 416–420 Metaphysik L 1 (Pölitz 1) bzw. V-MP-L1/Pölitz, AA 28 17, 65, 134, 172, 202, 241–243 Methode 1, 3, 5–8, 11 f., 15, 17–22, 28, 37, 42, 70, 120, 136, 184, 197, 231, 235, 237, 239 f., 242, 266, 273, 285, 303–305, 307, 374, 377, 401, 405, 414, 417, 419, 456 – Arbeitsmethode 3, 6 f., 197, 235, 250, 361 – empirische Methode 381 – Methode der Metaphysik 239, 249, 273, 304, 390 – Methode der Vernunft 239, 417 – transzendentale Methode 18, 414, 417, 419 – Transzendentale Methodenlehre 236, 239, 289
459
Mittel, heuristisches 75, 81, 84 f., 107, 114, 130, 411 Mittelbegriff 32, 35, 41 Moral, reine 236, 309, 320, 325, 335, 355, 363, 379, 381 f., 389 f., 397, 405 – Moralität, System der sich selbst lohnenden 274, 281, 291, 295, 316 Moralphilosophie – populäre Moralphilosophie 310 f. – reine Moralphilosophie (siehe auch Metaphysik der Sitten) 2, 6, 12, 22, 24, 99, 122, 132, 134, 137, 208, 210, 303–308, 319–322, 335, 338, 358, 361 f., 364, 369, 371, 401, 417–420 Moraltheorie 6–8, 10, 24, 39, 55, 59, 78, 92, 99, 108, 127, 133 f., 136, 141, 193, 195, 197, 200, 203 f., 231, 285, 288, 313, 315, 336, 338, 349, 352, 369, 376, 401, 405, 410, 438 Motivation 6, 36, 94, 119, 126, 158, 190, 200, 207, 209 f., 214, 320, 337, 401, 408, 415 motivum (siehe auch caussa impulsiva) 144, 161, 166, 182 f., 205, 226 Naturwesen 83, 90, 383 Naturwissenschaft 18, 27, 37, 231, 304, 306, 379, 382, 390 Naturzustand 59, 91 f., 94 necessitation (siehe auch Nötigung) 127, 144, 147, 158, 167 f., 171, 178, 226, 341 neutral 438 Neuzeit 9, 143, 379 Nötigung 119, 121–127, 129–132, 134–137, 160–169, 341–344 Notwendigkeit – hypothetische Notwendigkeit 373 – Notwendigkeit der Mittel 16, 30, 39, 87–92, 94, 113, 129, 139, 141, 177, 223, 225, 334, 410, 438 – kategorische Notwendigkeit 115, 130, 139, 157, 192, 433 – Notwendigkeit der Zwecke 18, 31, 34, 39 f., 44, 59, 87–92, 101, 113, 115, 125, 129, 139, 224 f., 334, 341, 413, 439
460
Sachregister
– Naturnotwendigkeit 243, 271, 278 f., 315, 325–327, 330 f., 356, 402 f., 407, 415 Noumenon 16, 407 Ontologie
238
Person (siehe auch Sache) 17, 56–58, 75, 85, 93, 119, 133 f., 149, 176 f., 190, 192, 203, 216, 222, 225, 227–229, 264 f., 277, 283, 291, 295, 309, 311–315, 318, 321, 327, 330, 343, 345–348, 352 f., 359, 363, 368–370, 375, 378 f., 381–384, 386–388, 392, 395 f., 399–401, 404, 407, 439 f. – Persönlichkeit 145, 171, 179 f., 202, 212, 293 f. Pflicht 10, 24, 31 f., 41, 44, 51, 59, 66, 79, 86, 91–93, 101, 104, 111, 126, 131, 141, 144 f., 164 f., 170, 177, 186, 190, 202, 210, 227, 245, 282, 285, 287, 294, 305– 307, 309, 311, 313, 318 f., 322–324, 335 f., 339, 342 f., 351, 353, 359 f., 363– 366, 371, 376, 379 f., 388 f., 392, 398, 405, 417 f., 420, 430, 433 f., 438 – aus Pflicht 91, 93, 101, 134, 140, 147, 161, 163, 167, 169, 174, 187, 201, 211, 222, 226 f., 244 f., 309, 311, 322, 342, 354, 388 – bloße Pflicht 10, 164, 227, 335, 389 – Pflichtcharakter 312, 322 – Pflicht erfüllen 216, 227, 319, 340, 345, 349, 351, 353 – pflichtmäßig 91, 93, 101, 116, 161, 243– 245, 276, 322, 328, 403, 438 – pflichtwidrig 87, 92 f., 318, 328, 438 – strenge Pflicht 51, 61, 87, 101, 109, 431, 435 – weite Pflicht 87, 131, 137, 353 Phänomen 57, 122 f., 242, 247, 271, 279, 297, 315, 317, 349, 361, 383, 392, 413 Phänomenon 407 Philosophie, Einteilung der 142, 151, 308 Postulat 6, 23, 38, 132, 261, 321, 384, 401 – Postulatenlehre 286 Prärogativ 383
Prinzip 355–367, 438–441 – äußerliches Prinzip 155 – intellektuell-äußerliches Prinzip 185 – doppelten Moralprinzips, Lehre eines 196 f., 204–211 – intellektuell inneres Prinzip 136, 144, 155, 182, 186 f., 207, 214, 219, 222, 224, 230, 248, 273 – theologisches Prinzip 155, 248 – Prinzip der Autonomie siehe Autonomie Psychologie 46, 49 f., 54, 57, 60, 65, 123 f., 130, 166, 190, 239, 242, 253 f., 266, 273, 309, 340, 361, 390, 411, 414, 420 Rationalismus 18, 23, 31, 35, 39, 43, 45, 125, 148, 151, 185 f., 207, 356 Reflexionen bzw. Refl., AA 15–19 11, 137 f., 171 f., 174, 194, 202, 204 f., 209, 248, 287, 337, 406 Regel – Regel des allgemeinen Willens 14, 68, 77, 99, 120 f., 125–128, 131 f., 135, 137, 142, 219 f., 224, 292, 341, 412, 416 – Goldene Regel 355, 374–376, 412 – Regelmäßigkeit 3, 49, 58, 187–189, 398, 411 – regulativ siehe Idee; Vernunftgebrauch regnum gratiae (siehe auch Reich der Zwecke) 17, 416 Reich der Zwecke (siehe auch Welt) 17, 87, 134, 221, 228, 257, 262, 264 f., 274, 314 f., 378, 383, 399–401, 439 Religion 92, 108, 132, 185 f., 209 f., 218, 434 Respekt siehe Achtung Sache (siehe auch Person) 57, 76, 89, 149, 151, 155, 167, 176 f., 190, 202, 222, 225, 228, 259, 314, 333, 356, 382, 400, 428 Satz – analytisch-praktischer Satz 368 – synthetisch-praktischer Satz 150, 159, 306, 358, 367 f., 371, 395 f., 406 Selbstbeherrschung 19, 171, 178, 225, 351 Selbstbestimmung 19, 53, 65 f., 77, 82, 99 f., 165, 171–178, 218, 225–229, 246,
Sachregister
261, 274, 314, 328, 332, 351, 364, 380, 402, 404, 418 Selbstgesetzgebung (siehe auch Autonomie) 226, 332, 353, 383 f., 387 Selbstzwang 165, 171, 173, 178 Sittenlehre 78, 236, 241 skeptisch 4, 17, 136, 307, 311, 356, 390, 392, 394, 405 f. Stoiker 143, 152, 173, 316, 321 Subsumtion 42–44, 125 System 1 f., 4, 7, 9, 18 f., 23 f., 45, 58, 72 f., 81, 107, 110 f., 115, 120–123, 125, 127 f., 133, 137–139, 141, 143, 151, 153, 155 f., 168, 193, 197 f., 207, 219, 221, 223 f., 226, 228–231, 236 f., 239 f., 248–250, 253, 256, 262–265, 281–283, 285–288, 291 f., 295, 298, 303–308, 311, 313, 316, 321, 324, 333, 335, 355, 377, 381, 389 f., 397, 400 f., 408 f., 413–420 – Erkenntnissystem 240, 304, 414 – Moralsystem 23, 140, 142, 153, 155, 161, 199, 220, 226, 229, 306, 314, 362, 387, 403, 418 f. Theologie 10, 27 f., 92, 148, 186, 209–211, 236, 239, 248, 316, 390, 414 – Moraltheologie 92, 132, 236, 238, 247– 249, 263, 274, 281, 283, 286–288, 316, 320 f., 401, 415–418, 420 Theorie 20, 43, 45, 61, 81, 110, 171, 196, 205, 207, 251, 321, 337, 405 Transzendentale Dialektik 5, 97, 238 f., 241, 243 f., 246 f., 249 f., 252 f., 256, 258– 261, 265–268, 270, 272–279, 288–290, 326, 404 f., 414 f. Transzendentalien 32 Transzendentalphilosophie 254 f., 266, 273, 288, 419 Triebfeder (siehe auch caussa impulsiva) 160–162, 166–169, 179–192, 199–202, 205–211, 280–286, 310, 313 f., 329–331, 334, 337, 351–354, 379, 381, 388, 391– 396, 410, 420 Tugend 13, 16, 31, 48–53, 57 f., 60–67, 74 f., 77, 86, 92, 98, 102, 108, 110, 113, 116, 126, 128, 130 f., 143, 151–153, 186, 208,
461
218, 224, 228, 249, 293, 316 f., 319–321, 339, 354, 403, 411, 420, 434 – Tugendlehre 23, 307, 333 – Tugendschimmer 50, 52, 62, 108, 411 Übereinstimmung 44, 51, 83, 95, 120 f., 126, 157, 159, 161 f., 165, 181, 186–188, 212 f., 225, 282, 294, 326, 354 Umbruch (siehe auch Wende) 137, 140, 222, 298, 320, 413, 418 Unterordnung 52, 76 f., 83 f., 95, 103 f., 107, 181, 186 f., 189, 315, 338, 343, 345, 395, 403, 408 Urteil 28, 33 f., 44, 48, 52, 55, 60, 64, 67, 74, 84 f., 120, 124, 127, 150, 163, 165, 186, 188, 190 f., 195, 201 f., 208 f., 211– 216, 223, 284, 318, 327, 340 f., 349, 395 f., 417, 437–441 – synthetisches Urteil 304 Verallgemeinerung bzw. Verallgemeinerbarkeit 85, 355, 372 Verallgemeinerungsprinzip 374–376 Verbindlichkeit 12, 18, 29–36, 38–44, 59 f., 73, 79, 85, 87, 89, 91, 94, 99, 104, 106, 108, 113, 125–131, 135, 140, 142, 144 f., 147, 155, 157 f., 160–173, 175, 177 f., 180–183, 190, 199, 208, 217 f., 221, 223 f., 226, 250, 262, 282, 307, 334 f., 337, 339, 341 f., 354, 380, 389, 395, 397 f., 406, 411, 429, 432–434, 437 Vernunft – Procedere der Vernunft 343 – Producte der reinen Vernunft 100, 247 f., 252, 266, 276 – Vernunftgebrauch 214, 236, 251, 255, 257, 261, 279, 373 – interessierter Vernunftgebrauch 372 – konstitutiver Vernunftgebrauch 276 – praktischer Vernunftgebrauch 235 f., 239, 245, 247, 252–255, 258, 260, 263, 266, 274, 304, 316, 394, 415 – regulativer Vernunftgebrauch 247, 250, 252, 279 – spekulativer Vernunftgebrauch 236– 239, 252, 260 f., 265, 280, 304, 315, 414– 416, 419
462
Sachregister
– Vernünftigsein 114, 133, 277, 392, 347, 395 f. Vollkommenheit 13, 16–18, 29, 31 f., 34–36, 38, 40–44, 80, 82, 89, 100 f., 103, 105 f., 115, 123, 130, 143 f., 146, 151 f., 159 f., 162 f., 165, 181 f., 187, 191, 218, 225, 227 f., 264 f., 280 f., 413, 428 f., 435 Vorlesung – Nachschriften des Ethikkollegs aus den 1770er Jahren 203 f. – Danziger Physik, AA 29.1 361 – Vorlesungen über Anthropologie – Anthropologie Friedländer bzw. V-Anth/ Fried, AA 25.1 287 – Menschenkunde oder philosophische Anthropologie, AA 25.2 437 – Vorlesungen über Logik, AA 24 70 – Vorlesungen über Metaphysik bzw. Metaphysik L1 (Pölitz), AA 28 17, 134, 202, 248 – Vorlesung Moral Mrongovius, AA 27 195 – Vorlesung Moral Mrongovius II bzw. V-Mo/ Mron II, AA 29 12, 195 f., 198 f., 203, 227 – Vorlesung Moralphilosophie Collins bzw. VMo/Collins, AA 27 199 f., 203 f. – Naturrecht Feyerabend bzw. NRFeyer, AA 27 11 f. – Vorlesung Praktische Philosophie Herder bzw. V-PP/Herder, AA 27 12 f., 18, 60, 66, 72, 74–76, 84, 141, 193, 316, 430 – Vorlesung Praktische Philosophie Powalski bzw. V-PP/Powalski, AA 27 203 Vorschrift 16, 30, 37, 51, 53, 59, 87, 93 f., 104, 113, 115, 145, 225, 230 f., 245 f., 248, 252, 259 f., 276, 287, 295, 305, 312, 317, 341, 343, 360, 440 Wahl 74, 76, 82, 91, 94, 96, 98, 100, 102, 114 f., 171 f., 175, 178, 213 f., 279, 293, 297 f., 310, 330 f., 333, 362, 387 f., 390, 392–394, 421, 427, 435 – Wahlfreiheit 16, 97, 102, 173, 178, 315, 328, 331, 370 f., 390, 393–395, 398 Wahn (siehe auch Chimäre; Hirngespinst) 59, 67, 79, 218, 228, 359, 366, 390, 405, 434
Welt – intelligible Welt 17, 120 f., 125, 133 f., 221, 228, 264, 292, 333, 399, 401, 407, 416 – Sinnenwelt 17, 198, 244, 246 f., 258, 262, 264, 270–272, 274, 287, 296, 303, 315, 333, 401, 407, 416 – Weltweisheit 76, 303 – praktische Weltweisheit 18, 30 f., 38, 40, 56, 60, 111, 197 f., 285, 303, 309 – populäre sittliche Weltweisheit (siehe auch Moral: populäre Moralphilosophie) 310, 369 – Zwei-Welten-Lehre 16, 313–315, 407 Wende (siehe auch Umbruch) 3, 8, 17, 72, 122, 134, 208, 224, 241, 320, 374, 413 – kopernikanische Wende 47, 237 Werdegang (siehe auch Entwicklung) 3–5, 9, 22, 129, 197, 215, 217, 219 f., 224, 237, 341, 350, 377 f., 408–410 Wert 21, 52 f., 55–58, 63, 67 f., 77, 80, 113 f., 137, 144, 148, 152, 154, 157–159, 165 f., 168, 175–177, 194, 196 f., 204, 211, 227, 311, 321–323, 329, 331, 334, 336, 363, 366, 379, 382 f., 392, 407, 432 – absoluter Wert 314, 322, 353, 381–383, 385 – bedingter Wert 63, 176, 342, 382 – innerer Wert 106, 152, 176, 384 – moralischer Wert 60, 63, 93, 100 f., 105– 107, 111, 124, 134, 164, 169, 187, 194, 214, 227, 230, 245, 285 f., 295, 308 f., 319, 321–324, 328–332, 344, 349, 351, 354, 363, 365 f., 388, 397, 400 – unbedingter Wert 342 Widerspruch 66, 73, 78, 80, 83–87, 99, 104–106, 108, 111, 356, 372, 431 – Widerspruchs, Satz des 28, 32 – widerspruchsfrei 375, 415 Wille – allgemeiner Wille 78, 81, 86 f., 105–109, 115, 121–123, 126–134, 137, 184, 220– 222, 224, 236, 431 – böser Wille (siehe auch Bösewicht) 173 f. – freier Wille 146, 175, 324–327, 333, 357, 398
Sachregister
– göttlicher Wille 78, 86, 90, 124, 147, 156, 160, 180–182, 185, 207, 222, 280, 282 f., 292, 344 f., 428, 431 – guter Wille 180–182 – menschlicher Wille 44, 77 f., 83, 86, 92, 95, 101, 114 f., 127, 144, 160, 175, 181, 222, 229, 292, 295, 310, 332, 335, 339, 341 f., 344, 384, 418, 420 f., 440, (voluntas hominis: 101, 411) – reiner Wille 137, 306, 309 f., 328–333, 343, 346–348, 351, 374, 386–388, 391, 394, 396 f., 406, 417 – tierischer Wille 327 – vernünftiger Wille 134, 202, 354, 421 Willkür 1, 4, 9–11, 19, 77, 82, 103 f., 121, 125, 137, 156–159, 162–167, 170–179, 181–189, 205 f., 211, 250 f., 254, 258, 266, 268, 271, 289–291, 294, 309, 312, 323 f., 328–334, 336, 339–352, 354, 357 f., 360, 362–364, 367 f., 370, 374, 379, 384, 386–389, 391–397, 399 f., 402 f., 437–441 – freie Willkür (arbitrium liberum) 16, 97, 99 f., 103, 146 f., 154, 156, 159, 170–180, 192, 202, 212 f., 244–246, 250–252, 256, 264, 266–269, 271–273, 290–295, 314, 327–329, 331–334, 336, 343–349, 351, 353, 357, 361, 368, 371–373, 386, 391– 393, 395, 412, 414, 418, 420 f. – göttliche Willkür 173, 178 – menschliche Willkür 146, 172, 251, 267– 269, 290 f., 329, 331, 342, 353, 391 – sinnliche Willkür (arbitrium sensitivum) 171 f., 213, 269, 294
463
– tierische Willkür (arbitrium brutum) 146, 171 f., 269, 290–292, 293 f., 326 f. Wissenschaft (siehe auch System) 18,, 27, 37, 66, 69 f., 107, 151, 154, 204, 206, 210, 231, 237, 239 f., 285, 304 f., 308, 311, 315, 362, 379, 382, 414 Wollen – allgemeingültiges Wollen 374 – reines Wollen 213, 329, 346 f., 350, 353, 358, 362, 387, 391–393, 399, 421 – Wollen-Können (siehe auch Widerspruch) 371–376 Würde 52, 59, 68, 176 f., 228, 314, 342, 351, 366, 377, 383 – verachtungswürdig 177, 291 Zergliederung 28, 130, 377 Zurechnung 250, 277 f., 295 Zwang (siehe auch Selbstzwang) 19, 91, 104, 107, 129, 140, 144–147, 162–168, 170, 172–174, 189 f., 218 f., 291, 295, 389, 431, 434 Zweck – allgemeiner Zweck 154, 228, 358 – einschränkender Zweck 84, 385, 397, 438 – formeller Zweck 332, 371 – materieller Zweck 371 – möglicher Zweck 287 – notwendiger Zweck 31, 44, 129, 286, 411, 439 – Selbstzweck 353 – wirklicher Zweck 317, 320
Namensregister Abt von Saint Pierre 228 Adickes, Erich 1, 3, 10 f., 14, 69–72, 109, 171, 193, 195, 204, 230 Allison, Henry E. 4, 21, 246, 273, 305, 401, 417 Arana Cañedo-Argüelles, Juan 361 Aristoteles 185, 323, 339, 354 Augustinus von Hippo 17 Bärthlein, Karl 32 Baum, Manfred 175, 427 Baumgarten, Alexander Gottlieb 12, 17, 29 f., 32 f., 66, 139–142, 144–147, 151, 161 f., 164 f., 167, 169–171, 179, 185, 193 f., 196, 208, 210, 212, 217, 228, 238, 356 Brandt, Reinhard 17 f., 69, 77, 84, 203, 238, 250, 296, 413, 433 Brinkmann, Walter 437 Buchenau, Artur 437 Cassirer, Ernst 1, 351, 390, 402 Constant, Benjamin 388 Crusius, Christian August 31–33, 38 f., 125, 131, 143, 145, 151, 155, 207 Descartes, René
95
Engstrom, Stephen 418 Epikur 38, 143, 148, 151 ff., 155, 161, 185, 208, 316, 321, 339 Erdmann, Beno 2, 8, 70 Esser, Andrea M. 287
Gutiérrez-Xivillé, Ana-Carolina 228, 382, 400 Guyer, Paul 69
107, 176,
Habermas, Jürgen 337 Hamann, Johann Georg 11, 111 Hartknoch, Johann Friedrich 197, 303 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 337 Heidegger, Martin 351 Heisenberg, Werner 356 Helvetius 143 Henrich, Dieter 2–4, 13, 39, 45, 78, 110, 112, 128, 134, 219 f., 231, 409 Herder, Johann Gottfried 12 f., 18, 32, 60, 66, 72, 74–76, 84, 136, 141, 193, 197, 217, 303, 316, 430 Hernández Marcos, Maximiliano 305 f. Herz, Marcus 197 f., 240, 303 Heyse, Norbert 438 Hinske, Norbert 3, 12, 69, 71 f., 109, 284 f., 307, 418, 437 Hissmann, Michael 311 Hobbes, Thomas 143, 155, 311 Höffding, Harald 40, 107, 171 Höffe, Ottfried 250, 372 f. Horn, Christoph 22 Hruschka, Joachim 8, 374–376 Hume, David 8, 13, 311, 374 Hutcheson, Francis 33, 37–39, 43 f., 60, 87, 94, 124, 137, 143, 151, 155, 208, 338, 376, 410, 413 Israel, Jonathan
21
Fichte, Johann Gottlieb 350 Förster, Friedrich Wilhelm 3 Funke, Gerhard 437
Jachmann, Reinhold Bernhard 230 Jäsche, Gottlob Benjamin 198 Johnson, Gregory R. 134, 264
Garve, Christian 310 f., 401 Gawlick, Günter 8 Geisler, Ralf 437 Grünewald, Bernward 337
Kaehler, J. F. 3, 14, 194 ff., 196, 203 f., Kant, Immanuel 1, 141, 193 Kanter, Philipp Christoph 111 Kawamura, Katsutoshi 8, 13, 23, 171, 356
https://doi.org/10.1515/9783110584288-022
Namensregister
Klemme, Heiner F. 9, 65, 93, 126, 201, 214, 235, 337, 352 f. Korsgaard, Christine M. 373 Kraft, Bernd 9–11, 38, 96, 100, 123, 126, 131, 136, 144, 150, 158, 172, 191, 195, 208, 286, 292, 310, 321, 342 f., 349, 353, 388, 413, 427 Krauß, Wilhelm 195, 199, 203 Kreimendahl, Lothar 8, 15, 273 Kühn, Manfred 15 f., 18, 41, 106, 122, 126, 134–138, 141, 148, 190, 207, 337 La Rocca, Claudio 386, 393 Lambert, Johann Heinrich 197, 240, 303, 410 Laos, Claudia 371 Lehmann, Gerhard 3, 12, 69, 199, 203 Leibniz, Gottfried Wilhelm 17 Locke, John 17, 375 Ludwig, Bernd 5 f., 235, 254, 273, 282, 333, 402–406, 408 Mandeville, Bernard 143, 155 Mendelssohn, Moses 132 Menzer, Paul 3, 10, 14 f., 23, 27, 30–32, 37, 39 f., 42, 46, 55, 61, 64, 129, 132, 139, 203, 217, 412 Mersenne, Marin 95 Messer, August 3 Mieth, Corina 22 Mohr, Georg 250 Montaigne, Michel 143, 155, 161, 311 Moritz, Manfred 437 Mulsow, Martin 21 Naragon, Steve 13, 195, 198, 203 Natorp, Paul 111, 198, 236 f., 285, 303, 361 Palacios, Juan Miguel 341 Paley, William 375 Patzig, Günther 7, 12, 195–203, 212 f. Pereira, Gómez 95 Pfeifer, Wolfgang 57 f., 305, 338, 355 f. Pistorius, Hermann Andreas 5, 404, 406 Plato 105 Pufendorf, Samuel 33, 376
465
Rauer, Constantin 3 Rawls, John 214 Reich, Klaus 15, 17, 75, 77, 91, 134, 221, 228, 264, 400 Richter, Philipp 22, 53, 148, 210, 282 f., 376 Rink, Friedrich Theodor 198 Rischmüller, Marie 3, 12, 14, 69–72, 75, 77, 82, 84, 95, 98, 107, 109, 264, 427 Ritter, Christian 65, 131, Ritter, Joachim 311, 346 Robinet, Jean Baptiste René 12 Rodríguez Aramayo, Roberto 141 Román Maestre, Begoña 107, 176, 228, 287, 382, 400 Rousseau, Jean-Jacques 12 f., 40, 44, 59, 70, 72, 74 f., 77, 80–82, 84, 91 f., 94–96, 107 f., 111, 119, 122–124, 126 f., 129, 133 f., 141, 151, 155, 161, 171, 173, 178 f., 217, 248 f., 264, 292, 372, 411, 427 f., 433 f. Rutherforth, Thomas 374 Santos Herceg, José 11 Scaranno, Nico 22 Schadow, Steffi 126, 167, 337, 345–347, 350 Schilpp, Paul Arthur 3 f., 15, 19, 44, 46, 63, 70, 132, 142, 210, 230, 304, 337 Schmidt, Karl 3, 19 Schmucker, Josef 1–4, 39, 46, 78, 85, 110, 127 f., 134, 220, 409 Schönecker, Dieter 5, 7, 11, 22, 65, 95, 126, 186, 240–247, 249–252, 254 f., 257– 263, 265–279, 282, 284, 286 f., 305, 337, 388 Schütz, Christian Gottfried 197, 285, 303 Schwaiger, Clemens 3 f., 6–8, 11–13, 15, 29 f., 32–34, 39, 69–72, 74, 77, 93, 110, 122, 134, 139–141, 153, 158, 161, 169, 181, 185, 193 f., 201, 203, 205, 207–210, 212 f., 220, 226, 255, 284, 307, 357, 413, 418, 437 Schwarz, Gottlieb 376 Seneca, Lucius Annaeus 317 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper, 3. Earl of 143, 155
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Namensregister
Smith, Adam 57, 63, 67, 75, 81, 84, 111, 119, 129, 131, 207, 411 Sokrates 309, 403 Stark, Werner 3, 10, 12–14, 17, 31, 69–72, 77, 139 f., 142, 145, 150, 191, 194 f., 198, 203 f., 206–208, 215, 228, 249, 282, 284, 287, 356, 383 Sulzer, Johann Georg 311 Tenenbaum, Katrin 14, 70–72, 78 Thomasius, Christian 376 Thon, Osias 3 Tilkorn, Anne 126 Timmermann, Jens 22, 146, 235, 437 Turró, Salvio 317, 350 f.
Vorländer, Karl
111, 303
Ward, Keith 4, 23, 27, 45 f. Waschkies, Hans-Joachim 8 Watkins, Eric 21 Wernher, Johann Balthasar 374 Willaschek, Marcus 244, 250 Wolff, Christian 8, 13, 23, 30–32, 38 f., 80, 125, 135, 140, 151, 161, 185, 309 Wood, Allen 22 Yovel, Yirminahu
377
Zenon von Kition 143, 151 f. Zimmermann, Stephan 373
Exzerpt Hauptgegenstand der Arbeit ist Kants Begriff von „Autonomie“. Eine chronologisch geordnete und philologisch fundierte Untersuchung der Texte von 1762 bis 1785 in philosophischer Absicht wird zeigen, dass es sich bei der Kantischen Ethik von 1785 nicht um eine bloße Ausarbeitung von bereits in den 1760er Jahren vorliegenden Begriffen handelt; sondern eher um einen dynamischen Prozess: Von einem Rezeptionsstadium Anfang der 1760er Jahre taucht Kant bereits in der zweiten Hälfte des Jahrzehntes in eine kritisch-reflexive Phase ein, die besonders Mitte in den 1770er Jahren erkennbar ist und ihn zur ausgereiften Fassung der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) führt. Zu fragen ist also: Wo sich entscheidende Brüche finden, wie, wann und warum Kant seine Ethik, und zwar ausschließlich aus dem Autonomiebegriff heraus konstruiert. Das methodische Vorgehen und die triftige Auswahl des je zu erläuternden Hauptbegriffes ermöglicht nicht nur einen entwicklungsgeschichtlich Nachvollzug, sondern auch im Detail die Gründe und Struktur der Kantischen Ethik ab 1785 zu verstehen.
https://doi.org/10.1515/9783110584288-023