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German Pages 184 [188] Year 1979
Werner Busch Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants 1762-1780
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Kantstudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft in Verbindung mit Ingeborg Heidemann herausgegeben von Gerhard Funke und Joachim Kopper 110
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1979
Werner Busch
Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants 1762-1780
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1979
CIP-Kurztitelaufnähme
der Deutseben Bibliothek
Busch, Werner: Die Entstehung der kritischen Rechtsphilosophie Kants : 1762-1780 / Werner Busch. - Berlin, New York : de Gruyter, 1979. (Kantstudien : Erg.-H. ; 110) ISBN 3-11-007874-0
© Copyright 1979 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp., Berlin 30 — Printed in Germany — Alle Rechte der Ubersetzung, des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, und der Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. Druck: Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, 1 Berlin 61
Meiner Frau
Inhalt 1. Gibt es eine kritische Rechtsphilosophie Kants? 2. 1. Phase 1762—1765: Das analogon rationis als Quelle der rechtlichen Verbindlichkeit 2.1. Die Vernichtung des Wölfischen Verbindlichkeitsbegriffs aus Naturkausalität 2.2. Die rationale Gerechtigkeit nach David Hume 2.3. Die Konstituierung der Verbindlichkeit aus einem formalen Rechtsbegriff 2.3.1. Die Übernahme des Verbindlichkeitsbegriffs von Hobbes . . . . 2.3.2. Standorte außerhalb seiner selbst zu wählen als notwendige Ergänzung des rationalen Verbindlichkeitsbegriffs 2.3.3. Das skeptische Element in der Anwendung des formalen Verbindlichkeitsbegriffs und das analogon rationis 2.3.4. Voluntas communis als Wille, den man in jedem vernünftigen Menschen annehmen muß 2.3.5. Die Wahrhaftigkeit als Bedingung der Geselligkeit 2.3.6. Die Verbindlichkeit als absolute Selbstverpflichtung 2.4. Die Vorstellung vom Recht als Ausgleich naturalistischer Freiheit durch Gerechtigkeit 2.5. Verträge und Eigentum 2.6. Das Staatsrecht: Besserung des Staates durch Sitten 2.7. Zusammenfassung und Grenzen des Standpunkts: Kant präzisiert Hume mit einem absoluten Verbindlichkeitsbegriff 3. 2. Phase 1766—1768: Der kompetente Richter als notwendige Bedingung des Rechts 3.1. Die Rechtlosigkeit des Urteils in eigener Sache und der formale Rechtsstaat 3.2. Die Selbstparodie in den ,Träumen eines Geistersehers* 3.3. Achenwalls Voraussetzungen bei den Coccejis und Heinrich Köhler und die nova ratio in der Deduktion des strengen Rechts 3.4. Die Kritik am Suum cuique Achenwalls mit Thomas Hobbes und der Standpunkt der Coccejis 3.5. Die Verbesserung des Rechtsbegriffs 3.6. Das Recht in concreto 4. 3. Phase 1769—1771: Universale Rechtsordnung und Verstandeserkenntnis . . 4.1. Reine Begriffe im Recht 4.2. Die Einheit von Recht und Moral in der civitas dei 4.3. Das Eherecht: Einheit von Recht und Naturzweck 4.4. Der Versuch einer materialen Begründung der Rechtsphilosophie . . . .
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Vili
Inhalt
5. 4. Phase seit 1772: Der kritische Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie 5.1. Die Vereinbarkeit von Freiheit und Naturkausalität und die endgültige Trennung der praktischen Philosophie von der theoretischen und der Moral vom Recht 5.2. Die Entstehung der Form und der Selbstgesetzgebung des kategorischen Imperativs 5.2.1. Regeln des Rechts als formale Gründe des Willens 5.2.2. Das Recht der Menschen und der Menschheit als Gründe des Willens 5.2.3. Die Form der Selbstgesetzgebung des kategorischen Imperativs aus einer allgemeinen Reflexion Pierre Bayles 5.2.4. Recht und Moral unter dem kategorischen Imperativ 5.3. Der kritische Rechtsbegriff 5.4. Montesquieu gegen Beccaria: Rechtszwang und Strafwürdigkeit 5.5. Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche Gewalt und absolute Freiheit 5.5.1. Die Aufgabe des kritischen Staatsrechts aus der Kritik an Hobbes 5.5.2. Die Bedingungen der Freiheit der Rechtsperson: Das Recht der freien Meinungsäußerung und die Unmöglichkeit der Leibeigenschaft 5.5.3. Die Rechtsbedingungen der Staatsgewalt 5.5.3.1. Die Trennung von Staatserrichtung und Staatsverwaltung 5.5.3.2. Der patriotische Staat unter der repräsentativen und dauerhaften Staatsverwaltung 5.5.4. Montesquieu gegen Rousseau: Die Gewaltenteilung aus der Idee der Souveränität 5.5.5. Die Methode der politischen Untersuchung nach Montesquieu: Das Repräsentative in der wirklichen Verfassung 5.5.6. Das Staatsrecht zwischen Positivismus und Idealismus: Wahl der Repräsentanten der Souveränität durch das Volk 5.6. Das kritische Privatrecht 5.6.1. Die Ehe als Rechtsgemeinschaft 5.6.2. Das Elternrecht: Gibt es ein Zwangsrecht des Kindes? 5.6.3. Die häusliche Gesellschaft und das Gesinderecht 5.6.4. Annäherung und Vorgriff: Das auf dingliche Art persönliche Recht 5.7. Privatrecht und Staatsrecht: Notrecht und Eigentum 5.8. Das kritische Völkerrecht aus der verbindlichen Vorstellung des Rechtszustandes
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6. Die Rechtsbedingungen des Zusammenlebens freiheitsfähiger Wesen
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Literaturverzeichnis
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Abkürzungen A R E M. d. S. Κ. d. r. V. Κ. d. pr. V. K. d. U . I. N . I. G. Prol. El. Inst. Disc. Spec. Exerc.
Akademieausgabe Reflexion Erläuterung Metaphysik der Sitten Kritik der reinen Vernunft Kritik der praktischen Vernunft Kritik der Urteilskraft lus Naturae lus Gentium Prolegomena Elementa Institutiones Discours Specimina Exercitationes
Rechtschreibung und Zeichensetzung der älteren Zitate sind weitgehend der neueren Schreibweise angeglichen. Datierungen oder Datierungsvorschläge der Reflexionen und Erläuterungen werden nur mitgeteilt, wo sie sich nicht aus Argumentation oder Zusammenhang ergeben. Sie werden besonders zur Differenzierung der 70er Jahre beigefügt.
1. Gibt es eine kritische Rechtsphilosophie Kants? Zwei Eigenarten des Kantischen Denkens sind leicht festzustellen, einmal daß es Entwicklungen durchgemacht hat, deren Wendepunkte Kant selbst „Umkippungen" nennt (A 10, 55, 31), zum anderen daß die Reflexion über Sachprobleme in die Auseinandersetzung mit Begriffen, „welche großen Köpfen eingefallen sein" (A 18, 62, 8, R 5017), verflochten ist. Das Verdienst von Christian Ritters Buch „Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen" von 1971 ist es nun, die Frage nach dieser Entwicklung für Kants Rechtsphilosophie aufgegriffen zu haben. 1 Allerdings begründet die Untersuchung in Ergänzung zu Josef Schmuckers „Die Ursprünge der Ethik Kants" von 19612 eine dreifach negative These: 1. Trotz ,origineller Abwandlungen' beruhe Kants Rechtsphilosophie auf der Tradition, so daß ein Bruch, der erst kritische Philosophie möglich gemacht hätte, in deren Entwicklung nicht stattfinde; 3 2. Kants kontinuierlich entstandene Rechtsphilosophie sei metaphysisch, d.h. unkritisch begründet; 4 3. Kants politisches Denken sei angesichts der Verflechtung mit der Tradition in den absolutistischen Anschauungen des 18. Jahrhunderts befangen. 5 Mit dieser Verneinung einer kritischen Rechtsphilosophie Kants verteidigt Ritter im Rahmen der „Schule" Erik Wolfs einen unter Juristen seit langem verbreiteten Standpunkt. 6 Die Methoden, mit deren Hilfe Ritter zu solchen grundsätzlichen Aussagen über die Entwicklung von Kants Rechtsphilosophie kommt, sind folgende: 1. Er vergleicht Kants frühe Äußerungen zur Rechtsphilosophie mit Vorläufern und Zeitgenossen Kants, die er selber als historischer Betrachter kennt; 2. er behandelt das in den angenommenen Entwicklungsstufen vorhandene Material Kants nicht in systematischem Zusammenhang, sondern ordnet dies nur nach thematischen' Schwerpunkten; 7 3. er datiert die in Kants Handexemplaren überlieferten Reflexionen aus Gründen der Sicherheit unabhängig von allen anderen Kriterien stets auf den in der Akademieausgabe spätest angegebenen Zeitpunkt. 8 Sind diese Methoden aber der Fragestellung nach einer kritischen Wendung in Kants Rechtsphilosophie angemessen? Sucht man, um Veränderungen in Kants ' Christian Ritter, Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen, Frankfurt/M. 1971, S. 24. Vgl. die Rezension von Reinhard Brandt in Philosophische Rundschau 20, 1973, S. 4 3 - 5 0 2 Josef Schmucker, Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflektionen, Meisenheim/Glahn 1961 3 a . a . O . , S. 339 4 a . a . O . , S. 340 5 a . a . O . , S. 2 5 1 , S. 295, S. 3 3 7 6 a . a . O . , S. 1, S. 16 s , S. 3 2 4 2 8 7 7 a . a . O . , S. 21 8 a . a . O . , S. 70
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Gibt es eine kritische Rechtsphilosophie Kants?
Denken herauszuschälen, Ansatzpunkte der Kritik an der traditionellen Rechtsphilosophie, dann bietet es sich an, dies nur bei Autoren zu tun, von denen sich nachweisen läßt, daß Kant sie wirklich kannte und als Gegenstand der Auseinandersetzung betrachtete. D. h. es ergibt sich aus der besonderen Fragestellung nach der Entstehung von Kants kritischer Rechtsphilosophie ein doppelter Gebrauch der Tradition, nämlich einen, der nur den Hintergrund der damaligen Auseinandersetzungen in der Rechtsphilosophie überhaupt erhellt, und einen anderen, der auf Kants Kritik unmittelbar zugespitzt ist. Dieser methodisch begründete doppelte Gebrauch der Tradition läßt sich gut an Kants Verhältnis zu Locke und Hobbes erläutern, die Ritter beide in einem Atemzug als Quellen Kants innerhalb der Tradition angibt. 9 Es läßt sich unserer Meinung nach an keiner Stelle zeigen, daß Kant die beiden politischen Abhandlungen Lockes kannte, geschweige denn sich mit ihrer besonderen Absicht auseinandersetzte, obwohl er von dessen „Essay Concerning Human Unterstanding" sagt, daß er „als eine Grammatik für den Verstand kann angesehen werden" (A 24, 1, 300, 19—20; 495, 16—17); denn alle Lockeschen Elemente in der Auseinandersetzung um die Eigentumsbegründung oder den Naturzustand lassen sich auf die augenfällige Kenntnis Rousseaus, Humes, Wolffs und Achenwalls zurückführen. 10 Ganz anders verhält es sich mit Thomas Hobbes, dessen Theorie Kant mehrfach unmittelbar als Ansatzpunkt der Selbstkritik und Kritik aufgreift. Angesichts dieser Auseinandersetzungen Kants ist die Frage nach seiner kritischen Rechtsphilosophie unausweichlich die nach Kants oberstem systematischen Standpunkt, von dem aus er kritisiert. Es wird daher nicht zu umgehen sein, den Versuch zu unternehmen, innerhalb einer Phase seines Denkens diesen obersten systematischen Punkt zu rekonstruieren, um überhaupt eine frühere oder spätere Entwicklung davon abheben zu können. Damit ist aufs engste das Problem der Datierbarkeit der Reflexionen verbunden. Die ganze Schwierigkeit gerade für die Entwicklung der Rechtsphilosophie besteht darin, daß die Quellen hier besonders spärlich fließen. Einmal ist Kants Rechtslehre als erste zusammenhängende Äußerung zur Rechtsphilosophie erst 1797 innerhalb der „Metaphysik der Sitten" erschienen, zum anderen ist der 1. Teil von Kants Handexemplar des „Ius Naturae" Achenwalls, von dessen Reflexionen man gerade über die Entstehung der Prinzipien hätte Aufschluß erwarten können, verlorengegangen. Es bleibt daher nur ein Weg, die fest datierten Zeugnisse — Veröffentlichungen, Briefe und die Vorlesungsnachschrift Herders —, selbst wenn sie nicht unmittelbar der Rechtsphilosophie gelten, auf ihre Eigentümlichkeit in Hinblick auf Rechtssätze zu untersuchen und das Ergebnis inhaltlich mit dem für diese Zeit in Frage kommenden handschriftlichen Material zu vergleichen. Nun entziehen sich gerade die Reflexionen ihres privaten Charakters wegen häufig einer engen inhaltlichen Interpretation, so daß eine Datierung über den selten eindeutigen handschrift9 10
a . a . O . , S. 23, S. 24 S. u. S. 27ff. Gegen die Kenntnis von Lockes 2. Treatise auch Reinhard Brandt; Eigentumstheorien von Grotius bis Kant, Stuttgart 1974, S. 254
Gibt es eine kritische Rechtsphilosophie Kants?
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liehen Befund hinaus wiederum nur da möglich ist, wo Standpunkte entweder eindeutig übereinstimmen oder sich ebenso eindeutig widersprechen; und gerade diese Beurteilung nach Widerspruch und Übereinstimmung untereinander und mit Kants eigener Überlieferung gilt für die anderen herangezogenen Vorlesungsnachschriften, Logik Blomberg und Philippi, Praktische Philosophie Powalski, Moralphilosophie Collins und das wieder aufgefundene Naturrecht Feyerabend von 1784, das abschließend zum Vergleich benutzt werden konnte 11 . Angesichts dieser begrenzten Interpretierbarkeit des Quellenmaterials erscheint Vollständigkeit in dessen Ausbreitung, die Ritter für die 60er Jahre erstrebt, 12 wenn nicht gar hinderlich, so doch unnötig. Im Gegenteil liegt der Schwerpunkt gemäß der hier geübten konfrontatorischen Methode darin, nach der Veränderung der Standpunkte in den Jahren 1762, 1766 und 1769 das Ergebnis der Kritik von 1772 für die Zeit vor den Veröffentlichungen der 80er Jahre zu erläutern. 11
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Diese Nachschrift erwähnt Paul Natorp (A6, 528/9). Herr Prof. Dr. Klaus Reich überließ mir freundlicherweise zur Ergänzung dieser Arbeit eine Kopie der Abschrift von Herrn Dr. Gerhard Lehmann. Die Seitenangaben beziehen sich auf die Originalpaginierung. a . a . O . , S. 21
2. 1. Phase 1762 — 1765: Das analogon rationis als Quelle der rechtlichen Verbindlichkeit 2.1 Die Vernichtung
des Wolffschen Verbindlichkeitsbegriffs aus Naturkausalität
Es ist keine Neuigkeit, daß die Beschäftigung mit Kants praktischer Philosophie an dessen Kritik am damals gängigen Verbindlichkeitsbegriff anzuheben hat, die er im § 2 der 4. Betrachtung der „Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral", einer Preisschrift für das Jahr 1763, liefert. Nach dem Beweis der Unzulänglichkeit des genannten Begriffs bietet Kant zwei materiale Grundsätze als Lösungsversuche an, nämlich nach Hutcheson, den er erwähnt (A 2, 300, 23), das moralische Gefühl und den Satz: „Tue das, was dem Willen Gottes gemäß ist" (A 2, 300, 17). Daß Kant sich seiner Lösungsversuche keineswegs sicher ist, auch nicht deren Verhältnis untereinander, geht aus der abschließenden Feststellung hervor, daß „noch allererst ausgemacht werden muß, ob lediglich das Erkenntnisvermögen oder das Gefühl (der erste, innere Grund des Begehrungsvermögens) die ersten Grundsätze dazu" (der praktischen Weltweisheit) „entscheide" (A 2, 300, 31-33). Kants Kritik setzt an der Mittel-Zweck-Relation im Verbindlichkeitsbegriff an. Seltsamerweise aber behandelt Christian Wolff dieses Verhältnis erst in den §§ 630— 632 innerhalb des 6. Kapitels ,,De imputatione morali, dolo et culpa" des 1. Teils der „Philosophia practica universalis" von 1738, d. h. weder als Kernpunkt noch in unmittelbarem Bezug zur Verbindlichkeit1. Trotzdem ist eine solche Zuspitzung der Interpretation des Wölfischen Verbindlichkeitsbegriffs nicht einmalig. Der Wolffianer Jean Jacques Burlamaqui nämlich macht in seinen „Principes du droit naturel" 2 die Notwendigkeit in der Mittel-Zweck-Relation zur wesentlichen Eigenschaft einer Verbindlichkeit. Im Zusammenhang behandelt Burlamaqui den Verbindlichkeitsbegriff und dessen Prinzipien, ebenso dessen Verhältnis zu Mitteln und Zwecken in einer geschlossenen Abhandlung innerhalb seines Naturrechts unter dem Titel „Essai sur cette question: Y-a-t-il quelque moralité dans les actions, quelque obligation et quelque devoir
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Christian W o l f f , Philosophia practica universalis, Frankfurt und Leipzig 1738, Repr. Nachdr. Hildesheim - New Y o r k 1971 Jean Jacques Burlamaqui, Principes du droit naturel, 1. A u f l . Genf 1747. Burlamaqui behandelt das Naturrecht wie W o l f f als praktische Universalwissenschaft, a . a . O . , 1, 1, 1. — Z u r Verbreitung s. Thomann, Marcel, in Christian W o l f f , lus Naturae, 1740—1748, Repr. Nachdr. Hildesheim - New Y o r k 1 9 6 8 - 1 9 7 2 , 1. Bd. S. X X X V I I f .
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Die Vernichtung des Wölfischen Verbindlichkeitsbegriffs
a n t é c é d e m m e n t a u x l o i s n a t u r e l l e s et i n d é p e n d e m m e n t d e l'idée d u l é g i s l a t e u r ? " , 3 in der
er
folgendermaßen
Handlung
zur
Prinzipien,
Regel.
das
argumentiert: Für
moralische
das
Die
menschliche
Gefühl,
für das
Moralität Handeln
bestehe gebe
er sich auf
im es
Verhältnis
drei
Hutcheson
der
untrennbare beruft4,
die
V e r n u n f t u n d d e n sanktionierenden Willen G o t t e s , der allerdings im G e g e n s a t z z u P u f e n d o r f allein o h n e d i e Z u s t i m m u n g d e r m e n s c h l i c h e n V e r n u n f t k e i n e R e c h t s k r a f t besitze5.
D i e V e r b i n d l i c h k e i t sieht B u r l a m a q u i i m W e s e n d e r v e r n ü n f t i g e n
Regel
selbst: „ L a notion générale de règle nous présente l'idée d'un moyen sûr et abrégé pour arriver à un certain but. Toute règle suppose donc un dessein, ou la volonté de parvenir à une certaine fin que l'on se propose, comme l'effet que l'on veut produire, ou l'objet que l'on a en vue de se procurer. Et il est bien manifeste qu'une personne qui agirait simplement pour agir, sans aucun dessein particulier, sans aucune fin déterminée, ne devrait pas se mettre en peine de diriger ses actions d'une manière plutôt que d'une autre, il se passerait de conseil et de règle. Cela posé, je dis que tout homme qui se propose une certaine fin, et qui connaît le moyen o u la règle qui seule peut le conduire à cette fin et lui faire obtenir ce qu'il cherche, un tel h o m m e se trouve par cela même dans la nécessité de suivre cette règle et d'y conformer ses actions. Autrement il serait en contradiction avec lui-même, il voudrait une chose, et il ne la voudrait pas, il désirerait une fin, et il négligerait les moyens, qui, de son propre aveu, peuvent seuls l'y conduire. D ' o ù je conclus, que toute règle, reconnue pour telle, c'est-àdire, pour moyen sûr et unique de parvenir au but qu'on se propose, emporte avec soi une sorte d'obligation de s'y conformer. Car dès qu'il y a une nécessité de raison à préférer une certaine manière d'agir à toute autre, tout homme raisonnable et qui veut agir comme tel, se trouve par cela-même engagé et comme lié à cette manière d'agir, la raison ne lui permettant pas d'agir d'une manière contraire. C'est-a-dire, en autres termes, qu'il est véritablement obligé, puisque l'obligation, dans son idée primitive, n'est qu'une restriction de la liberté, produite par la raison, entant que les conseils que la raison nous donne, sont des motifs qui nous déterminent à une certaine façon d'agir préférablement à toute autre. Il est donc vrai que toute règle est obligatoire." 6 K a n t b e s a ß d i e s e s B u c h d e s m e i s t g e l e s e n e n N a t u r r e c h t s l e h r e r s seiner Z e i t in d e r e r s t e n A u f l a g e v o n 1 7 4 7 7 , vielleicht a u f d i e A n r e g u n g J e a n J a c q u e s R o u s s e a u s h i n , d e r B u r l a m a q u i i m V o r w o r t z u m 2 . D i s c o u r s „ D e l'inégalité p a r m i les h o m m e s " einem
Zitat
zur
Abhängigkeit
des
Naturrechts
von
der
Natur
des
mit
Menschen
e m p f i e h l t 8 , w a s a l l e r d i n g s nicht heißt, d a ß K a n t i m W e r k B u r l a m a q u i s d a s f i n d e n k o n n t e , w a s R o u s s e a u s Zitat versprach. 3
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a . a . O . , 2, 7. Diese Fragestellung ist herausgefordert von Pufendorfs Kritik an Grotius: H u g o Grotius, D e iure belli et pacis, H r s g . D e Kanter-Van Hettinga Tromp, Leiden 1939, Prol. 11: „ E t haec quidem quae iam diximus locum aliquem haberent, etiam si daremus, q u o d sine s u m m o scelere dari nequit, non esse deum, aut non curari ab eo negotia humana." Samuel Pufendorf, D e iure naturae et gentium, Amsterdam 1704, 2, 3, 19: „ E t s i quod mox ostendemus, ut ista rationis dictamina obtineant vim legum, necessum sit praesupponere, deum esse, et per ipsius providentiam tum omnia, tum imprimis genus humanum gubern a r i . " E b e n s o : D e officiis hominis et civis 1, 3, 13. a . a . O . , 2, 3, 1 - 5
a.a.O., 1, 6, 12; 1, 9, 11
. .o„ 2, 7, 6
6 a a
Arthur Warda, Immanuel Kants Bücher, Berlin 1922, 8, 1 Jean Jacques Rousseau, Oeuvres complètes, Hrsg. Bernard Ganebin/Marcel Raymond, Paris 1 9 5 9 - 1 9 6 9 , 1, S. 124. Burlamaqui, a . a . O . , 1, 1, 2
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1762—1765: Das analogem rationis als Quelle der Verbindlichkeit
O b nun Kant Burlamaquis Mittel-Zweck-Interpretation für seine Argumentation zum Verbindlichkeitsbegriff benutzte oder nicht, sei dahingestellt; jedenfalls setzt seine Kritik an einem solchen Verständnis der Regel als Form des Mittel-Zweckverhältnisses an, indem er nämlich diese Verbindung trennt und Zweck und Mittel in der Handlung getrennt betrachtet, einerseits die Verbindlichkeit, bestimmte zufällige Mittel zu gebrauchen, als problematische Notwendigkeit und andrerseits diejenige, die unmittelbar einem Zweck untergeordnet ist, als Notwendigkeit, die einem Gesetz entspringt (necessitas problematica — legalis) (A 2, 298, 15—16). Nun sagt Kant wie Burlamaqui, daß dieses Mittel-Zweck-Verhältnis in der Handlung nicht aufgehoben werden kann; denn selbst wenn ich unter dem obersten Gesetz des Willens Gottes handle, bleibt meine Handlung als Mittel zu einem Zweck wahlweise veränderlich (A 2, 299, 2—7). D. h. in der Ableitung der Verbindlichkeit aus dem Verhältnis der Notwendigkeit der Mittel zu den Zwecken ist nach Kant gar keine Notwendigkeit einer Handlung aufzufinden, damit auch keine Verbindlichkeit. Diese Kritik Kants deckt zwar einen wunden Punkt im Verbindlichkeitsbegriff Wolffs auf, ist aber angesichts der gesamten Wölfischen praktischen Philosophie recht unbefriedigend, da sie deren eigentlichen Zweck außer acht läßt, nämlich die objektive Verbesserung der von Gott zweckmäßig eingerichteten Welt zur Vollkommenheit hin. Warum muß nach Kant „eine solche unmittelbare oberste Regel aller Verbindlichkeit schlechterdings unerweislich sein" (A 2, 299, 1—2), wenn die N a t u r als objektiver Gegenstand der Verbesserung im Sinne Wolffs noch gegeben ist, d. h. wenn die verbessernde Handlung in der Natur Zweck an sich ist? Kant gesteht selbst ein, daß der Rahmen der Preisschrift „diejenige Vollständigkeit", die er sich wünscht (A 2, 300, 12—13), nicht zuläßt. Gerade deshalb muß die Kritik Kants auf ihre Vollständigkeit hin hinterfragt werden, und zwar mit Hilfe seiner damaligen Erörterungen zum Verständnis der Naturordnung in „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes". Dazu geben zwei äußere Gründe das Recht: Einmal folgt die Kritik der Verbindlichkeit unmittelbar auf den Paragraphen, der das wesentliche Ergebnis des .Beweisgrundes' zusammenfaßt, zum anderen arbeitete Kant die Preisschrift bis in den Dezember 1762 hinein im unmittelbaren Anschluß an die genannte Schrift zum Dasein Gottes aus, wenn sich die Ausarbeitungen zum Teil nicht sogar überschnitten. 9 Tatsächlich erörtert Kant im zweiten Teil des ,Beweisgrundes' innerhalb der 4. Betrachtung „Gebrauch unseres Beweisgrundes in Beurteilung der Vollkommenheit einer Welt nach dem Laufe der Natur" das Mittel-Zweck-Verhältnis in der Naturordnung. Dort heißt es: „Einige stehen in der Meinung, daß das Formale der natürlichen Verknüpfung der Folgen mit ihren Gründen an sich selbst eine Vollkommenheit wäre, welcher allenfalls ein besserer Erfolg, wenn er nicht anders als übernatürlicherweise zu erhalten stände, hintangesetzt werden müßte. Sie setzen in dem Natürlichen als einem solchen unmittelbar einen Vorzug, weil ihnen alles Übernatürliche als eine Unterbrechung einer Ordnung an sich selber scheint einen Übelstand zu erregen. Allein diese Schwierigkeit ist nur eingebildet. Das Gute steckt nur in der Er9
Zur Entstehungsgeschichte A 2, 494
Die Vernichtung des Wölfischen Verbindlichkeitsbegriffs
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reichung des Zweckes und wird den Mitteln nur um seinetwillen zugeeignet. Die natürliche O r d n u n g , wenn nach ihr nicht vollkommene Folgen entspringen, hat unmittelbar keinen G r u n d eines Vorzugs in sich, weil sie nur nach der Art eines Mittels kann betrachtet werden, welches keine eigene, sondern nur eine von der Größe des dadurch erreichten Zwecks entlehnte Schätzung verstattet. . . . Demnach ist etwas nicht darum gut, weil es nach dem Lauf der Natur geschieht, sondern der Lauf der Natur ist gut, insofern das, was daraus fließt, gut ist." (A 2, 108, 2 3 - 1 0 9 , 3, 11-13)
Diese Kritik an einem nur kausalen Verständnis der Naturordnung beruht unmittelbar auf der Erkenntnis, daß Dasein kein Prädikat ist und daher aus Gott nicht als daseiendem kausalen Urheber auf die Schöpfung zurückgeschlossen werden kann, sondern nur aus den Eigenschaften der Schöpfung auf die des Grundes der Möglichkeit des Daseins. Nun besteht aber gerade der Wölfische Verbindlichkeitsbegriff darin, daß sich das vernünftige Wesen der angenommenen Kausalität der Natur anpaßt, in dem Sinne, daß das Wesen und die Natur der Dinge uns verpflichten wie ein König. 10 Das sieht praktisch so aus, wie das Beispiel im Scholion zum 1. Paragraphen des Naturrechts zeigt, daß der Mensch verpflichtet ist zu essen und zu trinken, nicht weil damit ein an sich guter Zweck verbunden ist, sondern weil es die Kausalität der Natur so will. 11 Wenn Kant nun behauptet, daß das Naturgeschehen an sich nicht gut ist, dann können die der Kausalität der Natur entnommenen Motive kein Grund moralischer oder rechtlicher Verbindlichkeit sein. Die allgemeine Zweckmäßigkeit der Natur, die Kant auf die Einheit des Grundes der Natur schließen läßt, gibt ebensowenig Motive für die individuelle sittliche Handlung ab. Auch die „freiesten Handlungen", die durchaus „von der allgemeinen Abzielung der Naturdinge zur Vollkommenheit" abweichen können (A 2, 110, 28— 111, 1) hängen zwar „von einer großen natürlichen Regel" ab (A 2, 111, 18—19), aber diese Abhängigkeit ist nur statistisch zu erfassen, wie das Verhältnis Lediger zu Verheirateten und die Sterbetafeln Kants Feststellung nach zeigen.12 Es liegt auf der Hand, daß eine statistische Zweckmäßigkeit keine individuelle Handlung notwendig, d. i. verbindlich machen kann. Vor diesem Hintergrund, daß Kausalität der Natur keine Verbindlichkeit begründen kann, löst sich der Widerspruch, den Kants Argumentation in der Preisschrift zu enthalten scheint, daß er nämlich Verbindlichkeit einerseits für unmöglich hält, andrerseits deren Grundsätze angibt. Kant tut demnach nichts anderes, als daß er mit Hilfe des Ergebnisses des .Beweisgrundes' Wolffs naturkausalen Verbindlichkeitsbegriff in der Form von Burlamaquis Argumentation zerstört. Diese Interpretation der Übertragung des Ergebnisses des .Beweisgrundes' auf das Naturrecht im
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Christian Wolff, Phil, pract. univ., 127 Schol: „Videmus adeo in sensu propriissimo dici, quod essentia atque natura hominis rerumque eundem obliget ad actiones intrinsece bonas committendas, intrinsece vero malas omittendas, eodem scilicet, quo rex obligare dicitur subditum, pater filium, dominus servum." I. N . , 1, 1: „E. gr. homo obligatur ad capiendum cibum ac potum corporis conservandi gratia." A 2, 111, 1 9 - 2 8
1762—1765: Das analogem rationis als Quelle der Verbindlichkeit
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Punkt der Verbindlichkeit wird bestätigt durch die etwas später liegenden Aufzeichnungen Herders aus Kants Ethikvorlesung: „Aber alles, was er (Baumgarten) sagt, kann große praktische, aber nicht sittliche Vollkommenheit machen. Diese unterläßt er zu bestimmen, nach dem Geschmack der Philosophie Wolffs, die stets die Vollkommenheit auf den Respekt zwischen Ursache und Folge bauete und also bloß als Mittel zu Zwecken in Lust und Unlust." (A 27, 1, 16, 2 6 - 3 0 ) 1 3
Nun zieht sich Kant, wie gesagt, nach der Zerstörung des Kernbegriffs der Verbindlichkeit Crusius folgend auf zwei erste materiale Gründe zurück. Allein nach Kants eigenen Worten haben solche unerweislichen Erkenntnisse keinen Beweisgrund, „daß sie wahr sind", sondern „das Gefühl der Überzeugung in Ansehung derselben ist ein Geständnis" (A 2, 295, 33—35). Den gleichen Charakter zeigen ebenfalls Kants Bemerkungen zu seinem obersten formalen Prinzip des Vollkommensten, daß er nämlich nach langem Nachdenken davon „überzeugt" worden sei (A 2, 299, 8-9). Diese skeptische Grundhaltung nimmt Kant damit sowohl in der praktischen als auch in der theoretischen Philosophie ein, wie sich am Schluß des ,Beweisgrundes' zeigt, daß man sich eher vom Dasein Gottes „überzeuge", als es „demonstriere" (A 2, 163, 5 - 6 ) . 1 4 Aus dieser offenen Beweisart ist einerseits zu verstehen, woher Kant am Schluß seiner Überlegungen zur Moral den Mut nimmt zu fordern, daß „die obersten Grundbegriffe der Verbindlichkeit allererst sicherer bestimmt werden müssen" (A 2, 300, 28—29), ein Programm, das nach dem Beweis der Unmöglichkeit der Verbindlichkeit nach Mittel und Zweck eigentlich aussichtslos erscheint. Andererseits kann Kant seine Hoffnung daraus schöpfen, daß er im Grunde nur eine Bedingung für den noch zu begründenden Verbindlichkeitsbegriff aufgestellt hat, nämlich die, daß dieser nicht an der Naturordnung orientiert sein darf. Gerade dieser Bedingung entsprechen schon die genannten drei Lösungsversuche, am deutlichsten der oberste formale Grundsatz des Vollkommensten, der durch den Superlativ das komparative, verbessernde naturkausale Element der Wölfischen Philosophie zu vermeiden versucht, wie aus dem Vergleich mit der Verbindlichkeitsformel Baumgartens hervorgeht: „Obligatio potest definiri per connexionem causarum impulsivarum potiorum cum libera determinatione", 15
oder z. B. aus Burlamaquis „préférablement". 1 6 13 14
15
16
Zur Datierung s. u. S. 9, ebenso A 27, 1, 14, 1 4 - 1 8 ; A 27, 1, 29, 8 - 1 0 Dieses skeptische Element in der Beweisart legt nahe zu schließen, daß Kant damals Burlamaquis Buch im ganzen sympathisch gewesen ist. Dieser behandelt nämlich in seinem letzten Kapitel die Art seines Beweises der Unsterblichkeit der Seele, in dem sein Werk gipfelt. Er hält dort im Gegensatz zu einer strengen Beweisführung in den meisten Fällen nur eine angemessene Argumentation — „raisons de convenance" ( a . a . O . , 2, 14, 3) — für möglich, die auf nichts als eine vernünftige Uberzeugung hinausläuft. Alexander Gottlieb Baumgarten, Initia philosophiae practicae primae, Halle 1760, 15 (A 19, 13) a. a. O . , 1, 6, 9, vgl. Zitate O.S. 5 und u. S. 13 33
Die rationale Gerechtigkeit nach David H u m e
9
Mit dieser Bedingung des Verbindlichkeitsbegriffs ist trotz der Aporie Kants die gesamte Konzeption des Wölfischen Naturrechts gefallen: „Per ius naturae hic intellegiumus scientiam iuris naturalis hominum et obligationum eidem respondentium. " 1 7
2.2. Die rationale Gerechtigkeit
nach David
Hume
Die im Jahr 1763 ausgearbeitete Schrift „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" 1 8 zeigt f ü r die praktische Philosophie nicht mehr das Begriffspaar moralisches Gefühl — Wille Gottes wie in der zuletzt untersuchten Schrift, sondern stellt Mitleiden und Tugend aus Grundsätzen gegeneinander, und zwar kritisiert Kant das jederzeit blinde' Mitleiden (A 2, 216, 1), dem die „strenge Pflicht der Gerechtigkeit" (A 2, 216, 3—4) gegenübersteht, mit Hilfe .höherer Grundsätze' (A 2, 216, 27): „Mitleiden und Gefälligkeit sind Gründe von schönen Handlungen, die vielleicht durch das Ubergewicht eines gröberen Eigennutzes insgesamt würden erstickt werden. . . . Ich kann sie daher adoptierte Tugenden nennen, diejenigen aber, die auf Grundsätzen beruht, die echte Tugend." (A 2, 17, 3 2 - 2 1 8 , 1) Demnach kann wahre Tugend nur auf Grundsätze gepfropft werden, welche, je allgemeiner sie sind, desto erhabener und edler wird sie." (A 2, 217, 11 — 12)
Allerdings sind alle Arten der Tugend im moralischen Gefühl begründet: „Diese Grundsätze sind nicht spekulativische Regeln, sondern das Bewußtsein eines Gefühls, das in jedem menschlichen Busen lebt und sich viel weiter als auf die besonderen Gründe des Mitleidens und der Gefälligkeit erstreckt." (A 2, 217, 11 — 15)
Diese Entgegensetzung von ,chimärischem' (A 20, 135, 3), ,blindem' Mitleid (A 20, 97, 7) und Gerechtigkeit, die als .natürliche Schuldigkeit' im Gegensatz zur Liebespflicht „ein bestimmt M a ß " hat (A 20, 157, 8—9) und „ w a h r e Tugend" (A 27, 1, 65, 26) und die „wahre Liebe" (A 27, 1, 65, 26) ist, bei grundsätzlicher Beibehaltung des moralischen Gefühls zieht sich durch die umfangreichen Quellen hin, die uns bis zum Jahr 1765 f ü r die praktische Philosophie vorliegen, die erwähnten Nachschriften Herders der Vorlesungen Kants 1 9 und die Bemerkungen, die Kant in sein Handexemplar der .Beobachtungen' in loser Form als „philosophisches Tagebuch" (Klaus Reich) eingetragen hat. 2 0 Diese Entgegensetzung, die eine Priorität der Gerechtigkeit und damit des Rechts einschließt, liegt offen zutage und wurde auch mit Recht von Ritter festgestellt. 21 Zu fragen aber ist wiederum, o b nicht der Anlaß zu dieser Entgegensetzung zu entdecken ist. 17 18 19
20 21
I . N . , 1, 1 Zur Entstehung s. A 2, 482 D i e Nachschriften müssen zwischen August 1762 und November 1764 angefertigt sein, den Daten des Aufenthalts Herders in Königsberg. Bisher lag nur die Ausgabe von H . D . Irmscher, Kantstudien Erg.-H. 88, Köln 1964 vor, die nach Erscheinen von A 27, 1 wegen ihrer vielen Fehler nicht mehr zu benutzen ist. D i e .Bemerkungen' sind in die Jahre 1764/65 zu datieren. Lehmann, A 20, 472 a . a . O . , S. 90ff.
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1762—1765: Das analogon rationis als Quelle der Verbindlichkeit
Nun zeigen die Herdernachschriften allerdings auch, daß diese Einschränkung des individuell bezogenen, nur altruistischen Mitleidens eine Kritik an Hutcheson darstellt: „Ebenso treiben Moralisten, ζ. B. Hutcheson, die Handlungen aus Uneigennützigkeit zu weit, da er bloß von Liebe und Wohlwollen gegen andere redet, da doch Taten unmittelbar auf uns, ohne auf den Nutzen als Mittel gerichtet zu sein, sondern aus unmittelbarer Güte moralisch gut sein können: unsere menschliche Würde und Größe soll Triebfeder sein, nicht der sensitive Stachel der Gewogenheit, der sympathetischen Teilnehmung: dieses macht schöne Moralität, jenes aber wahre ernsthafte Moral - Schuldigkeit, nicht Gnade." (A 27, 1, 15, 1 8 25) Eben diese Kritik aber fand Kant bei David Hume. Wie Borowski berichtet, schätzte Kant sowohl Hutcheson als auch Hume ganz besonders und empfahl beide „zum sorgfältigsten Studium". 22 In der „Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbjahre von 1765—1766" erklärt Kant, daß Shaftesbury, Hutcheson und Hume „obzwar unvollendet und mangelhaft, gleichwohl noch am weitesten in der Aufsuchung der ersten Gründe aller Sittlichkeit gelangt sind" (A 2, 3 1 1 , 26—28). Hutcheson seinerseits ordnet die Gerechtigkeit völlig dem moralischen Gefühl ein. Nachdem er gezeigt hat, daß erst das moralische Gefühl das Kriterium für gute menschliche und göttliche Gesetze ist 23 , werden auch die Rechte aus diesem Sinn abgeleitet: „From this sense too we derive our ideas of rights. Whenever it appears to us, that a faculty of doing, demanding or possessing a thing, universally allowed in certain circumstances, would in the whole tend to a general good, we say that any person in such circumstances has a right to do, to posses or demand that thing." 24 Hume dagegen weist der Gerechtigkeit als Begriff des Verhältnisses der Handlungen zu Rechten einen besonderen Platz innerhalb der Moral zu. Unser Bewußtsein von Gerechtigkeit beruht danach auf einer Reflexion auf den allgemeinen Nutzen und nicht auf einem besonderen Instinkt, da die einzelnen Rechtsverhältnisse, z. B. der Begriff der Erbschaft, zu komplex sind, um auf einen solchen Instinkt zurückgeführt zu werden. 2 5 Damit ist die Gerechtigkeit eine Eigenschaft des Menschen, die wesentlich auf Vernunft beruht. Die Gefühle des Wohlwollens gehen auf ein einzelnes Objekt, die Tugenden der Gerechtigkeit und Treue aber auf das allgemeine Wohlergehen der 22
23 24 25
Ludwig Ernst Borowski, Darstellung des Lebens und Charakters I. K.s, in: Immanuel Kant, Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen, Darmstadt 1968, S. 78f.; Borowski bezieht Hume im Gegensatz zu Hutcheson nicht auf die Moral; Borowski verließ allerdings Königsberg im Jahr 1762, gerade zu dem Zeitpunkt, von dem an wir den Einfluß Humes für die Moral erschließen. S. VII Francis Hutcheson, An Inquiry into the Original Ideas of Beauty and Virtue, London 1725/6, Repr. Nachdr. Hildesheim 1971, 2, 7, 3 a . a . O . , 2, 7, 4 David Hume, An Inquiry concerning the Principles of Moral, Hrsg. Green and Grose, Bd. 4, London 1889, S. 194f. „I need not mention the variations, which all the rules of property receive from the finer turns and connexions of the imagination and from the subtilities and abstractions of lawtopics and reasonings. There is no possibility of reconciling this observation to the notion of original instincts." S. 195
Die Konstituierung der Verbindlichkeit aus einem formalen Rechtsbegriff
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Menschheit, wie Hume im Anhang zu „An Inquiry concerning the Principles of Morals" zusätzlich hervorhebt: „In all these cases, the social passions have in view a single individual object and pursue the safety or happiness alone of the person loved and esteemed. . . . The case is not the same with the social virtues of justice and fidelity. They are highly usefull, or indeed absolutely necessary to the well-being of mankind." 2 6
Mit diesem Nutzen für die Menschheit genießt die Tugend der Gerechtigkeit, nach Humes Beispielen aus der Rechtspraxis die Wahrung der Rechtsgeltung, die höchste Achtung unter den Tugenden: „The necessity of justice to the support of society is the sole foundation of that virtue; and since no moral excellence is more highly esteemed, we may conclude, that this circumstance of usefulness has, in general, the strongest energy and most entire command over our sentiments." 2 7
Indem sich Kant den Standpunkt Humes seit den Beobachtungen' zueigen macht, zieht er die Folgerungen aus der Kritik und den Lösungsversuchen der Preisschrift. Dort hatte er gerade den rationalen Teil aus der gängigen Zusammenstellung der Grundsätze, wie Burlamaqui sie bringt, herausgebrochen, das moralische Gefühl und die damit verbundene Autorität Gottes aber übriggelassen. 28 Nun gelingt es ihm mit Hilfe Humes, aus dem materialen Grundsatz des moralischen Gefühls selbst einen rationalen Teil herauszubilden, und zwar eine reflektierte Gerechtigkeit, die die unmittelbare Anwendung des moralischen Gefühls an Gewicht übertrifft. Allerdings löst Humes rationale Gerechtigkeit nicht das Problem der Verbindlichkeit selbst, es sei denn in dem Sinne, daß wir ein unmittelbares Gefallen an der Reflexion auf den allgemeinen Nutzen finden und damit dazu verbunden sind. Ein solcher Verbindlichkeitsbegriff aber weist nicht über den Hutchesons hinaus, 29 so daß die Frage bestehen bleibt, ob sich Kant angesichts einer rationalen Gerechtigkeit mit einer nur empirischen Verbindlichkeit dazu zufrieden gibt.
2.3. Die Konstituierung der Verbindlichkeit aus einem formalen
Rechtsbegriff
2.3.1. D i e Ü b e r n a h m e des V e r b i n d l i c h k e i t s b e g r i f f s von H o b b e s Die genannten ,Bemerkungen' zu den ,Beobachtungen', die Kant unter dem starken Eindruck, den Rousseaus „Emile" auf ihn gemacht hatte, niederschrieb, zeigen eine Lösung der Verbindlichkeitsproblematik, die Kant, von den wechselnden Bezügen abgesehen, beibehalten wird. Diese Lösung schlägt sich wiederum in den Nachschriften Herders nieder. 26 27 28 29
a . a . O . , S. 272{. a . a . O . , S. 196 A 2, 300, 1 3 - 1 9 , s. O.S. 4 Hutcheson versucht nachzuweisen, daß es einen unmittelbaren Sinn der Verbindlichkeit unabhängig von jedem Gesetz gibt. a . a . O . , 2, 7, 1
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1762 — 1765: D a s analogon rationis als Q u e l l e der Verbindlichkeit
Kant geht von der erörterten Kritik an der Mittel-Zweck-Relation in Wolffs Verbindlichkeiten aus: „Actionis necessitas conditionalis ut medii ad finem possibilem est problematica, ad finem actualem est necessitas categorica prudentiae, necessitas categorica est moralis." (A 20, 162, 1-3)
N u n beruht die Verbindlichkeit nach der Argumentation Burlamaquis darauf, daß der Handelnde absolut gezwungen ist, ein bestimmtes Mittel zu einem Zweck zu wählen: „Autrement il serait en contradiction avec lui-même; il voudrait une chose, et il ne la voudrait p a s . " 3 0 Kant nennt diese Form der Verbindlichkeit „necessitas categorica prudentiae". Daß er sich ernsthaft mit dieser kategorischen Verbindlichkeit, bestimmte Mittel zu gebrauchen, auseinandersetzt, zeigt eine andere Stelle der ,Bemerkungen': „Necessitas actionum objectiva (bonitatis) vel est conditionalis (sub conditione alicujus boni appetiti) vel categorica; prior est problematica, et si appetitiones, quae spectantur tanquam conditiones necessariae actionis non solum ut possibiles, sed ut actuales spectantur, est necessitas prudentiae. A d earn cognoscendam necesse erit omnes dignoscere animi humani appetitiones et instinctus, ut fieri possit computatio, quod sit pro inclinatione subjecti melius, et hoc quidem non solum pro praesenti, sed et futuro statu. Necessitas categorica actionis tanti non constat, sed ponit solum applicationem facti ad sensum moralem." (A 20, 155, 18— 27)
Diese Kritik sagt auf Burlamaqui bezogen nichts anderes, als daß der Anwendungsbereich der kategorischen Notwendigkeit falsch gewählt ist, wenn man diese in der Mittel-Zweck-Relation der klugen Verbesserung aufsucht, da schon deren objektiv unbestimmbarer, wechselnder Gegenstand sich einer absoluten Notwendigkeit entzieht. Zwar schließt Kant auf die Forderung eines unveränderlichen moralischen Gefühls, doch liegt der Schritt nahe, daß in einem rationalen Bereich der praktischen Philosophie, der über die Gerechtigkeit konstituiert ist, nicht der Widerspruch in der Mittel-Zweck-Relation, sondern nach deren Wegschiebung dieser selbst allein übrigbleibt: „Welcher Wille gut sein soll, muß, wenn er allgemein und gegenseitig genommen wird, sich nicht selbst aufheben." (A 20, 67, 5 - 6 )
Daß handelnde Subjekte tatsächlich unter der Widerspruchlosigkeit mit sich selbst sinnvollerweise betrachtet werden können, ist eine Erkenntnis des Thomas Hobbes: „ S o that injury, or injustice, in the controversies of the world, is somewhat like to that, which in the disputations of the scholars is called absurdity. For as it is there called an absurdity, to contradict what one maintained in the beginning: so in the world, it is called injustice, and injury, voluntarily to undo that, which from the beginning he had voluntarily done. The w a y , by which a man either simply renounces, or tranfers his right, is a declaration, or signification, by some and sufficient sign, or signs, that he does so renounce, or transfer; or has s o renounced, or transferred the same, to him, that accepts it. And these signs are either w o r d s only, or actions only; or, as it happens most often, both words, and actions. A n d the same are the bonds, by which men are bound, and obliged: bonds, that have their 30
a . a . O . , 2, 7, 6; Zusammenhang s. O.S. 5
Die Konstituierung der Verbindlichkeit aus einem formalen Rechtsbegriff
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strengths, not from their own nature, for nothing is more easily broken than man's world, but from fear of some evil consequence upon the rupture." 3 1 Oder: „ Q u i ergo paciscitur cum eo, quicum fidem servare se teneri non putat, simul pactionem esse rem frustraneum et non frustraneum affirmat, quod est absurdum." 3 2 H o b b e s bildet eine A n a l o g i e zwischen Subjekten in intellektueller und rechtlicher A u s e i n a n d e r s e t z u n g : in beiden Fällen w i r d erwartet, daß die miteinander k o m m u n i zierenden Subjekte sich selbst — im Rechtsfall in ihren Äußerungen als Handlungen — nicht widersprechen. Diese Betrachtung des Rechtssubjekts verbindet Hobbes mit d e r F o r m e l der Verbindlichkeit des Römischen Rechts: „Obligatio est iuris vinculum quo necessitate adstringimur alicuius solvendae rei secundum nostrae civitatis i u r a . " 3 3 D e r Vertragschließende ist gefesselt, gebunden durch sein W o r t , das zu brechen als W i d e r s p r u c h mit sich selbst aufgefaßt w e r d e n kann. Hinter dem Gedanken, daß die K r a f t dieser Verbindlichkeit
nicht
in der geforderten Widerspruchlosigkeit
der
H a n d e l n d e n selbst, sondern in der Furcht v o r entstehenden Nachteilen liegt, steckt ein anderer, daß der Rechtspartner nämlich den Vertragsbrecher mit Strafen an sein gegebenes W o r t erinnert oder ihn als Vertragspartner künftig zu dessen Nachteil m e i d e t ; d. h. zumindest der Vertragspartner erwartet v o n seinem Gegenüber W i d e r spruchlosigkeit in den Vertragshandlungen. D a m i t gibt H o b b e s der Vertragstheorie bei Ulpian, der mit Pedius als W e s e n aller V e r t r ä g e den K o n s e n s der Vertragschließenden a n n i m m t , 3 4 die besondere W e n d u n g , daß er die Übereinstimmung in Bezug auf die Vertragsverhandlungen nicht n u r
31
32
33
34
Thomas Hobbes, The English Works, Hrsg. Molesworth, London 1839, Bd. 3, Leviathan, 1, 14, S. 119 Thomas Hobbes, Opera Philosophiea quae latine scripsit, Hrsg. Molesworth, London 1839, Bd. 2, de cive, 3, 2 Inst. 3, 13. Diese Formel wird je nach Rechtssystem immer wieder interpretiert, so z . B . Burlamaqui: „ Q u a n d on se trouve dans ces circonstances, l'on dit que l'on est dans l'obligation de faire une chose ou de s'en abstenir. C'est-à-dire, que l'on y est déterminé par de solides raisons et engagé par de puissants motifs, qui comme autant de liens, entraînent notre volonté de ce côté-là." a . a . O . , 1, 4, 9 — Johann Georg Darjes: „ O b ligatio est vinculum iuris, quo necessitate quadam adstringimur ad hoc vel illud faciend u m . " Discours über sein Natur- und Völkerrecht, Jena 1762/3, S. 150. Berücksichtigt das Römische Recht das gegebene positive Recht, so formulieren die Wolffianer das Entscheidungsmoment ein und nehmen ihr so den strengen Rechtscharakter. Dig. 2, 14, 1: „Pactum autem a pactione dicitur (inde etiam pacis nomen appellatum est) et est pactum duorum pluriumve in idem placitum et consensus. Conventionis verbum generale est ad omnia pertinens, de quibus negotii contrahendi transigendique causa consentiunt qui inter se agunt: nam sicuti convenire dicunter qui ex diversis locis in unum locum colliguntur et veniunt, ita et qui ex diversis animi motibus in unum consentiunt, id est in unam sententiam decurrunt. Adeo autem conventionis nomen generale est, ut eleganter dicat Pedius nullum esse contractum, nullam obligationem, quae non habeat in se conventionem, sive re sive verbis fiat: nam et stipulatio quae verbis fit, nisi habeat consensum, nulla est."
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1762—1765: D a s analogon rationis als Q u e l l e der Verbindlichkeit
zwischen den Vertragspartnern fordert, sondern diese Einstimmigkeit als Widerspruchslosigkeit in das vertragschließende Subjekt selbst hineinlegt. Die Möglichkeiten, die in der Betrachtungsweise des Handelnden unter dem Satz des Widerspruchs liegen, hat auch Rousseau bemerkt. In den ersten Unterweisungen Emils im Privatrecht will Rousseau seinen Zögling lehren, daß Verträge zu halten sind. Emil hat Fensterscheiben zerschlagen, muß daher einen fensterlosen Raum bewohnen und wird nur mit dem Vertrag daraus entlassen, keine mehr zu zerstören. Rousseau fügt folgende Anmerkung bei, die vom Nutzen der Vertragstreue völlig abstrahiert: „ Q u i ne tient que par son profit à sa promesse n'est guère plus lié que s'il n'eût rien promis; o u tout au plus il en sera du pouvoir de la violer comme de la bisque des joueurs, qui ne tardent à s'en prévaloir que pour attendre le moment de s'en prévaloir avec plus d'avantage. C e principe est de la dernière importance, et qui mérite d'être approfondi; car c'est ici que l'homme commende à se mettre en contradiction avec lui-même." 3 5
Wenn auch Rousseau diesen Gedanken selbst nicht vertieft, ist es doch durchaus möglich, daß er, wenn er Kant nicht auf diese Lösung stieß, diesen doch in der Hobbesischen Begründung der Verbindlichkeit bestätigte. Indem Kant die rationale Notwendigkeit in der praktischen Philosophie aus der Mittel-Zweck-Relation in den Widerspruch mit sich selbst verlegt, verwirft er gleichzeitig den Einwand der Pufendorfianer, die unter Berufung auf Senecas Satz: „Nemo sibi debet; hoc verbum non habet nisi inter duos locum", 3 6 behaupten, daß das Subjekt nicht selbst ohne verbindenden Rechtspartner oder Herrscher verbindlich sein könne. 3 7 Es gibt für Kant seit den ,Bemerkungen' eine absolute Verbindlichkeit des Subjekts vor sich selbst, allerdings in Form eines dem Vertragsrecht entnommenen formalen Rechtsprinzips. Worauf aber soll sich diese Verbindlichkeit beziehen, wenn sie in einem Formalismus besteht?
2 . 3 . 2 . S t a n d o r t e a u ß e r h a l b s e i n e r s e l b s t zu w ä h l e n als n o t w e n d i g e Ë r g â n z u n g des rationalen V e r b i n d l i c h k e i t s b e g r i f f s Das Material der Widerspruchslosigkeit des Handelnden bildet bei Hobbes der Rechtsinhalt, den ich mit meinem Rechtspartner vereinbart habe; d. h. die Widerspruchslosigkeit bezieht sich auf das, was ich von mir und vom anderen weiß. Um die Daten des möglichen Rechtspartners auch einbeziehen zu können, wenn es sich nicht 35
36 37
a . a . O . , 4, S. 334 A n m . Rousseau arbeitet auch an anderer Stelle im „ E m i l e " mit dem Satz vom Widerspruch in praktischer Hinsicht: „ S i Dieu disait à l'homme d'anéantir les passions qu'il lui donne, Dieu voudrait et ne voudrait pas; il se contredirait lui-même." a . a . O . , S. 491 Man vergleiche dazu Kant in den B e m e r k u n g e n ' A 20, 161, 11 — 14, zitiert u. S. 20 D e benef. 5, 8, 3 Dieses Argument wendet Burlamaqui seinen eigenen Prinzipien gegenüber ein, entkräftet es aber damit, daß man verbunden sei, seine Vernunft zu gebrauchen. a . a . O . 2, 7, 9 f .
Die Konstituierung der Verbindlichkeit aus einem formalen Rechtsbegriff
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um Verträge oder ein ähnliches Informationsverhältnis handelt, bedarf es gewisser Vorstellungen von dessen Absichten und Gedanken, die ich antizipiere, indem ich in Gedanken Standorte außerhalb meiner selbst wähle. Eine große Zahl von Stellen zu diesem Bereich bei Kant und seinen Vorläufern nennt Christian Ritter, 38 so daß wir uns darauf beschränken können, einige zusammenfassende Bemerkungen dazu anzuführen. Die Gedankenoperation, sich an die Stelle eines anderen zu versetzen, dient grundsätzlich dazu, das eigene begrenzte Urteil zu erweitern. So muß in den ,Beobachtungen' der Choleriker, der nicht nach Grundsätzen der Tugend handelt, „allerlei Standpunkte zu nehmen wissen, um seinen Anstand aus der verschiedenen Stellung der Zuschauer zu beurteilen" (A 2, 223, 13 —15).39 Innerhalb der Tugenden selbst entgeht man dem blinden Mitleiden nur dadurch, daß ein ,höherer Standpunkt' im „Verhältnis gegen eure gesamte Pflicht" eingenommen wird (A 2, 216, 10—11). Diese Funktion der Standpunkte ist ebensowenig nur psychologisch40 wie die in der K.d.U., in der Kant formuliert: Es zeige an „einen Mann von erweiterter Denkungsart . . ., wenn er sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils, wozwischen so viele wie eingeklammert sind, wegsetzen kann und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil reflektiert." (A 5, 295, 9—14, § 40)
In den ,Bemerkungen' stellt Kant die Anwendungsbereiche der Standorte folgendermaßen zusammen: „ D e stationibus: Physicis Der Mond ist bewohnt Logicis in Ermangelung egoismus Moralibus in Ermangelung solipsismus statio moralis vel per instinctum. Sympathia vel misericordia vel per intellectum." (A 20, 169, 1 - 5 )
Für die Logik hält Kant auch später den Gebrauch der Standpunkte für unentbehrlich, um zu einem richtigen Urteil zu gelangen, wie aus der Logik Philippi kurz nach 1772 hervorgeht: „ D e r Weg, einen anderen zu widerlegen, ist in des andern Gedanken hineinzugehen, seine Gründe noch wohl zu vermehren und dann unser Urteil einstimmig machen mit dem allgemeinen menschlichen Verstand; und dies kann geschehen, indem ich mein Urteil einstimmig mache mit dem besonderen Urteil eines jeden. Dann wird die Erkenntnis allgemeingültig." (A 24, 1, 406, 2 1 - 2 6 ) 4 1
Im Gegensatz dazu ist der Gebrauch der Standpunkte in der Moral doppelt: Sich nur aus Mitgefühl in den andern zu versetzen, ist allein „ein Mittel zur Lebhaftigkeit" (A 27, 1, 3, 35) und führt entweder zu ,blindem Mitleid' (A 20, 97, 7)42 oder in Ver38 39 40 41
42
a . a . O . , S. 81 ff. Vgl. A 2, 227, 2 8 - 3 2 Gegen Ritter, a . a . O . , S. 61 Zur Datierung s. u. S. 10179 Ebenso: A 24, 1, 396, 3 3 - 3 9 - 3 9 7 , 2. Vgl. A 20, 12, 14: „der logische Egoism. Geschicklichkeit, Standpunkte zu nehmen." Vgl. O.S. 9. Diese Kritik richtet sich ebenso gegen die Gefühlsmoral Rousseaus: „ N o u s ne suffrons qu'autant que nous jugeons qu'il souffre; ce n'est pas dans nous, c'est dans lui
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1762 — 1765: Das analogon rationis als Q u e l l e der Verbindlichkeit
bindung mit Gerechtigkeit zu deren emotionaler Verstärkung als ,lebhafter Gerechtigkeit' (A 27, 1, 65, 33). 4 3 Der intellektuelle Gebrauch der fiktiven Standorte in der Moral dagegen ist „heuristisch, um besser auf gewisse Dinge zu kommen" (A 27, 1, 58, 11 — 12). Damit verbindet Kant hier den logischen und moralischen Gebrauch der Standorte eng miteinander: „ D a s Vermögen, uns in die Stelle eines andern zu setzen, ist nicht moralisch, sondern auch logisch, da ich mich in die Stelle eines andern setzen kann, ζ. E. eines Krusianers: — So auch in moralischen Dingen, da ich mich in die Empfindung eines andern setze, um zu fragen, was er selbst hierbei denken w i r d . " (A 27, 1, 58, 6—10)
Dieses rationale Mittel, die Standorte zur Uberprüfung des moralischen Urteils zu vertauschen, führt Thomas Hobbes ein. Er empfiehlt, wenn angesichts der natürlichen Gesetze Zweifel auftauchen: „ U t , cum dubitet id quod facturus in alterum sit, iure facturus sit naturali, nec ne, putet se esse in illius alterius l o c o . " 4 4
Dementsprechend fordert er im Leviathan auf, die Waagschalen im Urteilsprozeß zu vertauschen. Die Goldene Regel zeigt, „that he has no more to do in learning the laws of nature, but, when weighing the actions of other men with his own, they seem too heavy, to put them into the other part of the balance, and his own to their place, that his own passions and self-love may add nothing to the weight."45
Die Verbindung der formalen Verbindlichkeit nach Hobbes mit den ebenfalls von diesem bestätigten Standpunkten sieht bei Kant nun folgendermaßen aus: „ W e n n er im Hunger ist und ich helfe ihm nicht, alsdenn habe ich keine Schuldigkeit übertreten. Wenn ich aber auf den Fall, daß ich selbst hungern sollte, gerne begehrete, von anderen zu bekommen, selbst auf die Kondition, es wiederzugeben, so ist es eine Schuldigkeit, ihn auch zu sättigen." (A 20, 157, 1 4 - 1 5 8 , 1)
Im zweiten Fall geht die der Handlung vorausgehende Reflexion von der vorgestellten oder erfahrenen Ubereinstimmung der Gedanken der Handlungspartner aus. Die Vorstellung meiner eigenen Gedanken im andern macht, daß ich einen Widerspruch zwischen meinen eigenen Gedanken und meinen eigenen im andern vorgestellten Gedanken zuließe, wenn ich beide nicht in Ubereinstimmung brächte. Im Zuge dieser Reflexion widerspräche ich mir selbst. Solche Standpunkte geben der Gerechtigkeit erst den Inhalt: „ D a m i t diese" (Schuldigkeit aus Gerechtigkeit) „ e i n Richtmaß im Verstände habe, so können wir uns in Gedanken in die Stelle anderer setzen." (A 20, 36, 1—2)
D a s Ergebnis dieser Verknüpfung der Verbindlichkeit mit den Standpunkten ist, daß die enge Grenze aufgehoben wird, die der Verbindlichkeit aus dem Satz des
43 44 45
que nous souffrons. Ainsi nul ne devient sensible que quand son imagination s'anime et commence à le transporter hors de l u i . " a . a . O . , 4, S. 505f. Vgl. A 20, 162, 4 - 9 D e cive, 3, 26, a . a . O . , S. 194 Lev. 1, 15, a . a . O . , S. 144f. Auf diese Stellen dürfte der Gebrauch der Standpunkte bei A u g u s t Christian Crusius, Anweisung vernünftig zu leben, Leipzig 1744, Repr. Nachr. Hild e s h e i m / N e w York 1969, 366 und 375, als Ergänzung der Goldenen Regel zurückgehen. Vgl. Ritter, a . a . O . , S. 82
Die Konstituierung der Verbindlichkeit aus einem formalen Rechtsbegriff
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Widerspruchs bei Hobbes mit der Anwendung auf Verträge, deren Inhalt bekannt ist, gezogen ist. Die Vergleichung meiner Gedanken mit den in anderen vorgestellten bezieht sich auch in praktischer Hinsicht grundsätzlich auf alle Bereiche von Handlungen. Wenn das positive Recht „nicht der vermutete, sondern ausgedrückter Wille" (A 27, 1, 8, 19—20) ist, dann bezieht sich das nur vernünftige Recht unabhängig von einem realen Gesetzgeber auf den v e r m u t e t e n Willen, d . h . auf den, den ich aufgrund meiner Reflexion im anderen vorstelle.
2.3.3.
D a s s k e p t i s c h e E l e m e n t in d e r A n w e n d u n g des f o r m a l e n V e r b i n d l i c h k e i t s b e g r i f f s u n d das a n a l o g o n r a t i o n i s
Das von Kant angenommene Mittel der Verbindlichkeit sich so in anderen vorzustellen, bis ein praktischer Satz unter dem Widerspruch geprüft werden kann, scheint ein überaus kompliziertes Verfahren der Rechtsprüfung zu sein. Kant selbst war vom Gegenteil überzeugt. Er versteht sich als Skeptiker: „ D e r Zweifel, den ich annehme, ist nicht dogmatisch, sondern ein Zweifel des Aufschubs. Zetetici (ζητεϊν) Sucher. Ich werde die Gründe von beiden Seiten erhöhen. Es ist wunderlich, daß man davon Gefahr besorgt. Die Spekulation ist nicht eine Sache der Notdurft. Die Kenntnisse in Ansehung der letztern sind sicher. Die Methode des Zweifels ist dadurch nützlich, daß sie das Gemüt praeserviert, nicht nach Spekulation, sondern dem gesunden Verstände und Sentiment zu handeln. Ich suche die Ehre des Fabius Cunctator." (A 20, 175, 13—20)
Die Skepsis der Spekulation gegenüber führt zu Handlungen nach gesundem Verstände und Gefühl! Kant meint also, jedes spekulative Element aus der praktischen Philosophie entfernt zu haben. Dazu äußert er sich ausführlicher in der Herdernachschrift : „Zwischen dem erhabensten menschlichen Geist und dem niedrigsten Mann ist kein wahrer Unterschied an Vorzügen als in Absicht auf Moralität. Jetzo muß bloß wissenschaftliche Scharfsinnigkeit dazu dienen, die Schäden der Wissenschaft áufzuheben. Sonst wären sie nicht nötig; denn das analogon rationis ist ein sicherer Führer in der Moralität als die Vernunft, und das Gefühl des Guten sicherer als die Vernunft, die lauter Irrtümer macht in ihren Schlüssen: da das analogon rationis eigentlich zum Leitfaden gegeben ist, so muß die Vernunft wohl nicht viel Vorzug erwerben, der mit vielen unnötigen Verzierungen ausstaffiert." (A 27, 1, 45, 2 0 - 3 0 ) 4 6
Der Gegensatz zu den ,Beobachtungen' springt in die Augen. Ziehen diese eine klare Grenze zwischen den vielen, die sich nach Gefühl bestimmen, und den wenigen, „die nach Grundsätzen verfahren" (A 2, 227, 5), führt hier das analogon rationis sicher den einfachen Mann. Was versteht aber Kant unter der Instanz, die in der Moral sicherer als die Vernunft führt? Den Begriff erklärt Baumgarten im § 95 der „Initia philosophiae practicae primae" 4 7 : die Erkenntnisse aus dem analogon rationis seien zwar klar, aber nur sensitiv, seien von moralischer Gewißheit, d. h. sie reichen 46 47
vgl. A 27, 1, 20, 1 9 - 2 0 A 19, 46
18
1762—1765: Das analogon rationis als Quelle der Verbindlichkeit
zur Begründung einer Handlung aus, schließlich sprächen mehr Gründe für derart gewonnene Erkenntnisse als dagegen. Damit ist aber keineswegs geklärt, was Kant inhaltlich in der Herdernachschrift unter dem analogon rationis versteht. Als Bezugspunkt bietet sich eine gegensätzliche Formulierung aus der Vorlesungsnachschrift Powalski zur praktischen Philosophie an, die Kants Standpunkt zwischen 1772 und 1775 wiedergeben dürfte: 48 „ D a s moralische Analogon ist, wenn man aus Triebfedern der Sinnlichkeit dieselbe Handlung ausübt, die man nach Regeln und Triebfedern der Sittlichkeit zu tun verbunden wäre." (A 27, 1, 114, 6 - 8 )
Zur Zeit der Herdernachschrift ist die eigentliche Triebfeder der Sittlichkeit das moralische Gefühl. Dieses muß zur Auffindung der Gerechtigkeit ergänzt werden durch rationale Operationen mit Hilfe der heuristischen Standpunkte. Daher kann der spätere Satz in Bezug auf die erste Phase folgendermaßen umformuliert werden: Das rationale Analogon ist, wenn man aus Vernunftgründen dieselbe Handlung ausübt, die das moralische Gefühl vorschreibt. Damit konstruiert Kant im analogon rationis die praktische Einheit von Gefühl und Vernunft. Das geht noch deutlicher aus einer zusammenhängenden Stelle der ,Bemerkungen' hervor: „Quantumvis falsiloquium aliis aliquando admodum sit utile, tarnen erit mendacium, nisi ad illud incumbat obligatio stricta; hinc videre est veracitatem non a philanthropia sed a sensu juris quo fas ac nefas distinguimus pendere. Hic sensus autem originem ducit a mentis humanae natura per quam quid sit bonum categorice (non utile) judicat, non ex privato commodo nec ex alieno, sed eandem actionem ponendo in aliis; si oritur oppositio et contrarietas, displicet, si harmonía et consensus, placet. Hinc facultas stationum moralium ut medium heuristicum. Sumus enim a natura sociabiles, et quod improbamus in aliis, in nobis probare sincera mente non possumus. Est enim sensus communis veri et falsi non nisi ratio humana generatim tanquam criterium veri et falsi et sensus boni vel mali communis criterium illius. Capita sibi opposita certitudinem logicam, corda moralem tollerent." (A 20, 156, 5 - 1 7 )
Kant verknüpft das Verbot der Lüge mit dem heuristischen Mittel, sich in andere zu versetzen, dieses ermöglicht dann die Anwendung des Satzes des Widerspruchs (oppositio/contrarietas — harmonia/consensus). Die Möglichkeit, logische und moralische Einstimmigkeit unter den Menschen herzustellen, sieht er im sensus communis veri et falsi und dessen Gegenstück sensus communis boni vel mali. Daß Kant aber für den praktischen Gebrauch eine Einheit dieser Sinne, von Verstand und Gefühl annimmt, wird deutlich im Grund des Verbots der Lüge, im s e n s u s i u r i s , der sogar als Sinn seinen Ursprung aus der Natur des Geistes zieht. Die moralische Notwendigkeit einer Handlung geht damit sowohl auf ein ,unzergliederliches' Gefühl ( A 2 7 , 1, 5, 7—8) als auch auf den Verstandesgebrauch zurück, 49 wie ebenfalls folgende ,Bemerkung* ausführt: 48 49
Zur Datierung s. u. S. 85 Kant weist widerholt darauf hin, daß es nicht die Verstandestätigkeit allein ist, so A 27, 1, 6, 12 — 14: „ U n d mein letzter Maßstab bleibt doch das Moralgefühl: nicht W a h r und Falsch: so wie das Vermögen des Wahren und Falschen der letzte Maßstab des Verstandes und beide allgemein sind."
Die Konstituierung der Verbindlichkeit aus einem formalen Rechtsbegriff
19
„ D i e Gewißheit in den sittlichen Urteilen vermittelst der Vergleichung mit dem sittlichen Gefühl ist ebenso groß als die mit der logischen Empfindung, und ich werde durch Zergliederung einem Menschen ebenso gewiß machen, daß Lügen häßlich sei, als daß eine Empfindung denkender Körper ungereimt sei. Der Betrug in Ansehung des sittlichen Urteils geht ebenso zu als des logischen; aber dieser ist noch häufiger." (A 20, 49, 6—11)
Damit löst Kant die elitäre Entgegensetzung von rationaler Gerechtigkeit und Gefühl in den Beobachtungen' im analogon rationis als einem ,gesunden' Menschenverstand im praktischen Sinne auf. 5 0 Daß diese skeptische Theorie der Zusammenwirkung zweier allgemeiner Sinne sich gerade am einfachen Manne bewahrheiten muß liegt auf der Hand. Dies aber ist die Stelle, an der Kants praktische Philosophie zwar nicht dem Inhalt, aber dem Programm nach mit Rousseau übereinstimmt, von dem er sagt, daß er ihn „zurechtgebracht" habe, den Pöbel nicht mehr zu verachten, sondern „die Menschen ehren" zu lernen (A 20, 44, 11 — 14).
2.3.4. V o l u n t a s c o m m u n i s als W i l l e , den man in j e d e m v e r n ü n f t i g e n Menschen annehmen muß Nach der Erläuterung des sensus communis als eines skeptischen Elements im Gebrauch des Verbindlichkeitsbegriffs der ,Bemerkungen' dürfte es nicht schwer fallen, auch eine angemessene Lösung für die voluntas communis zu finden. Christian Ritter nimmt hier eine durchaus unklare Haltung ein. Einerseits macht er diesen Begriff von Rousseau abhängig, indem er einerseits den „moralischen Anspruch und die Sozialbezogenheit" aus Rousseaus Begriff interpretiert 51 , andrerseits löst er Kants Begriff los, indem er dessen Begründung gegen Rousseau abhebt. 52 Im Staatsrecht entspreche Kants voluntas communis wieder der volonté générale Rousseaus. 53 Entweder wird hier Kant oder Rousseau nicht folgerichtig interpretiert; angesichts der Untersuchungen von Reinhard Brandt wohl beides nicht. 54 Der Grund für die Unklarheit der Kantinterpretation Ritters liegt in einem methodischen Problem begründet, daß er nämlich die .Bemerkungen' und die Herdernachschrift in einem Zuge mit den Reflexionen der Phase η interpretiert, 55 obwohl diese mit ihrer Datierung in die Jahre 1764—1768 die Grenzen der erstgenannten Quellen überschreiten. Um zu festdatierten Aussagen zu kommen, beschränken wir 50
51 52
53 54
55
Später teilt Kant den sensus communis in logicus und aestheticus, verstanden als eine gemeinsame, unmittelbar erfahrbare Grundeigenschaft des Menschen, ein. K. d. U. § 40, A 5, 295, 20—26 und Anm. a . a . O . , S. 79 a . a . O . , S. 83: „Das Wesen der dem allgemeinen Willen entsprechenden Handlungen liegt nicht in der Allgemeinheit des „Interesses" oder des als „utilité publique" verstandenen Gemeinwohls im Sinne Rousseaus." a . a . O . , S. 88 6 6 Reinhard Brandt, Rousseus Philosophie der Gesellschaft, Stuttgart 1973. Zur Entstehung der volonté générale, die inhaltlich nicht mit Montesquieu verknüpft werden kann, bes. S. 96ff. a . a . O . , bes. S. 84ff. R 6586/6596; weiterhin s. u . S . 37
20
1762—1765: Das analogon rationis als Q u e l l e der Verbindlichkeit
uns darauf, die bis 1765 datierten Quellen vorerst unabhängig von den Reflexionen zu behandeln. Die Kernstelle der ,Bemerkungen' lautet: „ A c t i o spectata secundum voluntatem hominum communem si sibimet ipsi contradicat, est externe moraliter impossibilis (illicitum). Fac me alterius frumentum occupatum ire, tum, si specto hominem neminem sub ea conditione, ut sibi ipsi eripiatur quod acquisivit, acquirere velie quod alterius est, idem secundum privatum volo et secundum publicum aversor. Q u a tenus enim aliquid a volúntate alicujus plenarie pendet, eatenus impossibile est, ut sibi ipsi contradicat (objective). Contradiceret autem voluntas divina sibimet ipsi, si vellet homines esse q u o r u m voluntas opposita esset voluntati ipsius. Contradiceret hominium voluntas sibimet ipsi, si vellent q u o d ex volúntate communi abhorrèrent." 5 6 (A 20, 161, 5—15)
Diese voluntas communis bildet eine Erweiterung der Verbindlichkeit aus Widerspruchslosigkeit im rechtlichen Sinne („externe"). Das Beispiel zeigt den Gegenstand dieses allgemeinen Willens, daß kein Mensch dessen beraubt werden will, was er erworben hat. Auf ein ähnlich banales Anliegen bezieht sich ein anderes mit der voluntas communis verbundenes Beispiel: „Welcher Wille gut sein soll, muß, wenn er allgemein und gegenseitig genommen wird, sich nicht selbst aufheben. U m deswillen wird der andre nicht dasjenige sein nennen, was ich gearbeitet habe, denn sonst würde er voraussetzen, daß sein Wille meinen Körper bewegte." (A 20, 67, 5 - 8 )
D . h. nach den Beispielen, die Kant gibt, bezieht sich die voluntas communis auf eine Absicht, die ich aufgrund der erkennbaren allgemeinen Eigenschaften der Menschen vernünftigerweise im Rechtspartner vermuten kann oder sogar muß. Andrerseits sieht Christian Ritter sehr richtig, daß dieser allgemeine Wille nichts mit dem Sprachgebrauch bei Crusius zu tun hat, nach dem das bürgerliche Gesetz ein „allgemeiner Wille" ist, „welchen der Regente vermöge des ihm obliegenden Amtes, das gemeine Beste zu besorgen, kundtut". 5 7 Aber Kant selber muß unter der voluntas communis der Bemerkungen' etwas anderes verstehen, als er in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre unter dem „allgemeinen Willen" Gottes in den Aufzeichnungen zum Optimismus verstand (A 17, 236, 27). Dieser allgemeine Wille bei Crusius und beim frühesten Kant ist ein Wille, der sich auf alle und alles bezieht. Das aber tut die voluntas communis in den .Bemerkungen' keineswegs, sondern ihr Gegenstand sind ganz bestimmte gemeinsame Grundanliegen der Menschen. Kant arbeitet in den .Bemerkungen' mit einem sensus communis, und für diesen ist klar, daß es sich in logischer und moralischer Hinsicht um einen gesunden Menschenverstand handelt, der in jedem vernünftigerweise angenommen werden muß. Wir stellen neben diesen skeptischen sensus communis aufgrund der Beispiele die voluntas communis; d. h. so wie gemeinsame und damit allgemeine Urteile festgestellt werden, ebenso gemeinsame, das sind allgemeine Eigenschaften der Menschen — z. B. der aufrechte Gang, obwohl es auch da Ausnahmen gibt —, so können und müssen im Menschen gewisse gemeinsame, das sind allgemeine Grundanliegen angenommen werden, daß er z. B. seines rechtmäßigen Erwerbs nicht beraubt werden will. Mit 56 57
vgl. o. S. 14 3 5 Ritter, a . a . O . , S. 84; Crusius, a . a . O . , 613
Die Konstituierung der Verbindlichkeit aus einem formalen Rechtsbegriff
21
diesen Grundanliegen, die mir mit anderen gemeinsam sind, darf ich nicht in Widerspruch geraten. D a ß ein solcher gemeinsamer Wille, verknüpft mit den Standpunkten und dem Satz v o m Widerspruch, auf eine Anzahl verschiedener Bereiche angewandt werden kann, liegt auf der H a n d : „Diese" (gute freie) „Willkür enthält nun sowohl den bloß eigenen als auch den allgemeinen Willen, oder es betrachtet sich der Mensch zugleich in consensu mit dem allgemeinen Willen." (A 20, 145, 2 1 - 2 3 ) In dieser Widerspruchslosigkeit im Verhältnis zu den gemeinsamen Anliegen sieht Kant die Regel des Rechts: „Dasjenige, was durch den allgemeinen Willen notwendig ist, ist eine Schuldigkeit." (A 20, 145, 24—25) „Habitus actionis e volunate singulari est solipsismus moralis. Habitus actionis e volunate communi est justitia moralis." (A 20, 145, 4 - 5 ) Wie konkret Kant diese Rechtsregel versteht, geht aus der Folgerung für den Kollisionsfall hervor: D a gewisse Anliegen allen Menschen gemeinsam sind, sind sie als Anliegen ihres gemeinsamen Willens stärker: „Est autem voluntas communis in statu collisionis praegnantior propria." (A 20, 161, 16-17) E i n e Beziehung zur staatsrechtlichen Zauberformel Rousseaus ist hier nirgendwo z u sehen; die zwei W o r t e Rousseaus haben die Kantinterpreten geblendet. 5 8 F ü r das Staatsrecht ist dieses Ergebnis zu überprüfen.
2 . 3 . 5 . D i e W a h r h a f t i g k e i t als B e d i n g u n g d e r G e s e l l i g k e i t D i e Definition der Wahrhaftigkeit und der Wahrheit im moralischen Gebrauch des damaligen Naturrechts bietet sich geradezu an, unter dem Satz des Widerspruchs behandelt zu werden. Bei Christian Wolff heißt es: „Veritas moralis est convenientia verborum cum cogitationibus nostris; Ut adeo verum dicat, qui ea cogitat, quae se cogitare dicit, veluti quod judicet hoc esse verum, quod pro vero a se haberi ait: quod velit, quod se velie, nolit, quod se nolle dicit. S9 Sinceritas animi est actiones externas internas conformandi." 6 0 Bei W o l f f wird nun die Pflicht, die Wahrheit zu sagen, mit anderen Pflichten in Vergleich gesetzt, so daß die Entscheidung über die Wahrhaftigkeit ebenfalls vom N u t z e n auf dem W e g zur Vollkommenheit abhängt: 58
59 60
So Schmucker, a . a . O . , S. 254: „Diese Ubereinstimmung in der formalen Grundstruktur ist so auffallend, daß wir eine bloße Zufälligkeit für ausgeschlossen halten: Die Kantische Lösung des Problems der unbedingten Verpflichtung des Sittengesetzes erscheint hier in der Tat als eine bloße Transponierung der staatsphilosophischen Konzeption Rousseaus auf die innere Welt der frei wollenden geistigen Wesen, wie denn auch folgerichtig daraus eine systematische Verfassung der geistigen Welt nach bloß pneumatischen Gesetzen entspringt." Letzteres zu .Träume eines Geistersehers"; dazu s. n. S. 35ff. I . N . , 3, 150 I . N . , 3, 314
22
1762 — 1765: Das analogon rationis als Quelle der Verbindlichkeit „Si veriloquium pugnat cum officio aliquo erga alios vel obligatione contracta, qua alteri in singular! tenemur, hoc est si vera dicendo contra officium vel contra obligationem contractam, qua alteri in singulari tenemur, agamus, a veriloquio abstinere debemus seu Veritas reticenda. Idem etiam valet, si veriloquium est contra ius alterius sive perfectum sive imperfectum." 6 1 Dasselbe gilt entsprechend für die E i d e ; denn: „Finis ultimus omnis sermonis est sui aliorumque perfectio." 6 2 A n dieser Beurteilung der L ü g e unter dem Gesichtspunkt des N u t z e n s setzt Kant
an: „Poterit equidem in quibusdam vitae conditionibus mendacium esse admodum utile, ideoque per regulam prudentiae mentiendum, sed ad hoc requiritur vasta astutia et sagacitas consectaria; si moraliter consideratur per simplicitatem moralem, illico cognoscitur, quod factu opus sit." (A 20, 155, 2 8 - 1 5 6 , 4 ) " W e n d e ich den Satz des Widerspruchs auf die Lüge an, dann zeigen meine W o r t e als Z e i c h e n , daß ich etwas will, meine Gedanken aber sind, daß ich nicht will: d. h. z w e i meiner wesentlichen Fähigkeiten, zu denken und Gedanken äußern zu können, w i d e r s p r e c h e n sich. N u n wendet aber Kant das V e r b o t der Lüge auf Fälle an, in denen ich dem anderen n o c h nicht einmal schade: „Lüge ist bloß zu eingeschränkt als Beleidigung des anderen." (A 27, 1, 59, 26) D a m i t schlägt sich K a n t gegen die geschlossene Phalanx der Philosophen und J u r i s t e n , T h o m a s i u s , Gundling und Achenwall, die das V e r b o t der L ü g e auf den B e t r u g einschränken, Wolff, Crusius und Darjes, die die Wahrhaftigkeit unter dem genannten
Nutzen
abwägen,64
auf die Seite der Theologen, J o h a n n
Gerhard,65
A m b r o s i u s Z i e g l e r , 6 6 Daniel W h i t b y 6 7 und J o h a n n Daniel M i c h a e l i s . 6 8 W a s konnte den z ö g e r n d e n und skeptischen Kant zu diesem ungewöhnlichen Schritt bewegen? Kant
sieht
in
der
Wahrhaftigkeit
die Bedingung
der Geselligkeit
überhaupt:
„Weil in der Gesellschaft alles Mein und Dein auf pacta ankommt, diese aber auf Wort-
61
62 63 64
65
66 67
68
I . N . , 3, 167, Vgl. 339: „Si sine simulatione officio cuidam erga te ipsum vel erga alios . . . satisfacere nequeas, simulatio licita est." I . N . , 3, 279 Forts, s. o. S. 18 Siehe dazu Ritter, a . a . O . , S. 187f., mit dem unsere Interpretation bis auf die Bedeutung der Menschheit übereinstimmt. — Achenwall unterwirft die Wahrhaftigkeit dem Satz suum cuique, das ich dem andern nicht lasse, wenn ich ihn betrüge. Gottfried Achenwall, lus Naturae, 5. Aufl., Göttingen 1763, 1, 94. Darjes, Disc., S. 517ff. ad § 373 1582—1637, Lutheraner, Prof. in Jena; genannt in Johann Ernst Gunnerus, Vollständige Erklärung des Natur- und Völkerrechts nach denen beliebten Grundsätzen des Herrn Hofrat Darjes, Jena 1 7 4 8 - 1 7 5 2 , Bd. 6 zu § 373, s. u. S. 48 8 3 1 684—1739, Benediktiner, Verf. von Notae ad Grotium 1638—1726, Verf. von Ethices Compendium, Oxford 1684. Die zwei letzten genannt in Nicolaus Hieronymus Gundling, Via ad veritatem, 3. Iurisprudentia naturalis, Halle 1715, 13, 42f. 1 71 7—1791 ; Verf. von „Von der Verpflichtung der Menschen, die Wahrheit zu reden", Göttingen 1750, angegeben bei Achenwall, a . a . O . , 1, S. 74. Vgl. Cramers Anmerkung in „Ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen", A 6, 238
Die Konstituierung der Verbindlichkeit aus einem formalen Rechtsbegriff
23
haltung, so ist die Wahrheitsliebe das Fundament aller gesellschaftlichen Tugend und Lüge das Hauptlaster gegen andere nebst dem Raube, dem Morde und der stuproviolatio." (A 20, 153, 5 - 8 ) Allgemeiner formuliert Kant in der Bemerkung, die wir schon herangezogen haben: „Sumus enim a natura sociabiles, et quod improbamus in aliis, in nobis probare sincera mente non possumus." (A 20, 156, 13-14) 6 « Sociabilis ist eine an sich wenig gebrauchte Vokabel. Es ist Burlamaqui, der nach den Pflichten gegen Gott und gegen uns selbst diejenigen gegen andere unter dem Begriff der „sociabilité" behandelt. 70 Diesen übernimmt er wiederum von Pufendorf, den er allerdings mit der Nebenordnung des Begriffs darin kritisiert, daß er die sociabilitas zu weit ausgedehnt habe. 71 Burlamaquis Definition lautet: „. . . cette disposition qui nous porte à la bienveillance envers nos semblables, à leur faire tout le bien qui peut dépendre de nous, à concilier notre bonheur avec celui des autres et à subordonner toujours notre avantage particulier à l'avantage commun et général." 72 Diese „disposition", die zum Recht in der Gesellschaft führt, geht über Pufendorf in der Naturrechtslehre der Neuzeit zurück auf Grotius: „Inter haec autem quae hominis sunt propria est appetitus societatis . . . Haec vero quam rudi modo iam expressimus societatis custodia, humani intellectui conveniens, fons est eius iuris quod proprie tali nomine appellatur." 73 Eine Neigung zur Gesellschaft wird wie bei Aristoteles Grund des Rechts. 74 Diese Rechtstheorie des Grotius kritisieren Heinrich und Samuel Cocceji. Nachdem diese unter Berufung auf die cognatio 75 des Römischen Rechts die Disposition des Menschen zur Gesellschaft besonders am Beispiel der Sprache gezeigt haben, stellen sie ihr Verhältnis zur Theorie des Grotius klar: ,,At appetitum hunc societatis pro fonte iuris naturalis non agnoscimus; tum quia ius ex ea societate non ideo quaeritur, quia homines earn appetunt, sed quia deus motum ilium in nobis existere eoque ius aliquod inde esse voluit; tum quia multa alia naturae iura dantur, quae ex appetitu societatis plane non sequuntur; adeoque ex alio fonte deduci deben t." 7 6 69 70 71
72
73 74 75 76
Zusammenhang s. o. S. 18 a . a . O . , 2, 4, 18; Burlamaqui beruft sich zur Systematik auf Cicero, Tuse. 1, 26 Burlamaqui a . a . O . , 2, 4, 20; Pufendorf, a . a . O . , 2, 3, 15: „Eiusmodi animali, ut salvum sit, bonisque fruatur, quae in ipsius conditionem heic cadunt, necessarium est, ut sit sociabile, id est, ut coniungi cum sui similibus velit." a. a. O., 2, 4, 16. Burlamaqui schätzt das Wort „sociabilité" sehr, so daß er es bei seinen Ubersetzungen des Grotius und Senecas benutzt, auch da, wo es reine Interpretation ist. a . a . O . , 2, 4, 12; 2, 5, 6 a . a . O . , Prol. 6 u. 8 Pol. 1253 a Dig. 1, 1, 3 Samuel Cocceji, Introductio ad Henrici de Cocceji Grotium Illustratum, Halle 1748, Diss, prooem. X § 8, S. 192. Zur Quellenlage s. u. S. 40f. Bei Thomasius liegt die Grundlage des Rechts anders. Er lehnt zwar die custodia societatis ab, setzt aber das lange, individuelle glückliche Leben dafür ein. Dem dient die Vernunft mit ihrem Rechtsdenken. Der Rechtsbegriff ist damit nicht ursprünglich wie bei den Coccejis und Kant. Siehe Fundamenta Iuris Naturae et Gentium, 4. Aufl. 1718, Repr. Nachdr. Aalen 1963; 1, 6, 19; 1, 6, 21. Gegen Ritter, a.a.O., S. 191507
24
1762—1765: Das analogon rationis als Quelle der Verbindlichkeit
Das heißt kurz gesagt: Der Rechtsbegriff ist die Bedingung der Möglichkeit der Gesellschaft, nicht ein natürliche Anlage des Menschen. Dieser Umkehrung der These des Grotius schließt sich Kant an, indem er die Geselligkeit auf die Wahrhaftigkeit und Verbindlichkeit aufgrund des Satzes vom Widerspruch, d. h. auf einen Rechtsbegriff zurückführt. Daß sich Kant nicht auf den Willen Gottes beruft, dürfte klar geworden sein. Das Gebot der Wahrhaftigkeit als Möglichkeit der Gesellschaft wird von Kant im weitesten Sinne gebraucht, wie aus der Verbindung des Eigenutzes mit der Verbindlichkeit hervorgeht: „ D i e allergewinnsüchtigsten Kaufleute sind im Handel die ehrlichsten; bloß aus Eigennutz, und dieser ist also oft ein Grund der Wahrheit." (A 27, 1, 59, 3 6 - 3 8 )
Damit versteht Kant die Vokabel sociabilis in der ursprünglichen Bedeutung ihrer Wortbildung: der Mensch ist nicht ursprünglich sozial, sondern sociabilis, d. h. aufgrund der Möglichkeit, sich eine vernünftige absolute Verbindlichkeit aufzuerlegen, ist er der Gesellschaft f ä h i g . Kant sieht also in der Übereinstimmung des Denkens und der Zeichen als Handlungen im Rechtssubjekt die Bedingung der Gesellschaft überhaupt. Damit sprengt er weit den Rahmen des individuellen Nutzens und des Betruges in der Lüge: „Unmittelbar ist sie schon abscheulich, als Unwahrheit, da diese die menschliche Gesellschaft innigst trennt und die Wahrheit das Band der menschlichen Gesellschaft ist. Bloß Wahrheit ist verloren und damit alles Glück der Menschheit." (A 27, 1, 59, 26—30)
Wenn keine Handlung mehr mit der eigentlichen Absicht übereinstimmt, ist jedes sinnvoll aufeinander bezogene Verhalten der Menschen untereinander unmöglich. In einer solchen verfremdeten Welt wären die Menschen zur Vereinsamung verdammt. — Es besteht zudem kein Grund, den Begriff der Menschheit an dieser Stelle in irgendeiner Form über den Begriff der Summe aller Individuen auszudehnen. 77 2 . 3 . 6 . D i e V e r b i n d l i c h k e i t als a b s o l u t e S e l b s t v e r p f l i c h t u n g Das Ergebnis aus Kants Überlegungen, die sich mit der Leerstelle beschäftigen, die die Vernichtung von Wolffs Verbindlichkeitsbegriff zurückgelassen hat, ist eine absolute, mit dem Satz des Widerspruchs arbeitende Selbstverpflichtung des Menschen, die ihrem Ausgangspunkt und ihrer Möglichkeit nach nicht von Naturkausalität abhängig ist. Der entstandene Verbindlichkeitsbegriff ist überall da anwendbar, wo sich die Beurteilung der Handlung unter einfachen, allgemein einsichtigen kontradiktorischen Sätzen fassen läßt. Ein Beispiel Kants aus der Mitte der sechziger Jahre lautet folgendermaßen: „Actus, quo semet ipsum obligat pater, est generatio. Obligatur erga liberos, non a liberis, obligat, dum obligationi satisfacit." (A 19, 15, 7—9, E 6466)
Der Vater wird nicht von der Fürsorge verpflichtet, die Gott und die Natur den Eltern durch die Existenz der Kinder vorschreiben, wie es die damalige Naturrechts77
Gegen Ritter, a . a . O . , S. 191 f.
25
Die Vorstellung vom Recht als Ausgleich naturalistischer Freiheit
lehre unterschiedslos verstand, 7 8 sondern der Vater verpflichtet sich durch den Akt der Zeugung selbst, wenn er den Effekt der Zeugung will und trotz derselben H a n d l u n g den Effekt nicht will, wenn er das Kind umkommen läßt. Derselbe Gedankengang trifft entsprechend auf Schwangerschaft und Abtreibung zu. — Aus dem Aspekt der Kinder sieht die Verbindlichkeit so aus, daß der Vater sie verpflichtet, gewisse Dinge zu tun, da sie nicht wollen können, daß er für sie sorgt und daß er nicht für sie sorgt, indem seine Sorge in jeder Hinsicht nutzlos ist. D a ß selbst Familienmitglieder bei Verachtung dieser Verbindlichkeiten nicht zusammenleben
2.4.
und miteinander umgehen können,
Die Vorstellung
vom Recht als Ausgleich durch
ist eine alltägliche
naturalistischer
Erfahrung.
Freiheit
Gerechtigkeit
R e c h t ist nach Christian Wolff „facultas agendi, quod moraliter possibile est", 7 9 und zwar liegt die Verbindlichkeit, auf die sich der Nachsatz bezieht, vor jedem Recht: „Obligatio prior est iure, hoc est anteponenda est aliqua obligatio, quam ius aliquod concipi possit." 8 0 M i t der Erkenntnis der Unmöglichkeit eines Verbindlichkeitsbegriffs aus N a t u r kausalität ist im gleichen Atemzuge dieser Rechtsbegriff hinfällig geworden. K a n t setzt neu ein mit dem Freiheitsbegriff, der die Abhängigkeit des Menschen auf die von Naturgesetzen einschränkt: „Alle andre Übel der Natur sind doch lernet, um nachher zu wählen, wiefern will. . . . Allein der Wille eines jeden Neigungen und stimmet nur mit seiner (A 20, 92, 1 5 - 1 8 , 2 1 - 2 3 )
gewissen Gesetzen unterworfen, die man kennenman ihnen nachgeben oder sich ihnen unterwerfen Menschen ist die Wirkung seiner eigenen Triebe, wahren oder eingebildeten Wohlfahrt zusammen."
E s ist wiederum kein Geheimnis, daß dies der Freiheitsbegriff ist, den Rousseau im „ E m i l e " gebraucht und den er seinerseits im Grundsatz von Locke entlehnt hat: „II γ a deux sortes de dépendances: celles des choses, qui est de la nature; celle des hommes, qui est de la société. La dépendance des choses n'ayant aucune moralité ne nuit point à la liberté, et n'engendre point de vices: la dépendance des hommes étant désordonnée les engendre tous, et c'est par elle que le maître et l'esclave se dépravent mutuellement." 81 „This freedom from absolute, arbitrary power is so necessary to, and closely joined with, a man's preservation, that he cannot part with it but by what forfeits his preservation and life together. For a man, not having the power of his own life cannot, by compact or his own consent enslave himself to any one, nor put himself under the absolute arbitrary power of another to take away his life, when he pleases." 82 78 79 80 81
82
S. u. S. 133f. Phil, pract. univ. 157 I . N . , 1, 24 a . a . O . , S. 311. Zu Rousseaus Kritik an Lockes Freiheitsbegriff, Brandt, Rousseau, a . a . O . , S. 71 ff. Locke, John, Two Treatises of Government, Hrsg. Peter Laslett, Cambridge 1964, 2, 23
26
1762—1765: Das analogon rationis als Quelle der Verbindlichkeit
Nun ist auch Christian Wolff und den anderen deutschen Naturrechtslehrern nicht entgangen, daß das Recht die ursprüngliche Freiheit und damit auch Gleichheit der Menschen berücksichtigen muß. Ist damit der Freiheitsbegriff von Locke, Rousseau und Kant nur durch rhetorisches und emotionales Engagement ζ. B. von dem Wolffs unterschieden? 83 Wolff benutzt den Freiheitsbegriff des Florentinus: „Libertatem définit, quod sit naturalis facultas eius, quod cuique facere Übet, nisi si quid vi aut iure p r o h i b e t u r . " 8 4
Dieser Begriff kommt ihm entgegen, weil er mit der Unabhängigkeit von anderen sofort die rechtliche Bindung nennt. Daß diese rechtliche Bindung aber für Wolff universal ist, zeigt sein übergeordneter Verbindlichkeitsbegriff. Danach stellen die traditionellen Naturrechtslehrer nach Grotius und Pufendorf, wie noch zu zeigen sein wird, nicht die Frage nach der Freiheit des Menschen, sondern welche rechtlichen und moralischen Bindungen die Menschen eingehen müssen, um dem metaphysisch begründeten Rechtsbegriff, Gott oder einem entsprechenden Naturbegriff gegenüber Genüge zu tun. Daher gibt es für Wolff ζ. Β. gar keine andere als an Weltbegriff und Mitmensch gebundene Freiheit. Für Locke und Rousseau dagegen liegt das Problem genau umgekehrt: Sie stellen die Frage, welche rechtlichen Maßnahmen ich unternehmen muß, um die dem Menschen aufgegebene ursprüngliche Freiheit zu erhalten oder wiederherzustellen. Ihnen gelingt diese Wendung, indem sie im Freiheitsbegriff nur die von Gott bzw. der Natur anbefohlenen Pflichten des Menschen gegen sich selbst betrachten und dann erst, in einem zweiten Schritt, auf das Verhältnis zum Mitmenschen schließen. Diesem selbstbezogenen, unmoralischen Freiheitsbegriff schließt sich Kant an. Übernimmt Kant damit von Rousseau das Erscheinungsbild einer mehr oder weniger begründeten naturalistischen Freiheit? Im Gegenteil: für Kant besitzt die natürliche Unabhängigkeit des Menschen Beweischarakter, indem Unfreiheit widersprüchlich, „ungereimt und verkehrt", genannt wird: „ D a ß der Mensch selbst aber gleichsam keiner Seele bedürfen und keinen eignen Willen haben soll und daß eine andere Seele meine Gliedmaßen bewegen soll, das ist ungereimt und verkehrt: A u c h in unseren Verfassungen ist uns ein jeder Mensch verächtlich, der in einem großen Grade unterworfen ist — . . . Kurz, der Mensch, der da abhängt, ist nicht mehr ein Mensch, er hat diesen Rang verloren, er ist nichts außer ein Zubehör eines andern Menschen." (A 20, 93,20-24,94,1-3)
Aus dieser unabdingbaren Unabhängigkeit des Menschen folgt notwendig die Gleichheit. Sie bildet für Kant „das erste axioma" (A 27, 1, 66, 39): „ E i n jeder Mensch hat gleiches Recht auf dem E r d b o d e n . " (A 27, 1, 67, 2—3)
Die von ihren Trieben und Neigungen, von der Vorstellung ihrer „wahren oder eingebildeten Wohlfahrt" bestimmten Menschen treffen als Rechtspartner notwendigerweise unabhängig voneinander und damit gleichberechtigt zusammen; der Ausgleich zwischen diesen aufeinandertreffenden Egoismen wird geschaffen durch die 83
So klingt es bei Ritter an, a . a . O . , S. 117f.
84
I . N . , 1, 135 Scholion; Dig. 1, 5, 4
Verträge und Eigentum
27
rationalen Operationen des analogon rationis, auf denen die Gerechtigkeit beruht und die jede Geselligkeit erst ermöglichen: „Die Schuldigkeit ist der gemeinschaftliche Eigennutz in ^equilibrio." (A 20, 160, 25) „Das einzige· natürliche notwendige Gut eines Menschen im Verhältnis auf den Willen der andern ist Gleichheit (Freiheit) und respective aufs Ganze Einheit. Analogie Zurückstoßung; dadurch erfüllt der Körper seinen eigenen Raum sowie ein jeder den seinigen. Anziehung, dadurch verbinden sich alle Teile zu einem." (A 20, 165, 20—24) V o n hier aus ist Kants Verbindung von Liebe und Gerechtigkeit zu verstehen. „Die wahre Liebe ist . . . die Gerechtigkeit. Sie ist die Liebe der Natur, die Fundamentalliebe, da sie sich auf ein lebendig Gefühl der Gleichheit gründet." 85 (A 27, 1, 65, 26—28) D a s erste Anliegen und Engagement der menschlichen N a t u r muß sein, die natürlichen Egoismen unter Wahrung ihrer notwendigen Eigenschaften — Freiheit und Gleichheit
— im Rechtsverhältnis,
das Aufrichtigkeit voraussetzt,
nebeneinander
existieren zu lassen. Daher sind Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Gleichheit voneinander abhängige Begriffe: „Alle Wahrhaftigkeit setzt eine Idee der Gleichheit voraus." (A 20, 158, 24) „Aus dem Gefühle der Gleichheit entspringt die Idee der Gerechtigkeit." (A 20, 35, 1 4 - 1 5 ) D a m i t enthält Kants Vorstellung v o m Recht in der Phase der .Beobachtungen' kein Stück mehr, als die Verknüpfung von naturalistischer Freiheit mit einem rationalen, verbindliche Rechtsgebote erzeugenden Ausgleichsmechanismus.
2.5. Verträge und Eigentum W i e wir gesehen haben, entwickelt Kant seinen Begriff der Verbindlichkeit aus dem Konsens im Vertragsrecht, und zwar liegt die Verbindlichkeit des Vertragsschlusses, wie ebenfalls gezeigt, in der Widerspruchslosigkeit des Vertragsschließenden selbst angesichts des Inhalts des Vertrages: „Obligans efficit, ut arbitrium alterius suo non consentiens sibimet ipsi universaliter sumto repugnet; ideoque non obligat nisi per consensum alterius." (A 19, 93, R 6580) Diese Selbstverpflichtung, die erst die gegenseitige möglich m a c h t , 8 6 bleibt bestehen selbst bei wechselseitigem Betrug: „Ich kann unrecht tun gegen einen andern, ob ich ihm gleich nicht unrecht tue; e. g. der ein blind Pferd mit falschem Wechsel bezahlt. Dies ist der Beweis, daß nicht allemal obligatio erga aliquem alterum obligantem voraussetzt." (A 19, 97, R 6587) 85
86
Unserer Meinung nach ist hier kein besonderes „Liebesrecht", wie Ritter meint, zu entdecken. a. a. O . , S. 133 f. Auch verlieren Kants Bemerkungen zum Rechtsbegriff in der natürlichen Theologie in Bezug auf das Verhältnis vom Alten zum Neuen Testament den Charakter der Einmaligkeit, wenn man folgende Stelle Samuel Coccejis dagegenhält: „In hac distinctione iuris et virtutis consistit differentia tota veteris et novi testamenti. Prius iurisprudentiam continet, posterius perfectionis regulas." a . a . O . , S. 205. Siehe z . B . A 20, 90, 6 - 2 5 ; Ritter, a . a . O . , S. 1 0 7 - 1 1 3 Die Erkenntnis der Möglichkeit der Selbstverpflichtung ist der Grund dafür, daß Kant später in der Vorlesungsnachschrift Collins den Unterschied zwischen obligatio activa und passiva als „nicht erheblich" bezeichnet. A 27, 1, 260, 15—16
1762—1765: Das analogon rationis als Quelle der Verbindlichkeit
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„Alles Mein und D e i n " wird nun „in der Gesellschaft" durch solche absolut verbindlichen Verträge gesichert ( A 2 0 , 153 , 5 ) . 8 7 Ist damit aber ein Begriff vom Eigent u m begründet? F ü r Kant zweifellos nicht, denn die ,Bemerkungen', die das Eigentum zum Thema m a c h e n , gehen weder v o m eigentlichen Vertragsrecht aus noch vom Zustand in der Gesellschaft. Reinhard Brandt hat kürzlich die beiden entscheidenden Textstellen der .Bemerkungen' nachdrucken lassen und kommentiert 8 8 . W i r stimmen seiner Interpretation im Gegensatz zu der Ritters zu. K a n t argumentiert folgendermaßen. E r geht wie zum Freiheitsbegriff vom Begriffspaar Abhängigkeit — Unabhängigkeit aus. So wie „Unterwürfigkeit" eine „gewisse H ä ß l i c h k e i t " , „ W i d e r s p r u c h " und damit „Unrechtmäßigkeit" anzeigt (A 20, 93, 1 4 16), so ist der Mensch, da er Spontaneität besitzt, allein „bei der N a t u r " , wenn „ e r dem Willen Gottes unterworfen" ist (A 20, 66, 5—7). Einen „kompletten Willen" ( A 2 0 , 67, 14), d. i. Unabhängigkeit, hat, was sich selbst bewegt, abhängig ist, was bewegt wird: Diese Abhängigkeit ist Zeichen des Eigentums: „Quatenus meae voluntati res modificabilis paret, mea est." (A 20, 160, 23) - „Der Leib ist mein, denn er ist ein Teil meines Ichs und wird durch meine Willkür bewegt. Die ganze belebte oder unbelebte Welt, die nicht eigene Willkür hat, ist mein, insofern ich sie zwingen und sie nach meiner Willkür bewegen kann. Die Sonne ist nicht mein. Bei einem andern Menschen gilt dasselbe, also ist keines Eigentum eine Proprietät oder ein ausschließendes Eigentum. Insofern ich aber ausschließungsweise mir etwas zueignen will, so werde ich des andern Willen wenigstens nicht gegen den meinigen oder nicht seine Tat wider die meinige voraussetzen. Ich werde also die Handlungen ausüben, die das Mein bezeichnen, den Baum abhauen, ihn zimmern etc. Der andere Mensch sagt mir, das ist sein, denn es gehört durch die Handlungen seiner Willkür gleichsam zu seinem Selbst." (A 20, 66, 11—67, 4) Diese Begründung der Arbeitstheorie Lockes, die Kant ebenso als Erziehungsthema im „ E m i l e " finden k o n n t e , 8 9 zeigt wörtliche Anklänge an die Anmerkung Humes im A n h a n g zur Gerechtigkeit in der „Inquiry concerning the Principles of M o r a l s " : „For a like reason, occupation or first possession becomes the Where a man bestows labour and industry upon any object, nobody; as in cutting down and shaping a tree, in cultivating which he produces, causes a relation between him and the object, annex it to him by the new relation of property." 9 0
foundation of property. — which before belonged to a field etc., the alteration and naturally engages us to
D a s Besondere bei Kant ist nun, daß er diese Verknüpfung des Ichs mittels der B e w e g u n g mit Dingen gemäß der notwendigen Verbindlichkeit, das Eigentum zu respektieren, unter dem Satz des Widerspruchs zu fassen versucht: „Welcher Wille gut sein soll, muß, wenn er allgemein und gegenseitig genommen wird, sich nicht selbst aufheben; um deswillen wird der andre nicht dasjenige sein nennen, was ich gearbeitet habe, denn sonst würde er voraussetzen, daß sein Wille meinen Körper bewegte. —
87 88 89 90
Vgl. o. Brandt, a.a.O., a.a.O.,
S. 22f. Eigentumstheorien, a . a . O . , S. 167—179 S. 332f. S. 277
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Das Staatsrecht: Besserung des Staates durch Sitten
Dadurch also, daß ein Mensch manches sein nennet, so verspricht er tacite, in ähnlichen U m ständen durch seinen Willen nicht über dasjenige" (bricht ab) (A 20, 67, 5—10) 9 1
Ansatzpunkt ist wiederum die bewegende Unabhängigkeit des Menschen: Es ist ein Widerspruch, daß ein Ding von mir bewegt wird und zugleich nicht bewegt wird, indem es ein anderer mittels meiner selbst nach dessen Ich bewegt. Ich weiß mich im Konsens mit jedem anderen Menschen darüber, daß diese Verletzung der Unabhängigkeit ein Widerspruch ist, und befinde mich damit in einem stillschweigenden Vertragszustand, „tacite", mit dem Rechtspartner. Ritter wendet demgegenüber ein, daß angesichts dieses stillschweigenden Vertragszustandes aufgrund der Willenstheorie der Rekurs auf die Arbeit „unnötig" wird und daß Kant in der M.d.S. folgerichtig Selbstkritik übt. 92 Aber ebenso offen, wie Kants Selbstkritik in der M.d.S. liegt, 93 ist festzustellen, daß Kant in den ,Bemerkungen' weder die alleinige Okkupation noch eine Quasi-Vertragstheorie für ausreichend hält, um Eigentum zu begründen. Der Schlüssel dafür liegt widerum im Verständnis der voluntas communis, die auch hier („allgemein und gegenseitig") die Argumentationsbasis bildet. Entsprechend seiner skeptischen Haltung nimmt Kant gewisse allgemein überzeugende Grundanliegen an, die unter dem Satz des Widerspruchs breiteste Anerkennung genießen. Zu diesen Grundüberzeugungen aber gehört weder die Okkupation, die ebenso ein Akt der bloßen Gewalt sein kann, noch die Geltung jedes Quasi-Vertrages, worüber er auch immer abgeschlossen sein mag; denn Verträge können ebenso über Unrechtshandlungen wie über Unsinniges abgeschlossen werden. Vielmehr ist Kant in der Phase der Bemerkungen' der Meinung, daß nur ein konkretes, unmittelbar einleuchtendes, ja banales Anliegen Gegenstand allgemeiner rechtlicher Anerkennung sein kann. Daß keiner gern etwas umsonst tut, ist allerdings ein solches banales Anliegen. 94 Daher darf die Arbeitstheorie ebensowenig als ein überflüssiger Appendix der Willenstheorie aufgefaßt werden, wie auch die Ausklammerung der Willenstheorie noch kaum auf die Eigenart der Besitzlehre der M.d.S. schließen läßt. Kant meint in den .Bemerkungen', daß stillschweigendes Einverständnis über die Abhängigkeit von Dingen Eigentum wirklich macht; im Staat tun das die ausdrücklichen Verträge. Es ist nur die Frage, ob die Wirklichkeit der Verhältnisse im Staat dem moralischen Anspruch genügt, der sich mit der Arbeitstheorie verbindet. 2.6. Das Staatsrecht:
Besserung
des Staates durch
Sitten
Für Kant wie auch für Rousseau ist die Staatsgewalt die unverzichtbare Bedingung eines friedlichen Zusammenlebens. Rousseau läßt seinen Emile zum Abschluß der politischen Erfahrungen in den Reisen feststellen: 91 92 93 94
Vgl. S. 12 u. S. 20 a . a . O . , S. 2 1 3 A 6, 268 f. Vgl. o. S. 2 0 f .
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1762—1765: Das analogon rationis als Quelle der Verbindlichkeit „J'ai trouvé, qu'empire et liberté étant deux mots incompatibles, je ne pourrais être maître d'une chaumière, qu'en cessant de l'être de moi." 9 5
Kant selbst formuliert: „ D e r Zustand der Tugend ist ein gewaltsamer Zustand, er kann also nur in einem gewaltsamen Zustande des gemeinen Wesens angetroffen werden." (A 20, 104, 3 - 5 )
Nun weiß aber Kant ebensowohl aus der Zivilisationskritik Rousseaus,96 daß die bestehenden Staaten mit Hilfe ihrer Macht die gesellschaftliche Ungerechtigkeit befestigen, denn: „Alles im gemeinen Wesen geht darauf: dem Mächtigen, Reichen wider die Niedrigen, Armen zu helfen." (A 27, 1, 81, 1 2 - 1 4 )
Diese Kritik meint einmal die ungerechte Eigentumsverteilung, ,den autorisierten Raub' innerhalb des bestehenden Systems (A 27, 1, 72, 12), zum anderen aber überhaupt die Kluft zwischen dem von der Staatsgewalt garantierten positiven Recht, „der bürgerlichen Gerechtigkeit" und der „natürlichen", ein Mißverhältnis, das Kant an der Annahme bzw. Verteilung der Erbschaft eines rücksichtslos erworbenen Vermögens erläutert (A 20, 40, 1 — 7). Dieser Forderung einer natürlichen, d. h. gerechten Eigentumsverteilung steht allerdings die andere Einsicht gegenüber, daß sich ein gewisser Lebensstandard innerhalb von Staaten nur durch Arbeitsteilung und damit verbundene Vermögensunterschiede erreichen läßt: „Es ist ein gewisser Grad von Wohlfahrt bloß möglich durch viele Hände; so ist nach unsrer Politik das bloß ein florissantes Land, wo der Oberfluß auf einen Kreis von kleinem Umfange zusammengebracht ist, z. E. Frankreich floriert, denn es glänzt der Hof, die Akademie, Paris; - auf dem Lande Armut." (A 27, 1, 81, 14-18)
Sucht man den Bezugspunkt dieser Antithese, dann stößt man wiederum auf David Hume, dessen Handelstheorie Kant der Zivilisationskritik Rousseaus entgegenstellt: „Ein Reicher, der sonst nicht ungerecht ist, ist doch ein Dieb, 1) weil er dem Publiko sich ganz und auch Aufwand schuldig ist, 2) weil er seine Enthaltsamkeit bloß dadurch zeigt, daß er nicht viel Geld verwahrt. Der Luxus scheint hier zwar besser zu sein; aber Rousseau antwortet dem Hume: es ist wahr: der Luxus beschäftigt Arme; aber es würde keine Arme ohne Luxus geben." (A 27, 1, 80, 3 3 - 3 9 ) 9 7
Wie aber stellt sich Kant die Vereinbarkeit dieser widersprüchlichen Thesen vor? Das Besondere in Kants Auffassung zur Zeit der Bemerkungen' ist, daß er die Lösung dieses Problems von der Initiative der Bürger selbst erwartet: „Das Verderben des obern Standes hängt vom mittlem ab, davon kommt Unterweisung, Luxus, Pomp her: hier fange ich auch die Verbesserung an, alsdenn werden Rousseaus Gedanken schön." (A 27, 1, 39, 3 2 - 3 4 )
Da es Kant darum geht, die .natürliche Gerechtigkeit' dem positiven Recht gegenüberzustellen, da er zudem der Meinung ist, daß „ein natürlicher Mensch . . . Schuldigkeiten gegen jeden" hat (A 20, 140, 10-11), kann die Verbesserung der Zustände 95 96
97
a . a . O . , S. 856 Brandt macht weiterhin auf Addison und Fielding aufmerksam; Eigentumstheorien, a . a . O . , S. 172 8 / 9 Vgl. A 27, 1, 51, lOff. Vgl. Ritter, a . a . O . , S. 148ff.
Kant präzisiert Hume mit einem absoluten Verbindlichkeitsbegriff
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im Staat nur darin bestehen, daß die Bürger selbst den Rechtsbegriff verwirklichen. D . h. den Bürgern selbst ist aufgegeben, aufgrund ihres gemeinsamen Sinnes des analogon rationis die Egoismen untereinander auszugleichen und die notwendige Gleichheit durch gerechtes Handeln herzustellen. Die Notwendigkeit, die bestehende Ungleichheit unter den Bürgern abzubauen und die ursprüngliche Gleichheit, die „dem Wilden . . . Prinzip" ist, in der Staatsgesellschaft wieder aufzurichten, wird für Kant damit der beweisbare, d. h. rationale „Grund der Ethik" (A 27, 1, 67, 1—2). Nach Kants eigenem Beispiel bedeutet das, daß der Bürger, von dem allein Besserung des Staates zu erwarten ist, eine Erbschaft gegen die Bestimmungen des positiven Rechts allein aufgrund des natürlichen Rechtsbegriffs dann an Arme verteilt, wenn das geerbte Gut Teil des genannten autorisierten Raubes' ist. N u n setzt Kant so viel Vertrauen in seinen durch Gefühl und Verstand abgesicherten Rechts- und Gerechtigkeitsbegriff, daß er von dessen Wirkung in den Bürgern eine allmähliche Wandlung der bestehenden Staatsgewalt erwartet: „Seid allererst selbst weise, rechtschaffen und mäßig; diese Tugenden werden bald zu Thronen aufsteigen und den Fürsten auch gut machen." (A 20, 41, 9—10)
Schließt man von den Erwartungen an den Bürger auf den Grundtyp des Staates, den Kant sich vorstellt, dann kann es sich nur um einen Wohlfahrtsstaat handeln; denn dieser wird entsprechend der initiierenden Gerechtigkeit des Bürgers selbst aktive, in den Besitz einzelner eingreifende Vermögenspolitik betreiben, um unter Beibehaltung der Arbeitsteilung einen allen gemeinsamen Lebensstandard zu ermöglichen. Auf Kants Gewährsmänner bezogen heißt das, daß Hume selbst im Gerechtigkeitsbegriff Kant die Mittel an die Hand gibt, seine zivilisatorische Handelstheorie mit der Zivilisationskritik Rousseaus zu vereinbaren. Allerdings sieht Kant, daß er mit dieser Humeschen Auflösung der Antithesen entgegengesetzt zu Rousseau verfährt: „Rousseau. Verfährt synthetisch und fängt vom natürlichen Menschen an, ich verfahre analytisch und fange vom gesitteten an." (A 20, 14, 5—6)
Für eine Utopie des Contrat social, der die ursprüngliche Unabhängigkeit der Menschen garantieren soll, fehlt bei Kant jeder Ansatz. Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß Kant „die vollkommene Republik" aus „Einheit" und „Gleichheit" erwähnt (A 20, 166, 8 - 9 ) . Kants These zur Zeit der ,Bemerkungen' lautet: Private Gerechtigkeit muß dem gerechten Wohlfahrtsstaat den Weg bahnen.
2.7. Zusammenfassung und Grenzen des Standpunkts: Kant präzisiert mit einem absoluten Verbindlichkeitsbegriff
Hume
Am 31. Dezember 1765 schreibt Kant an Lamben, daß er „nach mancherlei Umkippungen" die „eigentliche Methode der Metaphysik" gefunden habe, die sich damit aber auch auf die gesamte Philosophie auswirke. Da ihm aber noch die Beispiele fehlten, um „das eigentümliche Verfahren" zu zeigen, stelle er die Metaphysik zurück und werde „einige kleinere Ausarbeitungen voranschicken . . ., deren Stoff vor mir
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1762—1765: Das analogon rationis als Quelle der Verbindlichkeit
fertig liegt, worunter die metaphysischen Anfangsgründe der natürlichen Weltweisheit und die metaphysischen Anfangsgründe der praktischen Weltweisheit die ersten sein werden." (A 10, 55 f.) Was gab Kant in der praktischen Philosophie im Gegensatz zum Jahr 1762 die Sicherheit, metaphysische Anfangsgründe dazu anzukündigen? Das Programm Kants für die projektierte Schrift zur praktischen Philosophie ist des zeitlichen Zusammenfalls wegen aus der schon erwähnten „Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen im Winterhalbjahr von 1765—1766" zu entnehmen. Nach dieser verdient nur derjenige den „Titel eines Moralphilosophen", der zu dem an sich richtig entscheidenden moralischen Gefühl taugliche Gründe anführt (A 2, 311, 17—23). Diesen Titel spricht Kant sich zweifelsohne zu, da er neben Shaftesbury und Hutcheson gerade den Gerechtigkeitsbegriff David Humes mit Hilfe der absoluten Selbstverpflichtung nach Hobbes mit der noch mangelnden „Präzision und Ergänzung" versieht (A 2, 311, 24—29). Die andere Sicherheit kommt Kant von der ,schönen Entdeckung unserer Zeiten', der „Methode der sittlichen Untersuchung" nach Rousseaus „Emile" zu (A 2, 312, 5 - 7 ) , denn „Rousseaus Buch dient die Aken zu bessern" (A 20, 9, 14). Wäre die angekündigte Schrift zustandegekommen, hätte sie 3 rational begründete Sätze vertreten, an denen Kant auch später festhielt. Es ist 1. die Erkenntnis, daß eine absolute Selbstverpflichtung im Bereich des Vertragsrechts möglich ist, wenn sich die Handlung unter einfachen kontradiktorischen Sätzen betrachten läßt. Noch in den 60er Jahren formuliert Kant: „ M a n sagt schlechthin, es ist notwendig, dem Triangel 3 Winkel beizulegen. Ebenso: es ist notwendig, ein Versprechen zu halten." (A 19, 98, R 6592)
In der Rechtslehre von 1797 heißt es dann: „ D i e Frage war: W a r u m soll ich mein Versprechen halten? Denn daß ich es tun soll, begreift ein jeder von selbst. Es ist aber schlechterdings unmöglich, von diesem kategorischen Imperativ noch einen Beweis zu führen; ebenso wie es für den Geometer unmöglich ist, durch Vernunftsschlüsse zu beweisen, daß ich, um ein Dreieck zu machen, drei Linien nehmen müsse (ein analytischer Satz), deren zwei aber zusammengenommen größer sein müssen, als die dritte (ein synthetischer, beide aber a priori)." (A 6, 273, 15—22) 9 8
2. erkennt Kant, daß die Möglichkeit des Rechtsbegriffs und damit der Wahrhaftigkeit überhaupt Bedingung der Geselligkeit ist. Das formuliert er noch im Jahr der Erscheinung der Rechtslehre folgendermaßen: „ D e n n sie" (die Lüge als vorsätzlich falsche Deklaration) „schadet jederzeit einem anderen, wenngleich nicht einem anderen Menschen, doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht." (A 8, 426, 2 8 - 3 0 ) " 98
99
Die Unbeweisbarkeit dieses Satzes heißt nicht, daß hier metaphysische Annahmen zugrunde liegen. Das Beispiel aus der Geometrie zeigt, daß es Kant um die Rückführung auf Gesetze des Denkens geht. Vgl. die Formulierung in der Rechtslehre, die das Verhältnis zur Zeit diskutiert. A 6, 254, 1 6 - 2 4 In „ Ü b e r ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen". Kants Selbstkritik an den Formulierungen der Rechtslehre wäre genauer aus der Absicht und Eigenart der Rechtslehre selbst zu interpretieren. Zur Sache richtig Ritter, a . a . O . , S. 1 8 9 5 0 1 . Das Naturrecht Feyerabend vertritt den rigorosen Standpunkt des zitierten Aufsatzes, S. 47f.; vgl. u. S. 1 6 9 3 6 1
Kant präzisiert Hume mit einem absoluten Verbindlichkeitsbegriff
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3. Nach dem Fall des kausal bestimmten Wölfischen Naturrechts ist es eine notwendige Folgerung, daß ein Wille auch ohne kausalen Erfolg in der Natur gut ist. 1 0 0 Diese Erkenntnisse Kants aber geben keinen Anlaß, nur einen Schritt über das Vorlesungsprogramm von 1765 hinauszugehen. Im Gegenteil ist die ganze praktische Philosophie, deren obersten Punkt das analogon rationis bildet, wie bei Hume zwischen moralischem Gefühl und der Tendenz „to promote public utility" 1 0 1 eingespannt: „ D i e Süßigkeit, die wir darin finden, das Wohltun gegen Menschen zu achten, ist eine Wirkung von dem Gefühl des allgemeinen Wohls, was im Zustande der Freiheit stattfinden würde." (A 20, 89, 1 1 - 1 3 ) „Bonitas voluntatis ab effectibus et earum immediata repetita est vel privatae vel publicae utilitatis, et prior rationem habet in indigentia, posterior in potentia boni, prior propriae utilitatis, posterior communis utilitatis; instinctus ambo simplicitati naturali conformes." (A 20, 157, 1 - 4 )
Daß darin aber eine Priorität des Rechts vor der Moral gegeben ist, geht einerseits aus Humes Auffassung selbst hervor, andererseits aus dem rechtlichen Verbindlichkeitsbegriff. Dies Ergebnis bestätigt zudem im ganzen Umfange Klaus Reichs Feststellung, daß es nicht Rousseau ist, der die Prinzipien von Kants praktischer Philosophie mit Ausnahme des anthropologischen Aspekts beeinflußt. 102 Die angekündigte Schrift kam nicht zustande; dafür lagen am 31. Januar 1766 der Zensur die „Träume eines Geistersehers, erläutert durch die Träume der Metaphysik" gedruckt vor. 1 0 3 Noch für das Wintersemester des gleichen Jahres 1766/67 kündigte Kant seine erste Vorlesung über Naturrecht 104 an, im darauffolgenden Sommersemester las er sie wirklich. 1 0 4 Angesichts dieser Entscheidung stellt sich die Frage: Warum las Kant, wenn er David Hume so sehr schätzte, nicht schon eher über Naturrecht, da dieser gerade die Rationalität der Gerechtigkeit aus der Eigenart juristischer Argumentation schöpft? — Das Anliegen, mit Rousseau „die tief verborgene Natur" (A 20, 58, 17) des Menschen aufzusuchen, führt Kant genau in die entgegengesetzte Richtung. Kant interessieren nicht naturrechtliche Deduktionen, sondern das, was dem Handeln des Menschen als immer Gleiches zugrunde liegt: „Zwei Probiersteine des Unterschiedes des Natürlichen vom Unnatürlichen: 1. O b es demjenigen, was man nicht verändern kann, angemessen sei, 2. ob es allen Menschen könne gemein sein oder nur wenigen mit Unterdrückung der übrigen." (A 20, 35, 1—4)
Was aber brachte Kant dazu, diese Blickrichtung zu ändern? 100 101 102 103 104
A 20, 168, 7 - 9 ; A 20, 138, 1 2 - 1 6 ; A 20, 148, 8 - 1 6 ; A 19, 23 R 6484; A 27, 14, 2 5 - 3 6 a . a . O . , S. 194 Klaus Reich, Rousseau und Kant, Tübingen 1936, S. 8 - 1 0 Zur Entstehungsgeschichte A 2, 501 Emil Arnoldt, Kritische Exkurse im Gebiete der Kant-Forschung, Königsberg 1894, S. 545 f. u. S. 644
3. 2. Phase 1766—1768: Der kompetente Richter als notwendige Bedingung des Rechts 3.1. Die Rechtlosigkeit des Urteils in eigener und der formale Rechtsstaat
Sache
Die ältesten, sicher nach ι (1766—68) datierten Reflexionen in Kants Handexemplar des „lus Naturae" Achenwalls zeigen eine Rechtsbetrachtung, die dem Standpunkt der (Bemerkungen' eindeutig widerspricht. Kants erste These lautet, daß ein Urteil in eigener Sache, selbst wenn es mit ausreichender Macht versehen ist, der Rechtskraft entbehrt: „Iudicium de iure cuiusdam alteri Obligatorium est competens iudicium, competens ad effectum (ëiuris) sufficiens est validum. Q u o n i a m in re propria iudicium neminis adversum alteram est competens neque verum iudicium ad praestandum iuris effectum necessario sufficiat, omne ius in statu naturali est effectu vacuum. Caret enim iudicium quodlibet effectu iuris, etiamsi comitatum sit vi sufficienti at non obligatoria. Ergo iudicia omnia in hoc statu sunt idealia. O m n i s obligatio valida nititur subiectione, nempe sub legibus cogentibus; ergo summus imperans valide non obligatur neque delinquere potest in subditum nec hic liberatur ullo modo delieto imperantis." (A 19, 444, 4 - 1 4 , R 7521)
In den ,Bemerkungen' und in der Herdernachschrift war Kant davon ausgegangen, daß die Bürger das Recht unabhängig von der Staatsgewalt selbsttätig verwirklichen, d. h. die Handlung eines anderen allein aufgrund der stationes morales intellectuales rechtskräftig beurteilen und, mit welchen Mitteln auch immer, dieses rechtmäßig geglaubte Urteil durchsetzen. Die zitierte Reflexion stellt im Gegensatz dazu fest, daß jede rechtliche Verbindlichkeit eine Unterwerfung unter Zwangsgesetze voraussetzt. Kants Argumentation läßt sich in folgende Sätze fassen: 1. Das zwar einer Rechtsregel entsprechende private Urteil (verum iudicium) ist ohne Macht äußerlich wirkungslos. 2. Einem mit ausreichender Macht begleiteten privaten Urteil gegenüber ist eine Rechtsregel äußerlich wirkungslos (caret effectu . . . iuris). Aus beiden Sätzen geht hervor, daß Rechtsregel und Macht zur Entstehung eines wirklichen äußeren Rechtsverhältnisses in unauflöslicher Wechselbeziehung stehen. Vorhanden aber kann diese notwendige Verknüpfung nur im Staat sein, denn dieser gerade besteht in der Verbindung von Gesetzen mit Macht zu Zwangsgesetzen. Daß damit die Staatsgewalt unwiderstehlich sein muß und nicht vertraglich auf bestimmte Fälle eingeschränkt sein darf, ist eine notwendige Folgerung. Kants zweite These ist, daß angesichts der Notwendigkeit des unwiderstehlichen Richters dem Naturzustand nicht der gesellschaftliche, sondern nur der bürgerliche entgegengesetzt werden darf: „Status naturalis parum congrue opponitur sociali. Status enim naturalis potest esse vel solitudinis vel societatis, dummodo omnium actiones non habeant iudicem competentem nisi iudicium privatum." (A 19, 446, R 7523)
Die Selbstparodie in den .Träumen eines Geistersehers'
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N a c h den ,Bemerkungen' wiederum wäre diese Konsequenz nicht einzusehen: Folgen die Individuen dem analogon rationis und gleichen sie ihre Egoismen aus, dann kann in der Konstruktion durchaus eine geordnete Gesellschaft entstehen, die — ohne Staatsgewalt — zwischen Vereinzelung und Staatsgesellschaft anzusiedeln wäre. Die dritte These lautet nun, daß die notwendige Staatsgewalt nicht der Vermögenumschichtung dient, sondern allein der Sicherung der Rechte eines jeden Gesellschaftsmitgliedes: „Vis omnium unita ad securitatem cuiusque iuris praestandam." (A 19, 446, 25, R 7526)
D . h. Kant ersetzt den Wohlfahrtsstaat durch den formalen Rechtsstaat. Ist der Ansatzpunkt der Kritik noch festzustellen?
3.2. Die Selbstparodie in den ,Träumen eines Geistersehers' Im 2. Hauptstück des 1. Teils dieser Satire über Swedenborg weicht Kant vom Weg ab, u m darüber zu spekulieren, ob aus Beobachtung auf die „systematische Verfassung der Geisterwelt" geschlossen werden kann. (A 2, 333, 28ff.) Kant knüpft in seinem U m w e g an seinen Gedanken vom sensus communis logicus — moralis an, da „selbst in der uneigenützigsten und wahrhaftesten Gemütsart" (die sich eigentlich nach eigenen und nicht nach fremden Grundsätzen richtet) „ein geheimer Zug verspürt wird, dasjenige, was man f ü r sich selbst als gut oder wahr erkennt, mit dem Urteil anderer zu vergleichen, um beide einstimmig zu machen." (A 2, 334, 15—18) Er verweist „auf eine empfundene Abhängigkeit unserer eigenen Urteile vom allgemeinen menschlichen Verstände" (A 2, 334, 21—22) und formuliert damit kaum verhüllt nichts anderes als seine eigene skeptische, das Urteil durch Vergleich verzögernde Theorie des gesunden Menschenverstandes. D e r Verfasser aber will sich bei dieser ,nicht unerheblichen Betrachtung' nicht aufhalten, sondern sich seiner eigentlichen Absicht in dieser Satire zuwenden. Diese eigentliche Absicht besteht darin, diese „Art von Vernunfteinheit" (A 2, 334, 23—24) mit dem Begriff der Kraft zu verbinden. So habe Newton aufgrund seines mathematischen Beweises die Gravitation angenommen, ohne den Grund für diese Anziehungskraft zu wissen. Die Beobachtung zeige, daß die „sittlichen Antriebe . . ., das starke Gefühl der Schuldigkeit und das schwächere der Gütigkeit" „in dem Wollen anderer außer u n s " liegen. (A 2, 335, 2 ff.) N u n zieht Kant fragend die Folgerung, daß man diese nötigende, verbindende „geheime Macht" (A 2, 334, 32) als .tätige Kraft' verstehen könne, „so daß das sittliche Gefühl diese empfundene Abhängigkeit des Privatwillens vom allgemeinen Willen wäre . . ., dadurch die immaterielle Welt ihre sittliche Einheit erlangt". (A 2, 335, 26—30) D a ß diese Verknüpfung des moralischen Gefühls und des gesunden Menschenverstandes in praktischer Hinsicht als allgemeiner Wille mit der Vorstellung einer physikalischen Kraft wirklich Satire ist, zeigt der Brief an Moses Mendelssohn vom 8. April 1766:
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1766—1768: D e r kompetente Richter als notwendige Bedingung des Rechts „ M e i n Versuch von der Analogie eines wirklichen sittlichen Einflusses der geistigen Naturen mit der allgemeinen Gravitation ist eigentlich nicht eine ernstliche Meinung von mir, sondern ein Beispiel, wie weit man und zwar ungehindert in philosophischen Erdichtungen fortgehen kann, wo die data fehlen." (A 10, 72, 1 7 - 2 1 )
Allerdings macht nachdenklich, daß Kant eine naturwissenschaftliche Modellbildung in der praktischen Philosophie nicht fremd ist. Einmal zeigt er statistisch an Sterbetafeln die Abhängigkeit der freien Handlungen von einer großen Ordnung im ,Beweisgrund' 1 , zum anderen versucht er in den Beobachtungen' der durchschnittlichen Verteilung von Handlungen nach Grundsätzen oder Gefühl in Analogie zu den Instinkten einen Sinn abzugewinnen (A 2, 227, 4—15).2 Liegt es da nicht nahe zu schließen, daß Kant eigene Vorstellungen parodiert? Die spätere Selbstkritik in der schon angeführten Vorlesungsnachschrift Powalski grenzt das Problem ein, um das es Kant geht. Dort verwundert das Lob, das er Christian Wolff zollt: „ W i r können uns bedingte Vollkommenheiten denken, d. i. die eine Beziehung auf wahre Vollkommenheit haben. Wolff hat das System der Vollkommenheit im logischen Sinn behauptet und Plato die Idee der Vollkommenheit. Wolff hat als ein Philosoph gedacht, er baute sein System nicht auf sinnliche und subjektive Gründe, er verhütete dadurch die unreinen Triebfedern der Moralität. Indessen ist es nicht gut von ihm, daß er nicht die Idee der wahren Vollkommenheit voraussetzte, denn wenn das nicht geschieht, so weiß man nicht, ob eine respektive Vollkommenheit allgemein gut genannt werden k a n n . " (A 27, 1, 110, 21—29) 3
Blickt man nun in die Herdernachschrift zurück, dann genießt Wolff nicht die Ablehnung, die man nach der vernichtenden Kritik des Verbindlichkeitsbegriffs in der Preisschrift erwartet hätte. Denn die zu schreibende Ethik wird nicht im Gegensatz, sondern in Ergänzung zu den rational erkennbaren Vollkommenheiten gefordert: „ E i n e Ethik vor den Menschen, bestimmt in seiner Natur, ist noch zu schreiben, nach seinen Erkenntniskräften und Fähigkeiten. — Denn durch die Vernunft kann man auch vernünftige Vollkommenheiten erkennen, die sich vor ein höheres Wesen zwar, aber vor ihn nicht passen: hier untersuche man seine Schranken." (A 27, 1, 62, 21—26)
D . h . Kant will die Wölfische Philosophie 1. auf einen unerweislichen, unzergliederlichen Grund der Verbindlichkeit zurückführen und 2. dessen Theorie des menschlichen Handelns auf realistische Möglichkeiten einschränken. In der Nachschrift Powalski nun wirft Kant Christian Wolff nicht mehr wie in der Herdernachschrift vor, daß er alle Sittlichkeit an der Naturordnung orientiere4 und die Grenzen der Menschen übersehe, sondern daß trotz der Vorzüge seiner rationalen praktischen Philosophie deshalb der Wert der Handlung nicht festgestellt werden könne, weil die „Idee der wahren Vollkommenheit" fehle. Der Begriff einer Idee oder eines Ideals spielt in den ,Bemerkungen' oder der Herdernachschrift keine Rolle, es sei denn synonym für Gedanke oder Vorstellung. 5 Kant muß also entdeckt haben, daß das 1 2 3
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S.o.S. 7 S . o . S . 17 Vgl. das L o b , das Kant Wolffs mathematischer Methode in der praktischen Philosophie zollt, s. u. S. 172 S. o. S. 8 A 20, 35, 14; A 20, 158, 24; A 27, 1, 23, 6 - 1 2 ; A 27, 1, 33, 8
Die Selbstparodie in den ,Träumen eines Geistersehers'
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Programm der Ethik der Herdernachschrift noch lange nicht die Aporie von 1762 auflöst und den Wert der sittlichen Handlung, d. h. deren sittliche Notwendigkeit konstituiert. Der Irrtum muß im Standpunkt der Bemerkungen' selbst liegen. Die erste Aufgabe, Wolffs kausale praktische Philosophie zu überwinden, führte Kant dazu, das menschliche Handeln von einem vernunftergänzten Sinn abhängig zu machen, d. h. von einem inneren Handlungszwang. Die zweite Forderung läßt ihn den Menschen gerade nach dem untersuchen, was sie wirklich schon tun, nämlich innerhalb der Grenzen anthropologischer Handlungszwänge. D. h. Kant löst sein Problem mit nichts anderem als mit einer doppelten Zwangsordnung. N u n stellt Kant in der oben angeführten Stelle der Beobachtungen' selbst fest, daß die der Statistik gemäße Handlung aus moralischem Gefühl „einzeln nicht als ein sonderliches Verdienst der Person kann angerechnet werden" (A 2, 227, 11 — 12), was allerdings bedeutet, daß eine Berechnung des moralischen Werts einer Handlung, wie Kant sie im „Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen" von 1763 vornimmt (A 2, 200, 4—22) von selbst illusorisch wird, da aus einer Theorie von Handlungszwängen nur eine Theorie der Abhängigkeit, aber nicht die eines moralischen Werts entstehen kann. Eine Abhängigkeit aus moralischem Sinn und anthropologischem Verhaltenszwang bildet wiederum eine Analogie zur angegriffenen sittlichen Abhängigkeit von kausaler Naturordnung: Und eben den eigenen Irrtum, Sittlichkeit aus rationalen Gefühlszwängen herleiten zu wollen, d. h. seinen Irrtum wiederholt zu haben, parodiert Kant im Gravitationsmodell der ,Träume eines Geistersehers'. Die Konsequenz schlägt sich in den Reflexionen nieder, die die Akademieausgabe der Phase η zuordnet. Reflexion 6593, die mit ihrem Bezug auf Hobbes sicher nach i, d. h. später als 1765 zu datieren ist, handelt von den Idealen in der Betrachtung des Menschen, Reflexion 6584 zählt solche für die Ethik auf und diskutiert deren Verhältnis untereinander und zur Realität (A 19, 96, 6—12). Typisch für Kants Erwägungen dürfte Reflexion 6581 sein, die von der Behauptung des moralischen Gefühls zur Erörterung eines absoluten Maßes überleitet. Welche Bedeutung aber hat die Selbstparodie Kants für das Recht? Kant spricht am Schluß der Darstellung des Gravitationsmodells von einer „Parteilichkeit": „ D e n n es scheinen in diesem Falle die Unregelmäßigkeiten mehrenteils zu verschwinden, die sonst bei dem Widerspruch der moralischen und physischen Verhältnisse der Menschen hier auf der Erde so befremdlich in die Augen fallen." (A 2, 335, 31-336, 1)
Einen solchen Widerspruch bildeten die Ungerechtigkeiten der Zivilisation und die Forderung der natürlichen Gerechtigkeit. Kant versuchte diesen Widerspruch eben mit Hilfe der Wirkung des analogon rationis zu lösen, d. h. mit einem Modell selbsttätiger rechtlicher Gravitation innerhalb der einzelnen Egoismen. Wenn sich in der Moral ohne ein Ideal das Gute der Handlung nicht bestimmen läßt, dann ebensowenig die rechtliche Handlung ohne einen kompetenten Richter, der die Rechtlichkeit der Handlung nach Rechtsregeln feststellt. Ist demnach die Handlung, die die Menschen aus dem inneren Zwang des Rechtsgefühls heraus tun, nicht eo ipso recht, dann müssen sie in ihren Handlungen zur Übereinstimmung mit der Rechtsregel
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1766—1768: Der kompetente Richter als notwendige Bedingung des Rechts
gezwungen werden: D. h. der Zwang des privaten Rechtsgefühls muß durch den gesetzmäßigen Rechtszwang ersetzt werden. Kant muß erkannt haben, daß er gegen sein eigenes Urteil, daß die Menschen s o c i a b i l e s sind, d . h . das Recht verwirklichen können, in den ,Bemerkungen' die Menschen s o z i a l dargestellt hat, daß sie nämlich das Recht tatsächlich durch einen inneren Sinn verwirklichen. In der Ethik ergibt sich aus Kants Selbstkritik das Maß eines Ideals, an dem der Wert der Handlung zu messen ist, im Recht aber das Urteil und der Zwang einer unwiderstehlichen Staatsgewalt. Aus der Parodie der sittlichrechtlichen Gravitation treten Recht und Moral getrennt hervor. Was aber bewog Kant, Achenwall als Autor für seine Naturrechtsvorlesung zu wählen? 3.3. Achenwalls
Voraussetzungen bei den Coccejis und Heinrich Köhler und die nova ratio in der Deduktion des strengen Rechts
Die Erläuterung von Kants Wahl setzt die Charakteristik des Achenwallschen Kompendiums voraus. Nun nennt Christian Ritter Gottfried Achenwall einen Autor, der „— über Gundling — stark von Thomasius abhängig" ist. 6 Trifft dieses Urteil zu? Es gibt eine von Kant gewissermaßen autorisierte Darstellung der Zusammenhänge innerhalb der Entwicklung besonders der deutschen Naturrechtslehre, nämlich die Gottlieb Hufeland im „Versuch über den Grundsatz des Naturrechts" 1785 gegeben hat. Kant lobt in seiner Rezension ,die historische Ausführlichkeit' und ,die kritische Genauigkeit' in der Darstellung Hufelands, die in dieser Form eine „angenehme Erleichterung" für den bedeutet, der „das Ganze alles bisher in diesem Fach Geschehenen übersehen . . . möchte". (A 8, 127, 15—16, 21—23)7 Hufeland pflichtet in seinen historisch-kritischen Kapiteln zwar der allgemeinen Meinung bei, daß mit Nicolaus Hieronymus Gundling eine neue Epoche in der Geschichte des Naturrechts anfange, da dieser „das Naturrecht eigentlich auf diejenigen Rechte und Pflichten eingeschränkt hat, welche mit Zwang verbunden sind", 8 grenzt dieses Urteil aber in dreifacher Hinsicht ein. Erstens hätten schon die antiken 6 7
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a . a . O . , S. 40f. Es fällt auf, daß Kant unter den 27 aufgezählten Naturrechtslehrern bei Hufeland Rousseau nicht nennt, obwohl dieser mehrfach deutlich behandelt und zitiert wird (S. 104—107, 173, 181 f., S. 184, 198, 205). Hufelands Kritik zu Rousseau lautet folgendermaßen: „Sonst aber hat er darin Ähnlichkeit mit Hobbes, daß er in seinem Raisonnement über den Zustand vor dem Staat treffliche Prämissen zum Staatsrecht gibt, ja über das Staatsrecht selbst viel Schönes sagt, hingegen das Naturrecht leugnet, weil es im Naturzustande nicht statthabe, und dennoch sagt er wieder an andern Orten: „Das erste natürliche Gesetz für den Menschen ist über seine eigne Erhaltung zu wachen." Allein solche Widersprüche ist man von ihm gewohnt." Gottlieb Hufeland, Versuch über den Grundsatz des Naturrechts, Leipzig 1785, S. 106f. Wie sehr diese Kritik den Rezensenten selbst betrifft, wird zu zeigen sein: nur wollte Kant als ein solcher nicht mit Elementen seines eigenen Systems argumentieren und Hufelands Kritik weder zustimmen noch widersprechen. S. A 8, 129, 33ff. a . a . O . , S. 14
Achenwalls Voraussetzungen und die nova ratio in der Deduktion des Rechts
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Philosophen und gerade auch Grotius sehr wohl den Unterschied zwischen rechtlichen und moralischen Pflichten beachtet; 9 zweitens wäre Thomasius die Ehre, die „sein Schüler Gundling durch geringe Mühe erworben hat", leicht zugekommen, wenn er im Anhang zu seinen „Fundamenta Iuris Naturae et Gentium", in den „Annotatis ad Institutiones Iurisprudentiae Divinae", das Naturrecht nicht unter den drei Prinzipien des iusti, honesti und decori abgehandelt hätte, sondern nur unter dem des iusti. Drittens sei das oberste Prinzip Gundlings, des geselligen und tugendhaften Lebens wegen vor allen Dingen den Frieden zu suchen, so unschlüssig, daß sich eine Kritik erübrige. 10 D. h. Hufeland sieht die eigentliche Bedeutung Gundlings nur darin, daß dieser zwei Bereiche der praktischen Philosophie, deren Unterschied schon lange bekannt war, in zwei getrennten Büchern zu behandeln beginnt. Da Hufeland selbst sich die Aufgabe stellt, eine neue Theorie des Zwangsrechts zu entwerfen und sich in dieser systematischen Trennung von Recht und Moral mit den meisten älteren und neueren Naturrechtslehrern unter die Nachfolger Gundlings einreiht, 1 1 liegt das Gewicht seiner Beurteilung einzelner Systeme nicht in deren äußerer Einteilung, sondern in deren Begründung des Zwangsrechts. Dem Kompendium Achenwalls spricht Hufeland zwar das höchste philosophische Niveau ab, betrachtet es aber seiner Beliebtheit wegen als Bindeglied zwischen den älteren und neueren Naturrechtslehrern. 12 Interessant ist, daß er Achenwall nicht etwa von Thomasius abhängig macht, sondern von Heinrich Köhler und Heinrich und Samuel Cocceji. 1 3 Diese Einordnung akzentuiert Achenwall selbst noch dadurch, daß er in seiner kurzen Einführung in die Geschichte des Naturrechts Gundling gar nicht erwähnt, sondern die Trennung von Recht und Moral vor allem auf Heinrich Cocceji zurückführt. 1 4 Da Achenwall in der äußeren Einteilung wie Gundling verfährt, ist erstaunlich, daß er ebenfalls Heinrich Köhler und Christian Wolff außerordentlich lobt, obwohl letzterer den diametral entgegengesetzten Standpunkt vertritt, indem er gegen Gundling das Naturrecht als praktische Universalwissenschaft abhandelt. Wie argumentieren die von Achenwall hervorgehobenen Coccejis und Heinrich Köhler?
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a . a . O . , S. 14 u. 16; vgl. Coccejis u. S. 78 Hufeland, a. a. O . , S. 93; Gundling, a. a. O . , 2, 18. Gegen diesen Satz nach Hobbes, Leviathan 1, 14, als Grundlage des Naturrechts polemisiert schon Thomasius; die Einschränkung „ubi haberi potest" sei ein einfacher Vorwand für den Krieg, a . a . O . , 1, 6, 18. Aufgrund dieser Kritik kann man nicht, wie Ritter, a . a . O . , S. 96 1 0 1 , es tut, das oberste Prinzip Gundlings neben die Pflicht bei Thomasius stellen, den äußeren Frieden nicht zu stören, a . a . O . , 1, 4, 74. a . a . O . , S. 25 a . a . O . , S. 107. Damit stellt er Achenwall auf die gleiche Stufe mit Heinrich Cocceji, dem er vorwirft, daß er „zu sehr das positive Recht liebte," a . a . O . , S. 94 a. a. O . , S. 98f., S. 108f., S. 142, S. 155 „Henricus Coccejus ex novo fonte derivare praecepta iuris naturalis, eiusque limites, a reliquarum disciplinarum moralium rationibus sollicitius distinctos, primus constituere coepit." I . N . , 1, S. 47 Achenwall beruft sich entsprechend in der Vorrede zur 3. Auflage des I.N. für die scharfe Trennung von Recht und Moral zwar auf Gundling und zwei andere Schüler des Thomasius,
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1766—1768: Der kompetente Richter als notwendige Bedingung des Rechts
Samuel Cocceji widmet die 10. Dissertation der „Introductio ad Henrici de Cocceji Grotium Illustratum continens dissertationes prooemiales X I I " von 1748 der Darstellung der Prinzipien seines Vaters. 1 5 Heinrich Cocceji nimmt als oberstes Prinzip des Naturrechts den Willen Gottes an. 1 6 Begründet wird dieses Prinzip damit, daß von Natur alle Menschen gleich seien und daher an sich kein Recht besäßen, sich gegenseitig einzuschränken und gegenseitig rechtlich zu hindern; dieses Recht müsse ihnen von Gott, dem Schöpfer der Natur, verliehen worden sein. Das Naturrecht habe seinen Namen vom Urheber der Natur, die Philosophen nennten Gott auch die Natur selbst. An dieser Nahtstelle wird deutlich, daß Heinrich Cocceji unter Gottes Willen die Formulierung der Naturrechtsableitung der Institutionen versteht, 1 7 unterstützt von Stellen aus Ciceros „ D e legibus", 1 8 wie es einmal deutlich in Samuel Coccejis Verteidigung dieses Prinzips u. a. gegen Thomasius 1 9 heißt: „Mihi ex potentia mere naturali nulla agendi licentia sequi videtur, quia hi actus cum brutis communes nobis sunt, et ad ius naturae pertinent quod natura omnia ammalia docuit."20 (Hervorhebung von mir)
D a ß die Coccejis mit dem Rechtsprinzip des Willens Gottes das Recht vom Trieb zur Geselligkeit befreien wollen, ist in anderem Zusammenhang gezeigt worden. 2 1 Die 15. Position: „ A iure longe differt virtutis n o t i o " , 2 2 ohne die das Naturrecht nicht recht begriffen werden könne, 2 3 wird folgendermaßen begründet: Das Recht fließt aus Gottes befehlendem Willen, die Tugend aus Gottes erlaubendem (voluntas praeceptiva — permissiva). 2 4 Seines Vorschriftscharakters wegen bezieht sich das Recht auf das Seine eines anderen unter der Regel des Suum cuique tribue, die Tugend bezieht sich auf die Anwendung unserer eigenen Vermögen. Dem Recht entspricht z . B . im Rechtsgeschäft die Verbindlichkeit des Ersatzes, die Tugend überläßt den Ersatz dem Gutdünken, von seinen eigenen Vermögen zum Nutzen des anderen Gebrauch zu machen. 2 5 Recht und Tugend unterscheiden sich schließlich darin, daß man zur Beobachtung des wertneutralen Naturrechts gezwungen werden kann, nicht aber zur Tugend, die allein verdienstlich ist und moralischen Wert mit sich führt. 2 6 Bei dieser Unterschei-
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Treuer und Gebauer, wiederum aber vor allem auf die Coccejis, ,die aus mehr als einem Grund an erster Stelle hätten genannt werden müssen'. I.N. 1, S. V i f . Von Thomasius meint er, daß dieser ,vieles noch nicht Gesagte, aber nicht immer Besseres' vorgetragen habe. I . N . 1, S. 47 Der „Grotius Illustrants" erschien in 4 Bänden Halle 1744—52 a . a . O . , 10, 6, Pos. III: „Ius hoc prohibendi competit soli rerum creatori et cui is concessum id voluit." Kommentar: „Concessum autem voluit magistratibus, unde magistratus seu summae potestates vicarii dei vocantur." Inst. 1, 2 a. a. O . , 10, 6, c; Cicero, De leg. 2, 8ff. De rep. 3, 33 S. u. S. 44 21 S. o. S. 23 a . a . O . , 10, 21, 1 2 3 a . a . O . , 10, 18a a . a . O . , 10, 18 2 5 a . a . O . , 10, 18c a . a . O . , 10, 18b a . a . O . , 10, 18c: „Distinguendi sunt actus mere indifferentes ab illis quorum alii aliis sunt meliores et perfectiores et adeo laude ac honore praemioque digniores." — Additio S. 204
Achenwalls Voraussetzungen und die nova ratio in der Deduktion des Rechts
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dung v o n Recht und Tugend verweist Samuel Cocceji wiederum auf Cicero und Macrobius.27 Samuel Cocceji versucht seinerseits den strengen Rechtsbegriff des Vaters noch w e i t e r zu präzisieren, indem er den Satz: lus suum cuique tribuere, gemäß dem jeden einschränkenden Willen Gottes zur alleinigen Regel des Naturrechts erhebt: „Definimus igitur ius naturae: Iussum, praeceptum ac legem naturae eiusque au tons, per rationem humano generi declaratam, ut ius suum cuique (id est tum deo, tum hominibus naturali ratione quaesitum) tribuat, idque metu poenae." 2 8 Heinrich K ö h l e r , Schüler von Rüdiger, Thomasius, Gundling und Leibniz, einer der ersten W o l f f i a n e r in J e n a , 2 9 Ubersetzer und Herausgeber von Leibniz' Lehrsätzen über die M o n a d o l o g i e , 3 0 der seine „Iuris Naturalis eiusque comprimís cogentis m e t h o d o systematica propositi Exercitationes VII" schon 1729, also 11 Jahre v o r Christian W o l f f s Naturrecht — 1 7 3 7 folgten die „Iuris Socialis et Gentium ad lus Naturale
revocati
Specimina"
—, veröffentlichte, sagt von seinem Prinzip
des
Zwangsrechts: „Eundem finem habet Gundlingii cultus pacis externae." 3 1 Dieser Satz ist typisch f ü r die Aufgabe, die Heinrich Köhler sich gestellt hat, nämlich mit W o l f f i s c h e n Mitteln ein strenges Zwangsrecht nach der Einteilung Gundlings zu begründen. D e r erste Schritt dazu ist die Beseitigung des affektiven Verbindlichkeitsbegriffs, den Thomasius und Gundling vertreten, durch den W o l f f s aus vernünftigen Motiven. W ä h r e n d Thomasius und Gundling den Menschen an die Mächte von Furcht und H o f f n u n g ausgeliefert sehen, 3 2 verknüpft Köhler am Beispiel der regierten Bürger die Handlung mit der vernünftigen Vorstellung der Handlungsfolgen: „Si abstraxeris a principe et civibus, prodibit haec notio universalis quam debemus Wolffio: obligatio moralis est connexio motivorum cum actionibus." 33 Eine entsprechende Verbesserung in direktem Bezug auf Gundling 3 4 bringt K ö h l e r 27
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a. a. O . , Additio S. 205; Cicero Pro Balbo 3, 8; Pro Rabirio 11; De rep. 6, 13; Macr. Comment, 1, 8, 2 a . a . O . , 12, 51 Heinrich Köhler, geb. 1685 in Weißenfels, gest. 1737 in Jena, ging 1706 mit Rüdiger nach Halle. Er hatte in Wien „nahen Zutritt" zu Leibniz; seit 1720 in Jena. Carl Günther Ludovici, Ausführlicher Entwurf einer vollständigen Historie der Wolffischen Philosophie, 3, Leipzig 1738, S. 166ff. Des Herrn Gottfried Wilhelm von Leibnitz Lehrsätze über die Monadologie, imgleichen von Gott und seiner Existenz, seinen Eigenschaften und von der Seele des Menschen, Frankfurt und Leipzig 1720. Ferner mit einem Vorwon von Christian Wolff: Ubersetzung der Leibnitzischen und Clärckischen merkwürdigen Schriften, Frankfurt und Leipzig 1720 Exerc. 880 Thomasius, a . a . O . , 1, 4, 60f.; Gundling, a . a . O . , 1, 47f. Charakteristisch ist die Strafrechtstheorie des Thomasius, a . a . O . , 1, 7, 55: „Imo, ubi indubie unum idemque agendi principium est absque ulla übertäte, ibi imputatio, norma poena, praemium applicali potest. Ita bestias iterum punimus, si quid indecore fecerint: praemium ipsis damus, si quid decore fecerint." Exerc. 300; Köhler veröffentlichte 1723 eine Dissertation zur Erlangung der Magisterwürde De obligatione morali, Ludivici, a . a . O . , S. 169 In den Exerc. zähle ich 23 direkte Bezüge auf Gundling, in den Spec. 21.
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1766—1768: Der kompetente Richter als notwendige Bedingung des Rechts
ζ. B. im Staatsrecht und im Eherecht an, indem er die Staatslenkung als Handlungskomplex unter vernünftigen Zielsetzungen begreift 35 und die affektive Ehetheorie Gundlings auf eine vernünftig nachvollziehbare Weltordnung bezieht. 36 Mit diesem auf Bewußtsein beruhenden Verbindlichkeitsbegriff entsteht für Köhler ein neuer Gegensatz zum Zwangsrecht. Der Rechtszwang, der nach Köhler notwendig ist, weil ohne diesen keine Selbsterhaltung stattfindet, 37 muß aufgrund der Verbindlichkeit des Zwingenden auch da ausgeübt werden, wo das Bewußtsein von Verbindlichkeit im Täter fehlt. 3 8 Das Prinzip des Rechtszwangs ist nun das Suum cuique tribue, in dem Sinne, daß die eigene Rechtssphäre nicht überschritten werden soll. Bei Thomasius spielt dieser Satz gar keine Rolle, bei Gundling erscheint er mit Neminem laede dem Prinzip des äußeren Friedens untergeordnet. 39 Daher ist es wenig erstaunlich, daß Köhler sich für sein oberstes Prinzip des Zwangsrechts auf Heinrich Cocceji beruft: „Hinc iura naturalia ultra custodiam τ ο suum cuique non sunt extendenda. Hue quadrat positio beatus Henricus a Cocceji: Facultas tantum data est in id, quod nostrum est." 4 0
D. h. Heinrich Köhler versucht mit Christian Wolff und Heinrich Cocceji die unzureichende Zwangsrechtstheorie Gundlings zu verbessern. Nun liegt in Köhlers Interpretation Gundlings allerdings eine typische Umkehrung verborgen. Während bei Gundling sich alle Rechtshandlungen als Mittel dem äußeren Frieden unterordnen, ist bei Köhler die Rechtshandlung, d. i. die Bewahrung der Rechtssphäre, selbst der Zweck, dem der äußere Friede erst als Ergebnis folgt. Der Grund für diese Umkehrung ist darin zu sehen, daß für Köhler wie für Wolff das physische Friedensbedürfnis bei Gundling nicht Grund der Rechtshandlung sein kann. Vielmehr bedarf auch die mit Zwang verbundene Rechtshandlung einer rationalen Verbindlichkeit, und die Erkenntnis, die diese Handlung auch als äußerlich verbindliche erst möglich macht, liegt in der Vernunftregel, daß die Handlung die Grenze des Seinen nicht überschreiten darf. 41 35 36 37
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Spec. 4; 9; 1 1 2 . Gundling, a . a . O . , 33, 30 Spec. 1 2 4 f . ; Gundling, a . a . O . , 25, 2 f f . ; s.u. S. 64 Diss, prolusoria lOff.; Exerc. 692 u. 735. Liebespflichten können nicht erzwungen werden, weil man in endlosem Streit um Unwägbarkeiten unterginge. Exerc. 9 5 9 f . ; f ü r das Staatsrecht Spec. 7 4 3 f f . ; s. u. S. 7 0 f f . a . a . O . , 2, 31 Excerc. 778; vgl. Heinrich Cocceji, a. a. O . , 10, 8, Pos. V : „ 1 . Cuique homini ius in suas actiones, earumque commoda, nullum in alterius." Angesichts der Bedeutung und des Ranges, den die damaligen Naturrechtslehrer Heinrich K ö h l e r zusprachen, — Hufeland zählt ihn zu den „vorzüglichem Lehrern" des Naturrechts ( a . a . O . , S. 98) — ist es erstaunlich, daß sein Name in keinem Handbuch älteren oder neueren Datums zu entdecken ist. Die „Geschichte der Universität Jena" 1958 (1, S. 203) führt die angeblich geringe Bedeutung Köhlers, Max Wundt folgend (Die Philosophie der Universität Jena, Jena 1923, S. 94) neben der Tatsache, daß dieser 1734 nur eine außerordentliche Professur der Philosophie erreichte, auf das „nicht allzu umfangreiche Verzeichnis seiner Schriften" zurück. Zumal die Vorlesungen Köhlers viele Zuhörer anzogen (Ludovici, a. a. O . , S. 170), ist dieses Urteil zumindest für die Geschichte der deutschen Naturrechtslehre zu korrigieren.
Achenwalls Voraussetzungen und die nova ratio in der Deduktion des Rechts
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Die Vorreden zu den einzelnen Auflagen, die der 5. vorangestellt sind, geben über die Entstehung des Werks, das Kant seiner Naturrechtsvorlesung zugrunde legt, und dessen Prinzipien Auskunft. Die ersten beiden Auflagen von 1750 und 1753 wurden von den erst Marburger, dann Göttinger Kollegen Gottfried Achenwall, Professor der Philosophie, des Rechts und der Politik, einem der Begründer der Statistik, 42 und Johann Stephan Pütter, dem besten Kenner des deutschen Staatsrechts, als „Elementa iuris naturae" gemeinsam veröffentlicht, und zwar hatte Pütter das öffentliche Recht innerhalb des Staatsrechts (I.N. II. L. III.) — d. h. nicht das Völkerrecht — bearbeitet, Achenwall die übrigen Teile. 43 Von der 3. Auflage von 1755 an verantwortete Achenwall das Werk allein 44 und gab mit der 4. Auflage 1758 getrennte Prolegomena dazu heraus, indem er die allgemein begründenden Paragraphen und Sätze herausnahm und von der praktischen Philosophie ausgehend im weiteren Zusammenhang systematisierte. Eine eigene Vorrede für die 5. Auflage, die Kant benutzte, und die 2. der Prolegomena, beide von 1763, hielt Achenwall nicht für notwendig, obwohl er auch diese Auflage überarbeitete und seine Absicht noch schärfer akzentuierte, wie an Beispielen der Prolegomena zu zeigen sein wird. Das Werk wurde noch zweimal, 1767 und 1774, aufgelegt. 45 Die Zuordnung einzelner Autoren durch Achenwall und die Berufung darauf sind erwähnt worden. In Bezug auf die Prinzipien bemerkt er in der Vorrede zur 3. Auflage, daß er weit davon entfernt sei, entweder in der Selbstvervollkommnung oder im Willen Gottes den Ausgangspunkt für das Naturrecht zu sehen, obwohl er überzeugt sei, daß ohne diese Prinzipien die Grundlage des Rechts überhaupt zerstört werde. Da die genannten Prinzipien für das eigentliche Recht zu weit seien, müsse man dafür auf daraus abgeleitete, aber ihm angemessene Sätze der Selbsterhaltung, des Suum cuique, Neminem laede und deren Entsprechungen zurückgreifen. Mit Hilfe der letzteren könne das eigentliche Recht zwar nicht so sehr von der Politik und der Ökonomik getrennt werden, dafür aber gänzlich von der Ethik. 4 6 In der Vorrede zur 4. Auflage, zu der parallel die Prolegomena erschienen, ergänzt Achenwall, daß er sich Mühe gegeben habe, das alte Prinzip des Suum cuique richtig einsichtig zu machen. Die Erklärung selbst davon stehe in den Prolegomenen, der Gebrauch aber werde über die ganze Behandlung des Naturrechts ausgebreitet. 47 Ebenso wie in der Vorrede verweist Achenwall in der zusammenfassenden „Introductio in ius naturale" des 1. Teils auf die ausführlichen Prolegomena, so daß
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1 748 a. o. Prof. der Philosophie, 1753 a. o. Prof. des Rechts, im gleichen Jahr o. Prof. der Philosophie, 1761 o. Prof. für Naturrecht und Politik, 1762 Doktor beider Rechte. I . N . , 1. S. IV Sachliche Differenzen zwischen Achenwall und Pütter sind der Vorrede nicht zu entnehmen. Der Grund für die Trennung der Autoren scheint allein das veränderte Interesse Pütters zu sein, worauf Achenwall auch anspielt (S.V.), das sich weiter von der Theorie weg zum positiven deutschen Staatsrecht verlagerte. Kant benutzte zumindest zeitweise auch die 6. Auflage von 1767; s. u. S. 10280 I . N . , 1, S. V l l f . I . N . , 1, S. IX
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es sich anbietet, bei der Untersuchung von Achenwalls Prinzipien auf diese zurückzugreifen. 4 8 Im Kapitel V der Prolegomena entwickelt Achenwall unter dem Titel „De obligatione naturali" die Prinzipien der eigentlichen rationalen praktischen Philosophie. Er geht von Gott, dem Urheber der Welt aus; da alles von ihm abhänge, sei sein Wille auch der Bestimmungsgrund unseres Willens. 49 Allerdings schränkt er die Möglichkeit der Bestimmung unseres Willens nach dem göttlichen durch folgenden Satz ein: „quatenus dei voluntatem circa nostras actiones liberas ex principiis philosophicis, ex ipsa natura, citra specialem dei revelationem, solo rationis lumine cognoscere possumus." 5 0
Diese Einschränkung verbindet Achenwall von hier aus formelhaft mit dem Willen Gottes, wenn er ihn als Bestimmungsgrund unseres freien Willens anführt. Da Gott Urheber und Erhalter der Natur ist, sind seine Gesetze mit natürlichen Strafen verbunden, 5 1 und zwar polemisiert Achenwall ausdrücklich gegen die Meinung, daß Gottes Willen rein, d. h. ohne Belohnungen und Strafen erkannt werden könnte. 52 Diese Theorie von Gottes Willen als Bestimmungsgrund unserer freien Handlungen mündet ein in die Vorstellung eines Staates aller Dinge und Wesen, deren rechtlicher Herrscher Gott ist. 53 In dieser Ableitung Achenwalls werden zwei Dinge deutlich. Achenwall entzieht sich der Kritik des Thomasius am Prinzip des Heinrich Cocceji, daß der Wille Gottes keine Konkreta für die praktische Philosophie enthalte, 54 dadurch, daß er sein Prinzip mit den Grenzen des menschlichen Erkenntnisbereichs verbindet. Der Kritik Abraham Kästners, der sich Darjes referierend anschließt, 55 daß sich hinter Gottes Willen das höhere Prinzip der Volkommenheit verberge, entgeht Achenwall, indem er Gott als Herrscher im Sinne des Staatsrechts versteht, allerdings ausdrücklich nicht im Sinne von Pufendorf, daß ohne Gottes Willen alle natürlichen Gesetze nur Ratschläge seien. 56 Daß aber Achenwall den Willen Gottes tatsächlich dazu braucht, um dem Naturrecht den rechtlichen Vorschriftscharakter zu verleihen, wird am deutlichsten daraus, daß im Konflikt zwischen göttlichem Willen und guten und bösen natürlichen Folgen Gottes Wille als das stärkste Motiv entscheidet. 57 48 49 50 52
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I . N . , 1, 6. Zur Benutzung durch Kant s. u. S. 50» u. S. 89 Prol. 52. Zitiert wird, wenn nicht anders angegeben, die 1. Auflage 5 1 Prol. 54 Prol. 53 ebd. Scholion. Diese Kritik könnte sich gegen die Brüder Beckmann in Göttingen richten, die nach Darjes Naturrecht lasen, aber dessen Prinzip der Vervollkommnung als ein egoistisches durch den Willen Gottes ersetzten. Dieses dürfte, um nicht wiederum selbstisch zu sein, weder mit Strafen noch Belohnungen verbunden werden. Darjes, Discours, a. a. O . , S. 241 ad § 143 u. S. 261 ad § 144 Prol. 63; s. u. S. 62 Thomasius, a . a . O . , 1, 6, 3: „Neque etiam dubium tollunt, cum postea quaeratur: unde cognoscam, utrum hoc vel illud sit voluntas Dei." — In 1, 6, 2 verweist Thomasius auf Heinrich Cocceji. Discours, a . a . O . , S. 245. Abraham Kästner, Prof. iur. in Leipzig, Vater des Mathematikers Abraham Gotthelf Kästner Prol. 63, 3. Scholion Prol. 75. Im Gegensatz dazu dient z . B . bei Burlamaqui als Wolffianer der Wille Gottes nur
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Diese Verbindung der Vernunft mit dem Willen Gottes als oberstes Prinzip des N a t u r r e c h t s trifft Christian Wolffs Glückseligkeitsprinzip des Perfice te, das nach Pütter, wie Lichtenberg aus dessen Vorlesung berichtet, ebenso „einen zum Teufel f ü h r e n " könne, wenn es der Vernunft nicht untergeordnet w e r d e . 5 8 E s ist ein Ausfluß dieser Kritik, daß Achenwall, zumal er den Wölfischen Begriff der obligatio 5 9 mit dem gebietenden göttlichen Willen verknüpft, das Prinzip der Selbstvervollkommnung doppelt unterordnet, einmal nämlich nach Wolff als Grund der Handlung innerhalb der Naturgesetze, andrerseits aber als eine Folgerung aus dem Willen G o t t e s . 6 0 Einen gleichen doppelten Bezug hat jedes Recht — facultas moralis —, nämlich einerseits auf G o t t , andrerseits auf andere Menschen in dem Sinne, daß die anderen dieses mein Recht aus Gottes Willen anerkennen. 6 1 D a die Selbsterhaltung, Gottes Willen
untergeordnet,
selbst
Gebot
ist, 6 2
wird
aus
dieser
das
Zwangsrecht
abgeleitet, nach folgendem Rechtsmodell: „Monemus, in demonstratione proposita supponi 1), duo homines usu intellectus ins truc tos, eosdem secundum meram humanitatem seu naturam humanam genericam, quae et quatenus omnibus hominibus est communis consideratos, consequenter in statu naturali positos remotis omnibus factis praeviis, quibus forte ab altero aut utroque horum hominum officium quoddam naturale erga se invicem praestitum aut violatum fuerit, 2) supponi, alterum actionem quandam externam committere, quae conservationi vitae vel alterius répugnât, 3) usum violentiae esse ad conservandam vitam corpusve remedium necessarium, et 4) nullam exstare obligationem moralem maiorem, quae usum iuris sese conservandi hoc casu impediat." 63 In diesem Modell des Zwangsrechts, das mit seinem Bezug auf zwei Rechtspartner Thomasius entlehnt ist, 6 4 entspricht dem Recht, die Selbsterhaltung zu erzwingen, die Pflicht, den Zwang des anderen nicht notwendig zu machen. U m diese moralische Begründung des Zwangsrechts aus dem göttlichen Gebot sowohl im Zwingenden als im Gezwungenen noch schärfer zu akzentuieren, schließt Achenwall den Paragraphen des Rechtsmodells durch folgenden Zusatz der Auflage von 1763 : „Ergo cuilibet ineumbit obligatio perfecta ad non agendum, quod conservationi alterius répugnât, quanta ineumbere potest; et cuilibet competit ius perfectum in sui conservationem, quantum competere potest. Ultra enim posse tam physice quam legaliter nec datur obligatio nec ius."
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als Sanktion der Verbindlichkeit, a. a. O . , 2, 7, 3/4, bei Achenwall verleiht der Wille Gottes die Rechtskraft selbst. — Diese Feststellung löst auch Ritters Verwunderung auf, daß Gottes Wille, obwohl vernünftig erkannt, an sich verbindet. Ritter, a . a . O . , S. 193 512 G. Chr. Lichtenberg, Ges. Werke, Hrsg. W. Grenzmann, Frankfurt/Main 1949, Bd. 1, S. 442 Prol. 12 Prol. 60 Scholion; vgl. El. 1. N., 1 7 8 - 1 8 2 Prol. 90 Scholion Prol. 60 Prol. 104 Thomasius, a . a . O . , 1, 5, 16: „Patet igitur, quod ius, item obligatio externa iuri correspondens, et injuria semper supponant duos homines."
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Mit dieser Begründung des Zwangsrechts aus der Selbsterhaltung ist es unmöglich, andere zu Pflichten gegen Gott oder der Vervollkommnung, d. h. zu unvollkommenen oder moralischen Pflichten zu zwingen. 65 Diese Pflicht der Selbsterhaltung ist als vollkommene Pflicht innerlich und äußerlich zugleich. 66 Der Teil des Naturrechts aber, der nur das Verhältnis der gegenseitigen Rechtshandlungen zueinander betrachtet, behandelt die Verbindlichkeit allein im äußeren Bezug als obligatio externa. Diese unterliegt der Beurteilung vor dem foro humano und ist daher unter Anlehnung an die Vokabel des Römischen Rechts 67 richterlich, d. i. obligatio iuridica. 68 Da das Recht im äußeren Bezug betrachtet sowohl natürlich als positiv ist, 69 schließt Achenwall die Prolegomena mit der Behandlung des äußeren Rechts unter dem Gesichtspunkt des natürlichen Zwangsrechts. Dieser Titel „De obligatione perfecta qua obligatione externa" stellt das Zwangsrecht unter das Gebot des Neminem laede und enthält mit der Ausdehnung des Zwanges die Grundsätze der Zurechnung als Grund der einzelnen Zwangsmaßnahme. Die Regel der Beurteilung des äußeren Rechts überhaupt ist der Satz, den andern im Gebrauch des Seinen, von dem er andere auszuschließen das Recht hat, nicht zu stören, zusammengefaßt in obligatio ad suum cuique tribuendum. 7 0 Dieser Satz ist bei Achenwall eigentlich nur eine Interpretation der anderen „obligatio . . . ad abstinendum ab alieno, ad nemini ius suum auferendum, ad neminem in usu iuris sui impediendum." 71
Daraus zieht Achenwall den Schluß, daß ursprünglich alle Rechtspflichten negativ sind: „Quare a natura omnis obligatio est tantum negativa, consequenter omne ius in alterum est dumtaxat negativum." 72
Wie wichtig dieses negative Suum cuique für Achenwall spätestens seit der 4. Auflage ist, geht aus einem Vergleich mit der 2. Auflage hervor. Dort nämlich leiten Achenwall und Pütter das äußere Recht nach der Pflicht der Selbsterhaltung aus dem Satz Neminem laede ab, da dieser auf die genannte doppelte Art sowohl Gott als dem anderen gegenüber vollkommenes Gesetz ist. 73 Daraus wird dann erst das Suum cuique abgeleitet. 74 Der Grund für die Berichtigung Achenwalls liegt auf der Hand: Aus der das Zwangsrecht begründenden Selbsterhaltung geht nicht die positive auch 65 66
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Prol. 106 I . N . , 1, 51. Ebenso Burlamaqui, a.a.O., 1, 9, 12, den Achenwall außerordentlich lobend zur Freiheitstheorie erwähnt (Prol. 9 Anm.), ebenfalls zur Theorie des Gottesstaates (Prol. 63), s. u. S. 62 u. 714 Vgl. Dig. 40, 5, 41, 5: iuridicus = Richter Prol. 112 Prol. 130. Die Argumentation zur Systematik ist Zusatz der Auflage von 1763 Prol. 121 ebd. I . N . , 1, 82 El. I.N., 200 El. I . N . , 241
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innere Pflicht Neminem laede hervor, sondern als Grundsatz jeden äußeren Rechtsverhältnisses erst die negative, jedem die Rechtssphäre zu lassen. Die Möglichkeit der Übertretung des Suum cuique macht dann erst das Neminem laede notwendig. Die inhaltliche Analyse, verbunden mit Achenwalls Einordnung der Naturrechtslehrer, läßt keinen Zweifel daran, wo die Vorbilder für die 5. Auflage des lus Naturae liegen. Die Coccejis geben Achenwall den Begriff des gebietenden Lenkers der Natur, der an das stoische Naturrecht anknüpft, die Coccejis und Heinrich Köhler verbindet mit Achenwall das Suum cuique des strengen Rechts, und Heinrich Köhler zeigt ihm, wie durchaus auch angesichts Wölfischer Prinzipien einer vernunftbestimmten Verbindlichkeit und des Vollkommenheitsbegriffs Moral und Recht im Sinne der systematischen Scheidung Gundlings scharf zu trennen sind. Selbst das Gesetz der Selbsterhaltung braucht nicht weiter als von Heinrich Cocceji hergeholt zu werden, der es als drittes seiner göttlichen Erlaubnisgesetze nennt. 7 5 Dennoch behauptet Achenwall, das äußere Recht unter dem Suum cuique „nova, quantum norim, ratione" 7 6 abgeleitet zu haben. Der Unterschied zur Vorrede der ersten Auflage springt in die Augen. Dort empfehlen sich die Autoren damit, ein Kompendium verfaßt zu haben, das seiner Definition nach wenig Neues erwarten lasse; das eigentlich Neue sei nur, daß zwei befreundete Wissenschaftler ein Werk vollendet hätten, obwohl gerade im Naturrecht kaum Einhelligkeit zu finden sei. 77 Worin liegt nun die nova ratio der vierten Auflage und der Prolegomena? Wir sehen die eigentliche Leistung Achenwalls darin, daß er die obligatio perfecta von der obligatio externa trennt. Für Thomasius und Gundling ist die vollkommene Verbindlichkeit die äußere und damit im Gegensatz zur unvollkommenen allein Rechtsbegriff, 78 ebenfalls sind bei Heinrich Köhler und Christian Wolff vollkommene und äußere Verbindlichkeit im Recht austauschbar. 79 Dadurch daß bei Achenwall die obligatio perfecta als Zwangsrecht der Selbsterhaltung Ausfluß des göttlichen Willens und damit innerlich mit äußerem Rechtsbezug ist, kann dieser unter Beschränkung aller moralischen Elemente auf diese obligatio perfecta das Verhältnis zweier göttlich gebundener Rechtssubjekte allein unter der äußeren Verbindlichkeit betrachten. Das Mittel, die äußere Verbind75
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Ritter, a. a. O . , S. 140 275 , nennt auch zu Achenwall Locke, Montesquieu und Rousseau als Gewährsmänner für die Selbsterhaltung als Rechtsgesetz. Rousseau mit seinem Discours de l'inégalité scheidet aus, da Achenwalls erste Auflage schon 1750 erschien, Montesquieu (De l'esprit des lois, Hrsg. Gonzague Truc, Paris 1961, 1, 2) auch, da Heinrich Cocceji dieselben Gesetze viel klarer nennt: „Ius conservando non perdendi, suum vel aliorum corpus vitamque, 4. Societas communis inter homines et quae inde in singulos derivantur iura, 5. Societas domestica quae pariter inde iura ad singula membra permanant." a . a . O . , 10, 8, Pos. V Lockes Einfluß ( a . a . O . , 2, 6) dürfte sich ebenfalls angesichts der gelobten Coccejis erübrigen. I . N . , 1, S. IX I . N . , 1, S. X l f . Thomasius, a . a . O . , 1, 5, 17ff.; Gundling, a . a . O . 1, 53ff. Köhler, Exerc. 734; vgl. Wolff, I.N., 1, 656
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Iichkeit aus sich selbst zu bestimmen, stellt der negative Satz des Suum cuique als Regel zur äußeren Trennung der Rechtssphären dar. Dieses äußere Verhältnis der Handlungssubjekte nun ist juridisch, d. h. es unterliegt der äußeren Rechtsbeurteilung. Mit dieser Beschränkung aller inneren Elemente des Rechts auf die obligatio perfecta gewinnt Achenwall einen neuen Aspekt, der das eigentliche Recht noch schärfer von jedem moralischen Einfluß abschneidet. Terminologisch gewinnt Achenwall aus diesem Blickwinkel heraus das Begriffspaar moralis — legalis: 8 0 „Praestaret vero ad praecavendum notionum confusionem in locum termini: moralis, surrogare in sphaera legum externarum terminum: legalis, ut, quemadmodum idea differunt, ita etiam eius signo et nomine distinguantur facultas, nécessitas, impedimentum cet. morale, h. e. vi legis internae tale, a facúltate, necessitate, impedimento cet. legali, nempe vi legis externae tali." Wie genau es Achenwall mit diesem Programm nimmt, geht daraus hervor, daß er in der zweiten Auflage der Prolegomena überall da, wo der Begriff moralis nicht in seiner eigentümlich inneren Bedeutung gebraucht wird, diesen durch den entsprechenden Rechtsbegriff ersetzt, so facultas moralis durch ius und z. B. laesio moralis — non moralis durch culpabilis-inculpabilis. 8 1 Diese Untersuchung zu den Quellen und der Argumentation Achenwalls hat zum Ergebnis, daß Christian Ritter mit allen Einschränkungen, die wir genannt haben, zwar recht hat, wenn er die Trennung von Moral und Recht im deutschen Naturrecht auf Thomasius und Gundling zurückführt, aber wohl nicht recht hat, wenn er Achenwall von den beiden genannten Autoren „ s t a r k " abhängig macht. 8 2 Im Gegenteil sind es die Coccejis und Heinrich Köhler, die ihm das Material zu seiner eigenen Rechtsbegründung geben. Zudem wurde in der Mitte des 18. Jahrhunderts angesichts der starken Kritik an Gundlings Argumentation die Diskussion zur Trennung von Recht und Moral nicht mehr in unmittelbarem Bezug auf Gundling geführt. Diese Feststellung geht aus dem Referat des Johann Ernst Gunnerus im achtbändigen Kommentar zum Naturrecht des Darjes hervor, der von 1748 bis 1752 erschien. 8 3 D o r t polemisiert Gunnerus gegen Wolffs und Darjes 8 4 Einteilung der praktischen Philosophie, die dem Naturrecht die Prinzipien, der Ethik aber nur die
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Prol. 114; vgl. u. S. 89 Prol. 88f., 127, 137, 139 (entspricht 138 1. Aufl.), 149 Scholion (entspricht 147 1. Aufl.) S. o. S. 38 — Übrigens wird Crusius an keiner Stelle bei Hufeland genannt, obwohl Kant dessen Aufzählung der Naturrechtslehrer als vollständig bezeichnet, wenigstens keinen bedeutenden vermißt (A 8, 128; vgl. o. S. 38). Daher entbehrt Ritters Vermutung, Achenwalls Prinzip des göttlichen Willens gehe auf Crusius zurück ( a . a . O . , S. 193 5 1 2 ) jeder Grundlage. Überhaupt ist daraus zu schließen, daß Kant Crusius als Naturrechtslehrer überhaupt nicht anerkennt. Gunnerus, 1718—1773, studierte seit 1742 in Halle und Jena u. a. bei Darjes. Der spätere Bischof von Drontheim ist als Erforscher der Flora seiner Diözese bekannt. — Darjes antwortet im Discours auf die Angriffe seines Schülers und Kommentators. D i s c . S. 392f. ad § 258 Schol: „ D a s lus Naturae saget nur, was wir tun sollen; die Moral muß die Mittel zeigen, wie wir es tun können."
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Behandlung der Mittel zur Tugend zuwies. E r beruft sich aber interessanterweise auf Alexander Gottlieb Baumgarten, der selbst nach Heinrich Köhler Naturrecht las, 8 5 und auf Simon Gabriel Succov, einen Schüler Darjes und späteren Korrespondenten Kants in Erlangen. 8 6 Es zeigt sich, daß Baumgarten eine eigene Dissertation zur Abgrenzung von Naturrecht und Ethik unter dem Titel „De vi et efficacia ethices philosophiae" veröffentlichte. Gunnerus zitiert daraus die These, daß, wenn in der Ethik nur Mittel und im Naturrecht nur Zwecke behandelt würden, nicht zu unterscheiden wäre, was zum Naturrecht und was zur Ethik gehört, da für die untersten Mittel die oberen wiederum Zwecke seien. 8 7 Die Folgerung ist, daß auch die Ethik die obersten Prinzipien selbständig behandeln muß. Diese Polemik Baumgartens schlägt sich in der Vorrede der „Ethica philosophica" von 1740 nieder: „Practicam universalem, quod aiunt, philosophiam coniungere mihi morís est cum iure naturae, cui praemittitur, et post has demum enucleatas scientias, si fieri potest, ethicis vacare suadeo. H i n c quae practica philosophorum generalis et ius naturae satis diducendi praebet o c c a s i o n e m , hic scribendo non repetii, viva voce, quando videtur opus, facile revocanda in m e m o r i a m et inserenda denuo reiectis in liberiorem sermonem illustrationibus. Triplex officiorum genus, cum suis quodlibet virtutibus, quod ethicae considerationis esse norunt, qui ius naturae iustis limitibus ab hac nunc nostra doctrina distinguere didicerunt, proposui parte generali."88
Dementsprechend lautet § 1 der Prolegomena: „ E t h i c a . . . est scientia obligationum hominis internarum in statu naturali."
Ebenfalls der § 65 der „Initiae philosophiae practicae primae" von 1 7 6 0 8 9 zeigt unter diesem Gesichtspunkt, daß strenges Recht und Ethik unter der umfassenden Wissenschaft der praktischen Philosophie getrennt behandelt werden. Dieser Einteilung von Recht und Ethik nach inneren und äußeren Verbindlichkeiten schließt sich ebenfalls Gunnerus a n . 9 0 Achenwall und Pütter veröffentlichen zwei Jahre nach dem Referat des Gunnerus; sie entscheiden sich als Kritiker Wolffs, dessen undifferenzierten Begriff der obligatio naturalis sie für das Recht ablehen, 9 1 im Rückgriff auf den strengen Rechtsbegriff der Coccejis inmitten der allgemeinen Diskussion für die Trennung von Moral und Recht. 85 86 87 88
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a . a . O . , 1, S. 2 2 0 a . a . O . , 1, S. 8 3 f . ; A 10, Briefe 44, 4 6 , 4 7 a . a . O . , 1, S. 2 1 8 Praefato 2 a / 3 ; diese Pflichten sind religio, officia erga te ipsum, officia erga alios; zitiert nach 3 . Aufl. 1763, Repr. Nachdr. Hildesheim 1969. A 19, 33 a . a . O . , 1, S. 2 2 2 f . P r o l . 4 9 Scholion: „Generaliori significatu obligatio naturalis, si ad solum vocabuli: naturalis, etymon attenderis, vocari potest, immo a Wolffio alliisque actu vocatur ea obligatio o m n i s , quae ex principiis philosophicis est intelligibilis, sive ilia sit moralis seu minus;/ unde et leges naturales et omnis iuris naturalis significatus in ambitum vastissimum extenditur/. Sed quantum ista notio a scopo huius disciplinae, /qui meras prudentiae philosophicae regulas excludit/, aberret, subsequentibus intellectis facile erit ad animadvertendum." ( / . . . / Zusatz der 2 . Aufl.) Sinngemäß schon E l . I . N . , 169ff.
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3.4. Die Kritik an Suum cuique Achenwalls mit Thomas Hobbes und der Standpunkt der Coccejis Kant nennt Achenwall in der kleinen Schrift „Vom Verhältnis der Theorie zur Praxis im Staatsrecht" von 1973 einen „in seinen Lehren des Naturrechts sehr behutsamen, bestimmten und bescheidenen" Autor (A 8, 301, 3—4). Dieses Urteil zur Arbeitsweise aber dürfte nicht der einzige Grund gewesen sein, warum Kant gerade diesen Autor wählte, zumal die Kritik Kants am Standpunkt der ,Bemerkungen' eine besondere Theorie des Rechtszwanges erforderlich machte. Wenn man davon ausgeht, daß Kant, wie die Herdernachschrift zeigt, sowohl über Baumgartens ,Intitia' von 1760 als auch über die ,Ethica' von 1740 las, dann bedeutet Achenwalls ,Ius naturae' nichts anderes als ein systematisches Gegengewicht, wie es die Anlage von Baumgartens Etik selbst herausfordert, sobald die ethische Behandlung des Rechts in den Bemerkungen' als unzureichend entlarvt ist. Den zweiten Grund für die Wahl Achenwalls bildet Kants Präzisierung David Humes. Bemüht sich dieser schon, den Rechtsbegriff deutlich aus der Moral zu lösen, und nimmt Kant selbst einen rechtlichen Verbindlichkeitsbegriff an, dann muß dem Standpunkt Kants die Tendenz Achenwalls entgegenkommen, das Recht noch schärfer von der Moral zu trennen. Diese Begründung der Wahl Achenwalls macht ein anderer Umstand deutlich. Kant besaß die schon herangezogene edierte Vorlesungsnachschrift Joachim Georg Darjes, 92 des Nachfolgers Baumgartens in Frankfurt an der Oder. Es ist wahrscheinlich, daß Kant dieses Buch als Beispiel für eine Naturrechtsvorlesung benutzte, 93 zumal Darjes mit zeitweise 700 Zuhörern täglich als einer der erfolgreichsten Naturrechtslehrer seiner Zeit galt. 94 Dennoch kamen dessen „Institutiones iurisprudentiae universalis", die damals ebenfalls Vorlesungen zugrunde gelegt wurden, 95 für Kant nicht in Frage, allein weil sie Wolff folgend sich mit Kants bisherigem, der Einteilung nach als richtig bestätigten Vorlesungsprogramm überschnitten hätten. 96 Daran konnte selbst der hobbesische Standpunkt des Darjes nichts ändern, demgemäß man selbst einen Vertragsbrüchigen Fürsten „als ein Unglück . . . mit Geduld tragen muß".97 Was aber konnte Kant mit Achenwalls Lösung des Zwangsrechts anfangen? Dieser faßt sein Verständnis des äußeren Rechts einmal folgendermaßen zusammen: „Id vero ex iis, quae deduximus, observare non pigebit, finem omnis iuris externi primarium et ultimum in eo positum esse, ut ius suum cuique a quoque tribuatur: medium vero ad hune
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Warda, a . a . O . , 8, 2 S. u. S. 6 3 f . W u n d t , Jena, a . a . O . , S. 109 S. o. S. 4 4 " Dieses Urteil wird bestätigt durch die Bemerkung Kants im Naturrecht Feyerabend, daß Achenwalls „Prolegomena . . . zu einem Grundriß eines besonderen Collegii gehört zu haben" „scheinen" (S. 24); d . h . Kant wollte eigentliche Rechtslehre lesen. Vgl. u. S. 89 Disc. S. 1123 ad § 793
Die Kritik an Achenwall mit Thomas Hobbes und der Standpunkt der Coccejis
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finem consequendum consistere in metu coactionis tamquam motivo, quo quisque obligatur ad abstinentiam ab alieno." 9 8 G e h t man zu der Begründung des Zwangs selbst zurück, dann liegt diese im göttlichen G e b o t der Selbsterhaltung und damit in der gegenseitigen Rechtsgewährung der Rechtspartner; d. h. der Rechtszwang ist über die vollkommene Verbindlichkeit dem Urteil der Rechtspartner selbst überlassen. Damit erhofft Achenwall die Durchsetzung des Rechts ebenso v o m selbsttätigen Individuum wie Kant in den B e m e r k u n g e n ' , so daß der eigentliche Gewinn aus Achenwalls Zwangsrechtstheorie gleich null ist. Gerade aber die Nichtigkeit des Rechtsgebots Suum cuique unter der Bedingung der Selbsttätigkeit der Individuen zeigt Thomas Hobbes : „And this is also to be gathered out of the ordinary definition of justice in the schools: for they say, that Justice is the constant will of giving to every man his own'. And therefore where there is no own, that is no propriety, there is no injustice; and where there is no coercive power erected, that is, where there is no commonwealth, there is no propriety; all men having right to all things: therefore where is no commonwealth, there nothing is unjust. So that the nature of justice, consists in keeping of valid convenants: but the validity of convenants begins not but with the constitution of a civil power sufficient to compel men to keep them." 9 9 Das heißt nichts anderes, als daß das Suum cuique nur als Gebot einen Sinn hat, sich einem gemeinsamen unwiderstehlichen Richter zu unterwerfen: „Der Stand der Natur: ein Ideal des Hobbes. Es wird hier das Recht im Stande der Natur und nicht das factum erwogen. Es wird bewiesen, daß es nicht willkürlich sei, aus dem Stande der Natur herauszugehen, sondern notwendig nach den Regeln des Rechts." (A 19, 99, 34—100, 3, R 6593) N o c h in der Rechtslehre der M . d . S . interpretiert Kant das Suum cuique als das Gesetz des Ubergangs in den bürgerlichen Zustand: „Tritt . . . in eine Gesellschaft mit andern, in welcher jedem das Seine erhalten werden kann (suum cuique tribue). — Die letztere Formel, wenn sie so übersetzt würde: „Gib jedem das Seine", würde eine Ungereimtheit sagen; denn man kann niemandem etwas geben, was er schon hat. Wenn sie also einen Sinn haben soll, so müßte sie lauten: „Tritt in einen Zustand, worin jedermann das Seine gegen jeden anderen gesichert sein kann" (Lex iustitiae)." (A 6, 237, 1 - 8 ) N u n hatten auch Achenwall, Köhler und die Coccejis das Suum cuique nicht als ein aktives Geben verstanden, sondern als ein negatives Gesetz der privatrechtlichen Handlung ohne Hinblick auf eine staatliche und richterliche Gewalt. Die von ihnen gewählte negative F o r m : „Laß jedem das Seine", wäre nach Kant ein Gesetz, die Gesellschaft überhaupt zu m e i d e n , 1 0 0 und nicht das Gesetz einer möglichen G e selligkeit, auf die sich allein Rechtsgesetze beziehen können. In den 70er Jahren formuliert Kant:
Ρ rol. 129 Leviathan 1, 15, a . a . O . , S. 131 îoo Vgl. damit die zweite Rechtspflicht: „Tue niemandem Unrecht (neminem laede), und solltest du darüber auch aus aller Verbindung mit andern herausgehen und alle Gesellschaft meiden müssen (Lex iuridica)." (A 6, 236, 31—33) 98
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1766—1768: Der kompetente Richter als notwendige Bedingung des Rechts „Schaffe, daß ein jeder vor das Seine in Ansehung deiner in Sicherheit sei. (Dieses ist die Pflicht zur bürgerlichen Gesellschaft, die allgemeine Bedingung aller Rechte und Eigentums der Menschen.) Stelle einen jeden wegen seines Rechts von deiner Seite in Sicherheit (suum cuique); denn nur alsdenn kann er sagen, daß etwas sein ist, und zwar facto, nicht bloß jure, wenn er wegen dessen Besitzes gesichert ist: Dieses ist die einzige affirmative äußere natürliche Pflicht - exeundum e statu naturali." (A 19, 242/3, R 7075) N u n versieht der unwiderstehliche Richter die moralischen Gesetze nicht nur mit
ausreichender Macht, sondern er läßt durch sein Urteil überhaupt erst wirkliches R e c h t entstehen. Mit dieser absoluten Funktion des Richters setzt sich Kant in zwei Punkten im gleichen Atemzuge in Gegensatz zu Hobbes. Erstens bedeutet die U n t e r werfung unter den unwiderstehlichen Richter kein individuelles Rechtsgeschäft, als das nach H o b b e s auch der erzwungene Vertrag angesehen werden m u ß , 1 0 1 sondern ein R e c h t s g e b o t 1 0 2 : „Hominum in commercio positorum primaria obligatio est, ut sint in statu civili; hinc si nondum hie ortus sit, ut secundum regulas iuris actuent, si iam actu reperiatur, ne illam disrumpant. Ergo obligatio civilis et publica non est pactitia, sed quomodocumque civitas sit orta, et imperium necessario est indissolubilis, quamquam, si fieri potest, in melius mutabilis. Utrum itaque civitas orta sit pacto an vi, quaestionem iuris nihil attinet." (A 19, 448, 13—20, R 7534) Zweitens sorgt der Staat als Macht, die nach Hobbes selbst Eigentum besitzen kann und Eigentum aktiv zuteilt, 1 0 3 nach Kant nicht für das materielle Wohlergehen seiner B ü r g e r , sondern verschafft erst durch sein Urteil den einzelnen Recht: „Bona gehören allen, disiunctive zusammengenommen, und sind privata, nicht allen collective (copulative) zusammengenommen und sind nicht publica. Der Souverain ist eine idealische Person und hat kein Eigentum. Die Gesetze der Republik sind iuris, non ethicae, nicht die größte gemeinschaftliche Glückseligkeit, sondern jedes besonderes Recht gegen jeden andern soll unterstützt werden." (A 19, 450, R 7540) K a n t ersetzt Achenwalls
„salus publica" durch „iustitia publica" (A 19,
366,
E 7413).104 Einen solchen formalen Rechtsstaat in klarer Entgegensetzung zum Wohlfahrtsstaat vertreten die Coccejis: „Causa ergo unica constituti magistratus est administratio iustitiae et omne eius officium consistit in reparando iure singulis concesso, eoque omnes summae potestatis partes continentur. Totum enim eo pertinet, ut privatorum ius contra aliorum concivium iniuriam vel civitatis suae iura contra hostem defendat. Reliqua omnia subserviunt et subsidialia sunt; inque vectigalia, collectas etc. Iure exigunt summae potestates, quia sine his civitas defendi nequit." 1 0 5 1 0 1 Lev. 14 u. 17 in fine, a. a. O . , S. 126f. u. 158f. 102 Yg] Naturrecht Feyerabend: „Daß der Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft eine der ersten Pflichten sei, hat noch niemand recht eingesehen. Hobbes und Rousseau haben schon davon einige Begriffe." S. 42 1 0 3 Lev. 24, a . a . O . , S. 234f. 1 0 4 Achenwalls Satz: „Requiritur felicitas externa, tamquam finis communis et bonum omnibus reipublicae membris commune", entgegnet Kant: „Non requiritur, ut felicitas universitatis sit finis omnium, nam ad hoc requireretur communio quaedam bonorum." (A 19, 366, 2—3, E 7412) . 1 0 5 a . a . O . , 10, 16d
Die Verbesserung des Rechtsbegriffs
53
Auf Vorbilder bezogen löst Kant damit das Problem des Zwangsrechts in einer Verbindung der Coccejis mit Thomas Hobbes. In diese Auffassung von der Aufgabe des Staates ist der Begriff der voluntas communis im Staatsrecht einzuordnen: „Voluntas sola communis iure valida et cuiuslibet ius in omnes socios aequale per voluntatem communem et iudicium tantum competens socìetati." (A 19, 446, 22—24, R 7526) „Forma societatis constat in subiectione voluntatum sub volúntate communi; igitur coordinantur; subordinatio et consensus merus non est societas. Essentiale, hic est, est cuiuslibet voluntas alium determinet non nisi per voluntatem communem et aequaliter." (A 19, 447, 9 - 1 3 , R 7528)
Danach versteht Kant unter der voluntas communis den wirksamen Rechtswillen der Rechtsgemeinschaft. Die inhaltliche Bestimmung einer zu sichernden materiellen Unabhängigkeit nach Rousseau ist nirgendwo zu entdecken, sie widerspräche sogar Kants Begriff des formalen Rechtsstaates. 106 Im Gegenteil bildet die voluntas communis die gemeinsame Willensmacht, die dem Rechtswillen jedes einzelnen entspricht, mit Hilfe eines kompetenten Richters wirkliches Recht zu genießen. So heißt es noch um 1780: „Die Gesetzgebung muß ex volúntate communi hergenommen sein und nicht ex arbitrio quodam privato et in favorem." (A 19, 573, 2 5 - 2 6 , R 7987)
Daß es sich allerdings bei Kants Festsetzung eines hobbesischen Rechtsprinzips wirklich um eine Auseinandersetzung mit Achenwall handelt, geht aus zwei späteren Bemerkungen hervor. Kant wirft die Einräumung eines Widerstandsrechts und die falsche Entgegensetzung des natürlichen und geselligen Zustandes nicht etwa John Locke oder Christian Wolff vor, womit er viel bedeutendere Köpfe getroffen hätte, sondern gerade seinem gewählten Autor des Naturrechts. 107 Angesichts Kants Kritik an Achenwall erscheint es wenig sinnvoll, die äußere Einteilung von Recht und Moral, der dessen Naturrecht in der Nachfolge der Coccejis und Heinrich Köhlers folgt, zum wesentlichen Punkt von Kants Rechtsphilosophie zu erklären. Denn diese äußerliche Trennung muß Kant sich spätestens seit 1756/57 mit der ersten Vorlesung über Ethik nach Baumgarten 108 zueigen gemacht haben. Wichtig für Kant ist im Gegenteil seit der Selbstkritik nach den ,Bemerkungen', daß er eine ethische Begründung der Rechtsphilosophie ablehnt.
3.5. Die Verbesserung des Rechtsbegriffs Die Bestimmung des Staates als die absolut notwendige Instanz, die nicht die materiellen Interessen der Bürger ausgleicht, sondern deren Recht herstellt und schützt, macht eine Korrektur des Rechtsbegriffs der .Bemerkungen' notwendig. 106 107
108
Vgl. o. S. A 8, 301; 2, 7 u. 2, Amoldt,
35 A 6, 306, 1 7 - 2 2 ; Naturrecht Feyerabend S. 44 u. S. 108 in fine; Locke, a . a . O . , 223ff.; Wolff, I . N . , 2, I f f . ; 8, 1046; Achenwall, I . N . , 2, 2 0 3 - 2 0 6 (A 19, 215f.) a . a . O . , S. 523. Daß es sich um Ethik nach Baumgarten handelt, S. 530.
54
1766—1768: Der kompetente Richter als notwendige Bedingung des Rechts
Dieser bestand in der Verknüpfung der naturalistischen Freiheit mit dem rationalen Verbindlichkeitsbegriff, der material den Ausgleich der Egoismen herstellen sollte. Der formale Rechtsstaat aber kann sich gar nicht auf Gleichheit der Egoismen beziehen, sondern nur auf die Rechtsgleichheit der Bürger: „ A u s der Definition der Gesellschaft erhellt schon, daß die Glieder der Gesellschaft müssen gleiche Rechte gegeneinander haben, d. i. eines jeden Urteil muß ebensoviel Rechtskraft haben als das andere, imgleichen daß sie gleiche Gewalt haben müssen, einander zu zwingen. Zur Gleichheit gehört eine Gleichheit der Mittel, sein Recht zu persequieren." (A 19, 446, 1 - 5 , R 7522)
In diesen Zusammenhang gehört die Reflexion 6594: 109 „ D e r Nutze bestimmt nicht das Recht, sondern eines jeden einzelnen Willen. Dieweil aber nach der Regel der Freiheit ein jeder den Nutzen nach seinen eignen Gedanken bestimmen muß, so hat der andere keine Befugnis, über den Nutzen, sondern den Willen des andern zu urteilen." (A 19, 100, 9 - 1 2 )
Diese Notiz Kants deckt einen Widerspruch im Rechtsbegriff der ,Bemerkungen' auf. Einerseits sollte dort die Freiheit gerade darin bestehen, sich nach seiner „wahren oder eingebildeten Wohlfahrt" 1 1 0 zu bestimmen, andrerseits waren es ebendieselben Subjekte, die gegenseitig unter der Gleichheitsforderung auf ihre Egoismen einwirkten: die Wohlfahrt sollte nur vom Individuum selbst und doch vom Zwang der Partner abhängig sein. Wenn nun der naturalistische Freiheitsbegriff bestehen bleiben soll, dann muß der Nutzen der Handlung von der rechtlichen Beurteilung durch andere ausgenommen werden. Damit aber bleibt an der Handlung nur noch beurteilbar, ob der in der Handlung erklärte Wille das Recht des Partners berücksichtigt oder nicht. Ebenso wie das Staatsrecht entledigt Kant den Rechtsbegriff seines materialen Inhalts.
3.6. Das Recht in concreto Die Erkenntnis aus der Mitte der 60er Jahre, daß eine absolute Selbstverpflichtung möglich ist und nur der unwiderstehliche Richter den Handlungen Rechtskraft verleihen kann, die beide in die Rechtslehre von 1797 als Bestandteile übernommen werden, bilden keineswegs, wie Ritter meint, das fertige Konzept von Kants Rechtsphilosophie, das dieser ohne „Neuansatz" nur weiterentwickelte. 111 Einmal sah Kant in der Entdeckung der Notwendigkeit von Idealen in der Ethik und der notwendigen Funktion des Richters im Recht keinen Grund, die Theorie des moralischen Gefühls, die auf dem Weg zur kritischen Philosophie unmöglich werden mußte, zu verwerfen. Rationales Recht und moralisches Gefühl stehen weiterhin nebeneinander. Das geht aus der Reflexion 6586 hervor, die der Sätze wegen: „ D e r eigne Nutz ist kein Grund eines Rechts. Der Nutz vieler gibt ihnen kein Recht gegen einen." (A 19, 97, 6 - 7 ) , 109 110 111
Die Datierung wird deutlicher aus dem zweiten Teil der Reflexion, s. u. S. 55 S. o. S. 25 a . a . O . , S. 2 6 8
55
Das Recht in concreto in die 2 . Phase von Kants Rechtsphilosophie zu datieren ist:
„ E s sind verschiedene Grade der Bestimmung unserer Willkür: 1. Nach allgemeinen Gesetzen der Willkür überhaupt, das Recht. 2. Nach allgemeinen Regeln des Guten überhaupt, die Gütigkeit." (A 19, 96, 2 6 - 2 8 ) Z u m andern liegt das Erkenntnisinteresse Kants nicht im Intellektualen des Rechts, s o n d e r n , wie der Beweis des Zwangsrechts mit Hilfe der Notwendigkeit des wirks a m e n Urteils nahelegt, in der Sicherheit in c o n c r e t o : „Man muß erstlich wissen: was da recht wäre, wenn ein jeder rechtmäßige Wille unwiderstehlich wäre; zweitens: durch welche Mittel eine unwiderstehliche Gewalt mit einem Rechte verbunden wird, und was nur unter dieser Kondition zu tun erlaubt ist. Das Recht in abstracto läßt sich auch ohne das Mittel denken, wodurch es aktuiert werden kann. Aber in concreto ist auf die Sicherheit zu sehen, wodurch die Konditionen des Rechts aktuiert werden können. — Was in abstracto wahr ist, ist auch in concreto wahr. Denn wenn etwas von einzelnen Fällen abstrahiert ist — Was aber in universali und abstrakten Notionen möglich ist, ist nicht immer in concreto möglich, weil das universale in Ansehung vieler Prädikate nicht bestimmt ist, deren Bestimmung in concreto angetroffen wird; daher, was dem universali nicht contradiciert, kann dem individuo oder der speciei widerstreiten." (A 19, 100, 23—101, 3, R 6595) K a n t w e i ß sehr w o h l , daß der Mensch auf die Ausübung von Rechten nicht verzichten kann, w e n n er m i t Rechtspartnern und nicht mit unmenschlichen Mächten u m g e h e n will: „Niemand kann einem andern alle Gewalt abtreten, seine eignen Uneile des Rechts zu exequieren, ohne sich selbst eine gleiche Gewalt vorzubehalten, ihn zu seiner Verbindlichkeit zu nötigen; denn alsdenn würde er einem andern ein Recht geben, zu tun, was er will (licentiam); wenn der andere aber durch seine Handlung nicht unrecht tun kann, so beruhen seine Handlungen nur auf seiner Gewalt und nicht auf seinem R e c h t . " 1 1 2 (A 19, 100, 15—21, R 6594) Diese
notwendige
Rechtsausübung
der Individuen führt in der Theorie
zum
Gravitationsmodell der , T r ä u m e ' , das die Rechtspartner gerade als rechtschaffen und unwiderstehlich darstellt. E i n e solche Konstruktion in abstracto aber gibt nicht m e h r h e r als eine P a r o d i e der wirklichen Rechtsverhältnisse, die erst durch eine unwiderstehliche M a c h t in c o n c r e t o entstehen. Das eigentliche Problem der Reflexion 6 5 9 5 , w i e Rechtsvorstellungen in abstracto mit der notwendigen Rechtsmacht in c o n c r e t o v e r b u n d e n w e r d e n können, bleibt von Kant in der 2 . Phase ungelöst. Ihm fehlt das Zwischenglied zwischen den Rechtssätzen der .Bemerkungen' in abstracto und seiner neuen
Theorie
des
unwiderstehlichen
Rechtszwanges,
wenn
letzterer
auch
den
V o r z u g v o r abstrakten Rechtssätzen genießt. In dieser Suche nach dem R e c h t in c o n c r e t o liegt auch der G r u n d für die Kritik an R o u s s e a u s Staatsrecht: na Vgl. Rousseaus ähnliche Argumentation, die Kant zu präzisieren versucht: „ O r qu'est-ce qu'un droit qui périt quand la force cesse? S'il faut obéir par force, on n'a pas besoin d'obéir par devoir; et si l'on n'est plus forcé d'obéir, on n'y est plus obligé. On voit donc que ce mot de droit n'ajoute rien à la force; il ne signifie ici rien du tout." (C. S., 1, 3, a . a . O . , 3, S. 354) Rousseau sieht den Grand für die Unmöglichkeit des Rechtsverzichts in der „qualité d'homme". (C. S., 1, 4, a . a . O . , 3, S. 356)
56
1766—1768: Der kompetente Richter als notwendige Bedingung des Rechts „ D i e Ordnung der Betrachtung über den Menschen ist folgende: . . . 5. Im äußeren Zustande. D e r Sozialkontrakt (SBürgerbund) oder das Ideal des Staatsrechts (gnach der Regel der Gleichheit) in abstracto erwogen, ohne auf die besondere Natur des Menschen zu sehen. 6. Leviathan: der Zustand in der Gesellschaft, der der Natur des Menschen gemäß ist. Nach der Regel der Sicherheit. (Sich kann entweder im Stande der Gleichheit sein und Freiheit haben, selbst ungerecht zu sein und es zu leiden, oder im Stande der Unterwerfung ohne diese Freiheit.) . . . D e r Sozialkontrakt oder das öffentliche Recht als ein Grund der obersten Gewalt. Leviathan oder die oberste Gewalt als ein Grund des öffentlichen Rechts." (A 19, 98, 3 2 ; 99, 2 1 - 2 7 , 3 0 - 3 2 , R 6593)
Die Kritik kann nicht darin bestehen, daß Rousseau die Notwendigkeit der Rechtssicherheit übersehen habe, denn diese Notwendigkeit ist für ihn unzweifelhaft, sondern darin, daß nicht erst das Modell eines Rechtsstaates den Staat in der Erwartung — in abstracto — zum Rechtsstaat mache, sondern die bestehende Staatsgewalt in concreto überhaupt. Es liegt nun der Gedanke nahe, daß Kant in der Rechtsphilosophie ebenfalls die skeptische Methode übt, wie er sie spätestens seit dem Brief an Lambert vom 31. Dezember 1765 für die Metaphysik kennt 1 1 3 und in den ,Träumen' anwendet. Diese Methode bestimmt Kant später damit, „Sätze zu beweisen und ihr Gegenteil" (A 18, 6 9 , 1 9 , R 5037). Im Brief vom 8. April 1766 an Mendelssohn bezieht Kant diese Methode der Selbstverspottung auf die Metaphysik, 114 aber liegt in den Sätzen des Rechts in abstracto und in concreto nicht ein solcher skeptischer Gegensatz vor? Man kann aber auch die umgekehrte Frage stellen, warum Kant in den genannten Briefen diese neue Methode gerade nicht auf die praktische Philosophie bezieht, denn auf diese Frage gibt noch die K.d.r.V. im Abschnitt „Von der Antithetik der reinen Vernunft" eine Antwort. Kant meint dort wie im Brief an Lambert, daß die skeptische Methode allein der Transzendentalphilosophie wesentlich eigen sei und daß sie auf anderen Gebieten entbehrt werden könne, aber nicht ausgeschlossen sei. Nur in der Mathematik wäre ihr Gebrauch ungereimt. Dann formuliert er: „ D i e Moral kann ihre Grundsätze insgesamt auch in concreto, zusamt den praktischen Folgen, wenigstens in möglichen Erfahrungen geben und dadurch den Mißverstand der Abstraktion vermeiden." ( B 4 5 2 / 3 )
Das Modell Rousseaus in abstracto entlarvt sich selbst, weil es die wirkliche Natur des Menschen nicht berücksichtigt. Gelten kann daher in der 2. Phase von Kants Rechtsphilosophie nur die Lösung der erfahrbaren Staatsgewalt in concreto, selbst wenn sie nicht in der Lage ist, das Recht im Einzelfall zu gewährleisten. Mit diesem Rechtszwang in concreto aber hat Kant das Naturrecht gegen die rechtlich argumentierende Ethik der ,Bemerkungen' aufgerichtet, denn der Vorwurf: „Die Alten verwechselten das Naturrecht mit Ethik" (A 19, 93, 18, R 6579), trifft nicht nur diese, sondern seinen eigenen, jetzt ,umgekippten' Standpunkt. Im Brief an Herder vom 9. Mai 1768, der wiederum ein außerordentliches Lob Humes enthält, 1 1 5 kündigt Kant zum zweitenmal eine „Metaphysik der Sitten" an, 113 114 115
A 10, 55 f. A 10, 6 9 f. „ I c h hoffe, diese Epoche Ihres Genies aus demjenigen, was ich von Ihnen kenne, mit Zu-
Das Recht in concreto
57
„ w o ich mir einbilde, die augenscheinlichen und fruchtbaren Grundsätze, imgleichen die Methode angeben zu können, wonach die zwar sehr gangbare mehrenteils doch fruchtlose Bemühungen in dieser Art der Erkenntnis eingerichtet werden müssen, wenn sie einmal N u t z e n schaffen sollen." (A 10, 74, 18 - 2 2 )
Die Grundsätze können wiederum nur die des moralischen Gefühls und der Selbstverpflichtung sein, die Methode die anthropologische nach Rousseau, wie schon Ende 1765 angekündigt; erweitert muß dieses Programm aber sein um die Erkenntnis der Notwendigkeit von Hochbildern oder Idealen, ohne die der Wert der sittlichen Handlung nicht bestimmbar ist, und der Notwendigkeit eines unwiderstehlichen Richters, ohne dessen Urteil Handlungen keine Rechtskraft erlangen können. Warum auch diese Schrift nicht erschien, liegt an einer ganz andersartigen Erkenntnis. versieht eine Gemütsverfassung, die dem, so sie besitzt, und der Welt unter allen am nützlichsten ist, worin Montaigne den untersten und Hume, soviel ich weiß, den obersten Platz einnehme." (A 10, 74, 3 - 7 )
4. 3. Phase 1769—1771: Universale Rechtsordnung und Verstandeserkenntnis 4.1. Reine Begriffe im Recht Der § 9 der Inauguraldissertation „De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis" von 1770 weist die Prinzipien der Moralphilosophie eindeutig dem mundus intelligibilis zu: „Philosophia igitur moralis, quatenus principia diiudicandi prima suppeditat, non cognoscitur nisi per intellectum purum et pertinet ipsa ad philosophiam puram, quique ipsius criteria ad sensum voluptatis aut taedii protraxit, summo iure reprehenditur Epicurus, una cum neotericis quibusdam, ipsum e longinquo quadamtenus secutis, uti Shaftesbury et asseclae. In quolibet genere eorum, quorum quantitas est variabilis, maximum est mensura communis et principium cognoscendi. Maximum perfectionis vocatur nunc temporis ideale, Piatoni idea (quemadmodum ipsius idea reipublicae), et omnium, sub generali perfectionis alicuius notione contentorum, est principium, quatenus minores gradus nonnisi limitando maximum determinan posse censentur, deus autem, cum ut ideale perfectionis sit principium cognoscendi, ut realiter existens simul est omnis omnino perfectionis principium fiendi." (A 2, 396, 4—17)
Hier wird die Konsequenz aus der Kritik an der Theorie der ,Bemerkungen' gezogen, die sich in der Parodie der ,Träume eines Geistersehers' niederschlug. Dem Maximum der Vollkommenheit, das als Maß für die Handlung gesetzt werden muß, damit diese einen moralischen Wert gewinnt, darf keine Entsprechung in der Realität beigegeben werden, da ein reales Hochbild mit empirischer Erreichbarkeit verknüpft ist und dadurch, wie schon 1762 kritisiert, die moralische Handlung wiederum nur zufällig und nicht notwendig macht. Läßt sich aber diese Einordnung der Prinzipien der Moral auch von den Rechtsprinzipien nachweisen? Einen Hinweis gibt die Dissertation selbst, da sie Kants Vorstellung von einer Idee mit Piatons Idee der Republik erläutert. Es ist aber zu prüfen, ob Kant diesen Vergleich nur benutzt, um überhaupt einen historischen Gebrauch des Wortes Idee anzuführen, oder ob sich hinter diesem Beispiel tatsächlich ein reiner Rechtsbegriff verbirgt. Da die Reflexionen der behandelten Phase keine unmittelbare Auskunft geben, greifen wir zum Abschnitt „Von den Ideen überhaupt" der K.d.r.V., die in einzelnen Punkten Kants Gedanken zur Zeit der Dissertation widerspiegelt. Kant zeigt dort die Notwendigkeit von Ideen in der Tugend, in der Natur und im Staatsrecht. Der Nachweis der Idee in der Tugend entspricht der Frontstellung des § 9 der Dissertation gegen den Empirismus, der „aus der Tugend ein nach Zeit und Umständen wandelbares, zu keiner Regel brauchbares zweideutiges Unding machen" würde (B 371) und der „die Mutter des Scheins" (B 375) gescholten wird. Die Idee in der Natur: „Ein Gewächs, ein Tier, die regelmäßige Anordnung des Weltbaues (vermutlich also auch die ganze Naturordnung) zeigen deutlich, daß sie nur nach Ideen möglich sind" (B 374),
59
Reine Begriffe im Recht
findet ihre Parallele in der Reflexion 6611, die im weiteren noch zu behandeln sein wird. 1
Schließlich
verteidigt
er
die
platonische
Republik
ausdrücklich
gegen
empiristische Angriffe, indem er sie folgendermaßen bestimmt: „Eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, daß jedes Freiheit mit der anderen ihrer zusammen bestehen kann . . . ist doch wenigstens eine notwendige Idee." (B 373) I m folgenden bezeichnet er diese Idee der Republik als „ganz richtig, welche dieses M a x i m u m zum Urbilde aufstellt" (B 374). W o aber ist hier eine Parallele aufzudecken? A n sich definiert die K . d . r . V . die Idee als „absolute Totalität der Beding u n g e n " (B 3 8 4 ) und nennt sie nur erläuternd ein Maximum; daher dürfte schon der Sprachgebrauch in der Definition der Republik auf die Parallele zur Dissertation hinweisen. Diese selbst aber kann in der Kritik aufgedeckt werden, die Kant an der Reflexion 6 5 9 6 , noch vor 1769 notiert, zur Zeit der Dissertation geübt haben muß: „Alle Handlung des Rechts ist ein maximum der freien Willkür, wenn sie gegenseitig genommen wird. Der Mensch ist geneigt, in jeder Größe das Extrem zu sehen, das maximum oder minimum, teils weil er nicht aufhört ohne diesen terminum in der Addition und Subtraktion, teils weil er ein Maß bedarf: Das Größte wird entweder unbestimmt gedacht, insofern man die bloße Hinziehung gedenkt, als (Zahl) Raum, Zeit (Salles), oder bestimmt: wenn das Größte auf bestimmte Verhältnisse ankommt. Das größte aller Wesen kann auf vielerlei Weise bestimmt gedacht werden nach den Verhältnissen, welche die mancherlei Realitäten der Dinge gegeneinander haben können, um die Größe zu vermindern oder zu vermehren. Dieses Größte wird entweder durch gewisse Bestimmungen eines Dinges, die gegeneinander in veränderlichen Verhältnissen sein, selbst gegeben, oder es besteht bloß in der willkürlichen Vergrößerung. Das letztere ist ein Ideal der Erdichtung, das erste ein Ideal der Vernunft, welches sich ins bloß mathematische und philosophische Ideal unterscheidet. Das Kleinste . . . kann ein Moment heißen. Es gibt kein eigentlich maximum und minimum in absolutem Verstände bei quantitativen continuis, aber wohl bei discretis." (A 19, 101, R 6596) Diese Reflexion zeigt die der Dissertation entgegengesetzte Tendenz: Das E x t r e m soll entweder als konkret bestimmt: „Dieses G r ö ß t e wird,. . . selbst gegeben", oder als nicht vorhanden bewiesen werden, wenn eine weitere Verkleinerung oder Vergrößerung möglich ist, wie der Schluß der Reflexion behauptet. Auf das Recht bezogen bedeutet das, daß die konkrete Rechtshandlung, in der sich die jeweiligen Freiheitssphären berühren, schon jenes gegebene konkrete Maximum bildet. 2 D e r § 1 der Dissertation behauptet das Gegenteil: „Quoniam vero in quanto continuo regressus a toto ad partes dabiles, in infinito autem progressus a partibus ad totum datum carent termino, ideoque ab una parte analysis, ab altera synthesis completae sint impossibiles, nec totum in priori casu secundum leges intuitus quoad compositionem, nec in posteriori compositum quoad totalitatem complete cogitari possunt." (A 2, 388, 6 - 1 1 ) 1 2
S. u. S. 60f. Ritter benutzt diese Reflexion, um die Rechtstheorie Kants 1764 und 1768 darzustellen. Das ist, wenn man sie mit der Analogie der Körper (S. u. S. 92f.) verknüpft, grundsätzlich richtig. Allerdings halte ich es für eine überzogene Interpretation, wenn man die Reflexion, die den allgemeinen Willen auch tendenziell gar nicht berührt, mit diesem zum Kernpunkt der Rechtsdefinition macht (a.a.O., S. 86f.) - Aufgrund der Absicht, das Konkrete im Recht zu beweisen, setze ich sie in die 2. Phase.
60
1769—1771: Universale Rechtsordnung und Verstandeserkenntnis
Wiederum auf das Recht bezogen heißt das, daß veränderliche Rechtssphären in ihrem Maximum nicht konkret anschaulich gemacht werden können. Kant muß also erkannt haben, daß dort, wo die Grenze des Konkreten überschritten werden muß, noch lange nicht ein „Ideal der Erdichtung" 3 beginnt. Die Tatsache, daß Kant zur Zeit der Dissertaton ebenso die Begriffe des Rechts wie die der Moral zum mundus intelligibilis gehörig betrachtet, bestätigt die Logik Blomberg, die in der hier behandelten Phase niedergeschrieben sein muß: 4 „Bei den empirischen Beriffen sind Dinge außer uns, die Urteile, die Exemplaria, und unsere Begriffe sind die Exemplata. Bei reinen Begriffen aber sind die Begriffe selbst die Exemplaria, und diejenigen, w o v o n w i r die Begriffe haben, die Exemplata als z. E. der Begriff der Tugend, vom Recht und Unrecht, von der Gütigkeit, von der Rechtmäßigkeit und U n rechtmäßigkeit der Handlungen, vom Einfachen und vom Zusammengesetzten und vom Zufälligen und Notwendigen." (A 24, 1, 124, 3 0 - 3 7 )
Mit dieser Erklärung von Kants Erkenntnisprozeß in Recht und Moral läßt sich dessen eigenes Urteil in der Reflexion 5037 des Metaphysiknachlasses mit der Einschränkung, die zur skeptischen Methode gemacht wurde, 5 auf die praktische Philosophie übertragen, daß er nämlich ebenso den Lehrbegriff der Idee in der Tugend und in den Rechtsverhältnissen „anfänglich . . . wie in einer Dämmerung" sah, daß ihm aber erst „das Jahr 69", das die Notwendigkeit der Annahme einer intelligiblen Welt brachte, 6 „großes Licht" gab, durch das wiederum die Teilerkenntnis eines Ideals bzw. eines Maximums zur ganzen eines reinen Begriffs wurde (A 18, 69, 18, 21—22). Damit ist aber noch nichts darüber ausgesagt, wie sich Kant eine Rechtstheorie aus reinen Begriffen vorstellt.
4.2. Die Einheit von Recht und Moral in der civitas dei Für die Moral hat Klaus Reich gezeigt, daß der erwähnten Reflexion 6611, die das Verhältnis der Idee zur Sinnlichkeit erläutert, Rousseaus Interpretation platonischer Ideen in ciceronischem Gewände zugrunde liegt, die dieser im Aufsatz „De l'imitation théatrale, Essaie tiré des dialogues de Platon" von 1764 geliefert hat: „Idee ist die Erkenntnis a priori (Sdes Verstandes), wodurch der Gegenstand möglich wird. Sie bezieht sich auf das objektiv Praktische als ein principium. Enthält die größte Vollkommenheit in gewisser Absicht. Ein Gewächs ist nur nach einer Idee möglich. Die ist bloß im Verstände und beim Menschen in Begriffen. Das Sinnliche ist nur das Bild. E. g. beim Haus enthält die Idee alle Zwecke. Der Abriß ist nur das Sinnliche, was der Idee konform ist.
3
4 5 6
Man vergleiche hiermit die Kritik an Piaton in den vorhergehenden Phasen: „Platonische Moralphilosophie mystisch. ( 8 supernaturalis) terminus ad quem ist mit dem a quo ^naturalis) verwechselt." (A 19, 95, 1 6 - 1 7 , R 6584) - Im Metaphysiknachlaß erläutert Kant zu Baumgartens „ens fictum": „Chimaere, Phantasie, Ideal." (A 17, 40, E 3537) — Im Anthropologienachlaß: „Es gibt Phantasten der Empfindung: Verliebte, melancholisch, Devote. O d e r der Vernunft als St. Pierre, Plato, Rousseau." (A 15, 210, 2 6 - 2 7 ) Datierung s. u. S. 1 0 1 7 9 S. o. S. 56 Klaus Reich, Einleitung zur Dissertatio . . . 1958, Phil. Bibl. Meiner Bd. 251, S. X I V f .
Die Einheit von Recht und Moral in der civitas dei
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Alle Moralität beruht auf Ideen, und ihr Bild am Menschen ist jederzeit unvollkommen. Im göttlichen Verstände sind es Anschauungen seiner selbst, mithin Urbilder." (A 19, 108, 1 1 - 2 0 , R 6611)
Danach existieren die Ideen nicht real wie bei Piaton, sondern bilden als maximale, in der Realität nicht mögliche Vorstellungen ein Muster für die Beurteilung wirklicher Verhältnisse. 7 In der Anwendung ist diese Handlungstheorie als die eines Arztes oder Technikers zu verstehen, der nach einem vernünftigen Plan die vorliegende Realität nach Zwecken verbessert, so wie die Heilung eines Kranken z. B. nur unter der Vorstellung der Zweckmäßigkeit des gesunden Zustandes möglich ist. • N u n sind aus der Zeit der Dissertation zwei Notizen Kants erhalten, aus denen das Verhältnis der Moral zum Recht hervorgeht: „ D i e ethische Regel lautet so: tue das, was dir dünkt einem andern gut zu sein; die des Rechts lautet s o : tue das, was mit der allgemeinen Regel der Handlungen zusammenstimmt, insofern jeder tut, was ihm selbst gut d ü n k t . " (A 19, 129, R 6670) „ D i e Urteile über Recht und Schuldigkeit betrachten die Regeln der voluntatis purae, sind also die leichtesten; die der Gütigkeit gehen auf Neigungen, Verhältnisse des Wohlbefindens und sind schwer." (A 19, 129, 3 2 - 1 3 0 , 2, R 6672)
Das Ergebnis ist gewissermaßen enttäuschend, denn die Einteilung nach individuellem Gegenstand und Allgemeinheit weist wiederum nicht weiter als auf David H u m e . 8 Erstaunlich aber ist demgegenüber, daß Kant innerhalb dieser Einteilung die Priorität des Rechts so weit treibt, daß er die Moral selbst durch das Recht ersetzt sehen möchte: „ W e n n alle Menschen und Regierungen nach Regeln des Rechts geschähen, so würden die Pflichten der Gütigkeit unnötig sein." (A 19, 129, 3 0 - 3 1 , R 6672)
D a ß es sich hierbei nicht um einen beständigen Bestandteil von Kants Rechtsphilosophie, sondern wohl um einen für die Zeit um 1770 charakteristischen handelt, geht aus § 35 der Tugendlehre von 1797 hervor, dessen Kasuistik die Welt ohne Wohlwollen für unvollkommen erklärt. Wie aber soll eine derartige Ubermacht des Rechts mit der Theorie göttlicher Ideen in den Gegenständen der Moral vereinbar sein? Angesichts dieser Frage der Vereinbarkeit zweier Prinzipien bietet es sich an, wiederum zu einem für diese Zeit charakteristischen Satz zu greifen, nämlich zu einer Regel des Verstandesgebrauchs im § 30 der Dissertation: „Principia non esse multiplicanda praeter summam necessitatem." (A 2, 418, 28—29) Dieser Grundsatz läßt vermuten, daß Kant die Moral nur deshalb durch das Recht ersetzt wünschen kann, weil ebenfalls das Recht in Gott geschaut wird, wie es der § 22 der Dissertation unter dem Hinweis auf Malebranche für die Verstandeserkenntnis überhaupt formuliert, daß wir nämlich alles in Gott schauen. 9 7
8 9
Klaus Reich, Die Tugend in der Idee, Zur Genese von Kants Ideenlehre, in Argumentation, Festschrift für Josef König, Hrsg. Harald Delius/Günther Patzig, 1964, S. 2 0 8 - 2 1 5 Vgl. o. S. lOf. Scholion in fine, A 2, 410, 1 4 - 1 6 . Malebranche, Recherche de la vérité, Hrsg. Rodis-Lewis, Paris 1962, 3, 2, 6: „ Q u e nous voyons toutes choses en D i e u . "
62
1769—1771: Universale Rechtsordnung und Verstandeserkenntnis
Diese Überlegung kann folgendermaßen ergänzt werden. Die Reflexion 4350 des Metaphysiknachlasses, niedergeschrieben in den frühen 70er Jahren, mündet in den Begriff einer civitas dei. Selbst wenn sie nicht mehr den Standpunkt der Dissertation wiedergibt, da sie die Brauchbarkeit des Begriffs einer intelligiblen Welt auf die praktische Philosophie beschränkt, läßt sie doch den Rückschluß zu, daß sich Kant erst recht in der Parallele zu Malebranche mit dem Begriff eines Gottesstaates beschäftigt haben dürfte: „ D e r mundus intelligibilis als ein Gegenstand der Anschauung ist eine bloße (unbestimmte) Idee; aber als ein Gegenstand der praktischen Verhältnisse unserer Intelligenz zu Intelligenzen der Welt überhaupt und Gott als dem praktischen Urwesen derselben ist er ein wahrer Begriff und bestimmte Idee: Civitas dei." (A 17, 516, 10-14)
Zudem ist die Vorstellung einer rechtlichen und moralischen Herrschaft Gottes, wie sie die gesamte Reflexion anbietet, keineswegs originell. Baumgarten erklärt in der Metaphysik die Herrschaft Gottes nach einer Ableitung aus rechtlichen Begriffen als „maxima monarchia despótica" und „civitas sua". 1 0 Burlamaqui versucht am Schluß seines Werks „comme la conclusion de tout le système" die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen, um mit Hilfe der Strafen und Belohnungen in einer zukünftigen unmittelbaren Herrschaft Gottes die Geltung des wirklichen Rechts in der Gegenwart zu sichern. 11 Achenwall, der in diesem Punkt auf Burlamaqui verweist, 12 nennt die Gesetze der „civitatis maximae, cuius deus est imperane summus", „specialius vero etiam perfectae . . . leges sensu iuridico tales (iuridicae)". 13 Uberträgt man diese gängige Vorstellung der rechtlichen Herrschaft Gottes auf den Standpunkt der Dissertation, dann ist die ideale rechtliche Ordnung des Gottesstaates einerseits Erkenntnismittel der Rechtsphilosophie, so wie die Erkenntnis der idealen Zweckmäßigkeit der Gegenstände den wesentlichen Bestandteil der moralischen Beurteilung bildet. In der Anwendung kommt ein solcher Gebrauch eines idealen Staates dem Standpunkt Achenwalls in den Prolegomena nahe, der anführt, daß die Beschäftigung mit der civitas dei für die Weiterbildung des Rechts äußerst fruchtbar sei. 1 4 Auf der anderen Seite aber ist Kant darüber hinaus der Meinung, daß die Vorstellung eines idealen Ganzen, wie es der Gottesstaat darstellt, materialer Handlungsgegenstand überhaupt sei. Das geht aus dem Anthropologienachlaß hervor:
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Gottlieb Alexander Baumgarten, Metaphysik, 4. Aufl. Halle 1757, A 17, 199/200, § 971-975 a . a . O . , 2, 13; hier 2, 13, 11 S. o. S. 44 Achenwall nennt weiterhin die Wolffianer Canzius, Israel Gottlieb, De Iurisprudentia theologiae seu civitate dei, 1731/1737, und Hanovius, Michael Christopher, Philosophie civilis, 1762 —68, den Fortsetzet Christian Wolffs in der Politik. Ein Bezug zu Darjes scheint mir nicht möglich zu sein. Dessen Konstruktion einer Civitas dei als Verbindung von Ethik und Teleologie, die Max Wundt für das Ende der „Elementa metaphysices" angibt (Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 1945, S. 306), wird, soweit ich sehe, an keiner Stelle auf das Naturrecht ausgedehnt. I . N . , 1, 44 Prol. 63 Scholion
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„ D e r Verstand macht aus allen äußeren Empfindungen Verhältnisse des Raums; weil aber diese doch nicht auf die Sinne wirken können, so muß in der Empfindung etwas sein, was kein Verstand deutlich machen kann, nämlich das Absolute und Reale. Eben dieses ist auch die Ursache, weswegen die Erkenntnis des Absoluten in der Vollkommenheit dem Verstände unmöglich ist; denn der Wille und dessen Vollkommenheit setzt immer einen guten Gegenstand voraus. Es scheint nicht, daß ein ander originarium bonum sei als Gott und dessen Erkenntnis uns die Vorstellung von dem möglichen Guten als einem Gegenstande des Willens mache." (A 15, 290, 1 7 - 2 6 , R 656)
Einen solchen objektiv guten Gegenstand bildet die Einheit von Natur und Gesellschaft: „Das Ideal eines vollkommenen Ganzen, worbei die Teile auch gut sein, ist das Muster, wornach wir unsere Moral richten; also hat uns Gott die Natur gegeben, sie durch Sitten zu verbessern." (A 15, 286, 9 - 1 1 , 287, 1)
Verbindet man diese Reflexionen mit der Interpretation von Kants Gedanken, die Moral durch Recht zu ersetzen, dann bildet den material notwendigen Gegenstand des Willens die Idee einer vollkommenen Rechtsordnung, die die objektiv zweckmäßige Verbesserung einzelner Gegenstände, d. i. die Moral, unter sich begreift, ebenso wie sich die Herrschaft Gottes auf die Rechtsverhältnisse der Menschen und auf deren moralisches Verhältnis zueinander bezieht. Noch etwas anderes muß dieser Standpunkt verbinden. Die vorhergehende Phase formulierte die Schwierigkeit, Rechtssätze in abstracto mit Rechtssicherheit in concreto zu verbinden. Im § 4 der Dissertation heißt es: „Sensitive cogitata esse rerum repraesentationes uti apparent, intellectualia autem, sicuti sunt." (A 2, 392, 2 7 - 2 9 )
Demnach kann es keine eigentliche Diskrepanz zwischen abstrakten und konkreten Rechtsverhältnissen geben, sondern in der intellektuellen Erkenntnis der Rechtsverhältnisse aus dem Muster der Gottesherrschaft muß ein Handlungszwang liegen, die konkreten Verhältnisse den abstrakten anzupassen. D. h. in der Objektivität der Erkenntnis selbst muß die Ubereinstimmung des Rechts in abstracto und des Rechts in concreto verborgen liegen. Angesichts der genannten Erwägungen des § 30 der Dissertation meinen wir, daß Kant 1770 versucht, eine rationale Handlungstheorie zu entwerfen, die in einer einheitlichen Abhängigkeit vom Erkenntnisgegenstand theoretische und praktische Philosophie, Recht und Moral ebenso wie Rechtsvorstellung und Rechtswirklichkeit vereint. 4.3. Das Eherecht: Einheit von Recht und Naturzweck Der einzige Bereich, in dem sich Kants Auffassung zu einem konkreten Rechtsproblem in der 3. Phase interpretieren läßt, ist das Eherecht. Der schon erwähnte Discours von Darjes liefert ein längeres Referat zur damaligen Diskussion um das Eherecht. l s Die Vermutung, daß Kant dieses Referat zur 15
Disc. S. 7 9 9 - 8 4 8 ad § 5 6 3 - 5 8 7
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Problematisierung seiner eigenen Überlegungen benutzte, legt die Aufzeichnung der Übersetzung von „Munus proxeneticum, der Kuppelpeltz" (A 19, 462, R 7583) nahe. 1 6 Darjes zeigt nun, daß die damalige Diskussion beherrscht wurde vom Streit um die Ausschließlichkeit der Einehe und deren Rechtsfolgen. Den Hintergrund für diese Auseinandersetzung bildet die politische Tatsache, daß in Kursachsen noch nach dem Zeugnis Lobethans von 1777 der Ehebruch sowohl an Mann als an Frau mit dem Tod durch das Schwert bestraft wurde. 1 7 Ein Uberblick zeigt rasch, daß alle bedeutenderen Philosophen, so Locke 1 8 , Bayle 1 9 , Thomasius 2 0 , Wolff, Darjes und Achenwall, gegen die Ausschließlichkeit der Monogamie argumentieren und nach dem Referat des Darjes nur Theologen mit Bibelstellen für diese eintreten. 21 Die Philosophen sind alle mehr oder weniger, d. h. je nach Rechtsbegriff, der Ansicht Gundlings, daß sich für die Einehe keine eigentlichen Rechtsgründe ins Feld führen lassen, sondern nur Zweckmäßigkeitserwägungen. 22 Der Grund für diese eingeschränkte Bedeutung der Einehe liegt wiederum nach dem Referat des Darjes im absoluten Gebot, einen effektiven Gebrauch seiner Geschlechtsteile zu machen. So ist der Geschlechtsverkehr selbst in der Ehe mit einer sterilen Frau — sei es aus Altersgründen oder Krankheit — Hurerei, ebenso Geschlechtsverkehr mit einer Schwangeren, ein Problem, das Kant noch in der Tugendlehre unter die kasuistischen Fragen aufnimmt, 23 wohingegen der Konkubinat keineswegs dem Naturzweck widerstreitet und damit, wenn nicht sogar geboten, erlaubt ist. Dieses Zweckdenken macht für Darjes einen Vertrag möglich, gemäß dem eine Frau unter Entschädigung für die Mühen einem Mann ein Kind liefert, an dem sie nach der Erfüllung des Vertrages jedes Recht verliert. 24 Gegen die Polygamie spricht demnach nur der zu erwartende Streit im Harem, für die lebenslange Dauer der Einehe, wie für Locke, nur die moralische, freiwillige Fortsetzung der gegen-
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Disc. S. 841 ad § 583 Schol. 2 : „ U n t e r dem muñere proxenetico (Kuppelpelz) verstehet man dasjenige, was man einer Person verspricht, wenn sie es machen würde, daß sich jemand mit uns in ein Verlöbnis einlasse." F. G . A . Lobethan, Catechetische Unterweisung in den vornehmsten Rechtsmaterien, 2. B d . , L e m g o 1777, S. 496. Kant besaß nach Warda, a . a . O . , 8, 7, das Buch, ob er es aber wirklich gelesen hat, ist fraglich. a . a . O . , 2, 7 8 - 8 1 N a c h Gunnerus, a . a . O . , 7, ad § 568: „ D e r berühmte Bayle hat den Einfall, daß vernünftige Männer ihre Frauen wie Bücher austauschen könnten." Thomasius widmete dem Problem eine eigene Dissertation De concubinatu, Halle 1713. Darjes nennt die Namen Breithaupt in Halle mit „ D e concubinatu a Christo et apostolis p r o h i b i t o " und den Kanzler Jaeger in Tübingen mit einem „Examen diss, cuiusdam Hallensis de concubinatu." Disc. S. 826 u. S. 830f. ad § 577
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a . a . O . , 2 5 , 12: „ N e q u e enim hoc e iuris naturalis stricte sie dicti prineipiis infero, etsi certuni est, magis rationabiles videri, maioremque tranquillitatem prae se ferre, qui, nisi iustae sint caussae, perpetuam vitae consuetudinem sectantur et servant."
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A 6, 4 2 6 , § 7 Disc. S. 821 f. ad § 575 Schol. 4
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seitigen Hilfe, womit, wie es u. a. Wolff und Achenwall meinen, die lebenslange Einehe allerdings die vollkommnere Form darstellt. 25 Christian Wolff ergänzt diese Argumente der Zweckmäßigkeit, indem er die Einehe aus dem gleichen Zahlenverhältnis der Männer zu Frauen statistisch begründet. 26 Gegen die Polygamie spricht nach ihm weiterhin, daß der Vater wegen der Vielzahl seiner Kinder den Naturzweck der Erziehung nicht erfüllen könne; 27 die Polyandrie dagegen schließt er aus, da der Vater der natürlichen Elternliebe wegen sicher sein müsse. 28 Von der natürlichen Verbindlichkeit, Kinder zu haben und zu erziehen, nimmt Wolff nur den Philosophen aus, da die Menschheit sich ohnehin fortpflanze und die an sich fruchtbare Arbeit des Gelehrten durch das Familienleben nur gehindert werde. 2 9 Gegen diese geschlossene Phalanx der Philosophen schlägt sich Kant wie im Fall der Wahrhaftigkeit auf die Seite der Theologen. Mit welchen Argumenten? Kant versucht ganz im Gegensatz zu seinen früheren anthropologischen Uberlegungen in den ,Beobachtungen', den .Bemerkungen' dazu und der Herdernachschrift 3 0 die Frage zu lösen, die Gundling und die anderen genannten Naturrechtslehrer nicht lösen zu können glauben, nämlich welche strengen Rechtsbeziehungen allein zwischen den Geschlechtspartnern möglich sind: „Es fragt sich nicht, ob die Hurerei und das Konkubinat moralisch möglich sei, sondern ob es auch rechtskräftig werden kann. Nämlich ob jemand locatione conductione ein Recht auf den concubitum oder eine deflorata durch den pactum ius alimentationis erwerben könne, oder pactum concubinatus iure valide sei. Responsio: Ich kann nicht sagen, uti partes de corpore suo disponunt, ita ius est." (A 19, 458, R 7570)
Es geht ihm um die gegenseitigen Rechte, die eine Ehegemeinschaft erst legal werden lassen: „Eine Sozietät ist legitima, wenn sie keines Rechte widerstreitet; sie ist legal, wenn sie der G r u n d eines gegenseitigen Rechts der sociorum ist." (A 19, 455, 24—26, R 7564)
Unter dieser Problemstellung fordert Kant — wohl im Anschluß an das Referat des Darjes — die Beantwortung von vier Fragen: 1. nach dem Verhältnis des Zwecks, Kinder zu haben, zur Ehegemeinschaft, 2. nach der Dauer der Ehe, 3. nach der Ausschließlichkeit des gegenseitigen Rechts innerhalb der Geschlechtsgemeinschaft, 4. nach der Möglichkeit, den Gebrauch seiner Geschlechtsteile zu veräußern (A 19, 457, R 7567). Die erste Frage berührt den Kernpunkt des mit dem Naturzweck argumentierenden Eherechts, denn angesichts des Zeugungsgebotes gibt es bei Sterilität eines Partners keinen Rechtsgrund, sondern nur noch moralische Gründe, die Ehe fortzu-
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Wolff, I . N . , 7, 299; Achenwall I . N . , 2, 46 (A 19, 349) I . N . , 7, 301; vgl. „Er mußte ihr, die da säugte, helfen, und so entstand Monogamie, da so viel Weiber als Männer sind." (A 27, 1, 48, 3 8 - 4 9 , 1) I . N . , 7, 300 I . N . , 7, 268 I . N . , 7, 524 Schol. A 27, 1, 48 ff.
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setzen. Kant stellt dagegen fest, daß es kein absolutes Gebot gibt, Kinder zu haben, denn sonst könnte der Ledige diesen seinen Zustand nur mit einer entgegengesetzten Verpflichtung — z. B . eines Gelehrten — begründen, was offensichtlich den Zustand eines Ledigen nicht charakterisiert: „Considerandus venit primo status consociationis maris et feminae, cuius finis est usus mutuus facultatum et virium sexualium, quo non intenditur propagatio sobolis. Hic est licitus, dummodo non impediat consectaria, quae finis naturae cum tali commercio coniunxit. Si esset illicitus, foret etiam der Ledige coelibatus." (A 19, 457, 2—6, R 7567) Diese Ablehnung des Zeugungsgebotes läßt Kant die Definition der Ehe u. a. gegen Wolff, Darjes und Achenwall 3 1 auf die Geschlechtsgemeinschaft einschränken: „Die Nominaldefinition des matrimonii ist: est societas legitima maris et feminae, per quam ipsis licet mutuo uti facultatibus et viribus sexualibus." (A 19, 456, 7—9, R 7565) U m die Beschränkung des Gebrauchs der Geschlechtsteile auf die Ehepartner zu begründen, gebraucht Kant das Argument Wolffs, daß der Vater gewiß sein müsse, so daß es nur ein kleiner Schritt ist, um von da aus mit Hilfe des Gleichheitsgrundsatzes weiterzuschließen. Damit ist sowohl Konkubinat als auch Polygamie 3 2 rechtlich unmöglich: „Man kann kein Recht aus dem verwilligten Gebrauch seiner Zeugungsglieder an eine Person anderes Geschlechts erwerben als dadurch, daß man sich ein Recht konstituieren läßt, den andern in Ansehung dieses Gebrauches sich beständig eigentümlich zu haben. Hier derivieren sich die iura utendi a iure in re propria (societatis). Denn weil nach dem ersten Zweck der Natur die functiones sexuales auf die Propagation und Edukation abzielen, so haben sie es zum vornehmsten Gesetz, daß der Vater gewiß sei; daher kann ebendasselbe Weib nicht einigen gemein sein; also ist das Recht des Beischlafs ein eigentümlich Recht des Mannes." (A 19, 457, R 7568) „Der Konkubinat ist von dem stupro ( s scortatione) nur unterschieden, daß darin ein pactum ist, wo ein Teil den andern auf eine Zeitlang oder beständig von anderer Sexualgemeinschaft ausschließt, der andere aber an diese Abstinenz nicht gebunden ist." (A 19, 463, R 7589) G r ö ß e r e Schwierigkeiten bereitet Kant die Begründung der lebenslangen Dauer der Ehe. Als Grund nennt er nur die gegenseitige Hilfe: „Das mutuum adiutorium ist eine natürliche Folge des pacti matrimonialis." (A 19, 467, 7—8, R 7602)
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Wolff, I . N . , 7, 270: „Matrimonium pactum est, quod mas et femina ineunt de sobole procreanda et educanda." Darjes, Disc. S. 810: „Connubium est societas, per quam marito competit ius de viribus uxoris et uxori de viribus mariti disponendi in scopum procreandae sobolis." — Achenwall, I.N., 2, 42 (A 19, 348): „Societas maris et feminae, ad procreandam atque educandam subolem (prolem) inita matrimonium (coniugium, societas coniugalis) dicitur." „Die Polygamie ist vom Konkubinat in nichts unterschieden, als daß ein Mann viele Konkubinen zugleich hält. Die Frau hat in jener Gesellschaft nicht das Recht, den Mann zur Abstinenz anzuhalten und in der Polygamie auch nicht, obzwar alle in communione ein Recht zu ebendemselben Mann haben, welche Kommunion aber unbestimmt ist, indem es auf das Belieben des Mannes ankommt, wieviel er Weiber haben will." (A 19, 463, R 7588)
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Dieser Grund der gegenseitigen Hilfe findet sich nun bei Achenwall auf diejenige Form des Römischen Rechts bezogen, die ausdrücklich auf die lebenslange Dauer der Ehe schließt: „Reliquis matrimonii speciebus perfectior est monogamia perpetua, ad arctissiman simul unionem inita, hoc est ad mutuum in omnibus vitae casibus adiutorium: unde nascitur omnis vitae consortium". 3 3
D . h. wenn Kant in Verbindung mit dem mutuum adiutorium anders als Locke und Wolff auf die einzig mögliche Rechtsform der lebenslangen Einehe schließt, dann gebraucht er damit einen Grundsatz des Römischen Rechts: „Nuptiae sunt coniunctio maris et feminae et consortium omnis vitae, divini et humani iuris communicatio. " 3 4
Es braucht kaum ergänzt zu werden, daß mit dieser Argumentation eine Veräußerung des Gebrauchs der Geschlechtsteile außerhalb der Ehe, wie Darjes sie etwa zum Erwerb eines Kindes vorsieht, für Kant rechtlich nicht denkbar ist. Im Gegenteil liegt für ihn in der Organisation der Geschlechtsteile selbst der Grund für die Rechtsform der lebenslangen Einehe: „Concubitus naturalis dat ius societatis perpetuae et simul obligationem." (A 19, 457, 14—15, R 7567)
D . h. Kant führt gegen die Theorie der Naturzweck-Philosophen trotz der Gemeinschaft mit den Theologen nicht deren Gebote, sondern eine Lehre des Römischen Rechts ins Feld. Diese Berufung verwundert allerdings wenig, wenn man das außerordentliche Lob liest, das Kant diesem Römischen Recht gemäß der Logik Blomberg zollt: „Das Corpus Iuris ist gewiß der größte und sicherste Beweis vom menschlichen Tiefsinn. Die Entdeckung der Pandecten aber zu Neapel im Ilten Saeculo ist der beste Fund, welchen die Menschen nur je unter den Büchern haben erlangen können." (A 24, 1, 181, 3—6)
Eins ist klar, daß mit dieser Argumentation das Eherecht, das Kant in der Rechtslehre von 1797 liefert, um 1770 „im wesentlichen" noch nicht vorliegt, was Ritter fälschlich annimmt. 3 5 Denn die Beschränkung der Ehe auf die Geschlechtsgemeinschaft allein, in der Ritter den wesentlichen Grundzug der kantischen Ehetheorie sieht, 3 6 kann einerseits weder die Einehe noch deren lebenslange Dauer begründen. Andrerseits aber ist Frage, ob die gesicherte Vaterschaft eine haltbare Grundlage für das Gleichheitsprinzip hergibt und nicht umgekehrt angesichts der Möglichkeit der Adoption die Gleichheit auf die gegenseitige Ungebundenheit im Gebrauch der Geschlechtsteile schließen läßt. Schließlich dürfte auch zu bezweifeln sein, ob gegen33 34
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I . N . , 2, 46 (A 19, 349) Dig. 23, 2, 1. Vgl. Wolff, I . N . , 7, 474: „Naturaliter coniuges obligantur ad mutuum adiutorium in procreatione ac educatione sobolis et in iis, quae unusquisque naturaliter sibimet ipsi debet seu quae vitae consuetudo exigit." Wolff bezieht sich auf Inst. 1, 9, 1—2: „Nuptiae autem sive matrimonium est viri et mulieris coniunctio, individuam consuetudinem vitae continens." a . a . O . , S. 262: „Kant erreicht dabei im wesentlichen bereits den Standpunkt, den er im Eherecht der M.d.S. einnimmt." a . a . O . , S. 264
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seitige Hilfeleistung der Geschlechtspartner sich nur durch eine lebenslange Einehe erfüllen läßt und nicht wie bei Darjes ζ. B. durch finanzielle Leistung abgegolten werden kann. Die Besonderheit der Überlegungen Kants in dieser Phase liegen unserer Meinung vielmehr im Bezug seiner Argumentation zur Theorie der intellektualen Welt als Bestimmungsgrund des rechtlichen Handelns. Wie wir gesehen haben, versteht Kant die Welt in dieser Phase unter objektivintellektuellen göttlichen Zwecken. Wenn nun eben kein Recht entsteht, wie auch immer die Menschen ihre Geschlechtsteile als Zwecke der Natur gebrauchen, dann bedeutet Kants Forderung der Einehe eine Kritik am realen Zweckdenken Christian Wolffs, der sein Eherecht folgendermaßen begründet: „Imaginem iuris naturae conspicimus in brutis, quippe quae sobolis creationi operam dare ac concubitum non nisi huius procreandae gratia appetere indies videmus". 3 7
Folgt man dieser Argumentation, dann ist es kein weiter Weg mehr zur Behauptung des Skeptikers Schmauß, daß die Menschen über ihre Geschlechtsteile disponieren können, wie sie nach ihrer Natur Lust dazu haben. 38 Im Gegenteil können nach Kant reale Naturzwecke nur dann Bestimmungsgrund unseres Handelns sein, wenn sie unter den Bedingungen der intelligiblen Welt verstanden werden, hier unter den Begriffen der Gleichheit und der lebenslangen Dauer, d. h. unter von Gott in der intelligiblen Welt garantierten Rechtsgrundsätzen. Von hier aus gewinnt gerade auch das Argument der gesicherten Vaterschaft einen neuen Aspekt. Wenn Kant nicht wie Wolff den real befehlenden Naturzweck zugrunde legt, dann liegt es nahe, die Notwendigkeit der gesicherten Vaterschaft nicht nur als Element der natürlichen Weltordnung, sondern auch der universalen öffentlichen Rechtsordnung zu betrachten. Das Eherecht als Element der öffentlichen Ordnung deutet Kant in den ,Bemerkungen' an (A 20, 142, 15—143 , 5) 3 9 und behauptet noch in den 70er Jahren, daß der Ehebruch von seiten der Frauen kriminell sei, wobei kriminell definiert ist: „Wodurch öffentliche Sicherheit lädiert wird" (A 19, 536, 7, R 7856). 4 0 Um 1770 dürfte demnach Kants Versuch, gesicherte Vaterschaft mit Rechtsprinzipien zu verbinden, so zu verstehen sein, daß objektiver Naturzweck und Rechtsordnung eine einheitliche Rechtswelt bilden. Dennoch bleibt die Frage bestehen, ob die von Kant herangezogenen Rechtssätze der Gleichheit verbunden mit gegenseitiger Hilfe und gesicherter Vaterschaft die Aufgabe lösen können, die Kant sich gestellt hat, die lebenslange Einehe als einzig mögliche Rechtsform der Geschlechtsgemeinschaft zu beweisen, den Satz nämlich: „Pactum sexuale semper est bilaterale, non temporarium, sed perpetuum" (A 19, 456, 4—5, R 7564).
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I . N . , 7, 2 3 9 Schol. Disc. S. 809 ad § 5 6 9 ; Johann Jacob Schmauß, 1 6 9 0 - 1 7 5 7 , Schüler des Thomasius und Gundling Vgl. Ritter, a . a . O . , S. 204ff. Vgl. die Parallele im Elternrecht, s. u. S. 134 f.
Der Versuch einer materialen Begründung der Rechtsphilosophie
4.4. Der Versuch einer materialen Begründung der
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Rechtsphilosophie
Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Forderung der absoluten Vertragstreue aus der 1. Phase und die Erkenntnis der Notwendigkeit einer unwiderstehlichen Staatsgewalt aus der 2. Phase von der Theoriebildung um 1770 unberührt bleiben. Die Vertragstreue findet unter „der allgemeinen Regel der Handlungen" (A 19, 129, 11 — 12, R 6670) ihren Platz, schließlich wendet sich Kant mit dem Wunsch der Ausschließlichkeit des Rechts nicht etwa nur an die Menschen, sondern an die verantwortlichen Politiker. 4 1 Daß aber Kant mit der Absolutierung der Rechtsordnung nicht einen Machtanspruch, sondern einen Rechtsstandpunkt begründen will, erhellt die Tatsache, daß er neben der Forderung des formalen Rechtsstaates die Gewaltenteilung, die wohl vorher nur angedeutet war (A 19, 449, R 7538), klar ausformuliert (A 19, 479/80, R 7659/60). 4 2 Das Besondere der Phase der Dissertation scheint uns über die Aufdeckung der reinen Begriffe im Recht hinaus demgegenüber Kants Versuch zu sein, der Rechtsphilosophie innerhalb seiner Theorie der Verstandeserkenntnis einen materialen Rückhalt in einem obersten Erkenntnisgegenstand zu geben. Die entstehende universale Rechtsordnung, die sowohl mit Moral als theoretischer Philosophie ein Ganzes bildet, weist wiederum auf den Rechtskosmos Christian Wolffs z u r ü c k . 4 3 Kant war sich dieses Standpunktes wiederum sehr sicher. Für den Winter 1770/71 kündigt er Lambert gegenüber aufgrund seiner „Untersuchungen über die reine moralische Weltweisheit, in der keine empirischen Prinzipien anzutreffen sind", (A 10, 97, 29—32, Brief vom 2. September 1770) die Ausarbeitung einer „Metaphysik der Sitten" an. 41 42 43
S. o. S. 61 S. u. S. llOf. Vgl. u. S. 172 Daß eine solche Konzeption in der Anwendung auch nach heutigen Maßstäben gar nicht so unsinnig ist, zeigt eine Stellungnahme Gustav Radbruchs zum Rechtsbegriff: „Natur der Sache ist ihr Wesen, ihr Sinn, und zwar nicht ein von irgend jemandem wirklich gedachter, vielmehr der allein aus der Beschaffenheit der Lebensverhältnisse selbst zu entnehmende objektive Sinn, die Antwort auf die Frage: wie kann dieses so beschaffene Lebensverhältnis als sinnvoll gedacht werden, d . h . als Verwirklichung einer Idee — und welcher Idee? . . . Die so gewonnenen juristischen Merkmale werden unter der Herrschaft einer Rechtsidee zu einem einheitlichen Sinngefüge zusammengefaßt, das wohl meistens, aber nicht immer, ein teleologisches Gefüge, ein Gefüge von rechtlichen Zwecken und Mitteln sein wird." (Die Natur der Sache als juristische Denkform, 1948, Darmstadt 1960, S. 13f.)
5. 4. Phase seit 1772: Der kritische Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie 5.1. Die Vereinbarkeit von Freiheit und Naturkausalität und die endgültige Trennung der praktischen Philosophie von der theoretischen und der Moral vom Recht D a s Erstaunliche ist, daß Kant schon am 7. Juni 1771 „die Dissertation mit ihren Fehlern keiner neuen Auflage w ü r d i g " erklärt ( A 10, 123, 35—36). Die Reflexionen des Metaphysiknachlasses, die Erich Adickes der Phase λ (1769—1770) zuordnet, legen den Schluß nahe, daß Kants Zweifel in der praktischen Philosophie am Problem der Vereinbarkeit intellektueller und empirischer Bestimmungen in der Handlung einsetzen. Während die Dissertation selbst vermuten läßt, daß die Schwierigkeiten, die die Reflexionen 4 2 1 8 , 4 2 1 9 , 4 2 2 2 , 4 2 2 4 ( A 17, 4 6 2 - 4 6 4 ) formulieren, durch die abbildhafte Entsprechung von Intellekt und sensibler Welt lösbar sind, beinhalten zwei Reflexionen, für die nur Datierungsvorschläge vorliegen, 4 2 2 6 und 4 2 2 7 , ein Verhältnis des Intellektuellen und Sensiblen in der Freiheit, an dem Kant festhalten wird: „Wären die Menschen völlig intellektual, so wären alle ihre Handlungen tätig determiniert, aber doch frei und würden nur in Ansehung der veränderlichen Gelegenheiten zufällig sein. Es würden ihnen auch diese Handlungen imputiert werden können zusamt den Belohnungen, ob sie gleich Geschöpfe eines höhern Wesens wären. Denn sie wären als selbsttätige Prinzipien und als würdige Gegenstände seiner Gütigkeit anzusehen. Wären sie völlig sinnlich, so wären ihre Handlungen allein passiv determiniert, ihnen könnte nichts imputiert werden, und sie würden keiner Belohnungen und Bestrafungen fähig sein. Nun sind sie zum Teil sinnlich, zum Teil intellektual, doch so, daß die Sinnlichkeit freilich das Intellektuale nicht passiv machen kann, aber das Intellektuale die Handlungen auch nicht anders als durch ein gewisses Maß des Übergewichts über die Sinnlichkeit überwinden kann. Also ist der Mensch weder active noch passive determiniert; und da die Sinnlichkeit sowohl als die Stärke der Vernunft von den Umständen abhängt, so dependieren seine Handlungen zum Teil von den Umständen, zum Teil von dem Gebrauche seiner Vernunft und können ihm nicht gänzlich imputiert werden. Er ist frei, wenn man es aufs genaueste nimmt, allein die Möglichkeit etwas Gutes zu tun, worin die Freiheit eigentlich besteht. Allein ob die Handlung wirklich aus diesem principio oder dem Sensitiven entspringe, kommt auf die Konditionen an. So wie im Spiel ein jeder Wurf gewinnen kann, ohnangesehen der vorhergehenden und begleitenden Umstände." (A 17, 466, R 4227) W e d e r daß Freiheit nicht passiv sein kann, sondern Aktivität voraussetzt, noch daß das P r o b l e m der Freiheit mit der Zurechnung verbunden ist, erscheint hier als neues E l e m e n t , 1 sondern daß Kant sich hier eindeutig gegen den intellektuellen Freiheitsbegriff Wolffs für den juristischen Baumgartens
entscheidet.
Eine solche
Inter-
pretation legt die Polemik des Gunnerus gegen § 7 der „Institutiones iurisprudentiae 1
Siehe dazu A 17, 314, R 3856; A 17, 315/6, R 3860
Dié endgültige Trennung der praktischen Philosophie von der theoretischen
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universalis" des Darjes nahe. 2 Letzterer nämlich benutzt den Freiheitsbegriff W o l f f s , d e r auf G r a d e n des Bewußtseins beruht: „ A c t i o deliberata magis libera, quam indeliberata et eo magis deliberata fuerit, eo magis libera est."3 Ebenso faßt A c h e n w a l l die Freiheit allein als Verstandestätigkeit: „Actio, quae a libero hominis arbitrio dependet, seu in eius libertate mentis rationem suam sitam habet, vocatur actio hominis libera (actio humana per excellentiam)". 4 G e g e n diesen Freiheitsbegriff referiert G u n n e r u s seinen „Tractatus philosophicus de libertate scientifice adornatus", der in nichts anderem als einer Verteidigung der §§ 7 1 9 — 7 2 1 v o n Baumgartens Metaphysik beruht: „Actiones, ad quas per libertatem se determinare est in potestate alicuius substantiae positum, liberae sunt." „Pone enim, me me ipsum determinare per arbitrium sensitivum, ubi me determinare per libertatem fuit in potestate mea positum, erit eiusmodi actio involuntaria, tarnen libera."5 G u n n e r u s erläutert dazu: „Wollte Gott, daß es wahr wäre, was der Herr Verfasser" (Darjes) „mit allen Wolffianern behauptet, daß die Menschen sich in allen ihren freien Handlungen durch eine allgemeine deutliche Erkenntnis des Guten und Bösen bestimmeten: ich bin gut davor, daß nicht so viele schändliche Sünden in der Welt ausgeübt würden." — „ W e r der Lehre von der Zurechnung nachdenkt, wird eines ganz andern überführet werden. M a n w i r d mir zugeben, daß einer ganz nüchtern durch eine bloß verworrene und undeutliche Erkenntnis eines Scheinguts (boni apparentis) sich bestimmen kann, seinem Nachbar die Fenster einzuschmeißen, dem Sempronius ein paar Ohrfeigen zu geben usw.. Würde er aber w o h l damit bei der Obrigkeit wegkommen, wenn er sagen wollte, daß diese Handlungen nicht freie w ä r e n ? " 6 D i e s e r Gesichtspunkt, daß Freiheit v o n einer öffentlichen Gerichtsbarkeit vorausgesetzt w i r d und geltend gemacht w i r d , ist im doppelten Gebrauch bei Heinrich K ö h l e r , dem A u t o r Baumgartens, 7 angelegt: „Libertas ergo mentis eodem sensu est facultas illius, vi spontaneitatis ex duabus vel pluribus rebus aeque posibilibus eligendi illam, quae sibi quam maxime placet. Consectarium: 4) Q u o casu duae ad minimum res aeque possibiles dantur, eodem et datur contingentia alterius utrius, et consequenter electio et libertas locum habet. Hinc Lucretiae, stuprum passae a Sexto, tribuitur libertas: mortem enim amplecti poterat, quam Tarquinius minabatur. Hue spectat casus, ubi victor victo vel mortem vel servitutem omnimodam eligendam proponit."8
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Joachim Georg Darjes, Institutiones iurisprudentiae universalis, 2. Aufl. Jena 1745 Phil, pract. univ. 605; vgl. Kants Kritik in § 7 der Diss. A 2, 395, 9 - 1 4 Prol. 7. Achenwall beruft sich wiederum auf Burlamaqui, a . a . O . , 1, 2, 3 a . a . O . , 719, 721 (A 17, 136). Gunnerus schließt: „Ich habe diesen Begriff des Herrn Professor Baumgartens von einer freien Handlung in meiner Abhandlung von der Freiheit mehrenteils angenommen, wider verschiedene Einwürfe verteidiget und in sein gehöriges Licht gesetzt." a . a . O . , 1, S. 88. Der oben genannte S. G. Succov teilt eben diesen Begriff, a . a . O . , 1, S. 83f.. S. o. S. 48f. a . a . O . , 1, S. 80f. S. o. S. 49 Exerc. 186
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Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie Gunnerus definiert demnach: „Will man eine freie Handlung überhaupt erklären: so kann man sagen, daß eine Handlung in Absicht auf denjenigen frei genannt werde, in Absicht, auf welchen sie eine willkürliche Handlung ist, zu der es in s e i n e r G e w a l t gestanden, sich durch eine a l l g e m e i n e deutliche Erkenntnis des Guten und Bösen zu bestimmen." 9 (Hervorhebung von mir.) Dieser Definition schließt sich Kant an: „Das arbitrium brutum ist determiniert secundum rationes sensitivas, das göttliche secundum intellectuales, das menschliche durch keines. Seine Handlungen hätten alle k ö n n e n nach der V e r n u n f t geschehen." (A 17, 465, 23-26, R 4226)
Es läßt sich leicht zeigen, daß es sich hierbei um das kritische Verhältnis von Sinnlichkeit und vernünftiger Bestimmung in der Handlung handelt. Einmal wiederholt Kant in der 2. Hälfte der 70er Jahre das Beispiel der Wahrscheinlichkeit im Spiel zur Erläuterung der Freiheit, 1 0 zudem gebraucht sowohl die K.d.r.V. als auch die K.d.pr.V. diesen Begriff der M ö g l i c h k e i t der vernünftigen Bestimmung. In der „Erläuterung der kosmologischen Idee einer Freiheit in Verbindung mit der allgemeinen Naturnotwendigkeit" der K.d.r.V. gebraucht Kant ein Beispiel, in dem er erst den empirischen Charakter des Täters „in der schlechten Erziehung, übler Gesellschaft, zum Teil auch in der Bösartigkeit eines für Beschämung unempfindlichen Naturells, aufsucht" (B 582), dann aber schließt, daß man den Täter sehr wohl verurteilen könne: „Dieser Tadel gründet sich auf ein Gesetz der Vernunft, wobei man diese als eine Ursache ansieht, welche das Verhalten des Menschen, unangesehen aller genannten empirischen Bedingungen, anders habe bestimmen können und sollen." (B 583) Die K.d.pr.V. führt ein Beispiel an, das dem zitierten Köhlers entspricht. Nachdem Kant festgestellt hat, daß ein Mensch angesichts einer unmittelbaren Todesdrohung einer „wollüstigen Neigung" durchaus entsagen könne, fährt er fort: „Fragt ihn aber, ob, wenn sein Fürst ihm, unter Androhung derselben unverzögerten Todesstrafe, zumutete, ein falsches Zeugnis wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte. Ob er es tun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen." (A 5, 30, 27—33) Wie aber ist die Vernunft näher zu bestimmen, nach der alle Handlungen hätten geschehen können? Der angeführte Abschnitt der K.d.r.V. erklärt die Vernunft in der Freiheit folgendermaßen: „Die Freiheit wird hier nur als transzendentale Idee behandelt, wodurch die Vernunft die Reihe der Bedingungen in der Erscheinung durch das Sinnlichunbedingte schlechthin anzuheben denkt, dabei sich aber in eine Antinomie mit ihren eigenen Gesetzen, welche sie dem empirischen Gebrauche des Verstandes vorschreibt, verwickelt." (B 586) Die Auflösung des Problems der Vereinbarkeit von freier und naturkausaler Bestimmung dadurch, daß die Vernunft sich außerhalb der Naturordnung „ d e n k t " , setzt eine Differenzierung der intellektuellen Tätigkeit des Menschen voraus, nämlich 9 10
a . a . O . , 1, S. 87 A 19, 262/3, R 7170f.; A 19, 265, R 7178
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daß sich ein Teil, der Verstand, nur auf Gegenstände der Erfahrung bezieht und ein anderer, die Vernunft, auch ohne Anwendung auf Gegenstände der Erfahrung sinnvoll zu gebrauchen ist. Gerade dieses Verhältnis des Intellekts zu den Gegenständen der Erfahrung behandelt der Brief vom 21. Februar 1772 an Mercus Herz (A 10, 129—132), in dem Kant die Aufdeckung der Kategorien als reine Verstandesbegriffe mitteilt. Da mit dieser Wendung die intellektuelle Erkenntnis nicht mehr, wie noch die Dissertation sagt, die Gegenstände zeigt, „wie sie sind" (A 10, 131, 3), sondern die Erscheinungen nur noch unter Denkgesetze faßt, bedeutet jede Bestimmung des Menschen durch Erkenntnis von erfahrbaren Gegenständen, daß er sich innerhalb der Naturkausalität bestimmt und diese auf keine Weise überschreiten kann. Theoretisch formuliert und löst Kant dieses Problem in der dritten Antinomie der reinen Vernunft (B 472ff.). Für die praktische Philosophie heißt das: mit der im genannten Brief an Herz mitgeteilten Erkenntnis sind Bestimmung durch Erkenntnis von Gegenständen und Freiheit in der Handlung nicht mehr vereinbar. 11 Im Gegenteil kann die Handlung nur dadurch frei sein, daß der Handelnde einen formalen, d. h. von Erkenntnis empirischer Gegenstände unabhängigen Standpunkt einnimmt, daß er sich frei d e n k t . Diese Kritik am Versuch einer einheitlichen Theoriebildung in der Dissertation bedeutet dann allerdings erst die Trennung der praktischen Philosophie von der theoretischen. Diese kritische Scheidung wiederum läßt sich in den Reflexionen des Metaphysiknachlasses aufzeigen: „ D a die Freiheit eine vollständige Selbsttätigkeit des Willens ist, ohne durch stimulos oder durch irgend etwas anderes, was das Subjekt affiziert, bestimmt zu sein, so kommt es bei ihr nur auf die Gewißheit der Persönlichkeit an: daß sie nämlich bewußt sei, sie handle aus eigner Willkür, der Wille sei tätig und nicht leidend, weder durch stimulos noch durch fremde Eindrücke. . . . Das Ich ist eine unerklärliche Vorstellung. Sie ist eine Anschauung, die unwandelbar ist." (A 17, 464, 1 1 - 1 6 ; 465, 3 - 4 , R 4425) 12
In dieser naturkausalen Unerklärlichkeit ist die Freiheit eine „notwendige praktische Voraussetzung" (A 17, 510, 2 - 3 , R 4336) oder nach Reflexion 1010 des Anthropologienachlasses : „ D i e Möglichkeit, nach motivis intellectualibus zu handeln und also independenter a stimulis, ist das Fundament eines jeden praktischen Urteils; also ist die Freiheit eine anticipatio practica." (A 15, 451, 6 - 8 ) 1 3 11
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Vgl. K.d.r.V. (B 571) gegen den Standpunkt der Diss.: „Wenn wir der Täuschung des transzendentalen Realismus nachgeben wollen: so bleibt weder Natur noch Freiheit übrig." Ebenso A 17, 467, R 4228: „Wir sehen uns durch das Bewußtsein unsrer Persönlichkeit in der intellektualen Welt und finden uns frei. Wir sehen uns durch unsre Abhängigkeit von Eindrücken in der Sinnenwelt und finden uns determiniert. Unsere Anschauungen der Körper gehören alle zur Sinnenwelt; demnach stimmen die Erfahrungen mit den Gesetzen derselben von determinierenden Gründen. Aber unsre intellektualen Anschauungen vom freien Willen stimmen nicht mit den Gesetzen der phaenomenorum." Das Naturrecht Feyerabend formuliert folgendermaßen: „Die Freiheit des Wesens muß ich voraussetzen, wenn es soll ein Zweck von sich selbst sein. Ein solches Wesen muß also Freiheit des Willens haben. Wie ich sie begreifen kann, weiß ich nicht; es ist doch aber eine not-
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Dennoch ist die Freiheit als formaler Standpunkt und praktische Voraussetzung kein leerer Begriff; seine Realität erhält er durch das juristische Element, demgemäß sich der Handelnde für einen Standpunkt außerhalb der Naturordnung entscheiden k a n n , daß er angesichts der Möglichkeit, einen solchen Standpunkt einnehmen zu können, verantwortlich ist: „Die Freiheit von aller äußeren Nötigung unsrer Willkür ist durch Erfahrung klar, ungleichen die bewegende Kraft der intellektualen Gründe vom Guten; wir können desfalls auf keine anderen Wesen die Schuld schieben." (A 17, 510, 1 5 - 1 8 , R 4338)
Etwas zweites trennt wiederum diese kritische Lösung des Vereinbarkeitsproblems von sensibler und intellektueller Bestimmung, nämlich Recht und Moral: wird der Handelnde gemäß der Theorie der vorherigen Phase in der Nachfolge von Hume in der Moral von der Erkenntnis einzelner Gegenstände, im Recht von allgemeinen Regeln — beides in Gott geschaut — bestimmt, so liegt im kritischen Freiheitsbegriff moralisch die Freiwilligkeit der Entscheidung für den nicht naturkausalen Standpunkt, für das Recht aber bleibt demgegenüber nur der Zwang —, ein Verhältnis, das weiter unten noch entwickelt wird. Christian Ritter erkennt mit Josef Schmucker eine Wendung zur kritischen praktischen Philosophie nicht an; 14 im Gegenteil spricht Ritter in bezug auf die Rechtsphilosophie von einer „Tendenz zur Konsolidierung der bereits erreichten Positionen", es fehlten „— mit wenigen Ausnahmen — neue Denkansätze", es zeige sich vielmehr der „Beginn einer systematischen Verhärtung der Konzeption des kantischen Rechtsgedankens an". 1 5 Dem seien ergänzend zwei Beobachtungen entgegengestellt. Einmal bringt Kant selber in der K.d.pr.V. die Entdeckung der Kategorien in unmittelbaren Zusammenhang mit den wahren Prinzipien der Moral: „Aus diesen Erinnerungen wird der Leser der Kritik der reinen spekulativen Vernunft sich vollkommen überzeugen: wie höchstnötig, wie ersprießlich für Theologie und Moral, jene mühsame Deduktion der Kategorien war. Denn dadurch allein kann verhütet werden, sie, wenn man sie im reinen Verstände setzt, mit Plato für angeboren zu halten, und darauf überschwengliche Anmaßungen mit Theorien des Übersinnlichen, wovon man kein Ende absieht, zu gründen, dadurch aber die Theologie zur Zauberlaterne von Hirngespenstern zu machen." (A 5, 141, 5 - 1 2 )
Zweitens weist diese Kritik an Plato unmittelbar auf die Kritik zurück, die Kant am Beispiel dieses Autors im genannten Brief an Herz eben am Standpunkt der
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wendige Hypothesis, wenn ich vernünftige Wesen als Zwecke an sich denken soll." (S. 9) — „ O b wir frei sind oder das wenigstens annehmen können, muß die Metaphysik ausmachen." (S. 29) Schmucker, a.a.O., S. 389/90: „Immer wieder stellt er (Kant) als den entscheidenden Unterschied zwischen der theoretischen Metaphysik bzw. der Transzendentalphilosophie und der Moral fest: die erstere ist wesentlich kritisch, dialektisch, subjektiv, sie vermag durch ihre Ideen keine Erkenntnis von ihren Objekten zuwege bringen, die letzte ist dogmatisch, d. h. festsetzend, sie vermag durch ihre Ideen objektiv gültige Sätze über ihren Gegenstand: die Willkür des Menschen, auszusagen." Daraus schließt Schmucker, daß er gar keine „kritische" Ethik bei Kant gibt. a.a.O., S. 267/8
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Dissertation übt (A 10, 131, 23—26). Daß gerade diese Kritik ein ganz neues Verhältnis der Moral zu Gott bewirkt, geht aus den Reflexionen zur Ethik überdeutlich hervor: „Das principium der moralischen Dijudikation ist nicht der göttliche Wille. . . . 3. — sondern Vernunft." (A 19, 151, 2 - 3 , 2 2 - 2 3 , R 6760) „ D i e Religion ist nicht ein Grund der Moral, sondern umgekehrt." (A 19, 150, 25, R 6759) „Auetor legis obligantis est legislator. Auetor obligationis conformiter legi non est legislator. Utrum deus possit auetor legum moralium primitivarum dici? Est principium, non auetor." (A 19, 156, 1 7 - 1 9 , R 6771)
Aufgrund unserer genetischen Erläuterung von Kants kritischem Freiheitsbegriff können wir andererseits auch Julius Ebbinghaus nicht zustimmen, wenn er unter Berufung auf die K.d.r.V. (B 562) die praktische Freiheit allein negativ als „Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit" definiert, auf eine „tägliche, ja stündliche Erfahrung" des Bewußtseins der Freiheit schließt 16 und über dieses alltägliche Bewußtsein der praktischen Freiheit Kants Rechtsphilosophie von der kritischen Philosophie überhaupt löst. 1 7 Es ist wohl nicht richtig, nur den negativen Aspekt der Freiheit, die Unabhängigkeit von sinnlichen Antrieben zu betonen; vielmehr ist diese Unabhängigkeit nur möglich durch einen positiven Entscheidungsakt für einen Standpunkt, der nicht durch Naturkausalität bestimmt ist. Andrerseits ist es tatsächlich richtig, auf die Banalität von Kants kritischem Freiheitsbegriff zu pochen. Aber diese besteht nicht in der Unabhängigkeit von der kritischen Philosophie, sondern im Gegenteil im forensischen Element der Freiheit, daß nämlich vor jedem praktischen Urteil im vernünftigen Wesen die Möglichkeit vorausgesetzt wird, daß es sich für den geforderten Standpunkt hat entscheiden k ö n n e n . Damit besteht Kants kritische Lösung der Freiheitsproblematik ganz einfach in der Erkenntnis, daß weder der Realismus der ersten und zweiten Phase noch der Idealismus der Dissertation eine öffentliche Gerichtsbarkeit möglich erscheinen lassen, da diese entweder Tiere dressieren würde oder Engeln gegenüber machtlos wäre. Im Gegenteil setzt die rechtlich notwendige öffentliche Gerichtsbarkeit einen formalen Standpunkt voraus, aufgrund dessen der Mensch überhaupt erst verantwortlich ist. Die Bedeutung dieser Erkenntnis für die kritische Philosophie überhaupt formuliert Kant einmal knapp zur Zeit der Entstehung der „Rechtslehre": „6. Ursprung der kritischen Philosophie ist Moral, in Ansehung der Zurechnungsfähigkeit der Handlungen." (A 20, 335, 8 - 9 ) » »
Blickt man von dieser Lösung des Freiheitsbegriffs auf das Programm von 1762 zurück, dann ist festzustellen, daß es Kant erst zehn Jahre später gelungen ist, einen
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Ebbinghaus, Julius, Die Strafen für Tötung eines Menschen nach Prinzipien einer Rechtsphilosophie der Freiheit, Kantstudien Ergänzungsheft 94, Bonn 1968, S. 20. Gertrud Scholz, Das Problem des Rechts in Kants Moralphilosophie, Diss. phil. Köln 1972, S. 23f. folgt Ebbinghaus. a . a . O . , S. 22, vgl. Brandt, Eigentumstheorien, a . a . O . , S. 182 8 Zur Datierung s. A 20, 480
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nicht naturkausalen Standpunkt in der praktischen Philosophie zu begründen. Die Frage bleibt nur, wie das Prinzip lauten muß, das einerseits dem Formalismus des geforderten Standpunkts genügt, andererseits aber jeder alltäglichen Handlung gegenüber konkret anwendbar ist.
5.2. Die Entstehung der Form und der Selbstgesetzgebung des kategorischen Imperativs Es ist offensichtlich, daß die Regel jeder freien Handlung in Kants kritischer Philosophie der kategorische Imperativ darstellt. Dieser „oberste Grundsatz der Sittenlehre" gehört nach der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten" sowohl der Rechtsais auch der Tugendlehre an (A 6, 226, 1—3). Die ersten Formulierungen dieser Grundregel finden sich erst in der Mitte der 70er Jahre. Die Reflexionen, die zwischen der Erkenntnis der Subjektivität unseres Erkenntnisvermögens und der Entdeckung der Form des kategorischen Imperativs liegen, sind vom ständig wiederholten Versuch gekennzeichnet, diese formale und doch konkret anwendbare oberste Regel zu ergreifen und festzuhalten. 5 . 2 . 1 . R e g e l n des R e c h t s als f o r m a l e G r ü n d e des W i l l e n s Die Fragestellung Kants beleuchtet die Reflexion 6725 der Phase ξ (1772), die das Problem von 1762 mit der Idee in der Tugend und der kritischen Forderung des Formalismus verbindet: „ D i e ganze Schwierigkeit bei dem Streit über das principium der Moral ist: wie ein kategorischer imperativus möglich sei, der nicht konditional ist, weder sub conditione problematica noch apodictica (der Geschicklichkeit, Klugheit). Ein solcher imperativus sagt, was ursprünglich, primitive gut ist. Es ist zu bewundern, daß das primitive Gut: die Kondition von allem, was gefällt, nur einem Willen zukomme. Die Ursache ist, weil alle Vollkommenheit eine Idee und die Wirklichkeit derselben einen Willen voraussetzt und weil alles Zufällige und aller Ursprung sich auf Freiheit gründet. Alle Notwendigkeit der Urteile gründet sich auf die Allgemeinheit oder diese auf jene. Mithin ist der Grund der Notwendigkeit, welche moralische Sätze enunziieren, in der Allgemeingültigkeit der Gründe des Wollens zu setzen (schlechthin notwendig, absolute, bedeutet nicht innerlich, sondern überhaupt notwendig)." (A 19, 141/2)
Aus Kants vorherigen Überlegungen ist leicht zu ersehen, daß diese Bedingung der formalen Allgemeingültigkeit nur Rechtssätze erfüllen. Eine Priorität des Rechts erkannte Kant schon lange an; das Besondere der kritischen Wendung aber ist, daß in den Gründen des Wollens nicht verschiedene Prinzipien des Rechts und der Moral entgegengesetzt und dann irgendwie verbunden werden, sondern daß die „Persönlichkeit" als „die Unabhängigkeit des Willens von Neigungen" und deren „Moralität" (A 19, 139, 3—4, R 6713) überhaupt darin besteht, daß sie sich von formalen Sätzen, d. h. Rechtssätzen bestimmen läßt. Das sieht deskriptiv folgendermaßen aus: „Viele Menschen haben wohl Lust, gute Handlungen zu tun, wollen aber desfalls unter keiner Schuldigkeit gegen andere stehen; wenn man ihnen nur nicht mit Unterwerfung kommt, so
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tun sie alles; sie wollen sich nicht den Rechtsamen der Menschen unterwerfen, sondern solche nur als Gegenstände ihrer Großmut ansehen. Es ist nicht einerlei, unter welchem Titel ich etwas bekomme. Das, was zu dem Meinigen gehört, muß man nicht bloß meiner Bitte gewähren. Daher vor aller Anpreisung der Regeln der Gütigkeit zuerst der Nacken unter das Joch der schuldigen Pflichten muß gebeugt werden. Der ist immer ein Rebell gegen das göttliche Regiment, der es sich ausnimmt, als ein Freigeist nach bloßem eigenen Gutdünken zu tun, was Menschen von ihm fordern können." (A 19, 145, R 6736, 1772) Fragt man nun, unter welchen Prinzipien die Forderung der Menschen, denen m a n sich u n t e r w e r f e n m u ß , stehen, dann stößt man wiederum auf die sociabilitas, die M ö g l i c h k e i t der Gesellschaft, v o n der K a n t in den B e m e r k u n g e n ' erkannt hatte, daß sie auf V e r n u n f t r e g e l n des Rechts beruht: „Eine Handlung ist unrecht, insoferne sie, wenn andere diese Grundsätze in uns voraussetzen, unmöglich ist. E. g. Lüge. Es ist unmöglich, einen zu betrügen, der da weiß, daß man betrügen will, oder Treulosigkeit im Vertrage. Es ist auch unmöglich, solche Handlung als eine allgemeine Befugnis zu wollen und zu billigen. Ungesellig ist der, der solche Maximen hat, daß, wenn andere eben dergleichen haben, er mit ihnen nicht umgehen könnte. Dazu gehört Geld. Der gefällige Mensch wünscht, daß alle Menschen ebenso wären wie er; der ungesellige das Gegenteil. Der Gerechte fordert es. Die Gerechtigkeit ist ein Grund der Möglichkeit der Gesellschaft, obzwar ohne Wunsch. Die Gütigkeit ist ein Antrieb zur Gesellschaft. Fordere das von andern, was du willst, daß andere von dir fordern sollen." (A 19, 144, R 6734, 1 7 7 2 - 1 7 7 8 ) 1 ' D . h. K a n t erhebt in der kritischen praktischen Philosophie Rechtsgründe als unabhängig v o n einem materialen Handlungsgegenstand zu einer möglichen formalen Bestimmung
jeder sittlichen Handlung. D a ß K a n t bei der Formulierung
dieser
R e c h t s m o r a l sehr w o h l die G e f a h r eines juristischen Rigorismus sah, geht aus der Einschränkung des absoluten Rechtsstandpunktes h e r v o r , den er noch 1 7 8 6 Gottlieb H u f e l a n d v o r w i r f t , der ihm zu f o r d e r n scheint, „daß man v o n seinem Rechte sogar nichts nachlassen k ö n n e " ( A 8, 1 2 9 , 3—4): „Die moralischen Gesetze, weil sie vor den freien Willen überhaupt gelten, so sind sie auch gültig vor den menschlichen; allein die reinen Regeln der Pflicht, appliziert auf die Schwäche der menschlichen Natur, erleiden zwar keine Ausnahmen oder Milderung (diese würde auch z u m Schaden der menschlichen Natur und anderer Menschen gereichen), aber sie dienen durch das Bewußtsein der eignen Ungerechtigkeit, nicht bloß aus Gütigkeit, sondern aus Gründen des Rechts nicht alle Ansprüche zu machen, welche sonst nach den strengen Befugnissen der Gerechtigkeit von einer Person, die selbst gerecht wäre, zu machen sein würden. E. g. Staatsverfassung. Denn es ist nicht zu verlangen, daß alles gerecht sei gegen uns, wenn wir es nicht mit Gewißheit gegen andre sein." (A 19, 139, 1 4 - 2 4 , R 6715, 1772?) T y p i s c h f ü r dieses Experimentieren mit Rechtsregeln als obersten G r ü n d e n des W i l l e n s d ü r f t e n die Reflexionen z u r Geltung der Billigkeit sein: „ W a s durch keine allgemeinen ausdrücklichen Gesetze nezessitiert werden kann, ob es zwar durch das stillschweigende notwendig ist, ist billig. Also ist die Billigkeit eigentlich die Einschränkung des äußerlich gültigen Rechts (wovon äußere und ausdrückliche Gesetze möglich
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Es ist auffällig, daß nach dieser Reflexion die Gerechtigkeit „ein" Grund der Gesellschaft ist; in den B e m e r k u n g e n ' hätte es heißen müssen ,der' Grund der Gesellschaft. Dazwischen liegt die Entdeckung des notwendigen Staatsrechts.
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Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie sind) durch die nur innerlich gültigen Gesetze. Also gibt die Billigkeit kein Recht und befreit auch von keiner Schuldigkeit." (A 19, 147, R 6747, 1772)20
Dennoch bleibt zu fragen, ob solche genannten Rechtsbegriffe unter der obersten Regel der sociabilitas wie Vertragstreue, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit den ganzen Umfang des menschlichen Handelns umreißen können.
5.2.2. Das Recht der Menschen und der Menschheit als G r ü n d e des W i l l e n s In einem zweiten Angang untersucht Kant die „wesentlichen Bestimmungen des Menschen", „ohne die er entweder kein Mensch oder kein freies Wesen sein würde". Der Zusammenhang ist folgender: „Denn weil in Bestimmung des Nutzens alles zufällig ist . . ., so muß das, was eine vorhergehende Bedingung ist, sich seiner Freiheit zu bedienen, die Freiheit notwendig einschränken, folglich die wesentlichen Bestimmungen seiner eignen Person und das Leben selbst. Wider diese kann keine Absicht stattfinden, ob sie zwar selbst nicht eben die Absicht selber sein dürfen. Wesentliche Bestimmungen sind die, ohne die er entweder kein Mensch oder gar kein freies Wesen sein würde. Er soll nicht die Absicht haben, die Unwahrheit zu reden, weil er als einer, der seinen Sinn bezeichnen kann, die Bedeutung derselben nicht vernichtigen muß. Er soll nicht sich selbst töten, weil er, wenn er mit sich selbst schaltet, sich als eine Sache betrachtet und die Würde eines Menschen verliert. Er beleidigt andre, wenn er das, was nicht seine Sache ist, als die seinige behandelt. Der Selbstmörder zeigt auch die Freiheit in dem größten Widerstreit mit sich selbst, mithin in der größten Zerrüttung des eignen Wahnes. Die Menschheit ist heilig und unverletzlich. (SSowohl in seiner eignen Person als in der anderer. Seine eigne Einwilligung ist hier nichtig, weil man keinen Willen hat, um aufzuhören, gar etwas zu sein.) Alle Pflichten, nämlich die notwendigen, bestehen nicht darin, daß wir der Menschen Wohlfahrt, sondern der Menschheit Vorzüge und Würde ehren. Also ist das Recht der Menschheit dasjenige, was alle Freiheit durch notwendige Bedingungen einschränkt." (A 19, 165, 10-11, 16-32, 166, 1 - 5 , R 6801, 1772-1775) Christian Ritter interpretiert diese Gedanken Kants gemäß seiner genannten These folgendermaßen : „Wenn Kant in der oben zitierten Reflexion lehrt, daß „die wesentlichen Bestimmungen seiner (sc.: des Menschen) Person und das Leben selbst" „vorhergehende Bedingung(en)" sind, „sich seiner Freiheit" nämlich der sittlichen Freiheit des Vernunftwesens — „zu bedienen", so klingt hier bereits das zweite Element des Rechts der Menschheit an. Weil der Mensch nicht nur „wesentlichen Bestimmungen" genügen muß, „ohne die er . . . kein freies Wesen sein würde, sondern ebenso jene, ohne die er „kein Mensch" wäre, stellt Kant das „anthropologische" Apriori, die materialen, realen Inhalte der „Menschheit" neben ihre idealen, „formalen" Elemente — Vernunft und Freiheit." 21 Verstößt Kant hier wirklich gegen die von ihm selbst als unumstößlich aufgestellte Bedingung des Formalismus in der praktischen Philosophie? Die einzige Basis, von der aus man argumentieren kann, ist der Freiheitsbegriff. Nun besteht Kants Wendung gerade darin, daß ein Freiheitsbegriff als Denktätigkeit, als Freiheit des 20 21
Vgl. A 19, 146/7, RR 6742, 6743, 6745, 6746 a . a . O . , S. 320
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Denkens nicht nur als untauglich erkannt wird, sondern daß die Freiheit darin besteht, daß ein Sinnenwesen als solches einen vernünftigen formalen Standpunkt einnehmen k a n n : d. h. wenn man vom Menschen als einem freien Wesen spricht, formuliert man stets die Sinnlichkeit mit; anders ausgedrückt: im kritischen Freiheitsbegriff stecken analytisch sowohl Intellekt als auch Sinnlichkeit. Somit sind alle Bestimmungen der Freiheit zuwider, die das Sinnenwesen der Wirksamkeit der Vernunft berauben. Was die Vernunft aber am allerersten unbrauchbar macht, ist der Widerspruch zwischen Gedanken und deren Zeichen, d. i. die Unwahrhaftigkeit, — was Kant schon lange als formales Gesetz erkannt hatte. Unter eben einer solchen Vernichtung der Brauchbarkeit der Vernunft aber lassen sich die anderen Beispiele begreifen. So ist es ein Widerspruch, sich als freies vernünftiges Wesen anzuerkennen und aufgrund dieser Vernunft die Brauchbarkeit der Vernunft durch Selbstmord zu vernichten. Es ist ebenso ein Widerspruch, Eigentum für die eigene Person anzuerkennen, aber durch Raub so zu handeln, als ob kein Eigentum existiere, wobei allerdings darauf hinzuweisen ist, daß es Kant an dieser Stelle ferne liegt, eine eigentliche Eigentumstheorie zu entwickeln. D. h. die Regeln, nach denen die Freiheit arbeitet, sind zwar formal nach dem Satz des Widerspruchs entwickelt, sie beziehen sich aber aufgrund des ihnen zugrunde liegenden Freiheitsbegriffs auf das vernünftige Sinnenwesen als Ganzes. Kant formuliert diese wesentlichen Gesetze, deren Nichtbeachtung das vernünftige Sinnenwesen zum vernunftlosen macht, wie folgt: „Die wesentlichen Gesetze sind die, ohne welche die Freiheit ein gefährliches Ungeheuer sein würde; nämlich die Freiheit muß nicht so gebraucht werden, daß sie der Menschheit an sich selbst, 2. nicht der Freiheit anderer zuwider ist. Es sind also Rechte der Menschheit und Rechte der Menschen : Rechte der Menschheit in seiner eigenen Person und ebensolche Rechte in Ansehung andrer." (A 19, 163, R 6795, 1 7 7 2 - 1 7 7 5 ) "
Der erste Fall ist zum Beispiel der, daß ein Mensch durch andauernde Trunkenheit oder andere Rauschzustände seine Vernunftfähigkeit gegen den Gebrauch der Vernunft einsetzt, d . h . , wie man sagt, sich entmenscht; 23 der zweite Fall, daß ein Mensch durch Betrug den Vernunftgebrauch des anderen unwirksam macht, d. h. dem anderen nicht als einem vernünftigen Wesen begegnet. Zumindest in den zitierten Reflexionen ist nicht zu erkennen, daß Kant andere als formale Schlüsse aus dem Freiheitsbegriff zieht. O b dieses Ergebnis ζ. B. auf das spätere persönliche Recht auf dingliche Art zutrifft, muß allerdings am besonderen Fall geprüft werden. Die Behauptung Ritters eines materialen Aprioris scheint demnach tatsächlich auf einem Mißverständnis des Freiheitsbegriffs zu beruhen, nämlich daß Kant von einer faktischen metaphysischen Freiheit ausgehe, die auf sich selbst bezogene, absolute 22 23
Ebenso Moralphilosophie Collins A 27, 1, 258, 1 - 6 ; Naturrecht Feyerabend S. 9f. Vgl. Tugendlehre § 8: „Die tierische Unmäßigkeit im Genuß der Nahrung ist der Mißbrauch der Genießmittel, wodurch das Vermögen des intellektuellen Gebrauchs derselben gehemmt oder erschöpft wird. Versoffenheit und Gefräßigkeit sind die Laster, die unter diese Rubrik gehören. Im Zustande der Betrunkenheit ist der Mensch nur wie ein Tier, nicht als Mensch zu behandeln." (A 6, 427, 1 2 - 1 7 )
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Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie
Sätze formulierte. Dann allerdings benötigte Kant etwas absolutes Reales, wie er es sich um 1770 durch die Erkenntnis in Gott wirklich konstituierte. Im Gegenteil aber ist die Freiheit, die Kant seit 1772 in ihrem ganzen Umfange meint, keine andere, als die vom Richter vorausgesetzte eines Sinnenwesens, das von seiner Vernunft Gebrauch machen kann und muß. In diesem Zusammenhang werden zwei Dinge deutlich. Erstens, daß Kants Bestimmungen des reinen Willens, durch die die Freiheit erst möglich wird, auf den Bedingungen der Gesellschaft vernünftiger Sinnenwesen überhaupt beruhen. Das gilt selbst für die Rechte der Menschheit in der eigenen Person. Zum Selbstmord heißt es: „ W i e würdet ihr einen Freund ansehen, von dem ihr nie sicher wäret, ob er nicht mit dem Selbstmorde umginge?" (A 19, 166, 1 6 - 1 7 , R 6801)
Die Antwort muß lauten, daß wir mit einem Menschen umgehen müßten, der sein Menschsein ablehnt, der die gemeinsame Bedingung des Menschseins, den wirksamen Vernunftgebrauch verneint. Man wüßte tatsächlich wohl kaum mit einem solchen Menschen als Partner umzugehen, es sei denn unter dem Ziel, diesem wieder zur Bejahung der Vernunft zu verhelfen, was aber einschließt, daß man ihn eher als Gefangenen seiner Vorstellungen als ein freies Wesen, mit dem R e c h t s g e s c h ä f t e möglich sind, ansieht. Entsprechend läßt sich vom Umgang mit Betrunkenen, selbst wenn sie uns nicht verletzen, urteilen. Anders formuliert: die Freiheit ohne den Gebrauch der vernünftigen Gesetze der sociabilitas ist „ein gefährliches Ungeheuer", das jede Gesellschaft aufheben würde. Zweitens ist deutlich, daß mit den formalen Regeln der Freiheit jeder materiale Altruismus, die unmittelbare „Wohlfahrt" der Menschen aus den Gründen des Willens beseitigt ist. Damit besteht der von Kant in der kritischen Phase der Philosophie bisher entwickelte Formalismus in der Kombination des kritischen Freiheitsbegriffs mit dem Formalismus der intellektuellen und rechtlichen Verbindlichkeit als Bedingung der Geselligkeit, ein Formalismus, den Kant schon seit ungefähr 10 Jahren besitzt. Dieser große Umweg, den Kant seit den Bemerkungen' machen mußte, weil er noch nicht im Besitz eines absoluten Freiheitsbegriffs war und diese formale Verbindlichkeit daher stets an andere Freiheit vernichtende Materien anhängen mußte — moralisches Gefühl, konkrete Hochbilder, hobbesische Staatsgewalt, Civitas dei —, verführt sowohl Josef Schmucker 24 als auch Christian Ritter 25 zu dem Schluß, daß Kants praktische Philosophie schon seit der Mitte der 60er Jahre in allen ihren wesentlichen 24
25
a . a . O . , S. 2 5 6 : „ A u s dieser Zusammenfassung wird hinreichend deutlich werden, daß in der Tat um die Mitte der sechziger Jahre, also etwa fünfzehn Jahre vor dem Erscheinen der K r . d . r . V . und zwanzig vor dem der Grundlegung der „Metaphysik der Sitten" die Kantische Ethik bereits in ihren Grundzügen geprägt ist, ein bedeutsames Ergebnis, vor allem auch deswegen, weil es die traditionelle Auffassung widerlegt, daß er seine „kritische Ethik" erst entscheidend im Anschluß und unter dem Einfluß seiner theoretischen Vernunftkritik ausgebildet habe." a . a . O . , S. 339: „Bereits zu Anfang des durch die frühen Quellen aufgeschlossenen Zeitraums (um 1764) finden sich in nuce die gleichen grundlegenden Bestimmungen wie in der
M.d.S."
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Zügen fertig ist. Die Frage ist allerdings, was formale praktische Sätze ohne einen brauchbaren Freiheitsbegriff wert sind. Was aber hat Kant mit dem Recht der Menschheit und der Menschen bisher erreicht, außer daß er die kritische Freiheitsfähigkeit des vernünftigen Sinnenwesens auf den Inbegriff aller Menschen und jeder menschlichen Gesellschaft ausdehnt? Denn will man aus diesem Recht der Menschheit und der Menschen, aus den „Grundeigenschaften der Seele", die „sich von selbst nicht variieren" können und denen „selbst der Mensch als ein Tier unterworfen" ist (A 19, 138, 8 - 1 0 , R 6709, 1772-1775), die bisher erreichte praktische allgemeine Regel ziehen, dann müßte sie folgendermaßen lauten: Handle vernünftig nach den Regeln der Geselligkeit, und zwar so, daß die Möglichkeit deines eigenen Vernunftgebrauchs und desjenigen anderer nicht verhindert wird, — ein richtiges, aber wahrhaft mageres Ergebnis: Den kategorischen Imperativ bedeutet das noch lange nicht. 5.2.3. D i e F o r m der S e l b s t g e s e t z g e b u n g des k a t e g o r i s c h e n Imperativs aus einer allgemeinen R e f l e x i o n Pierre Bayles Im „Commentaire philosophique sur ces paroles de Jésus Christ: Contrains-les d'entrer, ou traité de la tolérance universelle" von 1686 gibt Pierre Bayle als allgemeine Reflexion zur Beurteilung von Handlungen eine Formulierung des kategorischen Imperativs : „ P o u r se défaire donc de ces deux obstacles " (Leidenschaft und Gewohnheit), „ j e voudrais qu'un homme, qui veut connaître distinctement la lumière naturelle, par rapport à la morale, s'élevât au dessus de son intérêt personnel et de la coutume de son pays et se demandât en général: une telle chose est-elle juste, et s'il s'agissait de l'introduire dans un pays où elle ne serait pas en usage et où il serait libre de la prendre où de ne la prendre pas, verrait-on, en l'examinant froidement, qu'elle est assez juste pour mériter d'être adoptée? 2 6
Er bezeichnet diese Reflexion als „ l a pierre-de-touche de tous les préceptes et de toutes les lois particulières, sans en excepter mêmes celles que dieu nous révèle ensuite extraordinairement." 2 7
Die Frage ist nun, ob Pierre Bayle diese Vorwegnahme der obersten Regel der kantischen praktischen Philosophie in einen philosophisch überzeugenden Zusammenhang stellen kann und ob Kant selbst diese allgemeine Reflexion kannte. Den Hintergrund dieser Reflexion bildet Bayles philosophischer Kampf gegen die orthodoxe Wundergläubigkeit und die Praxis der Zwangsbekehrung der Hugenotten unter Ludwig XIV.. Das erste Kapitel des .Commentaire', in dem auch die zitierte Reflexion steht, vereinigt die wichtigsten Elemente von Bayles Argumentation. Die Auseinandersetzung mit dem wörtlichen Sinn der Bibel (Lukas 14, 23), auf den sich die Orthodoxen berufen, führt Bayle als Cartesianer. Der Sinn der Bibel müsse sich an Axiomen messen: 26
27
Wir zitieren aus Gründen, die zu zeigen sein werden, aus der Ausgabe Rotterdam 1713; hier S. 142 a . a . O . , S. 143
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„comme que le tout est plus grand que sa partie, que si de choses égales, on ôte choses égales, les résidus en seront égaux, qu'il est impossible que deux contradictoires soient véritables, ou que l'essence d'un sujet subsiste réellement après la destruction du sujet." 28 N u n liegt es für einen Cartesianer nahe, in der Moral dem cartesischen Moralisten, nämlich Malebranche zu folgen, nach dessen Lehre wir alle Dinge mit Hilfe der G n a d e durch die Liebe zum höchsten Gut lieben. 2 9 Tatsächlich zeigt sich Bayle noch 1682 in den „Pensées diverses sur la comète" als eine Anhänger einer solchen Gütermoral, denn es ist die Gnade und die Liebe Gottes, die uns an diesen als unser höchstes G u t bindet. 3 0 D i e zitierte allgemeine Reflexion aber hat mit einem höchsten Gut nichts gemein, da sie die Prüfung der Handlung allein an anderen menschlichen Verhältnissen vorschreibt. Bayle muß sich also von der Lehre des höchsten Guts befreit haben, und er tut das tatsächlich mit Hilfe seines skeptischen Standpunkts. Schon in den „Pensées diverses" hatte er mit Ciceros „ D e divinatione" und Montaigne gegen die Wundergläubigkeit argumentiert, im .Commentaire' beruft er sich kritisch auf Lukrez: „Un philosophe épicurien" (Anm. Lucretius lib. IV) „raisonne fort juste, quoiqu'il applique mal son principe, lorsqu'il dit, que puisque nos sens sont la première règle de nos connaissances et la voie originale, par où les vérités entrent dans nos âmes, il faut qu'ils ne soient pas sujets à l'erreur. Il se trompe, en posant la règle ou la pierre-de-touche de la vérité dans le témoignage des sens: mais il a raison, en supposant cela, de conclure que nos sens doivent être les juges de nos controverses et décider de nos doutes." 31 Wenn unsere sinnliche Erfahrung allein das Material für unsere Erkenntnis hergibt, dann können wir die Gegenstände immer nur beurteilen, wie sie uns erscheinen; daher ist es möglich, Menschen wegen bestimmter Urteile zu Gegenständen, wie die Zwangsbekehrung es z. B . angesichts der Transsubstantiationslehre vorsieht, irgendwelchem Zwang zu unterwerfen. Diese Subjektivität unseres Erkenntnisvermögens formuliert Bayle nun folgendermaßen: (Gott) „ n o u s a imposé une charge proportionnée à nos forces qui est de chercher la vérité et de nous arrêter à ce qui nous paraît l'être après l'avoir sincèrement cherchée, d'aimer cette vérité apparante et de nous régler sur ses préceptes, quelques difficiles qu'ils soient. Cela veut dire, que la conscience nous a été donnée pour la pierre-de-touche de la vérité dont la connaissance et l'amour nous est commandée. Si vous demandez d'avantage, il est clair que vous demandez l'impossible, et il est aisé de le démontrer." 3 2
D a ß angesichts dieser Subjektivität unserer Erkenntnis eine Priorität der Moral im Vernunftgebrauch vorliegt, stellt Bayle ausdrücklich fest. Er sagt in Bezug auf die Geltung der Vernunft: 28
29
30
a . a . O . , 137; vgl. .Pensées diverses', Oeuvres Diverses, La H a y e 1727, Bd. 3, S. 120b: „ L a bonne philosophie nous apprend aujourd'hui d'une manière très convaicante, que notre âme est distincte du corps et par conséquent qu'elle est immortelle." Recherche de la vérité; a . a . O . , 4, 1, 3: „ C ' e s t l'amour du bien en général qui est le principe de tous nos amours particuliers." a. a. O . , S. 9 4 b : „ E l l e " (die Gnade) „consiste dans la charité, qui nous fait aimer dieu et qui nous attache à lui comme à notre souverain bien."
31
a.a.O., S. 148f.
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a . a . O . , 2, 10, S. 461 f.
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„S'il peut avoir certaines limitations à l'égard des vérités spéculatives, je ne pense pas qu'il en doive avoir aucune à l'égard des principes pratiques et généraux, qui se rapportent aux moeurs." 3 3
Die Vernunft, gebunden durch die Gewissenhaftigkeit, konstituiert nicht die Wahrheit, sondern entscheidet nur noch als Richter: „ . . . le tribunal suprême, et qui juge en dernier ressort et sans appel, de tout ce qui nous est proposé, est la raison, parlant par les axiomes de la lumière naturelle ou de la métaphysique." 3 4
Nach dieser einleuchtenden Argumentation kann ebenfalls ein material erkanntes höchstes Gut nicht mehr allgemein verbindlich gemacht werden. In die entstandene Leerstelle der Moral setzt Pierre Bayle folgerichtig formale Gesetze, die man leicht als die von Hobbes erkennt, 35 dessen Staatsrecht er selbst angesichts der bekämpften Erscheinungen des Absolutismus verteidigt. 36 Die Vernunft zeigt uns, „que le tout est plus grand que sa partie, qu'il est honnête d'avoir de la gratitude pour ses bienfaiteurs, de ne point faire à autrui ce que nous ne voudrions pas qui nous fût fait, de tenir sa parole et d'agir selon la conscience." 37
U m nun über die Anwendung solcher formaler Regeln hinaus die praktische Möglichkeit einer Handlung zu prüfen, empfiehlt Bayle, von seinen besonderen Interessen abzusehen und die Handlung als Gegenstand der Gesetzgebung eines beliebigen Landes zu betrachten. Kannte Kant diese formale, nichtmateriale Moral Pierre Bayles und läßt sich ein Zeitpunkt der Beschäftigung damit festlegen? Daß Kant den .Commentaire philosophique' tatsächlich für seine Argumentation benutzte, zeigt der 2. Teil des 4. Stücks der „Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft" von 1793 „Vom Afterdienst Gottes in einer statuarischen Religion" und darin der § 4 „Vom Leitfaden des Gewissens in Glaubenssachen". Es heißt don: „Man nehme z. B. einen Ketzerrichter an, der an der Alleinigkeit seines statuarischen Glaubens bis allenfalls zum Märtyrertume fest hängt und der einen des Unglaubens verklagten sogenannten Ketzer (sonst guten Bürger) zu richten hat, und nun frage ich: ob, wenn er ihn zum Tode verurteilt, man sagen könne, er habe seinem (obzwar irrenden) Gewissen gemäß gerichtet oder ob man ihm vielmehr schlechthin Gewissenlosigkeit schuld gegen könne, er mag geirrt, oder mit Bewußtsein unrecht getan haben; weil man es ihm auf den Kopf zusagen kann, daß er in einem solchen Falle nie ganz gewiß sein konnte, er tue hierunter nicht vielleicht unrecht. Er war zwar vermutlich des festen Glaubens, daß ein übernatürlich-geoffenbarter göttlicher Wille (vielleicht nach dem Spruch: compellite intrare) es ihm erlaubt, wo nicht gar zur Pflicht macht, den vermeinten Unglauben zusamt den Ungläubigen auszurott e n . " (A 6, 186, 2 1 - 3 3 )
Kant löst die Frage wie Bayle, daß nämlich der Geschichtsglaube den moralischen Grundsätzen nicht widersprechen dürfe. Die Sicherheitsmaxime angesichts der Offen33 34 35 36 37
a . a . O . , S. 141; ebenso S. 151 a . a . O . , S. 139 Leviathan 1, 14/15, De cive 2/3. Dictionnaire historique et critique, Art. Hobbes a . a . O . , S. 148
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barung bestehe darin, diese Glaubenssätze zwar als heilbringend, aber nicht unter den Begriffen wahr oder falsch anzunehmen: „In dieser Maxime ist wahrhafte moralische Sicherheit, nämlich vor dem Gewissen (und mehr kann von einem Menschen nicht verlangt werden)." Sic! (A 6, 189, 13—15) Pierre Bayle formulierte: „Si vous demandez d'avantage, il est clair que vous demandez l'impossible"! 38 Diese Kenntnis des ,Commentaire' läßt sich allerdings schon für eine frühere Zeit nachweisen. Das Erscheinen von Herders 1. Teil der „Ältesten Urkunden des Menschengeschlechts" im Jahr 1774 hatte Anlaß zu einem Briefwechsel zwischen Kant und Hamann gegeben, aus dem hervorgeht, daß beide Autoren darin einig waren, daß die Bibel als Grundlage einer Religion nicht historisch oder philosophisch interpretiert werden dürfe. Kant schreibt: „Wenn eine Religion einmal so gestellet ist, daß kritische Kenntnis alter Sprachen, philologische und antiquarische Gelehrsamkeit die Grundfeste ausmacht, auf die sie durch alle Zeitalter und in allen Völkern erbauet sein muß, so schleppt der, welcher im Griechisch — Hebräisch — Syrisch — Arabischen etc. imgleichen in den Archiven des Altertums am besten bewandert ist, alle Orthodoxen, sie mögen so sauer sehen, wie sie wollen, als Kinder, wohin er will." (A 10, 160, 2 5 - 3 1 ; Brief vom 8. April 1774) Hamann antwortet: „Unter allen Sekten, die für Wege zur Glückseligkeit, zum Himmel und zur Gemeinschaft mit dem Ente Entium oder dem allein weisen Enzyklopädisten des menschlichen Geschlechts ausgegeben worden, wären wir die elendeste unter allen Menschen, wenn die Grundfeste unsers Glaubens in einem Triebsande kritischer Modegelehrsamkeit bestünde." (A 10, 163, 2 7 - 3 2 ; Brief vom 10. April 1774)39 Dies aber gerade ist das Programm Pierre Bayles, mit dem er den ,Commentaire' einleitet: „Je laisse aux théologiens et aux critiques à commenter ce passage, en le comparant avec d'autres, en examinant ce qui précède et ce qui suit, en faisant voir la force des termes de l'original et les divers sens dont ils sont susceptibles et qu'ils ont effectivement en plusieurs endroits de l'écriture. Je prétends faire un commentaire d'un nouveau genre et l'appuyer sur des principes plus généraux et plus infaillibles, que tout ce que l'étude des langues, de la critique et des lieux communs me pourrait fournir." 40 A m 28. April 1775 schreibt Kant an Lavater, der ihn um ein Urteil über die 2. A b handlung seiner Vermischten Schriften, erschienen 1774, 4 1 gebeten hatte:
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Kant folgt in der Gewissenlehre Bayle; s. Tugendlehre § 13. Dort spielt ein Gesichtspunkt Adam Smiths mit, der als Instanz des Gewissens einen unparteiischen Beobachter annimmt (Theorie der moralischen Empfindungen, Braunschweig 1770, S. 284 f.). Zur Kenntnis Kants A 19, 185, 11-13, R 6864; vgl. A 19, 309, 13-17, R 7312; auch Kr.d.r.V. Β 597; „Vom Ende aller Dinge" A 8, 329f.; „Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee" A 8, 266ff. Zu diesem Briefwechsel und seinem Hintergrund siehe Klaus Reich, Einleitung zu „Der Streit der Fakultäten", 1959, Phil. Bibl. Meiner Bd. 252, S. Xlff. a . a . O . , S. 135f. Zu Lavaters Buch A 13, 67
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„Sie verlangen mein Urteil über Ihre Abhandlung vom Glauben und dem Gebete. Wissen Sie auch, an wen Sie sich deshalb wenden? An einen, der kein Mittel kennt, was in dem letzten Augenblicke des Lebens Stich hält, als die reinste Aufrichtigkeit in Ansehung der verborgensten Gesinnungen des Herzens und der es mit Hiob vor ein Verbrechen hält, Gott zu schmeicheln und innere Bekenntnisse zu tun, welche vielleicht die Furcht erzwungen hat und womit das Gemüt nicht in freiem Glauben zusammenstimmt. Ich unterscheide die Lehre Christi von der Nachricht, die wir von der Lehre Christi haben und, um jene rein herauszubekommen, suche ich zuvörderst die moralische Lehre abgesondert von allen neutestamentischen Satzungen herauszuziehen. . . . Nun gestehe ich frei: daß in Ansehung des Historischen unsere neutestamentischen Schriften niemals in das Ansehen können gebracht werden, daß wir es wagen dürften, jeder Zeile derselben mit unangemessenem Zutrauen uns zu übergeben und vornehmlich dadurch die Aufmerksamkeit auf das einzig Notwendige, nämlich den moralischen Glauben des Evangelii zu schwächen, dessen Vortrefflichkeit eben darin besteht, daß alle unsre Bestrebung auf die Reinigkeit unserer Gesinnung und die Gewissenhaftigkeit eines guten Lebenswandels zusammengezogen wird." (A 10, 176, 10—21, 178, 11 — 19) K a n t m u ß sich bis A p r i l 1775 mit Pierre Bayles Argumentation im ,Commentaire' auseinandergesetzt haben, deren Merkmal gerade die Ablehnung des Buchstabenglaubens und die reinste Gewissenhaftigkeit ist! D e r Bezug zur herangezogenen Korrespondenz zwischen Kant und Hamann liegt nahe: Hamann besaß diesen ,Commentaire' in der von uns zitierten Ausgabe von 1 7 1 3 in seiner umfangreichen Bibliothek; 4 2 Kant und Hamann versorgten sich damals gegenseitig mit Lektüre, 4 3 nichts ist wahrscheinlicher, als daß Hamann seinem Freund Kant den ,Commentaire ' als Beispiel ihres gemeinsamen Standpunktes auslieh. D e n Hintergrund f ü r Kants Übernahme der allgemeinen Reflexion Pierre Bayles erhellt die Vorlesungsnachschrift Powalski. 4 4 Neben der Einsicht, daß G o t t nicht der U r h e b e r des moralischen Gesetzes ist (A 27, 1 2 1 , 5—12; 135, 21—35; 1 4 5 f . ) , neben der Bestimmung des Willens durch die wesentlichen Zwecke der Menschheit und Rechtsregeln betont Kant „die Einfalt" als „Haupteigenschaft der Erkenntnis der natürlichen Religion" (A 27, 1, 170, 37—38). Er erklärt diese folgendermaßen: „Unter der Einfalt verstehe ich den Grad der Erkenntnis, die durch den bloßen eigenen Gebrauch des gemeinen und gesunden Verstandes erkannt werden kann. Der gemeine und gesunde Verstand muß hinreichend sein, sie nicht nur zu fassen, sondern auch auszuüben und sie zu erlangen, und dieses kann ich auch von jedermann verlangen." Sic! (A 27, 1, 170, 38-171,4) Bayles allgemeine Reflexion selbst, die Handlung mit Hilfe der Vorstellung eines Gesetzgebers zu prüfen, schlägt sich in Kants Reflexionen nieder: „ W a r u m ist die natürliche allgemeine Begierde (zur Glückseligkeit) der Idee nach unter dem obersten ursprünglichen Willen sowohl der Natur als der Freiheit und an ihn als dessen Kondition gebunden? Wir stellen uns nämlich vor, daß dasjenige geschehen müsse, was wir nach unsrer unparteiischen Willkür verlangen würden, wenn andere unserem Willen unterworfen wären. Ihr Wille müßte untereinander und mit unserm obersten Willen zusammenstimmen. Wir würden verlangen, daß sie der Idee von ihrem Dasein sich gemäß verhielten, aller Wille Einheit hätte." (A 19, 217, 1 9 - 2 6 , R 6973)
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Imendörffer, Nora, J. G. Hamann und seine Bibliothek, Königsberg/Berlin 1938, S. 106 Siehe die Briefe Hamanns vom 18. 2. und 13. 3. 1775; A 10, 172-174 Zur Datierung siehe Lehmann A 27, 2
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Schließen wir auf den kritischen Freiheitsbegriff zurück, dann erfüllt Kant den zur Freiheit erforderlichen vernünftigen Standpunkt dadurch mit Inhalt, daß er den Handelnden sich als Gesetzgeber allgemeiner Regeln vorstellen oder denken läßt. Da jener Standpunkt der Vernunft aber die einzige Möglichkeit der Freiheit überhaupt ausmacht, ist der Handelnde den von ihm vorgestellten allgemeinen Gesetzen, d. h. sich selbst als Gesetzgeber zugleich unterworfen: „Die Unterwerfung der Freiheit unter die Gesetzgebung der reinen Vernunft. . . . Die reine, d. i. von allen (sinnlichen) Triebfedern abgesonderte Vernunft hat in Ansehung der Freiheit überhaupt gesetzgebende Gewalt, die jedes vernünftige Wesen erkennen muß, weil ohne Bedingungen der allgemeinen Einstimmung mit sich selbst in Ansehung seiner selbst und anderer gar kein Gebrauch der Vernunft in Ansehung ihrer stattfinden würde. N u n ist das ein natürlicher und notwendiger Gegenstand des Abscheues, wodurch die oberste Kraft sich selbst widerstreitet, ebenso wie im Logischen, wenn sie sich selbst widerspricht." (A 19, 179, R 6853)
Diese Reflexion ist in die Jahre 1776—1779 datiert. Der späteste Datierungsvorschlag der vorher zitierten Reflexion 6973 geht wenig über die Mitte der 70er Jahre hinaus. Aufgrund der Datierungsvorschläge und inhaltlichen Kriterien bestehen keine Bedenken, die Reflexion 6973 in unmittelbaren Zusammenhang mit dem herangezogenen Brief an Lavater und der Lektüre des „Commentaire philosophique" Bayles zu bringen. Genetisch betrachtet verbindet Kant danach im kategorischen Imperativ den kritischen Freiheitsbegriff einerseits mit der notwendigen Widerspruchsfreiheit der Persönlichkeit aufgrund des Verbindlichkeitsbegriffs, andrerseits mit der Prüfung der Handlung mittels der Vorstellung eines wirklichen Gesetzgebers. Daß die Einheitlichkeit des daraus resultierenden Standpunkts in der Widerspruchslosigkeit der vorgestellten Persönlichkeit des Gesetzgebers, dem ich zugleich unterworfen bin, in der Einheit einer vorgestellten Rechtsperson liegt, ist nur eine Sache der Formulierung. Trotzdem bedürfen zwei Fragen weiterer Klärung, was erstens Kant neben der religionsphilosophischen Erörterung Bayles auf dessen moralische Theorie aufmerksam machte und warum zweitens Kant seinen Anreger Bayle nicht zitiert. Am offensten liegt die Bayle und Kant gemeinsame skeptische Grundhaltung in der Moral als der des einfachen Mannes. Nun besteht für Bayle die sittliche Handlung gerade darin, dem Gewissen selbst dann zu folgen, wenn alle Nützlichkeiserwägungen innerhalb der erscheinenden Wahrheiten, alle Handlungen der wirklichen Handlungspartner dem widersprechen. Gerade einen solchen von Erscheinungen unabhängigen Standpunkt macht Kants kritischer Freiheitsbegriff aus, nämlich eine vernünftige Haltung selbst dann einzunehmen, wenn die unsittliche Handlung in naturkausalen Verhältnissen vorteilhafter wäre. Diese beiden Autoren gemeinsame Forderung eines angesichts von Nützlichkeitserwägungen möglicherweise unsinnig erscheinenden Standpunkts nennt Kant später etwas ,Unvermutetes im Denken' (A 27, 1, 457, 4, Moralph. Collins), ein Paradox: „ U n d hierin liegt eben das Paradoxon: daß bloß die Würde der Menschheit als vernünftiger N a t u r ohne irgendeinen andern dadurch zu erreichenden Zweck oder Vorteil, mithin die Achtung für eine bloße Idee dennoch zur unnachlaßlichen Vorschrift des Willens dienen sollte." (A 4, 439, 3 - 7 , Gründl, z. Met. d. S.)
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Selbst wenn Kant gegen Mitte der 70er Jahre seine paradoxe Lehre in der praktischen Philosophie bei Bayle wiederfindet und dessen Reflexion der Rechtsschöpfung als Inhalt seines formalen Standpunkts in der Freiheit übernimmt, kann er sich doch den Begründungszusammenhang selbst zuschreiben. Der Hintergrund der allgemeinen Reflexion Bayles ist dem Ergebnis nach zwar kritisch zu nennen, sie selbst ist mit der genialen Treffsicherheit einer praktisch reflektierenden Vernunft gesehen, aber Bayle besitzt weder eine haltbare Theorie der Freiheit noch einen absoluten Verbindlichkeitsbegriff. Daher bleibt seine Reflexion Empfehlung. Demgegenüber gibt sich Kant nur mit einer universalen Handlungstheorie zufrieden, die, gesichert gegen Einwürfe der theoretischen Philosophie, über den Vorwurf einer unverbindlichen Empfehlung erhaben ist. Zwar macht Bayles Reflexion eines Gesetzgebers den formalen Standpunkt der Freiheit über die Anwendung einzelner Rechtsbegriffe wie Vertragstreue, Wahrhaftigkeit, Erhaltung der Rechtspersönlichkeit hinaus erst allseitig konkret anwendbar, doch steckt in der allgemeinen Anwendbarkeit selbst Kants eigentliches praktisches Grundproblem, wie nämlich eine oberste praktische, d. i. kategorische Regel, die ihrer praktischen Forderung nach konkret anwendbar sein muß, überhaupt möglich ist. Diesen Nachweis aber führt Kant unabhängig von Bayle in der Deduktion des kritischen Freiheitsbegriffs. Interessant ist festzustellen, an welcher Stelle des handschriftlichen Nachlasses die Formel des kategorischen Imperativs zuerst sichtbar wird. Die Akademieausgabe ordnet der Phase ρ, 1773 —1775, eine Reihe Reflexionen zum Kriegsvölkerrecht zu: „Das Völkerrecht beruht auf diesem einzigen Probierstein. Wenn meine Unternehmung (so) beschaffen ist, daß die Maxime derselben als öffentlich bekannt kann angenommen werden, ohne daß dieses ihr widerstreitet, so ist sie recht. Dagegen ist die Handlung unrecht, deren Maxime, wenn sie öffentlich bekannt wäre, sich natürlicherweise allgemeinen Widerstand verursachen müßte. . . . Wenn jemand bloß die vorteilhafte Gelegenheit wählt, um einen andern Staat zu unterdrükken, so muß er sich vorstellen, daß diese Maxime öffentlich bekannt wäre, folglich ein jeder urteilen könnte, daß an ihn auch die Reihe kommen könne." (A 19, 525, 10—15, 20—23, R 7818)
Die Forderung der Öffentlichkeit der Maxime kann als ein Ausfluß der sociabilitas aus Wahrhaftigkeit angesehen werden und ist daher nicht neu. 4 5 Solange Zeichen und Denken nicht übereinstimmen, bzw. ein Mensch durch Verweigerung von Zeichen seines Denkens auf den Gebrauch der Vernunft im sozialen Bezug verzichtet, kann ich dem Gegenüber nicht als einem vernünftigen Menschen begegnen; d. h. ich habe keinen Anhaltspunkt für die wirkliche Beschaffenheit seiner Handlungen und bin 45
A 19, 122/3, R 6642, 1769?: „Unter den Intellektualphilosophen der Moral ist das principium der Wahrheit als ein Mittel der Beurteilung gut. Denn dasjenige, dessen Maxime öffentlich kann gestanden werden, ist gut. Daher ist alles moralisch Böse wider die Wahrheit, weil er tacite eine andre Maxime annimmt, als er bekennt." - A 19, 435, 3—5, E 7514, 1769—1771?: „Omnis actio iniusta est, quae fit per maximam necessario dissimulandam. Maximae debent esse ("publice) profitendae (propatulae, apertae, retectae)."
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daher auf meine Macht bzw. auf die meiner Verbündeten angewiesen. Daß aber die Möglichkeit der Handlung nicht in faktischer Anerkennung der Rechtspartner etwa als Vertragspartner beruht, sondern auf Selbstprüfung, ist ebenfalls nicht neu. Überraschend ist, daß Kant innerhalb dieser Reflexionen zum Völkerrecht die Forderung der Öffentlichkeit auf jede Rechtshandlung überhaupt, nach seiner Theorie auf jede Handlung ausdehnt: „ D a s principium der rechtlichen Pflicht ist: ich muß so handeln, als wenn meine Maximen ebenso von jedermann wie von Gott gesehen würden. Ich kann mir des Vorteils nicht bedienen, daß mein H e r z Fensterladen hat. Würde einem jeden ins Herz gesehen werden können, so müßte er gute Maximen annehmen." (A 19, 526/7, R 7822)
Diese Reflexion ist durch ihren Inhalt eindeutig mit dem zitierten Brief an Lavater in Verbindung zu setzen und kann daher mit handschriftlicher Hauptdatierung nach ρ in die Jahre 1774/75, d. h. in die erschlossene Zeit der Beschäftigung mit Pierre Bayle datiert werden. Nun notiert sich Kant auf derselben Seite seines Handexemplars mit der handschriftlichen Hauptdatierung nach ρ—σ, 1773—1777, folgendes: „ E i n Gesetz ist etwas Allgemeines, wornach man sich richten kann. Diejenige Handlung, deren Maxime unmöglich öffentlich Gesetz werden kann, ist unrecht." (A 19, 527, 4—6, R 7823)
Die Maxime soll nicht nur auf ihre Öffentlichkeit geprüft werden, sie wird daraufhin geprüft, ob sie wirkliches Gesetz in irgendeinem Land werden kann! Dieses frühest feststellbare Beispiel zeigt, wie konkret Kant die Anwendung des kategorischen Imperativs ganz im Sinne der Supranationalität Bayles versteht. Der verantwortliche Politiker ist verpflichtet, wenn er sich auf den Standpunkt der vernünftigen Freiheit stellt, unabhängig von Sitten und Rechtspraxis einzelner Länder zu prüfen, ob sein Grundsatz Teil einer wirklichen Gesetzgebung eines wirklichen Landes bzw. eines wirklichen Rechtszustandes werden könnte. Damit dient der kategorische Imperativ der Schaffung eines Friedenszustandes unter freien Wesen, er selbst ist die Regel einer konkreten sociabilitas, ohne die ein friedliches Zusammenleben der Menschen nicht möglich ist. Diesen Charakter der obersten Rechts- und Friedensregel des kategorischen Imperativs zeigt noch die Rechtslehre: „ W a s ist aber nun nach Begriffen des Völkerrechts, in welchem wie überhaupt im Naturzustande ein jeder Staat in seiner eigenen Sache Richter ist, ein ungerechter Feind? Es ist derjenige, dessen öffentlich (es sei wörtlich oder tätlich) geäußerter Wille eine Maxime verrät, nach welcher, wenn sie zur allgemeinen Regel gemacht würde, kein Friedenszustand unter Völkern möglich, sondern der Naturzustand verewigt werden müßte." (A 6, 349, 19—25)
Mit einem solchen kategorischen Imperativ als oberstem Prinzip ist die praktische Philosophie überhaupt eine Lehre der Rechts- und Friedensschöpfung unter Menschen.
5.2.4. R e c h t und M o r a l unter dem k a t e g o r i s c h e n I m p e r a t i v Für die zweite Hälfte der 70er Jahre liegen zahlreiche Reflexionen vor, die das Verhältnis von Recht und Moral formulieren. Dadurch daß eine Reflexion der Rechtsprüfung oberstes Prinzip aller Handlungen geworden ist, besteht der Unterschied der
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ethischen und rechtlichen Handlung nur darin, daß die Motivation zur ethischen Handlung unabhängig v o n der Erwägung eines möglichen Zwangs im Subjekt selbst liegt: „Von den Pflichten der Menschen in Ansehung der Handlungen: Jus. In Ansehung der Gesinnungen, d. i. der Bewegungsgründe, jene Pflichten zu leisten: Ethica. Der Beweggrund ist hier innerlich, dort der Zwang." (A 19, 235, 1 3 - 1 5 , R 7050) Das Recht selbst ist damit Gegenstand der Sittlichkeit: „Das ius strictum sagt nur, was Recht ist, d. i. geschehen soll in Beziehung auf das arbitrium commune (^problematisch). Die necessitatio subiectiva ist hier pathologisch. Die Ethik sagt, es sei gut, d. i. aus motivis internis notwendig, recht zu handeln. Daher gehört das Recht mit unter die Sittlichkeit." (A 19, 227, 3 - 7 , R 7014) D i e M o r a l besteht darin, freiwillig den Rechtsstandpunkt einzunehmen: „Achte das Recht hoch, selbst wo es kein Zwangsrecht ist. Ethik." (A 19, 244, 26, R 7081) D e n verschiedenen Motiven der Rechtsregel gegenüber ordnet Kant sowohl das Begriffspaar littera — anima legis, wobei die „anima legis moralis" als „der moralische Bewegungsgrund" definiert w i r d (A 19, 233, 22—23, R 7043) 4 6 als auch das Begriffspaar legalis — moralis z u : „Alle Handlung, deren Bedingungen zum allgemeinen Gesetz der Willkür (inneren, äußeren) dienen können, ist moralisch gut. Eine empirische Bedingung (Glückseligkeit) kann dazu nicht dienen, mithin nicht die Ubereinstimmung (8mit) der Neigung, sondern die Form der Freiheit, Moralität — Legalität; diese natürlich oder bürgerlich. Die aptitudo der Handlungen zu äußern Gesetzen ist legalitas, vel naturalis vel civilis." (A 19, 239, 1 7 - 2 3 , R 7062, 1776-8) 4 7 Dieses Begriffspaar hat Kant dem § 1 1 4 der Prolegomena Achenwalls entnehmen k ö n n e n ; 4 8 daß er die Prolegomena aber wirklich benutzt und sich damit auseinandergesetzt hat, zeigt deutlich das Naturrecht Feyerabend. 4 9 Mit der Übernahme dieses Begriffspaars bemüht Kant allerdings Termini der Tradition, u m sein Verhältnis zwischen Moral und Recht zu charakterisieren. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß Kant dieses Verhältnis in diametralem Gegensatz z u r Schultradition versteht. Daß f ü r ihn dieses Verhältnis nicht wie f ü r Achenwall mit innerlich und äußerlich, d. h. v o r einem Richter verantwortlich, umschrieben werden k a n n , 5 0 sondern daß der Mensch als freies Wesen äußerem Recht gegenüber stets innerlich verpflichtet ist und daher f ü r das Recht nur der Zwang als Unterscheidungsmerkmal bleibt, formuliert einmal sehr deutlich die Moralphilosophie Collins v o n 1 7 8 5 , deren Vorlage noch auf das Ende der 70er Jahre zurückgehen dürfte: „Es ist also ein wahrer Unterschied der obligationum, wenn man sie einteilt in internas und externas, aber darin besteht nicht der Unterschied der Ethik und des Juris, sondern der Unter-
46 47
48 49 50
Ebenso A 19, 233/34, R 7044ff., 1776-78; vgl. A 27, 1, 138, 17ff. Vgl. A 19, 154, R 6764: „Wir können an den Handlungen die Moralität und Legalität derselben betrachten. Wenn diese stattfindet, ist jene noch nicht entweder dem Objekt nach (Gütigkeit) oder bloß dem Bewegungsgrunde nach (Gesinnung oder Furcht). Die Legalität ist entweder juridisch oder ethisch." Zur letztgenannten Differenzierung s. u. S. 92 S. o. S. 48 S. 24, S. 27, S. 32; vgl. o. S. 50 96 S. o. S. 45f.
Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie
90
schied besteht in den Bewegungsgründen zu diesen Verbindlichkeiten; denn wir können den obligationibus Genüge tun aus Pflicht und aus Zwang." (A 27, 1, 272, 10— 15) s l D a nun aber Moral freiwillige Rechtsausübung bedeutet, kann der Rechtszwang selbst nicht wiederum moralisch begründet werden, wie es Kants Vorgänger mit den Prinzipien der Selbsterhaltung, Lebensdauer, auf die Person bezogener Friedenszustand oder Vervollkommnung tun, sondern der Rechtszwang selbst kann nur auf der Differenz zur absoluten N o r m in der Freiheit, dem Gesetz der Geselligkeit, beruhen. Mit dieser alleinigen Scheidung der Ethik vom Recht durch das Motiv ist die N o r m selbst,
die sowohl angesichts der moralitas als auch der legalitas aufgrund des
kritischen Freiheitsbegriffs gilt, von der Trennung in Recht und Moral unabhängig. U n t e r dieser absoluten Geltung des Gesetzes der sociabilitas, des kategorischen Imperativs, ist es Aufgabe der Moral, den Menschen zum achtungswürdigen Rechtssubjekt zu machen: „Ethisch: Handle nach Bewegungsgründen eines innern allgemeingültigen Willens, i. e. so daß du zu dulden, zu lieben und zu achten seist." (A 19, 299, R 7271, 3 1 - 3 2 , 1776-1789) 5 2 Aufgabe des Rechts ist, die erzwingbaren Bedingungen eines menschenwürdigen Zusammenlebens dieser Rechtssubjekte zu liefern. Allerdings muß Kant dem Vorwurf entgegentreten,
daß eine
solche Moral der Rechtsausübung
die
Liebespflichten
vernachlässige: „Man muß solche Maximen zum Handeln haben, als nur allein möglich sind, wenn wir solche öffentlich deklarieren müßten. Man muß sich des Vorteils, geheim zu sein, begeben und handeln vor den Augen von jedermann. Die ethischen Maximen, wenn sie öffentlich bekannt sein sollen, können nicht lieblos sein, weil sie uns aller Liebe berauben würden, auch nicht unnatürlich, weil wir uns dadurch von der Menschheit absondern." (A 19, 526, R 7819) 53 N o c h in der Tugendlehre bezieht Kant das Wohlwollen auf die Gesetze der Geselligkeit: „Denn alles moralisch-praktische Verhältnis gegen Menschen ist ein Verhältnis derselben in der Vorstellung der reinen Vernunft, d. i. der freien Handlungen nach Maximen, welche sich zur allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren, die also nicht selbstsüchtig (ex solipsismo prodeuntes) sein können." (A 6, 450, 34—451, 4)
51
52 53
Vgl. die Diskussion zum Verhältnis von Recht und Moral im Naturrecht Feyerabend, S. 20ff., S. 42ff., vgl. S. 6. Ritter, a . a . O . , S. 273ff., scheint im Gebrauch der vorkritischen Termini ein vorkritisches Relikt zu sehen. Vgl. A 19, R 7004; 236, R 7053; 245, R 7085. Aber selbst das formale und materiale Unrecht haben mit der Materie von 1770 nichts gemeinsam: „Gewisse Regeln gehören zur Ethik schon materialiter, als die Liebespflichten ( s Pflichten gegen sich selbst), andere nur formaliter, als die Pflicht, dem Recht anderer aus Gesinnung ein Genüge zu tun." A 19, 243, R 7076. Das Materiale bezieht sich nur auf die unmittelbare Folge der Handlung. Ebenso A 19, 143/4, R 6732; 204, R 6913; 241, R 7067 Ebenso A 19, 244, R 7081/2, 1 7 7 6 - 7 8 Handschriftliche und inhaltliche Datierung wie R 7822, s. o. S. 88
Der kritische Rechtsbegriff 5.3. Der kritische
91
Rechtsbegriff
D i e Individuen, die sich gemäß dem Freiheitsbegriff nach vernünftigen allgemeinen Regeln bestimmen können, müssen nebeneinander existieren. Aus der Bedingung der Koexistenz dieser der Freiheit fähigen Individuen entsteht der Rechtsbegriff. U m 1776 formuliert Kant: „Was mit dem Privatwillen übereinstimmt, ist angenehm; ein allgemein gültiger Wille ist gut. Was die Bedingungen enthält, durch die es möglich wird, daß ein Wille mit dem andern einstimmen kann, ist recht; wodurch er wirklich stimmt, ist gut." (A 19, 177, R 6845) D i e v o m Willen des freiheitsfähigen Wesens bestimmte Handlung trifft auf die gleiche des Rechtspartners, d. h. die Handlung des einen freien Wesens schränkt die des andern ein: „Recht überhaupt ist eine Handlung, sofern man in Ansehung derselben frei ist. Ein Recht aber ist die Freiheit, wodurch die Freiheit anderer eingeschränkt wird: ius quaesitum." (A 19, 145, 2 4 - 2 6 , R 6738, 1772-78) 5 4 D . h. voneinander unabhängige Willen gleichen sich aufgrund ihrer Vernunftbestimmbarkeit aus: „Die Freiheit besteht in der (Ssubjektiven) Unabhängigkeit der Willkür von allem, was auf unsre Sinne innerlich und äußerlich einfließt. Das Recht ist die objektive Unabhängigkeit unsrer Willkür von fremder, d. i. die Einschränkung jeder Willkür durch die Bedingung der wechselseitigen Einstimmung und die Notwendigkeit der Handlungen, die aus diesen Bedingungen fließen. Der weiseste und gütigste Mensch, der alles auf unser Bestes anlegte, hat darum nicht ein Recht über uns." (A 17, 590, 4 - 1 0 , R 4549, 1772-1775?) D a s Maß der freien Handlungen zueinander ist wiederum das einer möglichen Gesellschaft, der sociabilitas, wie die schon oben angeführte Reflexion 6734 zeigt. 5 5 N u n stellt sich als das oberste Prinzip aller Geselligkeit der kategorische Imperativ heraus als Prüfstein der Tauglichkeit zu einer positiven Gesetzgebung; d. h. nur die H a n d l u n g kann als Rechtshandlung bezeichnet werden, die mit dem kategorischen Imperativ übereinstimmt. In diesem Sinne meint Kant in der K.d.pr.V., „daß man praktische Freiheit auch durch Unabhängigkeit des Willens von jedem anderen außer allein dem moralischen Gesetze definieren könnte." (A 5, 93, 37—94, 2) D i e s e Verankerung des Rechts in einem intelligiblen Gesetz zeigt ein als Beispiel eingefügter Passus der K.d.r.V.: „ O h n e Zweifel enthält der Begriff von Recht, dessen sich der gesunde Verstand bedient, ebendasselbe, was die subtilste Spekulation aus ihm entwickeln kann, nur daß im gemeinen und praktischen Gebrauche man sich dieser mannigfaltigen Vorstellungen in diesen Gedanken nicht bewußt ist. Darum kann man nicht sagen, daß der gemeine Begriff sinnlich sei und eine bloße Erscheinung enthalte, denn das Recht kann gar nicht erscheinen, sondern sein Begriff liegt im Verstände und stellt eine Beschaffenheit (die moralische) der Handlungen vor, die ihnen an sich selbst zukommt." (B 61) 54
Kant schÜeßt die Reflexion folgendermaßen: „A natura sind alle frei, und nur die Handlungen sind recht, die keines Freiheit einschränken." (A 19, 145, 26-27) Wenn Kant den Naturzustand meint, kann man auch umgekehrt schließen, daß gar kein Recht stattfindet, da alle freien Handlungen sich gegenseitig einschränken. " S. o. S. 77
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Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie
Es liegt auf der Hand, daß die genannte moralische Eigenschaft der Handlung des Rechts nur in der Übereinstimmung mit der Tauglichkeit von deren Maxime zu einer allgemeinen praktischen Gesetzgebung liegen kann. Etwas anderes aber ist klar: Die geforderte Ubereinstimmung der Handlung mit dem kategorischen Imperativ als Rechtsprinzip kann im Recht nur die der Legalität betrachten. D . h. das von anderen unabhängige Subjekt kann rechtlich — im Sinne eines friedlichen Zusammenlebens — mit anderen nur unter der Form eines möglichen positiven Gesetzes in Verbindung treten, ob es dessen Geltung nun will oder nicht. Von hieraus hellt sich die Unterscheidung der Reflexion 6764 5 6 in eine juridische und ethische Legalität auf. Ethische Legalität bestünde ζ. B. darin, sich nur deshalb nicht dem Alkohol hinzugeben, weil dessen unmäßiger Gebrauch an anderen privaten Genüssen des Lebens hindert, juridische Legalität aber darin, selbst wenn ich aus Egoismus kein Recht und kein Gesetz anerkennte, trotzdem aus Furcht oder Nützlichkeitserwägungen ζ. B. nach Vertragsbestimmungen oder Verkehrsregeln zu handeln. 5 7 Mehr als diese Legalität, d. h. äußere Übereinstimmung der Handlung mit der Regel des menschlichen Zusammenlebens, mit dem kategorischen Imperativ, wird für das Recht nicht erforden. In dieser wenn auch äußeren Ubereinstimmung der Rechtshandlung mit dem kategorischen Imperativ besteht die absolute Geltung des Rechts: „ D e r ein Recht wider jemand hat, kann ihn in allen Freuden stören, ihn vom Altar wegholen. Alle Macht des Himmels steht auf der Seite des Rechts." (A 19, 224, R 7006, 1 7 7 6 - 7 8 )
Aus diesem Rechtsbegriff der sich gegenseitig einschränkenden Handlungen der freiheitsfähigen Individuen ergibt sich eine Vielzahl einzelner konkreter Rechtsformen und Rechtsbestimmungen: „ E s gibt Gesetze, (8die) etwas kategorisch gebieten (Materie) etwas zu tun, und andre, die hypothetisch gebieten, wenn man etwas tun will (das ist beliebig), es auf eine gewisse besondere Art zu tun, die unter dieser Regel steht (Form); die letzten sind regulae iuris." (A 19, 168, 3 - 6 , R 6805, 1 7 7 3 - 7 5 )
Zu dieser Konkretisierung und Anwendung des Rechtsbegriffs zu einzelnen Rechtsregeln gehört allerdings Erfahrung: „Wie kann man sich Rechtserfahrenheit denken, da alles Recht bloß auf Vernunftprinzipien beruhen muß, selbst das statuarische, dessen Gesetze den Rechtsprinzipien auch gemäß sein müssen? Rechtserfahrenheit geht auf die Erforschung der Bestimmtheit und nähere Bestimmung, die dem Gesetze in der Anwendung noch fehlen möchten. Dazu gehört Erfahrung vieler Fälle." (A 19, 237, R 7057, 1 7 7 6 - 7 8 )
Kant vergleicht wiederholt von den .Bemerkungen' 1764/5 5 8 bis zur „Metaphysik der Sitten" von 1797 die Rechtsverhältnisse mit den Verhältnissen der Körper zueinander, ein Verhältnis, das er als Paradebeispiel für eine Analogie gebraucht: 56 57
58
S. o. S. 89 4 7 Das Begriffspaar bürgerliche - natürliche Legalität der Reflexion 7062 (s. o. S. 89) betrifft nur die Legalität Regeln überhaupt und positiven Gesetzen gegenüber. Die natürliche Legalität kann wiederum moralisch und juridisch sein, wie das Völkerrecht zeigt. S. o. S. 27
Der kritische Rechtsbegriff
93
„Man kann die Verhältnisse des Rechts mit denen der Körper vergleichen. Ein jeder Körper ist gegen alle anderen in Ruhe, außer sofern er durch andere bewegt wird, und ebenso hat jedermann gegen andere Pflichten der Unterlassung, außer sofern andere entweder mit ihm einen einstimmigen Willen machen oder seinen Zustand wider seinen Willen verändern. Actio est aequalis reactione. Soviel ein großer Körper auf einen kleinen wirkt, so viel dieser auf den großen zurück. Der gemeinschaftliche Schwerpunkt, d. i. der gemeinschaftliche Wille, ist vor und nach der Handlung einerlei." (A 19, 128, 1 7 - 2 5 , R 6667, 1769 - 72) „Das Gesetz eines mit jedermanns Freiheit notwendig zusammenstimmenden wechselseitigen Zwanges unter dem Prinzip der allgemeinen Freiheit ist gleichsam die Konstruktion jenes Begriffes, d. i. Darstellung desselben in einer reinen Anschauung a priori, nach der Analogie der Möglichkeit freier Bewegungen der Körper unter dem Gesetze der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung." 5 9 (A 6, 232, 3 0 - 3 5 , Rechtslehre)
Ist die Analogie nicht ein Beweis dafür, daß Kant ungeachtet jeder kritischen Wendung über mehr als 30 Jahre hinweg denselben Rechtsbegriff gebraucht? Der Vergleich mit dem Rechtsbegriff der ,Bemerkungen' zeigt allerdings das Gegenteil. Dieser bestand darin, daß die naturalistisch freien Wesen mit Hilfe vernünftiger Sätze nach der voluntas communis ihre Interessen ausgleichen; d. h. Kant geht von einem Freiheitsbegriff aus, in dem „der Wille eines jeden Menschen . . . die Wirkung seiner eignen Triebe" ist. Kant bemerkt selbst, daß dieser Freiheitsbegriff im Grund auch auf die natürliche Unabhängigkeit eines Tieres zutrifft, denn er vermag diese Parallele nur mit Hilfe der Addition des Bewußtseins zu beseitigen. 60 Nun zeigt aber gerade die Kritik von 1772, daß die Kausalität aus dem Bewußtsein der eigenen Triebe und .wahrer oder eingebildeter Wohlfahrt' 6 1 den Freiheitsbegriff keineswegs konstituieren kann, sondern daß Freiheit allein in der M ö g l i c h k e i t besteht, sich nach formalen Gesetzen zu bestimmen, indem man den Standpunkt der Vernunft einnimmt. Das Rechtsmodell der Bemerkungen' dagegen setzt den Ausgleich durch das Rechtsbewußtsein voraus. Da dieses aber keineswegs immer vorhanden ist, leistet dieses Rechtsmodell nach der Erkenntnis des kritischen Freiheitsbegriffs keineswegs den versprochenen Ausgleich, sondern kann nur in einem einzigen Kampf der Egoismen bestehen, der hier und da von Rechtsbewußtsein beeinflußt wird. Der kritische Rechtsbegriff geht im Gegenteil nur von der äußeren Einstimmung — ob mit oder ohne Bewußtsein von Rechtsprinzipien — mit dem Rechtsmodell aus, das dadurch gewonnen wird, daß man die mögliche Geselligkeit der freiheitsfähigen Individuen als objektive Norm vorstellt. Daß damit das kritische Rechtsmodell unmittelbar auf den Rechtszwang verweist, liegt schon in der M ö g l i c h k e i t der Freiheit begründet. Somit stimmt der Rechtsbegriff der .Bemerkungen' aus geregelter natürlicher Unabhängigkeit keineswegs mit dem kritischen überein, der nicht von faktischem 59
60 61
Ebenso K . d . U . A 5, 464, 7 - 4 6 5 , 5; Tugendl. Vorrede A 6, 375 Anm.; Prolegomena A 4, 357 Anm.; vgl. Theorie u. Praxis im Staatsr. A 8, 292, 27ff.; vgl. A 15, 789, 1 2 - 1 5 : „ 2 . Die Menschen sind zur Gesellschaft gemacht. Bienenstock. Sie müssen unter gegenseitigem Zwange stehen, damit eines Freiheit die andere einschränke bis zur größten allgemeinen Freiheit, wie Bäume in einem Walde." - Vgl. Naturrecht Feyerabend S. 38 S. o. S. 26, s. u. S. 132f. S. o. S. 25
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Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie
Rechtsbewußtsein, sondern von der absoluten vernünftigen R e c h t s f ä h i g k e i t
der
Menschen ausgeht. Gleich bleibt nur das Bild der sich ausgleichenden Rechtssphären. Weiterhin folgt aus dem Rechtsbegriff aus der Freiheitsfähigkeit der Menschen, daß kein R a u m m e h r für eine Liste angeborener Rechte wie ζ. B . bei Wolff bleibt: „lus connatum dicitur, quod ex obligatione connata oritur. — Ita obligatio conservandi corporis sui connata obligatio est. Ex ea oritur ius tum ad eas actiones, sine quibus vita conservan nequit, tum ad eas res, quae ad vitae conservationem necessariae sunt. Utrumque ius connatum est." 6 2 Einzelne Rechte, und mögen sie noch so wichtig sein, sind nicht angeboren, sondern müssen aus der Freiheits- und damit Rechtsfähigkeit des Menschen als darin enthalten nach der Regel des Zusammenlebens, dem kategorischen Imperativ, abgeleitet w e r d e n . 6 3
5.4. Ein
Recht
Montesquieu kommt
gegen
Beccaria:
dem Menschen
Rechtszwang
und
Strafwürdigkeit
zu aufgrund der Regel jeder
Geselligkeit
überhaupt. Dieses Recht wäre nichtig, wenn es nicht mit der Möglichkeit verbunden wäre,
den Rechtspartner
dazu
zu
zwingen,
die Handlung
gemäß dieser
Regel
zuzulassen. „Es kann kein Mensch ohne Recht, mithin gegenseitig nicht ohne Pflicht und also auch nicht ohne Zwang sein." (A 19, 243, 1 4 - 1 5 , R 7078, 1 7 7 6 - 7 8 ) Dieser Rechtszwang schränkt die Bewegungsfreiheit des Menschen ein, entspricht aber im Sinne der Legalität der allgemeinen Regel des Zusammenlebens: „Der Rechtszwang ist ein pathologischer, aber der Obligation konformer Zwang." (A 19, 223, 1 2 - 1 3 , R 7000, 1 7 7 6 - 7 8 ) M i t dieser Einschränkung der menschlichen Handlungen auf die äußeren Regeln der Geselligkeit ist aber auch deren mögliche Verletzung und damit Strafe gegeben: „Die Schuldigkeit ist die Pflicht, zu der wir von andern moralisch gezwungen werden; daher ist auch der pathologische Zwang erlaubt. Zur obligatio externa kann einer nicht allein gezwungen, sondern auch, wenn er sie übertritt, gestraft werden; das letzte folgt aus dem ersten." (A 19, 224, 1 6 - 1 9 , R 7004, 1 7 7 6 - 78)
62
¿3
I . N . , 1, 26. Vgl. Achenwall, I . N . , 1, 64: „Homini competit ius naturale in corporis vitaeque suae conservationem, hinc ius naturale (externun certe) ad ea agenda omnia, quae conservarioni alterius non adversantur, et ius agendi, quaecumque naturaliter non sunt iniusta (externe), seu quibuscumque alter non laeditur: atque hoc ius ipsi competit, quatenus est homo, ideoque a natura seu in statu naturali originario, hinc tamquam ius connatum. Ergo cuilibet homini a natura competit ius 1) in sui conservationem, 2) in omnes actiones naturaliter iustas." Vgl. Rechtslehre, Einleitung Β, A 6, 237f.: Hier scheint ein Kernpunkt der Systematik der Rechtslehre vorzuliegen auch in Hinsicht auf die Regel der Ableitung einzelner Rechte; vgl. o. S. 3 2 " . Vgl. auch Naturrecht Feyerabend, das mehrere angeborene Rechte annimmt, S. 44 ff.
Montesquieu gegen Beccaria: Rechtszwang und Strafwürdigkeit
95
Nun schließt Christian Ritter aus einer Bemerkung zu den ,Beobachtungen' zum Strafrecht übergangslos auf die Strafrechtstheorie Kants bis zur „ M . d . S . " 6 4 Die Bemerkung lautet folgendermaßen: „ E i n Räuber wünscht wohl, daß er möchte pardonniert werden, aber weiß wohl, daß, wenn er Richter wäre, er nicht pardonnieren würde. Der Richter straft, ob er gleich weiß, daß, wenn er Delinquent wäre, er nicht würde wollen gestraft sein, aber mit der Strafe ist es anders. D i e Beraubung des Lebens geschieht nicht durch den Richter, sondern durch den Verbrecher wegen seiner Missetat." (A 20, 158, 1—6)
Es ist allerdings kein Geheimnis, daß Kant vom Prinzip der Vergeltung im Strafrecht nicht abrückt. Die zitierte ,Bemerkung' selbst und außerordentliches Lob lassen schließen, daß Kant sich für diese Theorie auf Montesquieu beruft. In den .Bemerkungen* heißt es: „ E i n e Ursache, weswegen Montesquieu so viel vortrefflich hat sagen können, ist diese, daß er vorausgesetzt hat, diejenigen, welche Gebräuche einführeten oder Gesetze gaben, hätten jederzeit einen vernünftigen Grund gehabt." (A 20, 166, 24—167, 2)
In den Logikvorlesungen nach Blomberg und Philippi empfahl Kant seinen Studenten einige Bücher „von großer Wichtigkeit", die „viel Nachforschen" erforderten und die man daher „ o f t " lesen müsse: ,,Z. E. den H u m e , Rousseau, Locke, der als eine Grammatik für den Verstand kann angesehen werden, und Montesquieu von dem Geist der Gesetze." (A 24, 1, 300, 17—20) 65
Der Bezug bei Montesquieu, dessen Meinung auch die Coccejis teilen, 66 lautet folgendermaßen: „ C ' e s t le triomphe de la liberté, lorsque les lois criminelles tirent chaque peine de la nature particulière du crime. Tout l'arbitraire cesse, la peine ne descend point du caprice du législateur, mais de la nature de la chose; et ce n'est point l'homme qui fait violence à l'homme."67
In der angeführten .Bemerkung' hält Kant die zum Rechtsausgleich notwendigen stationes morales für untauglich, ein Strafrecht zu begründen. Vielmehr muß die Strafe selbst im Sinne von Montesquieus „nature de la chose" in unmittelbarem Zusammenhang mit der Handlung gesehen werden. Sucht man nun für diese unmittelbare Verknüpfung einen Grund im Standpunkt der .Bemerkungen', dann dürfte dieser im damaligen Rechtsbegriff zu finden sein, darin - nämlich, daß die Verletzung der von naturalistischer Freiheit bestimmten Rechtssphäre des Opfers eine unmittelbare Rückwirkung auf die Rechtssphäre des Täters haben muß. Liefert Kant keine bessere Begründung der objektiven Straftheorie Montesquieus, von der er nicht abrückt?
64 65 6,1
67
a . a . O . , S. 176ff. Logik Blomberg; Logik Philippi A 24, 1, 495, 1 4 - 1 8 Coccejis, a . a . O . , 10, 15b: „Poena autem definitur privatio alicuius boni ob malum actionis; eiusque norma est talio, i. e. ut delinquens tantundem mali patiatur, quantum agendo c o m m i s i t . " 12, 4, a . a . O . , S. 198
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Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie
In der zweiten Hälfte der 70er Jahre präzisiert Kant seine Gedanken in der Auseinandersetzung mit der subjektiven Straftheorie Cesare Beccarias. 68 Dieser macht das Strafrecht von der Zustimmung des einzelnen zum Gesellschaftsvertrag abhängig, der Strafen im Sinne einer Generalprävention vorsieht. Aufgrund dieser Voraussetzung muß Beccaria die Todesstrafe ausschließen, da man selbst in seinen Tod nicht einwilligen kann und die Todesstrafe weniger als lebenslange Unfreiheit abschrecke. 69 Der Meinung, daß Strafe auf Vertrag beruhen könnte, entgegnet Kant: „Auch ist es absurd, daß jemand sich verbindlich mache, gestraft zu werden. Ein jeder kann nur ein Recht gründen, sofern er sich selbst von aller künftigen Verletzung anderer für unverdächtig halten zu lassen fordern kann. Er stimmt immer zur Bestrafung anderer, und da alle nach seinem Vorgange es auch tun, so ist er durch das Recht anderer ohne seine Einwilligung der Strafe unterworfen. Sonst müßte man sagen, er sei verbunden, sich freiwillig zwingen zu lassen. Da alsdenn das Übel, was ihm begegnete, gar kein Zwang und also auch keine Strafe wäre, sondern wie etwa reuigte Sünder ihre Schuld bezahlen wollen und sich dem Richter selber offerieren." (A 19, 552, 2 9 - 5 5 3 , 6, R 7916, 1 7 7 6 - 89)
Da nun die Strafe nicht von der subjektiven Einwilligung des Täters abhängen soll und eine unmittelbare Beziehung zwischen Tat und Strafe in einer Art mechanischen Ausgleichs mit der Kritik am Rechtsbegriff der ,Bemerkungen' hinfällig ist, schließt Kant von der Möglichkeit der Freiheit des Täters auf das Recht diesen zu strafen, weil er die Handlungsnorm hat kennen und befolgen können: „ D i e praktischen Bedingungen der Imputation sind diejenigen, wodurch eine Handlung nach Gesetzen der Freiheit möglich ist. Vorherwissen können. Gar Bewegungsgründe des Vorherbekanntmachens. Vermögen des Verstandes und der Kräfte." (A 19, 254, 1 8 - 2 1 , R 7129, 1776-78)
Damit ist der Täter strafwürdig, selbst wenn er sich im Augenblick der Handlung deren selbst nicht bewußt war: „ D e r etwas auch nur mit Gefahr schlimmer Folgen wagte (e. g. Trunk, Lustbarkeit, Unzucht), muß sie alle verantworten oder Rechenschaft geben. Er muß das Gesetz wissen unmittelbar oder indirecte (daß es solche Gesetze gebe); wenn er es nicht weiß, ob es zwar physisch möglich war, es zu wissen, wenn er zwar nicht durch Schuldigkeit bewegt, sondern aus Neugier es gesucht hätte, so kann es ihm imputiert werden." (A 19, 259, 27, 260, 4, R 7159, 1776-78)
Daß damit nur die Legalität der Handlung, aber nicht deren Moralität juridisch beurteilt wird, braucht kaum erwähnt zu werden. Kants kritische Strafrechtstheorie besteht demnach darin, daß die Handlung in Beziehung gesetzt wird zur objektiven Norm des menschlichen Zusammenlebens, mit Kants Worten: „Die imputatio practica ist die Subsumtion unter die Gesetze der Freiheit überhaupt." (A 19, 260, 1 9 - 2 0 , R 7160, 1 7 7 6 - 7 8 ) 68
69
A 19, 551, 30, R 7914, 1 7 7 6 - 1 7 8 9 ; vgl. A 19, 551, 31: Es verwundert, daß „Beccaria" nicht als Teil der Reflexion erscheint. Vgl. Rechtslehre, Staatsrecht E, A 6, 322ff., Naturrecht Feyerabend, wo Kant ebenso gegen Rousseau polemisiert, S. 126ff. Cesare Beccaria, Von Verbrechen und Strafen, Ubers. K. F. Hommel 1778, Hrsg. John Lekschas, W . Griebe, Berlin 1966, bes. Kap. 12 u. 29; zur Argumentation siehe auch Ebbinghaus, a . a . O . , S. 91 ff.
Montesquieu gegen Beccaria: Rechtszwang und Strafwürdigkeit
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Mit diesem Bezug der Strafe auf die Freiheitsfähigkeit des Täters ist noch nichts über das Strafmaß ausgesagt. Um dieses zu bestimmen, formuliert Kant zwei eingrenzende Sätze gegen jede zweckorientierte Straftheorie, sei sie an Abschreckung oder Besserung orientiert: Bestraft man ein geringfügiges Vergehen zu hoch, mit der Absicht, andere von ähnlichen Handlungen abzuhalten, dann betrachtet man den Täter nicht als Subjekt der Handlung, sondern als ein Mittel der Justizpolitik. Bestraft man ein Verbrechen zu gering, z. B. weil man die Reue des Täters für erwiesen und beständig hält, bleibt die Strafwürdigkeit ohne entsprechende Strafe und verliert ihren Wert: „ O b er dazu so harte Mittel brauchen kann, als er will, e. g. auf den kleinsten Diebstahl den Tod. Der Mensch ist nicht als ein Mittel zu anderer Bestem aufzuopfern." (A 19, 493, 5 - 7 , R 7698, 1772 - 75?)™ „ D e n n eine jede andere Strafe als die Todesstrafe ist gerade dem Werte, den jeder in ein Objekt setzt, angemessen und die einzige gerechte, weil aus Gefängnis einer mehr als aus dem Tode, der andere weniger macht." (A 19, 553, 1 3 - 1 6 , R 7917, 1 7 7 6 - 7 8 ? )
Angesichts dieser beiden Sätze, daß der Mensch nicht Mittel, sondern Subjekt der Gesellschaft ist, daß aber andrerseits Freiheit und Recht als Bedingung der Gesellschaft ihren Wert behalten müssen, bleibt als Maß der Strafe nur die Vergeltung: d. h. ein Strafmaß, das der Abweichung von der Norm entspricht: „ D a s principium der legum poenalium nach dem iure talionis." (A 19, 493, R 7699, 1769-1775)
Der Punkt, an dem Kant, wie zitiert, das Prinzip der Vergeltung diskutiert, ist die Todesstrafe. Diese muß über den Mörder ausgesprochen werden, da die höchste Übertretung der Norm die ist, einen Träger dieser Norm, einen freiheitsfähigen Menschen, und damit eine Ausprägung der Norm selbst zerstört zu haben. Der Mörder hebt mit der Verneinung der Norm als der Bedingung des Zusammenlebens seine eigene Möglichkeit, mit Menschen zu leben, auf: „Ein Mensch, der keine Obligation mehr kennt, (dergleichen der Mörder, weil er als einer angesehen wird, welcher die obligantes vertilgt) muß vertilgt werden. Er kann aufhören zu sein, aber nicht leben und aufhören ein Mensch zu sein, weil er ohne Verbindlichkeit kein Recht und ohne Recht kein Mensch, aber doch frei, mithin ein allgemein Hindernis der Freiheit nach Regeln sein würde." (A 19, 547, 2 3 - 2 8 , R 7895, 1 7 7 6 - 7 8 ? ) 7 1
Eine solche objektive Strafrechtstheorie richtet sich sowohl gegen Thomasius, der eine rein materialistische Straftheorie in Analogie zur Tierwelt vertritt, 72 als auch gegen die Wolffs und Achenwalls, nach denen ähnlich wie bei Beccaria das Maß der Strafe durch das eigne Sicherheitsbedürfnis bestimmt und dadurch unbegrenzt ist. 73 70 71 72 73
Ebenso A 27, 1, 150, 3 0 - 3 3 , Prakt. Phil. Powalski Vgl. auch die Reflexionen der 80er Jahre A 19, 5 8 5 f f . , R 8024ff. S. o. S. 4 1 " W o l f f , I.N., 1, 1059: „In eum, qui te laesit, tandundem tibi licet, quantum ad avertendum periculum laesionis futurae sive ab eodem tibi atque aliis sive ab aliis eius exemplum secutis tibi metuendae sufficit." — Gegen die Vergeltungstheorie vertritt Wolff eine reine Abschreckungstheorie. I.N., 8, 640, Schol.: „Equidem fuerunt longe plurimi, qui talionem aequissimam iudicarunt; hi tarnen non satis perpenderunt, quomodo poena a vindicta
Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie
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D e n n o c h ist Wolffs Argument gegen die Vergeltung nicht von der Hand zu weisen: „Talio dicitur par vindicta, qua tantum quis patitur mali, quantum fecit. E. gr. Talio erit, si cui manus amputatur, qui eam amputavit alteri; si oculus effoditur, quia effodit alteri: si occiditur, quia occidit alteram." 7 4 D . h. Christian Wolff kritisiert, daß ein derart gegenständlich angewandtes Vergeltungsprinzip zu sinnlosen Verstümmelungen führen würde. Kant hält dem entgegen, daß in der Strafe nicht ein sächliches Verhältnis zur Tat hergestellt wird, wie es in den ,Bemerkungen' anklingt, sondern daß die Abweichung von der N o r m , die Schuld, ein Gleichmaß in der Strafe finden muß. D a ß damit die Strafart grundsätzlich unabhängig von der Tatart ist, weist auf die Weite von Kants Vergeltungsprinzip hin. Allerdings wendet sich Kant gegen die Umwandlung aller Strafen in Geldstrafen, die in keinem Verhältnis zur Tat stehen: „Auch muß die Strafe spezifisch einerlei sein mit dem, was Täter ausgeübt hat, wo nicht der Beleidigte einwilligt: Beschimpfung mit Beschimpfung, Beraubung mit Beraubung. . . . Geldstrafe ist ebensoviel, als ob der Beleidigte sich sein Recht zu klagen hätte abkaufen lassen." (A 19, 552, 1 4 - 1 6 , 1 9 - 2 0 , R 7915, 1776-89) Andrerseits aber beruht die Strafe auf der widerrechtlichen Einschränkung der Freiheit eines andern und wird daher mit der Einschränkung der Freiheit des Täters vergolten bis zu dem Maß, an dem der Täter durch eigene Schuld alle Rechte verliert und Sklave wird: „Die Leibeigenschaft ist der Tod der Person, aber das Leben des Tiers. Es geht an bei einem Todesverbrechen. Aber es kann nicht auf Kontrakt gegründet werden, denn der muß alles iuridischen Zutrauens und aller Obligation unfähig sein, der keine Rechte behalten kann." (A 19, 545, R 7886, 1 7 7 3 - 7 9 ) 7 5 N u n weiß Kant sehr wohl, daß das Maß der Einschränkung der Freiheit als Strafe, wenn eine sachliche Vergeltung nicht möglich ist, vom Urteil der Gesellschaft über den W e r t der Rechtsverletzung abhängt: „Der summus imperans kann nicht eine Strafe vor die andere setzen, sondern muß hierbei das Urteil des Ganzen zu Rate ziehen. Er muß strafen nach dem Maße, als die Untertanen selbst den Wert worin setzen. Nun hat bei ihnen das Leben den größten Wert." (A 19, 589, 7 - 1 0 , R 8040. 1773 — 89) 7 6 E b e n s o w o h l sieht Kant, daß die Strafe neben ihrem Vergeltungscharakter je nach Fall bessern oder abschrecken muß. Die unerläßliche Bedingung der Strafe ist aber die Gerechtigkeit im Sinne der talio, so daß alle andern Strafzwecke nur subsidiär sein können. So formuliert er gegen Achenwall:
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76
différât. Vindicta nimirum hoc intenditur, ut taedium creetur alteri, qui taedio nos affecit, seu malum malo referatur: hic autem finis poenae non est, sed ut a delinquendo deterreantur, qui animum delinquendi habent." Achenwall, Prol. 133ff.; I.N., 2, 195. Zu Gundling, Ritter, S. 177 I . N . , 8, 639 Ebenso A 19, 545, R 7884; vgl. die Reflexionen der 80er Jahre A 19, 557ff„ R 7925, 7927, 7929, 7931 Vgl. die Einschätzung der Todesstrafe A 15, 625/6, R 1431, 1776-78
Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche Gewalt und absolute Freiheit
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„Ob nicht Strafen außer der Warnung noch um der Achtung der öffentlichen Gerechtigkeit willen nötig sein, damit jedem geschehe, was recht ist. Das wären unmittelbare Gerechtigkeitsstrafen." (A 19, 486, 19-21, R 7679, 1772 - 77)" Diese Vergeltungsstrafen der Gerechtigkeit, ob sie nun zusätzlich bessern oder abschrecken, werden über das schuldige freiheitsfähige Wesen ausgesprochen, ohne daß gefragt wird, ob der strafwürdige Mensch die Strafe anerkennt oder nicht, allein aufgrund der Norm. W e r aber den Täter nach dem Maße seiner Schuld strafen soll, ist schon eine Frage des Staatsrechts.
5.5. Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche
Gewalt und absolute
Freiheit
5 . 5 . 1 . D i e A u f g a b e d e s k r i t i s c h e n S t a a t s r e c h t s aus d e r K r i t i k an H o b b e s Das Staatsrecht nach 1772 ist gekennzeichnet von einer Kritik an Thomas Hobbes: „Hobbes sah alle Gesetze, selbst die moralischen, als despotisch an, d. i. solche, wozu unsre wenigstens vernünftige Einwilligung oder Beistimmung gar nicht erfordert wird. Denn er glaubte, die Gewalt möge hinkommen, wo sie wollte, so mache sie das Recht. Imgleichen unterschied er nicht das Unrecht, was der Usurpator begeht, von dem, was er den Untertanen tut." (A 19, 483, R 7667, 1772-1777) Wie ist diese Kritik zu verstehen, da nichts Kant von der Erkenntnis der 2. Phase abbringen kann, daß alle Beziehungen der Menschen außerhalb einer unwiderstehlichen Gewalt der Rechtswirkung entbehren? „Das ganze Recht der Natur ist ohne bürgerliche Ordnung eine bloße Tugendlehre und hat den Namen eines Rechts bloß als ein Plan zu äußeren möglichen Zwangsgesetzen, mithin der bürgerlichen Ordnung." (A 19, 245, 17-19, R 7084, 1776-78) Es liegt nahe zu versuchen, diese Kritik des Hobbesianers Kant ebenfalls mit der kritischen Philosophie zu verbinden, d. h. mit der Erkenntnis der absoluten Freiheitsfähigkeit des Menschen. Nun haben die beiden im Freiheitsbegriff aufgelösten antinomischen Sätze tatsächlich einen unmittelbaren Bezug zum Staatsrecht, der darin liegt, daß der Mensch als Naturwesen der Unregelmäßigkeit der Sinne unterworfen ist und daher zur Verträglichkeit gezwungen werden muß, daß er sich aber andererseits — und das unterscheidet ihn von allen anderen Wesen — aus Autonomie nach den vernünftigen Regeln des Zusammenlebens, das sind die des Rechts, bestimmen kann: „Daß die Menschen von Natur böse sein, erhellet daraus*, daß sie von selbst niemals mit ihrer Idee des Guten zusammenstimmen und daß sie müssen gezwungen werden, imgleichen daß sie sich wechselweise durch einander von einem zwingen lassen. Imgleichen muß der Mensch diszipliniert werden und die Wildheit weggenommen werden. Das Wohlverhalten der Menschen ist also was Erzwungenes, und die Natur desselben ist demselben nicht gemäß. Es ist ein Grundsatz der bürgerlichen sowohl als Staatsklugheit: jedermann ist von Natur böse 77
Ausformuliert in den 80er Jahren A 19, 587/8, R 8035. Straftaten und Strafzwecke A 19, 485/6, R 7675, 1772-1775. Die teilweise zitierte R 7679 lehnt schon medizinische Versuche an Verbrechern ab.
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Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie
und nur sofern gut, als er unter einer Gewalt steht, die ihn nötigt, gut zu sein. . . (8auch daraus, daß sie, in einem Staatskörper vereinigt, jederzeit gewalttätig, eigennützig und unvertragsam sind.)" (A 19, 202, 5 - 1 4 , 19-20, R 6906, 1776- 78?) Daher geht aus dem Freiheitsbegriff schon selbst hervor, daß eine Lösung des Staatsrechts, die dem Wesen des Menschen angemessen ist, weder in einer konstitutiven Einsicht, wie sie Kant 1770 in Analogie zur göttlichen Herrschaft konstruiert, noch in einer bedingungslos unterwerfenden, d. h. freiheitvernichtenden Staatsgewalt bestehen darf. Im Jahr 1789 formuliert Kant die Aufgabe der Staatsrechtstheorie in einem Brief an Jung Stilling einmal folgendermaßen: „Das allgemeine Problem der bürgerlichen Vereinigung aber ist: Freiheit mit einem Zwange zu verbinden, welcher doch mit der allgemeinen Freiheit und zur Erhaltung derselben zusammenstimmen kann." (A 23, 495) Schließt man von dieser Problemstellung auf die der 2. Phase zurück, daß das Wesen des Rechts Sicherheit in concreto sein müsse, dann ist Kants Kritik an Hobbes wiederum Selbstkritik.
5.5.2. Die Bedingungen der Freiheit der Rechtsperson: Das R e c h t der f r e i e n M e i n u n g s ä u ß e r u n g und die U n m ö g l i c h k e i t der Leibeigenschaft Noch in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Brief an Marcus Herz von 1772 formuliert Kant: „Administratio interna. Militärische Regierung ist nicht diejenige, in welcher die Kräfte des Staats vorzüglich auf die Erhaltung desselben zum Kriegsstande verwandt werden: denn das kommt auf die besondere Lage des Staats an, sondern in welcher diejenigen, welche das Regiment führen, gar nicht räsonnieren dürfen wie in einer Armee, der diejenige entgegengesetzt wird, in welcher die Verwaltung des gemeinen Besten von einer publiquen Person (nicht bloßem Instrument des Souverains) so geführt wird, daß sie den Staat nach dem besser eingesehenen Willen des Souverains, wie er nämlich sein sollte, geführt wird, da also immer Gegenvorstellungen erlaubt sind, welches bei einer Armee nicht geschehen darf. Ein solcher Mann, er mag auch in einem niedrigen Range sein, wird vermißt, wenn er abgeht, bloße Instrumente werden nicht vermißt." (A 19, 484, R 7672) Nun spricht diese Reflexion von der Kritik innerhalb der Staatsverwaltung selbst, von der jede Verbesserung des Staates zum Recht hin abhängt. Dieses Recht der Gegenvorstellungen ist aber nicht nur eine Sache der Staatsfunktionäre in allen Ebenen, sondern eine Grundforderung für jeden Bürger überhaupt, da die Möglichkeit, seine Meinung frei zu äußern, Grundbedingung des Vernunftgebrauchs überhaupt ist und daher zum Recht ebenso wie zur Logik gehört. In der Logik Blomberg heißt es: „Der menschliche Verstand, da er ein natürliches Gesetz hat, seine Erkenntnisse soviel nur immer möglich zu erweitern, so müssen ihm auch nicht die Mittel verboten werden, durch welche er doch allein das Wahre vom Falschen zu unterscheiden und seine Erkenntnisse nicht allein zu bereichern, sondern auch zu berichtigen im Stande ist. Man muß also der Bekannt-'
Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche Gewalt und absolute Freiheit
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machung der Urteile, das ist die Aussetzung derselbigen, denen Einsichten aller keine Hindernisse entgegensetzen. Das ist ja das allgemeine Recht eines jeden Menschen und der einzige sichere Weg zur Wahrheit zu gelangen." (A 24, 1, 93, 8—16) 7S F ü r die Zeit unmittelbar nach der Erkenntnis von 1772 überliefert die Logik Philippi: „Das gehört zu den ewigen Gesetzen, daß der Mensch die Sätze, wovon er spekuliert, andern bekannt zu machen Freiheit habe." (A 24, 1, 391, 2—3) 79 K a n t schränkt diese Freiheit des Vernunftgebrauchs ausdrücklich nicht auf die Freiheit des Denkens ein; im Gegenteil vernichtet gerade das Verbot der freien K o m m u n i k a t i o n diese Freiheit zu denken, da mir mit dem Urteil anderer auch die Möglichkeit,
meine eigenen Urteile zu überprüfen, genommen wird, wie es im
Aufsatz „ W a s heißt: Sich im Denken orientieren?" von 1786 heißt: „Also kann man wohl sagen, daß diejenige äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mitzuteilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken nehme: das einzige Kleinod, das uns bei allen bürgerlichen Lasten noch übrigbleibt und wodurch allein wider alle Übel dieses Zustandes noch Rat geschafft werden kann." (A 8, 144, 22-27) In diesem Punkt ist der Mensch logisch mit der Gesellschaft verknüpft, und dies ist um
so
bemerkenswerter
festzustellen,
als Kant
die Gesellschaft
angesichts
der
offensichtlichen Mängel dieses Zustandes nach dem Urteil Rousseaus nicht vom materiellen Z w e c k her konstruiert. Vielmehr sind es zwei intellektuelle Gesetze, die d e m Menschen die Gesellschaft notwendig machen: einmal das Rechtsgesetz, nicht in eigener Sache kompetent richten zu können, d. h. des Rechtszwanges zu bedürfen, z u m andern als logischer Egoist keinen richtigen Gebrauch seiner Vernunft machen zu können. Beide Gesetze sind in dem Sinne abhängig voneinander, daß ich bei Mißachtung eines jeden von beiden meine Eigenschaft als Mensch verliere, einmal als M a c h t , die nicht U n r e c h t tun kann, weil sie sich rechtlich nicht verantwortet, zum andern als notwendig falsch urteilendes Wesen. E b e n s o widerspricht es der Brauchbarkeit der Vernunft,
einem Menschen als
Sklaven die Fähigkeit, Rechte zu haben, abzusprechen: „Ein Mensch kann in Ansehung des andern weder absoluter Herr noch absoluter Untertan sein, weil der erste gar kein Unrecht, der zweite gar kein Recht hat. Ein jedes Recht setzt von der andern Seite Verbindlichkeit voraus. Die Verbindlichkeit aber ist nur eine Einschränkung
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79
Ebenso A 24, 1, 151, 6 - 1 2 : „Die Beraubung der Freiheit, ungezwungen zu denken und diese seine Gedanken ans Licht zu bringen, ist wirklich eine Beraubung der ersten Rechte, der größten Vorzüge des menschlichen Geschlechtes und besonders des menschlichen Verstandes. — Die Menschen sind gleichsam dazu berufen, ihre Vernunft gemeinschaftlich zu gebrauchen und sich ihrer zu bedienen. Eben also die zeitlichen Güter dieses Lebens." Die Logik Philippi setzt im Gegensatz zur Logik Blomberg die Entdeckung der reinen Verstandesbegriffe voraus, muß also nach 1772 aufgezeichnet sein; A 24, 1, 452, vgl. Logik Blomberg s . o . S. 60; Lehmann, A 24, 2, 978f. Vgl. Anthropologienachlaß A 15, 672, 11 — 13, 1773—77: „Prüfung der Wahrheit durch andrer Beifall. Daher alte Lehrer des Rechts. Daher Freiheit der Feder." — Vgl. Anthropologie in pragm. Hinsicht 1798, A 7, 128, 31-129, 3
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Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie
des Rechts einer Person, aber nur unter Bedingungen des Rechts eines andern. Das Recht eines Menschen in Ansehung des andern ist durch diesen jederzeit eingeschränkt." (A 19, 548, R 7897, 1776-79) D i e s e Fähigkeit des Menschen aus dem Freiheitsbegriff, aufgrund seines Menschseins von anderen die Anerkennung seiner Rechte fordern zu können, die Persönlichkeit, ist unveräußerlich: „Die servitus absoluta besteht darin, daß servus gar nicht selbst befugt ist, seine obligationes selbst zu bestimmen; also hat er oboedientiam caecam und kein eigenes arbitrium; est res non persona. Personalitas non est alienabilis." (A 19, 545, 7 - 1 0 , R 7884, 1776-78?) 80 D a h e r ist ebensowenig der freiwillige Verzicht auf die Freiheit — ζ. B. aus Bequemlichkeit — möglich, denn es „ k a n n kein Mensch sich selbst aller Pflicht der Verantw o r t u n g b e g e b e n " (A 19, 548, 8, R 7896). Weder eine Niederlage im Krieg kann die Sklaverei begründen, wie Achenwall m e i n t 8 1 aufgrund der Rechtmäßigkeit erzwungener Verträge: „ E s gibt unter freien Staaten keinen Krieg, der als ein Verbrechen, das Strafe verdiene, könne angesehen werden, weil jeder iudex putative competens ist; viel weniger kann der Soldat Verbrecher sein. Das Recht zu töten kommt nur von der Sicherheit wegen künftiger Beleidigungen her; folglich kann die Knechtschaft nicht länger dauern, bis diese Sicherheit da ist. Ein Verbrechen kann auch nicht erben; folglich könnte auch die Knechtschaft nicht erblich sein", (A 19, 546, R 7892, 1772-8) noch kann Leibeigenschaft aufgrund der Lasten der Erziehung erblich fortgeführt werden: „Educatione . . . nemo debitum contrahit. Ad eam nempe cuilibet competit ius a natura. Die Kinder können durch das delictum der Eltern des Rechts erzogen zu werden nicht beraubt werden; . . . wer jenen das Vermögen dazu nimmt, unterwirft sich selbst der Obligation." (A 19, 497, 2 - 4 , 7 - 8 , R 7707, 1773 - 75?) Unterworfen ist der Mensch nur der einzig rechtmäßigen Gewalt, der des Staates: „ D a s Recht auf Erbuntertänigkeit kann allein dem Souverain zukommen. Denn weil über ihm keine Gewalt ist, so muß man alles von seiner Gnade erwarten. Aber daß man von der Gnade eines Untertans was alles erwarten müsse, ist ungereimt; gegen den muß ich auf mein Recht mich fußen können." (A 19, 520, R 7800, 1773 - 79) Einen Verzicht auf den sinnvollen logischen Vernunftgebrauch und die Fähigkeit, Rechte auszuüben, stellt das Klostergelübde dar:
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Vgl. A 19, 536, 7—12, R 7857, 1776-78: „Leges societatis iuridicae non sunt conventionales — Der subditus domesticus ist Famulus non servus (qui animam debet) — der Famulus kann den Gebrauch seiner Kräfte wohl einem anderen konzedieren, aber ihn nicht alienieren — personalitas non est alienabilis — die Schuld durch ein Verbrechen kann nicht anerben. Ein pactum, seine Rechte aufzugeben, ist kontradiktorisch." Die Ak. Ausgb. liest in Zeile 7 aus S. J. „Societas Jesu"; diese Auflösung dürfte gänzlich ausscheiden. Vgl. A 19, 334, E 7327: „Societas vel ethica vel iuridica." Vgl. auch A 19, 536, 18, R 7858: „Unio iuridica." — Die Seitenangaben am Schluß der R 7857 beziehen sich auf die 5. Auflage des 1. Teils des „Ius Naturae" Achenwals, im Gegensatz zu A 19, 343, E 7357, die sich auf die 6. Auflage bezieht (Hinweis von Klaus Reich). I.N., 2, 72 (A 19, 358-60)
Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche Gewalt und absolute Freiheit
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„ E s scheinen auch alle Klostergelübde null und nichtig zu sein, weil der Mensch auf die Freiheit renunziiert, sein Glück jemals nach veränderten Einsichten zu machen." (A 19, 547, 8 - 1 0 , R 7894, 1776 - 79?)
Diese für die Nachfahren Kants an sich selbstverständlichen Grundrechte des freien Meinungsaustausches und der persönlichen Freiheit gewinnen ihre Bedeutung erst vor dem Hintergrund der Zweckargumentation Christian Wolffs. Dieser rechtfertigt und fordert dem damaligen Gebrauch entsprechend die grenzenlose Zensur unter dem Maßstab des erzieherischen Wohlfahrtsstaates 82 und versucht die erbliche Leibeigenschaft seiner Definition als ,ohne Härte' zu verteidigen. 83 Man begibt sich nach Wolff in Knechtschaft, wenn man nichts als seine Arbeitskraft besitzt, um den Lebensunterhalt zu verdienen, man verkauft seine Freiheit um einen Preis und kann es ebenso mit seinen Kindern tun. Daher ist ebenfalls die Zinsknechtschaft rechtlich möglich. Gleichfalls ist der Knecht selbst verkäuflich. Dieser unterwirft sich mit dem Verzicht auf seine Freiheit der Gerichtsbarkeit seines Herrn und verpflichtet sich, alle Arbeiten auszuführen, so daß aus dem Verhältnis des Herrn zum Knecht das des Herrschers zum Untertanen wird: Imperium — subiectus. Allerdings ist der Herr verbunden, dem Knecht gegenüber die Menschenpflichten zu üben, d. h. diesen zu lieben und zu schätzen wie sich selbst. Die Erblichkeit der Leibeigenschaft aber begründet Wolff damit, daß die unfreien Eltern, die im Gegensatz zum Römischen Recht eine rechtsgültige Ehe geschlossen haben, 8 4 aber nicht über die Mittel verfügen, um den Herrn für den Arbeitsausfall während der Schwangerschaft und Geburt zu entschädigen und die Kinder zu erziehen oder erziehen zu lassen, sich ihrer Verpflichtung nur dadurch entledigen können, daß sie dem Herrn das Kind als Knecht wiederum überlassen. Mit dieser Argumentation zeichnet Wolff die immer wiederkehrende Kette einer rechtlich materialen Beherrschung, die auf der Verwendbarkeit des Menschen als Ware beruht: Da der Knecht nichts besitzt, muß er sich verkaufen, da er sich verkauft hat, kann er nichts erwerben, um sich und seine Kinder zurückzukaufen. Daß der Gesellschaft mit der öffentlichen Zensur alle Mittel gegeben sind, um diesen Zirkel der Unterdrückung aufrechtzuerhalten, geht aus der Abhängigkeit dieser Zensur vom Zweck des Staates hervor: „Fines civitatis sunt vitae sufficientia, tranquillitas et securitas." 85
Diese grenzenlose Herrschaftstheorie versucht Kant mit den unmittelbaren Folgerungen aus der Eigenart des Vernunftgebrauchs zu durchbrechen dadurch, daß die
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I . N . , 8, 476: „Et quoniam in civitate nil admittendum, quod fini eiusdem repugnet, consequenter nec permittendum, ut disseminentur opiniones fini civitatis adversae, ea de causa nec permittendum erit, ut imprimantur libri vel alibi impressi vendantur, qui continent opiniones fini civitatis seu statui publico adversas." I. Ν . , 7, 1087 Schol.: „Si servitus intra términos naturales subsistât quo definitio continet, nihil ea acerbitatis habet." — Zum folgenden 7, 1080—1120; vgl. Achenwall, I . N . , 2, 6 5 - 7 7 (A 19, 3 5 6 - 6 1 ) I . Ν . , 7, 1129 I . Ν . , 8, 13
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Seit 1772 : Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie
vernünftige Urteilsfindung an sich schon sozial ist und daher frei sein muß und daß mit dem praktischen Vernunftgebrauch schon selbst unverlierbare äußere Rechte verbunden sind. Nun kann man einwenden, daß die Begründung dieser Grundrechte in die Zeit vor 1772 zurückreicht und daher mit kritischer Philosophie nicht notwendig zu verbinden ist. Tatsächlich formuliert Kant die Gesellschaftlichkeit des Vernunftgebrauchs in der Logik Blomberg vor 1772 und auch die Erkenntnis, daß sich der Mensch mit dem Verzicht auf sein eigenes Urteil rechtlich an eine vernunftlose Macht ausliefert, geht in die 2. Phase der Rechtsphilosophie zurück. In dieser Begründung kann demnach nicht das Wesen der kritischen Rechtsphilosophie liegen, sondern nur darin, daß Kant 1772 erkennt, daß der Gebrauch der Vernunft als Selbstschöpfer von Rechten die einzige und sowohl der eigenen Sinnlichkeit gegenüber als auch im sozialen Bezug objektive Instanz ist, auf die sich der Mensch berufen kann und muß. 8 6 Wie sehr Kant den Vernunftgebrauch nach 1772 den Eingriffen des Staates entzieht, zeigt ein Vergleich der Nachschriften Herders und Powalskis. Zwar weiß Kant schon in der Herdernachschrift, daß keine staatliche Instanz das „Selbstdenken" nehmen kann (A 27, 1, 75, 38), daß das Verhältnis zu Gott staatliche Regelungen nicht berührt (A 27, 1, 79, 3—4) und daß durch Intoleranz „jedes Falsche befestigt" wird (A 27, 1, 78, 34—35), dennoch ist seine Toleranzforderung so eng in die Kulturkritik eingebunden, daß er die Möglichkeit der Toleranz auf den Menschen des Naturzustandes und den diesen wieder herstellenden Philosophen einschränkt (A 27, 1, 74, 3 ff. ; 75, 1—3). Die Verderbnis des Kulturzustandes erfordert im Gegenteil Zwangsmittel des Wohlfahrtsstaates: „Eine allgemeine Toleranz ist möglich, aber bloß alsdenn, wenn wir wieder zurückkehren zum ersten Zustand; alsdenn sind wir auch ohne Gott moralisch gut; warum soll ich nicht von Religion meine Meinung sagen: In Ansehung dieser Welt ist das Urteil der Toleranz bloß eine Sache der Obrigkeit; aber keines andern." (A 27, 1, 76, 8—13) 87
Damit redet Kant einer erzieherischen staatlichen Intoleranz das Wort. Typisch für diesen Standpunkt ist die Einordnung Pierre Bayles als eines religionslosen d. h. Erziehung verhindernden Philosophen: „Bayle war großmütig . . ., aber ohne Religion." (A 27, 1, 79, 8 - 9 ) Rechtsphilosophisch entspricht eine solche Lehre z. B. der Wolffs und Achenwalls, die zwar Religionssätze als Gewissensdinge von Zwangsgesetzen ausnehmen, diese aber dennoch einschränkungslos dem Glücks- und Sicherheitsbedürfnis des Staates unterwerfen. 8 8 86
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Von der verschiedenartigen Argumentation her läßt sich ein Versuch unternehmen, die Reflexionen zum Herrenrecht, die in der Akademie-Ausgabe der Phase κ zugeteilt sind (A 19, 4 7 1 - 4 7 6 ) , genauer zu datieren. So möchte ich die Reflexionen 7628/7635/7637 nach κ setzen, die Mehrzahl aber, wenn die Reflexionen ihrer Aussagekraft nach überhaupt zu datieren sind, in die späteren Phasen. Vgl. „Eine Religionsrevolution ist Staatsrevolution." A 27, 1, 78, 29—30 Vgl. Wolff, der das Eingriffsrecht gleich einformuliert, I . N . , 8, 948: „Ius circa sacra, quatenus originarie in populo est, extendi nequit ad ea, quae ad cultum divinum internum spectant et indivulso nexu cum eodem in externo cohaerent, nisi quatenus provisionaliter
Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche Gewalt und absolute Freiheit
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Ganz anders die Nachschrift Powalski. Dort definiert Kant den Orthodoxen als den, „der einen Zwang auf die Gewissen legen will, dieser Orthodoxe macht Ketzer" (A 2 7 , 1, 187, 19—21). Den Ketzer aber definiert er folgendermaßen: „ U m das Mannigfaltige des Äußern der Religion kann also kein Mensch verketzert werden. Wir können deswegen nur den einen Ketzer nennen, der einen Grundsatz hat, der den moralischen Gesinnungen widerstreitet." (A 27, 1, 186, 13 — 16)
D . h. der wahre Ketzer erweist sich also nicht im Verhältnis zu einzelnen statuarischen Religionssätzen, sondern in seinem Verhältnis zu seiner eigenen Freiheit, ob er nämlich deren Gesetze anerkennt oder nicht. Daraus aber folgt, daß ein Mensch zum Ketzer nicht aufgrund vom Staat gesetzter Kriterien wird, sondern aufgrund seiner eigenen Handhabung der Vernunft. Diesem Vernunftstandpunkt in Religionssachen entspricht die Reflexion 7795 aus der Mitte der 70er Jahre: „Selbst das Volk kann sogar nicht einstimmig in Ansehung der Religion positive Zwangsgesetze machen. Denn man kann nicht von Menschen zu dem gezwungen werden, was nur Gott angeht, und sie können sich zu nichts anheischig machen, was, sobald sich ihre Meinung davon ändert, auch es über alle Menschen Furcht zu ändern nötigt. Noch weniger kann dieses durch der meisten Urteil geschehen." (A 19, 519, 1 0 - 1 5 , R 7795)
Der
kritische
Freiheitsbegriff
und
die
Lektüre
von
Bayles
,Commentaire
philosophique' müssen das Urteil über Autor und Gegenstand zurechtgerückt haben. Dennoch muß Kant diese Aufrichtung des Vernunftgebrauchs als Festpunkt angesichts der Allmacht des Staates gegen einen anderen Vernunft- und freiheitsvernichtenden Einwurf verteidigen, daß nämlich die große Zahl der Menschen die Vernunft in einem so geringen Grade gebrauche, daß man mit deren rechtlicher und intellektueller Wirksamkeit nicht argumentieren könne: im Gegenteil ist seine Lehre, daß das vernünftige Wesen niemals „völlig passiv" ist und daher auch niemals alle Rechte — es sei denn durch aktive Selbstvernichtung aller Verbindlichkeit durch Mord — durch Herrschaft verlieren kann: „Die absolute Subjektion (oder Leibeigenschaft) findet nur statt unter einem völlig guten Willen, der niemals unrecht sein kann, dem also der unsrige völlig passiv unterworfen sei (aller andrer Wille ist restringiert); aber auch da müssen wir überlegen, ob der Wille auch ein völlig gerechter Wille ist, mithin ist die Verbindlichkeit niemals eine blinde Unterwürfigkeit, die völlig passiv ist." (A 19, 547, 3 3 - 5 4 8 , 4, R 7896, 1776-79?)
D i e Aufgabe aber bleibt, von der Theorie der absoluten Rechtsfähigkeit auf deren Möglichkeit in concreto zu schließen.
5.5.3. D i e R e c h t s b e d i n g u n g e n der Staatsgewalt 5 . 5 . 3 . 1 . Die Trennung von Staatserrichtung und Staatsverwaltung Wie aber soll diese unveräußerliche Rechtsfähigkeit wirksam werden, wenn das erste Rechtsgebot lautet, sich einer unwiderstehlichen Gewalt zu unterwerfen, einer controversia in ecclesia orta decidenda aut de ea certi quid constituendum." Achenwall, I . N . , 2, 134, 137 (A 19, 3 9 0 - 9 1 )
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Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie
M a c h t , die s o stark sein m u ß , daß mit der Möglichkeit, Recht z u schaffen, ebenfalls alle F r e i h e i t v e r n i c h t e t w e r d e n k a n n ? D a s P r o b l e m erscheint u n l ö s b a r : „ W a s jemand gegen sich selbst, mithin der Staat in Ansehung seiner Glieder will, ist Recht. Es ist also absurd, daß eine Befugnis, kein Unrecht tun zu können, jemandem erteilt werde, oder daß es rechtskräftig sei, wenn Menschen sich ihres Rechts überhaupt begeben. Hier steckt die ganze Schwierigkeit, so wie in der Metaphysik vom absoluten necessario, wie ein oberster Wille, der da bestimmt, was Recht sei, möglich ist, und eine irresistible Gewalt doch selbst rechtmäßig sei, obgleich sie durch nichts Äußeres eingeschränkt wird, auch nicht durch das Recht anderer, denn alsdenn würde eine noch höhere Gewalt erfordert werden." (A 19, 563, 1 3 - 2 1 , R 7953, 1 7 7 6 - 8 9 ) 8 9 K a n t g e l i n g t a l l e r d i n g s ein n e u e r A n s a t z d e r L ö s u n g d a m i t , d a ß er d i e S t a a t s e r richtung, die nach d e m genannten ersten Rechtsgebot geschieht, von den A k t i o n s f o r m e n dieser unwiderstehlichen G e w a l t trennt: „ D e r Sozialkontrakt ist nicht das principium der Staatserrichtung, sondern der Staatsverwaltung und enthält das Ideal der Gesetzgebung, Regierung und öffentlichen Gerechtigkeit. — Fragt man nun, welches ist das principium obiectivum der Staatserrichtung, so antworte ich: in einer Vereinigung frei handelnder Wesen, die doch alle als den Zwangsgesetzen unterworfen betrachtet werden sollen, ist die zwingende Gewalt notwendig außer ihnen, und es ist kein principium obiectivum der Staatserrichtung möglich. Vor jedem Zwangsgesetze geht die Gewalt vorher. Die Gewalt, w o sie nicht natürlicherweise dem beirechnet, der auch das Recht der Gesetzgebung hat, so kann sie gar nicht rechtlich errichtet werden. Denn weil seine Gewalt an die Bedingung gebunden ist, daß sein Wille Recht sei und ihm auch nur nach Regeln des Rechts solche zuteil werden soll, wer zwingt ihn darnach zu verfahren. Uberdem, wer ein an sich zufälliges Recht wozu hat, muß nach einem Zwangsgesetze verbunden werden können, damit er nur durchs Recht und nicht durch Willkür seine Gewalt habe. N u n ist aber denn keine Gewalt mehr, die ihn zwingen k ö n n e . " (A 19, 503, 6—22, R 7734, 1773 — 77?) D i e s e z w i n g e n d e G e w a l t m u ß v o r j e d e m e i n z e l n e n G e s e t z liegen, u n d sei es n o c h so
grundlegend,
weil
eine u n g e z w u n g e n e ,
amorphe
und
daher
rechtlose
Masse
überhaupt keinen Beschluß fassen kann: „ D a s Volk kann noch kein Recht erteilen, indem es einen Souverain konstituiert, sonst müßte es selbst schon eine souveraineté gehabt haben. Es tritt allererst vermittelst eines Souverains in den statum iustitiae externae." (A 19, 534, R 7849, 1 7 7 2 - 7 7 ) „ D e r actus, da die Menge durch ihre Vereinigung ein Volk macht, konstituiert schon eine souveraine Gewalt, welche sie durch ein Gesetz auf irgendeinen übertragen. Denn die pacta sind Gesetze und supponieren schon eine gesetzgebende Gewalt. — Wenn ein Volk jemand die Souverainetät aufträgt, so kann es solche nicht einschränken, denn alsdenn ist es nicht Souverainetät. Alle Einschränkung setzt voraus, daß das Volk die oberste Gewalt behält." (A 19, 511, R 7769, 1 7 6 9 - 75)»° A n g e s i c h t s d i e s e r T a t s a c h e , d a ß v o r einer G e w a l t , die f ü r d i e ä u ß e r e n B e d i n g u n g e n einer V e r h a n d l u n g u n d des Verfahrens nach Regeln sorgt, gar kein Beschluß möglich i s t , e r s c h e i n t d e r G e d a n k e , d e n R i t t e r a l l e r d i n g s f ü r „ m e r k w ü r d i g " h ä l t , 9 1 gar nicht s o a b w e g i g , d a ß d i e H e r r s c h a f t eine h e r r e n l o s e S a c h e ist, d i e o k k u p i e r t w e r d e n m u ß :
89 90 91
Vgl. Naturrecht Feyerabend S. 116 E b e n s o A 19, 564, 8 - 9 , R 7954 a . a . O . , S. 298. Die Parallele zum Herrscher als Obereigentümer kann ich nicht erkennen, a . a . O . , S. 2 9 8 1 3 7 ; s. u. S. 154f.
Das kritische Staatsrecht: Unwiderstehliche Gewalt und absolute Freiheit
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„ D e r Souverain ist nicht mandatarius, sondern cessionarius oder vielleicht prior occupans, aber nicht von mehr Rechten, als das Volk hatte, mithin nur von der allgemeinen Gesetzgebung. Wenn das Volk sich nicht selbst regieren kann. So ist die Regierung res nullius und muß okkupiert werden. Von dem, was man nicht selbst besitzt, kann man keine Zession m a c h e n . " (A 19, 484, 1 2 - 1 7 , R 7671, 1769 - 72) D i e s e r G e d a n k e der rechtsverbindlichen O k k u p a t i o n , die nur die Staatsgewalt und Staatserrichtung betrifft, geht in die vorkritischen Phasen des Staatsrechts z u r ü c k : „ S u m m u m imperium transferri non potest, sed si occupetur, obligat." (A 19, 449, 11, R 7538, 1 7 6 6 - 1 7 6 9 ) 9 2 D i e T r e n n u n g in Staatserrichtung und Staatsverwaltung, die erst eine Verfassung nach Regeln der Freiheit möglich machen soll, geschieht wegen der unabdinglichen Staatsgewalt nur in A n a l o g i e zum U n t e r w e r f u n g s - und Herrschaftsvertrag, 9 3 denn ein V e r t r a g ü b e r die Staatserrichtung kann überhaupt nicht geschlossen werden, die U n t e r w e r f u n g unter den äußeren Rechtszustand w i r d vielmehr n u r als ein solcher gedacht: „ O b das pactum subiectionis nicht als quasi contractus originarius könne angesehen werden. Alle Menschen wollen notwendigerweise Recht und müssen alsdenn sich auch gefallen lassen, anderer Recht Einfluß zu verstatten. Sie sind aber an sich selbst in Ansehung dessen passiv und können sich nicht vereinigen. Der so es übernimmt, handelt ex quasi contractu." (A 19, 534/5, R 7851, 1 7 7 2 - 7 7 ) G e w o n n e n ist methodisch mit der Unterscheidung, daß der Gewaltcharakter des Staates in der Staatserrichtung betrachtet w i r d und in der Reflexion auf diesen beschränkt bleibt, daß andrerseits die Staatsverwaltung den Blick — unabhängig v o n der G e w a l t — freigibt f ü r die F o r m des Staates, die allein der Freiheitsfähigkeit der Individuen entspricht. In den 80er Jahren faßt K a n t diese methodische Unterscheidung unter folgenden Begriffen: „Contractus originarius non est principium fiendi (Errichtungsgrund), sed cognoscendi (Verwaltungsgrund) des Staats, leges, decreta, sententiae)." (A 19, 564, R 7956) D . h. die Erkenntnis des Gesellschaftsvertrages als Vertrag über die Staatsverw a l t u n g u n d E r k e n n t n i s p r i n z i p 9 4 läßt h o f f e n , daß sich unwiderstehliche
Gewalt
mittels d e r Staatsverwaltung unter den Bedingungen des Rechts wirklich mit der Freiheit der Bürger verbinden läßt: „Die quaestio iuris ist diese: wie ist der Zustand beschaffen, so daß eines jeden Menschen Eigennutz nach einer solchen Regel geschehe, die auch vor den Eigennutz anderer gilt und also gerecht sei? Ist die Staatserrichtung bloß willkürlich, oder ist eine Staatserrichtung ( s iuri92 93 94
Ebenso A 19, 564, 8 - 9 , R 7954, 1780-1784; vgl. Anhang zur Rechisi. A 6, 372 Vgl. Achenwall I . N . , 2, 98 u. 109; Grotius, a . a . O . , 1, 3, 8 u. 1, 3, 13ff. Diese Trennung macht auch verständlich, daß Kant von der ursprünglich geforderten Einstimmigkeit bei ersten Gesetzen abrückt (vgl. Rousseau, C. S., 1, 5/6): „Unanimi consensu m u ß beschlossen werden, ob und was consensu plurium könne beschlossen werden; d. i. leges constitutivae können nur unanimiter beschlossen werden, die leges executivae per m a i o r a . " A 19, 453, R 7552, ebenso R 7551, beide 1769-75. Dagegen: „ O b die Konstitution unanimia erfordere. In der Idee guter Menschen, ja. Aber so wie sie sind, so viel, daß andere können gezwungen werden. Nach dem principio exeundum e statu naturali." A 19, 565, R 7961, 1 7 8 5 - 1 7 8 9 ; vgl. A 19, 448, R 7531
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Seit 1772: Der Freiheitsbegriff als Grund der kritischen Rechtsphilosophie
dice) notwendig; imgleichen welche Verfassung des Staats ist allein rechtmäßig. Also ist ein Grund des Rechts, der die Staatserrichtung notwendig macht und ist ein Grund des Rechts, der nur eine einzige Staatsverfassung rechtmäßig macht." (A 19, 497, 12-19, R 7708, 176975) 5.5.3.2. Der patriotische Staat unter der repräsentativen und dauerhaften Staatsverwaltung Den Staat, der vom Recht der einzelnen Bürger ausgeht, nennt Kant den patriotischen: „Ohne Patriotismus der Regierung ist kein Patriotismus des Untertans, (ëdenn dieser besteht darin, daß er sich als ein Glied, nicht als ein Eigentum des Staats ansieht). Zu den Rechten eines Untertanen eines patriotischen Staats gehöret, daß er unter der Gleichheit der Verdienste, zu denen er sich erheben kann, er auch mit jedem andern zu gleicher Würde gelange. Also muß er selbst nicht zum patrimonio anderer gehören und kein Erbuntertan eines Privatmannes sein. Als Mittel die Freiheit der Feder." (A 19, 511, R 7771, 1772 - 75) Die Herkunft dieses Begriffs deckt die Reflexion 7686 auf: „Der Monarch, welcher despotisch ist, hält den Staat als sein Erbgut (patrimonium), der patriotisch ist, als sein Vaterland. Das Land selbst ist eine Verbrüderung aus einem gemeinschaftlichen Vater. Es ist die Herrschaft des Ältesten. Alsdenn haben Untertanen auch i