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German Pages [192] Year 2011
Kalter Krieg in der Musik
KlangZeiten
Musik, Politik und Gesellschaft Band 9 Herausgegeben von
Detlef Altenburg Michael Berg Helen Geyer Albrecht von Massow
Kalter Krieg in der Musik Eine Geschichte deutsch-deutscher Musikideologien
von
Irmgard Jungmann
2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Brandenburger Tor 1987. Photo: Peter Homann. bsd-Photo-Archiv. © 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Prime Rate Kft., Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-412-20761-8
Inhaltsverzeichnis
An Stelle des Vorworts: Ein Dialog über das vorliegende Buch....................................
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Einleitung.................................................................................................................................
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1. 1945 – Auf den Trümmern der gemeinsamen Geschichte ................................... 1.1 Die Wertschätzung von „Bildung“....................................................................... 1.2 Der Markt als Motor des Fortschrittsdenkens................................................... 1.3 Die philosophische Schule des Idealismus ......................................................... 1.4 Nationales und nationalistisches Denken........................................................... 1.5 Die Singbewegung und die Schulmusikreform ................................................. 1.6 „Politische“ Musik................................................................................................... 1.7 Nationalsozialistische Musikpolitik .................................................................... Zusammenfassung ............................................................................................................
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2. Musikalische Kontinuitäten – Weitermachen wie zuvor? .................................... 2.1 Unpolitische Musik – „Idealistische“ Verdrängungsleistung.......................... 2.2 Der Einfluss der Singbewegung ............................................................................ 2.3 Personelle Kontinuitäten ....................................................................................... Zusammenfassung ............................................................................................................
44 44 49 59 63
3. „Ade, Du mein lieb Heimatland!“ – Die Wege trennen sich............................... 3.1 Die Entstehung getrennter Organisationen ....................................................... 3.2 Weltanschauliche Differenzen in der „Erbepflege“........................................... Zusammenfassung ............................................................................................................
64 64 67 74
4. Die gespaltene Neue Musik: 2 Wirtschaftssysteme – Zwei Denksysteme........ 76 4.1 Musik fürs Volk im Sozialismus ........................................................................... 76 Verständlichkeit und Volksnähe ........................................................................... 76 Objektive Wahrheit ................................................................................................ 85 Persönlichkeitsbildung ........................................................................................... 90 Die Formalismus-Debatte als Kalte-Kriegs-Debatte ........................................ 92 4.2 Musik für Eliten im Kapitalismus ........................................................................ 102 Freiheit und idealistische Werte ........................................................................... 102 Musik als Gesellschaftskritik ................................................................................. 122
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Inhaltsverzeichnis
4.3 Ist Freiheit eine notwendige Bedingung von Kunst? ....................................... 126 Zusammenfassung ............................................................................................................ 131 5. Neue Musik ohne Publikum – Die gesellschaftliche Isolation in Ost und West ........................................................................................................................... 5.1 DDR: Das Werben um die Werktätigen............................................................. 5.2 BRD: Das Recht auf Individualität ..................................................................... Zusammenfassung ............................................................................................................
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6. Der Vormarsch der Popmusik...................................................................................... 6.1 DDR: Grenzgänger zwischen zwei Systemen .................................................... 6.2 BRD: Kunst gegen Pop .......................................................................................... Zusammenfassung ............................................................................................................
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7. Lässt sich aus der Geschichte lernen? ........................................................................ 166 Literaturverzeichnis ............................................................................................................... 173
An Stelle des Vorworts: Ein Dialog über das vorliegende Buch
Albrecht v. Massow: Das vorliegende Buch bewegt sich mit seiner Kritik an einer Autonomieästhetik, welche als uneingelöstes Versprechen deutscher Musikideologien abzulehnen sei, in einer Denktradition der letzten Jahrzehnte, zu der in mehreren Beiträgen anderer Bände unserer Schriftenreihe KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft wie auch in weiteren Beiträgen – vor allem aus der Philosophie – zumindest bedenkenswerte Alternativen geboten wurden. Da Sie aber diese Alternativen kaum oder gar nicht diskutieren, habe ich als Mitherausgeber dieser Schriftenreihe vorgeschlagen, an den Beginn dieses Buches eine Diskussion hierüber zu setzen, deren Kern – die Frage nach der Glaubwürdigkeit einer Autonomieästhetik – ich mich zunächst anhand Ihres Szenarios, in welchem Sie philosophisch-ästhetische mit sozio-ökonomischen Aspekten zu verknüpfen suchen, nähern möchte. In den Kapiteln Die Wertschätzung von Bildung und Die philosophische Schule des Idealismus kritisieren Sie die unter Anderem mit Immanuel Kant und Friedrich Schiller prominent gewordene Auffassung, der zufolge der Mensch sich – indem er mit sich als sinnlichem und fühlendem Wesen abwägend umzugehen lernt – vom Naturzwang befreien kann, als ‚idealistisch‘, nämlich als spezifische Ästhetik eines bürgerlichen Liberalismus. Damit unterschlagen Sie die wichtige Differenzierung zwischen der Frage nach dem Sollen und der Frage nach dem Können: Denn ob der moderne Mensch immer gut beraten ist, Alles, was er unter seine rationale Verfügungsgewalt bringen könnte, auch tatsächlich unter seine rationale Verfügungsgewalt zu bringen, ist eine Frage nach dem Sollen, die sich aus heutiger Sicht angesichts der technologischen, militärischen und ökonomischen Exzesse der Moderne vernünftiger Weise stellt. Insofern haben Sie recht. Doch das ist vorab gar nicht die Frage, die die Kunstästhetik der Aufklärung zu beantworten versucht, auch gar nicht zu beantworten braucht, weil sich mit Kunst nicht annähernd so Verheerendes anrichten lässt wie mit den übrigen Fertigkeiten der Moderne. Im Gegenteil: Eine der wichtigen Einsichten der Kunstentwicklung im Zuge der auf die Aufklärung folgenden Romantik könnte sein, dass man in der Kunst Aberrationen ausagiert, deren Verwirklichung man jenseits der Kunst lieber lässt. Jeder Widerspiegelungstheoretiker und Politiker, der glaubt, er müsse solche Kunst als Wurmfortsatz der übrigen gesellschaftlichen Ideologien nutzen oder kritisieren, verkennt die Eigenständigkeit der Kunst. Um diese aber ist es gerade der Autonomieästhetik zu tun. Daher stellt sich mit Kant vorab die grundlegende Frage, ob der Mensch zu solcher Autonomie überhaupt fähig sei, also die Frage nach dem Können. Solange diese Frage – die Kant in einiger Hinsicht beeindruckend, jedoch in einem entscheidenden Punkt nicht befriedigend beantwortet – nicht geklärt war, bietet sich späteren gegenaufklärerischen Tendenzen in Politik, Naturwissen-
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An Stelle des Vorworts
schaft und Soziologie bis heute der Raum, das Vermögen zur Autonomie grundsätzlich in Abrede zu stellen. Doch diese Frage, die keineswegs erst mit Kant virulent wird, muß beantwortet werden, und meinerseits habe ich versucht, Einiges hierzu aus musikwissenschaftlicher Sicht beizutragen,1 und beharre daher darauf, daß eine philosophische Erörterung der Möglichkeit und des Verhältnisses von Autonomie und Heteronomie die Voraussetzung für jegliche zukünftige soziologische bzw. gesellschaftspolitische Kunstästhetik bildet. Irmgard Jungmann: Ich stimme Ihnen zu, dass der Diskurs um die Möglichkeiten autonomer Kunst sowie um das Vermögen des erkennenden, handelnden und gestaltenden Subjekts – sowohl was das Sollen als auch das Können betrifft – weiterhin geführt werden sollte und ja de facto nicht zuletzt durch Ihre gerade genannten wissenschaftlichen Beiträge auch geführt wird. Der Ansatz meines Buches ist jedoch ein anderer, nämlich der Versuch, sich aus kultursoziologischer, z. T. ideengeschichtlicher Sicht dem Thema zu nähern und dabei die Autonomieästhetik nicht inhaltlich zu bewerten, sondern sie als die real existierende und dominierende Ästhetik der letzten zwei Jahrhunderte in ihrer speziellen Ausformung zu betrachten, wie sie einesteils historisch aus dem Zusammenhang wirtschaftlich-sozialer Gesellschaftskonstellation erwachsen ist, gleichzeitig aber auf die Gesellschaft zurückwirkt und jeweils ihre verschiedenartige Funktion im Gesellschaftssystem eingenommen hat und weiterhin einnimmt. Eine solche Betrachtungsweise nimmt nicht parteiisch Stellung zum Inhalt der Idee, also auch nicht zur Berechtigung – Nicht-Berechtigung einer Autonomieästhetik, sondern fokussiert den Blickwinkel gleichsam von außen auf die Rolle, die eine gesellschaftlich so dominante Kunstidee im Sozialgefüge spielt. Der mittlerweile breite Forschungszweig der Kultursoziologie beschäftigt sich ja gerade mit eben diesem Zusammenhang und konnte immer wieder zeigen, dass Ideen und Theorien nicht „vom Himmel fallen“, sondern, obwohl vom einzelnen Subjekt formuliert, dennoch nur im Zusammenhang ihres gesellschaftlichen Kontextes begriffen 1
Vgl. hierzu Albrecht v. Massow, Art. Autonome Musik, in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, hg. von Hans Heinrich Eggebrecht, 22. Auslieferung, Stuttgart 1994; ferner Autonomieästhetik im Sozialistischen Realismus, in: Zwischen Macht und Freiheit. Neue Musik in der DDR (= KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft, Bd. 1), hg. von Michael Berg, Albrecht v. Massow und Nina Noeske, Köln, Weimar, Wien 2004, 157–164, ferner mit Friedrich Goldmann, Gespräch, ebenda, S. 165–176; ferner Autonomie und Kontext. Ein Beitrag zur Theorie der Musikgeschichtsschreibung am Beispiel von Neuer Musik in der DDR, in: Musikwissenschaft und Kalter Krieg. Das Beispiel DDR (= KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft, Bd. 7), hg. von Nina Noeske u. Matthias Tischer, Köln, Weimar, Wien 2010, S. 97–116; schließlich Musikalische Autonomieästhetik zwischen Geistes-, Natur- und Sozialwissenschaften ( = Laboratorium Aufklärung, Bd. 1), hg. von Olaf Breidbach u. Hartmut Rosa, München 2010, S. 169–197.
Ein Dialog über das vorliegende Buch
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werden können. Daher möchte ich auch gerne meine Arbeit nicht als Kritik am Autonomiebegriff von Musik verstanden wissen, sondern als Beitrag, die musikalische Autonomieästhetik im gesellschaftlichen Gefüge von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik im historischen Abstand, aber auch bis in die Gegenwart hinein zu beschreiben. Mit der Trennung Deutschlands in zwei ökonomisch-politische Systeme war der Zusammenhang von Musikästhetik und Gesellschaftssystem besonders deutlich demonstrierbar. Dabei ließ sich erkennen, dass beide Systeme, obgleich sie sich auf Ansätze der Autonomieästhetik bezogen (im Westen: Freiheit – im Osten: objektive Wahrheit), zu unterschiedlichen, jeweils zu ihren Gesellschaftssystemen „passenden“ Ausformungen kamen. Ich gebe gerne zu, dass sich daraus eine Relativierung einer bislang für „absolut“ gehaltenen Position von Autonomieästhetik folgern ließe, dass sich auch durchaus die Frage nach den gesellschaftlichen Funktionen einer solchen Kunstanschauung stellt, nicht jedoch kann hieraus abgeleitet werden, dass die Frage, was denn Musik eigentlich sei, was „das Schöne“ sei, ob sie eher absoluter Ausdruck, subjektiver Ausdruck oder Widerspiegelung der Gesellschaft sei, nicht nach wie vor als zentrale Frage von Musikästhetik im Diskurs zu stehen hätte. Nicht „Musik“ ist also in erster Linie Gegenstand meiner Untersuchung, sondern eine bestimmte Ausformung des Denkens „über Musik“ in ihrer Verwobenheit mit der Gesellschaft. Albrecht v. Massow: Die Frage, ob der moderne Mensch immer gut beraten ist, Alles, was er unter seine rationale Verfügungsgewalt bringen könnte, auch tatsächlich unter seine rationale Verfügungsgewalt zu bringen, wurde im Zusammenhang mit Ihrer Kritik an der Autonomieästhetik gestellt. Warum aber stellen Sie nicht auch die Gegenfrage, nämlich ob der moderne Mensch immer gut beraten ist, Alles, was er unter seine irrationale Verfügungsgewalt bringen könnte, auch tatsächlich unter seine irrationale Verfügungsgewalt zu bringen. Denn das tut er, und zwar ausgiebig in rational kaschierten Formen der Technologie, Politik und Ökonomie – des Markradikalismus ebenso wie des Totalitarismus. Autonomieästhetik kann hier ein sehr wichtiges Korrektiv sein, sich diesbezüglich selbstkritisch zu reflektieren. Hingegen mit Ihrer Auffassung in den Kapiteln Die philosophische Schule des Idealismus und Die Singbewegung und die Schulmusikreform gilt die ‚philosophisch-rationale‘ Autonomieästhetik als mitbeteiligt an einem Leitbild, welches dann später pervertiert unter Anderem im ‚Dritten Reich‘ Geltung gehabt habe. Nicht soll bestritten werden, daß die Nationalsozialisten ihre irrationalen Perversionen sehr geschickt rational zu kaschieren wußten. Aber gerade in dem Bereich, wo sie ihre Irrationalität offen inszenierten – nämlich in der Kunst – ,huldigten sie nie und nimmer einer ‚rationalen‘ Autonomieästhetik, sondern suchten die Kunst unter dem Primat von ‚Gefühl‘ und ‚Natürlichkeit‘ zu vereinnahmen.
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An Stelle des Vorworts
Irmgard Jungmann: Die Darstellung des historischen Werdegangs der auf dem philosophischen Idealismus basierenden Musikästhetik bis zum Untergang des „Dritten Reiches“ fällt in diesem Buch notgedrungen sehr verkürzt aus, da ich damit nur die Voraussetzungen und den Ausgangspunkt skizzieren wollte, an dem 1945 die Deutschen standen und von dem aus sich die darauf folgende Trennung vollzog, die Trennung, die das eigentliche Thema meines Buches ist. In meiner vorangehenden Arbeit zur „Bildungsbürgerlichen Musikanschauung im 19. und 20. Jahrhundert“2 habe ich detailliert und, wie ich hoffe, überzeugend dargelegt, wie die Musikästhetik gerade im Namen einer Autonomieästhetik die entscheidenden Ideen des 19. und 20. Jahrhunderts wie einen Schwamm in sich aufsog und in ihrer Theorie mit verarbeitete. Auch dies wiederum wird als defacto-Bestandsaufnahme anzusehen sein und nicht als inhaltliche Kritik meinerseits an der Ästhetik. De facto integrierten Musiker, Musikwissenschaftler und Theoretiker unterschiedlicher Richtungen als rational denkende Subjekte ihrer Zeit die Strömungen des Liberalismus, Nationalismus und des Fortschrittsglaubens bis hin zu völkischer Attitüde und Rassismus in ihr Konzept autonomer Kunst und Musik. Ich teile nicht Ihre Ansicht, dass es sich dabei so leicht zwischen rationalen und irrationalen Komponenten der Ästhetik unterscheiden lässt. Ich zitiere in dem Zusammenhang gerne Richard Wagners ästhetische Überzeugungen, die er ja in Breite schriftlich fixierte. Wagner beschrieb den Künstler in Anlehnung an Schopenhauers Ästhetik als Sprachrohr „der Idee der Welt“: Das Gehör sei dem Musiker das Tor, „durch welches die Welt zu ihm dringt“, in der „Überflutung aller Schranken der Erscheinung [...] erkennt sich der Wille als allmächtiger Wille überhaupt.“ 3 Liberale Tendenzen zeigen sich in seiner Vorstellung von Freiheit als wirtschaftliche Unabhängigkeit: Der hochbegabte Künstler „fühlt sich frei, und will nun auch im Leben frei sein“.4 Im Trend des nationalistischen Denkens idealisierte Wagner die germanisch-deutsche Vergangenheit und imaginierte einen „deutschen Geist“, der in nationaler Einheit zur Vollkommenheit strebe. Zusätzlich bemühte er im Zuge der neu aufblühenden rassistischen Tendenzen „den Juden“ als Feindbild, der das deutsche Volk „sich selbst entfremdet“ habe, nur der „echt deutsche Instinkt“ frage und forsche „nach diesem Rein-Menschlichen“ 5, dem Hohen, dem Geistigen. Gerade an Wagners Ästhetik lässt sich demonstrieren, wie sich die Strömungen seiner Zeit wie in einem Kristall vereinigten und zu einem quasi 2 3 4 5
Irmgard Jungmann: Sozialgeschichte der klassischen Musik. Bildungsbürgerliche Musikanschauung im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2008 Richard Wagner: Beethoven, in: Ernst Bücken (Hg.): Richard Wagner. Die Hauptschriften, 2Leipzig 1943, S. 297–342, hier S. 311 Richard Wagner: Der Künstler und die Öffentlichkeit, in: Ernst Bücken (Hg.): Richard Wagner (wie Anm. 3), S. 44–50, hier S. 47 Richard Wagner: Das Judentum in der Musik, in: Ernst Bücken (Hg.): Richard Wagner (wie Anm. 3), S. 124–136
Ein Dialog über das vorliegende Buch
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schlüssigen Konzept verschmolzen, dessen Tendenzen auch nach Wagner in unterschiedlicher Intensität und Ausprägung vom Gros der Musikschriftsteller des Kaiserreiches, der Weimarer Republik und der Nationalsozialistischen Ära weiterhin verfolgt und ausgebaut wurden. Damit möchte ich sagen: Die vorherrschende Musikanschauung im Nationalsozialismus kann meiner Meinung nach kaum als Aberration oder Perversion einer ansonsten „heilen“ Autonomieästhetik betrachtet werden, da die „reine“ Lehre sich in der Realität der Musikgeschichtschreibung nur schwer finden lässt. Albrecht v. Massow: Eine weitere These von Ihnen, und zwar ausgehend vom Kapitel Der Markt als Motor des Fortschrittsdenkens, sieht einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen Innovation als ökonomischem Leitbild und Innovation als kompositorischem Leitbild. Hinsichtlich der Ebene von Leitbildern mögen Sie, wenn man Ihren Vergleich auf dieser allgemeinen Ebene belässt, recht haben; jedoch hinsichtlich der Ebene der durch jenes Leitbild der Innovation faktisch entstehenden ökonomischen und künstlerischen Lebensrealitäten des 19. und 20. Jahrhunderts begegnen Konflikte und Widersprüche, wie sie schärfer nicht sein könnten: Der von Ihnen als Repräsentant kompositorischer Innovationen angeführte Robert Schumann, der für sich und seine Auffassungen zudem journalistisch zu werben wußte, war im Vergleich mit jedem x-beliebigen Salonkomponisten des 19. Jahrhunderts ökonomisch weder mit seinen Kompositionen, noch mit seiner Zeitschrift auch nur annähernd in der Lage, etwas zu produzieren, was wir heute im Blick auf den damaligen Musikmarkt als ‚marktgerecht‘ bzw. ‚marktgängig‘ bezeichnen würden. Richard Wagner, den Sie ebenfalls unter dem übergreifenden, zugleich aber jene Gegensätze krass nivellierenden Leitbild anführen, war ein scharfer Gegner des damaligen Musikmarkts und konnte sich erst mit der verantwortungslosen Plünderung der bayrischen Landeskasse seitens seines königlichen Gönners ökonomisch behaupten. Weder Schumann noch Wagner produzierten mit ihren kompositorischen Innovationen irgend etwas, was dem damaligen Musikmarkt in seinen dominierenden Tendenzen gerecht geworden wäre. Wenn Sie Ihre These historisch weiter verfolgen, dann müßten Sie Anton Weberns Bagatellen für Streichquartett op. 9 ebenso unter dem Leitbild der ökonomischen wie der kompositorischen Innovation deuten und bräuchten sich dann nicht mehr die Frage zu stellen, warum Weberns Musik im Unterschied zu mancher wesentlich marktgerechteren Pop- oder Klassikmusik eigentlich im Kaufhaus oder im Fußballstadion so wenig erfolgreich blieb. Irmgard Jungmann: Wenn Sie einen Zusammenhang von ökonomischem und kompositorischem Leitbild der Innovation ablehnen, dann möchte ich dagegen zu bedenken geben: Wie anders lassen sich die zahlreichen Innovationsfaktoren im Musikleben des 19. Jahrhunderts erklären, als da sind: Eine kontinuierliche Zunahme von Konzert- und
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An Stelle des Vorworts
Operbesuchern, von neu gebauten Konzert- und Opernhäusern, das Entstehen erfolgreicher musikalischer Zeitschriften und musikalischer Verlagshäuser, die Entwicklung bzw. technische Perfektionierung von Instrumenten, die kontinuierliche Vergrößerung von Orchestern sowie die Verbesserung der musikalischen Ausbildung der Orchestermusiker, der Aufbau von Konzertagenturen, das Virtuosentum mit der enormen Entwicklung instrumentaler Technik und insgesamt die deutliche Zunahme instrumentaltechnischer Anforderungen in den Kompositionen? Sind nicht all diese Phänomene nur durch einen sich entwickelnden musikalischen Markt erklärbar, der in seiner ihm eigenen kapitalistischen Gesetzlichkeit Fortschritt erzwingt? Nicht zuletzt ist gerade Schumann insoweit ein Opfer seines Fortschrittsdenkens geworden, als er, da er selbst die pianistische Virtuosenlaufbahn erstrebte, mit „innovativer“ Schlingentechnik die Perfektion seiner Finger so ausbauen wollte, dass es dabei zur Zerrung kam, womit seine pianistische Karriere beendet war. Und nun soll es vorstellbar sein, dass diese enormen Entwicklungsschritte, die allesamt als ökonomisch-soziale Konsequenzen für den Einzelnen greifbar waren, die Kompositionsentwicklung und das Denken über Musik nicht beeinflusst hätten? Dass ein einzelner Komponist wie Schumann ökonomisch scheiterte, heißt nicht, dass er und seine Frau Clara als erfolgreiche Pianistin auf dem internationalen Konzertpodium nicht in das allgemeine Fortschrittsdenken eingebunden gewesen wären. Schumann gab seine Zeitschrift unter einer seiner Begründungen heraus, dass er damit musikalische Qualität befördern wolle, das Gute vom Schlechten aussondern wolle, seine Kritiken also dazu dienen sollten, aus der Masse an Angebot die Qualität auszusondern. Ist dies nicht ein Anliegen, das nur auf Basis des sich ständig vergrößernden musikalischen Marktes entstehen konnte und verständlich wird? Sich im marktwirtschaftlich begründeten Fortschrittsdenken zu bewegen bedeutet nicht, sich persönlich bereichern zu wollen oder zu können. Es hat vielmehr die Konsequenz, dass die Weiterentwicklung und Innovation per se als ein notwendiger positiver Schritt im Gegensatz zur Abwertung des Immer-Gleichen das allgemeine Denken, so auch die musikalische Ästhetik, bestimmte. Und tatsächlich verstehe ich Weberns Bagatellen op. 9 ganz in dem Sinne, dass auch er das Neuartige suchte und fand mit dem Anspruch, die bestehenden Kompositionstechniken im Sinne des musikalischen Fortschritts weiterzuentwickeln. Albrecht v. Massow: Wagner sieht – im Unterschied zu Kant – in seiner Schrift Das Kunstwerk der Zukunft die Kunst gerade nicht – wie es dem 19. Jahrhundert pauschal unterstellen – als Ausdruck von ‚Freiheit‘ oder gar ‚bürgerlicher Freiheit‘, sondern – dezidiert antibürgerlich und daher um ‚Volksnähe‘ bemüht – als Ausdruck von ‚Naturnotwendigkeit‘, zumal er ‚Volk‘ auf ‚Natur‘, somit gerade nicht auf ‚Freiheit‘ zurückführt: eine Voraussetzung mit ideologisch schlimmsten Folgen im 20. Jahrhundert. Deswegen stimmt
Ein Dialog über das vorliegende Buch
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Ihre These von der Verknüpfung der Idee der Freiheit der Kunst mit der Idee nationaler Selbstbehauptung durch Selbstbefreiung nur hinsichtlich einer oberflächlichen begrifflichen Übereinstimmung. Die tatsächlichen Differenzen in Anwendungen des Begriffs der ‚Freiheit‘ auf Kunst und Gesellschaft waren nicht nur im 19. Jahrhundert tiefgehend. Die ‚Autonomie der Kunst‘ unter dem ‚Freiheits‘-Postulat war im ‚Dritten Reich‘ keineswegs erwünscht. Erst nachträglich wurde sie im Rahmen der von Ihnen schlüssig dargestellten Apologien im Zuge von Entnazifizierungsverfahren erneut bemüht, um sich von Verstrickung rein zu waschen. Dass dies – wie Sie ebenfalls beeindruckend darstellen – oft dieselben Personen waren, die zuvor im ‚Dritten Reich‘ die Kunst massiv politisiert und damit heteronomisiert hatten, glaubte die Kritik der 1968er-Generation nun der Kunst selbst vorhalten zu müssen, und zwar unterschiedslos, somit pauschal. Dieser Kritik, die ihrerseits schon den Selbstentnazifizierungsstrategien der Nachkriegszeit auf den Leim ging, scheint mir auch Ihre Argumentation aufzusitzen. Irmgard Jungmann: Ich stimme mit Ihnen überein, dass Wagner sich in seinen Schriften mit dem Thema „Freiheit“ im Sinne politischer Rechte oder individueller Freiheiten nur marginal, z. B. in dem schon genannten Zitat, dass ein wahrer Künstler frei sein müsse, beschäftigt hat. Seine Ausführungen sind aber meines Erachtens gleichwohl vor dem Hintergrund idealistischer Kunstphilosophie zu begreifen. Und hier spielt ja der Freiheitsbegriff in der Autonomieästhetik eine große Rolle. Die Polarität von Natur contra Geist und ihren Synonymen Notwendigkeit contra Freiheit war ja gleichsam die Basis der Autonomieästhetik. Kunst galt eben als Vermittlerin zwischen beiden Polen. Und es lag in dem unbestimmten Begriff von Geist/Freiheit, dass er für vielerlei Freiheitsverständnis genutzt werden konnte und wurde: Einerseits für Sittlichkeit (Schiller), für individuelle Unabhängigkeit des Geistes, für das Streben nach Vollkommenheit – was immer man darunter verstehen wollte – , aber auch für die Höherentwicklung nicht nur des Einzelnen, sondern des ganzen Volkes (so auch bei Wagner), z. T. auch für wirtschaftliche Unabhängigkeit des Einzelnen. Letzteres findet sich besonders in Musiker-Biographien, in denen z.B. die Entwicklung Mozarts und Beethovens weg von einem festen Anstellungsverhältnis – (würden wir nicht heute „prekäre Selbständigkeit“ oder „Arbeitslosigkeit“ dazu sagen?) – als höherer Grad ökonomischer und damit auch künstlerischer Ausdrucksfreiheit interpretiert wurde. Sehr deutlich zeigt sich die Koppelung von Autonomieästhetik und nationalliberaler Bewegung in den groß angelegten Musikfesten des 19. Jahrhunderts, wo sich jährlich Tausende trafen, um sich in der Feier der „hohen deutschen Kunst“ symbolträchtig als einiges und freies Volk zu fühlen. Und so vielfältig wie sich der liberale Freiheitsbegriff im Politischen darbot, genauso verschiedenartig wurde er innerhalb der Kunstästhetik genutzt. Wagner imaginierte also weniger ein politisch freies Volk, sondern ein Volk von hohem, freiem Geiste und hohem Menschsein, wozu seine Opern einen Beitrag leisten soll-
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ten. In diesem Sinne, und nicht im Sinne bürgerlich-politischer Freiheiten und Rechte argumentierten makabrerweise auch die Nationalsozialisten in ihrer großen Verehrung für die „deutsche Kunst.“ Albrecht v. Massow: Wenn man Autonomie – nämlich das Vermögen, sich selbst Gesetze zu geben – als grundsätzliches anthropologisches und unter Anderem durch Kunst, Technik und Moral zu verwirklichendes Vermögen ansieht, so dass Heteronomie genaugenommen nur hiervon abgeleitet werden kann, nämlich als sich fremden Zwecken unterstellende Autonomie, so kommt man auch im Blick auf repressive Staatsgebilde und Gesellschaften zu einer Beurteilung künstlerischen Handelns, die von der Kategorie der ‚Autonomie‘ auszugehen hätte. Ein kleiner, aber musikgeschichtlich keineswegs zu marginalisierenden Teil der Musik – dem man das Etikett einer sich klar zu erkennen gebenden Autonomieästhetik zurecht geben könnte, von der des Weiteren eine uneingestandene Autonomieästhetik sowie schließlich eine sich heteronom prostituierende Autonomieästhetik zu unterscheiden wäre – verhielt sich als kompositorisches Handeln im ‚Dritten Reich‘ keineswegs willfährig zur herrschenden Ästhetik. Webern komponierte seine Werke in klarer Distanz zur herrschenden Ästhetik, was aus heutiger Sicht angesichts seiner unreflektierten Nähe zu einigen nationalsozialistisch missbrauchten Idealen – etwa dem der ‚Reinheit‘ – frappiert, zumal er offenbar wegen einer oberflächlichen Übereinstimmung mit solchermaßen formulierten Idealen die gravierende ästhetische Differenz seiner eigenen Kunst von der der herrschenden Ästhetik übersah oder nicht thematisieren wollte – vielleicht auch aus verständlichem materiellem Opportunismus, da er von seiner Kunst im ‚Dritten Reich‘ noch schlechter leben konnte als zuvor. Ich vermisse in Ihrer Kritik an der Autonomieästhetik – zumal, wo sie als kulturelles Selbsterhaltungskonzept von Menschen, die unter politischen und gesellschaftlichen Repressionen zu leiden hatten, begegnet – den Respekt vor der künstlerischen Lebensleistung dieser Menschen. Und in einer sich klar zu erkennen gebenden Autonomieästhetik, die Sie als ‚idealistisch‘ – wie wenn es sie in der ‚Realität‘ nicht geben könne – kritisieren, liegt eine wesentliche Wurzel auch der Neuen Musik nach 1945; und deren ästhetische Realität ist nicht ‚idealistisch‘ im Sinne von ‚unrealistisch‘, sondern sie ist die Schaffung einer dezidiert ästhetischen Realität neben der übrigen, politisch korrumpierten Realität, wofür sie den hohen Preis der mehrheitlichen Nicht-Akzeptanz zu zahlen bereit war. Irmgard Jungmann: Offen gesagt, wird mir der Zusammenhang zwischen der Autonomie der Musik und der persönlichen „Autonomie“ und Selbstbestimmung des Künstlers umso unverständlicher, je mehr ich darüber nachdenke. Wenn denn Webern gegen die staatlich verordneten Kompositionsprinzipien musikalischerseits Widerstand gegen das NS-System bot, so fordert auch mir das große Hochachtung ab. Aber ist denn Widerstand des Künstlers gegen Bestehendes gleichzusetzen mit einer höheren Autonomie/Freiheit des
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Kunstwerks? Würden Sie Hanns Eislers Kompositionen vor 1945, die allesamt als Opposition gegen Faschismus und Kapitalismus und gegen die bestehende „Kunst der Kapitalistenklasse“ intendiert waren und zum Teil einen eigenen musikalischen Stil zeigten, zum Höhepunkt autonomer Kunst erklären? Ist Bachs Musik weniger autonom, da Bach sich doch den etablierten Institutionen von Kirche und Hof „andiente“? Ist Haydns und Mozarts Musik weniger autonom, wenn sie zum Wohlgefallen ihrer Fürsten komponierten? Wenn man mit solchen Maßstäben, bei denen der Widerstand gegenüber politisch erwünschten Kompositionsmaximen als ein Autonomienachweis der Musik gilt, die musikalischen Leistungen der DDR und des „Ostblocks“ bewertet, kommt man notgedrungen in die – wie ich finde – fatale Situation, dort nach dem Gebrauch oppositioneller Kompositionsweisen (wie der seriellen Ansätze oder verschiedener Verfremdungstechniken) zu „suchen“ und sie zum musikalischen Kriterium zu erheben. Ich weiß, Herr von Massow, dass ich damit in diametralem Gegensatz zu Ihrer Auffassung von der Bedeutung des autonomen Subjekts für das musikalische Werk stehe, wie Sie dies jüngst eindrücklich in Ihrem in dieser Reihe erschienenen Aufsatz über „Autonomie und Kontext“ 6 formuliert haben. Ich sehe in dem Ansatz allerdings die Gefahr, dass die politisch konformen Kompositionen, die das Gros der musikalischen Produktion in der DDR ausmachten, damit in die Ecke gestellt und für minder beachtenswert gehalten werden könnten. Albrecht v. Massow: Der westdeutschen Neuen Musik nach 1945 werfen Sie unter Anderem im Kapitel Musik für Eliten im Kapitalismus vor, dass sie durch das kapitalistische System gestützt und ihrerseits ‚systemstützend‘ gewesen sei. Doch hiergegen wende ich Folgendes ein: Die durch die Alliierten bzw. ihre oft hochgebildeten Kulturoffiziere – darunter auch einige jüdische Emigranten – gegründeten Rundfunkanstalten in Deutschland waren und sind als Förderer der Neuen Musik gerade nicht Institutionen eines kapitalistischen Marktes, sondern Institutionen öffentlichen Rechts und der öffentlichen Hand. Das sollte man streng trennen und nicht die jahrzehntelangen Versuche, die öffentliche Hand zu Gunsten privatwirtschaftlicher Profitinteressen auszuhöhlen, kategorial affirmieren. In der bundesdeutschen Verfassung kommt ein definitiver Bezug zu einem kapitalistischen Wirtschaftssystem nicht mit einem Wort vor. Im Gegenteil: Im Verfassungsentwurf der Widerstandsbewegung gegen Hitler – vor allem Goerdelers – für eine Nachkriegsgesellschaft, der durchaus in Teilen als eine von mehreren geistigen Referenzen
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Albrecht von Massow: Autonomie und Kontext. Ein Beitrag zur Theorie der Musikgeschichtsschreibung am Beispiel von Neuer Musik in der DDR, in: Nina Noeske und Matthias Tischer (Hg.): Musikwissenschaft und Kalter Krieg. Das Beispiel DDR, Köln 2010, S. 97–116; ebenso Albrecht von Massow: Musikalisches Subjekt. Idee und Erscheinung in der Moderne, Freiburg i. Br. 2001
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der späteren bundesdeutschen Verfassung genannt werden sollte, wurde vor einer zu weitgehenden Liberalisierung und Kapitalisierung der Wirtschaft gewarnt. Irmgard Jungmann: Wir können uns sicher darauf verständigen, dass, ohne zunächst die Verfassungstexte bemühen zu müssen, die BRD und die DDR zwei wirtschaftliche – und nicht nur 2 politische – Systeme verkörperten, Systeme von West und Ost, die ja erst zur Bildung zweier deutscher Staaten führten. Ich gebe Ihnen Recht, dass sich die Verfassungsväter darauf einigten, das Wirtschaftssystem nicht verfassungsmäßig festzuschreiben, sondern wirtschaftspolitisch neutral zu halten. Gleichwohl möchte ich mich auf Ausführungen der ehemaligen Bundesverfassungsrichterin Jutta Limbach beziehen, die 2009 in einem Interview erläuterte, dass aus dem Art. 2 des Grundgesetzes, „dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auch die Vertragsfreiheit, also die Privatautonomie, herausgelesen wird [...] es gibt auch noch andere Artikel, die sehr deutlich machen, dass wir auch im Bereich der Wirtschaft von einem freien Individuum ausgehen. Insofern ist vielleicht auch diese Aussage, dass das Grundgesetz wirtschaftspolitisch neutral sei, gar nicht so ganz richtig.“ 7 Und sie folgerte, dass das Grundgesetz im Spannungsverhältnis von wirtschaftlicher Freiheit und dem Prinzip des sozialen Ausgleichs die „soziale Marktwirtschaft“ zum Ausdruck bringe. Trotz auch meiner Wertschätzung des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems kann man doch feststellen, dass sich alle westlichen Sender insofern in das westlich-marktwirtschaftliche Bündnis einfügten, als ihre Berichterstattung und ihr Programm trotz möglicher Kritik im Detail pro-marktwirtschaftlich und gegen den Sozialismus ausgerichtet waren. Die in dieser Beziehung viel offenere und neutralere Programmgestaltung der allerersten Rundfunkjahre war spätestens 1949 abgeschlossen, wie uns das Beispiel des amerikanischen Senders Radio München lehrt, wo nach anfänglicher Offenheit mit Entlassungen ein scharfer Kurs gegen zu „linke“ Redakteure eingeschlagen wurde.8 Man stelle sich dagegen in abstracto eine neutrale, vom Wirtschaftssystem unabhängige Rundfunkkultur vor, in der alle politischen Strömungen gleichermaßen vertreten gewesen wären, also auch die sozialistisch-kommunistischen Richtungen. Ob dies anzustreben gewesen wäre, soll dahingestellt bleiben, die Vorstellung soll nur zum Verständnis beitragen, dass auch die öffentlich-rechtliche Unabhängigkeit der Rundfunkanstalten dem Auftrag verpflichtet und damit letztlich doch eingeengt war, die verfassungsmäßig fundierte Demokratie zu stützen – mit den genannten, auch marktwirtschaftlichen Freiheitskonsequenzen.
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Sendung des Bayerischen Rundfunks vom 2. 10. 2009, nachzulesen in www.br-online.de Nachzulesen bei Rüdiger Bolz: Rundfunk und Literatur unter amerikanischer Kontrolle. Das Programmangebot von Radio München 1945–49, Wiesbaden 1991
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Auf dieser Basis waren sich die westlichen Rundfunkanstalten mit ihrer Förderung der Neuen Musik offensichtlich einig, dass, wie ich es detailliert in der vorliegenden Arbeit ausführe, die musikalische Innovation als Bestätigung einer Freiheit des Individuums ein „Aushängeschild“ für die Offenheit des demokratischen Staates sein sollte. Albrecht v. Massow: Im Kapitel Freiheit und idealistische Werte behaupten Sie, daß bei den Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt wegen vermutlich antikommunistischer Tendenzen der Veranstalter Werke von politisch links stehenden Komponisten wie Eisler oder Weill fehlten. Tatsächlich jedoch kamen sie wegen ihrer konventionellen Stilistik für eine Veranstaltung, die sich als ‚Avantgarde‘ ansah, gar nicht in Frage; hingegen politisch links gerichtete Komponisten, die der ‚Avantgarde‘ zugerechnet wurden – wie Luigi Nono oder Cornelius Cardew – , wurden oft nach Darmstadt eingeladen. Aus den Ostblockländern wiederum waren Komponisten, die ihrerseits sich für die ‚Avantgarde‘ interessierten – etwa Sbynek Vostrak oder Friedrich Goldmann – und Glück mit Reiseanträgen hatten, ebenfalls in Darmstadt. Das Leitkriterium in Darmstadt war ‚Avantgarde‘, nicht jedoch politische Selektion. Im Gegenteil: Weil politische Kontrahenten, die gleichwohl einem Konzept von ‚Avantgarde‘ mehr oder weniger zugerechnet werden konnten, überhaupt nach Darmstadt eingeladen wurden, gab es dort unter Anderem so erbitterte Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Musik und Politik. Irmgard Jungmann: Ja, seit Beginn der 50er Jahre war nur noch die Avantgarde in Darmstadt gefragt, weil nur sie Innovation versprach. Aber wer „zurrte“ Darmstadt auf diese Bestimmung hin „fest“? Man bedenke, dass die Finanzierung der Darmstädter Ferienkurse in den ersten Jahren fast ausschließlich durch die amerikanische Militärregierung erfolgte, dass bereits 1950/51 der NWDR dort in mehreren Referaten (u.a. zu „Musik und Technik“) die Möglichkeiten der elektronischen Musik diskutieren ließ. In den ersten Jahren von „Darmstadt“ beabsichtigte der Leiter Wolfgang Steinecke, eine allgemeine Orientierung über die musikalische Weltlage zu ermöglichen, indem er unter den Nazis verbotene Musik vorstellte wie Bartok, Schoenberg, Strawinsky und Hindemith. Es waren durchaus auch Vertreter einer wohl als „gemäßigt“ zu bezeichnenden Moderne dabei. Wolfgang Fortner hielt von 1946–1951 sogar alljährliche Kompositionskurse in Darmstadt ab, in denen er die Analyse von Strawinsky und Hindemith in den Vordergrund stellte, in den Konzerten wurden Lieder von Pepping und Distler vorgetragen. Damit will ich nur sagen, dass es am Anfang von Darmstadt also durchaus offen war, welche Stilrichtung sich durchsetzen würde. Insofern meine ich, hätte auch Hanns Eisler als ein von den Nazis abgelehnter Komponist dort seinen Platz haben können. Ich stimme Ihnen zu, dass sich seit Ende der 50er Jahre die politische Offenheit „der Darmstädter“ gegenüber linkspolitisch-orientierten Avantgarde-Komponisten tatsächlich in erfreulicher Weise erweiterte.
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Albrecht v. Massow: Die Unterwanderung der westeuropäischen Szene der Bildenden Kunst durch den CIA mit dem Ziel einer Verknüpfung der ästhetischen Freiheitsidee mit der zunehmend liberalistischen Marktideologie des Westens, wie es von Frances M. Saunders in ihrem Buch Wer die Zeche zahlt beschrieben wird, welches als Orientierung vermutlich auch Ihnen zur Beurteilung des Zustande-Kommens der Szene der Neuen Musik gedient hat, zeigt meines Erachtens nur zweierlei: erstens, daß Geheimdienste kindischer Weise glauben, den Publikumsgeschmack im Sinne einer Verknüpfung von ästhetischer und politischer Einstellung manipulieren zu können – gegen solchen Unfug ist gerade die Autonomieästhetik, weil sie sich ungern politisieren lässt, ein gutes Heilmittel; zweitens, dass gerade der Glaube an eine durch Manipulation zu erreichende Verknüpfbarkeit von ästhetischer und politischer Einstellung in der Realität hinsichtlich der Neuen Musik vermutlich rasch zum Gegenteil des Erhofften geführt hätte: Weil nämlich die Selbstbekundungen der Komponisten, vor allem der Serialisten, hinsichtlich ihrer Kompositionsgrundlagen gerade nicht unter dem Aspekt der Freiheit, sondern unter dem Aspekt des Determinismus kritisiert wurden, und weil wiederum die Ebene des tatsächlich Klingenden unter dem Aspekt einer willkürlich oder gar chaotisch erscheinenden Freiheit vielfach ablehnend rezipiert wurde, hätte eine von Geheimdiensten erhoffte Verknüpfung von politischer und ästhetischer Einstellung das Publikum vermutlich in Scharen dem Sozialistischen Realismus in die Hände getrieben. Aber auch in der Bildenden Kunst wurde der abstrakte Expressionismus amerikanischer Provenienz, den der CIA der westlichen Kunstszene überzustülpen versuchte, keineswegs zur hauptsächlichen Referenz. Künstler des ‚Informel’ – wie Emil Schumacher – benannten dezidiert vor Allem die französische Moderne als Referenz. Grundsätzlich finde ich es seitens einer Wissenschaft anmaßend, der übrigen Bevölkerung aus Künstlern und ihrem Publikum vorzuhalten, sie seien von Geheimdiensten unterwandert worden – wie wenn sich dies vermeiden ließe. Kaum jemand in der Bevölkerung – auch die Wissenschaft selbst nicht – hat die Mittel, die Zeit und die Lust, sich mit den albernen Sandkastenspielen von Geheimdiensten abzugeben; und Diejenigen, die dies tun, sind opportunistische Kindsköpfe oder handeln unter einem Druck, dem sie nicht standhalten. Grundsätzlich sollte man keinerlei Respekt vor ‚Weltmächten‘ und ihren Geheimdiensten haben. Und wie können Sie und ich ermessen, ob wir nicht gerade in diesem Augenblick vom LIS (Lichtensteiner Intelligence Service, der Geheimdienst einer bis dato noch unbekannten Atom-U-Boot-Weltmacht) unterwandert werden? Wie stünden Sie zu einer Wissenschaft, die Ihnen dies im Jahre 2040 vorhält, obwohl Sie nichts davon wußten? – Scherz beiseite: Zum Wesen von Geheimdiensten gehört, dass ihr Wirken den Betroffenen verborgen bleiben soll. Soll man dies den Betroffenen anlasten? Und was sagten Sie dazu, wenn einer der Gekauften das Geld nähme und trotzdem eine Kunst machte, die den Zielen des Geheimdienstes nicht im Mindesten nützte?
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Irmgard Jungmann: In dem Punkte habe ich mich vielleicht unscharf ausgedrückt. Auch ich gehe nicht davon aus, dass sich unser Kulturleben in der BRD auf Unterwanderung durch den CIA gründet, wenngleich die Enthüllungen von Saunders punktuell schon zu denken geben können, aber so direkt macht sich politischer Einfluss nur selten bemerkbar. Einfluss hat ja gerade dann seine besondere Wirkung, wenn er in verdeckter Dosis (und nicht über den CIA) über Förderung und Finanzierung gegeben wird. Ich habe in meiner Arbeit eine ganze Reihe von solch absichtsvoller kultureller Förderung und/oder Propagierung durch die Amerikaner benannt, bei der jeweils die eigene Freiheit gegenüber dem unfreien sozialistischen System betont wurde. Gleichzeitig wollte ich durch Nennung von jüngsten Forschungsergebnissen aus anderen Bereichen von Kunst und Kultur, die zu ähnlichen Ergebnissen bezüglich des anglo-amerikanischen kulturellen Einflusses kommen, zeigen, dass meine diesbezügliche Einschätzung auch im musikalischen Sektor nicht auf tönernen Füßen steht, sondern auch in anderen Kulturbereichen bemerkt und ähnlich beurteilt wird. Wenn Sie meinen, dass gegen solcherlei „Unterwanderung“ gerade die Autonomieästhetik immun sei, dann halte ich die zentrale These meines Buches dagegen, dass sich die Autonomieästhetik gerade in ihrem Anspruch, politisch neutral zu sein, wunderbar zu indirektem politischem Gebrauch eignet, wie ich es für die von mir so genannte „Freiheitsideologie“ in der Musikästhetik der BRD darzustellen mich bemühe. Albrecht v. Massow: Völlig zurecht kritisieren Sie im Kapitel Musikalische Kontinuitäten – Weitermachen wie zuvor? die Musikpädagogik der Nachkriegszeit, dies jedoch unter den gleichen Aspekten wie die ‚autonome Musik‘, nämlich als ‚idealistisch‘, weil sie sich wie jene am Leitbild der ‚Höherwertigkeit‘ beteiligt habe, welches Ihrer Meinung sich der Missbrauchbarkeit durch die nationalsozialistische Ideologie der kulturellen Überlegenheit andiente. Letzterem stimme ich zu, obgleich ich hierdurch erneut eine wichtige Differenz überdeckt finde, wenn man der Pathetik des ‚hohen Tons‘ und seiner Verwendbarkeit für Repräsentationsakte umstandslos pauschal beide Musikrichtungen zuschlägt. Denn von beiden Musikrichtungen des 18. und 19. Jahrhunderts wie auch früherer Jahrhunderte ließ sich nur vor Allem Dasjenige verwenden, welches gesellschaftlicher Selbstrepräsentation eine dienliche Syntax zu sein schien: Mitsingbarkeit für Gruppen bzw. chorisch gehaltene Instrumentalpartien, Homophonie, hymnischer Ton etc. Individuelle oder komplexe musikalische Syntax hingegen war und ist hier nicht dienlich. Man kann sie zwar in Worten mit vereinnahmen; aber ästhetisch versperrt sie sich repräsentativen Akten. Ludwig van Beethovens 5. Symphonie wie auch deren spätere symphonische Surrogate – auch als Background in vieler Popmusik – werden Sie als Musik gesellschaftlicher Selbstrepräsentation vielfach finden, und zwar bis heute – ob bei Staatsakten, bei Fußballweltmeisterschaften oder Verbrauchermessen – , hingegen seine Große Fuge für Streichquartett op. 133 schwerlich, und ebensowenig ein ironisch gehaltenes Bänkellied
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von Frank Wedekind oder Bertold Brecht. Die Musikpädagogik der Nachkriegszeit in beiden deutschen Staaten versuchte weiterhin am ‚hohen Ton‘ zu partizipieren, ohne aber dessen komplexerer Kehrseite auch nur annähernd gewachsen zu sein. Irmgard Jungmann: Ich bin da ganz Ihrer Meinung. Gerade mit dem Vermengen ihres ästhetischen Anspruches von Lieder-Singen und „hoher Kunst“ schuf sich die Musikpädagogik der Nachkriegszeit eine unlösbare Aufgabe, der sie de facto nie gerecht werden konnte. Albrecht v. Massow: Im Kapitel BRD: Das Recht auf Individualität stellen Sie einen Bezug her zwischen den Eliten der BRD und dem ‚elitären‘ Charakter Neuer Musik. Doch dies verkennt wesentliche Unterschiede. So kam beispielsweise Stockhausen aus einfachen, kleinbürgerlichen Verhältnissen, die überdies mit den letzten Kriegsmonaten äußerst prekär wurden, zumal beide Eltern nicht mehr lebten; die Mutter wurde im Rahmen des ‚Euthanasie-Programms‘ der Nationalsozialisten umgebracht, der Vater fiel im Krieg. Sich selbst als ‚auserwählt‘ anzusehen, ist im Falle Karlheinz Stockhausens keineswegs dasselbe, wie eine Herkunft aus gesellschaftlichen Schichten, die sich selbstverständlich als ‚Eliten‘ ansahen und ansehen. An Stockhausen war vielmehr eine Aufsteiger-Agressivität zu bemerken, wie sie auch für Beethoven oder Arnold Schönberg kennzeichnend war, und die man als Grund für den unerbittlichen Impetus vieler vordergründig so rational komponiert wirkender Werke des jungen Stockhausen ausmachen könnte. Die bundesdeutschen Eliten standen und stehen dieser Neuen Musik vielfach sehr reserviert gegenüber. Und in Konzerten mit Neuer Musik werden Sie auch im Publikum auf viele Menschen unterschiedlicher Herkunft treffen, darunter aber kaum auf die sogenannten ‚Eliten‘. Deren Musikgeschmack scheint überwiegend Klassik oder aber Pop, Jazz und Rock zu sein, auch wenn sie sich mit dem Publikum der letztgenannten Musikrichtungen selten gemein machen. Überhaupt finde ich, daß Pop, Rock und Jazz bei Ihnen viel zu gut wegkommen, obwohl vor Allem Pop und Rock sich voll und ganz auf den kapitalistischen Musikmarkt verlassen können, weil dieser bloß die Koinzidenz zwischen Syntax und Mehrheitsgeschmack auszunutzen braucht – eine durchaus ‚systemstützende‘ Koinzidenz – , während Neue Musik die Macht des Marktes keineswegs hinter sich weiß und daher immer in ihrer Existenz bedroht ist. Die Menschen, die Neue Musik lieben und hören wollen, als ‚elitär‘ zu charakterisieren, verkennt, dass hier tieferliegende Bedürfnisse vorhanden sind, die sich nicht mit den Kriterien einer pauschalen, am Mehrheitsgeschmack orientierten Warenästhetik beiseite schieben lassen. Überdies fiele man damit auch denjenigen Strömungen innerhalb des Pop, Rock und Jazz in den Rücken, die ihrerseits eine experimentellere und komplexere Syntax anstreben, wenn man sie deswegen nun ebenfalls als ‚elitär‘ charakterisierte und dabei die oft erbarmungswürdige soziale Herkunft ihrer Protagonisten übersähe, die in Wahrheit nicht selten die Ursache dafür ist, daß künstlerische Menschen
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auf ihrem Vermögen zu ästhetischer Autonomie beharren, weil sie ihrer Reflexion der übrigen Gesellschaft eine ästhetische Form geben wollen, die sie selbst bestimmen. Irmgard Jungmann: Ja, der Elite-Begriff ist ein durchaus mehrdeutiger und wurde in der Soziologie gerade angesichts des zu bemerkenden Wandels sozialer Schichtungen seit 1945 in den 80er und 90er Jahren vielfach beforscht. Ich beziehe mich in meiner Verwendung des Begriffs auf die Ergebnisse der großen, durch Repräsentativumfragen gewonnenen Studien der zwei letzten Jahrzehnte, wonach der Elite-Begriff keinesfalls wertend, sondern beschreibend gefasst wird. Danach definiert sich Elite zunächst einmal „als eine durch besondere Merkmale ausgezeichnete und aus der ‚Masse’ der Bevölkerung herausgehobene Schicht“.9 Ihr hervorstechendstes Merkmal ist das formale Bildungsniveau (77% haben ein abgeschlossenes Hochschulstudium). Eliten rekrutieren sich überproportional aus beruflich und sozial privilegierten Bevölkerungsschichten, aber nicht in einem solchen Maße, dass von einer homogenen Herkunft gesprochen werden könnte, da hier schichtendurchgängige Strukturen vorhanden wären. Eliten sind in der BRD keine abgehobene „Kaste“, wenngleich Tendenzen bestehen würden, sich jeweils als „Machtelite“ gegenüber der übrigen Gesellschaft zu verselbständigen.10 In diesem allgemeinen Sinne nur gebrauche ich den Begriff. Innerhalb des breiten gesellschaftlichen Milieus von (formal) Gebildeten, die nach übereinstimmenden Studien auch die ernste, die klassische Musik hochschätzen, gibt es die im Verhältnis dazu kleine Gruppe, eben die so angesprochene Musik-Elite, die sich für die Musik der Avantgarde interessiert. Eine gemeinsame soziale Herkunft spielt für diese Elite nicht die ausschlaggebende Rolle, wie Sie dies auch für Stockhausen berichten, auch nicht ihr ökonomischer Status, sondern ihr „Bildungs-Status“, wie er sich u.a. auch in dem hohen Abstraktionsund Verbalisationsniveau der Reden und Schriften vieler Komponisten manifestiert. Und auch das Publikum – so behaupte ich aufgrund meiner eigenen Beobachtungen der Besucher und Besucherinnen von Donaueschingen und ähnlicher Festivals Neuer Musik – rekrutiert sich vorrangig aus Personen, die auf Basis von Abitur und oftmals Studium bereit sind, sich angesichts einer offenen Intellektualität mit der oberflächlich gesehen sperrigen Materie Neue Musik zu befassen. In diesem beschreibend und nicht negativ konnotierten Sinne, Herr von Massow, gehören mit Verlaub wir beide wohl auch zur relativ kleinen soziologischen Gruppe der musikalischen Elite, die der Avantgarde zugetan ist, sich mit ihr beschäftigt und auseinandersetzt. Und selbstverständlich würde ich den Komponisten niemals mit der Begründung ihrer Elite-Situation ihr Recht auf ihre eigene ästhetische Form bestreiten wollen. 9 Bernhard Schäfers: Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland, 8. völlig neu bearbeitete Auflage Stuttgart 2004, S. 258 10 Ebd., S. 260–261
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Ich habe also versucht, den Ist-Zustand der Neuen Musik in soziologischen Kategorien zu beschreiben, mein Augenmerk richtet sich hingegen in der Hauptsache auf die ästhetische Ausrichtung der Avantgarde, die zum Teil ihre selbst so wahrgenommene Elite-Situation zum Beweis ihrer ästhetischen Freiheit aufwertet. Ihr Eindruck, dass Pop- und Rockmusik trotz ihrer direkten Verzahnung mit dem kapitalistischen Musikmarkt in meiner Arbeit „zu gut wegkommen“, ergibt sich möglicherweise daraus, dass ich davon überzeugt bin, dass sich ein großer Erkenntnisgewinn daraus ziehen lassen würde, wenn wir das gesamte Spektrum von Musik, also auch die Popmusik, als Kulturphänomen betrachten und quasi gleichberechtigt zur sogenannten Ernsten Musik in die Forschung einbeziehen würden, ein Ansatz, der ja durchaus beobachtbar im Gange ist. Da Sie mir gestattet haben, mit der letzten Antwort auf Ihre kritischen Beiträge auch „das letzte Wort“ zu haben, möchte ich mich bei Ihnen sehr herzlich für diesen von Ihrer Seite her so offenen Dialog bedanken, der vielleicht auch für unsere Leserinnen und Leser einen Beitrag zur vertiefenden Diskussion leisten kann.
Einleitung
Vieles ist seit der politischen Wende in Deutschland zur musikalischen Entwicklung in der DDR geschrieben worden, sei es aus der Position von Komponisten und Musikwissenschaftlern der ehemaligen DDR, die ihre Sicht der Dinge nun aus dem Abstand zu ihrem „abgewickelten“ Staat reflektierten, sei es mit dem Blick westdeutscher Wissenschaftler, die aus Wissensbegier, teilweise auch mit einem gehörigen Schuss Urteil und Vorurteil gegenüber dem Staat jenseits der Mauer, die inzwischen der Vergangenheit angehörenden Fakten zu neuen Bildern zusammenzutragen sich bemühten. Die vorliegende Arbeit, das mag hier eingestanden werden, ist nolens volens der letzteren Kategorie zuzurechnen. Es kann somit nicht behauptet werden, dass in den hier vorgelegten Überlegungen und Ableitungen nicht ebenfalls Vorbehalte gegenüber dem System der DDR in die Ausführungen eingeflossen sind. Für jemanden, der wie ich in West-Berlin groß geworden ist und die Auswirkungen des Kalten Krieges in der Realität der geteilten Stadt direkt vor Augen hatte, war und ist es wohl bis heute kaum möglich, die damit im Zusammenhang stehenden emotional berührenden Erlebnisse der politischen Auseinandersetzung und ihrer konkreten Folgen für die Bürgerinnen und Bürger der Stadt wegzuwischen. Gleichwohl geht es hier um einen anderen, bislang kaum artikulierten Ansatz: Im Vergleich der beiden politischen Systeme Ost und West wird versucht, so objektiv wie möglich die Bedingungen für die getrennte Entwicklung von Musikanschauung in den zwei deutschen Staaten zu erarbeiten. Es soll analysiert werden, wie innerhalb eines Landes mit den selben Ausgangsbedingungen zwei völlig verschiedene Denkweisen über Musik entstehen konnten, ein Zugang, der sich lohnt, da er das Gebäude allgemein anerkannter musikalischer Überzeugungen und angeblicher Sicherheiten zu relativieren hilft. Die Untersuchung steht im Kontext meines musiksoziologischen Themenschwerpunktes des Zusammenhangs der Entwicklung von Musikanschauungen mit derjenigen gesellschaftlich-ökonomischer Bedingungen. Die zwei unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Systeme von BRD und DDR bilden für diesen Ansatz eine Untersuchungsvorlage, wie sie besser nicht hätte theoretisch ersonnen werden können. Somit ist es eine Besonderheit dieser Arbeit, das musikologische Interesse nicht nur auf die DDR allein zu beschränken. Gerade durch den Vergleich lässt sich ein erkenntnisreicher Gewinn auch für die Entwicklungen in der BRD ziehen.
1. 1945 – Auf den Trümmern der gemeinsamen Geschichte
„Der wirklich Unmusikalische lebt kein volles, inneres Leben“, schrieb im Jahre 1903 aus vollster Überzeugung der Musikwissenschaftler Hermann Kretzschmar. „Musikalisch begabte und gut erzogene Naturen gelangen zu einem natürlichen Adel der Seele...“.11 Damit gab Kretzschmar einer weit verbreiteten öffentlichen Meinung Ausdruck, die sich noch heute in gedanklicher Umkehrung in dem bekannten Lied wiederfindet: Wo man singt, da lass Dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder. Musik führe zum natürlichen Adel der Seele, das war eine vereinfachte, inhaltlich geraffte Formulierung für ein komplexes Gedankengebäude, das das gebildete Bürgertum im Laufe des 19. Jahrhunderts über die Wirkung von Musik entwickelt hatte. Während noch im 18. Jahrhundert die Musikpflege an den Fürstenhöfen ohne einen ideellen Anspruch, dafür um so mehr zu Genuss und Zeitvertreib betrieben worden war – man speiste zur Musik, unterhielt sich und lief umher –, während insgesamt die Kunstpflege am Hofe der fürstlichen Machtentfaltung und Repräsentation diente, war mit der wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Erstarkung des Bürgertums die Musikausübung in zunehmendem Maße dem Adel „aus der Hand“ genommen und in den eigenen Lebenszusammenhang gestellt worden. Das gebildete Bürgertum okkupierte die vormals von Hof und Kirche dominierte Kulturhoheit und setzte mit eigenen Konzert- und Opernhäusern, mit eigenen Orchestern und bürgerlichem Chorwesen, mit Instrumentalunterricht und Hausmusik ein eigenes musikalisches Leben in Gang, das zunächst nur in relativ kleinen Kreisen des gebildeten Bürgertums der Städte präsent war, sich aber im Verlauf des 19. Jahrhunderts mit der Vergrößerung einer immer besser qualifizierten Gesellschaftsschicht zu einem breiten Kultursektor in den rasant sich ausdehnenden Städten entwickelte. Im Prozeß dieser „Verbürgerlichung“ der Musik ist eine Entwicklung des Denkens über Musik, musikästhetischer Positionen zu beobachten, die im sich gegenseitig bedingenden Kontext einer gesellschaftlich zunehmenden Bedeutung des Bürgertums, der aktiven und passiven Teilhabe am Musikleben sowie der langsam beginnenden Entwicklung eines musikalischen Marktes stand.12
11 Hermann Kretzschmar: Musikalische Zeitfragen, Leipzig 1903, S. 19f. 12 Eine detaillierte Darstellung der hier notgedrungen stark gerafften Darstellung der Entwicklung bildungsbürgerlicher Musikanschauung ist nachzulesen in Irmgard Jungmann: Sozialgeschichte der klassischen Musik. Bildungsbürgerliche Musikanschauung im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2008
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1945 – Auf den Trümmern der gemeinsamen Geschichte
Es waren mehrere wirtschaftliche, soziale und geistige Strömungen des 19. Jahrhunderts, die direkt und indirekt einen Einfluss auf die Musikanschauung ausübten und mit ihr verschmolzen: a) die zunehmende Wertschätzung von „Bildung“, b) das Fortschrittsdenken, c) die philosophische Strömung des Idealismus, d) die national-nationalistische Orientierung und e) die mittelständische Singbewegung. Selbst die musikbezogenen Aktivitäten der Arbeiterbewegung, der Sozialdemokraten wie der Kommunisten der Weimarer Zeit fußten zum großen Teil auf „bürgerlichen“ Leitbildern. In konzentrierter Zusammenfassung der genannten Strömungen konstituierte sich endlich die nationalsozialistische Musikanschauung und Musikpolitik, die, da vom gebildeten Bürgertum ausgehend, auch weitgehend von ihr mitgetragen wurde. Sie bildete 1945 den Grundstock zum Start in die deutsche Nachkriegsgeschichte.
1.1 Die Wertschätzung von „Bildung“ Nicht zu Unrecht ist der Begriff „Bildungsbürger“ eng an das 19. und beginnende 20. Jahrhundert gebunden, war doch das wirtschaftlich und allmählich auch politisch erstarkende Bürgertum der Städte gleichzeitig eine Gesellschaftsschicht, deren berufliche und damit gesellschaftliche Position in direktem Zusammenhang mit ihrer schulischen und beruflichen Ausbildung stand. Während zuvor die Vererbung des Berufes vom Vater auf den Sohn und damit auch die Beibehaltung der sozialen Stellung weitgehend üblich gewesen war und selbst im 19. Jahrhundert für breite Gesellschaftsschichten weiterhin die dominierende Generationenfolge blieb, eröffnete sich für zunehmend größere Bevölkerungskreise die Möglichkeit, eine im Vergleich zu den Eltern je höhere Schul- und Berufsausbildung zu absolvieren und damit die Chance zu bekommen, in eine wirtschaftlich und gesellschaftlich höherstehende Position zu gelangen. Diese Entwicklung hatte ihren Anfang genommen mit dem Bestreben aufgeklärter Herrscher, ganz besonders Friedrichs II. von Preußen (1740–1786), mithilfe eines kompetenten Beamtenstaates sein Land und seine Untertanen regierbar und kontrollierbar zu machen. Nicht mehr die Abstammung allein war jetzt ausschlaggebend für die berufliche Karriere, sondern universitäre Abschlüsse galten von nun an als Ausweis und Maßstab von Bildung, ein formaler Nachweis, der über die Zugehörigkeit zur „Bildungsschicht“ entschied. Akademiker lebten weitgehend in der Stadt, dort formierten sie sich mit ihren Familienangehörigen zu einer bildungsbürgerlichen Gesellschaftsschicht, die sich mit ihrem „In-group“-Verhalten von anderen Bevölkerungsgruppen absetzte. Ihre gleichartige Ausbildung schuf gemeinsame Mentalitäten und gemeinsames soziales Verhalten, es bildete sich ein Fundus ähnlicher oder gleichartiger sittlicher Gefühle und Verpflichtungen heraus. Da die Akademikerschicht all jene Berufspositionen besetzte, die ihre Meinungen, Lebens- und Ordnungsentwürfe an die Öffentlichkeit und besonders an die junge,
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folgende Generation weitervermittelte – Professoren, Lehrer, Geistliche, Schriftsteller, Künstler und Journalisten –, wurde sie zum bedeutendsten Träger der öffentlichen Kultur. Diese Gesellschaftsschicht brachte Kunst hervor, verbreitete sie und setzte sie durch. Sie also war wichtigster Kristallisationspunkt von Kunst und Kunstanschauung. Es gehörte zu einem Charakteristikum der Bildungsbürger, dass sie sich und ihr Lebensumfeld mit Kunst und eben auch mit Musik umgaben. Dabei lässt sich beobachten, dass in der ersten Entwicklungsphase des Bildungsbürgertums, also etwa in der Zeit von 1750–1820, die gebildeten Stadtbewohner zunächst einmal damit beschäftigt waren, Musik für sich zu entdecken und zu erobern und sich der Grundbegriffe der Kunst vor allem im eigenen Tun zu versichern. Man gründete bürgerliche Singvereine und Orchester, die Städte begannen, ihre öffentlichen Konzert-, Opern- und Theatergebäude zu errichten, es gehörte zum guten Ton, ein Instrument zu erlernen oder Gesangsunterricht zu nehmen, das Treffen im bürgerlich-häuslichen Kreis, im Salon, wurde zum Bestandteil gesellschaftlichen Verkehrs. Musikalisch aktive Bürger (wie z. B. Johann Adam Hiller (1728–1804) und Johann Nikolaus Forkel (1749–1818)) entwickelten ihre Theorien von der Musik als einer Bildungsangelegenheit. Die Gebildeten versahen jetzt die Musik, die sie als ein bedeutendes Acessoire ihres Standes betrachteten, mit eben der Zuschreibung „Bildung“, die sie, die Bildungsbürger, als Gesellschaftsschicht definierte. Es galt nun nicht mehr für opportun, Musik zum Ergötzen, zum Zeitvertreib oder gar als „Sinnenreiz“ zu genießen, nein: Musik sollte mit der ratio verstanden werden. Nur wer die musikalischen Zusammenhänge analysieren und begreifen könne, sei der rechte, eben der gebildete Hörer, nicht derjenige, der gedankenverloren im Sessel sitzend sich einem unbestimmten Gefühlserleben hingebe. Bereits Friedrich Schiller kritisierte den verbreiteten Geschmack seiner Zeit und den Hörer, „... der nur angenehm gekitzelt, nicht ergriffen, nicht kräftig gerührt, nicht erhoben seyn will. Alles schmelzende wird daher vorgezogen, und wenn noch so ein großer Lerm in einem Concertsaal ist, so wird plötzlich alles Ohr, wenn eine schmelzende Passage vorgetragen wird. Ein bis ins thierische gehender Ausdruck der Sinnlichkeit erscheint dann gewöhnlich auf allen Gesichtern, die trunkenen Augen schwimmen, der offene Mund ist ganz Begierde, ein wollüstiges Zittern ergreift den ganzen Körper, der Athem ist schnell und schwach, kurz alle Symptome der Berauschung stellen sich ein: zum deutlichen Beweise, daß die Sinne schwelgen, der Geist aber oder das Prinzip der Freyheit im Menschen der Gewalt des sinnlichen Eindrucks zum Raube wird. Alle diese Rührungen sage ich, sind durch einen edeln Geschmack von der Kunst ausgeschlossen, weil sie bloß allein dem Sinne gefallen, mit dem die Kunst nichts zu verkehren hat.“13
13 Zit. nach Peter Gradenwitz: Literatur und Musik in geselligem Kreise. Geschmacksbildung, Gesprächsstoff und musikalische Unterhaltung in der bürgerlichen Salongesellschaft, Stuttgart 1991, S. 242
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In der Polarisierung von Sinnlichkeit und Verstand, von Leidenschaft und Reflektion, von Körper und Geist schrieb Schiller dem Verstand und Geist die Fähigkeit zu, den Menschen über sich selbst hinaus zu heben und gerade mit Hilfe der Kunst, mit Hilfe des „Schönen“, in höhere, vollkommenere Gefilde des Menschseins vorzustoßen. Rein gefühlsmäßiges Hören wurde hingegen als zu Körper-verbundenes, fast tierisches Empfinden verachtet. Besonders von Musikkritikern, die die zahlreichen Konzert- und Opernaufführungen in den aufkommenden Musikzeitschriften zu kommentieren und zu bewerten hatten, wurde das verstandesmäßige Hören gefordert, denn gerade sie bedurften ja der Urteilskriterien. Was war eine gute, was war eine schlechte Komposition, welche wurde gut, welche schlecht aufgeführt? Als Rechtfertigung ihres Schreibens erklärten sie, nur wer ein Werk analysierend, musikalisch erkennend erfassen könne, dürfe sich aufgrund seiner musikalischen Kompetenz ein gültiges Urteil erlauben. Die Urteilsfähigkeit war um so mehr gefragt, je größer das Angebot neuer Kompositionen auf dem Musikmarkt wurde. Denn an der Wende zum 19. Jahrhundert begann ein wahrer „Kompositions-Boom“, es entstand eine Fülle von kleinen Stücken (Polonaisen, Capricen, Rondos, Fantasien, Romanzen usw.) und Liedern zum hausmusikalischen Gebrauch ebenso wie von Werken für die beginnende Chorbewegung und die sich vermehrenden Orchester. Aus der Vielzahl des Angebots die Spreu vom Weizen zu trennen, wurde für die Kritiker zur kaum zu bewältigenden Aufgabe. In diesem Zusammenhang ist besonders erwähnenswert, dass sich auch Robert Schumann einige Jahrzehnte später mit seiner „Neuen Zeitschrift für Musik“ (ab 1834) zum Sprachrohr eines gebildeten Kritikerwesens machte, der zu wiederholten Malen in seinem Publikationsorgan mit der rationalen Fundierung seiner Kritiken argumentierte und mit Vehemenz die seiner Ansicht nach anspruchsvolle Musik gegenüber den nun in zunehmendem Maße negativ beurteilten leichten Salonstücken verteidigte.
1.2 Der Markt als Motor des Fortschrittsdenkens Schumann war gemeinsam mit seinen Kritikerkollegen daran beteiligt, ein öffentliches Denken zu prägen, das das Neue, das bisher nicht Dagewesene zu einem entscheidenden Maßstab für musikalische Qualität erhob. So wie ein Rezensent 1826 in der Allgemeinen musikalischen Zeitung klagte: „Das unermüdliche Musiciren in unseren Tagen wird bald bewirken, dass jeder Ort, der kaum eine Hebamme und Apotheke hat, seine ihm eigenen Componisten und seine ihm eigene Verlagshandlung von Musikalien haben wird...“14, so ist es verständlich, dass zunehmend von Kritikern verlangt wurde, dass angesichts der Fülle gleichartiger und ähnlicher Stücke nur das als herausragend zu bezeichnen wäre, 14 Allgemeine musikalische Zeitung 1826, Sp. 863
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was etwas Neues, Originelles zu bieten habe. Bedingt durch den aufblühenden musikalischen Markt für Kompositionen, Noten, Instrumente, Aufführungen und Zeitschriften entwickelten die Kritiker das Qualitätskriterium des musikalischen Fortschritts. Die Forderung nach Innovation bezog sich einesteils auf die musikalisch-kompositorische Struktur, auf den Umgang mit Harmonie, Melodie und motivischer Arbeit, auf die Art der Instrumentierung usw., andernteils aber auch auf die Art der Darbietung. Schumann tat sich besonders darin hervor, entsprechende Qualitätsunterschiede neuer Kompositionen herauszuarbeiten und in seiner Zeitschrift regelmäßig zu publizieren. Immer wieder bemängelte er das Übermaß auf den Markt geworfener neuer Kompositionen, spottete über die „Talentlosen“, die „Dutzendtalente“ und die „talentvollen Vielschreiber“ und zog gegen die damit verbundene „schreckhaft überhandnehmende Mittelmäßigkeit zu Felde.15 Was Schumann als „Nichtoriginalität“ verachtete, das wurde auch für Richard Wagner zum Inbegriff der Mittelmäßigkeit, die „uns nicht etwas unbekannt Neues, das Bekannte aber in gefälliger und schmeichelnder Form bringt.“16 Ein Komponist sollte sich durch Originalität, durch Neues und Einfallsreiches auszeichnen, das schon einmal Dagewesene brauchte nicht wiederholt zu werden. Wagner hatte als Komponist längst verinnerlicht und zum Qualitätsnachweis erhoben, dass er für ein Publikum und ein Kritikerwesen zu komponieren hatte, das ständig ein gewisses Maß an Innovation einforderte. Gleichzeitig entwickelte sich im öffentlichen Konzertwesen eine Fortschrittsdynamik in der technisch-musikalischen Beherrschung der Instrumente, die angesichts der musikalischen Konkurrenz eine jeweils größere Perfektion erzwang und das Berufsbild des Virtuosen hervorbrachte. Was anfänglich mit der Zurschaustellung von „Wunderkindern“ begann (z. B. bei Mozart, Beethoven, Hummel, Clara Schumann, Liszt, den Brüdern Wieniawski), gipfelte in den Spitzen der Spirale eines sich hochschraubenden Virtuosentums mit hohen spieltechnischen Anforderungen. Da viele der berühmten Virtuosen wie Carl Czerny, Niccolò Paganini, Frédéric Chopin, Franz Liszt gleichzeitig auch Komponisten waren, richteten sie ihre Kompositionen wiederum darauf aus, technisch schwierige Passagen in ihre Werke zu integrieren, um mit ihrem instrumentalen Können glänzen zu können. Wer sich an diesem Spiel fortschrittlicher Entwicklung nicht beteiligen konnte oder wollte, hatte auf Dauer gesehen keine Chance, sich im Musikbetrieb zu halten. Beispielhaft sind in diesem Zusammenhang der Geiger Pierre Rode (1774–1830) oder auch sein Kollege am Piano Johann Nepomuk Hummel (1778–1837) zu nennen, die beide in ihrer ersten Lebensspanne große internationale Erfolge auf dem Parkett zu verzeichnen hatten, in den 20/30er Jahren dann von Kritikern nur noch mit Mitleid und/
15 Neue Zeitschrift für Musik 1835, S. 4 16 Zit. nach Carl Dahlhaus: Studien zur Trivialmusik des 19. Jahrhunderts, Regensburg 1967, S. 22
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oder Häme bedacht wurden, was bei Rode sogar dazu führte, dass er gänzlich auf weitere Auftritte verzichtete. Hinzu kam, dass auch der Instrumentenbau darum bemüht war, zwecks größeren Absatzes neue Spiel- und Klangmöglichkeiten der Instrumente zu entwickeln. Der Sprung vom Cembalo zum Klavier bedeutete dabei einen enormen musikalischen Entwicklungsschub, bald folgte die Perfektion der verschiedenen Blasinstrumente, vor allem des Blechs. Die Möglichkeit zur Steigerung des Orchesterklangs in qualitativer und quantitativer Hinsicht hatte ihrerseits Auswirkungen auf die Kompositionsentwicklung. Sie regte die Komponisten an, die erzeugbare Dynamik, Lautstärke und die Vielfalt der einsetzbaren Klangtimbres ausdrucksstark zu nutzen. Daher konnten Bruckner, Wagner oder Mahler ein unvergleichlich größeres Spektrum instrumentaltechnisch bedingter Klangvariationen für sich rekurrieren, eine Möglichkeit, die sich Bach oder Mozart seinerzeit nicht hätten vorstellen können. Die neuen instrumentalen Entwicklungen führten zur bedeutenden Zunahme der Orchestergrößen, dies wiederum zum Entstehen von Konzertagenturen und zum Bau neuer, größerer Konzertsäle, dies wiederum zu größeren Publikumszahlen usw. usf. Insgesamt also spielte sich im Musikleben ein der „industriellen Revolution“ des 19. Jahrhunderts vergleichbarer Prozess kapitalistischer Wirtschaftsform ab. Ein umfassender musikalischer Markt war entstanden, der die Notwendigkeit, je Neues zu produzieren, in sich trug. Der Innovationszwang spiegelte sich gleichzeitig in der musikalischen Ästhetik wider, die das je Neue als Fortschritt deklarierte und zu einem wichtigen Qualitätskriterium der Komposition erklärte.
1.3 Die philosophische Schule des Idealismus Je stärker das gebildete Bürgertum die Musik als notwendiges „Acessoire“ ihres Standes begriff, desto mehr sah sich eine zahlenmäßig kleine, aber die öffentliche Meinung stark prägende Gruppe von gebildeten Philosophen und Literaten veranlasst, „ihrer“ Musik einen der Bildungsschicht zukommenden Stellenwert mit philosophisch-rationaler Begründung zu liefern. Am Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Kunst und Musik, die gerade erst in den „Besitz“ der Gebildeten übergegangen waren, bezeichnenderweise zum Thema philosophischer Überlegungen. Immanuel Kant, Friedrich Schiller, Friedrich Wilhelm Schelling, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Arthur Schopenhauer widmeten sich der Fragestellung, welche Funktion Kunst insgesamt und Musik im besonderen zur Überwindung des Dualismus von erdgebundener „Notwendigkeit“ des Menschen und seiner geistigen Vervollkommnung habe. Der Mensch sei einerseits in der irdischen Zeitlichkeit befangen, er sei von der Notwendigkeit des Lebenserhalts, von Naturtrieben und Leidenschaften bedrückt und an die Materie gekettet, andererseits aber sei es ihm ge-
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geben, sich „zu ewigen Ideen, zu einem Reiche des Gedankens und der Freiheit“ zu erheben. Diesen Widerspruch aufzulösen, sei eine Forderung des Verstandes und der Bildung. Der Mensch würde erst dann zum wahren Menschsein finden, wenn er (nach Hegel) die Auflösung der Spannung von Sinnlichkeit und Geist, von Naturgebundenheit und Idee zu leisten imstande sei. In diesem Prozess habe nun die Kunst die Möglichkeit, mit ihrem Anteil von Geist die notwendige Überbrückung zu leisten. Das Kunstwerk sei zwar selbst an die sinnliche Anschauung gebunden, doch sei es „als Sinnliches zugleich wesentlich für den Geist, [ ...] das Kunstwerk steht in der Mitte der unmittelbaren Sinnlichkeit und dem ideellen Gedanken [...] In dieser Weise ist das Sinnliche in der Kunst vergeistigt, da das Geistige in ihr als versinnlicht erscheint.“17 Bereits Schiller hatte in seinen Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1793/95) darüber nachgedacht, wie der „sinnliche Mensch“ „vernünftig“ gemacht werden könne, wie also der Übergang vom sinnenhaften Zustand des Menschen zu dem des „tätigen Denkens und Wollens“ zu leisten sei. Er folgerte, dass nur über den „ästhetischen Zustand“, den er sich als zweckfreies, spielerisches Durchgangsstadium, als „mittleren Zustand ästhetischer Freiheit“ dachte, der Mensch sich zu einem sittlich-moralischen Wesen entwickeln könne. „Mit einem Wort: es gibt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht [...] Es gehört also zu den wichtigsten Aufgaben der Kultur, den Menschen auch schon in seinem bloß physischen Leben der Form zu unterwerfen und ihn, soweit das Reich der Schönheit nur immer reichen kann, ästhetisch zu machen, weil nur aus dem ästhetischen, nicht aber aus dem physischen Zustand der moralische sich entwickeln kann.“18
Erst im Durchgang durch den ästhetischen Prozess gelange der Mensch zu voller Sittlichkeit. Damit überhöhte Schiller die ästhetische Erfahrung zur Bedingung individueller Freiheits-, Charakter- und Sittlichkeitsbildung. Dass Kunst und besonders auch Musik den Charakter des Menschen bilden, indem sie das Individuum am „sinnlichen Scheinen der Idee“ (Hegel) teilhaftig werden lassen können, wurde zu einer der Prämissen idealistischer Philosophie. Wie immer man auch die Abstraktion der „Idee“ fasste, – Schopenhauer bezeichnete sie auch als „Kern“, als „das innere Wesen“, als das „Ansich der Welt“ – , die Vorstellung, dass der Geist oder die Idee letzter Ausdruck der Wirklichkeit sei und die Kunst als Verkörperung eben dieses Geistes, also mit ihrem „Wesen“ zur Vervollkommnung, zur höheren Menschlichkeit, zur Freiheit führe, wurde zur weitgehend unhinterfragten bildungsbürgerlichen Übereinkunft des 19. und 20. Jahrhunderts. 17 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik, hg. von Friedrich Bassenge, Bd. 1, 3Berlin 1976, S. 45ff. 18 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Mit Ausführungen Rudolf Steiners über Wesen und Bedeutung von Schillers Ästhetischen Briefen und einem Nachwort von Heinz Zimmermann, 2Stuttgart 1989, S. 85ff.
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Die bedeutende Rolle der Kunst als Mittlerin zwischen „Notwendigkeit“ und „Freiheit“ war gleichzeitig an die Vorstellung gebunden, dass eine solche Kunst dazu selbst von allen äußeren Zwecken frei sein müsse. Nur die autonome, freie Kunst könne wahre Kunst sein, wie Friedrich Hegel es formulierte: „Was erstens die Würdigkeit der Kunst betrifft, wissenschaftlich betrachtet zu werden, so ist es allerdings der Fall, daß die Kunst als ein flüchtiges Spiel gebraucht werden kann, dem Vergnügen und der Unterhaltung zu dienen [...] In dieser Weise ist sie in der Tat nicht unabhängige, nicht freie, sondern dienende Kunst. Was wir aber betrachten wollen, ist die auch in ihrem Zwecke wie in ihren Mitteln freie Kunst [...] In dieser ihrer Freiheit nun ist die schöne Kunst erst wahrhafte Kunst.“19
An den ersten Komponisten-Biographien der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts lässt sich erkennen, dass der Begriff der Freiheit der Kunst, ihrer Autonomie, längst als gängige Vorstellung der Bedingung von Kunst verinnerlicht war. Bemühten doch die Autoren diese Idee, um sie mehr oder minder konkret auf das Werk ihres jeweiligen Komponisten zu übertragen. Die musikhistorische Entwicklung seit Haydn, Mozart und Beethoven erklärte man als eine aufsteigende Linie zu einem immer höheren Grad künstlerischer Freiheit. Das hieß einerseits zu immer größerer Zweckfreiheit und Autonomie der Musik selbst, andererseits zu immer größerer persönlicher Freiheit und Subjektivität der Komponisten. Die Weitläufigkeit des liberalen Freiheitsbegriffs als politisch-wirtschaftliche Unabhängigkeit korrespondierte im aufgeklärten Bürgertum mit der Vieldeutigkeit eines Freiheitsbegriffes der Kunst, die auf vielen Ebenen „frei“ sein sollte: Frei im Sinne von Zweckfreiheit der Kunst ebenso wie von individueller persönlicher Freiheit des Komponisten, frei aber besonders im Sinne ihres geistigen „Wesens“, da Kunst in ihrer Vermittlerrolle den Menschen zum Ideal von Geistigkeit führen solle, zum „Reich der Freiheit“.
1.4 Nationales und nationalistisches Denken Die idealisierende Überhöhung von Kunst war eingebettet in die große nationale Bewegung, die weite Bevölkerungsteile seit der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts erfasste. Was sich zunächst als Patriotismus, als Verantwortungsgefühl für das Gemeinwesen, aber auch schon als Bewusstsein „des Deutschen“ in Abgrenzung zum Ausland darstellte, erhielt mit der Besatzung Napoleons ebenso wie mit der Notwendigkeit, einer sich ausweitenden Wirtschaft die innerdeutschen Handelsbarrieren zu öffnen, eine neue Qualität und führte zur Forderung nach einem gemeinsamen, neu zu errichtenden deutschen Reich. Von hier 19 Hegel, Ästhetik (wie Anm. 17), Bd. I, S. 18f.
Nationales und nationalistisches Denken
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aus entwickelte sich im 19. Jahrhundert ein sich in der öffentlichen Meinung konstant verstärkendes nationalistisches Gedankengut, das – so lässt sich wohl ohne Übertreibung sagen – alle Lebensbereiche besonders des städtischen Bürgertums durchdrang. Das nationalistische Bewusstsein20 bezieht sich auf die Vorstellung von einer Gemeinschaft, die darauf basiert, die gleiche Sprache, Lebensweise, Tradition und Kultur zu haben, sie schafft ein Wir-Gefühl, bei dem sich jeder einzelne einer großen Nation zugehörig erleben kann. Ein solches Gemeinschaftsgefühl tendiert dahin, die Menschen in zwei Lager zu teilen, in diejenigen, die zur Gemeinschaft gehören, und diejenigen, die außerhalb stehen, eine Tendenz, die das Potenzial zum Feindbild in sich birgt. Zur Verstärkung des so begründeten Kollektivbewusstseins gehört die ‚Erfindung’ einer nationalen Vergangenheit, deren Verlauf so gedeutet wird, dass sich die Nationswerdung scheinbar folgerichtig als Prozess der historischen Entwicklung ergibt. Das im Historismus jener Zeit neu erwachte Interesse an der Geschichte speiste sich zum großen Teil aus dem Willen, die nationale Geschichte zu erforschen. Dabei wurden historische Ereignisse zu Stationen einer nationalen Entwicklung umgedeutet. Die Fakteninterpretation im nationalen Sinne, die auf das Germanentum als auf den Ursprung des „Deutschtums“ rekurrierte, die fürstlich-königliche Machtansprüche, territoriale Ausdehnungsbestrebungen sowie Machtkonzentration als nationale Stärke und Größe interpretierte, erfüllte eine ähnliche Funktion wie die Mythenbildung mithilfe germanischer Sagen und Heldenepen. In diesem Zusammenhang sind auch die Sammlungen von Märchen und Volksliedern zu sehen. Und nicht zuletzt gehörte zum nationalistischen Wir-Gefühl die Verheißung einer Zukunft, in der mit der Einheit der Nation die Erlösung von der Gegenwart in naher Zukunft realisierbar schien. Die Vergangenheit wurde als wegweisende Verheißung für die Zukunft gedeutet: Die Nation trage aufgrund ihrer historisch nachgewiesenen speziellen Fähigkeiten das Potenzial zu Höherem, zu Größerem, zu einem idealen Staat in sich. Dieser Verheißungsaspekt wird zu einem wesentlichen handlungsleitenden Motor, der dem einzelnen in der Gemeinschaft einen national begründeten Lebenssinn und umfassende Orientierung bieten kann. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts beeinflusste national-nationalistisches Denken das Musikleben und das Denken über Musik. Zunächst erhielt das gemeinsame Singen die Funktion, das nationale Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Chöre fanden sich in verschiedenen sozialen Schichten zusammen. Die musikalisch Gebildeten, d. h. solche, die zumindest Noten lesen konnten, vereinten sich in Singakademien, sangen großangelegte Werke und Oratorien und trafen sich (seit 1820 in deutlich zunehmender Häufigkeit) auf Musikfesten, wo Tausende Musikbegeisterte zusammenkamen, um – wie immer wieder 20 Die Beschreibung nationalistischen Bewusstseins folgt den Ausführungen von Hedda Gramley: Propheten des deutschen Nationalismus. Theologen, Historiker und Nationalökonomen (1848– 1880), Frankfurt/Main 2001, S. 28f.
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in zeitgenössischen Kommentaren zu lesen ist – die nationalen Größen der deutschen Musikkultur zu feiern und geistige Einigkeit zu demonstrieren. „So könnte das durch Zaun und Gehäge getrennte und getheilte Volk sich wenigstens in der Höhe der Kunst verweben, die auseinander gestrafften Aeste freundlich zu Laubkronen durcheinander wirken, und sich so zu einer geistigen Einheit bilden, die es gegen äußere Gefährdung vielleicht bald einmal nöthig haben könnte...“, konnte man 1836 in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ lesen.21 Unter den weniger gebildeten Bürgern erfüllte das Männerchorwesen in ähnlicher Weise die Funktion, das nationale Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln. Vermeinte man doch, im deutschen Lied die wahre Quelle deutschen Wesens erkannt zu haben, den nationalen Ursprung deutscher Musik (siehe die Liedersammlungen von Herder, Grimm, Achim von Arnim und Brentano). Auch wenn in den Männerchören vor allem neu komponierte Lieder gesungen wurden, so erhielt das deutsche Lied eine nationale Weihe, die noch weit bis ins 20. Jahrhundert hinein mit der Verehrung des deutschen Volksliedes weiter wirkte. Die Männer besangen Liebesfreud und Liebesleid, den deutschen Wald, die deutsche Linde und den Förstersmann ebenso wie deutsche Heldentaten und deutsche Helden bei der Schlacht am Teutoburger Wald. Überhaupt füllten sich die Liederbücher der Männergesangsvereine wie auch der singenden Turnvereine im Verlauf der Jahrzehnte zusehends mit Kampf- und Soldatenliedern: „Gott rüstet mich mit Kraft, wenn ich zum Kampfe schreite...“, „....Und wird’s wieder scharf geschossen, unverdrossen, festgeschlossen, wollen wir zusammenstehn“ oder „Frisch auf jetzt, Reserve, und Landwehr, frisch auf [...] So schwingen wir freudig den vollen Pokal, so schwingen wir schneidig, wird’s Not, unsern Stahl!“22 und viele ähnliche Texte mehr. Beim großen Nürnberger Sängerfest von 1861, einer Großveranstaltung mit 5.300 Sängern und ca. 14.000 Zuhörern, kamen fast ausschließlich national-militante Lieder zur Aufführung mit Titeln wie „An das Vaterland“, „Sturmesmythe“, „An die deutsche Tricolore“, „Du Schwert an meiner Linken“, „Der deutsche Landsturm“, „Gebet vor der Schlacht“, „Ermanne dich, Deutschland“, „Frisch auf zum Siege“ usw.23 Was hier an nationaler „Aufrüstung“ zunächst „nur“ in den Köpfen der Deutschen geschah, vollzog sich auf gleichsam höherem Niveau im Bereich der Oper. Richard Wagner war mit seinen Opernsujets, die sich um mittelalterliche Sagen und Heldenepen rankten, überzeugt von der tiefen, volksnahen Aussagekraft der Tristan-, Nibelungen- und Parzifal-Epen. Auf Basis der sich in den Epen manifestierenden und, da aus dem Volke entnommen, gültigen Wahrheiten komponierte er seine „Weihespiele“, um der Nation im 21 Neue Zeitschrift für Musik (1836), S.42 22 Ludwig Attinger und Georg Jäger: Deutsche Lieder aus dem Schwabenland, Stuttgart 1976 23 Zit. nach Friedhelm Brusniak und Walter Blankenburg: Chor und Chormusik, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, 2Kassel 1995, Sp. 801–802
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Rückblick auf die verherrlichte Vergangenheit den Weg zu ihrer höheren Bestimmung zu zeigen. Wagner stellte sich selbst in eine Reihe mit den musikalischen Größen der Nation, Bach, Händel, Mozart, Beethoven usw., man sprach jetzt von Deutschland als der Kulturnation, ja deutsche Kultur galt als nationales „Markenzeichen“. Ein zusätzliches Element kann aus heutiger Sicht tatsächlich als ein spezifisch deutsches Markenzeichen betrachtet werden: die Entwicklung rassistisch-völkischen Denkens. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreiteten sich zum Teil wissenschaftlich scheinende, zum Teil populär formulierte rassistische Publikationen,24 in denen man die Vorzüge deutsch-germanischen Wesens auf rassisch bedingte, also naturgegebene unabänderliche Faktoren zurückführte und damit die Überlegenheit einer als germanisch konstruierten Rasse zu belegen vermeinte. Dem deutschen Blut und deutschem Wesen wurde ein „deutscher Geist“ beigeordnet, der sich durch „Hochstreben“, Idealismus, „Hochsinn der deutschen Seele“, durch geistige Tiefe und Beständigkeit auszeichnete. Andere Länder und Ethnien hätten nichts Gleichwertiges vorzuweisen. Die Vorherrschaft der germanisch-nordischen Rasse implizierte das Feindbild gegenüber anderen nationalen Identitäten, kam aber im Inland ganz besonders wirksam gegenüber der „jüdischen Rasse“ zum Tragen. Zur Jahrhundertwende häuften sich die antisemitischen Publikationen auch im musikalischen und musikwissenschaftlichen Schrifttum. Jetzt wurden Komponisten und Künstler – zum Teil noch post mortem – als Juden attackiert wie MendelssohnBartholdy, Giacomo Meyerbeer, Gustav Mahler und Arnold Schönberg. Man fällte über sie das Urteil, dass sie rassisch bedingt nur zu oberflächlicher, die Deutschen imitierender Arbeit in der Lage wären und nicht das Genie besäßen, um Werke von speziell deutscher seelischer Tiefe und bleibendem Wert schaffen zu können.
1.5 Die Singbewegung und die Schulmusikreform Im Zuge der wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen in der Zeit des Kaiserreichs war eine neue, sich über schulische und berufliche Ausbildung qualifizierende Mittelschicht entstanden, die nicht in dem Rahmen bildungsbürgerlicher Traditionen und Umgangsweisen groß geworden war. In besonders starkem Maße war es die Berufsklasse der neu entstandenen Volksschullehrer, die sich in der sogenannten Jugendbewegung zusammen fanden (1907 gründete sich die überregionale Vereinigung „Der Wandervogel, deutscher Bund für Jugendwanderung“) und ein neues Kulturverständnis propagierten. Sie attackierten die Kultur der Bildungsbürger als „Elitekultur“ und nahmen, wie einer ihrer 24 Z.B. Deutsche Schriften von Paul Anton de Lagarde (1878/1881), Rembrandt als Erzieher – Von einem Deutschen von August Julius Langbehn (1890), Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts von Houston Stewart Chamberlain (1899)
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Anführer 1922 schrieb, den „Kampf gegen den Intellektualismus“ auf, gegen die „ganze verhängnisvolle Überschätzung des rein verstandesmäßigen Denkens, die einseitige Ausbildung der rein rationalen Fähigkeiten, die Missachtung und Verkümmerung der tieferen schöpferischen Kräfte...“.25 Die Revolte gegen den musikästhetischen Anspruch der Gebildeten, Musik führe erst durch erkennende Analyse zum rechten Be- und Ergreifen des „Wesens“ einer Komposition, wurde für eine breite Schicht von „Neu-Gebildeten“, die den „gebildeten“ Anschluss an das Musikleben und Musikerleben aufgrund ihrer Sozialisation nicht erlangt hatten, zum Motor einer breiten Bewegung. Zwei ihrer im musikalischen Sektor bekanntesten Aktivisten waren Fritz Jöde und Walther Hensel. Nach ihren Vorstellungen sollte es keinen Unterschied mehr zwischen dem Fachmann und dem Laien geben, Musik sei für jederman zugänglich, verfüge doch jeder Mensch natürlicherweise über das Instrument der Stimme. Im gemeinsamen Singen würde sich das „Wesen“ der Musik erfassen lassen, dies wiederum führe zum Wesentlichen des Menschen, zum „inneren Wachsen des Menschen zum Menschen“. Dieses Menschwerden verband Jöde gemäß den Vorstellungen der Jugendbewegung mit dem völkischen Ansatz des Gemeinschaftserlebnisses auf nationaler Basis. Musikalisches Erleben sei nichtig, „wenn sich nicht das Menschliche in der Gemeinschaft, der Freundschaft so vertieft, daß schließlich das Kunsterlebnis aus dem Erlebnis der menschlichen Gemeinschaft ungezwungen erwächst. Beide sind tief ineinander verankert.“26 Nach Jödes Auffassung war Kunsterleben primär nur im Gemeinschaftsgefühl möglich. Und dazu waren die menschliche Stimme als ein jedem Menschen quasi verfügbares Musikinstrument und der gemeinsame Gesang das geeignete Mittel. Singen in nationaler Gemeinschaft galt als Maxime musikalischer Erziehung. „Denn nur wer singt oder dem Singen nahe ist, vermag noch zu verstehen, um was es geht bei dem, was wir Volk nennen. Denn im rechten Singen offenbart sich, auf welchem Grunde allein Volk wird [...] wir versuchen, in der Musik durch Selbstgestaltung in eigenem Wachsen dessen gewahr zu werden, was Volk sei, und bei uns selbst anfangend den Weg zu seinen Urkräften zurück freizulegen helfen. Wir meinen also mit dem Wort Musik und Volk nicht eine einzelne Schicht in unserem Volk und eben nichts weniger als eine Volksmusik unter so und so vielen anderen Musiken, sondern das innere und äußere Wachstum des Ganzen mit allen seinen Schichten in gegenseitiger Durchdringung, also Musik und Gesellschaft.“27
Die Urkräfte des deutschen Volkes in der Volksmusik wieder freizulegen! Die völkische Attitüde war ein ständiger Begleiter der Jugendbewegung, und so zogen vielerorts die jungen Menschen unter Führung ihrer jugendbewegten Pädagogen hinaus aus der Stadt 25 Wilhelm Stählin: Fieber und Heil in der Jugendbewegung, in: Werner Kindt (Hg.): Grundschriften der deutschen Jugendbewegung I, Düsseldorf 1963, S. 382 26 Fritz Jöde: Musik. Ein pädagogischer Versuch für die Jugend, Wolfenbüttel 1919, S. 9 27 Fritz Jöde: Musik und Gesellschaft, in: Musik und Gesellschaft, Arbeitsblätter für soziale Musikpflege und Musikpolitik, 1. Jg. 1930 Heft 1, S. 3
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in die Natur, um sich mit Wandern, mit dem Singen von vermeintlichen Volksliedern und dem Tanzen vermeintlicher Volkstänze als deutsche, naturverbundene Jugend fühlen zu können. Auch seitens einer anderen gesellschaftlichen Schicht wurde das kulturelle Eliteverhalten der Bildungsbürger in Frage gestellt. Die Forderung nach dem Recht auf Bildung und damit an kultureller Beteiligung gehörte von Anfang an zu den Bestrebungen der sich organisierenden Arbeiterschaft und der Sozialdemokratischen Partei. „Wissen ist Macht! Bildung macht frei!“ hatte schon 1872 der Sozialdemokrat Wilhelm Liebknecht in einer Rede vor dem Dresdner Arbeiter-Bildungs-Verein erklärt. „Es hat noch nie eine herrschende Kaste, einen herrschenden Stand, eine herrschende Klasse gegeben, die ihr Wissen und ihre Macht zur Aufklärung, Bildung, Erziehung der Beherrschten benutzt und, nicht im Gegentheil, systematisch ihnen die echte Bildung, die Bildung, welche frei macht, abgeschnitten hätte.“28 Es war daher folgerichtig, dass sich die Sozialdemokratische Partei sehr bald nach ihrer Übernahme der Regierungsverantwortung 1918/19 anstellte, den Bildungssektor zu reformieren. Im Rahmen einer groß angelegten Schulreform ergriff der zuständige sozialdemokratische Musikreferent Leo Kestenberg die Initiative zu einer Schulmusikreform mit der Vision, schichtenunabhängig den Menschen den Zugang zur Musik der Gebildeten zu eröffnen, indem er ihnen bereits im Kindesund Jugendalter eine grundlegende musikalische Ausbildung ermöglichen wollte. Die Kestenberg’sche Reform nahm neben Ansätzen der Reformpädagogik auch viel Gedankengut der jugendbewegten Singbewegung auf. Die Reformbestrebungen mussten nicht nur wegen der relativ kurzen sozialdemokratischen Regierungszeit im Ansatz steckenbleiben, gerade in der Volksschule war die Lehrerschaft nicht für einen qualifizierten Musikunterricht ausgebildet, weshalb weiterhin im Musikunterricht in erster Linie einfach gesungen wurde.
1.6 „Politische“ Musik Während auf bürgerlicher Seite die Vorstellung vorherrschte, Musik und Lied habe sich von jeglichem tagespolitischen Geschäft fern zu halten und seine „Reinheit“ zu wahren, war die Arbeiterbewegung bereit, das Lied auch in den Dienst sozialistischer Aussage und Forderung zu stellen. Aus der Tradition der Männerchöre erwachsen, hatten sich bald nach Gründung der Arbeiterbewegung eigene Arbeitergesangsvereine zusammengefunden. Sie verfolgten zunächst das Ziel der musikalischen Bildung der Arbeiterschaft, man sang zum Teil politi28 Wilhelm Liebknecht: Wissen ist Macht –Macht ist Wissen, in: Ludwig Fertig (Hg.): Die Volksschule des Obrigkeitsstaates und ihre Kritiker, Darmstadt 1979, S. 124
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sche, die Solidarität fordernde Lieder, zum Teil „Volkslieder“, aber auch klassische Werke von Händel und Mozart. 1908 formierte sich der Deutsche Arbeitersängerbund (DAS) als Dachverband der deutschen Arbeiterchöre und als Gegengewicht zum bürgerlichen Deutschen Sängerbund. Als sich in der Weimarer Zeit die Arbeiterbewegung zusehends in die sozialdemokratische und die kommunistische Ausrichtung hin entzweite, kam es auch im DAS zur Spaltung. Die kommunistische Linke forderte, in den Vereinen revolutionäres Liedgut zu singen und damit an die Öffentlichkeit zu gehen, während die sozialdemokratisch ausgerichtete Mehrheit den geselligen Gesangsverein in traditioneller Weise bevorzugte. Der der kommunistischen Partei nahestehende Komponist Hanns Eisler griff schon derzeit den „verspießerten, reformistischen Musikbetrieb“ der Arbeiterchöre an, deren Liedrepertoire sich oft nicht mehr von dem der bürgerlichen Männerchöre unterscheiden würde. Er kritisierte vehement das sozialdemokratische Lager der Arbeiterschaft und schrieb 1931 unter dem Titel „Kampfmusik“: „Wir gehen jetzt daran, die merkwürdige Tatsache, daß die Arbeitersängerbewegung seit einem Jahrzehnt kein Kampflied mehr in die Massen brachte, im Gegensatz zu den Truppen, und damit ihre Zuhörer in eine Konzerthaltung drängte, zu ändern. Dabei sind wir uns aber bewußt, daß es falsch wäre, ein Kampflied nur anzuhören, sondern daß der aktivierende Zweck eines Kampfliedes nur durch das Selbersingen erreicht werden kann.“29 Unter dem Eindruck der politischen Entwicklung in der Sowjetunion und des dortigen Einsatzes von Lied und Musik beim Aufbau eines sozialistischen Staates erklärten es kommunistisch orientierte Komponisten in den 20/30er Jahren zu ihrer Maxime, Lied und Gesang als bewusstseinsbildendes, solidaritätsförderndes Mittel innerhalb der Arbeiterschaft bei gleichzeitiger Nutzung als Agitationsmittel nach außen einzusetzen. Eines der typischen, in dieser Zeit entstandenen Kampflieder ist der 1931 von H. Eisler vertonte „Heimliche Aufmarsch“. Es geht durch die Welt ein Geflüster, Arbeiter, hörst du es nicht? Das sind die Stimmen der Kriegsminister, Arbeiter, hörst du sie nicht? Es flüstern die Kohle- und Stahlproduzenten. Es flüstert von allen Kontinenten Mobilmachung gegen die Sowjetunion! Arbeiter, Bauern, nehmt die Gewehre, nehmt die Gewehre zur Hand! Zerschlagt die faschistischen Räuberheere, setzt alle Herzen in Brand. Pflanzt eure roten Banner der Arbeit
29 Hanns Eisler: Musik und Politik. Schriften 1–3, Leipzig 1973–1983, hier Bd. 1, S. 114
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auf jeden Acker, auf jede Fabrik! Dann steigt aus den Trümmern der alten Gesellschaft die sozialistische Weltrepublik! Arbeiter, horch, sie ziehen ins Feld und schrein „Für Nation und Rasse!“ Das ist der Krieg – Herrscher der Welt gegen die Arbeiterklasse, denn der Angriff gegen die Sowjetunion ist der Stoß ins Herz der Revolution, und der Krieg, der jetzt durch die Länder geht, ist der Krieg gegen dich, Prolet! Arbeiter, Bauern, nehmt die Gewehre usw.30
Eisler wechselte die solistischen, in drängend forderndem Sprechgesang vorgetragenen Partien mit dem stark kampfesmäßig rhythmisierten Männerchorrefrain ab, womit er mit musikalischen Mitteln einen fast bedrohlichen Eindruck von männlicher Solidarität, Kampfeswillen und Durchsetzungsstärke erzeugte. Neben Eisler wirkten andere sozialistisch ausgerichtete Komponisten an der Entwicklung des Arbeitergesangs mit. Unter ihnen ist besonders Hermann Scherchen zu nennen, ein Bratschist, Geiger und Dirigent. Er engagierte sich in arbeiterfreundlichen Aktivitäten, indem er „Volkskonzerte“für die Arbeiterschaft dirigierte, selbst Arbeiterchöre leitete und 1920 sogar die Funktion des Bundesdirigenten des Deutschen Arbeiter-Sängerbundes übernahm. Sein aus dem Russischen ins Deutsche übertragenes Solidaritätslied „Brüder zur Sonne zur Freiheit“ gilt bis heute als Parteihymne der SPD. Neben der Agitationskomponente, die dem politischen Lied zugesprochen wurde, erwartete sich Scherchen von seiner Unterstützung des Gesangs, dass damit der Grundstein für ein allgemein besseres Kunstverständnis der Arbeiterschaft gelegt würde. Eine Verbindung von Kunst und sozialistisch fortschrittlicher Gesellschaft erblickte er ganz besonders in der modernen Zwölftonmusik. Als Verehrer Arnold Schönbergs und seiner Musik unterstützte er mit der Gründung der „Neuen Musikgesellschaft“ (1919), mit einer eigenen Zeitschrift für die Neue Musik „Melos“, sowie mit zahlreichen konzertanten Aufführungen alle Bestrebungen der neuen, atonalen Musik. Die von den Fesseln der Tradition befreite Moderne galt ihm als Ausdruck einer jungen, von traditionellen Zwängen befreiten, sozialistischen Gesellschaft.
30 Das Gedicht von Erich Weinert wurde 1929 zum 1. internationalen Antikriegstag von Wladimir Vogel vertont, dann 1931 als Abschlusslied des Filmes Niemandsland zur Musik von H. Eisler eingesetzt. 1938 komponierte Eisler es nochmals neu.
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„So wie im Geistigen des Menschen das Revolutionäre alle Dämme durchbricht und nach Neugestaltung verlangt, haben sich die Triebkräfte des Materials in der Musik losgerissen und erfordern Neuanordnung der ganzen Materie nach ihren Eigenkräften.“31
Was sich mit der Neuanordnung der Materie im musikalischen Bereich ereignete, das sollte sich mit der Neuordnung der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse vollziehen. Hermann Scherchen erhoffte sich in gleicher Weise wie der Komponist Erwin Schulhoff und andere sozialistische Künstler von der Entwicklung der Neuen Musik eine bewusstseinsmäßige Ausstrahlung in die Gesellschaft hinein, wie sie von den „Erfindern“ der Dodekaphonie in keiner Weise intendiert worden war. Die „Zwölftöner“ A. Schönberg, A. Berg und A. Webern begriffen ihre neuartige Kompositionsweise als ein rein musikalisch zu verstehendes Fortschreiten in der Verwendung des musikalischen Materials. In gänzlich anderer Erwartung schrieb Erwin Schulhoff bereits 1919: „Absolute Kunst ist Revolution, sie benötigt weitere Flächen zur Entfaltung, führt Umsturz herbei um neue Wege zu eröffnen [...] und ist am stärksten in der Musik. [...] Der Gedanke der Kunstrevolution ist seit Jahrzehnten besonders stark entwickelt, [...] am eigenartigsten zeigt sich dies in der Musik, weil diese Kunstart die lebhafteste ist und daher die Revolution am stärksten und eindringlichsten spiegelt, – die völlige Loslösung von imperialistischen Tonalitäten und Rhythmen, das Steigen zum extatischen Aufschwunge!“32
Während Schulhoff in der Befreiung der Komponisten von „imperialistischen Tonalitäten und Rhythmen“, vorrangig in der Zerstörung tradierten Ballastes, die Revolution herannahen fühlte, unternahmen es besonders zwei Komponisten, die Komposition – in je unterschiedlicher Weise – als eine gesellschaftspolitisch eigene, selbst anzupackende Aufgabe zu begreifen: Kurt Weill und Hanns Eisler. Als Radio-Journalist des ersten Rundfunksenders in Deutschland ebenso wie als Redakteur der überregionalen Programmzeitschrift „Der deutsche Rundfunk“ stand K. Weill seit 1924 im Zentrum einer Diskussion um die gesellschaftspolitischen Aufgaben des Rundfunkmediums, das neuerdings alle gesellschaftlichen Schichten erreichen konnte. Weill trat dafür ein, dass dem Rundfunk eine musikalische Bildungsaufgabe zukomme, forderte allerdings Alternativen zum Programm des herkömmlichen Konzertbetriebs, das nurmehr den Gebildeten zukäme, „durch eine hochwertige und wirklich fruchtbare Massenkunst [...], nur er [der Rundfunk] kann jener breitesten Allgemeinheit, die das Kunstpublikum der Zukunft bildet, die Mitwirkung erster Kräfte, die Darbietung hervorragender Leistungen sichern.“33 Aus der Ablehnung einer l’art pour l’art-Haltung 31 Hermann Scherchen: Neue Musik, in: Freie deutsche Bühne I (1919), S. 39 32 Zit. nach Eckhart John: Musikbolschewismus. Die Politisierung der Musik in Deutschland 1918– 1938, Stuttgart 1994, S. 147 33 Zit. nach Erika Hitzler: „Möglichkeiten absoluter Radiokunst“. Kurt Weills Konzept einer medialen Volksbildung, in: Manfred Angerer, Carmen Ottner und Eike Rathgeber (Hg): Kurt Weill-Sym-
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und aus dem Anspruch, Musik zu einer Sache der Allgemeinheit werden zu lassen, entstand Weills erste Opernkomposition „der Protagonist“, ein musikalisches Theater, das Elemente des Jazz, der zeitgenössischen Tanz- und Unterhaltungsmusik wie auch des Kabaretts in leicht rezipierbarer Weise in sich vereinte. Auf den großen Erfolg der Uraufführung 1926 folgte 1929 freilich ein Skandal in Hannover unter scharfen Attacken der bildungsbürgerlichen Presse.34 Einen linkspolitischen Inhalt erhielten Weills Schöpfungen aber erst, als Weill 1927 begann, sich mit dem marxistisch orientierten Schriftsteller Bert Brecht zusammen zu tun. Aus ihrer gemeinsamen Arbeit entstanden zwei kapitalismuskritische Werke, „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ und die „Dreigroschenoper“, Opern, die den revolutionären Inhalt mit „revolutionär verständlicher“ Musik vereinten und in den Folgejahren an zahlreichen Schauspielhäusern zur Aufführung und zu großer Bekanntheit gelangten. Die Zusammenarbeit von Weill und Brecht fiel bald auseinander. An Weills Stelle trat Hanns Eisler, der aus Überzeugung eine marxistische Position vertrat. Der SchönbergSchüler, der seinerzeit Schönberg sehr verehrt hatte, hatte sich 1926 mit seinem Lehrer überworfen und sich von dessen als unpolitisch definierendem Selbstverständnis abgewandt. Eisler war ab 1927 in Berlin mit der kommunistischen Bewegung in Kontakt getreten, wo er die neuartige Form politischer Agitation im Zusammenspiel von Kulturarbeit und parteipolitischer Propaganda im Konzept des sowjetischen „Agitprop“ kennenlernte. Zuvor hatte er bereits in dadaistischer Manier mit seinen „Zeitungsausschnitten“ op. 9 das Pathos und die Lyrik bürgerlichen Konzertgesangs persifliert, indem er den Klavierliedern banale Alltagstexte unterlegte, oder mit seinen „Drei Männerchören“ op. 10 die verspießte Idylle bestehender Männergesangsvereine aufs Korn genommen. Doch nun begann er, mit der Komposition erster Kampflieder sich offen zu einer politischen Musik zu bekennen, die ihre gesellschaftliche Funktion im kämpferischen Einsatz für die Erstarkung des Proletariats und die Aufhebung der Klassengegensätze zu erfüllen habe. Aus der Zusammenarbeit mit Brecht entstand 1930 das eklatant revolutionäre, die totale Unterwerfung des Einzelnen unter die Ziele des sozialistischen Kampfes fordernde Lehrstück „Die Maßnahme“. Abgesehen von der eindeutig durch den Text vorgegebenen Aussage wollte Eisler mit spezifischen musikalischen Mitteln die Zuhörerschaft zum Umdenken anregen. Im Aufbrechen traditioneller Melodien und musikalischer Formeln, in ihrer Lächerlichmachung, Ironisierung oder Verfremdung, im offenen Umgang mit stilistischen Experimenposion. Das musikdramatische Werk (= Beiträge der Österreichischen Gesellschaft für Musik 11), Wien 2004, S. 13–32, hier S. 18 34 Vgl. hierzu ausführlich Ines Katenhusen: Kurt Weill in der Provinz. Der Skandal um die Erstaufführung der Oper „Der Protagonist“ in Hannover (Spätwinter 1929), in: Angerer et al. (Hg.): Kurt Weill-Symposion. (wie Anm. 33), S. 43–61
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ten, mit der Isolierung einer musikalischen Formel aus ihrem Traditionszusammenhang usw. versuchte Eisler, Distanz gegenüber dem musikalisch Überkommenen zu erreichen und seinen musikalischen Schöpfungen eine neue Bedeutung zu verleihen. Die offene Politisierung von Musik, wie sie Eisler in seiner Zusammenarbeit mit Bert Brecht intendierte, wurde in der bürgerlichen Öffentlichkeit als ein doppelter Angriff verstanden: Als Infragestellung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse u n d der kulturellen Werte der bürgerlichen Schichten. Entsprechend erklärten Abgeordnete 1931 anlässlich einer „Kulturbolschewismus“-Debatte im Reichstag, dass angesichts der wahrzunehmenden „linken“, die Tradition verletzenden Tendenzen in der Malerei, der Musik, dem Theater, der Oper und der Literatur „das deutsche Kulturleben und die Autorität des Staates“ unterwühlt würden, man sprach von einem „Einbruch in die westeuropäische Kultur“, von einem „barbarischen Einbruch in das deutsche Geisteswesen“ und vom „bolschewistischen Kulturangriff “ als einem „Generalangriff gegen deutsche Kultur und deutsche Eigenart.“35 Schon zuvor, seit spätestens 1928, hatte die Regierung in zunehmendem Maße das öffentliche Singen von politischen Liedern untersagt, im Juli 1931 entstand eine Verbotsliste für „Lieder linksradikaler Organisationen“, Schallplatten von kommunistischen Liedermachern wurden eingezogen und Eisler-Lieder zensiert. Entsprechend ihrer politischen Ausrichtung distanzierten sich auch engagierte Vertreter der Avantgarde-Musik von dem agitatorisch-politischen Gebrauch von Musik und sprachen sich für die Trennung von Musik und Politik aus. Demzufolge lehnten sie auf dem Berliner Festival „Neue Musik“ von 1930 den Antrag ab, Brecht/Eislers Lehrstück „Die Maßnahme“ aufzuführen.
1.7 Nationalsozialistische Musikpolitik Die in der Weimarer Zeit immer stärker sichtbare Diskrepanz zwischen den Ansprüchen eines sich demokratisch nennenden Staates und den Realitäten gesellschaftlicher Klassen, die offensichtliche Tatsache, dass breite Bevölkerungskreise keinen Anteil an der doch als gesamtnationales Erbe verstandenen Kunst hatten, war eine kulturpolitische Hypothek, die immer häufiger öffentlich artikuliert wurde. Für dieses Dilemma versprach die nationalsozialistische Bewegung einen rettenden Ausweg. Schwebte doch Adolf Hitler und seiner sich „sozialistisch“ nennenden Partei die große deutsche Nation vor Augen, in der der Einzelne von wirtschaftlich-sozialer Not und gleichzeitig vom „kulturellen Elend“ befreit werden sollte. Denn nur dann, wenn jeder Einzelne des Volkskörpers in wirtschaftlicher Sicherheit leben und Zugang zu einem gewissen Grad von Bildung hätte, 35 Zit. nach John, Musikbolschewismus (wie Anm. 22), S. 394ff.
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sei es möglich, das ganze Volk zum nationalen Bewusstsein zu führen, zur Identifikation mit der Größe des deutschen Vaterlandes. Schon 1923 schrieb Hitler in „Mein Kampf“: „Die Frage der ‚Nationalisierung‘ eines Volkes ist mit in erster Linie eine Frage der Schaffung gesunder sozialer Verhältnisse als Fundament einer Erziehungsmöglichkeit des einzelnen. Denn nur wer durch Erziehung und Schule die kulturelle, wirtschaftliche, vor allem aber politische Größe des eigenen Vaterlandes kennenlernt, vermag und wird auch jenen inneren Stolz gewinnen, Angehöriger eines solchen Volkes sein zu dürfen. Und kämpfen kann ich nur für etwas, das ich liebe, lieben nur, was ich achte, und achten, was ich mindestens kenne...“36
Die soziale Frage verband Hitler mit der nationalen Frage, den angestrebten Stolz des ganzen Volkes auf seine Kulturgüter wiederum mit der durch Erziehung zu erwerbenden Kenntnis der Bildungsgüter. Die Musikpolitik des „Dritten Reiches“ war in ihrer hierarchisch gegliederten Konstruktion denn auch darauf angelegt, durch musikalische Breitenbildung den Anspruch zu verwirklichen, jedem Bürger zum Stolz auf seine nationale Musik und auf die Größen nationaler Musikkultur zu verhelfen. Nicht nur in der Schule sollte daher Wert auf eine musikalische Grundausbildung gelegt werden, sondern musikalische Erziehung wurde zusätzlich als ein wichtiger Baustein der Kindes- und Jugenderziehung in die Arbeit der Hitler-Jugend (HJ) integriert. Mit der Leitung der eigens geschaffenen Musikabteilung der HJ wurde 1934 Wolfgang Stumme betraut, der eine Ausbildung als Musiklehrer an Grundschulen absolviert hatte. Er installierte neue Jugendmusikschulen – bis 1943 gab es nach seinen Angaben 165 an der Zahl – sowie Volksmusikschulen und richtete, da nun der Bedarf an Musikalisch-Ausgebildeten für die gesamte HJ-Arbeit stark angewachsen war, an zahlreichen bestehenden Musikakademien eigene Seminare für Musiklehrer und -lehrerinnen ein, die die musikalische Kulturarbeit innerhalb der HJ leisten sollten. Stumme unterrichtete selbst an einer entsprechenden Abteilung an der Berliner Akademie für Kirchen- und Schulmusik, der jugendbewegte Fritz Jöde (nachdem er von seiner Berliner Professur 1936 entlassen worden war) an einer solchen in Salzburg. Ab 1935 existierten bereits 35 Schulen für HJ-Musikerzieher, ab 1942 wurde deren Ausbildung sogar zum 3-jährigen Studium erweitert. Die musikalisch ausgebildeten HJ-Führerinnen und Führer sollten beim Singen die musikalisch Begabten herausfinden und sie an „Spielscharführer“ oder eventuell Musikschulen verweisen, wo sie Förderung erhalten konnten. Die „Spielscharen“ wiederum bildeten einen wichtigen Pfeiler der musikalischen Erziehung. Hier führte man Personen zu kleineren Musiziergruppen zusammen je nach dem Interesse und der Begabung des Einzelnen: Im „Musik-, Spielmanns-, Fanfarenzug, in der Bläserkameradschaft, in Instrumentalgruppen verschiedener Besetzung, in Singegruppen, im Chor, in der Volksspiel- und
36 Adolf Hitler: Mein Kampf (1. Aufl. 1925), 277./280. Aufl. München 1937, S. 34f.
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Tanzarbeit.“37 Die relativ leicht zu erlernenden Musikinstrumente wie Blockflöte, Gitarre, Mandoline, Handharmonika, die zum Teil schon in der Jugend- und Schulmusikbewegung gebräuchlich waren, fanden jetzt ihren Einsatz als Gruppeninstrumente. In den einschlägigen HJ-Publikationen imponiert das starke Bemühen um ein Zusammenspiel von musikalischer Erziehung und gemeinsamem Tun als Volksgemeinschaft. Die identitätsstiftende Funktion gemeinsamen Singens und Musizierens, die die Jugendbewegung so stark propagiert hatte, verband sich mit dem Bestreben, über einfache, leicht und traditionell zu hörende und einfach zu erlernende Musik die Jugend zur deutschen Kunst hinzuführen. Stumme erklärte zur ersten Aufgabe nationalsozialistischer Musikarbeit „die Erweckung der Kunstempfänglichkeit und der Kunstbereitschaft“, die Jugend sei „mit jener Ehrfurcht an das musikalische Erbe unserer großen Meister heranzuführen, daß wieder ein neues Kunsterlebnis von Jugend an im Hören und Aufnehmen der Musik erzeugt wird.“38 Die Ausrichtung nationalsozialistischer Musikpolitik orientierte sich an der schon in der Weimarer Zeit innerhalb der gebildeten Oberschicht dominierenden Position, nach der sich die Überzeugung, dass Musik die Menschen an ein Ideal heranführe, mit der völkisch-rassistischen Prämisse verband, dass eben der Hang zum Höheren, zum Idealen ein typisch deutsches, rassisch bedingtes Merkmal sei. Hitler verarbeitete Kategorien der in der Weimarer Zeit verbreiteten Kunstästhetik, nach der die Kunst als Ausdruck deutschen Wesens die Funktion habe, das deutsche Volk zu veredeln. Nationalsozialistische Kunstpolitik verabsolutierte darüber hinaus die bereits zuvor vorhandene völkische Orientierung und war in ihrer Arbeit darauf ausgerichtet, die gesamte Nation, gleich welchen Standes und welcher Schicht, an der Kunst zu beteiligen, auch in der Erwartung, dass daraus eine neue, die nationalsozialistische Gesinnung verkörpernde, hochstehende Kunst für das ganze deutsche Volk erwachsen würde. Ein besonderes Charakteristikum nationalsozialistischer Musik- und Kulturpolitik war im Gegensatz zur Weimarer Zeit die totalitär ausgeführte, definitive Abgrenzung gegenüber einer Vielzahl musikalischer Erscheinungen. Deren Ablehnung breiter bildungsbürgerlicher Kreise war nicht neu, neu waren nur die eindeutige staatliche Parteinahme, das rigide staatliche Verbot und die kompakte offizielle Regierungspropaganda und –hetze, mit der all jene Komponisten angeprangert wurden, deren Werke unter der verunglimpfenden Etikettierung „Entartete Musik“ subsumiert wurden. Deren Komponisten wurden aus musikalischen, politischen oder rassischen Gründen diffamiert, weshalb das stilistische Spektrum des Verbotenen sehr weit gefasst war. Alle diese Gründe
37 Wolfgang Stumme: Musik in der Hitler-Jugend, in: Wolfgang Stumme (Hg.): Musik im Volk – Grundfragen der Musikerziehung, Berlin 1939, S. 17–30, hier S. 26 38 Wolfgang Stumme: Musik im Volk – Grundfragen der Musikerziehung, Berlin 1939, S. 20
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entstammten der in der Weimarer Zeit zu beobachtenden Konsensbildung einer konservativen Mittel- bis Oberschicht. Zunächst gehörten zur „Entarteten Musik“ auf Basis eines stark angewachsenen Rassismus’ generell alle Musiker jüdischer Abstammung. Darüber hinaus aber galten die Kriterien „Dodekaphonie“ und „Atonalität“ als Ausschlusskriterium. Ein weiterer Grund zur Ablehnung waren die linkspolitische Ausrichtung und/oder Kompositionen im Rahmen der Arbeiterkultur (Hanns Eisler, Erwin Schulhoff, Kurt Weill, Paul Dessau). Und nicht zuletzt wurden Musikwerke und ihre Verfasser geächtet, weil sie Jazzelemente in ihren Kompositionen verarbeitet hatten (Ernst Krenek). Obwohl die Weimarer Republik gegenwärtig im öffentlichen Bewusstsein als eine Zeit kultureller Öffnung und als Phase großer künstlerischer Experimentierfreudigkeit gilt, gab es gleichzeitig die andere Realität einer zunehmend breiten bildungsbürgerlichen Phalanx, die sich gegen derartige Neuerungen etablierte und auf die sich Hitler später stützen konnte. Wenn es seit den 20er Jahren auch verschiedene Initiativen zur Verbreitung von Verständnis und Akzeptanz der Neuen, nicht allein der dodekaphonen Musik gab, wie sie sich in der Gründung von entsprechenden Musikzeitschriften „Melos“, „Musikblätter des Anbruch“ manifestierten, so sollte man nicht darüber hinweg sehen, dass dodekaphone Musik und experimentierende Musiker wie Strawinsky oder Bartók in der Breite des Konzertpublikums auf Unverständnis stießen, oft sogar Empörung auslösten. Eklatantes Beispiel hierfür war Alban Bergs Oper „Wozzek“, die 1925 an der Berliner Staatsoper unter Erich Kleiber uraufgeführt wurde und anschließend vom Gros der Presse mit ätzender Kritik überzogen wurde. Man titulierte Berg als „Brunnenvergifter der deutschen Musik“, als „Verbrecher“ und „gemeingefährlichen Tonsetzer“. Er würde sich „ungehemmt am höchsten Gut der Menschheit versündigen“, er „sudelt drauf los, was die Feder hält, er macht sich aus nichts ein Gewissen, er baut fest auf die Dummheit und Erbärmlichkeit seiner Mitmenschen...“39 usw. usf. Die zweite Aufführungsstätte der Oper war Prag. Hier wurden weitere Aufführungen des Werkes nach dem Skandal der dortigen Premiere 1926 sogar verboten. Zu ähnlichen Tumulten kam es bei der ersten Inszenierung von Béla Bartóks Pantomime „Der wunderbare Mandarin“ in Köln, woraufhin der damalige Oberbürgermeister Konrad Adenauer das Werk aus dem Programm nehmen ließ. Es lag in der Anlage der Neuen Musik, dass sie dem Bedürfnis und dem Verständnis der bürgerlichen Massen ferner lag als ältere Musik. Sie war damit ‚unbürgerlich’, doch gar nicht im proletarischen Sinne, sondern nur etwa im Sinne eines geistigen ‚Bürgerschrecks’.“40 Diese Musik war nicht eigentlich politisch, sie griff nur die tradierten Hörgewohnheiten an und wurde daher als Attacke auf das idealisierende Kunstverständnis breiter Kreise begriffen. Hinzu kamen die in einigen Opern für die damalige Zeit 39 Zit. nach John: Musikbolschewismus (wie Anm. 32), S. 179f. 40 Heinz Tiessen: Zur Geschichte der jüngsten Musik (1913–1928), Mainz 1928, S. 55
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sexuell recht freizügigen Anspielungen und Darstellungen, die zusätzlich die Vorstellung eines Gemenges von sinnenhafter Unanständigkeit und musikalischem Chaos provozierten. Als eine Spitze dieses konservativ-bürgerlichen Eisberges kann die Schließung der Berliner Kroll-Oper im Jahre 1931 angesehen werden. 1924 unter sozialdemokratischer Protektion des preußischen Kulturministeriums gegründet, entwickelte sich das Opernhaus mit Aufführungen von Komponisten der Moderne ebenso wie mit modernen Inszenierungen traditioneller Werke zum Zentrum der avantgardistischen Oper. Nachdem bereits 1929 eine Debatte zur Kulturauffassung der Kroll’schen Oper im Preußischen Landtag stattgefunden hatte, entschied die Gesamtheit der Rechtsparteien bis zum Zentrum (bei Stimmenthaltung der SPD-Abgeordneten, gegen die Stimmen der KPD) im März 1931 die Schließung des Hauses. Die Begründungen in den Debatten entsprachen bereits hier schon der späteren Argumentation um die „Entartete Kunst“: Jüdische Unkultur, musikalischer Bolschewismus, kommunistische Unterwanderung, unnatürliche Atonalität, imperialistischer, undeutscher Einfluss und sexuelle Perversion bildeten die wichtigsten Schlagworte. Da die atonale, neue Musik dem Verständnis und Bedürfnis weiter Teile des Konzertpublikums kaum entsprach, war sie in der Weimarer Zeit zwar aufgeführt, aber von traditionalistisch-nationalistischen Kreisen immer wieder attackiert worden. Als Begründung diente eine Mixtur von rassisch-idealistisch-nationalistischem Gedankengut, bei dem die Atonalität als unnatürlich, dem arischen Menschen fremd und untypisch, von jüdischem Einfluss durchsetzt, die Höhe der Kunst verachtend und zersetzend sowie als feindlichen, ausländischen Einflüssen ergeben deklariert wurde. Zentriert formierte sich die Anti-Moderne-Bewegung im nationalsozialistisch ausgerichteten „Kampfbund für deutsche Kultur“ (gegr. 1928 von Alfred Rosenberg), dem auch der Bayreuther Kreis um Winifred Wagner geschlossen beitrat. Die Vehemenz, mit der aber auch in bürgerlichen Kreisen anderer politischer Richtungen gegen die Moderne argumentiert wurde, lässt sich nur daraus erklären, dass die atonalen Kompositionsversuche als ein Angriff auf die verinnerlichte hochgradige Idealisierung von Musik, speziell deutscher Musik, begriffen wurden, die doch den Menschen zu hoher Vergeistigung und Veredelung führen sollte. Somit stand Hitlers Ablehnung der „entarteten“ Moderne auf dem Boden eines breiten bürgerlichen, in der Weimarer Zeit entstandenen Kulturkonsenses. Dass die linkspolitisch ausgerichteten Komponisten auf der Agenda nationalsozialistischer „Entarteter Kunst“ standen, war allein schon aus politischen Gründen erklärbar. So wie die gesamte politische Linke verfolgt wurde, so galt der Vernichtungswille auch ihren künstlerischen Erzeugnissen, ganz besonders ihren Arbeiterliedern, ihrer Agitpropkunst mit revolutionären, den Kampf der Arbeiterschaft fordernden Inhalten. Die Ablehnung des Jazz hatte hingegen Gründe, die im Zusammenhang mit der tradierten bildungsbürgerlichen Ablehnung der Musikausübung „unterer“ Gesellschafts-
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schichten zu sehen ist. Mit Skepsis, Widerwillen bis Verachtung hatte schon in der Weimarer Zeit der konservative Teil des Bürgertums auf den musikalischen USA-Import reagiert, der im Zuge der wirtschaftlichen Expansion der Vereinigten Staaten in den 20er Jahren auch Deutschland erreichte. Jazz und swingende Tanzmusik, ebenso wie alle neuartigen Tänze von Foxtrott bis Rumba, galten besonders den völkisch orientierten Bildungsbürgern sowie den jugendbewegten Volksliedsängern einesteils als Inbegriff von Internationalismus und kapitalistisch-jüdischer Gewinnsucht, andererseits aber auch als sittlichsexuelle Verderbnis und Verrat an der zivilisierten Kultur. War doch die neue Tanzweise im Vergleich zum vorher üblichen Gesellschaftstanz jetzt mit relativ lockeren und offenen Bewegungsabläufen verbunden und galt somit als sexuell aufreizend. Weite Kreise des Bürgertums sahen sich in ihrer Abneigung gegenüber den rohen, sinnlichen Ausdrucksformen einer nicht ihrer Schicht angemessenen Tanzmusik bestätigt, fürchteten diese sich gerade in der Jugend entwickelnden „Freiheiten“ und brandmarkten sie als moralisch-zersetzend. Gleichzeitig war es ein leichtes, den von schwarzen Bevölkerungsteilen der USA ausgehenden Jazz als eine rassisch artfremde Musik, als sinnenhafte „Niggermusik“ zu diffamieren. In der Ablehnung des Jazz vermengten sich völkisch-rassische Beweggründe mit der bildungsbürgerlichen Ablehnung sinnenhafter, ganz dem körperlichen Ausdruck und Gefühl hingegebenen Tanzmusik. Nicht erst seit 1933 wetterte man gegen den „Jazzbazillus“, die „Kulturpest“, gegen die „barbarischen“ Instrumente“, gegen „Schamlosigkeiten“, dies oft in Kontrastsetzung zum gesunden, deutschen, arteigenen Sittlichkeitsempfinden. So schrieb man entsprechend auch im Jahre 1940: „... der Jazz hat zum artbedingten Musizieren irgendeines europäischen Volkes der weißen Rasse nicht die geringste Beziehung. [...] Und nun stellen wir uns vor, daß zu dieser Musik deutsche Menschen, gesunde deutsche Mädel und Burschen nicht nur der Großstädte, sondern auch der kleineren Gemeinden schieben und schieben und sich dessen nicht bewußt werden, daß sie sich damit den körperlichen Bewegungsimpulsen jener uns artfremden, rassisch und undefinierbaren Menschenmasse angleichen.“41
Die Musikpolitik des „Dritten Reiches“ konnte allerdings den Kampf um die „Reinigung“ und sittliche Erneuerung der Unterhaltungs- und Tanzmusik schon zu ihrer Zeit nie ganz gewinnen. Obwohl der Jazz in Reden und Veröffentlichungen beständig attackiert wurde, gab es doch während der gesamten Nazi-Zeit bis auf wenige regionale Anordnungen kein generelles staatliches Verbot. Da die Schallplattenindustrie nicht gleichgeschaltet wurde, konnte man (zumindest bis 1937) alle ausländischen Schallplatten auf dem Markt kaufen, die späteren Erlasse zur Kontrolle des Musikbetriebes wurden nicht strikt durchgeführt, bis 1939 waren Aufführungen ausländischer Jazzbands zu hören.42 41 Zit. nach Joseph Wulf: Musik im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Gütersloh 1963, S. 391 42 Vgl. die Beschreibungen bei Michael H. Kater: Gewagtes Spiel. Jazz im Nationalsozialismus, Köln 1995, S. 119ff.
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Der Enthusiasmus für den Swing war nicht mit politischen Reden von Wert und Unwert wegzudiskutieren, zumal für den ganzen Bereich der Tanzmusik auch die Aktivitäten der Hitlerjugend kein attraktives Alternativangebot zu machen hatten, denn weder die sogenannten Volkstänze noch Mandolinen- oder Harmonikaorchester werden beim Gros der jungen Leute als Ersatz für die Beine und Körper elektrisierende verjazzte Tanzmusik akzeptiert worden sein.
Zusammenfassung In eben der Weise, in der aus einem Deutschland heraus zwei politische Einheiten entstanden, in eben der Weise sollte sich das Denken über Musik und der Umgang mit ihr in zwei voneinander getrennte musikanschauliche Lager spalten. Zunächst aber herrschten 1945 nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ musikbezogene, traditionelle Denkkategorien vor, die die Basis und den Ausgangspunkt aller musikpolitischen Bemühungen der folgenden Jahre bildeten. Diese historisch entstandenen musikanschaulichen Vorstellungen stellten den Grundstock dar, auf dem aufbauend, wenngleich in Ost und West in verschiedener Ausformung, sich die Musikideologien der beiden deutschen Staaten entwickelten. Zu ihren wesentlichen Faktoren gehören: 1. Das Bewusstsein von einer höherwertigen gegenüber einer niederen Musik. Die hohe Musik, die man „Kunstmusik“ nannte, gehörte seit Mitte des 18. Jahrhunderts in zunehmendem Maße in Absetzung zur Tanz- und Unterhaltungsmusik zum Lebenszusammenhang der gebildeten Bürgerschicht. Als Acessoire der Bildungsbürger erklärten letztere die eigene Musik zur „gebildeten“ Sache, das heißt zu einer Angelegenheit, die mit dem Verstand zu begreifen, nicht aber als bloßer Sinnenreiz zu genießen sei. 2. Im Zusammenhang eines sich im 19. Jahrhundert entwickelnden Marktes für musikalische Kompositionen, für Musikinstrumente, Noten, Musiklehrer, Virtuosen, Orchester, Konzertagenturen usw. wurde das jeweils musikalisch Neue, sei es bezüglich der musikalischen Idee, der Harmonien, der Instrumente, der Virtuosität zu einer, wenn auch nicht der einzigen, bestimmenden Voraussetzung der Qualität „Kunst“. 3. Basierend auf der philosophischen Schule des Idealismus erklärten Philosophen die Autonomie und Zweckfreiheit von Musik zum Merkmal und zum Wesen von Kunst. Musik sei Mittlerin zwischen Erde und Himmel, zwischen Gefühl und Geist, zwischen Notwendigkeit und Freiheit und trage es in sich, die Menschen das höhere Sein erahnen zu lassen. Damit schrieb man der Kunst von nun an eine wichtige persönlichkeitsbildende Funktion zu. 4. Die idealistische, den Menschen von den Niederungen dieser Welt erhebende und erlösende Funktion der Musik war im Rahmen nationalistischen Gedankenguts bereits im 19. Jahrhundert mit der Vorstellung verknüpft worden, Musik habe gleichzeitig die
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Fähigkeit, zur Ausbildung einer idealen Nation beizutragen. In diesem Sinne begann ein nationaler Personenkult um „berühmte“ Komponisten, die nun als Helden und Inkarnation der guten, idealen Seiten der Nation verehrt wurden und als Sinnbild nationaler Identität ihre gemeinschaftsbildende, nationale Funktion erfüllten. Der einzelne Bürger konnte sich als Teil eines „Kulturlandes“ fühlen, was seinerseits dazu angetan war, eine deutsche Vormachtstellung im internationalen Vergleich zu begründen. 5. Mit der zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich bildenden Jugend- und Singbewegung, einer Bewegung der im industrialisierten Deutschland aufsteigenden Mittelschicht, wurde der nationale Impuls auch auf den gemeinsamen Gesang sogenannter „Volkslieder“ verlegt, gleichzeitig erhob die Singbewegung das Lied in den Status von „Kunst“. Dem Lied als ein aus dem „Urquell des Volkes“ entsprungenes Gebilde wurden ebenso positiv persönlichkeitsbildende Eigenschaften zuerkannt wie der Kunstmusik. 6. Die nationalsozialistische Musikpolitik vereinte die genannten Faktoren in nationalsozialistischem Sinne zu einer musikideologischen Überzeugung von der persönlichkeitsbildenden, vorwärtsstrebenden, den neuen, alles Gute in sich vereinenden nationalsozialistischen Menschen schaffenden Funktion der Musik, die darüber hinaus im Singen gleichermaßen wie in der Verehrung der großen deutschen Komponisten die positive, nationale Identität sichere. Dieses gewaltige Bündel von Einstellungen, Anschauungen und Überzeugungen, die großen Teilen der Bevölkerung im Jahre 1945 zur selbstverständlichen, das heißt nicht zu hinterfragenden Überzeugung geworden waren, bildete den breiten, gesellschaftlichen Konsens und implizierte, dass man Musik für ein unpolitisches Phänomen erachtete. Man erhob weiterhin keinen Zweifel an der Zweckfreiheit und Autonomie der Musik und hatte daher auch in der Zeit des „Dritten Reiches“ „nur Musik gemacht.“ Auf der anderen Seite hatte es in der Weimarer Zeit all jene linkspolitisch, sozialistisch oder kommunistisch orientierten, aktiven Musikerkreise gegeben, die zum einen die Arbeitergesangsvereine unterstützt und sich zum anderen dafür eingesetzt hatten, die auch von ihnen hoch geschätzte Kunstmusik der Arbeiterschaft nahezubringen. Darüber hinaus hatten die Komponisten Kurt Weill und Hanns Eisler eine eigene Art verständlicher Kunst entwickelt, die im Zusammenhang mit Bertold Brechts Textunterlagen sozialistische, kapitalismuskritische Inhalte vermitteln wollte. Vom nationalsozialistischen Regime verfolgt und/oder ins Ausland gezwungen, fand die deutsche Linke erst nach Ende der Diktatur nach und nach wieder nach Deutschland zurück und musste ihren Platz in dem von den vier Siegermächten besetzten Deutschland wiederfinden.
2. Musikalische Kontinuitäten – Weitermachen wie zuvor?
2.1 Unpolitische Musik – „Idealistische“ Verdrängungsleistung In der öffentlichen Wahrnehmung gelten das Ende des 2. Weltkrieges und der Untergang des „Dritten Reiches“ häufig auch im Bereich der Kunst als eine historische Stunde Null, die auch den Bruch mit dem Musikleben nationalsozialistischer Prägung markieren würde. Durch den Krieg hatten nicht nur viele Menschen ihr Zuhause, ihre Angehörigen und ihren Besitz verloren, es waren nicht nur Häuser und Städte zerbombt worden, sondern auch das Musikleben war in den letzten Kriegsjahren nicht zuletzt durch die Einberufungsbefehle an Orchestermusiker zum großen Teil zum Erliegen gekommen. Zwar hatten die Berliner Philharmoniker als „Reichsorchester“ unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler noch im April 1945 ihre letzten großen Auftritte im ungeheizten Beethovensaal direkt neben den Ruinen der Philharmonie (die Mitglieder dieses Orchesters waren vom Kriegsdienst befreit), doch war dies eine Ausnahme. Sowohl im klassischen Konzertbetrieb wie auf der Ebene der Gesangsvereine und der vielerlei bestehenden Laienorchester, Musiziergruppen und Chöre hatten die Kriegsereignisse in den 40er Jahren zu einer deutlichen Abnahme, wenn nicht gar Unterbrechung von einigen Jahren geführt. Der zeitliche Zusammenfall des Kriegsendes mit dem Ende der Hitler-Diktatur suggeriert jedoch, dass das Musikleben bereits während der gesamten Herrschaftszeit des Nationalsozialismus nicht so recht „funktioniert“ habe. Davon kann jedoch, wie bereits dargestellt, keine Rede sein. Das öffentliche Musikleben war durch die nationalsozialistische Musikpolitik durchaus gefördert worden, erst die kriegsbedingten Einschränkungen hatten zur Unterbrechung musikalischer Aktivitäten geführt. Die Vorstellung, der Untergang des „Dritten Reiches“ hätte eine automatische Reinigung und „Säuberung“ des Musiklebens impliziert, ist nicht zutreffend. Orchester fanden sich nach Kriegsende schnell wieder zusammen, nicht zuletzt wegen der tolerierenden und/oder fördernden Haltung der Besatzungsmächte wurden bald wieder öffentliche Konzerte gegeben, die Universitäten und Musikhochschulen nahmen ihren Lehrbetrieb wieder auf, die Musikschulen öffneten ihre Tore. Chöre, Männergesangsvereine, Volkstanzgruppen, Mandolinen- und Harmonikaorchester konnten nach kurzer Zeit wieder mit ihren Proben beginnen. Es wurde in ähnlicher Weise wie zuvor Musik gemacht. Allerdings entfiel jetzt die politische Agitationskomponente der nationalsozialistischen Ära, wie sie gerade im Rahmen der musikalischen HJ-Aktivitäten gang und gäbe gewesen war. Die Siegermächte, besonders die amerikanischen Besatzer, bemühten sich einerseits, mithilfe der Entnazifizierungskampagne ehemalige Parteimitglieder zu entlar-
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ven, zu bestrafen und/oder ihnen Berufsverbot zu erteilen, gleichzeitig aber auch durch Kontrolle des Kulturlebens all jenes Gedankengut zu demontieren, das ihnen als Nachweis nationalsozialistischer Gesinnung galt. Dazu gehörten antisemitische, rassistische, antidemokratische und extrem nationalistische Anschauungen. Im Bereich der Musikpolitik hieß dies konkret, dass die „nichtarischen“ Musiker und Komponisten wieder eingestellt und ihre Werke wieder aufgeführt wurden (letzteres betraf besonders die Werke von Mendelssohn-Bartholdy). Die öffentliche Darbietung von Werken der als „Jude“ gebrandmarkten Zwölftöner Arnold Schönberg und Alban Berg sollte sich allerdings noch um einige Jahre verzögern. Die Siegermächte förderten während ihrer Besatzungszeit bis 1949 mit der Unterdrückung nationalsozialistischer Tendenzen gleichzeitig eine neue Öffnung der Musikpolitik gegenüber dem Ausland, wobei die Westmächte eher dem westeuropäischen Komponistenmarkt Einlass gewährten, die UdSSR sich dagegen schon frühzeitig bemühte, russische Komponisten und solche aus den Ostblockländern in Deutschland bekannt zu machen. Wenn die damalige öffentliche Musikpolitik in zahlreichen Verlautbarungen den Anschein zu erwecken suchte, als sei nach dem Untergang des 3. Reiches eine neue künstlerische Ära angebrochen, so lässt sich demgegenüber auch anhand der Besetzung beruflicher Positionen eine starke Kontinuität des tradierten Musikverständnisses nachweisen. Komponisten, Dirigenten, Orchester und Solisten setzten zum überwiegenden Teil ihre zuvor ausgeübten beruflichen Tätigkeiten fort. Das Gros der musikwissenschaftlichen Professoren erhielt auch nach 1945 wieder einen universitären Lehrstuhl, und die Professoren der Musikhochschulen wurden wieder eingestellt. Viele Personen aus dem musikwissenschaftlichen und musikpädagogischen Bereich, die sich während der Nazi-Zeit in ihren Veröffentlichungen besonders eifrig nationalsozialistischer Argumentationen bedient hatten, publizierten auch nach 1945 in einer Art und Weise weiter, die eine kritische Auseinandersetzung mit früherem nationalsozialistischen Gedankengut vermissen ließ. Es war wohl umso leichter, die musikbezogene persönliche Identität über den politischen Umschwung hinweg zu erhalten, als man die innere Einstellung und Bewertung gegenüber der musikalischen Kunst nur geringfügig, wenn überhaupt zu modifizieren brauchte. In der Tradition idealistischer Musikanschauung erklärte man Musik zur autonomen Kunst, die frei von allen gesellschaftlich-politischen Bindungen sei, daher mit dem Tagesgeschäft niederer Politik nichts gemein hätte. So lässt sich anhand der einschlägigen Literatur der 50er Jahre erkennen, dass offensichtlich viele Autoren nicht begriffen, wie stark ihr Denken weiterhin von nationalsozialistischen Überzeugungen geprägt war. Wie anders ist es sonst zu verstehen, dass renommierte Musikwissenschaftler als „Freundeskreis“ ausgerechnet Hans-Joachim Moser, einem Berliner Honorarprofessor, der sich bereits seit den 20er Jahren mit völkisch-rassistischen Publikationen hervorgetan hatte, zu seinem 65. Geburtstag eine Festschrift überreichten und ihm in aller Öffentlichkeit
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ihre Glückwünsche darbrachten?43 H.-J. Moser selbst scheute sich nicht, noch 1957 seine „Musik der deutschen Stämme“44 zu veröffentlichen. Man reibt sich verwundert die Augen, wenn man im 1962 erschienenen Band der Enzyklopädie „Musik in Geschichte und Gegenwart“ (MGG) unter dem Stichwort „Raabe, Peter“ über den Präsidenten der Reichsmusikkammer, also den obersten musikalischen NS-Ideologen und -Organisator, lesen muss: „Seit 1935 war Raabe an exponierter Stelle als Musikpolitiker tätig und verstand es, sich von der herrschenden politischen Richtung unabhängig zu erhalten.“45 Ebenso erklärte man in derselben Enzyklopädie Hans Peter Freiherr von Wolzogen (gest. 1938), den Herausgeber der rassistisch agitierenden „Bayreuther Blätter“, mit blumigem Vokabular als besonders vergeistigten Menschen. „In seinem stillen, Wahnfried benachbarten Gelehrtenheim wirkte er, der erste vornehme, jeder lauten Tageserregung abholde, tiefgründige ‚Rector Magnificus’ der geistigen Wagnerschule, als Verkünder und Deuter des Werkes, von R. Wagner in guter Stunde als sein ‚alter ego’ angesprochen, als poesievoller Erzähler, als Ergründer verwandter Geistesbezirke der Antike, Shakespeares, der deutschen Klassik und Romantik...“46
Angesichts des Rückzugs auf das unpolitische Verständnis von Musik als einer vergeistigten Kunst konnte die personelle Kontinuität der Musikwissenschaft in die westdeutsche Professorenschaft leichter als in die Professorenschaft Ostdeutschlands hinein gewahrt werden, wofür Friedrich Blume als Herausgeber der MGG als exponiertes Beispiel gilt. Obwohl sich Blume im Dritten Reich mit Aktivitäten und Publikationen auf dem Gebiet der musikalischen Rasseforschung, mit seiner Begeisterung für den „Führer“ sowie mit seiner völkischen Interpretation der Musikgeschichte in besonderem Maße exponiert hatte, gründete er bereits 1945 die „Deutsche Musikwissenschaftliche Gesellschaft“ und errang 1958 sogar die Position des Präsidenten der „Internationalen Musikwissenschaftlichen Gesellschaft“. So wie er konnten Musikwissenschaftler, ausübende Künstler, Komponisten und Musikpädagogen fast nahtlos ihre Tätigkeiten aus der Zeit der NSRegierung fortführen, weil sie sich letztlich in einem Punkte wiederfanden, den sie der Öffentlichkeit auch unter den neuen politischen Bedingungen bedenkenlos präsentieren konnten: In der ideellen und Politik unabhängigen Wertigkeit von klassischer Musik. Man brauchte nur die völkischen, antisemitischen, rassekundlichen und rassistischen „Beigaben“ zu eliminieren und das Dritte Reich als historisch begrenzte Phase einer verbrecherischen Diktatur darzustellen, um sich vereint in der Überzeugung einer alles transzendierenden Kunst wiederzufinden. 43 Festgabe für Hans Joachim Moser zum 65. Geburtstag, 25. Mai 1954, herausgegeben von einem Freundeskreis, Kassel 1954 44 Hans-Joachim Moser: Die Musik der deutschen Stämme, Wien 1957 45 MGG (Musik in Geschichte und Gegenwart) 10 (1962), Sp. 1834 46 MGG 14 (1968), Sp. 841f.
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Auf der Basis einer der Musik immanenten Höherwertigkeit wurde weiterhin Musik gemacht, auf dieser Basis auch publizierten Musikwissenschaftler weiterhin ihre Erkenntnisse. Ihre Publikationen waren noch in den 50er und 60er Jahren angefüllt mit idealistischen Superlativen. Man kann das Lexikon „Musik in Geschichte und Gegenwart“ (erschienen 1953–1976), in dem Beiträge der führenden Akademiker zusammengetragen wurden, aufschlagen, wo man will, überall begegnet einem eine Wortwahl überschwenglicher Begeisterung und irrealer Überhöhung. Da „steigert“ Bruckner „den lyrischen Ausdruck ins Hymnisch-Sakrale“ und „dient in gebetshafter Versunkenheit dem Göttlichen“, da hebt man bezüglich Wagners die „universelle kulturkritische Kraft seines Geistes“ hervor, die ihn „zu einer der ganz großen Erscheinungen der europäischen Geistesgeschichte“ 47 werden lassen. Händels Oratorien „dienen der Darstellung des Ewigen in Welt und Mensch“48, bei Haydn lobt man seine „musikantische Vitalität gepaart mit hoher Geistigkeit“,49 die Person Schumann gilt als „ein eindringliches Schauspiel menschlicher Kraft und Festigkeit“,50 und im Schaffen Brahms’ „wirkt eine starke Kraft ins Objektive, Allgemeine“.51 Man spricht allenthalben von überragender geschichtlicher Bedeutung, von der Genialität des Meisters und seiner einzigartigen Stellung. Wo man sich in einer Enzyklopädie eine möglichst sachliche Darstellung von Fakten und Zusammenhängen erhoffte, flutet den Lesern und Leserinnen eine Welle idealisierender Aussprüche entgegen, die darauf ausgerichtet waren zu vermitteln, in der Kunstmusik habe man es mit einer Offenbarung höherer Welten zu tun. Wie stark diese grundsätzliche Übereinkunft eine Kontinuität im Musikleben vor und nach 1945 ermöglichte, lässt sich an der Karriere des Dirigenten Wilhelm Furtwängler ermessen. Als Stardirigent des Reichsorchesters, der späteren „Berliner Philharmoniker“, war er von Hitler und Goebbels befeiert worden, hatte zahlreiche politische Großveranstaltungen musikalisch begleitet und wurde als wichtiger Kulturrepräsentant des Deutschen Reiches zu Konzerttourneen ins Ausland geschickt. Unbeschadet aller Kriegsereignisse hatte er bis in die letzten Tage vor dem Zusammenbruch noch konzertieren dürfen. Als Furtwängler 1946 vor die Berliner Entnazifizierungskommission geladen wurde und man ihm dort seine hohe Funktion im nationalsozialistischen Kulturbetrieb vorwarf, rechtfertigte er sich gerade mit dem Argument, Musik als Kunst habe nichts mit Politik zu tun, sie sei nicht politisch, sie sei autonom, ja, sie künde doch von Freiheit und Menschenliebe. Damit sei er, Furtwängler, nicht nur ein „unpolitischer“, sondern ein „überpolitischer“ Künstler. Hier seine Argumentation: 47 48 49 50 51
MGG, Artikel „Deutschland“, Sp. 340f. MGG, Artikel „Händel, Georg Friedrich“, Sp. 1269 MGG, Artikel „Haydn, Joseph“, Sp. 838 MGG, Artikel „Schumann, Robert“, Sp. 293 MGG, Artikel „Brahms, Johannes“, Sp. 207
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Musikalische Kontinuitäten – Weitermachen wie zuvor?
„Nach meiner Auffassung hat die Kunst nicht mit Politik, mit Machtpolitik, mit allen den Dingen, die dem Völkerhaß entspringen und ihn hervorbringen, zu tun. Sie steht über diesen Gegensätzen. Es muß Dinge geben, die von einer Gemeinschaft der Menschheit im ganzen ausgehen, sie darstellt, von ihr zeugt. Dies zu sagen ist heute doppelt vonnöten. Solche Dinge sind in erster Linie die Religion, dann aber auch die Wissenschaft und nicht zuletzt die Kunst. Gewiß zeugt die Kunst von der Nation, der sie entstammt, aber von deren Tagespolitik nicht. Kunst steht in Wahrheit, obwohl von ihnen ausgehend, über den Nationen. Es ist die politische Funktion der Kunst, gerade in unserer Zeit überpolitisch zu sein. Wenn ich daher als unpolitischer, überpolitischer Künstler in Deutschland blieb, so habe ich schon dadurch aktive Politik gegen den Nationalsozialismus getrieben...“
Furtwängler habe es als seine Aufgabe verstanden, die deutsche Musik auch während der nationalsozialistischen Ära in ihrem Bestand zu erhalten und „mit deutschen Menschen weiterhin Musik zu machen. Die Menschen, denen einst Bach, Beethoven, Mozart, Schubert oder andere entstammten, lebten auch jetzt unter der Oberfläche des nationalsozialistischen Deutschlands weiter.“ Furtwängler steigerte sich in seiner Stellungnahme sogar zu der suggestiven Frage, ob man es sich nicht vorstellen könne, „daß niemals Menschen es nötiger hatten, es inniger und schmerzlicher ersehnten, Beethoven, seine Botschaft der Freiheit und Menschenliebe zu hören als gerade die Deutschen, die unter dem Terror Himmlers lebten?“52 Furtwängler versuchte, der Kommission zu suggerieren, er habe dem deutschen Volke innerhalb des innen- und außenpolitischen Chaos’ eine heile Welt musikalischer Menschlichkeit, Erhabenheit und Größe vermittelt, ja, die Tatsache allein, Beethoven unter den Nazis aufgeführt zu haben, sei bereits ein Stück politischen Widerstandes gewesen. Mithilfe der idealistischen Zuschreibung an Kunst konnte Furtwängler seine staatstragende Funktion im Nazi-Deutschland herunterspielen mit dem Ergebnis, dass er 1947 seine Konzerttätigkeit wieder aufnehmen durfte. In gleicher Weise wie Furtwängler im „Dritten Reich“ all die „Großen“ der deutschen Musikgeschichte zur Aufführung gebracht hatte, konnte er nach dem Krieg das bekannte Repertoire fortsetzen. Beethoven, Bruckner, Wagner, Brahms, Richard Strauß, Händel und Bach standen bevorzugt auf seinem Programm der Jahre 1947–1954. 53 Vereinzelt beschäftigte sich Furtwängler auch mit Werken der jungen Komponistengeneration, mit Paul Hindemith, mit Boris Blacher und Wolfgang Fortner. Komponisten aus anderen Ländern wie Mussorgski, Strawinski, Bartok oder Debussy waren weiterhin kaum vertreten.
52 Zit. nach Oliver Rathkolb: Führertreu und Gottbegnadet. Künstlereliten im Dritten Reich, Wien 1991, S. 196–199 53 Vgl. die 2009 von „audite“ herausgegebene CD: Wilhelm Furtwängler. The Complete RIAS-Recordings 1947–1954
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Nicht nur Furtwängler, sondern das Gros berühmter Dirigenten und Virtuosen äußerten sich über ihr Musikverständnis als einer unantastbaren Kunstreligion. Der Dirigent Bruno Walter bekannte 1957: „Immer erklang mir aus der Musik etwas geheimnisvoll Jenseitiges, das mir tief das Herz bewegte und mit beredter Überzeugungskraft auf einen transzendenten Inhalt hinwies“. Ebenso äußerte sich der Pianist Edwin Fischer in einer Ansprache von 1953: „Ein schöpferischer Mensch aber in seiner besten Stunde ist göttlich.“54 Die idealistische Musikauffassung ermöglichte und beförderte geradezu eine ganz eigene Art deutscher Geschichtsverdrängung. Die heile Welt einer autonomen, zweckfreien, allein in sich stehenden Musik gab die Folie ab, auf deren Hintergrund die Vergangenheitsbearbeitung und Rechtfertigung der eigenen Position im System der Hitler-Diktatur sich ereignete. Die Nationalsozialisten, so hieß es, hätten die reine Musik für ihre Zwecke ausgenutzt, nun endlich könne man sich ihr wieder unbehelligt in unpolitischer Weise widmen. Der Musikkritiker Hans Heinz Stuckenschmidt fasste diesen seinen entsprechenden Wunsch 1947 in die Worte: „Man hat uns 12 Jahre lang in der Verachtung und Ablehnung des L’art-pour-l’art-Prinzips erzogen, bis viele glaubten, es gäbe überhaupt kein Eigengesetz der Kunst. Diese Irrlehre zu korrigieren, und sei es auch zeitweise durch ein entgegengesetztes Extrem des reinen Ästhetizismus, ist die wichtigste Aufgabe der Musikerziehung in den kommenden Jahren.“55 Sich endlich wieder der Musik als l’art pour l’art hingeben zu können, das war ein Traum, der nach den Erfahrungen des „Dritten Reiches“ von Stuckenschmidt und vielen anderen geträumt wurde, der aber auch gleichzeitig Entlastung für all jene anbot, die die politische Funktion musikalischer Aktivitäten selbst unter den Bedingungen der Nazi-Herrschaft negieren wollten.
2.2 Der Einfluss der Singbewegung Die Überzeugung vom unpolitischen Charakter von Kunst und ihrer geistigen Höherwertigkeit bildete den einen Traditionsstrang und stellte damit die Kontinuität in die Nachkriegsgeschichte hinein her. Eine weiteres, ähnlich geartetes Kontinuum lässt sich in der Singbewegung verfolgen, die ja dem Lied und Gesang einen ebenso hohen persönlichkeitsbildenden Wert zusprach. Zahlreiche, in der Singbewegung aktive Musikpädagogen bemühten sich in der Nachkriegsgeschichte, die nationalsozialistische Ära als eine für ihr Wirken inhaltlich unwesentliche Periode darzustellen, durch die sie unbeschadet hindurch gelangt seien, da sie in der musikpädagogischen Bewegung der Weimarer Zeit 54 Zit. nach Reinhard Flender: Musik aus der Sicht von Berufsmusikern, in: Helmut Bruhn u. Helmut Rösing (Hg): Musikwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbeck 1998, S. 23–31, hier S. 23f. 55 Zit. nach Ulrich Dibelius und Frank Schneider (Hg.): Neue Musik im geteilten Deutschland, 4 Bde., Berlin 1993–1999, hier Bd. 1 S. 23
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verwurzelt geblieben seien. Große Aktivisten der Jugendbewegung wie Wilhelm Twittenhoff, Fritz Jöde, Georg Götsch und Wolfgang Stumme bezogen sich in ihren Publikationen und Aktivitäten zur Neuorganisation des Musikschulwesens nach 1945 ausdrücklich auf die Ideale der Jugendbewegung. Durch besondere musikpädagogische und musikorganisatorische Kompetenzen hatten sie sich im „Dritten Reich“ dagegen in den Vordergrund gebracht. Bis auf ein gelegentliches Bedauern, der propagandistischen Beeinflussung „nicht immer“ Widerstand entgegengesetzt zu haben, schien ihnen eine kritische Auseinandersetzung mit der Instrumentalisierung des völkischen Gemeinschaftserlebens in der nationalsozialistischen Jugendarbeit, die sie intensiv begleitet hatten, nicht erforderlich zu sein. Wolfgang Stumme hatte, wie bereits erwähnt, als Leiter der Musikabteilung der Hitlerjugend bereits ab 1934 die gesamte musikalische Arbeit der HJ betreut. In einem Artikel von 1987 über die Bedeutung der Jugendmusikbewegung für die Gegenwart legte er detailliert die unter ihm erfolgte musikorganisatorische Arbeit im Dritten Reich in positivem Sinne dar und bemerkte zu seiner früheren politisch zentralen Funktion in der Führung der HJ nur den einen lapidaren Satz: „Daß der Nationalsozialismus als grundlegende politische Idee allgemein bestimmend war, muß für die Jahre 1933–1945 festgehalten werden, ebenso auch, daß der Zeitzeuge sich diesem Einfluß nicht immer hat entziehen können und daß es nicht immer gelang, die eigene Ausdrucksweise in dieser Zeit frei zu halten von zeitstilistischen Sprachelementen.“56
Es muss wohl als besondere Verdrängungsleistung angesehen werden, dass einer der im Dritten Reich aktivsten Musikpolitiker sich nur als zeitweilig „beeinflusst“ bezeichnen und seine agitatorischen HJ-Schriften als „zeitstilistische Sprachelemente“ verharmlosen konnte. Dass dies möglich war, verdankte er u.a. einem großen Kreis jugendbewegter Kollegen, von denen einige gemeinsam mit ihm schon 1952 den „Verband der Jugend- und Musikschulen“ in der BRD gegründet hatten. Aufgrund ihrer Aktivitäten entstanden Anfang der 50er Jahre eine Fülle von Vereinen und Verbänden zur musikalischen Förderung der Jugend: Der Arbeitskreis für Hausmusik, der Verband der Sing- und Spielkreise, die kathol. Werkgemeinschaft Lied und Volk, die Arbeitsgemeinschaft für evangelische Jugendmusik, die Arbeitsgemeinschaft für Musikerziehung und Musikpflege, der Verband der Singschulen, der Arbeitsausschuß zur Förderung von Musik, Spiel und Tanz in der Jugend, der Württ. Halm-Bund, der Verband der Schulmusiker usw. usf. Dem Zulauf und der beachtlichen Wertschätzung der Singbewegung trugen auch die Rundfunkanstalten Rechnung mit eigenen Sendungen wie „Wir singen“ im Bayerischen
56 Wolfgang Stumme: Die Musikschule im 20. Jahrhundert. Bericht eines Zeitzeugen, in: Karl-Heinz Reinfandt: Die Jugendmusikbewegung, Wolfenbüttel 1987, S. 245–270, hier S. 256
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Rundfunk, „Singt und Spielt mit uns“ im Schulfunk Bremen oder „Unser Lied – Unser Leben“ im Berliner Rundfunk. 1954 trug Fritz Jöde in seinem Buch „Vom Wesen und Werden der Jugendmusik“ in ungebremster Kontinuität die Ideen der Jugendmusikbewegung ( JMB) vor. Er vertrat weiterhin die Überzeugung, dass die JMB aus der damaligen Kulturkrise heraus „den Weg zum Volk gefunden hatte und also die Durchdringung [...] zu einer neuen Einheit aus einem singenden Volk heraus suchte“, dass die JMB die Erneuerung der gesamten Lebenseinstellung und der persönlichen, inneren Haltung erstrebt hätte, und betonte, dass die JMB in der Zeit der Weimarer Republik zu einem „Zankapfel der miteinander ringenden Kräfte“ geworden sei, eine Situation, der der Nationalsozialismus ein Ende bereitet habe, indem er der Jugend „zu einem tiefgreifenden Gemeinschaftserlebnis im Liede verhalf.“ Trotz der „tragischen Selbsttäuschung“ des Nationalsozialismus sei man den Weg „im Sinne einer neuen organischen Lebensgemeinschaft der Jugend“ weitergegangen. So habe „die Erneuerungsbewegung auf dem Gebiet der Musik, die, in ständiger Verwandlung, im Grunde letztens doch unbeirrt den Wandel der Zeit [...] durchschreiten und überdauern können, weil ihre letzte Kraft eben im Irrationalen wurzelte, weil sie letztens einen geistigen Naturprozeß im Gestaltwandel der Zeit bildete.“57 Jöde hatte schon in der Weimarer Zeit das musikalische Tun, ganz besonders aber das gemeinsame Singen, zu einem Mittel wahrer Menschwerdung erklärt und die göttliche Erhabenheit des Volksliedes propagiert. Auch noch jetzt, im Jahre 1954, versprach er sich vom Ausbau des Singens und Musizierens der Jugend „die innere Gesundung unseres Volkes“. Jöde wollte mit seiner jugendbewegten Begeisterung und organisatorischen Erfahrung die Singbewegung unter neuem politischem Vorzeichen fortführen. Bereits 1947 befand er sich in Anstellung der Hamburger Schulbehörde und begründete dort das „Amt für Jugend- und Schulmusik.“ 1950 konstituierte sich auf seine Initiative hin die Arbeitsgemeinschaft für Musikerziehung und Musikpflege (AGMM), die später unter dem Namen „Deutscher Musikrat“ fungieren sollte. In Hamburg übertrug man Jöde 1951 die Leitung der Hauptabteilung Musikerziehung an der Musikhochschule. Zusätzlich leitete er ab 1952 das Internationale Institut für Jugend- und Volksmusik in Trossingen. So wie Jöde bemühten sich viele Anhänger der Jugendmusikbewegung, ihre Aktivitäten im musikpädagogischen und im Sangesbereich fortzusetzen. Hans-Joachim Moser, Olga Hensel, Else Lang und viele andere stellten weiterhin das gemeinsame Singen in den Vordergrund. Olga Hensel betonte auch 1952 wieder, welch hohe Erwartung sie an den chorischen Gesang knüpfte und welch idealistische, der Kunstästhetik vergleichbare Wirkung sie dem Lied zuschrieb. Sie forderte die „Erkenntnis der geistigen Grundlagen des Gesanges“ und meinte, dies könne dazu helfen, „im Gesang dem Menschen sein eigenes Wesen zu zeigen, und ihn durch ein stetiges Streben in der Erkenntnis seines Zeitlichen 57 Fritz Jöde: Vom Wesen und Werden der Jugendmusik, Mainz 1954, S. 39ff.
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und Überzeitlichen auch sein Schicksal ergreifen, erkennen und meistern lehren.“58 Die hohe Aktivitäts- und Begeisterungsbereitschaft der Anhänger der Singbewegung führte u.a. 1961 zur Gründung der Walther-Hensel-Gesellschaft in München. Dass Walther Hensel sozusagen die harte „Rechts-Außen“-Position der Singbewegung verkörpert hatte, scheint die Mitglieder der bis heute existierenden Gesellschaft nicht anzufechten. Hensel war in den 20/30er Jahren Leiter der „Finkensteiner Bewegung“, agitierte im Rahmen der Böhmerlandbewegung für die Verbreitung deutscher Kultur im Osten und die „Eingliederung“ Böhmens ins Deutsche Reich. Auch seine musikalischen Aktivitäten verband er mit ausgeprägt völkischer Attitüde. Trotz Hensels starkem Bezug zum Nationalsozialismus wurde bald nach seinem Tod eine Gesellschaft ins Leben gerufen, die es sich bis zum heutigen Tage zur Aufgabe macht, die „musikalische Volksbildungsarbeit in der von Walther Hensel geprägten Art“ fortzuführen. Wenn man Hensels „Singenden Quell“ aufschlägt, eine Sammlung selbst komponierter Lieder in 3 Heften, die er 1926–1936 veröffentlichte, und in seinen verschiedenen Vorworten blättert, wo davon die Rede ist, dass sich im Lied „der heldische Sinn“ entfachen solle, „noch lebt der deutsche Idealismus und sucht nach Taten, nach lebendigen Zeugen von Opfermut und Treue. Weh uns, wenn wir mit Geschrei die Welt erfüllen, Heil uns, wenn wir sie durch rechten Sang befreien! ... was in den Tiefen klingt und in den Höhen schwingt, was an die heiligsten Dinge rührt – das ist Volkslied.“ (Heft 2), wenn man des weiteren die Texte von Hensels Liedern anschaut, dann trifft man überall auf eine Mischung von Nationalbewusstsein, Kampfesfrische, Aufruf zur Tatkraft und zur nationalen Gemeinschaft, die schlichtweg „völkisch“ und „nationalsozialistisch“ zu nennen ist. Wenn man sich dann noch den Text der Ansprache anschaut, die Karl Vötterle als ehemaliger Verleger von Hensels Werken im Breitkopf Verlag anlässlich einer Gedenkstunde für den gestorbenen Hensel noch im Jahre 1957 bei den Kasseler Musiktagen hielt, in der er Hensel mit überschwenglichem Lob in seiner Tätigkeit für das deutsche Volkslied bedachte, dann lässt sich einerseits erkennen, mit welcher Beharrlichkeit Vertreter der Singbewegung gewillt waren, deren angebliche Errungenschaften auch in Zukunft fortzusetzen, wie auch andererseits eine mit dem Kunstmusikbereich vergleichbare Musikanschauung über alle politischen Umbrüche hinweg sich durchhielt: Die Musik, das Lied an sich, bringe den besseren Menschen hervor. Wenn die Jugend nur gemeinsam singe, dann sei das allein schon ein Garant für eine bessere Zukunft der Nation. Das Lied fördere Urkräfte, die das Volk gesund, kraftvoll und glücklich erhalte. Wie schon zur Weimarer Zeit, wie auch zur Hitler-Zeit, genauso erwartete man sich auch nach dem Krieg vom Lied eine Erneuerung von Grund auf, eine geistige Wiedergeburt. Es war den immer noch Singbewegten offensichtlich gleichgültig, ob es sich bei den Liedern um alte „Volksweisen“ oder eigens für die Bewegung neu ge-
58 Olga Hensel: Die geistigen Grundlagen des Gesanges, Kassel 1952, S. 60
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schaffene Liedkompositionen handelte, genauso ignorierte man, zu welchen Texten ihre Lieder gesungen worden waren. Hier ein paar Kostproben von W. Hensels Liedertexten: So gelte denn wieder Urväter Sitte, Es steigt der Führer aus Volkes Mitte.“ („Singender Quell“, 1936) Wir sind das neue Volk im Schritt, das kämpfend seine Straße zieht. („Singender Quell“, 1935) Je mehr der Stahl geglutet, je besser ist das Schwert; je mehr ein Herz geblutet, je größer ist sein Wert. („Singender Quell“, 1935)
Ob man Liebeslieder intonierte, die in romantisierenden Vorstellungen über das Mittelalter die Liebe als „Minnedienst“ bezeichneten, ob man den deutschen Wald, das deutsche Vaterland, Liebesleid- und –freud, das Blümelein oder Gott besang, ob „ach Elslein, liebes Elselein, wie gern wär ich bei dir! So sind zwei tiefe Wasser wohl zwischen dir und mir!“, ob militante Kampfeslieder oder geistliche Lieder, die Texte und ihre politischen und weltanschaulichen Implikationen waren in den Publikationen der Singbewegung nie ein Thema. Man durfte alles besingen, Hauptsache die Jugend sang! Wovon sich die Singbewegung allerdings strikt distanzierte, das waren sozialdemokratische und kommunistische Arbeiterlieder, Lieder mit „links“-politischem Inhalt. Auch nachdem im Jahre 1959 unter der Initiative von Fritz Jöde das Archiv der Jugendmusikbewegung gegründet worden war, das in den Folgejahren dicke Bände zur Geschichte der JMB publizierte, erfolgte keine kritische Auseinandersetzung mit dem, was man inhaltlich durch die Liedtexte der Jugend mitgegeben hatte. Die Vertreter der JMB waren sich weiterhin grundsätzlich darüber einig, dass das Lied, unabhängig von allen äußeren Gegebenheiten, seinen segensreichen Einfluss auf „die seelische Gesundheit“59 der Jugend ausgießen würde. Die Realitäten der sangesfreudigen Hitlerjugend hatten der idealisierenden Musikauffassung, die in der Jugendmusikbewegung auf das Lied übertragen worden war, nichts anhaben können. Theodor W. Adornos Attacken auf die Jugendmusikbewegung und ihre Musikpädagogik, die in „einem infantilen Bewußtseins- und Unbewußtseinsstand“60 stecken geblieben sei, trafen auf Seiten der Jugendbewegten auf Unverständnis und führten zu heftigen Abwehrreaktionen. Die Begeisterung für das „Volkslied“ wurde zusätzlich von musikwissenschaftlicher Seite untermauert. Walter Wiora, seit 1958 Professor für Musikwissenschaft in Kiel, der bereits in der Zeit des „Dritten Reiches“ im Freiburger Volksliedarchiv mitgearbeitet und einiges zum Liede veröffentlicht hatte, publizierte 1950 sein Buch über „Das echte 59 Wilhelm Twittenhoff: Jugend und Jazz, Mainz 1953, S. 125 60 Theodor W. Adorno: Dissonanzen, 3Göttingen 1963, S. 103
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Volkslied“, worin er seine Nähe zur JMB unter Beweis stellte. Beim Bemühen, die Vieldeutigkeit des Begriffes „Volkslied“ zu klären, kam er zum Ergebnis, dass als „Volkslieder“ die „Lieder der Grundschicht“ zu verstehen seien. Und dann postulierte er, dass dieser gesellschaftlichen Grundschicht „offenbar eine seelische Grundschicht“ entspreche, und diese sei gut und heil. Gute Volkslieder seien ein „Ausdruck heiler Menschen.“ Heil sei ein Mensch, „in dem sich das Wesen der Gattung Menschheit unbeschädigt und kräftig ausprägt.“ Danach geriet der Autor ins Schwärmen: „In der Integrität des heilen Menschen verbinden sich Reinheit und unverkürzte Ganzheit. Unverkümmert, wie Glieder und Organe, ist jede der leibseelischen Schichten: Vitalität, Sinne, Herz und Geist. Das gute Volkslied liebt herzhafte Vollmenschen von ‚frischem Wesen, schmucker Art und vollblütiger Kraft’; es verurteilt am meisten die Lebenskargen, die Schrumpfseelen, die Geizigen. Zum Kern des Volksgesanges gehören frische Stimmen mit vitalem Wohlgefühl am schönen hallenden Klang, Juchzer und Liebeslieder aus tiefer Lebenslust, Tanzrhythmen und Sprünge aus urkräftigem Lebensschwung.“61
Die Vorstellung von einer wieder zu belebenden, nie genau zu definierenden heilen, gesunden Grundschicht des Volkes bei gleichzeitiger Verachtung alles „Kranken“ und „Lebenskargen“ dominierte auch bei den Vertretern und Vertreterinnen der JMB, die sich dem „Volkstanz“ widmeten. In der JMB hatten Gesang und Tanz immer eine untrennbare Einheit gebildet. Schon die ersten Wandervogel-Gruppen zogen hinaus aus der Stadt ins freie Feld, um ihrer Vorstellung von Ursprünglichkeit im Singen und Tanzen zu genügen. Die Volkstanzliteratur gleicht in ihrer ideologischen Überhöhung denen der Volksliedliteratur wie ein Ei dem anderen. Auch hier ging es stets um den hohen sittlichen Wert des aus der reinen Quelle nationalen Volksgutes entsprungenen Tanzes, der als solcher zur Gesundung der Jugend beitragen sollte. Dementsprechend war den Jugendbewegten jede Art modernen Tanzes ein Dorn im Auge. Bereits in der Weimarer Zeit war die Tanzentwicklung mit ihren neuen Formen von ChaChaCha, Tango, Rumba und Foxtrott, deren Musik man insgesamt als „Jazz“ bezeichnete, als artfremder, unsittlicher, volksschädlicher „Bazillus“ attackiert worden. Noch in den 50er Jahren schrieb der bereits zitierte Wilhelm Twittenhoff einen Artikel zum Thema „Jugend und Tanz“, in dem er die triebhaft-vitale Seite des sogenannten Jazz als besondere Gefahrenquelle für die Jugend erachtete. Diese Musik „des sexuellen Untergrundes“62 dürfe der Erzieher nicht ignorieren, im Gegenteil, er solle etwas Besseres, Überzeugendes dagegen setzen. Da das Triebhaft-Dunkle der Jazz-Musik besonders durch ausgeprägte rhythmische Komponenten ausgelöst werde, solle der Musikpädagoge Rhythmisches dagegen setzen. Der Autor schlug ernsthaft vor, das Orff ’sche Schulwerk sowie die Rhythmische Erziehung von Elfriede Feudel als Gegenpol in den Unterricht zu 61 Walter Wiora: Das echte Volkslied, Heidelberg 1950, S. 60f. 62 Twittenhoff: Jugend (wie Anm. 58), S. 121
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integrieren. Dabei würde bereits das Schulkind in freudigem Tun an musikalische Qualitäten herangeführt werden, eine Möglichkeit, um junge Menschen gegen das Gift der Jazzmusik zu immunisieren. Die gesamte Schulmusikerziehung stand bis in die 80er Jahre hinein unter dem Einfluss der Jugendmusikbewegten, die die moderne Tanzmusik ablehnten. Im Unterricht und in den Lehrplänen wurden Tanzmusik, Schlager ebenso wie Jazz viele Jahre hindurch gar nicht zur Kenntnis genommen. Dagegen gab es immer wieder Vorschläge, was pädagogischerseits zu tun sei, um Gesang und Tanz im volkstümlichen Stil so attraktiv zu gestalten, dass Kinder und Jugendliche von der schädlichen und unsittlichen Tanzmusik abgehalten würden. Die Repräsentanten der Singe- und Tanzbewegung hatten nicht nur in der BRD viele Möglichkeiten, ihre Aktivitäten fortzusetzen. Auch in der DDR waren jugendbewegte Aktive staatlicherseits willkommen, denn auch hier wurde dem Singen eine große erzieherische Bedeutung beigemessen. Der im Musikleben der DDR eine starke Rolle spielende Komponist Ernst Hermann Meyer publizierte bereits 1949/50 seine Vorstellungen zur Gestaltung von Schulmusikbüchern63 und betonte darin, wie mit dem Lied die „Pflege positiver deutscher nationaler Tradition ebenso wie internationalen Kulturgutes“ verbunden sei. Natürlich müsse man auswählen, was aus sozialistischer Sicht an Liedgut zu gebrauchen sei. „Besonderer Pflege bedarf das Volkslied, allerdings nur insoweit, als es wirklich auf dem Boden des Lebens, Strebens und Kampfes des Volkes entstanden ist. Weder Lieder vom ‚Madel-wink-wink'-Typ noch ‚Ich hab mich ergeben' oder die zahllosen weinerlichen und sentimentalen Stücke aus dem vergangenen Jahrhundert gehören in ein neues Liederbuch.“ Es wurde für die Liedbehandlung in der DDR charakteristisch, dass, anders als in der BRD, der Text zum entscheidenden Kriterium der Auswahl wurde. Das „Volksliedgut“ wurde daraufhin kritisch durchgesehen, ob es zur Stärkung sozialistischer Ideale dienlich sei. Neben der Pflege des „Volksliedes“ stellte man sich gleichzeitig in die Tradition des Arbeiterliedes. Auf Basis der aus diesem Genre überkommenen Lieder sollte nun eine eigene Kultur des sozialistischen Liedes entstehen. Da mit der Gründung der DDR gemäß offizieller Lesart die politische Macht ans Proletariat übergegangen war, galt es, den Kampfcharakter des Arbeiterliedes zu verändern und den Gegebenheiten anzupassen. Ging es doch nicht mehr darum, den politischen Machtverhältnissen den Kampf anzusagen, sondern darum, den sozialistischen Staat aufzubauen. Entsprechend wurde jetzt eine Fülle von Liedern komponiert mit der Absicht, das Volk auf seine gemeinsame sozialistische Identität einzustimmen, indem zur Tätigkeit, zum Aufbau, zur Gemeinschaft und Geschlossenheit, zur Gefolgschaft gegenüber der Partei, zu Frieden und Völkerverständigung aufgerufen wurde. Ob es sich um Massenlieder handelte wie „Die Partei, die Partei, 63 Musik in der Schule 1949/50, S. 3–4
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die hat immer Recht! Und, Genossen, es bleibe dabei“, ob es sich um Lieder der Pioniere handelte „Soldaten sind vorbeimarschiert im gleichen Schritt und Tritt. Wir Pioniere kennen sie und laufen fröhlich mit. Gute Freunde, gute Freunde, gute Freunde in der Volksarmee“, um Lieder für Jungpioniere „Mein Schmuck ist mein Halstuch“ (Die Jungpioniere trugen einheitlich blaue Halstücher), „Wenn ich groß bin gehe ich zur Volksarmee, ich fahre einen Panzer ratata, ratatata!“ oder „Ich stehe am Fahrdamm da drauß im Verkehr, ich trau mich nicht rüber, nicht hin und nicht her. Der Volkspolizist, der es gut mit uns meint, er führt mich hinüber, er ist unser Freund“ oder um die von Hanns Eisler komponierte Nationalhymne „Auferstanden aus Ruinen“, immer war ein politischer Anspruch dabei, die Bevölkerung zur Identifizierung mit dem Staat und zur Mitwirkung am sozialistischen Aufbau zu motivieren, dies alles unter den Bedingungen der Akzeptanz und positiven Einstellung gegenüber allen staatlichen Organen wie Polizei und Militär, die die Gewähr für Sicherheit, Ordnung und Verteidigung gegenüber allen Angriffen auf das sozialistische System garantieren sollten. Mit der Forderung, das Lied in den Dienst sozialistischen Aufbaus zu stellen, verband sich gleichzeitig eine andere, weitere Vorstellung vom Lied, die eine große Nähe zur deutschen Singbewegung der Weimarer Zeit aufwies. Im Gesang, so erhoffte sich seinerzeit die Singbewegung ebenso wie jetzt der sozialistische Staat, sollte eine „Demokratisierung“ von Kunst stattfinden. Die Kunst als Eigentum des oberen Bürgertums sollte aufgebrochen werden, indem sich das Volk im Gesang seiner eigenen musikalischen Kräfte bewusst würde. Im Volkslied würde es zu seinen eigenen Wurzeln zurück finden, gleichzeitig aber mit neuen Liedschöpfungen die Möglichkeit zu eigenem musikalischen Ausdruck und darüber letztendlich auch einen Zugang zu den großen Werken der klassischen Epoche finden. Anfang der 50er Jahre forderte Eisler programmatisch die „Brechung des Bildungsmonopols durch Demokratisierung der Kunst. Als Hauptaufgabe betrachten wir die Erarbeitung des Erbes der großen klassischen Kunstperiode und die Pflege der volkstümlichen Genres.“64 Es oblag ganz besonders der Schulmusik, die Grundlagen fürs Singen von Kindheit an zu entwickeln und zu schulen. Daher spiegelt denn auch der 1. Musiklehrplan für die Grundschule von 1951/52, welch hohe Bedeutung dem Lied beigemessen wurde. In der Diskussion um den Entwurf zum Lehrplan der DDR wird hervorgehoben, dass die Musik „gewaltige ethische Wirkungen im Streben des Menschen nach dem Rechten und Guten [habe]. Ein Lied, im richtigen Augenblick angestimmt, kann viel tiefer wirken als langatmige Leitartikel und wortreiche Ansprachen [...] Wo anders als in der Schule soll der junge Mensch mit den positiven und aufbauenden Kräften der Kunst bekannt gemacht werden? Das Mittel aber, mit dem das Ziel erreicht werden wird, kann kein ande-
64 Eisler: Musik und Politik (wie Anm. 29), hier Bd. 2, S. 147
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res sein als das Lied.“65 In ähnlicher Weise wie die Sing- und Jugendmusikbewegung den Schulmusikunterricht in der BRD prägte, so ähnlich kam es auch in der DDR zu einer überraschend gleichartigen Betonung und Bewertung der Wirkungen des Liedes. Den folgenden Beitrag, den Hans Lauter als Mitglied des ZK der SED auf einer Kulturkonferenz 1951 in Berlin vortrug, hätte mit gleichem Wortlaut ein Vertreter der Singbewegung 20 Jahre zuvor oder ein Vertreter der Schulmusik in der BRD der 50er Jahre zum Besten geben können: „[Die Volkskunst] ist ein Beweis der schöpferischen Fähigkeit des Volkes. Ihrem Entstehen nach ist die Volkskunst nicht so sehr das Produkt einzelner, hervorragender Talente, sondern Schöpfung des ganzen Volkes. Die Volkskunst ist ein Bestandteil der nationalen Kultur und beeinflußt ihre Entwicklung wesentlich. Die Volkskunst bringt die Sehnsucht der ‚einfachen Menschen’ nach einem Leben in Frieden, Wohlstand und Glück zum Ausdruck. Sie schildert die Freude der einfachen Menschen an der schöpferischen Arbeit, ihre Liebe zu den Mitmenschen, ihre Liebe zur Heimat. Die Volkskunst geißelt aber auch schlechte Charaktereigenschaften wie Egoismus und Heuchelei. Sie pflegt alles Gute und entwickelt die guten Charaktereigenschaften in den Menschen. Es ist kein Wunder, denn die Volkskunst besingt die Freude am Gesunden, am Lebendigen. So sind Innigkeit und echte Gefühlstiefe in Liebe und Trauer, sprühendem Humor, gutmütiger und genau abgezielter Spott Wesenszüge, die die Form der Werke der Volkskunst prägen. Daher besitzt Volkskunst einen hohen sittlichen Wert.“66
Die Vorstellung vom hohen sittlichen Wert der Volkskunst unter Ausblendung jedweger Negativ-Potentiale durchdrang nach wie vor unhinterfragt die Bemühungen um die Verbreitung von Volkslied und Volkstanz auch in der DDR. Hier hatte nach sozialistischer Terminolgie die Volkskunst einen „humanistischen“ Gehalt. Man erwartete sich von ihr per se die Formung der humanistisch geprägten Persönlichkeit. Als Volkslied galt nun nicht nur das historische Lied, sondern in gleicher Weise die neu entstandenen, füs „Volk“ komponierten Lieder. Die ersten Jahrgänge der zentralen musikpädagogischen Zeitschrift „Musik in der Schule“ sind voll von Stellungnahmen zur Bedeutung des Liedes für die gesamte Musikerziehung, handeln vom Aufbau der Schulchöre, der FDJ- und Jungpionier-Chöre. Man stellte historisch verbürgte Lieder vor und versuchte, musikimmanent ihre hohe ästhetische Qualität zu belegen, um das echte vom unechten unterscheiden zu können. So kam es dann zu Formulierungen wie: Die Liedweise müsse „vom künstlerischen Standpunkt erlebt, historisch bewertet und ihrem inneren Wesen nach untersucht werden .“67 Die hohe musikimmanente Qualität des Liedes mithilfe musikalischer Analyse herauszuar65 Musik in der Schule 1951, S. 147 66 Zit. nach Aenne Goldschmidt: Der Tanz in der Laienkunst, Halle 1952, S. 19f. 67 Musik in der Schule 1952, S. 190
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beiten, war bereits verschiedenen Vertretern der Singbewegung der Weimarer Zeit ein Anliegen gewesen. Musikalisch angebliche Qualitäten gaben gleichsam die Rechtfertigung dafür ab, auch beim Lied von hohem ästhetischem Wert und damit von menschenbildender Wirkung zu sprechen. Die in der DDR lebendige Jugendmusikbewegung ging dort eine Verbindung mit der sozialistisch motivierten Forderung nach Formung einer „humanistischen“ Persönlichkeit durch musikästhetische Qualitäten ein, einer Persönlichkeit, die darauf ausgerichtet werden sollte, beim Aufbau des sozialistischen Staates tätig mitzuhelfen. Die Singbewegung fand sich in einem weiteren Ansatz sozialistischer Kulturpolitik wieder: Im nationalen Aspekt von Kultur. Wenn die JMB ihre Bemühungen um das Lied in mehr oder minder starkem Maße in völkischem Sinne an „das spezifisch Deutsche“ gekoppelt und das Lied als Ausdruck spezifisch deutschen Fühlens und Wollens betrachtet hatte, dann kann ihren Vertretern der Umschwung auf die Bedeutung des „nationalen Erbes“ in der DDR nicht schwer gefallen sein. Freilich hatte das nationale Kulturverständnis sozialistischer Staaten nichts mehr mit der nationalistischen Attitüde nationaler Höherwertigkeit zu tun, sondern man betonte, dass sich zwar ein Volk nur in seiner positiven nationalen Tradition als solches begreifen könne, dass aber auch die Traditionen und die Größe anderer Völker genauso zu achten seien. Gleichwohl wurde die nationale Bedeutung von Volkslied und Volkstanz häufig propagiert. Das klang bisweilen wie folgende Zitate: „Gesang und Spiel sind Nährstoffe für die Wurzeln eines gesunden Nationalstolzes, sind das natürliche Fundament eines gesunden Volkes. Aus Gesang und Spiel schöpft die Jugend Kraft und Optimismus, wenn darin Überzeugungen von dem ethischen Wert einer humanistischen Lebenshaltung, von der Macht eines schöpferischen kollektiven Willens, von einer fröhlichen Sicherheit und Zuversicht ausgesprochen werden.“68
Oder „Der nationale Charakter des Volkstanzes aber gewinnt in der heutigen geschichtlichen Situation unseres Volkes eine ganz besondere Bedeutung. Der Volkstanz wird durch seine nationale Gebundenheit, als Spiegel der nationalen Eigenart, zu einer starken Waffe der nationalen Selbstbehauptung.“69
Die Bedeutung der Volkskunst zur Bildung nationaler Identität gehörte in den Traditionszusammenhang der Singbewegung ebenso wie eine weitere Komponente ihres Gedankenguts: Die Ablehnung von Schlager, Jazz und modernem Tanz. Hier ging die sozialistische Kulturpolitik ein enges Bündnis mit der herkömmlichen Kritik der Singebewegten ein. Man war sich einig in der Verteufelung des Schlagers als Kitsch, als Verfallserschei68 Musik in der Schule, 1952, S. 107 69 Goldschmidt: Tanz (wie Anm. 65), S. 20
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nung und als „Unmusik“.70 Die um sich greifende Beliebtheit der westlichen Tanzmusik unter den Jugendlichen löste großes Entsetzen aus. Diese sei zu einem „Klischee der Sentimentalität, der Geilheit und Verdummung“ geworden. Der Gefahr, dass die Jugend den verderblichen imperialistischen Musikeinflüssen des Westens erliege, „der Vergiftung des Bewußtseins durch Kitsch und kosmopolitische Einflüsse“,71 sollte mit Volkslied und Volkstanz in Schule und Jugendarbeit begegnet werden. Komponisten der DDR schufen eine unübersehbare Fülle von Liedern, deren größter Teil für die Jugend, teilweise aber auch für Arbeiterbrigaden, für die Nationale Volksarmee, die Deutsche Volkspolizei usw. bestimmt war. Hanns Eisler, E.H. Meyer und Paul Dessau hatten sich diesbezüglich schon Ende der 40er Jahre engagiert, in den 50er Jahren waren es zusätzlich André Asriel, Günter Kochan, Siegfried Matthus, Joachim Werzlau und viele andere, die sich mit Liedkompositionen beschäftigten. Nicht zuletzt lieferten die jährlich stattfindenden Arbeiterfestspiele, die als Ausdruck der Volkskultur im Kontrast zur bürgerlich verstandenen „Hochkultur“ ihren besonderen Stellenwert im sozialistischen System hatten, einen Eindruck von der Vielzahl existierender Chöre und Singegruppen. Neben dem Lied- und Chorliedgesang sollte das sogenannte Massenlied die gesamte Bevölkerung erreichen. Es wurde zum wichtigen Moment musikalischer Aktivitäten breiterer Bevölkerungskreise. Gerade beim Massenlied wurde wohl kaum reflektiert, dass das Singen in Masse auch in der Tradition nationalsozialistischer Diktatur stand, stellte es doch dort ein beliebtes Mittel dar, die Volksmasse im Gemeinschaftserleben auf einen Willen hin zu zentrieren. Man deutete diese Funktion in der DDR in dem Sinne positiv um, dass hierbei die Erziehung zu allen sozialistischen Werten, zur Solidarität, zur Liebe zur DDR und zu ihrer Verteidigungsbereitschaft, zum Kampf um Frieden und zur Freundschaft mit der Sowjetunion im Vordergrund stehen würden.
2.3 Personelle Kontinuitäten Ein hohes Maß historischer Kontinuität lässt sich auch bei Betrachtung des Werdegangs der im Nachkriegsdeutschland lebenden Komponisten nachweisen. Selbst jene Komponisten, die im „Dritten Reich“ gefördert, belobigt, zum Teil mit Auszeichnungen versehen und als Hoffnungsträger einer neuen nationalsozialistischen Zukunftsmusik 70 So Walther Vetters Ausspruch, zit. in: Siegfried Freitag: Die Entwicklung der Pop- und Rockmusik zum Gegenstand im Musikunterricht unserer allgemeinbildenden Schule, in: Rudolf Dieter Kraemer (Hg): Musikpädagogik/ Musikdidaktik in der ehemaligen DDR. Eine Textdokumentation, Essen 1992, S. 215–224, hier S. 218 71 Lehrplan 1953, zit. nach Freitag: Entwicklung (wie Anm. 69), S. 217
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empfohlen worden waren, konnten auch nach 1945 bald wieder lehrende Funktionen an Musikhochschulen einnehmen und gelegentlich in nicht unerheblichem Maße ihren musikpolitischen Einfluss ausüben. Zum Beleg seien hier beispielhaft einige Komponisten vorgestellt, die, wenngleich nicht alle von ihnen nationalsozialistische Parteimitglieder waren, noch 1944 in der Endphase des Krieges von höchster Stelle aus auf eine Liste von Künstlern, die „Gottbegnadeten-Liste“, gesetzt wurden, was bedeutete, dass sie als staatlich bevorzugte Komponisten als „unabkömmlich (uk)“ eingestuft worden waren und daher nicht zum Kriegsdienst eingezogen werden konnten. 1. Carl Orff (1895–1982): Inspiriert von der Schulmusikreformbewegung der Weimarer Zeit publizierte Orff 1930–1934 sein musikalisches „Orff-Schulwerk“, mit dem er einen neuen Ansatz zur musikalisch-rhythmischen Bewegungserziehung propagierte. In dessen Vorwort heißt es: „Das Schulwerk will als elementare Musikübung an Urkräfte und Urformen der Musik heranführen.“ Das von Orff entwickelte Instrumentarium spielt bis heute eine wichtige Rolle in der Schulmusikerziehung. Orffs Beschäftigung mit angeblichen Urund Frühformen des Musizierens inspirierte ihn zur Vertonung der mittelalterlichen Texte der Carmina Burana, mit denen er 1937 in Frankfurt seinen durchschlagenden Erfolg erzielte. Schon 1936 hatte er den Auftrag erhalten, zur Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 einen „Olympischen Reigen“ zu komponieren, 1937 übernahm er es, als Ersatz für den „Sommernachtstraum“ des als Jude geächteten F. Mendelssohn-Bartholdy einen eigenen Sommernachtstraum zu schreiben. Mit seinen Opern „Der Mond“ (1939) und „Die Kluge“ (1943) nach Märchen der Gebrüder Grimm entsprach er dem völkischen Anspruch auf die künstlerische Einbeziehung deutschen Volksgutes. Von der Entnazifizierungskommission als „Mitläufer“ eingestuft, wurde er 1950–60 Leiter einer Meisterklasse an der Münchner Musikhochschule, 1961 folgte die Leitung des Orff-Instituts in Salzburg. Der Komponist wurde vielfältig geehrt: Mit der Ehrendoktorwürde in München und Tübingen, mit dem Großen Verdienstkreuz der BRD 1972, mit dem Romano-Guardini-Preis 1974. 2. Werner Egk (1901–1983): Er hatte in München bei C. Orff Komposition und Dirigieren studiert, vertonte 1933 das NS-Festspiel „Job, der Deutsche“, erhielt 1936 anlässlich der Olympischen Spiele eine olympische Goldmedaille für sein Werk „Olympische Festmusik“, 1938 wurde seine Kantate „Natur-Liebe-Tod“ beim Abschlusskonzert der ersten Reichsmusiktage in Düsseldorf (mit der gleichzeitigen Ausstellung „Entartete Kunst“) aufgeführt, im selben Jahr erhielt er höchste Anerkennung für seine nordischmärchenhafte Oper „Peer Gynt“. Egk war 1937–1941 Dirigent an der Preußischen Staatsoper Berlin. Er bekam offizielle Kompositionsaufträge wie den zur Filmmusik des HJ-Films „Jungens“. Darüber hinaus war er als Fachschaftsleiter der Komponisten in der Reichsmusikkammer direkt in die nationalsozialistische Kulturpolitik eingebunden. Gleichwohl wurde Egk von 1950–1953 als Direktor der Hochschule für Musik in WestBerlin eingestellt, wurde Vorsitzender des Aufsichtsrats der GEMA und 1968–1971 Präsident des Deutschen Musikrates. 1959 erhielt er das große Verdienstkreuz der BRD und
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1962 den bayerischen Verdienstorden. Seit 1980 ehrt Egks Geburtsstadt Donauwörth ihren Bürger mit einem Werner-Egk-Museum. 3. Harald Genzmer (1909–2007): Genzmer war Kompositionsschüler von Hindemith. Bei den Olympischen Sommerspielen 1936 erhielt er die olympische Bronzemedaille für sein Werk „Der Läufer“. 1940 fand die Uraufführung seiner vom Reichsluftfahrtministerium in Auftrag gegebenen „Musik für Luftwaffenorchester“ statt, 1943 gab das Stabsmusikkorps des SS-Führungshauptamts seine „Konzertsuite“ öffentlich zum besten. Bereits 1946 wurde Genzmer zum Stellvertretenden Direktor und Professor für Komposition an die Musikhochschule nach Freiburg/Breisgau berufen, ab 1957 arbeitete er an der Münchner Musikhochschule. Unter zahlreichen Auszeichnungen sind besonders erwähnenswert der Musikpreis der Stadt München (1962) und der Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst (1991). 4. Ottmar Gerster (1897–1969): Obwohl sich Gerster in den 20er Jahren der Arbeiterbewegung angeschlossen hatte, scheint er sich von der nationalsozialistischen Bewegung angezogen gefühlt zu haben. Denn schon 1933 komponierte er einen „Weihespruch“ und den Kampfchoral „Ihr sollt brennen“ auf einen Text von Baldur von Schirach, 1936 folgte das Chorlied „Deutsche Flieger voraus“. Ein Durchbruch gelang ihm mit seiner Oper „Enoch Arden oder der Möwenschrei“, die zwischen 1936 und 1940 an mehr als 100 Theatern in Deutschland gespielt wurde. 1941 folgte die ebenfalls erfolgreiche Oper „Die Hexe von Passau“, 1943 erhielt Gerster einen mit 50.000 RM verbundenen staatlichen Auftrag zur Komposition seiner Oper „Rappelkopf “. 1947 wurde ihm die Kompositions-Professur an der Musikhochschule Weimar angeboten, wo er 1948–51 Direktor war, 1951 wechselte er an die Musikhochschule Leipzig und übernahm ab dem selben Jahr sogar den Vorsitz des Komponistenverbandes der DDR. Von nun an schrieb er Musik auf Texte, die an die Forderung nach sozialistischem Realismus angepasst waren. (Kantate „Eisenkombinat Ost“ 1951, „Sein rotes Banner“ – Lied auf Karl Marx 1954 u. a.) Zwei Komponisten, die nicht auf der „Gottbegnadeten-Liste“ standen, aber dennoch eine wichtige Rolle im Musikleben des „Dritten Reiches“ gespielt hatten, seien hier noch exemplarisch genannt: Cesar Bresgen und Rudolf Wagner-Régeny. – Cesar Bresgen (1913–1988): Er arbeitete ähnlich wie C. Orff mit starkem musikpädagogischem Engagement, verband in besonderer Weise die nationalsozialistische Forderung nach musikalischer Erziehung der Jugend mit deren politisch-weltanschaulicher Parteinahme und wurde zu einem der wichtigsten Komponisten für die Hitlerjugend. Neben Volksliedbearbeitungen und vielerlei Liedkompositionen für die HJ verfasste er zahlreiche NS-Feiermusiken, Kantaten und Kinderopern. Bald nach der „Machtergreifung“ wurde Bresgen musikalischer Berater für die Programmzusammenstellung der HJ beim Reichssender München. Hier ließ er viele eigene Werke einspielen. Ihm wurden mehrere Preise und Auszeichnungen unter der NS-Herrschaft zuteil. 1939 wurde Bresgen zum Leiter der neu errichteten HJ-Abteilung, der „Musikschule für Jugend und Volk“ am
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Mozarteum in Salzburg ernannt. Nach dem Krieg erhielt er wiederum eine Anstellung am Mozarteum, seit 1950 als Professor für Komposition. 1954 verlieh man ihm den Österreichischen Staatspreis, 1976 den Großen Österreichischen Staatspreis. – Rudolf Wagner Régeny (1903–1969): Als freischaffender Komponist gelang es Wagner-Régeny, sich mit seinen Opern im „Dritten Reich“ einen Namen zu machen. „Der Günstling“ wurde 1935 an der Dresdner Semperoper unter der Leitung von Karl Böhm uraufgeführt und erlebte bis 1942 insgesamt 136 Aufführungen an 100 Bühnen. 1939 folgten „Die Bürger von Calais“, uraufgeführt von Herbert von Karajan an der Berliner Staatsoper. Seine Oper „Johanna Balk“ wurde 1941 in Wien uraufgeführt. Nach dem Krieg war Wagner-Régeny von 1947–1950 Rektor der Musikhochschule Rostock, 1950 berief man ihn an die neu gegründete Hochschule für Musik in Berlin-Ost. Als Mitglied der Akademie der Künste der DDR führte er eine eigene Meisterklasse. In der DDR scheint er nicht nur auf Zustimmung gestoßen zu sein, was möglicherweise unter anderem damit zusammenhing, dass er politische Diskussionen vermied und Kontakte nach „dem Westen“ unterhielt. Obwohl mit dem Nationalpreis der DDR ausgezeichnet (1955), beklagte sich Wagner-Régeny darüber, dass man ihm kaum Möglichkeiten zur Aufführung seiner Werke einräume. Dagegen bekam er von den Salzburger Festspielen für 1961 einen Opernauftrag, zuvor hatte ihn auch die Bayerische Akademie der Schönen Künste zu ihrem Ordentlichen Mitglied ernannt. Die Liste ähnlicher Lebensläufe ließe sich beliebig verlängern. Schaut man genauer hin, so lässt sich erkennen, dass das Musikleben von der Zeit der Weimarer Republik über die des „Dritten Reiches“ bis weit in die 50er und 60er Jahre hinein ein hohes Maß an personeller Kontinuität aufweist. Diejenigen Komponisten blieben durch alle politischen Wirren hindurch „unbeschadet“, die schon in den 20er und 30er Jahren der Jugend- und Singbewegung zugetan waren, die das deutsche Lied als Liedgut betrachteten und die liedhafte Melodie als wichtigen Baustein ihrer Komposition ansahen. Sie bezogen sich bewusst auf die Tradition tonaler Kompositionsweise, erweiterten sie, bezogen sich bisweilen auf die Kirchentonarten, benutzten häufig die überkommenen formalen Schemata und integrierten barock-polyphone und/oder romantische Stilelemente in ihre Arbeiten. All jene Musiker, die sich im Rahmen der Tonalität hielten, bildeten eine breite Basis des deutschen Kulturschaffens vor 1945 in gleicher Weise wie nach 1945. Sie konstituierten nach Kriegsende den musikalischen Grundstock in den amerikanischen, englischen, französischen und russischen Besatzungszonen. Dabei scheint das Ausmaß parteipolitischer Indienststellung der einzelnen Musiker während der nationalsozialistischen Ära keine bemerkenswerte Rolle für den beruflichen Werdegang und die musikpolitische Karriere nach 1945 in West und Ost gespielt zu haben.72 72 Zur personellen Kontinuität von Musikern der DDR vgl. z.B. Fred K. Prieberg: Musik im NSStaat, Frankfurt/Main 1982 und Maren Köster: Musik – Zeit – Geschehen. Zu den Musikverhältnissen in der SBZ/DDR 1945–1952, Saarbrücken 2002
Zusammenfassung
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Zusammenfassung Nach Ende des Krieges konnte in relativ kurzer Zeit das Musikleben in gewohnter Weise aufgenommen werden. Mit aktiver Unterstützung der Siegermächte etablierten sich die meisten zuvor bestehenden Orchester wieder neu, Musikhochschulen und Musikschulen öffneten wiederum ihre Tore, Musiker, Musiklehrer und Professoren kamen erneut in Anstellung, Chöre, Musik- und Gesangsvereine fanden sich wieder zusammen. Sie alle wurden von der idealistischen Vorstellung getragen, Kunst sei ein autonomes, in sich stehendes Gebilde, sie trage eine ihr immanente Höherwertigkeit in sich, die letztlich vom tagespolitischen Geschäft nicht angetastet werden könne. Sie sei, wie der Dirigent Wilhelm Furtwängler es 1946 vor der Entnazifizierungskommission ausdrückte, „überpolitisch“. Diese Einstellung gegenüber der Kunstmusik bot all jenen eine persönliche Entlastung, die durch ihr „Tagesgeschäft“ auch im musikalischen Bereich Zuträger für die nationalsozialistische Politik gewesen waren, und machte es möglich, dass das Thema einer persönlichen Verantwortung in den Arbeitsfeldern des Musiklebens nicht zur Sprache gebracht wurde. Eine weitere stark wirksame, historische Kontinuitätslinie lässt sich auch für den Bereich der Jugendmusikerziehung und des Laien-Musizierens feststellen. Die Tradition der aus der Weimarer Zeit stammenden Singbewegung, die besonders in der Hitler-Jugendarbeit ihre Fortsetzung erfuhr, wurde zur Leitlinie der Jugend- und Schulmusikarbeit. Man übernahm weiterhin die idealisierende Vorstellung von der positiven, den Menschen heilenden, ihn zu – nicht genau zu definierenden – Idealen hinführenden Kraft des Liedes, das per se positive Wirkungen auf die einzelne Persönlichkeit sowie auf die gesamte Volksgemeinschaft hätte. Die Schulmusikpläne gingen auch nach 1949 in Ost wie West gleichermaßen von der hohen Bedeutung des Liedes aus. In der sowjetisch besetzten Zone und in Folge dann in der DDR maß man dem Lied zusätzlich zu seinen musikimmanenten positiven Wirkungen konkrete politische Funktionen bei. Hier wurden die Liedtexte überkommener „Volkslieder“ auf ihre gesellschaftlich-politische Vertretbarkeit hin überprüft und Nicht-Passendes ausgesondert. Gleichzeitig regte die DDR-Regierung die Komposition von Liedern an, deren Texte zum Aufbau des neuen Staates und zur Ausrichtung auf den Sozialismus dienen sollten. Zusätzlich stellte man sich in die Tradition des Arbeiterliedes und erreichte damit, dass nicht nur die Jugend in Schule und FDJ (Freie deutsche Jugend), sondern dass auch die Arbeiterschaft in ihren Betrieben ihre Lieder und die „Gemeinschaft der Werktätigen“ auf Großveranstaltungen ihre sogenannten „Massenlieder“ sangen. Zuletzt lässt sich auch anhand von Komponisten-Biographien eine personelle Kontinuität gegenüber dem „Dritten Reich“ aufzeigen, denn in Ost wie West erhielt ein großer Teil der Komponisten, die im Rahmen nationalsozialistischer Musikpolitik ihre Werke komponiert und danach ausgerichtet hatten, erneut Anstellungen an Musikhochschulen, Kompositionsaufträge und häufig hochrangige Ehrungen ob ihrer musikalischen Verdienste.
3. „Ade, Du mein lieb Heimatland!“ – Die Wege trennen sich
3.1 Die Entstehung getrennter Organisationen Am 3. Juli 1945 veranstalteten Künstler und Intellektuelle eine Kundgebung im Großen Sendesaal des Berliner Rundfunks, um der Öffentlichkeit die Gründung der interzonalen überparteilichen Organisation des „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ bekannt zu geben. Untermalt von den „Egmont“-Klängen der Berliner Philharmoniker verkündete man, es solle ein Bündnis aller kulturschaffenden Kräfte auf demokratischer Basis erfolgen. Alle vier alliierten Besatzungsmächte maßen im Rahmen ihrer Entnazifizierungs- und Demokratisierungsbestrebungen dem Kultursektor eine große Bedeutung bei, versprach man sich doch vom Umdenken der Intelligenz in allen Bereichen von Kunst und Kultur in antifaschistisch-demokratischem Sinne eine wichtige Schaltstelle und einen bedeutenden Multiplikator, um das „neue Denken“ in die Öffentlichkeit zu tragen. Daraus denn war das schnelle Vorpreschen der sowjetischen Militäradministration zu verstehen, die kulturschaffenden Kräfte so kurz nach der Kapitulation in einer Vereinigung zu sammeln und auf ein antifaschistisches Programm zu verpflichten. Der Sitz des „Kulturbundes“ lag bis 1947 im britischen Sektor in der Nähe des Kurfürstendamms, die Mitglieder ihrer Kommission kamen zum größeren Teil aus den Westsektoren, doch wurde Johannes R. Becher, einer der aktivsten kommunistischen Kunsttheoretiker und –politiker der späteren DDR, zu ihrem Präsidenten gewählt. Trotz der dadurch offensichtlichen Dominanz kommunistischer Intellektueller arbeiteten zunächst Künstler und Literaten aus allen politischen Richtungen in diesem Gremium zusammen. Als sich im Herbst 1946 eine eigene „Kommission Musik“ herausbildete, saßen hier der aus der Emigration heimgekehrte, im „Dritten Reich“ als „Kulturbolschewist“ klassifizierte Musikkritiker Hans Heinz Stuckenschmidt neben dem auf Hitlers „Gottbegnadeten-Liste“ genannten Komponisten Paul Höffer. Gleichwohl einigte man sich auf die gemeinsame Aufgabe, „den Mitgliedern und Gästen des Kulturbundes das neue Musikschaffen aller Länder nahe zu bringen.“73 Es wurden Konzertreihen in Berlin, Dresden, Chemnitz und anderen Städten organisiert, die in ihren Programmen eine erstaunliche Vielfalt der musikalischen Moderne aufzuweisen hatten. Neben solchen Komponisten wie Bartók, Britten, Prokofjew, Hindemith, Strawinsky, Milhaud, stand auch der Name von Hanns Eisler und den Vertretern der Zwölftonmusik Schönberg und Webern. Wenn die Konzerte zwar in einem eher kleinen Rahmen stattfanden – die Berliner Konzertreihe soll mit jeweils ca. 250 Zuhörern gut besucht gewesen sein –, so zeugte der „Kul73 Zit. nach Köster: Musik (wie Anm. 71), S. 543
Die Entstehung getrennter Organisationen
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turbund“ doch davon, dass zahlreiche Komponisten jetzt gewillt waren, den Neubeginn in gegenseitiger Akzeptanz und Unvoreingenommenheit zu wagen. Als 1947 angesichts der offensichtlichen Stärke des linken Flügels der „Kulturbund“ von der amerikanischen und britischen Behörde in Berlin verboten wurde, galt dies vielen als kulturelle Kriegsansage und als erste markante kulturpolitische Trennung. Obwohl sich Intellektuelle und Künstler zu der Zeit noch zwischen den Berliner Sektoren und Zonen Deutschlands hin und her bewegen und zum Teil verschiedenen beruflichen Tätigkeiten in Ost und West nachgehen konnten, gerieten sie im Rahmen des beginnenden Kalten Krieges zusehends in die Situation, sich bezüglich ihrer beruflichen Karriere und/oder ihres Wohnortes für oder gegen eines der beiden politischen und kulturellen Systeme entscheiden zu sollen. Wie sich der „Kulturbund“ in Folge endgültig zur kommunistischen Kulturinstitution entwickelte, hat ausführlich Maren Köster dargestellt.74 Nach der doppelten deutschen Staatsgründung 1949 bildete die Gründung der Akademie der Künste in Berlin-Ost im Jahre 1950 eine weitere kulturelle Grenzziehung, nachdem man zuvor auch im Westteil der Stadt Überlegungen diskutiert hatte, die frühere Preußische Akademie der Künste neu zu etablieren. Zu diesem Anlass warf der damalige Minister für Volksbildung und Jugend der DDR Paul Wandel den Westmächten vor, sie arbeiteten an einer innerdeutschen Kulturspaltung,75 ein Vorwurf, den beide Seiten bereits seit Jahren strapazierten, um die politische Ausrichtung der Kulturarbeit des je gegnerischen Systems zu beklagen. Der endgültige Gründungstermin der Akademie der Künste West sollte sich noch bis ins Jahr 1954 hinziehen. In die traditionsreiche Einrichtung der Preußischen Akademie der Künste waren stets herausragende Vertreter der verschiedenen Kunstbereiche berufen worden, Künstler und Kunstwissenschaftler aus den Gebieten von Literatur, Musik, Malerei, Bildender Kunst und Architektur, die sich die Förderung, Diskussion und Verbreitung nationaler Kunst zur Aufgabe gemacht hatten. Mit dem in Ostberlin neu gegründeten Forum wollte man diese Tradition fortsetzen, gleichzeitig aber auch gewährleisten, dass die sozialistische Kunstauffassung gebührend, wenn nicht sogar dominant vertreten sei. Daher auch zählten eine Reihe kommunistisch orientierter ehemaliger Emigranten zu ihren Gründungsvätern und in der Folge zu den aktivsten Organisatoren und Agitatoren. Waren doch inzwischen zahlreiche ehemalige Mitglieder der Kommunistischen Partei Deutschlands, die vor den Nationalsozialisten geflohen waren, nach Deutschland zurückgekehrt, viele von ihnen hatten bewusst die SBZ/DDR zu ihrer neuen Heimat gewählt, weil sie sich 74 Köster: Musik (wie Anm. 71) 75 Brief Paul Wandels vom Juli 1949, in: Stiftung Archiv der Akademie der Künste (SAdK): „Die Regierung ruft die Künstler“. Dokumente zur Gründung der „Deutschen Akademie der Künste“ (DDR) 1945–1953, ausgewählt und kommentiert von Petra Uhlmann u. Sabine Wolf, Berlin 1993, S. 87–89
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erhofften, hier zum Aufbau eines antifaschistischen, neuen sozialistischen Deutschlands beitragen zu können. Dies betraf den 1. Präsidenten der Akademie, den aus der Emigration heimkehrenden Schriftsteller Arnold Zweig ebenso wie dessen Nachfolger im Amt Johannes R. Becher. Innerhalb der Sektion Musik der Akademie galt dies auch für deren führenden Kopf Ernst Hermann Meyer, Komponist und Musikwissenschaftler, der – wie er später selbst schrieb – in den 20er Jahren eine für linkspolitische Kreise der Intellektuellenschicht typische Entwicklung genommen hatte. Er stammte aus einem „gebildeten“ Arzthaushalt mit viel musikalischer Anregung, wandte sich in der Studentenzeit der kommunistischen Partei zu, hielt in der Marxistischen Arbeiterschule in Berlin musikalische Einführungen und bildete sich selbst in marxistischer Philosophie, politischer Ökonomie und in der Geschichte der Arbeiterbewegung fort. Meyer beteiligte sich aktiv am „Arbeiter-Theater-Bund“ und in der seit 1931 bestehenden „Kampfgemeinschaft der Arbeitersänger“, einer linken Abspaltung des Arbeiter-Sänger-Bunds. Von 1931–1933 war er sogar Chefredakteur einer entsprechenden Zeitschrift „Die Kampfmusik“. Nach Hitlers Machtergreifung floh Meyer nach England, wo er sich mit einer Gruppe deutscher Antifaschisten zusammentat und zum Generalsekretär der Musiksektion des „Freien Deutschen Kulturbundes in Großbritannien“ ernennen ließ. Gleichzeitig dirigierte er Chorauftritte und komponierte, vor allem zahlreiche Arbeiterlieder. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Jahre 1948 erhielt er eine musikwissenschaftliche Professur an der Ost-Berliner Humboldt-Universität. Meyers Vorgeschichte war zu diesem Zeitpunkt bezeichnend für eine Vielzahl deutscher Emigranten, die bald nach 1933 wegen ihrer linkspolitischen Aktivitäten Deutschland verlassen mussten und auch im Ausland ihrer politischen Überzeugung gemäß gegen das faschistische Regime agitiert hatten. Dies betraf in gleicher Weise die Komponisten Georg Knepler und Nathan Notowicz, zwei Kommunisten, die beide nach 1945 eine berufliche Stellung in Ost-Berlin angeboten bekamen: Knepler als Leiter der Hochschule für Musik und Notowicz ebendort als Professor der Musikgeschichte. Zusammen mit dem zuvor als Musikkritiker in Basel tätigen Harry Goldschmidt bildeten die drei Männer ein erstes Arbeitsteam innerhalb der Akademie der Künste (1952 kam noch der emigrierte Pianist und Musikwissenschaftler Eberhard Rebling dazu), das sich einerseits darum bemühte, eine marxistische Kunstästhetik und Musikgeschichtsschreibung in Deutschland zu entwickeln, das sich andererseits aktiv an der Gestaltung der Musikpolitik und des musikalischen Lebens beteiligen wollte. Die Sektion Musik der Akademie der Künste war direkt dem Ministerrat unterstellt, doch standen auf der Liste der zur Gründungszeit vorgeschlagenen Mitglieder keineswegs nur parteitreue Kommunisten, sondern neben Hanns Eisler und E.H. Meyer auch Carl Orff, Werner Egk, Ottmar Gerster, Boris Blacher, Rudolf Wagner-Régeny. Offensichtlich versuchte man, durchaus auch Komponisten mit „ins Boot“ zu nehmen, die in der nationalsozialistischen Ära mit ihren Werken zu Ruhm gekommen waren. Die Musiksektion
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verstand sich denn auch zunächst als ein Ort relativ offener Diskussionsmöglichkeit. Gerade die ersten Jahre zeichneten sich dadurch aus, dass – freilich im Rahmen der offiziell sozialistischen Gesamtausrichtung – Gedanken ausgetauscht wurden, auf welchem Wege die Musik, Musiker und Komponisten ihren Beitrag zur Entwicklung eines humanistisch begründeten neuen Menschen und Staatsbürgers leisten könnten. Der politische Rahmen „Sozialismus“, innerhalb dessen man sich im wesentlichen zu bewegen hatte, wurde bereits frühzeitig durch eine eigene SED-Funktionärsgruppe gewährleistet, die jeweils vor den Sektionssitzungen tagte und damit ihren besonderen Einfluss in die Versammlungen einbringen konnte.
3.2 Weltanschauliche Differenzen in der „Erbepflege“ Dass das kommunistische Weltbild auch ein verändertes Musikbild zur Folge hatte, das sich von der traditionell-bürgerlichen Musikanschauung abzugrenzen bemühte, wurde 1950 eklatant bei den offiziellen Feierlichkeiten zum 200. Todestag von Bach in dessen Heimatstadt Leipzig. Neben zahlreichen Konzerten veranstaltete man dort eine Tagung, auf der Politiker, die Festtagsorganisatoren sowie zahlreiche Musikwissenschaftler Referate zur Bedeutung Bachs hielten. Veranstalter waren einesteils die in der BRD angesiedelte Gesellschaft für Musikforschung und andernteils der eigens für das Jubiläum ins Leben gerufene Deutsche Bach-Ausschuß mit dessen Präsidenten, dem Thomaskantor Prof. Günther Ramin. Eingeladen waren Redner aus Ost und West, so dass hier wohl zum ersten Mal in Deutschland sozialistisches und kapitalistisches musikhistorisches Verständnis angesichts einer relativ breiten Öffentlichkeit aufeinanderstieß.76 Während die Begrüßungsredner zunächst betonten, dass Bachs Musik „in ihrer Lebensfülle und Erdhaftigkeit“77 Schranken zwischen den Völkern überwinden könne, dass man sie daher auch als Ausdruck und Symbol der Einheit des deutschen Volkes ansehen solle und sie gleichsam als Schutzpatron für eine gegenseitige Verständigung auf der anstehenden Tagung dienen könne, gaben sie gleichzeitig der Überzeugung Ausdruck, dass sich mit Bachs Musik alles Gute, Große, Edle, Freie und Schöne verbinde. Zitate fielen wie „auf das Ewige gerichtete Tiefe“, „Wegweiser und Kraftquell“, es war von Bachs „Universalität“ die Rede und der Fähigkeit der Bach’schen Musik, „unserer Zeit zu helfen, ein Zentrum wiederzufinden, ein inneres Gleichgewicht.“78 Mit dieser 76 Fast zeitgleich organisierte die Neue Bach Gesellschaft in Göttingen ein eigenes Bach-Fest, um damit das „westliche“ Bachverständnis zu untermauern. Vgl. hierzu Toby Thacker: Music after Hitler 1945–1955, Burlington/USA 2007 77 Walther Vetter und Ernst Hermann Meyer (Hg.): Bericht über die wissenschaftliche Bachtagung der Gesellschaft für Musikforschung, Leipzig 1951, S. 12 78 Ebd. S. 12f.
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traditionell idealistischen Überhöhung ließ sich zunächst eine kunsthistorisch basierte ideelle Einheit von Ost und West herstellen. Dann aber brachte der Präsident der DDR Wilhelm Pieck die neue Unterscheidung auf den Punkt: Erst die DDR, und sie allein, könne ein wahres nationales Bachfest gestalten, da nur der sozialistisch konzipierte deutsche Staat das große Werk Bachs in seiner wahren historischen Bedeutung würdigen könne. All die Kräfte, „die bisher das wahre Bild Bachs verfälscht haben“,79 kämen in der DDR nicht mehr zum Zuge. Dann trug Pieck zusammengefasst die von E.H. Meyer im darauf folgenden Vortrag im Detail dargelegte Bach-Wertung vor: Bach sei einesteils „Vollender der Kunst der Feudalzeit“, zugleich aber auch Schöpfer einer neuen Musikentwicklung, er habe das Tor zur Klassik geöffnet. Der humanistische, fortschrittliche Inhalt des Bach’schen Werkes sei immer verschwiegen worden. „Aus seinen Werken spricht die tiefe Sehnsucht der Menschen, die einen fürchterlichen Krieg überlebt haben und keine Wiederholung des entsetzlichen Geschehens wollen. In seinen Werken ertönt der Schrei der gequälten Menschen, die sich nach Frieden und Glück sehnen. Bachs Werk ist im schönsten und wahrsten Sinne ein Werk des Friedens und der Freundschaft zwischen den Völkern.“ Es sei die Aufgabe, „diesen humanistischen Bach dem ganzen deutschen Volke zu erschließen.“80 Mit der 1. musikwissenschaftlichen Grundsatzrede der Tagung81 war E.H. Meyer als Leiter der Musikabteilung der Akademie der Künste betraut worden, an dessen Argumentation exemplarisch zu erkennen ist, in welchen Spuren des marxistischen Geschichtsbildes einerseits, in welchen Traditionen bildungsbürgerlichen Denkens andererseits die sozialistische Verehrung der „großen Deutschen“ in der sogenannten Erbepflege insgesamt verankert war. „Groß ist ein Künstler dann, wenn er durch sein Werk Wesentliches zum Fortschritt der Gesellschaft beiträgt, und zwar s e i n e r Gesellschaft, s e i n e s Volkes, [...] Was aber ist ‚Fortschritt’? Fortschritt ist die fortschreitende Befreiung der Menschen von natürlichen und gesellschaftlichen Fesseln, die fortschreitende Entfaltung der in der menschlichen Gesellschaft schlummernden materiellen und geistigen Kräfte“, so resümierte Meyer den grundsätzlichen Bezug marxistischer Kunstwissenschaft zum Künstler. Die Größe eines Komponisten hätte sich daran zu messen, wie stark sein Werk dem gesellschaftlichen Fortschritt diene. In diesem Sinne machte es sich Meyer zur Aufgabe, die gesellschaftliche Bedeutung Bachs, ganz besonders aber die vorwärtsweisenden, fortschrittlichen Elemente seiner Person und seines Werkes nachzuweisen. Er beschrieb, wie zu Bachs Lebzeiten die feudal-absolutistische Klassenherrschaft das Volk in Fesseln gehalten, wie Fürstenprasserei, Massenelend und Korruption geherrscht 79 Ebd. S. 24 80 Ebd. S. 25 81 Ebd. S. 28–47
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hätten, wie aber mit der zunehmenden wirtschaftlichen Bedeutung des städtischen Bürgertums langsam eine Generation selbstbewusster, historisch progressiver Menschen entstanden sei, die bestrebt war, die feudalen Abhängigkeiten zu überwinden. Wie außerdem das Bürgertum für die Wahrnehmung seiner Interessen die nationale Zusammenfassung größerer Volks- und Landesteile benötigt habe. Mit der geistigen Waffe der Aufklärung hätten diese Bürger die Befreiung des Individuums durch selbständiges Denken und durch wissenschaftliche Erkenntnis betrieben. In dieser neuen, nach marxistischem Geschichtsverständnis als dialektischer Sprung zu begreifenden Stufe historischen Fortschritts habe Bach eine Janus-köpfige Position eingenommen: Einerseits sei er im Feudalismus verhaftet, andererseits der beginnenden Aufklärung zugetan. Meyer verwahrte sich vehement gegen bürgerliche Deutungen, die Bachs Kompositionen als einen „Hort der Mystik und Weltflucht“ interpretieren wollten. Denn es gelte zu berücksichtigen, dass sich geistige Auseinandersetzungen – der Zeit entsprechend – meist in religiösem Gewande abspielten, doch dürfe man deshalb Bach nicht zu einem rein kirchlichen Musiker abstempeln. Sein Werk strahle den Geist der Aufklärung aus, den der „Erhöhung des Wertes der Persönlichkeit“. Dieses aufklärerische Denken fände sich bei Bach in vielerlei Hinsicht widergespiegelt: 1. in einer „unerhörten Vertiefung und Ausweitung des Gefühlslebens bei gleichzeitiger Vermenschlichung der musikalischen Sprache.“ Bach lege das Bibelwort in vertieftem, vermenschlichtem Sinne aus. Wenn er von Christi Leiden spreche, so schildere er den leidenden Menschen überhaupt, „das Leiden des einfachen Menschen seiner Zeit und seines Volkes“, Gefühlsinhalte wie Freude, Liebe, Hoffnung gestalte er mit besonderer Tiefe und Innerlichkeit. Bachs Tonmalerei (spielende Wellen, Tierlaute usw.) sei „kein leerer tonmalerischer Schemen, sondern er drückt durch sie die Freude des Menschen an der Schönheit der Natur aus, gleichzeitig sein souveränes Machtgefühl an der wachsenden Beherrschung von Naturelementen.“ Diese vertiefte Gefühlsschilderung sei wahrhaft humane musikalische Symbolik. Sie stelle auch in Bachs kirchlichen Werken ein „Element der Menschlichkeit und Diesseitigkeit“ dar. Der neue vermenschlichte Inhalt zeige die historisch fortschrittliche Tendenz, „denn das Bürgertum brauchte eine immer stärkere Befreiung menschlichen Fühlens und Empfindens von feudal-höfischen Bindungen.“ 2. Als weitere Manifestation des Aufklärertums bei Bach nennt Meyer „die Ausweitung des Gedanklichen“. Der geistige Reichtum spiegele sich in der Vielfalt musikalischer Kombinationen, der Ideenfülle, in der gestalterischen Dramatik, in den groß angelegten Formen und neuen Klangwirkungen. Damit habe Bach etwas Beispielloses und völlig Neues geschaffen, da er gedanklichen Unternehmungsgeist mit wissenschaflicher Durchdringung der Tonmaterie verbunden habe. In diesem Sinne sei Bach ein echter Aufklärer, denn er verkünde „gemeinsam mit den fortschrittlichen Vertretern der Naturwissenschaft und Philosophie“ den fortschrittlichen Geist der Zukunft, die Vormacht des forschenden Denkens über das Dogma.
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Die Bewunderung für Bachs historisch fortschrittliche Position stellte Meyer zusätzlich in den Zusammenhang nationaler Identifikation. Bach sei der „Stolz jedes Deutschen“, trotz der derzeit fehlenden nationalen Einheit habe er sich doch als „ein Künstler des gesamten Deutschland“ erwiesen, da er die eher süddeutschen affektgeladenen Melodien ebenso wie die Formbetontheit der norddeutschen Vorgänger in seinem Werk vereinigt habe. Bach als Verkörperung des Guten der deutschen Nation war der eine Ansatz zur nationalen Glorifizierung, eine zusätzliche Argumentation dafür holte sich Meyer aus Bachs angeblicher Hinwendung zum Volkstum. Bach habe durch seinen häufigen Gebrauch von Liedmelodien, Volkstänzen und Chorälen seine wahre Verbundenheit mit dem einfachen Volke zum Ausdruck gebracht, für ihn sei „seine Bindung als deutscher Künstler an sein eigenes Volk“ zentral gewesen. Ebenso sei seine Polyphonie „eine uralte deutsche Technik.“ Resumierend vereinte Meyer die zwei von ihm herausgearbeiteten Facetten für Bachs Größe – seine historisch aufgeklärte Fortschrittlichkeit und seine nationale Bedeutung – zu einem heroischen Gesamtbild eines Komponisten, dessen Werk mit seiner „Menschlichkeit, der Liebe, der Schönheit und der Erkenntnis der Wahrheit“ der deutschen Nation den Weg zur Einheit, zur Demokratie und zum Frieden weisen könne. In Meyers Rede finden sich gebündelt all jene Kriterien, die von nun an die „Erbepflege“ in der DDR bestimmen sollten. 1. Sie galt all jenen Komponisten, die auch zuvor vom Bildungsbürgertum als Genies bezeichnet worden waren, 2. man schrieb den Musikern jetzt eine jeweils in ihrem historischen Kontext fortschrittliche Rolle zu und 3. man nutzte die Komponisten und ihre Werke zur Ausbildung einer nationalen Identität. Alle drei Eckpunkte wurden überspannt von der grundsätzlich idealistischen, traditionsreichen Auffassung, dass „klassische“ Musik einen wesentlichen Beitrag zur Persönlichkeitsbildung des Einzelnen und damit einen positiven Einfluss auf das gesamte Staatsgefüge habe. Nach Meyers programmatischer Rede erhielten mehrere Professoren aus der BRD das Wort. Zunächst sprach der Freiburger Prof. der Musikwissenschaft Wilibald Gurlitt.82 Gurlitt hatte in Publikationen aus der Zeit des „Dritten Reiches“ deutlich in nationalsozialistischem und rassistischem Sinne Stellung bezogen. Er zog sich jetzt auf den vermeintlich sicheren, unpolitischen Standpunkt zurück und betonte, dass Bachs Musik allein auf dem „Kulturboden“ des deutschen Luthertums zu verstehen sei. Gurlitt erörterte die christliche Sinndeutung: 82 Ebd. S. 48–80
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„Für Johann Sebastian Bach jedenfalls gründet Sinn und Sendung aller Musik, nicht etwa nur der Kirchenmusik, sondern aller geistlichen und weltlichen Sing- und Spielmusik in Gott, dem Schöpfer, nicht im Menschen, dem Geschöpf. Sie hat deshalb keinen anthropologischen, sondern einen streng theologischen Sinn. Bach erkennt das Wesen von Musik und Musizieren nicht vom Säkulum, vom Weltlichen und Zeitlichen, sondern vom Überweltlichen und Überzeitlichen her. So sucht die ‚eigentliche’ Musik nicht die Ehre der Welt und der Zeit, sondern die Ehre Gottes, und zwar, wie Bach ausdrücklich sagt, ganz allein nur sie ...“
Mit dieser rein religiösen Interpretation Bachs polarisierte Gurlitt die Diskussion und gab sich gegenüber den marxistischen Rednern mit der Betonung des „Überweltlichen“ und „Überzeitlichen“ als zutiefst „bürgerlicher“ Musikwissenschaftler zu erkennen. Er erhielt auch umgehend vom Moskauer Professor W.N. Chubow83 eine brüske Zurückweisung. Bach habe seiner Zeit entsprechend keine andere Wahl als die der „religiösen Gewandung“ gehabt, doch habe er jeder Mystik ferngestanden. Die traditionellen christlichen Symbole habe Bach nur genutzt, um „im Endlichen das Unendliche aufzudecken, [...] das Allgemeine durch äußerlich, gefühlsmäßig Konkretes auszudrücken.“ Darüber hinaus betonte auch Chubow wieder den nationalen Anteil Bachs, der sich im Gebrauch des Volksliedes zeige. „Und so waren die von einem gesunden plebejischen Geist durchdrungenen Schöpfungen Bachs ideell auf die Bestätigung des nationalen Selbstbewußtseins des deutschen Volkes gerichtet.“ Die zwei folgenden Redner, beide Professoren der Musikwissenschaft, die trotz nationalsozialistischer Affinität einen Lehrstuhl in der DDR erhalten hatten, ließen sich auf die vorgetragenen Sichtweisen sozialistischer Musikgeschichtsschreibung kaum ein, sondern rekurrierten auf die Inhalte „bürgerlicher“ Musikwissenschaft der vergangenen Jahrzehnte. Heinrich Besseler ( Jena)84 und Walther Vetter (Berlin-Ost)85 bezogen sich im Wesentlichen auf Bachs Gefühlswelt und Empfindungstiefe, berührten auch die These der Mittlerfunktion Bachs von Tradition und Neubeginn, Bach habe nicht nur die musikalische Periode des Barock zum krönenden Abschluss gebracht, sondern er habe mit seinen musikalischen Innovationen den Anstoß für den Beginn einer neuen Zeit gegeben. W. Vetter, der 1938 bei Besprechung des Bach’schen Weihnachtsoratoriums dem Komponisten noch „sein deutsch-weihnachtliches, nordisch-germanisches Empfinden“86 bescheinigt hatte, sprach jetzt über „Bachs Universalität“, mahnte wohl hinsichtlich der Rede Meyers an, man möge „die Kirche im Dorfe lassen“ und Bach nicht zu einem „wissenschaftlichen Kopf “ erklären, erkannte die Universalität Bach’schen Geistes in seiner „seelischen Erfahrungs- und geistigen Erlebnisfähigkeit“, die die polaren Gefühlssphären von Schmerz, von Frömmigkeit, Lebensfreude und Weltzugekehrtheit miteinander habe 83 84 85 86
Ebd. S. 81–107 Ebd. S. 108–130 Ebd. S. 131–157 Walther Vetter: Johann Sebastian Bach, Leipzig 1938, S. 91
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verbinden können. Seine Ausführungen lagen insgesamt auf der Linie traditioneller Geschichtsschreibung, entsprechend hob er in bewährter idealistischer Denkweise hervor, dass es „dem Meister in jedem Falle und grundsätzlich darum zu tun ist, h i n t e r die Dinge zu leuchten, um ihr wahres Wesen aufzudecken“. In der Abschlussdiskussion der Tagung fasste E.H. Meyer präzise zusammen, in welchen Positionen sich die Musikwissenschaftler aus West und Ost einig waren und in welchen Punkten sie sich voneinander abgrenzten. Einig war man sich a) in der vorwärtsgerichteten Haltung Bachs und seiner Bedeutung für die musikalische Entwicklung, b) in der Lebens- und Volksverbundenheit Bachs, besonders durch die Verwendung von Volksliedern, c) in Bachs „nationbildender Kraft“. Man unterschied sich hingegen in der Frage, ob Bach eher als Kirchenmusiker zu verstehen und seine Werke nur religiös, im „mystischen, gotischen Halbdunkel“ zu begreifen seien, oder ob ihm eine Verweltlichung und Vermenschlichung der Kirchenmusik im aufgeklärten Sinne gelungen sei, die man damit als Ausdruck gesellschaftlichen Fortschritts zu deuten habe. Die Differenzen zwischen Ost- und West-Wissenschaftlern bezüglich der historischen Einordnung Bachs und seiner Bedeutung für die Gegenwart waren im Jahre 1950 so groß noch nicht, wenn man einmal das Maß an Übereinstimmung betrachtet. Dies war umso verständlicher, als alle Professoren aus den gleichen musikwissenschaftlichen Schulen mit ähnlichem musikanschaulichem Fundus hervorgegangen waren und selbstredend im Rahmen der verbreiteten bürgerlichen Musikästhetik aufgewachsen waren. Daher war der Aspekt der vorwärtsgerichteten Haltung Bachs und seiner fortschrittlichen Stellung in der Musikhistoriographie prinzipiell kein neuer Aspekt, denn die Bewunderung für die „aufgeklärten“ Anteile der Musik Bachs war im Schrifttum bereits verbreitet. In einschlägigen Bach-Biographien der vorangehenden Musikwissenschaft war die Mittelstellung Bachs zwischen zwei historischen Epochen thematisiert worden. Bach habe die Fesseln tradierter Schreibweise nicht abgelegt, aber sie so weit geöffnet und weiterentwickelt, dass man sie als eine neue Art individueller Freiheit im aufgeklärten Sinne interpretierte. Bach galt als Repräsentant eines m u s i k a l i s c h e n Fortschritts, den man in den größeren Zusammenhang aufgeklärten, geistigen Fortschritts stellte. Dass man Bachs „vorwärtsgerichtete Haltung“ in der Musikgeschichtsschreibung als ein zentrales künstlerisches Qualitätskriterium herausstellte, entsprang der eingangs dargestellten, im 19. Jahrhundert sich entwickelnden Fortschrittsideologie, die die Innovation, das jeweils Neue zur Voraussetzung musikalischer Qualität erhob. Insofern konnte E. H. Meyer mit der Einstufung Bachs als Komponist des Fortschritts auf die überkommene Forschung zurückgreifen. Neu an seinem Ansatz war die Einordnung Bachs in die
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Sichtweise des historischen Materialismus, der die Entwicklung der Menschheit als notwendige Fortschrittsetappen auf dem Weg zum Sozialismus hin interpretierte. Bach als Repräsentant und Motor historisch notwendigen, g e s e l l s c h a f t l i c h e n Fortschritts zu sehen, stellte einen der wesentlichen Unterscheidungsmerkmale zur konventionellen Musikpublizistik dar. Fast gänzlich einig waren sich die Vertreter aus Ost und West bei der Bach-Tagung jedoch bezüglich der nationalen Bedeutung des Komponisten. Sie befanden sich damit in scheint’s unreflektierter Kontinuität zur Bach-Rezeption der vergangenen 100 Jahre, denn seither war die Genialität der Person Bach und seines Werkes bevorzugt mit dem nationalen Anliegen kombiniert worden. Seit Gründung der Bach-Gesellschaft 1851, bei der der Kaiser von Österreich, der König von Preußen sowie zahlreiche deutsche Fürsten Ehrenmitglieder waren, und ihrer Herausgabe der Bach-Gesamtausgabe, die im Vorwort als „Ehrenschuld der Nation“ angekündigt wurde, hatte sich die Verehrung Bachs als spezifisch deutsches Genie auch während der Weimarer Zeit kontinuierlich gesteigert, zuletzt galt Bach im „Dritten Reich“ unangefochten als nationales Symbol deutsch-stämmiger Genialität. Zum 250. Geburtstag Bachs eröffnete man 1935 eine gigantische Ausstellung in Berlin, Hitler saß beim „Reichs-Bachfest“ in Leipzig persönlich in der Loge, um „den Deutschesten der Deutschen“ mit seiner Anwesenheit zu würdigen. Es ist bemerkenswert, dass auch Meyer angesichts der national-nationalistischen Geschichte deutscher Bachverehrung als Vertreter sozialistischer Geschichtsbetrachtung trotz seiner kritischen Einstellung zum Nationalsozialismus einen Zusammenhang von Geniestolz und Nationalismus nicht reflektierte, sondern im Gegenteil in althergebrachter Weise das nationale Wir-Gefühl wieder anzufeuern sich bemühte, ein Wir-Gefühl, das jetzt freilich zum Aufbau eines besseren, eines sozialistischen Staates dienen sollte. Bachs angebliche Stellung als nationalbildende Kraft war das Konstrukt einer nationalistischen Grundanschauung, die alles vermeintlich Positive innerhalb der Nation als Nachweis ihrer besonderen Leistungsfähigkeit und Stärke interpretierte und als wichtiges Moment der nationalen Identitätsfindung einsetzte. Was ein Deutscher schuf, wurde zu dem Deutschen verallgemeinert, somit hatte jeder Deutsche Teil an der Genialität des Einzelnen. Dass Bach tatsächlich als Vorbild für jeden Deutschen zu gelten habe, versuchte man mit der Argumentation der Volksverbundenheit des Komponisten zu belegen, die sich darin manifestieren würde, dass er Lieder „aus dem Volke“ in seine Werke integriert hätte. Der besonders von völkischen Schriftstellern strapazierte Beweisgang, Bach hätte seine Musik fürs „Volk“ geschrieben, entbehrt aus heutiger Sicht jeder historischen Realität. Dass Bach durch die Verwendung von Volksmelodien besonders in seinen Chorälen bewusst habe beitragen wollen, mit den Kompositionen alle Schichten der Bevölkerung zu erreichen, gehörte auch nach 1945 noch lange zum festen Grundstein musikologischer Überzeugung in Ost und West. Abgesehen von jeglicher historischen Deutung negierte man das Faktum, dass ausgerechnet Bach zu den Komponisten zählt, dessen Werk in der
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Vergangenheit wie in der Gegenwart fast ausschließlich von der gehobenen Bildungsschicht mit Genuss gehört wurde und gehört wird.87 Wenn man in der Enzyklopädie „Musik in Geschichte und Gegenwart“ im Artikel zu J.S. Bach, geschrieben 1949 von dem im Westen damals angesehenen Musikwissenschaftler Friedrich Blume, von einer „geschichtlichen Sendung“ Bachs lesen kann, von seiner geschichtlichen Mittelstellung zur Zeit der „Weltenwende des europäischen Geistes, sein Werk ist genährt von der Vergangenheit und speist die Zukunft“, dann lässt sich erahnen, dass das meiste von dem, was man in der DDR von nun an als „Erbepflege“ propagieren sollte, auf gesamtdeutschen Wurzeln fußte und nicht weit von dem entfernt war, was ebenso in der BRD mit der idealisierenden Darstellung der großen Komponisten weiterhin betrieben wurde.
Zusammenfassung Die musikpolitische Diskussion der ersten Nachkriegsjahre, die in Gremien wie dem neu gegründeten „Kulturbund“ stattfand, spiegelt die allgemein politische Situation wieder, die darin bestand, dass der Konflikt zwischen dem „rechten“ bürgerlichen und dem „linken“ sozialistisch-kommunistischen Lager, der die Zeit der Weimarer Republik wesentlich bestimmt hatte, der aber durch die nationalsozialistische Ära erstickt worden war, jetzt wieder neu innerhalb von Teilen der deutschen Bevölkerung ausgetragen wurde. Zahlreiche kommunistische Emigranten waren nach 1945 wieder in ihre Heimat zurückgekehrt mit der Hoffnung und dem Anspruch, ihren Teil dazu beizutragen, aus dem zusammengebrochenen faschistischen Staat ein neues sozialistisch-demokratisches Deutschland ohne Unterdrückung und Ausbeutung entstehen zu lassen. Der anfängliche Versuch, in gegenseitiger Toleranz einen musikpolitischen Konsens zu erreichen, wurde bald von den Realitäten des Kalten Krieges und der Staatengründung von BRD und DDR aus den Angeln gehoben. Dass die zwei unterschiedlichen Gesellschaftssysteme auch eine unterschiedliche Bewertung der Musikgeschichte und ihrer „großen Deutschen“ zur Folge hatten, wurde auf dem Bachfest und der dazugehörigen Bachtagung anlässlich von Bachs 200. Todestag im Jahre 1950 in Leipzig anfänglich deutlich. In den Reden und Vorträgen imponierte zwar in vielen Punkten eine breite Übereinstimmung, denn die in der DDR als „Erbepflege“ bezeichnete Bewunderung gegenüber berühmten deutschen Komponisten war von der entsprechenden Verehrung in der BRD nicht weit entfernt. In West wie Ost bescheinigte 87 Vgl. z.B. Helga de la Motte-Haber: Handbuch der Musikpsychologie, Laaber 1985 und Helmut Rösing: Musikalische Lebenswelten, in: Herbert Bruhn u. Helmut Rösing (Hg.): Musikwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbeck 1998, S. 130–152
Zusammenfassung
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man den Komponisten eine in ihrem historischen Kontext gesehen fortschrittliche Rolle und betonte ihre positive Bedeutung für die Nation, indem nationale Eigenheiten des Stils und/oder der Verwendung von Liedmelodien „aus dem Volke“ zum Nachweis der nationalen Nähe und Zugewandtheit der Komponisten gegenüber „dem Volk“ herausgehoben wurden. Insgesamt gab es auch keine Differenz in der grundsätzlichen idealistischen Auffassung, dass die Werke der Kunstmusik einen wesentlichen Beitrag zur Persönlichkeitsbildung, wenn nicht gar zur Ausformung des Staatsgefüges hätten. Die entscheidende Trennungslinie zwischen östlicher und westlicher Kunstauffassung bezog sich auf die historische Stellung der Komponisten im Zusammenhang der jeweiligen Geschichtsauffassung. Marxistische Musikwissenschaftler betonten, dass sich die Größe eines Komponisten an seiner Rolle und an seinem Beitrag zum – nach marxistischem Geschichtsverständnis – gesellschaftlichen Fortschritt zu messen habe. Diese Ansicht bewegte sich außerhalb der Vorstellung „bürgerlicher“ Musiker und Musikwissenschaftler, denen Musik stets nur als Ausdruck geistigen und musikalischen Fortschritts gelten konnte.
4. Die gespaltene Neue Musik: 2 Wirtschaftssysteme – Zwei Denksysteme
Mit der Gründung der zwei staatlichen Einheiten BRD und DDR im Jahre 1949 ging die Phase des zuvor relativ offenen Austauschs zwischen den unterschiedlichen – wenn auch von den Siegermächten dirigierten und beaufsichtigten – politischen und weltanschaulichen Richtungen ihrem Ende entgegen. Waren auf der diskutierten Bachtagung von 1950 bereits erste Grenzen einer gegenseitigen Verständigungsmöglichkeit und –bereitschaft sichtbar, so sollten sich unter den Bedingungen des Kalten Krieges beide Seiten noch weit mehr voneinander entfernen. Man widmete sich dem Aufbau des Feindbildes, weniger der wechselseitigen Verständigung. Bekannte Protagonisten für die sich verhärtenden Fronten im politischen Informationsbereich waren die beiden Fernsehmoderatoren Karl Eduard von Schnitzler (Ost) und Gerhard Löwenthal (West) mit ihrer polemischen Kontrapropaganda in den Fernsehsendungen „Der schwarze Kanal“ und „ZDF-Magazin“. Dem entsprach musikalischerseits, dass im Westen die kunstästhetischen Ansätze des sogenannten „Sozialistischen Realismus“, wenn überhaupt, dann nur diffamierend, zur Kenntnis genommen wurden, im Osten unterließ es kaum ein Redner oder Autor, bei passender Gelegenheit gegen die bürgerliche, dekadente Kunstauffassung des Westens zu Felde zu ziehen. Die Ablehnung des in der BRD und West-Berlin als Bedrohung erlebten kommunistischen Systems implizierte die weitestgehende Abschottung gegenüber einer neuen, daher zumindest interessanten Sichtweise des Zusammenhangs von Musik und Gesellschaft, wie sie im Gewande der Theorie des „Sozialistischen Realismus“ in der DDR zum Tragen kam. Sie hätte nicht zuletzt das Interesse westlicher Musikästhetik wecken können, weil sie viele Fragen an die „bürgerliche“ Musikauffassung implizierte, die bislang tabuisiert worden waren. Erst im Zuge der 68er-Studentenbewegung sollte auch im Westen die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion und Relevanz von Musik aufgeworfen werden.
4.1 Musik fürs Volk im Sozialismus Verständlichkeit und Volksnähe Die theoretische Erörterung um den Stellenwert der Musik im kommunistischen System begann bereits in den 20er Jahren in der Sowjetunion, als Künstler aller Kunstbereiche, vor allem auch Literaten, sich bemühten, das Konzept einer sozialistischen Kunst zu entwickeln, die ihren Anteil am Aufbau einer neuen, sozialistischen Ordnung hätte.
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Bis ca. 1928 gab es zahlreiche künstlerische Experimente, die vom Arbeiterlied über das Agitprop-Musiktheater bis zur Erprobung der Stilmittel westlicher Avantgarde reichten, doch derlei Freiheiten wurden bald beschnitten. 1932 verbot man in der UdSSR alle Künstlervereinigungen und ersetzte sie durch eine obligatorische Mitgliedschaft im Künstlerverband. Viele Künstler wurden des Formalismus bezichtigt, es folgte eine Welle von Verhaftungen. Auf dem 1. Unionskongress der Sowjetschriftsteller von 1934 hielt der damals führende Kunstideologe Stalins Andrej Shdanov eine viel beachtete Rede, in der er den Begriff des „sozialistischen Realismus“ prägte und präzisierte. In den folgenden Jahren etablierte sich diese Kunstauffassung als staatliche Doktrin und sollte von nun an zur Richtschnur sozialistischer Kulturpolitik werden. Auch die DDR übernahm und propagierte die Realismus-Theorie, wobei sich Künstler und Kunstwissenschaftler besonders auf eine Rede Shdanovs von 1948 bezogen, wo er vor Vertretern der Musik im ZK der KPdSU ausführlich seine Auffassung des sozialistischen Realismus darlegte. In seinem Vortrag nahm Shdanov die kurz zuvor in der Sowjetunion aufgeführte Oper „Die große Freundschaft“ von Vano Muradeli zum Anlass, gegen das, was er als „Formalismus“ bezeichnete, zu Felde zu ziehen. Nicht nur Muradeli, sondern auch die Komponisten Shostakovich, Prokofjew, Mjaskowski, Chatschaturian, Kabalewski u.a. hätten sich als Formalisten erwiesen, und man wolle ihren Einfluss nicht länger dulden. Die Erwartung, dass sie den sozialistischen fortschrittlichen Weg einschlagen würden, sei enttäuscht worden, ihre musikalische Richtung sei „von Grund auf falsch“.88 Shdanov warf der formalistischen Richtung die Abkehr vom klassischen Erbe und von der Volkstümlichkeit vor. Beides manifestiere sich in der Auflösung der Melodie, in disharmonischen und geräuschvollen Improvisationen, in der „chaotischen Anhäufung von schrillen Tonverbindungen“, in „kakophonischen Interventionen [...], die die Nerven des Hörers erregen und auf sein Gemüt heftig wirke,“89 gleichzeitig gehe man in keiner Weise auf das nationale Volksliedgut ein. Die großen russischen Komponisten Glinka, Tschaikowsky, Rimski-Korsakov und Mussorgski hätten in ihren Werken den Geist des Volkes erfasst und seinen Charakter widergespiegelt. Die Ignorierung der „Schöpferkraft“ des Volkes sei demgegenüber ein Beweis für „den ausgesprochen volksfeindlichen Charakter“ der Formalisten. Shdanov zitierte dann zustimmend eine Rezension über Shostakovichs Oper „Lady Macbeth von Mzensk“, in der sogar die „nervöse, verkrampfte, fallsüchtige Musik des Jazz“ entlehnt und den Zuschauern gröbster Naturalismus vorgesetzt worden sei. „ ... das alles ist grob, primitiv, vulgär [...] Die Musik ächzt und stöhnt, keucht und gerät außer Atem, um die Liebesszenen möglichst natürlich darzustellen. Und die ‚Liebe’ wird in der Oper in der vulgärsten Weise breitgetreten...“, die
88 Andrej Shdanov: Über Kunst und Wissenschaft, Berlin 1951, S. 60 89 Ebd. S. 47
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Oper sei nur für Ästheten und Formalisten genießbar, „die ihren gesunden Geschmack verloren haben.“90 Durch Shdanovs Kritik zieht sich als roter Faden die Forderung nach einer Musik, die in ihrer Anbindung an die kulturellen Traditionen sowohl der nationalen Kunstmusik als auch der Volksmusik auf allgemeine Verständlichkeit zu zielen habe. Der sozialistische Komponist dürfe sich nicht vom Volke lösen, sondern solle aus der Quelle des reichen Volksschaffens schöpfen und für das Volk komponieren. „Wenn ich, sei ich nun Schriftsteller, Maler, Literat oder Parteiarbeiter, nicht darauf rechne, daß meine Zeitgenossen mich verstehen, für wen lebe und arbeite ich dann? Das führt doch in ein geistiges Vakuum, in eine Sackgasse.“91 Auch ein Internationalismus in der Musik, die Achtung vor den Schöpfungen anderer Völker könne sich nur auf der Grundlage einer reichen, entwickelten nationalen Musik entfalten, ansonsten werde man zu einem „heimatlosen Kosmopoliten.“ 92 „Das Volk bewertet ein Musikwerk danach, in welchem Maße es den Geist unserer Epoche, den Geist unseres Volkes wiedergibt und wieweit es den breiten Massen verständlich ist. Was ist denn das Geniale in der Musik? Durchaus nicht, was nur irgendein einzelner oder eine kleine Gruppe ästhetisierender Gourmands zu schätzen weiß. Ein Musikwerk ist um so genialer, je gehaltvoller und tiefer es ist, je größer seine Meisterschaft ist, je zahlreicher die Menschen sind, von denen es anerkannt wird, je größer die Zahl der Menschen ist, die es begeistern kann. Nicht alles leicht Verständliche ist genial, aber alles wahrhaft Geniale ist verständlich, und es ist um so genialer, je verständlicher es für die breiten Volksmassen ist.“93
Shdanovs Ausführungen sollten zur Grundlage einer weitestgehend nicht mehr anfechtbaren Doktrin der kunstästhetischen Debatten auch in der DDR werden. Hanns Eisler wurde neben E.H. Meyer zu einem ihrer herausragenden Verteidiger. In eben dem Jahr der Shdanov-Rede (1948) setzte sich Eisler auf dem 2. Internationalen Kongreß der Komponisten und Musikkritiker in Prag als Mitglied des Präsidiums dafür ein, dass ein im wesentlichen von seiner Hand verfasstes Manifest von den Teilnehmern zustimmend angenommen wurde. Darin beschrieb er den gegenwärtigen Gegensatz zwischen sogenannter ernster Musik und Unterhaltungsmusik als Ausdruck einer Musikkrise, deren Überwindung ihm möglich schien, wenn „1. die Musik der Ausdruck der großen neuen fortschrittlichen Ideen und Empfindungen der Volksmassen wird; wenn
90 91 92 93
Ebd. S. 52f. Ebd. S. 63 Ebd. S. 67 Ebd. S. 72
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2. die Künstler in ihren Werken sich tiefer verbinden mit der nationalen Kultur ihres Landes und sie verteidigen gegen die Nivellierungstendenzen. Die echte Internationalität der Musik ergibt sich nur aus der Ausbildung ihres Nationalcharakters; wenn 3. die Komponisten aus ihrer Isolierung ausbrechen und ihren Weg zu der heutigen Realität finden. Die Aufmerksamkeit der Komponisten muß daher auch auf musikalische Formen gelenkt werden, die solches ermöglichen, insbesondere die vokalen Formen, wie Opern, Oratorien, Kantaten, Chöre, Lieder; wenn 4. alle Musikschaffenden, Kritiker und Musikwissenschaftler an der Überwindung des Musikanalphabetismus und an der musikalischen Erziehung der breiten Massen p r a k t i s c h arbeiten werden. Im allgemeinen können wir sagen: erstrebenswert wäre ein Stil, der höchste Kunstfertigkeit, Originalität und hohe Qualität mit der größten Volkstümlichkeit verbinden kann....“94
Ähnlich wie Shdanov propagierte Eisler hier den volkstümlichen, der musikalischen Eigenart jedes Volkes entnommenen Stil in Kombination mit einer Erziehung der Massen zu deren Empfänglichkeit. Mit der Forderung nach Volksnähe sollten sich Künstler und Musikwissenschaftler bis zum Ende der DDR mal mehr mal weniger „herumschlagen“. Eine Musik, die per definitionem als Kunstmusik in ihrer geschichtlichen Entwicklung an die oberen Gesellschaftsschichten gebunden gewesen war, nun zum „Eigentum“ des ganzen Volkes zu erklären, erforderte ihre Verständlichmachung für breite Bevölkerungskreise. Das betraf nicht nur eine Hör- und Hörerbildung bezüglich der traditionellen Musik, sondern auch und gerade für die lebenden Komponisten stellte dies eine große Herausforderung dar. Sich auf alten, bekannten und daher auf allgemein verständlichen Gleisen zu bewegen, konnte für sie leicht den Vorwurf mangelnder Experimentierfreudigkeit nach sich ziehen, neue Wege – und das musste ja heißen: Veränderung von traditionellen Kompositionsweisen in Melodie, Rhythmus und Harmonie – stießen nicht nur in der breiten Öffentlichkeit, sondern selbst bei Experten auf Verständnisprobleme. Hanns Eisler hatte sich schon seit den 30er Jahren an der Entwicklung einer marxistischen Musikästhetik beteiligt, wobei die Frage nach der musikalischen Erreichbarkeit der Massen eine zentrale Rolle für ihn spielte. Er argumentierte, dass das musikalische Bewusstsein der werktätigen Massen im Spätkapitalismus nicht nur nicht ausgebildet, sondern von der Unterhaltungsindustrie regelrecht v e r bildet worden sei, wie demgegenüber sich die bürgerlichen Komponisten mit ihren am Materialstand gemessen fortschrittlichen Neuerungen in die gesellschaftliche Isolation hineinmanövriert hätten. 1949 hielt Eisler im Auditorium Maximum der Berliner Universität einen Vortrag über die gegen-
94 Eisler: Musik und Politik (wie Anm. 29), hier Bd. 2, S. 27
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wärtige Situation der Musik,95 die er als Krise bezeichnete. Es herrsche eine Diskrepanz zwischen den Erwartungen der breiten Masse von Hörerinnen und Hörern gegenüber den Tendenzen der Komponisten der Gegenwart, sich immer schwieriger, fremder und unverständlicher auszudrücken. Er fasste die Argumentation der Durchschnittshörer sehr anschaulich in den folgenden Vorwürfen zusammen. „Um nun möglichst konkret zu sein, möchte ich einige typische Vorwürfe der Hörer an die modernen Komponisten formulieren. Warum, so müßten sie fragen, diese maßlose Sucht zum Experimentieren? Warum diese Neuerungssucht, die uns langweilt; denn deine Neuerungen sind abstrakt, für uns nicht genießbar, denn du schreibst Neuerungen nur des Neuen wegen? Warum diese Kompliziertheit? Wo ist die Melodie, dieses uns so liebe Phänomen, ohne das wir in der Musik nicht recht auskommen können? Warum ist deine Musik so lang und andererseits wieder so kurz? Warum kann ich mich an deine Musik nicht erinnern, wenn ich sie gehört habe? Warum schockiert sie mich, ängstigt sie mich? Wen willst du ausdrücken, dich selbst oder uns, und wenn du dich selbst ausdrückst, bist du so fern von uns, etwas so Eingetümliches, das wert ist, ausgedrückt zu werden? Wenn ein Dummkopf sich ausdrücken will, drückt er nicht die Dummheit aus? Kann man nicht auch die raffinierteste Form der Dummheit als Dummheit erkennen? Kann nicht das Aparteste, Neuartigste schwachsinnig, kann nicht das eher Vulgäre tiefsinnig sein?“96
Eisler ging auf die Vorwürfe ein. Er beschrieb, dass Wohllaut und Melodisches konventionalisierte historische Kategorien seien, die keineswegs „natürlich“ und als Urgegebenheit des Materials, sondern als Ergebnis historischer Praxis zu verstehen seien. Trotzdem wolle auch er den Wunsch nach der Melodie nicht ausmerzen, sondern er wolle den melodischen Einfall aus den konventionellen Klischees und Konventionen weiterentwickeln. Warum aber, so fragte er dann rhetorisch, solle man sich überhaupt von Klischees und Konventionen befreien? Seine Antwort: Die traditionelle musikalische Sprache sei an eine Vielzahl von Assoziationen gekoppelt, die der heutigen sozial-gesellschaftlichen Realität unangemessen wären, wenn nicht gar schädlich seien. Als Beispiele nannte Eisler den 4/4-Takt, der bei Betonung auf den „guten“ Taktteilen etwas Militärisches oder Triumphales suggerieren würde, wohingegen der ¾-Takt eine „durch nichts gerechtfertigte schäbige Art der Lebensfreude“ provozieren würde. Ebenso wecke auch das sogenannte Volkslied, das in den industrialisierten kapitalistischen Ländern gar nicht mehr als ein Lebendiges existiere, Assoziationen mit einer gewissen Naivität, man verbinde damit „eine gewisse Gefühlsduselei, eine durch nichts berechtigte Spielfreude, auch Sitten und Gebräuche, wie sie unserem modernen Leben nicht leicht entsprechen.“ Unter wahrer Volkstümlichkeit wollte Eisler hingegen eine Musik verstanden wissen, die sich an die Arbeiterschaft als an die fortschrittlichste Schicht der Menschen wendet. Zu der Frage, mit 95 Ebd. Bd. 2, S. 51–78 96 Ebd. S. 55
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welcher Art von Musik man die Arbeiterschaft am ehesten erreichen könne, konzedierte Eisler, dass sich Volkstümlichkeit am ehesten auf dem Gebiet der angewandten Musik, kaum dagegen im rein symphonischen oder gar kammermusikalischen Bereich erzielen lasse. Dabei solle der Komponist von seinem „traditionellen Hochmut“ herabsteigen, der an die Vorstellung autonomer Kunst gekoppelt sei, und sich nicht zu fein sein, seine Kunst auch an praktischen Anlässen und konkreten Inhalten zu zeigen. Die Hörer könnten also von den Komponisten ein gewisses Maß an allgemeiner musikalischer Verständlichkeit fordern, andererseits dürften auch die Komponisten Forderungen an ihre Hörer stellen. „Es muß dem Hörer vor allem klar sein, daß wir im Musik-Analphabetismus leben, und nicht jedes Musikstück kann beim ersten Anhören verstanden werden.[...] Auf keinen Fall darf der Hörer vom Komponisten fordern, daß er ausschließlich Musik komponiert, die sofort begriffen werden kann. [...] Die Kunst ist breit und vielfältig [...]. Man braucht das Verschiedenste; man braucht das Leichte und Komplizierte, das groß Angelegte und die kleinen Formen, die sich mit Wenigem bescheiden. Die Komponisten müssen von dem Hörer denselben Realismus verlangen, der von ihnen gefordert wird.“97
Eisler experimentierte bekanntermaßen mit den unterschiedlichsten stilistischen Möglichkeiten, mit dem einfachen Lied ebenso wie mit dodekaphonen Ansätzen, seine Vorgehensweise, durch Brechung, Ironisierung und Verfremdung altbekannter musikalischer Melodien und Formeln an Bekanntes anzuknüpfen, sie gleichzeitig aus ihrem Traditionszusammenhang herauszureißen und ihnen damit eine neue Bedeutung zu verleihen, war sein Mittel, sich musikalisch verständlich machen zu wollen, und wurde wegweisend für seine Musik der neuen „Einfachheit“. „Neue Volkstümlichkeit ist das Umschlagen des Neuen in das Einfache. Sie wird, ohne gemein zu werden, Gemeinschaft finden mit einer Sprache, die auch der Unerfahrene versteht. Sie ist das Gegenteil zum Epigonentum, aber sie wird Tradition in sich haben und alle Künste des Handwerks. Der historische Widerspruch zwischen Kunst und Unterhaltung wird aufgehoben, und seine Elemente werden sich in neuer Einheit wechselseitig durchdringen, die Kluft zwischen Kunst und Volk wird geschlossen werden.“98
Eislers verheißungsvolle Zukunftsvision des Jahres 1951 auf Überwindung der Kluft zwischen Kunst und Volk wurde freilich angesichts der Realitäten in ihre Schranken verwiesen. Musste Eisler doch am Ende desselben Jahrzehnts, also in einer Zeit, in der der sozialistische Staat aus seinem Anfangsstadium herausgewachsen war, mit Bedauern feststellen, dass trotz seiner persönlichen und aller staatlichen Bemühungen das musikalische Analphabetentum der Volksmassen weiterhin zu beklagen sei.
97 Ebd. S. 62 98 Hanns Eisler: Brief nach Westdeutschland, in: Sinn und Form 6 (1951), S. 21–23, hier S. 22
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„Musik und Hörer verändern sich [...] auf Grund der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht parallel. Die Musik ist teilweise dem Hörer voraus, teilweise bleibt sie hinter ihm zurück. Das gesunde Empfinden des Volkes in musikalischen Dingen ist für den Marxisten eine fragwürdige Formulierung, denn selbst wir in der Deutschen Demokratischen Republik, die uns die besten Möglichkeiten, Musik zu machen, gibt, haben mit den durch den Kapitalismus und Faschismus verdorbenen Hörgewohnheiten zu rechnen.“99
Den Systemen von Kapitalismus und Faschismus wies Eisler die Schuld dafür zu, dass es im bestehenden Musikleben nach wie vor eine Zweiklassengesellschaft gäbe, die der Kunstinteressierten und der Uninteressierten. Dass die bestehende Kluft durchaus an die historische Entwicklung der Gesellschaft gebunden war, weil ja die Kunstentwicklung sich immer im Umfeld der jeweils herrschenden Personen oder Klassen abspielte, war eine seit Marx’ Gesellschaftsanalyse existierende Grundannahme marxistischer Theorie. Danach hatte sich Kunst – ausgehend von einer imaginierten Urgesellschaft, in der Musik gemeinsam von allen und für alle betrieben worden sei – im geschichtlichen Werdegang über die Sklavenhaltergesellschaft, über das feudale Mittelalter bis zur bürgerlichen Epoche und zum modernen kapitalistischen Staat als Ausdruck und Machtmittel einer je herrschenden Klasse entwickelt.100 Damit galt die Klassenspaltung der Gesellschaft, die ganz besonders im Kapitalismus dazu geführt habe, dass der Masse der Bevölkerung der Zugang zur Bildung verwehrt und damit auch der Zugang zur Kunst unmöglich gemacht worden sei, als Hauptgrund für das musikalische Desinteresse der werktätigen Bevölkerung. Die marxistische Sichtweise, Kunstmusik als ein gesellschaftliches Produkt zu betrachten, das gleichermaßen alle Menschen „besitzen“ sollten, hatte allerdings seine ideologischen Wurzeln in der hohen Kunstwertschätzung der bürgerlichen Bildungsschicht, die die Kunst allgemein und Musik im speziellen zu einem bedeutsamen menschenbildenden Gut erklärt hatte. Und es war ihre Initiative, auch im sozialistischen Staat, die Kunst an die Massen heranzutragen und ihnen zugänglich zu machen. Die Werktätigen hatten, so die Sicht der Gebildeten auch in den sozialistischen Staaten, bislang auf grund ihrer mangelnden Bildung einen geringen Bedarf an klassischer Musik gezeigt, weil ihr nicht genügend entwickelter Bewusstseinsstand ihnen noch nicht ermöglichte, den angeblich hohen persönlichkeitsbildenden Faktor von Kunstmusik schon als solchen erkennen zu können. Die Initiative, die Kunst „unters Volk zu bringen“, ging immer von oben aus, war kein Bedürfnis der Arbeiterschaft.
99 Hanns Eisler: Über den Begriff des sozialistischen Realismus, in: Manfred Grabs (Hg): Hanns Eisler – Materialien zu einer Dialektik der Musik, 2Leipzig 1976, S. 265–269, hier S. 285f. 100 Unter anderem dezidiert nachzulesen bei Ernst Hermann Meyer: Musik im Zeitgeschehen, Berlin 1952, S. 158ff.
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Auch Hanns Eisler war kein Arbeiterkind, sondern entstammte einem Akademikerhaushalt, der Vater war Philosoph und Privatgelehrter. Eisler hatte selbstverständlich das Gymnasium absolviert. Und all jene, die in der Akademie der Künste/Ost zusammen mit ihm an der Umsetzung der sozialistischen Musikpolitik arbeiteten, repräsentierten eben die Intellektuellenschicht, die in diesem Punkt der Höherwertigkeit von Kunst die Tradition der bildungsbürgerlichen Schicht unbefragt weiterführen sollte. Musik musste im Sozialismus unbedingt den Massen verständlich gemacht werden. Noch 1971 schrieb einer der tonangebenden Musikwissenschaftler und Professor an der Humboldt-Universität H. A. Brockhaus: „Das Kriterium der Verständlichkeit ist ein Wesensmerkmal der sozialistisch-realistischen Musik.“101 Bereits in den ersten Jahren der DDR veröffentlichte Ernst Hermann Meyer sein Buch „Musik im Zeitgeschehen“, in welchem er seinen Begriff einer „neuen Einfachheit“ proklamierte, der musikalisch sehr begrenzt war und sich nolens volens aller jener Argumente bediente, die das konservative Bildungsbürgertum ebenso wie der aufstrebende Mittelstand in der Weimarer- und Nazizeit gepflegt hatten. Nach wie vor galten Melodie und Lied als naturgegebene Grundlagen der Musik. Mit der Argumentation, dass das Lied aus dem Volke stamme und sich die großen Komponisten der Vergangenheit dieser Vorlagen auch in ihren Werken bedient hätten, dass Lied und Melodie also die Basis für musikalische Verständlichkeit seien, war den Ansätzen aller neueren Kompositionsrichtungen bereits seit Anfang des Jahrhunderts der Kampf angesagt worden.102 Entsprechend forderte Meyer : „Das Element der Melodie als tragender Faktor muß neue zentrale Beachtung finden.“103 Weiter schrieb er: „Das rhythmische Element, das in vieler moderner Musik verunklart ist, muß zu neuem Leben erweckt werden.“ Die Erweiterung und Auflösung des starren Dreiviertel- und Vierviertel-Takts (beispielhaft bei Strawinsky durchgeführt) waren für Meyer nicht akzeptabel. Mit der zusätzlichen Forderung nach „harmonischer Entspannung“ und nach „deutlicher, logischer Verarbeitung“ des thematischen Materials zeigte sich der Autor als Person, deren Hörgewohnheiten wie die der meisten Bildungsbürger an den Werken klassisch-romantischer Musik geschult waren. Daher war es ihm auch selbstverständlich, dass er an der Tonalität als am „ Normalen“ festhalten zu müssen glaubte. „Die Bezogenheit der Musik auf eine jeweilige tonartliche Gebundenheit und gleichzeitig die Anerkennung der Notwendigkeit von Entspannungen in der Musik ist aber das ‚Normale‘, das
101 Heinz Alfred Brockhaus: Probleme der Realismustheorie, in: Heinz Alfred Brockhaus und Konrad Niemann (Hg.): Sammelbände zur Musikgeschichte der DDR 2, Berlin 1971, S. 24–76, hier S. 74 102 Berühmtes Beispiel ist Hans Pfitzners Pamphlet gegen die Moderne in Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz von 1920 103 Meyer: Zeitgeschehen (wie Anm. 99), S. 178
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‚Typische‘, das Volkstümliche, das Gesunde, das Menschliche. Die ständige neurotische Hochspannung durch Nichtanerkennung des Prinzips harmonischer Entspannungen aber ist das Abnormale, das Enge, das Krankhafte, das Unmenschliche.“104
Aus heutiger Sicht und dem Abstand von rund 50 Jahren lässt sich erkennen, dass E.H. Meyer als Vertreter der offiziellen Kunstdoktrin sich nolens volens zum Sprachrohr einer Gesellschaftsschicht machte, die im Laufe der Geschichte stets definiert hatte, was zur Kunst zu zählen war und die diese Kunst zum Heilsbringer des ganzen Volkes erklärte. Was „normal“ war, bestimmte Meyer aus der Tradition herkömmlicher Musikentwicklung heraus und auf Basis von Kompositionen, die in seiner Schicht anerkannt, aber noch niemals in der Arbeiterschaft Anklang gefunden hatten. Bach-, Beethoven-, Brucknerund Wagner-Kompositionen wurden nicht von der Breite der Werktätigen genossen. Diese Musikstile aber erklärte Meyer trotzdem aufgrund seiner schichtenspezifischen Hörerfahrung und Musikanschauung zum „Gesunden“, sogar zum „Menschlichen“. Davon abweichende Entwicklungen wie die der Zwölftonmusik oder anderer Experimente der Avantgarde waren abnormal, krankhaft, sogar „unmenschlich“. Dass sich Meyer und seine Mitstreiter damit in die unselige Tradition nationalsozialistischer Argumentation stellten, wo man die dodekaphone Moderne in gleicher Weise als krankhaft und eben „entartet“ bezeichnet und verunglimpft hatte, weil sie selbst beim Gros der Bildungsschicht keinen Anklang fand, gehört zum Kapitel der historischen Kontinuitäten und entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Die Forderung nach einer Volksnähe von Kunst, die ein wesentlicher Bestandteil der Theorie des Sozialistischen Realismus war, wurde nicht als Paradoxon erkannt, war „Volksnähe von Kunst“ doch mit einer Schlange vergleichbar, die sich selbst in den Schwanz beißt, denn Kunst hatte sich bislang ja gerade in Absetzung gegenüber den musikalischen Äußerungen der Bauern- und Arbeiterschaft etabliert und als solche definiert. Wie konnte also die nicht zu Unrecht so benannte „Hochkultur“ (als Kultur der oberen Gesellschaftsschichten) zum Allgemeinbesitz der Werktätigen werden? Über eine allgemeine musikalische Bildung meinte man, das Problem beheben zu können. Nichtsdestotrotz verblieben die Komponisten der DDR in einem unauflösbaren und de facto auch nie gelösten Dilemma: Sie sollten die Traditionen der Hochkultur fortsetzen und dabei gleichzeitig eine neue sozialistische Musik erfinden, die die Gesamtheit aller Gesellschaftsschichten anzusprechen hätte. Man versuchte in der Theorie, diese Diskrepanz zu überbrücken, indem man bestimmte musikalische Traditionen wie Melodie und tonale Funktionsharmonik als naturgegeben postulierte und meinte, deren Verwendung ermögliche ein breites, allgemeines musikalisches Verständnis. Wie bereits im Kapitel „Kontinuitäten“ beschrieben, konnten sich Meyer und seine musikpolitischen Kollegen auf einen breiten Konsens der Kunst produzierenden und re104 Ebd. S. 153
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zipierenden Schicht berufen, die nach 1945 gleichermaßen in Ost- wie Westdeutschland einen klassizistischen Stil für den der Moderne angemessen hielten. Diese Kompositionsweise arbeitete – in der Art wie etwa Paul Hindemith ihn mit geprägt hatte – vorrangig mit traditionellem Sonatensatz-Aufbau, mit Motivik und mit Durchführungen, mit Ritornellen usw., kurzum mit all dem, was einem im Auffassen traditioneller Kunstmusik gebildeten Hörer als selbstverständlich und leicht zugänglich galt. Mit einer, vereinfacht ausgedrückt, angeschärften Harmonik angereichert, ergab sich daraus ein publikumsverträgliches Klanggebilde, das gleichwohl vielen Zuhörern als modern wirkender Stil imponierte. Im Rahmen dieser Tradition setzte ein Großteil der Komponisten auch in der DDR diese bereits im Dritten Reich entwickelte Kompositionsart fort. Musiker wie Ottmar Gerster, Max Butting oder Fidelio F. Finke übernahmen den in Musikkreisen akzeptierten Entwicklungsstand klassizistischer Schreibweise. Angesichts dieser Ausgangssituation musste eine Annäherung an die musikalischen Bedürfnisse der Werktätigen fast aussichtslos erscheinen, dennoch wurden alle musikpolitischen Anstrengungen darauf ausgerichtet.
Objektive Wahrheit Die Verständlichmachung der musikalischen Kunst gegenüber den Volksmassen betraf nur die eine, sich auf den musikalischen „Materialstand“ beziehende Seite der Theorie des Sozialistischen Realismus. Der zweite Kommunikationsaspekt sozialistischer Musik bezog sich auf den Inhalt, auf die gesellschaftliche Aufgabe von Musik in einer sozialistischen Gesellschaft. Die marxistische musikästhetische Position war eingebettet in die Gesellschaftstheorie des Marxismus-Leninismus, die sich als „wissenschaftlicher Sozialismus“ begriff, das heißt, sie begründete sich auf rationalen Erkenntnissen, wie sie von Karl Marx niedergelegt worden waren, der die Geschichte als eine dialektische, gesetzmäßige und damit objektiv wahre Fortentwicklung von Produktivkräften und ihrer damit verbundenen Gesellschafts- und Herrschaftsformen von der Urgesellschaft bis hin zum modernen Kapitalismus interpretierte. Die Überwindung des Gegensatzes von Kapital und Arbeit, die Aufhebung der kapitalistischen Ausbeutung als Endstadium dieses historischen Prozesses impliziere die Abschaffung der Klassengesellschaft und ihre Transformierung in eine sozialistische Gesellschaft. Auf Basis der verschiedenen die Geschichte durchlaufenen Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme habe sich der „Überbau“ geformt – Ideologien, Wissenschaft, Religion, Künste usw. –, der stets in dialektischem Verhältnis zu den jeweils ökonomisch-sozialen Gegebenheiten zu verstehen sei: Er spiegele einerseits die objektiven gesellschaftlichen Gegebenheiten wider, beeinflusse sie aber andererseits auch und trage damit zu deren Veränderung bei.
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Auch die Musik galt als Überbau-Phänomen. Marxistische Musikästhetik, wie sie sich seit den 30/40er Jahren herausbildete, ging von der Prämisse aus, dass Musik die jeweilige gesellschaftliche Realität ihrer Entstehungszeit widerspiegele. Die Einsicht in die Klassen- und Herrschaftsverhältnisse ermögliche es, den realen Gehalt der Widerspiegelungsvorgänge auch in der Musik aufzufinden und damit ihrer gesellschaftlichen „Wahrheit“ auf den Grund zu kommen. Während die bürgerliche Musikästhetik eher dem Zusammenhang von individuell psychischen Prozessen, Gefühlen, Spannungen usw. mit musikalischen Verläufen nachgehen würde, sich also „mechanistisch“ beschränken würde, erfasse die marxistische Musikästhetik die Problematik gesellschaftlicher Beziehungen, gesellschaftlicher Widersprüche und Interessen. Der Komponist, der sich gegenüber dieser gesellschaftlichen Wahrheit öffnen würde und zutiefst von ihr durchdrungen sei, könne im Gewande seiner subjektiven Empfindungen das sozialistische Kunstwerk schaffen, das die gesellschaftliche Wahrheit mit eigener Intuition sowie mit meisterhafter Beherrschung des Materials verbinde. Die Frage nach der „objektiven Wahrheit“ war und blieb eine zentrale Frage der Realismustheorie. Der Musikwissenschaftler Heinz Alfred Brockhaus versuchte es – wie viele seiner Kollegen –, mit verschiedenartigen Beschreibungen und Ausschlusskriterien sich der Frage zu nähern. Hier einige Ausschnitte: „Wahrheit ist in jedem Falle ein wesentliches Kriterium jeder Kunst, die wir realistisch nennen, das heißt, ohne exakte Bestimmung der spezifischen Gesetze künstlerischer Wahrheit auf dem Gebiete der Musik fehlt auch der Ausarbeitung einer musikalisch spezifizierten Realismustheorie das exakte Fundament. Die ästhetische Kategorie Wahrheit zielt auf eine Klärung des Verhältnisses der Kunst zur Wirklichkeit.“ „Die Künstlerische Wahrheit ist [...] eine besondere Qualität der widerspiegelnden Abbildung, jedoch nicht faßbar anhand der formallogischen Abbildrelation.“ „Gerade auf dem Gebiete der Widerspiegelungstheorie wirken sich mechanische Auffassungen, die einen eindeutigen, direkten Abbildungsvorgang, die ‚Abspiegelung’ realer Details als gegeben annehmen, immer wieder hinderlich aus. Die Möglichkeit verbal adäquater Übersetzungen des Widerspiegelungsprozesses ist für die Bestimmung der Wahrheit und des Wertes von Musik weder notwendig noch wesentlich.“ „Musik ist wahr, wenn die in ihr gestalteten Haltungen gesellschaftlich wahr sind, das heißt, dem Fortschritt dienlich und künstlerisch zur Vervollkommnung des Menschen beitragen [...] Die spezifisch musikalische Wahrheit ist daher die Wahrheit der Werturteile über Verhaltensweisen, Haltungen und Emotionen... „ „Insofern ist die Wahrheit realistischer Kunst gesellschaftliche Selbsterkenntnis, oder genauer gesagt, Vergegenständlichung der gesellschaftlich determinierten Subjektivität in bezug zum gesellschaftlichen Sein.“105 105 Brockhaus: Probleme (wie Anm. 100), S. 39ff.
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Wenn Brockhaus die Widerspiegelung nicht als direktes Abbild gesellschaftlicher Realitäten verstanden haben wollte, so scheint er sich doch in der Frage verfangen zu haben, woraus denn die musikalische Wahrheit bestehen könne. Seine Antwort, dass sich Wahrheit in den Werturteilen und der Haltung des Komponisten manifestiere, verschiebt nur die Frage, wie denn diese Haltung musikalischerseits zum Ausdruck gebracht und vom Hörer erkannt werden könne. Wesentlich eindeutiger konnte Musik aber sein, wenn sie mit Gesang kombiniert war und sich damit des verbalen Mittels bediente. Schon Hanns Eisler hatte gefordert, sich stärker den vokalen Gattungen zuzuwenden (s. sein Prager Manifest von 1948). Es war also nicht verwunderlich, dass in den ersten zwei Jahrzehnten der DDR in den Genres der vokal-instrumentalen Gattungen wie Kantate, Oratorium, Musiktheater, Oper usw. die weitaus stärkste Produktion zu verzeichnen war. Die Texte gaben den Werken das, was musikalischerseits an „Wahrheit“ nicht zu erkennen war, sie machten es dem Hörer leichter, die Musik durch die Verbindung mit dem Text an die gesellschaftliche Idee des Werkes zu koppeln. Als erstes Paradebeispiel eines musikalischen Werkes, das alle Anforderungen der Sozialistischen-Realismus-Theorie erfüllte, galt das „Mansfelder Oratorium“ von E.H. Meyer. Zum 750-jährigen Bestehen des Hüttenwerkes in Mansfeld im Jahre 1950 war der Kompositionsauftrag an den zu der Zeit in der Musikpolitik aktivsten kommunistischen Parteigänger ergangen. Mithilfe breiter Texteinlagen erzählt das Oratorium die Geschichte des Bergwerks aus Sicht der Arbeiterschaft. Als Protagonist fungiert „der Bergmann“, der die bedeutenden Stufen der historischen Entwicklung vom Mittelalter bis zur Errichtung des Sozialismus gleichsam erlebt und seinem Publikum vermittelt. Über Jahrhunderte hinweg hat er Kriege und Unterdrückung erduldet, hat gegen Ausbeutung gekämpft, bis er zuletzt mit Hilfe tapferer Sowjetsoldaten den lange gehegten Traum vom Sozialismus verwirklichen konnte. Das Oratorium beginnt mit starken Bläserfanfaren, die historischen Entwicklungsstufen werden zum Teil erzählend gesprochen, zum Teil in freier Gesangs-Deklamatorik vorgetragen, häufig von liedmäßig gesungenen Chören unterbrochen, die das Geschehen als Arbeiterschaft kommentieren und ihre Klagen, ihre Forderungen oder ihre Kampfbereitschaft artikulieren. Das Werk ist musikalisch so einfach gesetzt, gebraucht in extremem Maße das periodische 4stimmige Lied und die traditionelle Funktionsharmonik, dass hiermit tatsächlich die Forderung nach musikalischer Verständlichmachung gegenüber der Arbeiterschaft erfüllt gewesen sein dürfte. Da das Oratorium mit der Inszenesetzung des marxistischen Geschichtsbildes auch inhaltlich der Vorstellung von Wahrheits-Vermittlung entsprach, wurde es 1951 mit dem Nationalpreis ausgezeichnet. Dass es nach Uraufführung und Preisverleihung zwar noch sehr häufig lobend erwähnt wurde, aber nicht mehr so häufig auf den Spielplänen in der DDR erschien, kann als Zeichen der Diskrepanz von theoretischem Anspruch und Praxis interpretiert werden.
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So wie E.H. Meyer nutzte das Gros der Komponisten in den 50er Jahren das Mittel des Textes, um aus ihrer Kunst eine eindeutige sozialistische Wahrheit sprechen zu lassen. Hier nur einige Beispiele der bekannteren Kompositionen aus der ersten vokalsinfonischen Schaffensperiode der DDR:106 – Hanns Eisler: Die Teppichweber von Kujan Bulak ehren Lenin, (Kantate von 1957), die Ernsten Gesänge (von 1962) – Ernst Hermann Meyer: Des Sieges Gewißheit (1952), Stalin-Ode (für Sopran, Chor und Orchester, 1953), Das Tor von Buchenwald (Kantate 1959) – André Asriel: Freundschaft, Einheit, Frieden ( Jugendkantate von 1951) – Paul Dessau: Herrnburger Bericht (1951), Lilo Herrmann (Melodram 1953), Die Erziehung der Hirse (1954), Appell der Arbeiterklasse (1961), Mohammed Ben Bella (1961), Requiem für Lumumba (1963), Vietnam-„Geschäftsbericht“ (1966) – Günter Kochan: Die Welt ist jung (Kantate 1951), Ernst-Thälmann-Kantate (1959) – Ottmar Gerster: Kantate „Eisenhüttenkombinat Ost“ (Kantate 1951) – Kurt Schwaen: Unsere schöne Heimat (1953), Karl und Rosa (Kantate 1957), Sturm und Gesang (Kantate 1958), Unser Reichtum – unser Leben (Kantate 1959) – Ruth Zechlin: Lidice-Kantate (1958), Wenn der Wacholder blüht (Oratorium 1960) Die in sozialistischem Sinne fortschrittlichen Wahrheiten bezogen sich dabei häufig auf die Darstellung der erfolgreichen Gegenwehr gegenüber historischen oder gegenwärtigen Herrschaftsverhältnissen wie Sklaverei, kapitalistische Ausbeutung, Unterdrückung im Faschismus, Militarismus usw. Als sich mit Beginn der 70er Jahre DDR-Komponisten wieder in stärkerem Maße den rein instrumentalen Formen zuzuwenden begannen, wurde das Problem der Wahrheitsvermittlung erneut offensichtlich. Denn was sich theoretisch so leicht und verbal bedeutungsschwer formulieren ließ, fand seine Grenzen in der musikalischen Umsetzung. Was konnte Musik ohne eine verbale oder optische Konkretisierung tatsächlich darstellen? Einig war man sich bald, dass die Kompositionen einen positiven, zukunftsweisenden Schluss haben sollten, der die Zuhörer zu positiv-gesellschaftlicher Haltung und Aktivität motivieren könne. Gleichzeitig sollte es um die Darstellung von Konflikten und um deren Lösungen gehen. Die Lösbarkeit der dargestellten Konflikte bezeichnete auch der Musikwissenschaftler Heinz Alfred Brockhaus als wesentliches Kriterium sozialistischer Kunst. Er nannte als Beispiel einige Konflikte: „ ... den Konflikt zwischen dem Ich und 106 Eine Übersicht findet sich u.a. bei Walther Siegmund-Schultze: Die Entwicklung des vokalsinfonischen Schaffens in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Heinz Alfred Brockhaus und Konrad Niemann (Hg.): Sammelbände zur Musikgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik 4, Berlin 1975, S. 42–63
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dem Wir, zwischen vertrauten und liebgewordenen Gewohnheiten und neuen Forderungen des Lebens, den Konflikt zwischen dem Egoismus des Individuums von Gestern und dem Kollektivbewußtsein der sozialistischen Persönlichkeit, den Konflikt der Selbstüberwindung im Dienste der Freundschaft ...“107 Eine solcherart als dialektisch begriffene Werkanlage von Konflikt und Konfliktlösung war musikalisch nicht gar zu schwer umzusetzen, da hier das traditionelle Sonatensatzschema von Hauptthema, gegensätzlichem 2. Thema, Durchführung und Reprise mit „siegreichem“ Schluss direkt in eine sozialistische Lesart überführt werden konnte. Und so „retteten“ sich zahlreiche Komponisten in den musikalischen Aufbau von zwei, als Kampf der Kräfte zu interpretierenden Themen und der Konzeption eines heroisch wirkenden Finales. Entsprechend existierten unter den Experten der Musikkritik eine Reihe von Kriterien, mit denen auch musikimmanent ein Werk auf seinen Realismusgehalt hin beurteilt werden konnte. Um zu zeigen, wie dabei verfahren wurde, wird im folgenden exemplarisch eine Kritik des Musikwissenschaftlers Frank Schneider vorgestellt, der 1973 die drei kurz zuvor komponierten und uraufgeführten Klavierkonzerte von Fritz Geißler, Siegfried Matthus und Rainer Kunad analysierte und einander gegenüberstellte.108 In der vergleichenden Betrachtung hob Schneider zunächst hervor, dass alle drei Werke einsätzig konzipiert seien, dass dabei aber „der klassische zyklische Gedanke“ zum Vorschein käme, da die traditionellen Satzcharaktere vom kontrastreichen Kopfsatz, von Adagio, Scherzo und Finalrondo erhalten blieben. Darin, wie auch in der Anwendung traditioneller Strukturierungsprinzipien wie der Entwicklung motivisch-thematischer Grundsubstanz durch Fortspinnung, Variation, Wiederholung, wie in der Technik der Instrumentation mit dessen Dominanz des Streicherklangs u.a. zeige sich „ein durchdachtes, schöpferisches Verhältnis zur Tradition, eine sozusagen dritte Phase des Erbeverständnisses“, das zu einer „erfreulichen sozialen Resonanz“ der Konzertaufführungen geführt habe.109 Mit dieser Einschätzung Schneiders erfüllten alle drei Werke zunächst einmal das Kriterium stilistischer Verständlichkeit. Im Anschluss daran widmete sich der Autor dem zweiten Kriterium realistischer Kunst, dem der Widerspiegelung der gesellschaftlichen „Wahrheit“. Am deutlichsten fand Schneider seine Forderung nach einer zugrunde liegenden sozialistisch-programmatischen Idee im Matthus’schen Werk realisiert, wo sich der musikalische Prozess „vom antithetischen Ausgangspunkt zum versöhnt-gelösten Ziel im
107 Brockhaus (wie Anm. 100), S. 68 108 Frank Schneider: Die Klavierkonzerte von Siegfried Matthus, Fritz Geißler und Rainer Kunad – Bemerkungen zu neuen Konzeptionen und Gestaltungsweisen im konzertanten Schaffen der DDR, in: Heinz Alfred Brockhaus und Konrad Niemann (Hg.): Sammelbände zur Musikgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik. 3, Berlin 1973, S. 191–243 109 Ebd. S. 235
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Sinne einer Elevation und Steigerung auf vier Stufen“110 abspiele. Auch Geißler verfolge in seinem Klavierkonzert die durchgängige Steigerung, würde aber durch eine verwirrende Vielzahl episodischer Abschnitte, die als Kontrast zum Hauptgedanken fungierten, die Orientierungsmöglichkeiten des Hörers in Frage stellen. Geißlers Aktivität erschiene hier „im Lichte einer motorischen Geschäftigkeit“ auf Kosten „der zielstrebigen inhaltlichen Entfaltung im Sinne einer konsequenten Konzentration auf das Wesentliche“.111 Für weitaus problematischer hielt Schneider den Aufbau des Kunad’schen Konzerts. Der Komponist habe die Brückenform gewählt, was bedeutet, dass der Höhepunkt in der Mitte liege und in der Form a-b-a wieder zum Ausgangspunkt zurückkehre. „Zugespitzt muß man demzufolge fragen, ob eine solche formale Konzeption in der reinen Instrumentalmusik, die ja bekanntermaßen auf konkret-gegenständliche Bezugnahmen verzichten kann, den musikalisch-inhaltlichen Ablauf nicht in die Richtung einer ideologischen Konsequenz treibt, die dem Stand unserer Erkenntnisse und den Aussagemöglichkeiten sozialistischrealistischer Kunst kaum noch voll entsprechen?“112 Der Formverlauf a-b-a, so argumentierte Schneider, reflektiere nicht das dialektische Wesen von Entwicklungsprozessen, sondern reduziere sich auf das einfache Verhältnis von Position-Negation. Die Idee der Steigerung und prozessualen Entfaltung hin zu einem Höhepunkt war ein musikalisches Schema, das eine direkte Parallelsetzung musikalischer Vorgänge mit der sozialistischen Überzeugung vom Fortschritt der Gesellschaft darstellte und bis weit in die 70er Jahre hinein immer wieder als musikimmanentes Kriterium des sozialistischen Realismus bemüht wurde. Daran hatte sich die Qualität sozialistischer Kunst zu beweisen, gleichzeitig suchte man dadurch festzumachen, ob ein Werk durch sein „per aspera ad astra“ im Sinne einer sozialistischen Persönlichkeitsbildung der Hörer wirksam sei.
Persönlichkeitsbildung Es gehört zu den „Grundfesten“ bildungsbürgerlicher Musikanschauung, dass Musik ein wichtiger Faktor der Persönlichkeitsbildung sei. Im Zuge der Aufklärung und des idealistischen Musikverständnisses des 19. Jahrhunderts schrieb man der Musik die Kraft zu, den Menschen zu einer humanistisch verstandenen Persönlichkeit zu führen. Und es war selbstverständlich nur die vom Bildungsbürgertum als Kunst deklarierte, ihr zugehörige Musikart, die die Veredelung des Menschen bewirken konnte. Die andere, die einfache, die von unteren Gesellschaftsschichten vollzogene Tanz- und Gesangsmusik wurde häufig als sinnenhaft, berauschend und nur dem kurzweiligen Vergnügen dienend verachtet. 110 Ebd. S. 235 111 Ebd. S. 241 112 Ebd. S. 242
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Wie eingangs beschrieben, war es in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein zentrales Anliegen der Jugendbewegung und mit ihr der Singbewegung, die veredelnde Wirkung der Musik von der Kunstmusik auf das Lied, das oft „Volkslied“ genannte Lied, zu übertragen Das Schrifttum der Jugendmusikbewegung ist voller Abhandlungen über die persönlichkeitsstärkende Funktion des gemeinsamen musikalischen Tuns. Hier ein Zitat der in der Jugendbewegung sehr aktiven Olga Hensel: „Sobald wir erkannt haben, was Gesang bedeutet, heißt es mit Ernst und vollem Verantwortlichkeitsgefühl an seinem Menschentum arbeiten, damit der hörbare Ausdruck dieses Menschentums würdig sei seiner hohen Aufgabe. Wir brauchen solche vom Gesang durchdrungene Menschen, die von dem geheimnisvollen Leben des Tones und des Kunstwerkes zugleich so erfaßt sind, daß – so wie beim Elektrisch- oder Magnetischwerden – irgendein Ordnen, ein Rhythmisieren des ganzen Menschen, körperlich und seelisch, möglich ist. Solch eine Gesangsübung muß den Menschen innerlich verändern, Kräfte in ihm wecken und stärken, die ihm weiterhelfen.....“113 „[...] Persönlichkeiten, in Gemeinschaft gebunden und dadurch erst wahrhaft frei, sind der aufsteigende Mensch unserer Zeit. Die solistische Leistung, so bewundernswert sie auch ist, muß überkrönt werden vom Gesang des idealen Chores, der der Zusammenschluß freier Individualitäten zu einer neuen Wesenheit ist – dem Geist des Chores.“114
Die Gesangslehrerin Hensel erwartete sich augenscheinlich vom Singen, ähnlich wie viele ihrer jugendbewegten Kollegen, ein neues Menschentum, ein freies Individuum, das zu einer nicht zu definierenden neuen „Wesenheit“ geführt werden sollte. Auch den Nationalsozialisten galt als Ziel ihrer Musikpolitik die Formung der Persönlichkeit. Schon 1934 sprach man auf der ersten Arbeitstagung der Reichsmusikkammer vom „Neubau deutscher musikalischer Kultur“, von der Aufgabe des Konzertlebens, „das deutsche Volk zu sich selbst zu führen, es seine eigenen inneren Kräfte erleben zu lassen, seinen seelischen Aufbau zu unterstützen.“115 Dass die Musik wiederum dazu dienen sollte, das Individuum mit allem zu durchdringen, was man als „deutsche Werte“ erkannt zu haben vermeinte, dass auch hier mit Begriffen von Reinheit, Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit, Mut, Pflichtgefühl, Aufopferungsbereitschaft und Gemeinschaftserleben hantiert wurde, dass das deutsche Volk im Erlebnis der hochstehenden deutschen Kunst ebenso wie im gemeinschaftlichen Singen das Gefühl des Stolzes auf sein deutsches Vaterland entwickeln sollte: dies alles basierte auf der historisch immer wieder beschworenen, aber niemals verifizierbaren Zuschreibung an die Musik, sie trage zu einer wie auch immer gearteten „höheren“ Persönlichkeitsbildung bei. Auf Basis dieser konstanten Überzeugung 113 Olga Hensel: Vom Erleben des Gesanges, Kassel 1926, S. 53 114 Ebd. S. 11 115 Zit. nach Michael Walter: Hitler in der Oper. Deutsches Musikleben 1919–1945, Stuttgart 1995, S. 229
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sind die Ansätze seit Anfang des 20. Jahrhunderts zu verstehen, die ihre Energie darauf verwandten, breiten Bevölkerungsschichten die hohen Güter der Kunst nahezubringen, seien es Bemühungen aus primär nationalen, sozialistischen, nationalsozialistischen oder demokratischen Beweggründen. In vorderer Linie stand und steht dahinter der Auftrag, in gesellschaftlicher Verantwortung den Bürgern der Nation, des Staates die Möglichkeit zu eröffnen, der Kunst als persönlichkeitsbildender Größe teilhaftig werden zu können. Auch bei Lektüre der musikalisch-musikwissenschaftlichen Literatur der DDR kommt man nicht umhin wahrzunehmen, mit welch großer Hochachtung und Idealisierung die Musik in ihrer Wirkung auf die Menschen eingeschätzt wurde. Der daraus abgeleitete Anspruch umfasste die Humanisierung aller menschlichen Beziehungen sowohl im Verhältnis von Völkern und Staaten als auch in den Beziehungen der Individuen untereinander. Friedenserhalt und demokratisches Miteinander gehörten ebenso dazu wie die Entwicklung des Einzelnen zur sozialistischen Persönlichkeit. Das sozialistische Menschenbild wurde in der Konzeption des „sozialistischen Humanismus“116 gefasst. Mit der vollen Entfaltung des Individuums und der Selbstverwirklichung des Einzelnen stellte die im Kollektiv der sozialistischen Gesellschaft aktiv beteiligte und bewußt handelnde Persönlichkeit das anzustrebende Idealbild dar, auf das hin sich die Menschen progressiv verändern sollten. Der Musik wurde ein wesentlicher Anteil an der Formung eben dieser Persönlichkeit zugeordnet. Viele Komponisten empfanden es daher als ihren gesellschaftlichen Auftrag, in diesem Sinne für die Gemeinschaft tätig zu sein. Hanns Eisler, Paul Dessau, E.H. Meyer, H.A. Brockhaus und viele andere äußerten sich zu wiederholten Malen zu ihrer Absicht, ihr kompositorisches Können in den Dienst eines so verstandenen sozialistischen Fortschritts stellen zu wollen. Dass ihnen dabei die traditionelle bildungsbürgerliche Idealisierung von Kunst gleichsam „von hinten über die Schulter schaute“, ist ihnen genauso wenig vorzuwerfen wie der Umstand, dass sie zu dem Zeitpunkt eine Relativierung ihrer dem Idealismus entstammenden Wertung von Kunstmusik nicht leisten konnten, war dies doch ein Phänomen der gesamten europäischen „Zivilisation“, das weit bis in die 70er Jahre hinein reichte. Nicht zuletzt lebt die Vorherrschaft dieser Tradition bis heute in der BRD fast ungebrochen fort.
Die Formalismus-Debatte als Kalte-Kriegs-Debatte In der Theorie des Sozialistischen Realismus galt Musik als ein wichtiges Politikum, da man Kunst bewusst und absichtsvoll zum Aufbau des sozialistischen Staates nutzen wollte. Als solches war es folgerichtig als Mittel der Abgrenzung gegenüber den kapita116 U.a. zu finden bei Brockhaus: Probleme (wie Anm. 100), S. 37
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listischen Staaten in das politische Freund-Feind-Schema des Kalten Krieges eingebunden. Der eigenen sozialistischen Musik stellte bereits Shdanov in der erwähnten Rede von 1948 die als feindlich, kapitalistisch und volkszerstörerisch bezeichnete Wirkung der von nun an mit dem Titel „Formalismus“ belegten Musik gegenüber. Die formalistische Richtung habe ausgesprochen „volksfeindlichen Charakter.“117 Shdanov verstieg sich in der Rede gar dazu, dass die UdSSR von nun an „die wahre Beschützerin der Musikkultur der ganzen Menschheit“ und „das Bollwerk der menschlichen Zivilisation und Kultur gegen den bürgerlichen Zerfall und Niedergang der Kultur“118 sei. Unter dem Begriff „Formalismus“ verbarg sich die sehr allgemeine Vorstellung von der Vorherrschaft formaler Kunstkriterien bei Verzicht auf einen gesellschaftlich relevanten Inhalt. Die sogenannte „bürgerliche“ Musik des Westens galt in diesem Sinne als formalistisch, da ihre Komponisten gerade auf der Autonomie des Kunstwerks und ihrer Zweckfreiheit bestanden und ihre Unabhängigkeit von politischen Vorgaben betonten. Der material-fixierte Fortschrittsbegriff des Westens stände im diametralen Gegensatz zum funktionsorientierten Begriff im Sozialismus. Damit war nach sozialistischer Auffassung gleichzeitig die Indifferenz bürgerlicher Komponisten gegenüber ihrem Publikum verbunden, da letztere mit ihrem materialbezogenen, eben formalistischen Neuerertum keine Rücksicht auf das Hörvermögen der breiten Volksmasse nähmen. Im selben Jahr der Shdanov-Rede (1948) fand in Prag der „II. Internationale Kongress fortschrittlicher Komponisten und Musikkritiker“ statt, der in Frontstellung zur Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (die Sowjetunion war Anfang der 30er Jahre aus der Gesellschaft ausgetreten!) die Gegenposition zur bürgerlichen Musikanschauung der Avantgarde prononciert in der Öffentlichkeit vertreten sollte. Hanns Eisler hielt hier im Plenum eine Ansprache über „Gesellschaftliche Grundfragen der modernen Musik.“119 Darin griff er die westliche Kulturindustrie an, die „zur öden Gleichmacherei in der Profitwirtschaft geführt hat. Sie hat den Schmutz, den Schund, die Langeweile und die Verödung des kulturellen Lebens erzeugt. [...] Sie hat die wahre Kunst zur Ware Kunst gemacht.“ Eisler ging dann ausführlicher auf Schönbergs Zwölftontechnik und Strawinskys Neoklassizismus als repräsentantive Richtungen des spätbürgerlichen Stils ein und attestierte zunächst beiden Komponisten künstlerische Meisterschaft in der Ausformung ihrer Kompositionsweise. Was er an Schönberg bewunderte, war dessen Auflösung der traditionellen Sprache, das Asymmetrische, das Athematische, die raschen Kontraste und „die Buntheit der musikalischen Gestalten.“ Immerhin habe Schönberg es verstanden, in seinen Werken Nervosität, Verzweiflung, Panik und Terror in Vorahnung der kommenden Terror- und Kriegsschrecken auszudrücken. Doch was ihm als einem historischen 117 Andrej Shdanov: Über Kunst (wie Anm. 87), S. 63 118 Ebd. S. 77 119 Eisler: Musik und Politik (wie Anm. 29), hier Bd. 2, S. 13–25
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Sonderfall gelungen sei, wäre bei seinen Nachahmern wie Alban Berg oder Anton Webern zur Plage, zum Unfug und sektiererischen Snobismus geworden. Ihre Anwendung der Dodekaphonie sei zu einem mechanischen Mittel verkommen, das in der Materialanordnung von Thema, Umkehrung, Krebs des Themas und Krebs der Umkehrung der Erfüllung einer mathematischen Fleißaufgabe gleiche. „Das Kunstmaterial wird also mechanisch, undialektisch vorgegeben.“ Es habe nichts Überindividuelles zu vermitteln und werde immer mehr zu einer Sache kleiner Kreise von Kennern. „Was dem Schönberg sein Zwölftonsystem ist dem Strawinsky die Stilnachahmung,“ urteilte Eisler weiter. Strawinskys Neoklassizismus sei kalt und konstruiert. Er zeige als „großbürgerliches Phänomen [...] Frechheit und Kälte gegen den kleinen Mann.“ Zudem kokettiere Strawinsky mit dem Neokatholizismus, der mehr religiösen Formalismus als echte Gläubigkeit repräsentiere. „Der Neoklassizismus gebärdet sich im allgemeinen in seinen Ausdruckscharakteren wie ein Mann der guten Gesellschaft: Man spricht nicht zu laut, man spricht nicht zu leise, man sagt nur Unverbindliches, man versucht das undurchdringliche Gesicht des großen Bankiers nachzuahmen ...“ Eisler beschloss sein Referat mit dem Fazit, nach all diesen „Exzessen und Experimenten“ sollten es sich die Künstler zur Aufgabe machen, vom Privaten zum Allgemeinen zurückzufinden und die Musik „in einer zuerst vielleicht bescheideneren Weise in eine höhere Form der Gesellschaft zurückzuführen.“ Auch in dem als Ergebnis der Tagung verabschiedeten „Manifest“,120 an dessen Formulierung Eisler als Mitglied des Kongress-Präsidiums maßgeblich beteiligt war, wurde die Musikkrise des Kapitalismus beschworen, die durch individualistische Entfremdung der Kunstmusik von der Masse und gleichzeitiger Oberflächlichkeit der populären Musik gekennzeichnet sei. Die auf dem Kongress formulierte Vorgabe der Abgrenzung gegenüber der als formalistisch bezeichneten Kunst sollte zunehmend auch in der DDR richtungweisende Geltung bekommen. Spätestens seit dem bereits erwähnten Referat des ZK-Mitglieds Hans Lauter auf der 5. Tagung des ZK 1951 zum „Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur“ war die Richtlinie ausgegeben, dass ein bestimmter Teil der musikalischen Entwicklung seit Anfang des Jahrhunderts den Stempel „Formalismus“ erhielt und von offizieller Seite her tabuisiert wurde. So klar allerdings, wie man die Grenzziehung in der Polarisierung von Formalismus contra sozialistischem Realismus theoretisch darstellte, war sie in der musikalischen Praxis keineswegs. Das zeigte sich erstmalig in der Debatte um die Oper „Die Verurteilung des Lukullus“ des Eisler-Schülers Paul Dessau. Die Oper, die 1949 nach einem gleichnamigen Hörspiel von Bert Brecht fertiggestellt worden war, musste bis zur Uraufführung dreimal wegen obrigkeitlicher Kritik, u.a. auch dem Vorwurf des Formalismus, 120 Ebd. S. 26–28
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umgeschrieben werden. Endlich erlaubte man die Premiere, aber nur als geschlossene Vorstellung mit anschließender Diskussion. Und selbst danach erklärten sich Brecht und Dessau zur nochmaligen Überarbeitung bereit. Im Oktober 1951 kam es schließlich zur eigentlichen Uraufführung. Ausgerechnet Brecht und Dessau, die ja beide ihr Leben lang aus Überzeugung für die Sache des Sozialismus und für sozialistischen Realismus in der Kunst eingetreten waren, musste das Urteil des Formalismus treffen. Abgesehen von inhaltlich-literarischer Kritik an Brechts Texten sprach man sich gegen all jene formalistischen Kompositionsmittel Dessaus aus, die nicht dem traditionellen Hörerleben entsprachen. Das Gros der Komponisten-Kollegen sowie die führenden Musikwissenschaftler E.H. Meyer, G. Knepler, N. Notowicz und H. Goldschmidt waren – so wie Meyer im März 1951 an den Komponistenverband schrieb – nach Anhören des 1. Teils der Oper zu dem Urteil gekommen, „dass die Musik zumindestens der genannten Bilder abzulehnen ist. Sie enthält alle Elemente des Formalismus, zeichnet sich aus durch ein Vorherrschen destruktiver, ätzender Dissonanzen und mechanischer Schlagzeuggeräusche. Das Mittel des Dreiklangs und der Tonalität wird, wenn überhaupt, meistens zum Zweck der Parodie oder der archaisierenden Mystik verwendet. Dem Volke verständliche, humane Musik fehlt fast ganz, die klassischen Traditionen werden nicht entwickelt. [...] [Dessau habe] Ausdrucksmittel verwendet, die eine Negation des klassischen Erbes und der Volkskunst darstellen: er bleibt stehen beim Epigonentum eines überlebten bürgerlichen Avantgardismus, wie er vor 25 Jahren üblich war. Diese Musik scheint uns genau von der Art zu sein wie die, gegen die sich das Zk der KPdSU und Genosse Zhdanow so scharf wendeten.“121
Hans Lauter griff den Komponisten Dessau in aller Öffentlichkeit mit ähnlicher Argumentation an. Die Oper sei „meist unharmonisch, mit vielen Schlagzeugen ausgestattet, und erzeugt ebenfalls Verwirrung des Geschmacks. Eine solche Musik [...] kann nicht zur Hebung des Bewußtseins der Werktätigen beitragen, sondern hilft objektiv denjenigen, die an der Verwirrung der Menschen ein Interesse haben. Das aber sind die kriegslüsternen Feinde der Menschheit ...“122 Diese verbale Drohgebärde, die ein Kompositionsexperiment zur landesverräterischen Subversion erklärte, konnte einem Komponisten schon die Luft abschnüren und war sicherlich dazu geeignet, weitere Opern-Versuche einzustellen. Anstelle neuer Werke kamen in den 50er Jahren dagegen Opern zur Aufführung, die in nationalsozialistischer Zeit erfolgreich auf die Bühne gebracht worden waren: Rudolf Wagner-Régenys Oper „Der Günstling“ (von 1934), Ottmar Gersters „Die Hexe von Passau“ (von 1939–41) 121 Zit. nach Günter Mayer: DDR-Komponisten um und nach Eisler (die fünfziger und sechziger Jahre), in: Delaere, Mark (Hg.): Neue Musik, Ästhetik und Ideologie, S. 86–107, Wilhelmshaven 1995, S. 92 122 Ebd.
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sowie Werner Egks „Peer Gynt“ (von 1938). Im Rückgriff auf Opern der Nazizeit zeigte sich die offensichtliche Gemeinsamkeit der musikpolitischen Zielrichtungen beider politischer Systeme in dem einen Faktor „Volkstümlichkeit“, die gleichermaßen eine Forderung der Nationalsozialisten wie der Sozialisten war. Alle drei genannten Opern erfüllten perfekt das Kriterium der Verständlichkeit und damit angeblicher Volksnähe. Auch W. Egks Oper „Der Revisor“ (nach Gogol), die der in der BRD lebende Egk noch 1956/57 komponiert hatte, wurde in der DDR wegen besagter Verständlichkeit mit 30 Aufführungen zum „Bühnenrenner“. Gleichzeitig aber kam auch Alban Bergs Oper „Wozzeck“ 1955 an der Berliner Staatsoper zur Aufführung. Offensichtlich war man bereit, aus Anlass des 30jährigen Jubiläums der dortigen Uraufführung Bergs atonale Stilmittel zu tolerieren, da das Textbuch das soziale Drama des „kleinen Mannes“ schildert und sich als sozialkritisches Werk im Sinne der Widerspiegelung gesellschaftlicher „Wahrheit“ interpretieren ließ. Es scheint bereits in den 50er Jahren eine Situation bestanden zu haben, bei der man die offizielle Staatsdoktrin in unterschiedlicher Weise zu handhaben wusste. Dabei kam es zu einem wechselnden „Spiel“, bei dem mal die eine, mal die andere Seite die Oberhand gewann. An zahlreichen „Realitäten“ der Zeit zeigen sich nicht-konforme Ansätze. Dazu gehörten beispielsweise die kritischen Diskussionsbeiträge in der Wochenzeitung „Sonntag“ im Januar 1956, die deren Redakteur Gustav Just in der kurzen Liberalisierungsphase der Entstalinisierung initiierte. Darin hatte u.a. Paul Dessau gegenüber dem politisch einflussreichen E.H. Meyer Stellung bezogen und dafür gehalten, dass Meyers Kampf gegen alles Neue in der sozialistisch-fortschrittlichen Musik im Rahmen der Formalismus-Argumentation unbegründet sei. Infolge der damit in Gang gesetzten Diskussion bekannte sogar Nathan Notowicz als Generalsekretär des Komponistenverbandes, dass man „nicht so ohne weiteres sagen [könne], Schönberg und Berg, das ist der Antihumanismus.“123 Als infolge des niedergeschlagenen Ungarn-Aufstands 1956 sich die Staatsmacht auch in der DDR veranlasst sah, wieder härter durchzugreifen, wurde auch diese Debatte kurzerhand abgewürgt, der Chefredakteur Just erhielt sogar eine mehrjährige Zuchthausstrafe. Unter einigen Komponisten war das Formalismus-Thema jedoch nicht erledigt. Es blieb der Wunsch bestehen, sich neuer, nicht-traditioneller Techniken zu bedienen. Beispielsweise integrierten H. Eisler, P. Dessau, M. Butting, R. Wagner-Régeny immer wieder Zwölftonreihen in ihre Kompositionen, ohne diese jedoch als durchgängiges Prinzip zu gebrauchen. Die Diskussionen um Eislers „Lenin-Requiem“ von 1958 offenbaren das Dilemma der gesamten Formalismus-Diskussion, die immer unter dem Schatten stand, sich gegen den kapitalistisch-bürgerlichen Feind aufstellen zu müssen. Eisler hatte 1937 123 Zit. nach Lars Klingberg: Die Debatte um Eisler und die Zwölftontechnik in der DDR in den 1960er Jahren, in: Berg et al. (Hg.): Zwischen Macht und Freiheit. (wie Anm. 1), S. 39–61, hier S. 40
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das „Lenin-Requiem“ als Auftragswerk des Sowjetischen Staatsverlags zum 10. Todestag Lenins auf einen Text von B. Brecht geschrieben, dabei als Schüler Schönbergs auch das Mittel der Reihentechnik verwandt. Als erst 1958 die Uraufführung in der DDR stattfand, wurde die Kantate als positives Beispiel eines sozialistisch-realistischen Werkes gepriesen. Möglicherweise hatte niemand Eislers Verwendung dodekaphoner Anteile bemerkt? Denn erst als Anfang der 60er Jahre der Leipziger Musikwissenschaftler Eberhard Klemm die Bedeutung der Dodekaphonie im „Lenin-Requiem“ betonte, entfachte er einen Sturm der Entrüstung. Seine Kontrahenten verwahrten sich dagegen, die Qualität dieser Komposition vermeintlich in Frage stellen zu lassen und warfen Klemm vor, er wolle der Öffentlichkeit weismachen, die vorkommenden Zwölftonelemente würden den sozialistischen Charakter des Werkes ausmachen. Klemm hatte zu Beginn der 60er Jahre an der Leipziger Universität Kammerkonzerte eingerichtet, mit deren Hilfe den Studenten alle Strömungen der Moderne zu Gehör gebracht werden sollten. Auf dem Programm standen also auch Webern, Nono, Strawinsky u.a. Als Klemm für diese „modernistischen“ Konzertveranstaltungen vom Komponistenverband zur Rechenschaft gezogen wurde, verteidigte er sich, indem er zu bedenken gab, dass auch der als sozialistischer Realist verehrte Eisler beim bewunderten „Lenin-Requiem“ mit den angeblich formalistischen Mitteln der Dodekaphonie gearbeitet habe. Darauf konterte E.H. Meyer, Klemm würde Eislers Reihentechnik „umwerten“, Eisler habe ganz im Gegenteil sich im „Lenin-Requiem“ „von der Zwangsjacke der Reihentechnik“ befreit, und Meyers Kollege Eberhard Rebling trumpfte mit der Ansicht auf, Eisler habe die Reihentechnik niemals als allgemein gültiges Prinzip verwendet, sondern es sei ihm gelungen, „mehr oder weniger frei 12tönig gestaltete Teile mit tonalen Teilen zu einer vollkommenen Einheit in einem ausgesprochen persönlichen Eisler-Stil zu verschmelzen.“124 Das Requiem sei seiner Haltung, Aussagekraft und künstlerischen Meisterschaft nach zweifellos den Kompositionen des Sozialistischen Realismus zuzurechnen. Anlässlich dieser Debatte meldeten sich aber auch kritische Stimmen zu Wort, die im Verlauf der 60er Jahre zunehmen sollten und die den Beginn der so bezeichneten „Materialdiskussion“ eröffnen sollten. Es ging dabei um die zentrale Frage, die mit dem Formalismus-Vorwurf verbunden war: Ist ein bestimmtes musikalisches Material, ist eine bestimmte Kompositionstechnik per se Produkt und Ausdruck einer weltanschaulichen, gesellschaftlich-politischen Ideologie? Die Stimmen häuften sich in den kommenden Jahren, die das musikalische Material als nicht ideologisch präformiert betrachteten und eine Öffnung aus der die Komponisten begrenzenden Zwangsjacke forderten. Die Kritik begann mit der Überlegung, dass es „eine kapitalistische oder sozialistische Terz“125 nicht 124 Ebd. S. 49 125 Heinz Alfred Brockhaus: Musikwissenschaft und neues Schaffen, in: Musik und Gesellschaft 15 (1965), S. 19–21, hier S. 20
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geben könne und endete mit der Einsicht, dass die bisherigen Prämissen zur Beurteilung der Dodekaphonie überprüfungsbedürftig seien. Wenn auch die konservativen Musikfunktionäre nach wie vor auf dem Formalismus-Argument beharrten und weiterhin mit dem vom Westen „infizierten Material“ argumentierten, wenn sie immer noch die Dodekaphonie als westliche Dekadenz denunzierten und das ideologische Eindringen des Klassenfeindes befürchteten, so hatte die kompositorische Wirklichkeit sie schon weitestgehend überholt. Das Interesse der jüngeren Komponistengeneration an den internationalen musikalischen Neuerungen war durch Formalismusdebatten nicht mehr wegzudiskutieren. Offensichtlich – so wurde nach der Wende öfters berichtet – hatte, wer wollte, durchaus die Möglichkeit, westliche Kompositionsströmungen kennenzulernen. Auch nach dem Mauerbau gelangten Informationen über die internationale Entwicklung beispielsweise über die jährlichen Musikfestivals „Warschauer Herbst“ und „Prager Frühling“ in die DDR, die beide gegenüber der westlichen Avantgarde weit offener waren. Einige Male erschienen auch die linksorientierten westlichen Komponisten Luigi Nono oder Hans Werner Henze gleichsam als Kundschafter westlicher Avantgarde in der DDR. Der Musikwissenschaftler Frank Schneider berichtete nach der Wende, es habe im Komponistenverband sogar eine sogenannte „Giftbibliotheik“ gegeben, wo regelmäßig das neue Notenmaterial aus westlichen Verlagen gesammelt worden sei und zur Einsicht der Komponisten vorgelegen habe. Da man die Noten für seine eigene Arbeit hätte mit nach Hause nehmen dürfen, sei diese Bibliothek nach einem halben Jahrzehnt leer gewesen.126 Komponisten begannen, nicht nur dodekaphone, sondern auch serielle und/oder aleatorische Stilmittel auszuprobieren.127 Man traute sich auch zunehmend, sich von den vokalen Gattungen, mit deren Mittel sich eindeutige sozialistische „Wahrheiten“ umsetzen ließen, zu entfernen und sich wieder verstärkt der reinen Instrumentalmusik zuzuwenden. Als ein Schritt zu einem offeneren Umgang in der Formalismus-Debatte kann wohl auch die Gründung der „Gruppe Neue Musik >Hanns EislerNeue Musik schlechthin< auftritt, beruht darin, daß eine Erneuerung der Kunst aus isolierter Material- bzw. Formenentwicklung für möglich gehalten wird.“128 Einige wenige Komponisten wie Paul-Heinz Dittrich oder Georg Katzer ließen sich jedoch nicht abhalten und produzierten einige Kompositionen in den Studios von Brastislava oder Warschau. Paul Dessaus Vorstöße, im Rahmen der Akademie der Künste ein elektronisches Studio zu etablieren, stießen auf taube Ohren. Erst 1986 erreichte es Georg Katzer, nachdem er 1978 Mitglied der Akademie der Künste geworden war, dass seinem Drängen Erfolg beschieden war. Obwohl er an der AdK bereits seit Anfang der 80er Jahre Seminare über die speziellen Bedingungen beim Umgang mit elektronischen Kompositionsmitteln einführte, spielte die Sparte ‚elektronische Musik’ in der DDR bis zuletzt keine nennenswerte Rolle. In gleicher Weise, wie Künstler der DDR mit neuartigen, großenteils der internationalen Avantgarde entnommenen Kompositionsprinzipien arbeiteten und in das von Traditionalisten wohl gehütete Musikleben vorstießen, ebenso brach das Denken über Musik und seine gesellschaftliche Mittlerrolle zu neuen Gefilden auf. Erich Honecker hatte bald nach seiner Regierungsübernahme im Dezember 1971 den denkwürdigen Ausspruch getan, es dürfe „auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus
128 Zit. nach Dibelius und Schneider: Neue Musik (wie Anm. 44) Bd. 3, S. 286
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geben.“129 Zwar hatte Honecker mit seiner Rede nicht die Freiheit der Kunst in westlicher Manier verkündet, sondern eine Freiheit im sozialistischen Rahmen gefordert mit dem Vorsatz „Wenn man von den festen Positionen des Sozialismus ausgeht...“,130 doch allgemein scheint die Rede als Signal zu einem liberaleren Umgang mit der Kunst gedeutet worden zu sein. Bereits ein halbes Jahr nach Honeckers Öffnungs-Rede äußerte der 1. Sekretär des Komponistenverbandes Wolfgang Lesser auf der ZK-Tagung, dass jeder Künstler ein Recht auf seine Materialauswahl und –verwendung habe, dass der Realismusbegriff nicht dazu führen dürfe, die Schaffensmethode einzuengen. Lesser sprach sogar vom „schöpferischen Experiment“, von der Auseinandersetzung mit „vielfältigen Strömungen und Auffassungen“.131 In Folge begannen Komponisten zunehmend, sich mit dodekaphonen und seriellen Techniken, mit atonalen, freien Klangexperimenten zu beschäftigen. Während derlei Versuche zuvor eher zu regen Diskussionen Anlass gegeben hatten, fand nun zusehends eine Öffnung und teilweise Enttabuisierung gegenüber der westlichen Avantgarde statt. Jetzt ging auch deutlich die Tendenz zurück, die Kompositionsweise einzig an der Verständnismöglichkeit der werktätigen Massen auszurichten. Ein neuer „Trend“ begann sich in musikalisch-musikwissenschaftlichen Periodika der 70er Jahre auszubreiten. 1976 bezog der Komponist Günter Kochan in den „Beiträgen zur Musikwissenschaft“ deutlich Stellung zur Verwendung avantgardistischer Techniken. Er vertrat die Ansicht, ein Komponist müsse alle technischen Wege ausschöpfen dürfen, um aus einer Synthese aller Neuerungen eine neue Art sozialistischer Musik zu schaffen. „Zunächst befinden sich jedoch viele Komponisten in der Lage, erst einmal alle vorhandenen Techniken vom Serialismus bis zur Aleatorik auf ihre Verwendbarkeit für ihre künstlerischen Zwecke zu überprüfen. Ich glaube, man kann alles übernehmen, wenn man versteht, damit eine Musik zu machen, die dem Sozialismus nützt.“ Dann fuhr er fort: „In bezug auf die neuen Techniken scheint es mir aber zwei Probleme zu geben. Daß die neuen technischen Möglichkeiten ausprobiert werden müssen, heißt noch nicht, daß jede Musik, die diese Möglichkeiten benutzt, von vornherein moderner ist als eine, die sie nicht verwendet, auch dann nicht, wenn sie – sozusagen als Alibi – einen fortschrittlichen Text benutzt. Dazu gehört auch, daß sie beim Hörer eine richtige Haltung auslöst, daß sie ihm ein neues Lebensgefühl vermittelt. Auf der anderen Seite – und das wird häufig vergessen, weil wir uns allzugern nur auf die Technik, die Verfahrensweise, konzentrieren – muß man natürlich in erster Linie musizieren. Ob man dazu ein klassisches Orchester benutzt, eine Combo oder elektronische Klänge, dodekaphonisch, traditionell, seriell oder aleatorisch, ist in diesem Zusammenhang eine ganz gleichgültige Frage. Manche neuen Stücke machen auf mich den Eindruck technischer Übungen, so wie man sich auch im Kontrapunkt oder im vierstimmigen Satz übt, ohne daß das 129 „Neues Deutschland“ vom 18.12.1971 130 Zit. nach Dietrich Staritz: Geschichte der DDR, 2Frankfurt/Main 1996, S. 298 131 Manfred Vetter: Kammermusik in der DDR, Frankfurt/Main 1996, S. 24
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schon Kunst zu nennen ist. Nicht so sehr auf die Technik an sich sollten wir die meiste Aufmerksamkeit richten, sondern auf den schwer faßbaren und beschreibbaren Vorgang, der eine Komposition, also einen Ablauf von Klängen, zu einem Kunstwerk macht.“132
Kochan postulierte hier sehr deutlich, er wolle in seinem Schaffensprozess über alle denkbaren kompositorischen Mittel verfügen, dies aber unter der Zielsetzung, auch damit ein wahrhaft sozialistisches Kunstwerk schaffen zu können, das den Anspruch nicht aufzugeben brauche, beim Hörer „eine richtige Haltung“ und „ein neues Lebensgefühl“ auszulösen. Noch ein Jahr zuvor war in „Musik und Gesellschaft“133 ein Artikel erschienen, in dem sich der Verfasser Udo Klement sehr kritisch zu den Möglichkeiten einer „humanistischen“ Aussage der neuen Stilrichtungen äußerte. Das Reihungsprinzip der seriellen Technik ergäbe keine dramaturgischen Zusammenhänge, eine programmatische Idee würde angesichts der weitgehend statisch wirkenden Klangbilder kaum sichtbar werden können. Außerdem bedauerte der Verfasser, dass ein hoffnungsfroher, positiver Schluss beim Gros der neueren Kompositionen einem grüblerisch-nachdenklichen Ende gewichen sei. Dagegen gab es aber bald Vorschläge, wie angesichts der neuen musikalischen Techniken eine neue Sichtweise bezüglich einer sozialistischen Aussage angebracht wäre. Nach wie vor, so schrieb Gerd Schönfelder 1976134, sei zu fordern, dass Musik zu einer neuen höheren Existenzform des Menschen hinführe. Eine Untersuchung der in den letzten Jahren entstandenen Instrumentalwerke habe gezeigt, dass trotz des Einsatzes neuer Gestaltungsmittel von einer eigenen Dramaturgie ausgegangen werden müsse, die durchaus Widerspiegelungsfunktion habe. Schönfelder nannte folgende, auf einen „verallgemeinernden Nenner“ gebrachte Muster, die sich in den Kompositionen zeigen ließen: „– Sammlung, Nachdenken, Besinnen; – Aufruf, Signal, Entschluß; – Aufbruch, Aufstand, Zur-Tat-Schreiten; – Tat, Aktion, Auseinandersetzung; – Erfüllung, Bewältigung, Triumph; – Rückbesinnen, Sammlung, Nachdenken.“ Diese tatsächlich sehr allgemein gehaltenen, angeblich sozialistischen Inhalte, die der Verfasser zu erkennen vermeinte, deuten wohl auf den Wunsch hin, das bisherige Konzept des Sozialistischen Realismus in die moderne Kompositionsweise hinüberzuretten. Gleichzeitig dokumentiert der Artikel die Hilflosigkeit, die entstand, wenn man musika132 Zit. nach Dibelius und Schneider: Neue Musik (wie Anm. 54) Bd. 3, S. 68 133 Ebd. S. 69f. 134 Ebd. S. 70f.
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lische Verläufe mit einer Widerspiegelungsfunktion und sozialistischem Gehalt versehen wollte. Dass die Formalismus-Debatte im Verlauf der 70er Jahre langsam im Sande verlief, zeigt ein Referat E.H. Meyers, das er 1977 auf der Zentralen Delegiertenkonferenz des Komponistenverbandes hielt, wo er als Repräsentant staatlicher Autorität verkündete, dass man sich „nicht demgegenüber, was um uns an neuen Mitteln und Techniken erfunden wird,“ verschließen würde. „Wir wissen wohl, daß in den kapitalistischen Ländern auch vieles Humane und Neuartige entsteht. Wir müssen unterscheiden, was für unsere eigenen Bemühungen verwertbar ist und was nicht.“135 Man höre und staune! E. H. Meyer, der stets die Melodie und die Tonalität zur Voraussetzung wahrhaft sozialistischer Musik erklärt hatte, öffnete sich gegenüber musikalischen Neuerungen aus kapitalistischen Ländern. Mit der anfänglichen Aufweichung des Kalten-Kriegs-Denkens scheint auch die Formalismus-Debatte seine politische Funktion verloren zu haben und endgültig ad acta gelegt worden zu sein.
4.2 Musik für Eliten im Kapitalismus Freiheit und idealistische Werte Wenn in der DDR das idealistische Denken über Musik als Kunst in das sozialistische Weltbild eingefügt und entsprechend transformiert die Musikpolitik entscheidend mitbestimmte, so lässt sich ein gleichartiger Vorgang auch für die Bundesrepublik beobachten, wo die idealistische Musikanschauung eine enge Verbindung mit dem kapitalistischdemokratischen System einging, was wiederum auch hier die Musikpolitik auf seine Weise prägen sollte. Im Rahmen des „musikalischen“ Kalten Krieges spielte die Argumentation beider Seiten eine zentrale Rolle, die Musik im Land des jeweiligen Gegners könne sich nicht frei entfalten, sie sei von den politischen „Machthabern“ gelenkt und würde für ihre Sache instrumentalisiert werden. In der BRD galt die allgemeine Überzeugung, dass die Politiker der DDR die Politisierung und damit die Einengung des gesamten Musiklebens unter der Fessel des Sozialismus betreiben würden, in der DDR war ständig der Vorwurf gegenüber der BRD zu hören, dort mache das Großkapital mithilfe der bewussten Lenkung durch Finanzierung seinen unseligen Einfluss auf die Massen der Bevölkerung geltend. In besonderem Maße galt die DDR-Kritik der wirtschaftlichen Unterstützung der Avantgarde-Komponisten, die ohne Protektion „des Kapitals“ niemals eine so bedeutende ge-
135 Ebd. S. 82
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sellschaftliche Rolle hätten erreichen können. Das liest sich in der Zeitschrift „Musik und Gesellschaft“ von 1971 beispielsweise so: „Die Protektion der neuesten Strömungen ist für die Vertreter des Großkapitals zum Kriterium des >guten Tons< geworden. Mit Mitteln aus den Rockefeller- und Ford-Stiftungen werden in den Vereinigten Staaten bestens ausgerüstete Studios für elektronische und konkrete Musik eingerichtet und spezielle Festivals organisiert. In Frankreich haben Bankhäuser das Patronat über das avantgardistische Zentrum >Domaine musicale< übernommen. Mit dem Geld schwerreicher Industrieller werden in Westdeutschland internationale Festivals moderner Musik und Seminare in Donaueschingen, Baden-Baden, Darmstadt und Köln durchgeführt. Eine solide materielle Basis ist die wichtigste Voraussetzung für die Forcierung der >avantgardistischen< Offensivhandlungen, die immer weiter von den Zielstellungen der humanistischen Kultur abweichen.“136
Auf westlicher Seite wurde derlei Argumentation als Kaltes-Kriegs-Getöse beiseite geschoben, nicht zur Kenntnis genommen und erst recht nicht diskutiert. Selbst in Kreisen der „linken“ Avantgarde-Komponisten, die sich nach den 68er-Studentenunruhen formierten, war das Thema der finanziellen Unterstützung der Avantgarde weitgehend tabu. Nichtsdestotrotz oder gerade deshalb lohnt es sich – so plakativ auch die Argumentation der DDR erscheinen mag –, nach dem Zusammenhang der westlichen Musikanschauung und Musikpolitik mit dem kapitalistisch-demokratischen System zu fragen. Wer bezahlte hier was? Bedeutete Finanzierung bereits Einfluss? Welches Interesse konnte damit verbunden sein? Von welcher Art Einfluss konnte in der Musik die Rede sein? usw. usf. Um den Fragen nachzugehen, ist ein Blick auf die musikpolitischen Bemühungen der Alliierten in den Zonen Nachkriegsdeutschlands von Nutzen, entwickelte sich doch das ehemals einheitliche „Deutsche Reich“ bereits nach wenigen Jahren unter der Ägide der Alliierten zu zwei unterschiedlichen wirtschaftlich-politischen, aber eben auch zu zwei musikpolitischen Systemen. Die vier Alliierten hatten sich im Rahmen des Potsdamer Abkommens nicht nur auf das Entnazifizierungs-, sondern auch auf das Demokratisierungsprogramm geeinigt und bald darauf in ihren Zonen den Aufbau eines „Umerziehungsprogramms“ begonnen, ein von den Amerikanern „re-education“ benanntes Programm, das die deutsche Bevölkerung in Schule und Öffentlichkeit einesteils an antifaschistische und andernteils an demokratische Zielsetzungen heranführen sollte.137 Mit Filmen, Vorträgen, Literatur-Lesungen, 136 Dibelius und Schneider: Neue Musik (wie Anm. 44) Bd. 3, S. 53 137 Mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der „re-orientation“-Politik der Alliierten wurde Anfang der 90er Jahre begonnen. Vgl. z.B. Alf Lüdtke, Inge Marßolek u. Adelheid von Saldern (Hg.): Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1996 und Detlef Junker (Hg.): Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945–1990. Ein Handbuch Bd. I, 2Stuttgart 2001
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ganz besonders mit dem Mittel des Rundfunks versuchte man, die Bevölkerung über die Gräuel der Nazi-Diktatur aufzuklären, das furchtbare Geschehen in den Konzentrationslagern wurde thematisiert, Bürger wurden zwangsweise zur Besichtigung von Lagern hingeführt. Die Massenkommunikationsmittel wurden zensiert und lizensiert, auf die Schul- und Bildungspolitik sollte Einfluss genommen werden. Eine Richtlinie der amerikanischen Regierung für den Kommandeur der amerikanischen Streitkräfte in Deutschland, General Lucius D. Clay, besagte, „daß die Umerziehung des deutschen Volkes ein wesentlicher Bestandteil jener Politik ist, die zur Entwicklung einer demokratischen Regierungsform führen soll.“138 Die USA stellten einen eigenen Arbeitsstab, die „International Control Division (ICD)“ eigens für diese Aufgabe ab. Der ICD sollte die Informationsmedien entnazifizieren, einen deutschen Pressedienst aufbauen und das Wiedererwachen des öffentlich-kulturellen Lebens kontrollieren. Wenn die ersten 2–3 Jahre in besonderem Maße der Aufgabe gewidmet waren, Parteigänger der NSDAP aus ihrem beruflichen Einflussbereich zu entfernen und faschistisches Gedankengut durch Zensur auszumerzen, so verminderte sich aufgrund der zunehmenden Spannungen zwischen den Westalliierten und der UdSSR die Betonung der antifaschistischen Zielsetzung und wich der sogenannten „re-orientation“, die in erster Linie auf deutlichen Antikommunismus setzte und damit verbunden auf eine Einbindung der westlichen Zonen in das westlichkapitalistische Bündnis abzielte. Dem Kultursektor maß man für den Erfolg der „Umerziehung“ des deutschen Volkes eine große Bedeutung bei, galt es doch, Kopf und Herz der Bevölkerung gleichermaßen zu gewinnen. Daher war auch der Bereich der Schönen Künste von den Maßnahmen der „re-education“ und „re-orientation“ betroffen. Zunächst allerdings ging es darum, unter alliierter Kontrolle die Wiederinbetriebnahme kultureller Einrichtungen zu fördern. Soweit es die Musik betraf, unterstützten die Siegermächte das Weiter-Funktionieren zuvor bestehender Orchester und musikalischer Konzert- und Ausbildungseinrichtungen, das Musikleben sollte seinen Fortgang nehmen. Es lag in der Natur der Sache, dass sich das musikalische Programmangebot in den ersten Jahren sehr stark an den traditionell „großen“ Komponisten ausrichtete: Beethoven, Mozart, Bach, Händel, Brahms, Bruckner, Wagner usw., die gemäßigten Modernen wie Wolfgang Fortner, Boris Blacher oder Paul Hindemith erschienen anfangs vereinzelt, in den Folgejahren dann verstärkt, während die musikalische Öffentlichkeit die Komponisten der Zwölftonmusik Schönberg, Berg, Webern in West wie in Ost kaum zur Kenntnis nahm. Eine entscheidende Neuorientierung des musikalischen Programmangebots erfolgte dagegen im Rahmen der Rundfunkanstalten. Alle vier Besatzungsmächte hatten in kürzester Zeit ihre eigenen Sendestationen in Deutschland etabliert, konnten sie doch davon 138 Zit. nach Rebecca Boehling: Die amerikanische Kulturpolitik während der Besatzungszeit 1945– 1949, in: Detlef Junker (Hg.): Die USA (wie Anm. 136), S. 593
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ausgehen, dass das Radio als ein zentrales Medium ihres „re-education“-Programms einsetzbar war. Bereits am 4.5.1945, also 3 Tage vor der offiziellen Kapitulation (7.5.1945), hatte Radio Hamburg unter britischem Kommando den Sendebetrieb aufgenommen, am 12.5.1945 folgte Radio München unter amerikanischer Leitung. In Kürze eröffneten die Briten eine zusätzliche Sendeposition in Köln (NWDR), die amerikanischen Militärbehörden hatten bald Stationen in Stuttgart, Frankfurt, Bremen und Berlin (RIAS Berlin), in Baden-Baden sendete der französische Südwestfunk und in Berlin der unter sowjetischer Besatzung stehende Berliner Rundfunk. Nach der Teilung Deutschlands 1949 schlossen sich die öffentlichen Rundfunkanstalten der Westalliierten zwar zur ARD (Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands) zusammen, unterstanden aber bei relativer Selbständigkeit der Programmgestaltung doch bis 1955 der alliierten Funkhoheit. Erst in dem Jahr wurde mit dem Deutschlandvertrag die volle Souveränität der Bundesrepublik im Rundfunkbereich wiederhergestellt. In den westlichen Sendern verlief die musikalische Programmgestaltung mehrgleisig. Einesteils wurden deutsche Traditionen gepflegt. Neben der Ausstrahlung der „klassischen“ Werke – die Rundfunkanstalten bauten sehr schnell ihre eigenen Orchester auf – galt auch der Fortsetzung der Singbewegung großes Interesse. Um das „deutsche Liedgut“ zu pflegen, gab es die bereits erwähnten „Sing-mit“-Sendungen. Neben diesem der Tradition verpflichteten Bereich verfolgten die westlichen Sender im Rahmen des „re-education“-Programms die Tendenz, jene Musikrichtungen und Komponisten, die unter der Nazi-Herrschaft mehr oder minder verboten gewesen waren, an die Öffentlichkeit zu bringen. Dazu gehörte der Jazz und Teile der an ihm orientierten Tanzmusik ebenso wie das Gros der seinerzeit zur „entarteten Musik“ deklarierten Kompositionen. Weniger Interesse zeigten die Rundfunksender der Westalliierten allerdings gegenüber den mit sozialistischen Zielsetzungen komponierenden Musikern wie Hanns Eisler oder Kurt Weill, die ja ebenfalls unter der Nazi-Herrschaft emigrieren mussten. Der Kalte Krieg wirkte sich sehr schnell auch und gerade in der Programmgestaltung der Rundfunksender aus. Ansonsten aber wurde vieles von dem gesendet, wogegen sich das „Dritte Reich“ abgeschottet hatte, das betraf die innerdeutsche Musikszene ebenso wie ausländische, westliche Einflüsse. In diesem Sinne agierte auch der unter amerikanischer Hoheit stehende Sender Radio München. Unmittelbar nach Ende des Krieges hatte sich die amerikanische Militärregierung darum bemüht, einen politisch unbescholtenen Fachmann zu finden, der in der Lage wäre, das während der Nazizeit dem Publikum vorenthaltene musikalische „Erbe“ der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Münchner Komponist Karl Amadeus Hartmann (1905–1963) schien dafür besonders geeignet zu sein. Hartmann war als Schüler Hermann Scherchens bereits in den letzten Jahren der Weimarer Republik der Moderne zugetan, hatte seine ersten Kompositionen herausgebracht, die musikalisch, aber auch wegen der Texte nicht ins Konzept der Nazi-Ideologie passten, hatte während des Dritten
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Reiches nichts mehr in Deutschland publizieren, dafür aber einige seiner Werke im Ausland veröffentlichen können. Als eine Person, die weder persönlich noch beruflich mit dem Nazi-Regime zusammengearbeitet hatte, wurde er vom Office of Military Government of the United States for Germany (OMGUS) im Sommer 1945 als Dramaturg an die Bayerische Staatsoper berufen. Gleichzeitig erhielt er den Auftrag, mit Nachmittagsvorstellungen zum Aufbau des Konzertlebens beizutragen. Am 7. Oktober veranstaltete Hartmann im nicht zerstörten Prinzregententheater sein erstes Konzert mit Werken von Feruccio Busoni, Gustav Mahler und Claude Debussy, die alle drei während des „Dritten Reiches“ nicht hatten aufgeführt werden dürfen. Innerhalb eines Jahres gelang es Hartmann, 10 Konzerte auf die Beine zustellen. Deren Programm war eine Mischung aus klassischem Traditionalismus und avantgardistischer Musik, denn es war für Hartmann klar, dass er allein mit Werken der Moderne das Publikum nicht würde anziehen können: „Da das Publikum der neuen Musik vollständig entwöhnt ist und sogar die Musiker den fremden Klängen vollständig hilflos gegenüber stehen, muss ich mit viel Geduld und Vorsicht vorgehen.“139 Als ein Bewunderer der Zweiten Wiener Schule brachte er jedoch in den Folgejahren nicht nur Schönberg, Berg und Webern, sondern auch Bartók, Strawinsky, Prokofjew, Milhaud, Honegger u.a. zu Gehör. Die Konzertreihe, die Hartmann „musica viva“ benannte, wurde 1948 von Radio München in die Gesamtverantwortung übernommen und von nun an als regelmäßige Sendung ausgestrahlt. Hier sollten bald auch junge Komponisten wie etwa Hans Werner Henze Unterstützung finden. Eine ähnliche Protektion der zuvor in Deutschland verbotenen Moderne geschah auch beim amerikanischen Sender des Berliner RIAS. Dort wurde dem im „Dritten Reich“ mit Berufsverbot belegten Komponisten und Musikkritiker Hans-Heinz Stuckenschmidt die Leitung des Studios für Neue Musik übertragen, da er sich schon in der Weimarer Zeit publizistisch für die Avantgarde eingesetzt hatte. Dass „die Moderne“ damit in beiden amerikanischen Sendern, im RIAS ebenso wie bei Radio München, eine eigene Sendung erhielt und nicht einfach im Programm der allgemeinen Musiksendungen integriert wurde, mag als Zeichen gelten, welche Bedeutung die Amerikaner diesem Sektor der Musikkultur beimaßen. Mit diesen Sendungen ließ sich demonstrieren, wie frei und unbegrenzt die Kunst innerhalb des westlichen politischen Systems agieren könnte. Die informatorische Öffnung im Gegensatz zur Nazi-Diktatur versprach Freiheit, Musik sollte sich wieder frei und ungehemmt von willkürlichen Begrenzungen des Staates entfalten können. Es war ein Anliegen der drei westlichen Regierungen, die Besatzung und Neuorganisation Deutschlands als Ende einer Diktatur und damit als Wiedergewinnung von Freiheit für das deutsche Volk zu propagieren. Eklatant stellte sich der RIAS Berlin als „freie Stimme der freien Welt“ dar. Jeden Sonntag schickte er um 12 Uhr mit gezielter
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Dramatik das Läuten der „Berliner Freiheitsglocke“ vom Schöneberger Rathaus durch den Äther, gefolgt vom Verlesen des „Freiheitsgelöbnisses“. Auch der unter französischem Kommando stehende Südwestdeutsche Rundfunk Baden-Baden versuchte erfolgreich, sich als Förderer der Moderne zu etablieren. Man gewann den Musikwissenschaftler Heinrich Strobel, der sich vor 1933 als Schriftleiter von „Melos“ der Moderne verschrieben hatte und 1939–1944 als Auslandskorrespondent für die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ in Paris tätig gewesen war, als leitenden Musikredakteur. Ihm gelang es, im Jahre 1950 die Donaueschinger Musiktage wieder zu neuem Leben zu erwecken. Anfang der 20er Jahre hatte sich der Fürst von Donaueschingen als Mäzen neuer Musik erwiesen und auf seinem Schloss ein Forum für junge Komponisten etabliert, wo sich Hindemith einen Namen machte, wo auch Werke von Schönberg, Berg und Webern, von Busoni, Eisler, Weill, Milhaud und Strawinsky, aber auch experimentelle Formen zur Aufführung gelangten. Bei den nun wiederum jährlich stattfindenden Musiktagen war der Südwestfunk nicht nur wesentlicher Geldgeber, sondern er stellte für die Aufführungen moderner Musik auch sein eigenes Rundfunkorchester zur Verfügung und bestimmte die Auswahl des Programms. In ganz anderer Weise wurde der unter britischer Hoheit stehende Nordwestdeutsche Rundfunk als Förderer der Neuen Musik in Köln tätig. Dort errichtete er 1951 in Zusammenarbeit mit dem Komponisten und Musikwissenschaftler Herbert Eimert, der in den 20er Jahren eine Atonale Musiklehre geschrieben hatte, und mehreren Forschern auf dem Gebiet elektrisch-elektronischer Klangerzeugung ein eigenes Tonstudio für elektronische Musik. Während in den ersten Jahren die wissenschaftlich-physikalische Untersuchung von elektronisch erzeugten Tönen im Vordergrund stand, arbeiteten dann vor allem junge Komponisten daran, die neu sich eröffnenden Klangphänomene, besonders auch die Isolierung und damit Komponierbarkeit des Parameters „Klangfarbe“ kompositorisch umzusetzen. Zwei Schüler des französischen Komponisten Olivier Messiaen, der Ende der 40er Jahre den Gedanken der Organisation von Tonhöhen auch auf ihre Dauern, Lautstärken und konzeptuell auf die Klangfarben übertragen hatte, wurden die bekanntesten Vertreter der von nun an „seriell“ genannten Musikrichtung: Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen. Letzterer begann, im Kölner Studio seine zuvor in Frankreich gemachten Erfahrungen einzubringen und zusammen mit Eimert und anderen Komponisten wie Henri Pousseur und Gottfried Michael Koenig an der Manipulation von Sinustönen zu arbeiten. Der NWDR stellte den Komponisten im Studio die technische Ausrüstung zur Verfügung. Nachdem sich im Laufe der Arbeit neue Fragestellungen ergeben hatten, nachdem aber auch in den USA weitere technische Entwicklungen, besonders die der Spannungssteuerung, stattgefunden hatten, investierte man in den 60er und 70er Jahren große Summen in ein Instrumentarium, das dem neuesten Stand der Technik entsprechen sollte. 1963 übernahm Karlheinz Stockhausen die Leitung des Studios. Den Klang in allen seinen Eigenschaften auszuloten, zu erforschen und sich
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somit neue Dimensionen des kompositorischen Schaffens zu eröffnen, war und ist das Ziel des Studios. Zentrum der musikalisch-musikästhetischen Diskussion über Neue Musik aber wurde Darmstadt. Die seit 1946 dort im Jagdschloss Kranichstein stattfindenden Ferienkurse zogen Komponisten aus nah und fern an. Unter der Ägide der amerikanischen Militärregierung und von ihr in den Anfangsjahren finanziert, versuchte der damalige Leiter des Kulturamtes Wolfgang Steinecke der Stadt Darmstadt, der die ehemalige Funktion als Landeshauptstadt durch die Besatzungsmacht entzogen worden war, dadurch zu neuer Bedeutung zu verhelfen, dass er Kultur und Künste stärker in der Stadt verankern wollte. Steinecke organisierte zunächst Kulturveranstaltungen, im Oktober 1945 bereits die erste größere Kunstausstellung Südwestdeutschlands mit dem Thema „Zeitgenössische Kunst“. Im „Dritten Reich“ hatte sich Steinecke als Kulturkorrespondent verschiedener führender Reichszeitungen hervorgetan und sich häufig genug in nationalsozialistischem Sinne über Kunst, Musik und die Moderne geäußert.140 Man könnte ironischerweise meinen, dass das „Umerziehungsprogramm“ der alliierten Besatzungsbehörden bei Steinecke auf fruchtbaren Boden gefallen sein muss, da er so plötzlich zum Verfechter der Moderne und einer „freien“ Musikvielfalt wurde. In dem von ihm verfassten Faltblatt, das im Rahmen der ersten „Darmstädter Ferienkurse“ 1946 dem Programmheft beigelegt war, propagierte er eine Sichtweise, die aus heutigem Blickwinkel in auffälliger Weise dem „re-education“-Programm der Militärverwaltung sowie den inhaltlichen Ansätzen der genannten Rundfunkanstalten entsprach. Das Musikleben sei in Deutschland unter den reaktionären Strukturen der Nationalsozialisten fast zum Erliegen gekommen, „zwölf Jahre lang [...] hat eine verbrecherische Kulturpolitik das deutsche Musikleben seiner führenden Persönlichkeiten und seines Zusammenhanges mit der Welt beraubt.“141 Die junge Komponistengeneration, die mit Marschliedern und Feiermusiken hätte aufwachsen müssen, hätte keine Perspektive gehabt, da ihr u.a. die Möglichkeit genommen gewesen sei, die musikalische Entwicklung des Auslands kennenzulernen. Gerade die junge Generation aber solle nun an die Internationale Neue Musik herangeführt werden. Somit sollten die Darmstädter Ferienkurse dem deutschen Musikleben einen lebensrettenden Anstoß geben. Sich aus der rückwärtsgewandten, stagnierenden Isolation befreiend, sollten neue dynamische Wege beschritten werden, um endlich wieder von deutscher Seite an der internationalen Entwicklung mitwirken zu können.
140 Zur Rolle Steineckes im Nationalsozialismus vgl. Michael Custodis: „unter Auswertung meiner Erfahrungen aktiv mitgestaltend“. Zum Wirken von Wolfgang Steinecke bis 1950, in: Albrecht Riethmüller (Hg.): Deutsche Leitkultur Musik? Zur Musikgeschichte nach dem Holocaust, Stuttgart 2006, S. 145–162 141 Zit. nach Custodis: Auswertung (wie Anm. 140), S. 155
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Und tatsächlich gelang es den Organisatoren, mithilfe einer mehrgleisigen Strategie der Einrichtung ein aus dem sonstigen Musikleben herausragendes Profil zu verleihen: Kompositions- und Interpretationskurse verband man mit Vorlesungen zur Ästhetik und Musikgeschichte, gleichzeitig konnten sich die Kurse mit Kompositionsaufträgen und Konzerten als Spiegel der neuesten Entwicklungen etablieren und der Öffentlichkeit präsentieren. Steinecke begann 1946 damit, zunächst einmal junge Komponisten mit den im „Dritten Reich“ verbotenen Werken zwecks allgemeiner Orientierung bekannt zu machen, mit Bartók, Schoenberg, Strawinsky, Blacher, Fortner und Hindemith, nach den ersten 2 Jahren dann mehr mit dem Spätwerk Schoenbergs. Nicht dabei waren bezeichnenderweise ehedem verbotene Werke sozialistischer Komponisten. Hanns Eisler oder Kurt Weill fehlten im Programmangebot der Darmstädter, während Ernst Krenek (1927 Uraufführung seiner Jazz-freundlichen Oper „Jonny spielt auf “) dort 1950/51 gefeiert wurde. Linkspolitisch engagierte Musik, wie sie noch in den letzten Jahren der Weimarer Republik innerhalb des Kunstbetriebs aufgeführt worden war, wurde von vornherein von den Initiatoren der Ferienkurse ausgespart, was sich nur mit dem antikommunistischen „re-orientation“-Kurs der amerikanischen Besatzungsmacht erklären lässt. Bereits 1947 waren auffallend viele Rundfunkleute bei den Darmstädter Kursen anwesend: Heinrich Strobel (Südwestfunk), Hans-Heinz Stuckenschmidt (Rias), Karl Amadeus Hartmann (Radio München) und Rolf Liebermann (Studio Zürich). Allmählich übernahmen Rundfunkanstalten, Musikverlage sowie – nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland – auch die öffentliche Hand die Finanzierung. Nach der ersten „Informationsphase“ rückten Anfang der 50er Jahre mehr und mehr die Kompositionskurse in den Vordergrund. Namhafte Lehrkräfte und Verfechter der Avantgarde Hermann Scherchen und René Leibowitz konnten gewonnen werden, bekannte Komponisten, Theaterfachleute, Musikkritiker und –wissenschaftler (nicht zuletzt Theodor W. Adorno). Und der Bedarf an neuer Orientierung war offensichtlich da. Bereits im 1. Jahr überstieg die Zahl der Interessenten die vorhandenen Plätze. Das internationale Renomée stieg und damit auch der Anteil ausländischer Gäste. In Darmstadt fand ein wesentlicher Teil des internationalen Gedankenaustauschs der westlichen musikalischen Avantgarde statt. Mitbedingt durch die Auswahl der Referenten und Kursleiter durch Wolfgang Steinecke setzte sich Anfang der 50er Jahre immer stärker jene Kompositionsrichtung durch, die in der Weiterentwicklung des dodekaphonen Werkes Schoenbergs, besonders dann Anton Weberns, die zeitgemäße Kompositionsweise erblickte und der darauf aufbauenden seriellen Komposition den Stempel des Fortschritts aufdrückte, während sie den tonalen, klassizistischen, neo-romantischen Richtungen traditioneller Art eine Absage erteilte. In Darmstadt wurde diese Richtung besonders gestützt durch die Zusammenarbeit mit Vertretern des Kölner elektronischen Studios beim NWDR, Pierre Boulez und Karl-Heinz Stockhausen, deren Einfluss dominierend und richtungweisend für den „mainstream“ der sich als Avantgarde verstehenden Komponisten werden sollte.
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Die großen Rundfunkstationen „stürzten“ sich auf die neu entstehenden Kompositionen, denn sie alle hatten einen medienimmanenten Bedarf an neuem Sendematerial und benötigten ständigen Nachschub neuer Produktionen. Ihre Förderung des Neuen, der Moderne, mit den Einrichtungen ihrer speziellen Studios, zum Teil ihrer speziellen Orchester, mit der Ausschreibung von Wettbewerben, mit der Finanzierung von öffentlichen Konzerten, Kursen und Festivals der neuen Musik und nicht zuletzt mit ihren Radiosendungen ließ ein relativ breitgefächertes Angebot entstehen zur Weckung der öffentlichen Nachfrage. Die Protektion durch den Rundfunk war annähernd der ehemaligen Patronage früherer Fürstenhäuser vergleichbar und hatte zum Ergebnis, dass zwischen 1946 und 1975 ARD und RIAS zusammen 933 Werke der Neuen Musik sendeten, dass allein in den 3 Jahren zwischen 1979 und 1981 11 westdeutsche Sender über 100 eigene Produktionen als live- oder Studio-Aufnahmen zu verzeichnen hatten, dass es bereits um 1958 über 20 Festivals oder Konzertreihen für Neue Musik gab, die alle mehr oder weniger von Rundfunksendern finanziert wurden:142 „Musik der Gegenwart“ in Berlin, „Das Neue Werk“ in Hamburg, „Musik der Zeit“ in Köln, „Musik unserer Zeit“ in Stuttgart, „Tage der Neuen Musik“ in Hannover, „Ars Nova“ in Nürnberg und vieles mehr. Die Förderung der Neuen Musik durch die Radiosender war nach den Anfängen, die die alliierten Militärregierungen in die Wege geleitet hatten, unter anderem der Struktur des deutschen Rundfunksystems zuzuschreiben, das einesteils staatlich finanziert wurde, andernteils die einzelnen Stationen unter Länderhoheit gestellt hatte. Anders als in den USA, wo die zahlreichen privaten Sender im Wettbewerb um die Gunst ihrer Hörer standen und sich daher den Wünschen eines möglichst großen Hörerkreises anzupassen suchten, verstand sich der Rundfunk in der BRD als Medium des öffentlichen Bildungsauftrags. In diesem Rahmen begriffen es die aus Landesgeldern öffentlich finanzierten Sendeanstalten als ihre Aufgabe, nicht nur die allgemein beliebte traditionelle Musik zu verbreiten, sondern bewusst auch Informationen über die innovativen Künste an die Bevölkerung heranzutragen. In der Ausrichtung der Programme kam zum Tragen, was nach allgemeinem Verständnis zur Bildung zählte. Und dazu gehörte ungefragt nicht nur das traditionelle Konzert, sondern gerade auch die je neueste Musikentwicklung. Obwohl ihre Hörerschaft aufgrund musikalischer Verständnisschwierigkeiten der Allgemeinheit auf einen relativ kleinen Bevölkerungsausschnitt beschränkt bleiben sollte, stand zunächst hinter der öffentlichen Förderung die Hoffnung, dass die Hörerinnen und Hörer durch Gewöhnung, besonders aber auch durch Erklärungen, Analysen und Erläuterungen zu vermehrter Akzeptanz gebracht werden könnten.
142 Zit. nach Amy C. Beal: New Music, New Allies. American Experimental Music in West Germany from the Zero Hour to Reunification, Berkeley 2006, S. 53
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Als wichtiger Bereich der Schönen Künste konnte Neue Musik ohne finanzielle und institutionelle Förderung aber nicht existieren. Es gehörte ja zur Geschichte der bundesrepublikanischen Kunstförderung, dass die öffentliche Hand die Kulturentwicklungsaufgaben übernahm und zu ihrer Aufgabe erklärte. Dahinter verbarg sich das Wissen, dass sich neue Kunstmusik nur dann entwickeln könne, wenn dazu für die Komponisten, die Orchester und für das Auditorium die finanziellen, räumlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen geschaffen würden. Nur auf gesicherter ökonomischer Basis könne sich musikalischer Fortschritt „frei“ entfalten. Die Förderung der Moderne wurde argumentativ wesentlich gestützt durch eine Kombination vom Gedanken musikalischen Fortschritts mit der Vorstellung von künstlerischer Freiheit, die beide zusammen mit Vehemenz von vielen Komponisten der Avantgarde vertreten und der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Jetzt wurde endgültig das Fortschrittliche, verstanden als „das je Neue“ und Originelle zur Voraussetzung kompositorischer Qualität. Das klang dann beispielsweise bei György Ligeti folgendermaßen: „Etwas wiederzukäuen, was schon einmal da war, finde ich eigentlich überflüssig. Wir müssen schon etwas Originelles finden, jeder für sich.“
Oder: „Ich möchte aber eine Musik, die ganz persönlich ist und neu ist [...] Musik also, die tatsächlich neue musikalische Ideen enthält.“143
Oder etwa wie sich Pierre Boulez gegenüber den neoklassizistischen Kompositionsbemühungen äußerte: Dort gebrauche man die bisherigen musikalischen Normen und mische ihnen etwas „Chaos“ bei, „gerade das, was wir brauchen, um unserem Bedürfnis nach Neuheit entgegenzukommen. Wir wollen nicht immer wieder die gleichen Verbindungen, die gleichen Objekte hören; wir nehmen also diese Objekte und fügen ihnen einen systemlosen Zusatz bei, ein Ornament, das in dieses erkennbare Objekt eine Prise Unvorhersehbarkeit hineinträgt, ein scharfes Gewürz für ein fades Gericht. [...] Man könnte von einer Kultur für abgestumpfte Gaumen sprechen, oder von einem Antiquitätenhändler, der aus einer alten Trompete eine Nachttischlampe bastelt.“144
Angesichts des Vergleiches mit dem bastelnden Antiquitätenhändler fühlt man sich an Kritiken des 19. Jahrhunderts erinnert, die ebenfalls die Innovation zum Qualitätskriterium erhoben und ihrer Ansicht nach veraltete Kompositionsstile mit Haartroddeln oder einer Allongeperücke in Verbindung gebracht hatten. In ähnlicher, doch jetzt viel radikalerer und zwingenderer Weise dem Fortschrittsdenken verhaftet, war man biswei143 Interview in: Neue Zeitschrift für Musik (1981), S. 471 144 Pierre Boulez: Leitlinien. Gedankengänge eines Komponisten, aus dem Französischen von Josef Häusler, Kassel 2000, S. 335f.
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len schnell mit dem Urteil bei der Hand, wenn es um Kollegen ging, die sich auch nur ansatzweise traditioneller Stilmittel bedienten. Penderecki wurde als reaktionär bezeichnet, als „tonaler Paarhufer“, Hans Werner Henze grenzte man in Donaueschingen und Darmstadt wegen vermeintlichem Traditionalismus aus. Die Vorstellung, musikalisch fortschrittlich zu sein und sein zu müssen, drängte sich besonders dadurch auf, dass die akustisch-technischen Entwicklungen in den Rundfunkstudios „Fortschritte“ machten und dass die Kompositionsweisen sich nun eng an deren Neuerungen orientierten. Nicht von ungefähr spielten Stockhausen und Boulez, die zwei Experimentatoren der elektronischen Studios, eine dominante Rolle in den Diskussionen von Darmstadt, die Entwicklung der seriellen Techniken war schließlich eng an die elektronische Ausdifferenzierung von Tonparametern geknüpft. Die auf Basis des technischen Fortschritts neuen Möglichkeiten der Klangzerlegung, Klangproduktion und ihrer Manipulation hatten ein Bewusstsein von musikalischem Fortschritt gefördert, bei dem das Erzeugen von Neuheiten, von bislang nicht Dagewesenem als persönlicher Anspruch des einzelnen Komponisten verinnerlicht wurde. Mithilfe technischer Tonmanipulation eröffneten sich Möglichkeiten zu neuen Kompositionsprinzipien, zu neuen Gestaltungsmethoden struktureller und formaler Art. Bald jedoch wurden die Grenzen der seriellen Kompositionsweise – der Arbeit mit Reihen aller musikalischen Parameter – erkannt. Ligeti führte bereits 1960 aus, dass dieses neuartige serielle Ordnungsprinzip nur eine kompositorische Methode sei, die man nicht zum Selbstzweck verabsolutieren solle. Die „Vorformung“ des musikalischen Materials und die Vorherbestimmung aller kompositorischen Parameter führe, abgetrennt vom eigentlichen Kompositionsprozeß, zu einem Überhandnehmen der Methode, die so zum Selbstzweck werde. „Aufgrund dieser Verwechslung des künstlerischen Schaffens mit der doppelten Buchführung muß die Invention, falls eine solche überhaupt vorhanden ist, in die sorgfältig im voraus zubereitete serielle Organisation, wie die Seele in den Golem, erst nachträglich eingeblasen werden. Die selbstentworfenen, freiwillig angenommenen Zwangssysteme stellen dann dem eigentlichen Komponieren Hindernisse entgegen ...“145 Das musikalische Ordnungsprinzip, das man zunächst in der seriellen Technik gefunden zu haben vermeinte – Pierre Boulez bezeichnete es sogar als „objektives Gesetz“ –, wurde bald von vielen als Korsettierung des schöpferischen Einfalls begriffen. Gleichwohl blieben die Erwartungen an die noch zu entdeckende musikalische Zukunft groß. Die Suche und das Aufspüren von neuen Klängen, neuen musikalischen Formen und Gestalten zeigten erstaunliche Parallelen zu den Marktstrategien der kapitalistischen Gesellschaft. Lebt doch das kapitalistische Wirtschaftssystem von der ständigen Erneuerung des Angebots und der konstanten Weckung neuer Bedürfnisse. Es waren bemerkenswerter Weise nun gerade die nicht privat-wirtschaftlich arbeitenden öffentlichen Rundfunk145 Monika Lichtenfeld (Hg.): Ligeti, György. Gesammelte Schriften I, Mainz 2007, S. 112f.
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anstalten, die nolens – volens innerhalb des Systems von Angebot und Nachfrage agieren sollten, denen es aber nur in begrenztem Maße gelingen sollte, ein öffentliches Bedürfnis und Interesse für die avantgardistische Musik zu wecken. Die im Vergleich zum diesbezüglichen „Erfolg“ großen finanziellen Anstrengungen der öffentlichen Rundfunkanstalten, die Moderne zu verbreiten, wurden wesentlich getragen vom Gedanken der „künstlerischen Freiheit.“ Allerdings erhielt der in der idealistischen Musikästhetik des 19. Jahrhunderts so stark strapazierte Begriff nun eine neue Variante. Während seinerzeit Freiheit verstanden wurde als Kontrast zur erdgebundenen Notwendigkeit menschlichen Daseins, als ein Ideal menschlichen Geistes, dem wir mithilfe der Vermittlerfunktion von Musik und Kunst uns nähern könnten, kann man im Schrifttum der Avantgarde-Komponisten, in ihren Reden, Kommentaren und Interviews nachlesen, zu welch enger Symbiose der Freiheitsbegriff mit dem kapitalistischen Fortschrittsgedanken, Musik müsse ständig etwas Neues bieten, verschmolz, „neu“ und „frei“ wurden fast zu Synonymen. Denn, so lautete die Argumentation, nur gedankliche Freiheit ohne Begrenzung könne die musikalische Phantasie so anregen, dass jegliche Art neuer Gestaltungsweisen entwickelt und erprobt werden könnten. „wir hängen fest in begriffen, sind eingefangen in systeme, üben bloße gewohnheiten aus, pflegen standpunkte, plappern meinungen, verkümmern zur harmlosigkeit. – anstatt: herauszuschreiten, vibrationen aufzunehmen, schwingungen zu bewegen [...] es ist höchste Zeit, daß wir FREIHEIT offen praktizieren [...] zu neu anderem...“,146
ermunterte Hans Joachim Hespos seine künstlerischen Kollegen 1983. Zu der Zeit hatte sich bereits eine jüngere Komponistengeneration der Öffentlichkeit präsentiert, zu der u.a. Hespos, Wolfgang Rihm, Helmut Lachenmann und Dieter Schnebel zählten. Durch sie wurden Freiheit und Innovation endgültig miteinander verschmolzen und in einer zuvor nie so deutlich artikulierten Weise zu einer Ästhetik der musikalischen Moderne vermengt. Bereits Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre wurde von ihnen die serielle Technik als Kompositionsdiktat in Frage gestellt und aufgebrochen. Der Avantgarde der 50/60er Jahre, die sich ja ihrerseits schon als „Befreier“ von musikalischen Traditionen verstanden hatte, wurde eine „menschlich-seelische Entfremdung in einer rationalistisch-materialistisch geprägten Welt“ nachgesagt, das abstrakt-konstruktive Denken der seriellen Musik sowie die sie konterkarierenden Versuche der Aleatorik habe die Substanz der Musik auf ihr Medium verlagert, sie veräußerlicht und ihre „sinnliche Qualität prostituiert“.147 Dagegen suchte man nun anzugehen, suchte wiederum nach Neuem und fand es in einer neuen „Freiheit“, auch mit traditionellem musikalischem 146 Randolph Eichert und Stefan Fricke (Hg.): Hespos, Hans-Joachim …rede Zeichen. Texte zur Musik 1969–1999, Saarbrücken 2000, S. 62 147 Wolfgang von Schweinetz in Neue Zeitschrift für Musik 1979, S. 19
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Material in neuer Weise umzugehen. Man bediente sich wieder tonalen Materials, nicht der Funktionstonalität im herkömmlichen Sinne, sondern der konsonanten Einzelklänge, erstrebte gegenüber der eher technisiert „hartherzig“ wirkenden Kompositionsart eine mehr emotionale, subjektiv expressive Schreibweise, es gab zum Teil wieder Motive, Themen oder traditionelle Formkonzepte. Ligeti beschrieb seine Arbeitsweise 1971 in einem Interview zur Frage „Sind Sie unter die Konservativen gegangen?“ folgendermaßen: „Nach einer langen Periode, in der die Tonalität abgenutzt worden ist, kam es zu ihrem Verbot, weil ein Impuls da war, etwas völlig anderes zu machen. Aber jetzt ist das ganz andere, Zwölftontechnik und serielle Musik inbegriffen, also die Reaktion gegen die tonale Musik, inzwischen auch reaktionär; jetzt kommt die Reaktion gegen die Reaktion. Das bedeutet nicht, daß die Tonalität in ihrer alten Form Bedeutung haben würde, aber immerhin, man ist nicht mehr so übersensibel. Im Prinzip ist alles erlaubt. [...] Ich würde mich jetzt vor nichts mehr fürchten, weil ich nicht ideenfrei, aber ideologisch frei komponieren will. Man soll sich nicht bestimmte Beschränkungen auferlegen...“148
Und weiterhin sprach Ligeti in diesem Zusammenhang vom „Prozeß der Befreiung“. Wenn der Komponist hier die serielle Phase als reaktionär bezeichnete, dann kann dies symptomatisch für ein Entwicklungs- und Fortschrittsdenken angesehen werden, das den Zwang zur fortwährenden Innovation in sich birgt. Man bedenke, dass im Jahr des Interviews 1971 die Zeit des streng seriellen Komponierens gerade einmal einen Zeitraum von 15 Jahren eingenommen hatte, eine sehr kurze Phase im Vergleich zur Dauer früherer musikalischer Kompositionsstile. Es wurde von nun an immer häufiger, dass ein und derselbe Komponist seine eigenen Kompositionen aus einigen Jahren zuvor als veraltet deklarierte und erklärte, er würde heute so nicht mehr schreiben. Wolfgang Rihm forderte „den Schnitt ins Fleisch“. Der Künstler solle sich nicht nach Moden, Stilen richten. „Nur ein ungebundener Geist, ein unbändiger, ist Komponist; nicht der permanente Reagierer [...] junger Komponist sein ist ein sinnlich moralischer Akt, sichtbar gewordene Verantwortung einer Freiheit gegenüber, die darin besteht, sie zu verteidigen: die künstlerische Freiheit. Weil es künstlerische Freiheit gibt, gibt es auch keinen Kanon der Übertretungen“.149 Sich selbst und seine Schreibweise weiterzuentwickeln, wird nun zur je wiederzugewinnenden „Freiheit“ stilisiert. Sogar von der Würde und Selbstbestimmung der Musik ist in diesem Zusammenhang die Rede.150 Den gleichen Tenor vertrat Dieter Schnebel in einem Interview von 1971. Auch für ihn war Musik „die Sprache der Freiheit“.
148 Dibelius und Schneider: Neue Musik (wie Anm. 44) Bd. 3, S. 98f. 149 Neue Zeitschrift für Musik 1979, S. 8 150 Hans Christian von Dadelsen in Neue Zeitschrift für Musik 1979, S. 13
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„Denn wenn wir auf eine Sprache der Freiheit hinauswollen, und darauf sollen wir hinauswollen, dann doch nur so, daß wir uns keinem der vorhandenen Kommunikationssysteme verschreiben [...] Ich sehe eines der Merkmale avantgardistischer Kunst darin, daß sie Befreiung zustandebringt [...] Indem sie [...] in verschlüsselter Form Befreiung vorführt, nimmt sie teil am allgemeinen Aufklärungsprozeß.“151
Wiederum wird auch bei Schnebel die Vorstellung von Freiheit damit verbunden, dass neue Kommunikationssysteme ausprobiert werden können und dies per se Befreiung bedeuten würde. Daraufhin befragt, in welcher Richtung denn diese Befreiung zu denken wäre, erklärte Schnebel: „Ich würde einen Zustand als wünschenswert bezeichnen, in dem jeder in extremem Maß Individuum sein kann.“152 Es ist eine These der vorliegenden Arbeit, dass die in der Bundesrepublik deutlich zu beobachtende Verschiebung ehemals idealistischer Ästhetik zu einer Fokussierung auf den Begriff künstlerischer individueller Freiheit in engem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und politischen Anbindung der BRD an das westlich-kapitalistische Wirtschaftssystem steht, ganz besonders auch dadurch begünstigt, dass die BRD seit der Teilung Deutschlands als „vorgeschobener Posten“ westlich verstandener Freiheit seine spezielle Funktion im Kalten Krieg zu übernehmen hatte. Die These findet Unterstützung und Untermauerung durch eine Reihe von Publikationen seit Ende der 90er Jahre, in denen sich Wissenschaftler unterschiedlicher Richtungen mit der Thematik befassen, in welchem Maße in der BRD eine Ausrichtung auf die US-amerikanische Kultur hin stattgefunden habe und wie stark Prozesse gesellschaftlichen Verhaltens und Denkens seit 1945 angesichts der deutschen Verflochtenheit in die Dominanz der US-amerikanischen Wirtschaft beeinflusst worden seien. Am Ende des Jahrhunderts hatte man den notwendigen zeitlichen Abstand zur Befreiungseuphorie der ersten Nachkriegsjahrzehnte, um sich erste Fragen nach der Herkunft eigener Bewertungskriterien stellen zu können. Was allgemein als „Amerikanisierung“ beobachtet und referiert wurde, beschäftigt sich vor allem mit den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, beschreibt aber teilweise auch die Auswirkungen auf die Gegenwart. Für den Bereich geistesgeschichtlicher und künstlerischer Belange wurde beispielsweise von Paul Betts153 analysiert, wie die Bauhaus-Architektur und ihre Nachfolge mit starker Unterstützung der USA als Kontra-Architektur zur sozialistischen „StalinBauweise“ propagiert wurde, wie mit hoher finanzieller Beteiligung der amerikanischen Regierung die Architekten Walter Gropius und Mies van der Rohe durch Presse und
151 Hansjörg Pauli: Für wen komponieren Sie eigentlich?, Frankfurt/Main 1971, S. 25–29 152 Ebd. S. 33 153 Paul Betts: Die Bauhaus-Legende. Amerikanisch-Deutsches Joint-Venture des Kalten Krieges, in: Alf Lüdtke et al. (Hg.): Amerikanisierung, (wie Anm. 136), S. 270–290
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Rundfunk publik gemacht, wie der „moderne“ Baustil durch große Ausstellungen wie die Internationale Bauausstellung im Berliner Hansaviertel von 1957 (propagiert als „Fenster der Freiheit“) und/oder den Aufbau der aufs Bauhaus spezialisierten Ulmer Hochschule ins öffentliche Bewusstsein gerückt worden seien. Die Propaganda sei stets an die Verkündung künstlerischer Freiheit westlicher Liberalität geknüpft worden, womit diese Architektur gezielt als Mittel des Kalten Krieges eingesetzt worden sei. Einen ähnlichen Tenor vertritt Michael Hochgeschwender in seinem Bericht über den „Kongress für kulturelle Freiheit“,154 einer Kulturinstitution, die 1950 gegründet wurde und bis ans Ende der 60er Jahre existierte. Mit ihrer Zentrale in Paris und nationalen Büros in den westeuropäischen Mitgliedsstaaten war sie eine Organisation überwiegend linksliberaler und sozialdemokratischer Intellektueller. Bekannte Persönlichkeiten von Kunst und Literatur wie Heinrich Böll oder Siegfried Lenz waren dort Mitglieder. Es gehörte zu den Peinlichkeiten der Organisationsgeschichte, dass 1967 die Finanzierungsbeteiligung des amerikanischen Geheimdienstes CIA aufgedeckt wurde, weshalb die Aktivitäten in Folge bald eingestellt wurden. Hochgeschwender belegt seine begründete Thesen, dass es Aufgabe des Kongresses gewesen sei, „im Rahmen transnationaler Systempenetration als Lieferant einer eigenständigen westlichen Weltanschauung tätig zu werden.”155 Mit Mitteln intellektueller Einflussnahme sollte die Linke gegen Einflüsse kommunistischer Infiltration immunisiert werden. Es ging darum, „die öffentliche Meinung, das heißt die Herzen und Hirne aller jener Männer und Frauen, auf die es in der Politik ankommt, zu erobern.“156 Die sozialistischen und sozialdemokratischen Arbeiterparteien des Westens sollten umgewandelt werden, um vorhandene Restbestände marxistischer Ideologie zu relativieren und ideologiearme, linke Volksparteien zu gründen. Die ideologische Basis von solcherart Einflussnahme sei der amerikanische „consensus liberalism“ gewesen, eine liberale Grundanschauung, die in den USA seit der englischen Aufklärung mit den Prinzipien von Individualität, persönlicher Freiheit, Vorherrschaft des Rechtes und des Privatbesitzes zum Credo der amerikanischen Kultur geworden sei. Hochgeschwender machte sich die Mühe, detailliert die historische Entstehung und Entwicklung des „liberalen Konsenses“ in den USA mit seiner Betonung der individuellen Freiheit darzustellen. Die dort nachlesbare Geschichte des amerikanischen Freiheitsbegriffs, der sich mit der militärisch-ökonomischen Ausweitung des US-amerikanischen Einflussgebietes auch in Europa und Westdeutschland verbreitete, führte in der BRD zu hoher Akzeptanz
154 Michael Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998 155 Ebd. S. 18 156 Ebd. S. 19
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des Freiheitsideals von Seiten der Intellektuellen, spiegelte sich aber ebenso sichtbar in unzähligen Erscheinungen des Alltagslebens.157 Andere Arbeiten der 90er Jahre beschreiben, wie speziell der Rundfunk in der amerikanischen Besatzungszone (Radio München) gleich in den ersten Jahren nach 1945 ihnen zu linksorientierte Redakteure entließ158 und wie sich die amerikanische Kulturpolitik in der BRD auf Antikommunismus, Konsumkultur, kapitalistischen Wiederaufbau und parlamentarische Regierungsform ausrichtete,159 wie die zahlreich etablierten Amerika-Häuser dazu dienten, ein positives Amerika-Bild zu vermitteln und damit einem “desillusionierten Volk die Teilhabe an einer Kultur anbieten [konnten], die Konsum mit Glück gleichsetzte.”160 Überzogen wurde alldies mit der Propagierung von Freiheit, wie dies noch 1987 exemplarisch in der Programmankündigung zum Festprogramm „750 Jahre Berlin“ zum Ausdruck kam, an dem der RIAS großen Anteil hatte. Die fettgedruckte Überschrift lautete: „Berlin – Ort des Aufstiegs aus der Unfreiheit in die Freiheit.“ Interessanterweise sind seit 2005 drei Arbeiten aus anglo-amerikanischer Sicht161 zum Thema der Amerikanisierung der westlichen Zonen und der BRD entstanden, die alle gleichermaßen beschreiben, wie stark die amerikanischen Besatzungsbehörden in den ersten Jahren nach dem Krieg sich im musikalisch-künstlerischen Bereich bemühten, über Lizenzvergabe, über die Einsetzung ihnen genehmer Oper- und Theater-Intendanten, Dirigenten und Rundfunkleute ihre politisch-weltanschauliche Überzeugung von Antifaschismus und Antikommunismus in die Breite der deutschen Öffentlichkeit zu tragen. Wie eng der amerikanische Freiheitsbegriff mit der kapitalistischen Wirtschaftsform symbiotisch verkettet ist, demonstrierte der Chicagoer Professor der Ökonomie Milton Friedman in seinem wohl weltweit gelesenen Buch „Kapitalismus und Freiheit“ von 1962. Friedman, der seither als einer der einflussreichsten Wirtschaftswissenschaftler gilt, behauptete, dass Kapitalismus und Freiheit eine untrennbare Einheit darstellten, dass der Kapitalismus sogar nur dann gut funktioniere, wenn die Totale individueller Freiheiten gesichert sei. Allen Vertretern einer „sozialen Marktwirtschaft“ erteilte er eine Absage: Nicht der „Sozialstaat“ habe regulierend einzugreifen, sondern nur im dezentralisierten Spiel freier Kräfte seien Entwicklung und Fortschritt möglich. Politiker wie Reagan und 157 Vgl. hierzu Kaspar Maase: Amerikanisierung von unten. Demonstrative Vulgarität und kulturelle Hegemonie in der Bundesrepublik der 50er Jahre, in: Alf Lüdtke et al. (Hg.): Amerikanisierung (wie Anm. 136), S. 291–313 158 Rüdiger Bolz: Rundfunk und Literatur unter amerikanischer Kontrolle. Das Programmangebot von Radio München 1945–49, Wiesbaden 1991. 159 Ebd. und Petra Galle: RIAS Berlin und Berliner Rundfunk 1945–1949, Münster 2003 160 Junker: USA (wie Anm. 136), S. 596 161 David Monod: Settling Scores: German music, denazification, and the Americans, 1945–1953, North Carolina 2005; Beal: New Music (wie Anm. 142); Thacker, Music (wie Anm. 75)
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Thatcher waren Verfechter seines neo-liberalen Ansatzes und begannen konsequenterweise, viele bislang öffentliche Bereiche zu privatisieren, sie dem „freien“ Markt zu überlassen und sich aus der staatlichen Verantwortung zurück zu ziehen. Wenn Friedman wegen seiner Radikalität des individuellen Freiheitsbegriffs auch angegriffen wurde, so konnte er doch herausarbeiten, dass wirtschaftliche Freiheiten und individuelle Freiheiten im kapitalistischen System eng miteinander verzahnt sind, dass die kapitalistische Wirtschaftsform sowohl den frei agierenden Unternehmer wie auch das frei agierend und frei wählende Konsumvolk benötigt, – und hier sei hinzugefügt – den frei produzierenden Künstler ebenso wie die frei ihn vermarktenden Kunstagenturen und den frei dafür oder dagegen sich entscheidenden Kunstkonsumenten. Die Übertragung des Freiheitsideals auf das Kunstprodukt und den Kunstproduzenten, den Künstler, führte in der BRD zu einer „Freiheitsästhetik“, dessen besonderer Exponent Wolfgang Rihm ist, Schüler von Karlheinz Stockhausen und Professor für Komposition an der Karlsruher Hochschule für Musik. Mit vielerlei Auszeichnungen versehen hat er gleichzeitig Sitz und Stimme in entscheidenden Gremien des deutschen Musiklebens inne.162 In einem Aufsatz von 1983163 formulierte Rihm seine Gedanken über die „musikalische Freiheit“, so wie sie immer wieder in vielen seiner vorangehenden und späteren Ausführungen aufscheinen. Für Rihm ist der Kompositionsvorgang, der „imaginative Akt“, eine Aufforderung zu „grenzenloser Freiheit“. Imagination dürfe nicht nur einfach Erfindung sein, indem man dem Gedanken freien Lauf ließe. Die eigentliche Imagination müsse aus sich herausgeraten, müsse geschehen in „einer Art Urknall“, als „energetischer Schub“. Dieser Akt müsse sich in völliger Freiheit ereignen können, das einzige Bewegungspotenzial in dieser Freiheit sei die Ungewißheit. Ohne sich auf überkommene Werte von Kunst als Wahrheit, Schönheit oder Moral zu berufen, solle der Künstler immer wieder von neuem beginnen, neu ansetzen, Bekanntes überschreiten, „entgrenzen, was sich als Verfestigung tendenziell der Eigengesetzlichkeit von Phantasie entgegensetzt.“164 Der Kompositionsprozeß als solcher wird von Rihm einesteils ideell überhöht als Urknall, andererseits zum Akt von Freiheit deklariert. Rihm meint auch, eine Widersprüchlichkeit im Schaffensprozess zu erkennen, dergestalt, dass die Freiheit des künstlerisch-schöpferischen Akts an einen Ort, an die Niederschrift, gebunden sei. Diesen Widerspruch müsse der Künstler aushalten. In der Auseinandersetzung von Freiheit der 162 Seit 1982 Präsidiumsmitglied des Deutschen Komponisten-Verbandes, seit 1984 Präsidiumsmitglied des Deutschen Musikrates, seit 1985 Kuratoriumsmitglied der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWF Baden-Baden, seit 1989 im Aufsichtsrat der GEMA und vieles mehr, 1989 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet 163 Ulrich Mosch (Hg.): Wolfgang Rihm: ausgesprochen. Schriften und Gespräche I, Basel 1997, S. 23– 39 164 Ebd. S. 29
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Imagination und Gebundensein an das Gestaltete ereigne sich die Suche nach dem Werk. „Das Werk ist die Suche nach dem Werk.“165 Die Suche nach dem Novum also erklärt Rihm bereits als „Freiheit“. Daher auch versteht er jeden Versuch, seine Kompositionen in das Korsett einer stilistischen Benennung wie etwa der „neuen Einfachheit“ zu pressen, als Freiheitsbeschneidung und bekämpft sie aufs heftigste, denn durch eine derartige Eingruppierung in einen Stil würde die Individualität des Künstlers beschnitten. Rihms Argumentation basiert auf der Vorstellung, die individuelle Freiheit des Künstlers sei total, sie sei quasi mit einem Zauberer vergleichbar, der aus einer unendlichen Fülle von kompositorischen Möglichkeiten eine jeweils neue, nur ihm ganz eigene Schreibweise „aus dem Hut ziehen“ könne. Die starke zeitgebundene und gegenseitig sich beeinflussende Bindung der Komponisten untereinander, deren Neuheiten ausnahmslos in Bezug zum jeweils gerade Vorhandenen und jeweils in der öffentlichen Diskussion Kursierenden stehen, provoziert ja geradezu wegen ihrer Gemeinsamkeiten, hier in Begrifflichkeiten von „Stil“ oder in gut gemeintem Sinne von „Mode“ zu sprechen. Wenn also nach Rihm die einzelne persönliche Schaffenskraft und Intuition in sich schon individuelle Freiheit bedeutet, dann bleibt zu fragen, was für ein Freiheitsverständnis sich dahinter verbirgt. Rihm verwendet zum einen den wirtschaftsliberalen Freiheitsbegriff individueller Freiheit und vermengt ihn mit Vorstellungen, die spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts von der idealistischen Ästhetik ausgearbeitet wurden: Freiheit als höchste Stufe anzustrebender menschlicher Vergeistigung. In diesem Sinne gehörte es zum Kanon bildungsbürgerlicher Musikästhetik, einen direkten Zusammenhang zwischen dem Künstler und seinem Werk zu konstruieren. So frei wie der Künstler sei auch sein Kunstwerk. Es vermittle durch sein So-Sein Freiheit. Auch für Rihm gilt: In der Unabhängigkeit etwaiger von außen gegebener Zwänge sei die Kunst autonom, nur sie selbst. Sie trage keinen über ihr stehenden Sinn bei sich. Wenn der Hörer mit offener Haltung die sinnliche Erscheinung einer Komposition an sich heranlasse, dann „wird vieles von selbst sich erschließen“. Wenn man dies ernsthaft versuche, „muß Freiheit erfahrbar sein im Umgang mit Kunst“.166 Es war und blieb für Rihm wie für die ganze westliche Avantgarde charakteristisch, dass die Freiheitserwartungen nicht jede Art von Musik betrafen, sondern ganz eng an das musikalische Kunstwerk, also an das, was man zur autonomen Kunst erklärt hatte, gekoppelt wurde. Das historisch überkommene Verständnis von Kunst in Absetzung gegenüber jeder musikalischen „Nicht-Kunst“ wurde weiter tradiert. Nur der selbst produzierten Komposition gestand man die Vorstellung von einer autonomen Kunst als Vergegenständlichung von Freiheit zu. Ob ein Musikstück zur Kunst zähle oder nicht, sei, so meinte Rihm, durch „die Aura“ des Werkes erfahrbar. Diese Aura würde sich durch 165 Ebd. S. 29 166 Ebd. S. 368
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Kriterien von Kunst bestimmen lassen, ein musikalisches Kunstwerk unterscheide sich also klar erkennbar von einem anderen musikalischen Erzeugnis. Rihm zitiert affirmativ Arnulf Rainer: „Authentische Kunst ist kontrollierbar durch drei Kategorien: eigene Form- und Farbqualität, herausstrahlende Zeichenlust und Phantasieblüte.“167 Es ist wohl jederman einsehbar, dass diese sogenannten Wertungskriterien von Kunst ebenso erkennbar vieldeutig und subjektiv interpretierbar sind wie Rihms tautologische Aussage, es existiere „der in sich ruhende, innere Charakter von Kunst“ als Merkmal von Kunst. Eine 1979 von der Neuen Zeitschrift für Musik durchgeführte Befragung von 7 Komponisten der jüngeren Generation168 zeigt, wie das Bewusstsein, Kunst zu erschaffen, unterschwellig überall vorhanden war. Man sprach von „gültiger künstlerischer Aussage“ (Hans-Jürgen von Bose), Detlev Müller-Siemens forderte „die Eindeutigkeit und die Intensität der musikalischen Aussage“, Manfred Trojahn bezog sich auf das Werk „als Konstruktion einer Utopie des Seins“, Wolfgang von Schweinitz erwartete sich gar von seiner Komposition eine „Rehumanisierung“, eine „Vermenschlichung“ der Gesellschaft. Zu einer extremen Ausformung dieses Kunstverständnisses gelangte Karlheinz Stockhausen, der seine, teils aus der Beschäftigung mit östlicher Lebensphilosophie entnommenen Vorstellungen auf die Musik übertrug. Nach ihm solle die Komposition zu einer neuen Stufe des Bewusstseins führen, indem sie viel mehr als nur Ausdruck von Humanität sei: Sie manifestiere, wie die auseinander gefallenen Teile der Welt sich in einem einzigen Geiste wieder zusammenfügten. „Wissen Sie, sicher ist auch das, was wir heute sind, als Menschen, nur ein Durchgang, genauso wie das Tier ein Durchgang war von noch unbewußteren Existenzstufen zu höher bewußten Existenzstufen. Die Musik also, die ich mache, ist nicht einfach nur so eine humanitäre Geste oder ein humanitäres Anliegen, daß wir alle Brüder sind [...] Ich versuche klarzumachen, dass ein Bewusstsein [...] auf etwas hinaus will, was eben den heutigen Begriff der Humanität übersteigt, das mehr ist als die Menschen, wie sie nun heute sind; ich meine ‚mehr’ an Bewußtsein; daß wir nämlich nicht die Uniformität wollen. [...] Im Gegenteil: die Persönlichkeit muß sich immer stärker ihrer selbst bewußt werden, muß sich als Durchgang zu einem Bewußtsein vom Ganzen verstehen, wobei das Ganze eben nicht ein graues Ganzes ist, ein monotones Einfaches, sondern ein Vielfältiges, das nicht ein beziehungsloses Konglomerat ist, [...] sondern das die verschiedenen charakteristischen, die zum größten Teil auseinandergefallenen Elemente der Welt zusammenkommen läßt durch Bewußtsein; nicht dadurch, daß die Elemente alle gleich werden, sondern durch das gemeinsame Bewußtsein, daß ein einziger Geist durch alle Verschiedenheit hindurch strömt und daß das Verschiedene dadurch diesen einzigen Geist immer mehr bejaht. Das ist es vielleicht, was in diesen Werken geschieht.“169
167 Ebd. S. 369 168 Neue Zeitschrift für Musik 140, 1979, S. 5ff 169 Dibelius und Schneider: Neue Musik III (wie Anm. 44), S. 254
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Auch bei diesem Interview aus dem Jahre 1971 fällt wiederum die Betonung der Individualität und Ablehnung der Konformität auf. Gleichzeitig zeugt Stockhausens Zuschreibung an die Kunst als Ausdruck eines „einzigen“ Geistes von einem hohen, idealistischen Kunstanspruch, der Kritiker auch in der BRD zum Widerspruch reizen musste. Erst recht für die DDR war Stockhausen mit seinem „universalistisch-mystischen Gefasel“ ein Stein des Anstoßes. Seine „kosmische“ Musik und seine Ideologie galten dort als „ein primitiver Abklatsch der katholischen Heiligenbildchen-Ideologie des 19. Jahrhunderts. Objektiv jedoch ist der Komponist Agent einer von der Industrie und den Politikern der imperialistischen Länder wohlgeplanten Strategie: Je mehr es dieser gelingt, das Kleinbürgertum durch die Mittel religiöser und mystischer Vernebelung zu paralysieren, desto ungestörter vermeinen die Monopole sich auch weiterhin konsolidieren und ausbreiten zu können.“170 Es war klar, dass aus sozialistischer Sicht Stockhausen gerade in seiner Verflochtenheit mit Rundfunk und Wirtschaft eine Steilvorlage für Kritik bot und er in der DDR als Exponent imperialistischer Musikpolitik galt. Es bleibt zu überprüfen, ob die hohe Überfrachtung der Musik als Kunst in der 2. Jahrhunderthälfte in ihrer Vermengung von persönlichen Freiheitsidealen mit historischidealistischer Ästhetik – sei es, dass sie als Ausdruck von Freiheit oder vom die Welt einigenden Geist verstanden wurde – ein in besonderem Maße westdeutsch-spezifisches Phänomen darstellte, gibt es doch zu bedenken, dass ausländische Komponisten der Avantgarde wie Pierre Boulez oder Iannis Xenakis sich weit neutraler und vorsichtiger in ihren Erwartungen an die Kunst äußerten. So bekannte der Grieche Xenakis bescheiden, dass er nicht wisse, ob seinen Sachen überhaupt ein Wert zukomme.171 Vielleicht war es ja auch kein Zufall, dass der „Großangriff “ auf die idealistische Musikauffassung nicht von deutscher Seite, sondern von einem US-amerikanischen Künstler ausging. John Cage war 1954 erstmalig zu den Donaueschinger Musiktagen geladen worden. Seine provokativ in Musik gesetzte Negation und Leugnung aller bürgerlichen Kunst-Mythen wurde von einigen als ein Weg der neuen Freiheit gefeiert, von den das Wort führenden Vertretern der Avantgarde aber bald als generalisierte Zusammenhangsverhinderung vehement abgelehnt. Cage attackierte gerade die Vorstellung einer exklusiven Kunstmusik, die sich von allen anderen musikalischen Erscheinungen abheben würde, und wollte zu Bewusstsein bringen, dass jedes akustische Phänomen, selbst die Stille, einen beobachtens- und beachtenswerten Status habe, daher „Kunst“ sei. Berühmt, da besonders provozierend, wurde in diesem Zusammenhang seine Einladung an Interessierte in sein Haus, wo er ihnen als „Konzert“ nichts anderes vorsetzte, als hin und wieder die Fenster zu öffnen und zu schließen, um die Geräusche von draußen hereinzulassen. In dem Bemühen, das Leben selbst 170 Musik und Gesellschaft (1972), S. 147 171 Bálint András Varga: Gespräche mit Iannis Xenakis, Zürich 1995, S. 122
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als Kunst zu begreifen, die akustischen Ereignisse des Alltagslebens in das Repertoire musikalischer Klangereignisse zu integrieren, wurde Cage zu einem der prominentesten Vertreter der Fluxusbewegung, die auch in Deutschland seit den 60er Jahren eine Reihe von Veranstaltungen durchführte. Obwohl Cage mit seinen Musik-Performances die Musik als Kunst von ihrem geheiligten Podest herunterholen wollte, damit den Kunstbetrieb entlarven und Musik zu einem neuen Kunstverständnis hin „befreien“ wollte, also die übliche Freiheitsideologie bediente, traf er doch gleichzeitig mit seiner bewussten Abwendung vom tradierten Kunstkonzept die Neue Musik ins Zentrum ihres künstlerischen Selbstverständnisses, was zur Folge hatte, dass er nach nur je einmaligem Auftreten in Donaueschingen (1954) und Darmstadt (1958) von den zwei größten meinungsbildenden Institutionen für Neue Musik nicht mehr eingeladen wurde.
Musik als Gesellschaftskritik Als im Zuge der 68er-Studentenbewegung die Kunst und mit ihr die Kunstmusik als Instrument zur Festigung bürgerlich-kapitalistischer Herrschaftsstrukturen gebrandmarkt wurde, lag der Gedanke nahe, die bürgerlich-idealistische Musikanschauung würde in ihren Grundfesten erschüttert werden. Nun wurde auch im Westen diskutiert, was im kommunistischen System schon lange zum Erkenntnisstand gehörte: Dass sich auch die Kunstmusik als Produkt und in Abhängigkeit vom jeweiligen Gesellschaftssystem zu verstehen habe und dass ihr damit eine eigene Funktion innerhalb der Gesellschaft zukomme. Die Auseinandersetzungen um die Qualität der gesellschaftlichen Funktion sollten viele Debatten innerhalb der Musiker-Avantgarde bis weit in die 80er Jahre hinein bestimmen. Es war vor allem Theodor W. Adornos kritische Theorie, auf die sich die „links“-orientierten Komponisten beriefen. Seine Zuschreibungen an die Kunst, besonders aber an die Musik wurden von Intellektuellen, Künstlern und Pädagogen aufgegriffen, führten aber auch zu erbitterten verbalen Kämpfen. Adornos Überlegungen waren überraschend und faszinierend für eine Welt, die auf der geistigen Tradition fußte, im „Schönen“ auch „das Wahre“ zu erblicken. Adorno provozierte mit seiner These, dass diese Schönheit als Kunst der Verschleierung gesellschaftlicher Zustände gerade „unwahr“ sei. Musik sei falsche Ideologie, so lange sie die gesellschaftlichen Antagonismen zuschminke und verschleiere, erst dann sei das Kriterium von „Wahrheit“ erfüllt, wenn es ihr gelinge, die Klassengegensätze der Gesellschaft in der der musikalischen Kunst eigenen inneren Struktur zu offenbaren. Musik diene nur dann und insofern der Überwindung dieser Gegensätze, als in ihr das Klassenverhältnis in toto sich auspräge. 172 172 Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt/Main 1968, S. 78f.
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Die Vorstellung, dass die musikalische Komposition den Antagonismus der Klassengegensätze zur Erscheinung bringen und den Hörer zum „objektiven Bewusstsein“ führen könne, basierte in ihren Grundvoraussetzungen auf marxistischem Gedankengut, stellte aber, ähnlich wie auch die marxistische Musikästhetik, grundsätzlich nicht die idealistische Kunstauffassung des Bildungsbürgertums in Frage. Denn auch für Adorno galt die Prämisse, Kunstmusik habe etwas über ihr Stehendes, etwas Ideales auszusagen, sie sei eine „Erscheinung von Wahrheit“. Nicht umsonst stellte Adorno seiner „Philosophie der Neuen Musik“ als Motto das Hegel-Zitat voran: „Denn in der Kunst haben wir es mit keinem bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk, sondern [...] mit einer Entfaltung der Wahrheit zu tun.“173 Wenn Hegel die Wahrheit im Sinne eines Absoluten, als „das sinnliche Scheinen der Idee“ verstanden hatte, so bezog Adorno sich jetzt auf die „objektive Wahrheit“ der gesellschaftlichen Antagonismen. Damit postulierte Adorno aber wiederum im Kontext bildungsbürgerlicher Tradition das autonome Kunstwerk, dem er insgesamt, aber in besonderem der Musik, gerade weil sie nicht an Begrifflichkeit gebunden sei, die Aufgabe zuschrieb, zur Erkenntnis der Wahrheit beitragen zu können. Und natürlich gestand er es ausschließlich der sogenannten Kunstmusik zu, eine derart existentielle Funktion zu übernehmen. Die sogenannte „leichte Musik“ bezeichnete er als banal und vulgär, Operetten seien „abscheuliche Ausgeburten“,174 der Jazz sei in seiner „Stupidität [...] ein Stück schlechtes Kunstgewerbe.“175 Nur der wirklichen Kunst sei es gegeben, die „katastrophischen Zustände“ der Gegenwart ins Bewusstsein zu rücken und damit zum „objektiven Bewusstsein“ einer „objektiven Wahrheit“ beizutragen. Den Schrecken und das Entsetzen vor der „objektiven Wahrheit“ meinte Adorno in der Atonalität und der Kompositionsweise von Schönberg und Webern durchschimmern zu sehen. „Der Schrecken, den Schönberg und Webern heute wie einst verbreiten, rührt nicht von ihrer Unverständlichkeit her, sondern davon, daß man sie nur allzu richtig versteht. Ihre Musik gestaltet jene Angst, jenes Entsetzen zugleich, jene Einsicht in den katastrophischen Zustand...“176
Adornos gesellschaftskritischer Ansatz übte auf einige Komponisten der Neuen Musik seine große Anziehungskraft aus und entfachte die Diskussion um die politische Dimension von Kunst und um die politische Verantwortung des Künstlers. Die Reflektion über die gesellschaftliche Aufgabe von Kunst führte dazu, dass einige Komponisten, besonders solche im europäischen Ausland, ihrer politischen Verantwortung dadurch gerecht zu werden sich bemühten, dass sie Unterdrückung, Leid und gesellschaftliches Unrecht 173 Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt/Main 1958 174 Adorno: Einleitung (wie Anm. 172), S. 32 175 Theodor Wiesengrund-Adorno: Abschied vom Jazz, in: Europäische Revue IX (1933), S. 313– 316, hier S. 314 176 Adorno: Dissonanzen (wie Anm. 59), S. 44f.
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mithilfe von Textunterlagen oder programmatischer Begrifflichkeit musikalisch umsetzten und veranschaulichten. Im Prinzip verfolgten sie damit, abgesehen von ihrem musikalischen Stil, ein der DDR vergleichbares Konzept, sich durch Titel und Textunterlage auch musikalisch verständlich zu machen. Zum Beispiel schuf Luigi Nono „Intolleranza“ (1960), „La fabrica illuminata“ (1964) und das Hörtheater „Prometeo“ (1984) , Hans Werner Henze komponierte eine Vielzahl seiner Werke auf politische Texte wie „El Cimarrón“ (1969/70), „Voices“ (1973) oder „Orpheus hinter dem Stacheldraht“ (1981– 83) und widmete 1968 sein „Oratorio volgare e militare“ mit dem Titel „Das Floß der Medusa“ dem Revolutionsführer Che Guevara. Andere verfolgten seit Ende der 60er Jahre den Weg, Adornos kritische Theorie, wonach die Realität der gesellschaftlichen Abhängigkeitsstrukturen aus der musikalischen Faktur selbst herauszulesen sein solle, in die Praxis umzusetzen. Zu Vertretern dieser Tendenz gehörten u.a. die Komponisten Helmut Lachenmann, Nicolaus A. Huber und Mathias Spahlinger sowie Heinz-Klaus Metzger, der Musiktheoretiker der neuen Kompositionsrichtung, der zusammen mit Rainer Riehn das „Ensemble Musica Negativa“ ins Leben rief, das sich der Aufführung dieser neuen Musik besonders widmen sollte. Beide Musikwissenschaftler gaben ab 1977 eine eigene Zeitschrift „Musik-Konzepte“ heraus, mit deren Hilfe die gesellschaftskritische Zielsetzung der Komponisten erklärt werden konnte. In Verfolgung des Adorno’schen Ansatzes stellten diese an ihre Werke den Anspruch, die Negation als Gestaltungskomponente zur Evozierung gesellschaftskritischen Bewusstseins einzusetzen. „Der Rang eines Künstlers [...] mißt niemals sich an dem, was er schafft, sondern an dem, was er abschafft“.177 Lachenmann gebrauchte den Begriff der ästhetischen Negation in dem Sinne, dass unser aller Musikerleben durch Hörerfahrungen und der Tradition verhaftete Zuschreibungen vorprogrammiert sei, diese „ans Material gebundene, kollektiv strahlende falsche Magie“ wolle er brechen. Damit würde er sich gegen die Vereinnahmung der Kulturindustrie wehren, würde den normativen Horizont einer schon etablierten Kunstwelt überschreiten, um als authentische Kunst zu überleben.178 Lachenmann erklärte, wie sich die ästhetische Negation vollziehen solle, folgendermaßen: „Von revolutionärem Geist und Willen kann Musik glaubwürdig zeugen, indem sie ihren bislang geläufigen Kommunikationsbereich nicht bloß erweitert, humoristisch umstülpt oder in irgendeiner bekannten oder unbekannten Richtung verfremdet, sondern indem sie anhand konkreter Alternativen Kommunikation selbst aufs Spiel setzt und Reflexion und kritisches Verhalten nicht bequem vorexerziert, sondern mit aller Konsequenz herausfordert.
177 Rainer Riehn (Hg.): Metzger, Heinz-Klaus. Musik wozu, Literatur zu Noten, Frankfurt/Main 1980, S. 136 178 Zit. nach Albrecht Josef: Über Negativität, Autonomie und Welthaltigkeit der Musik, oder: Musik als existentielle Erfahrung, in: Neue Zeitschrift für Musik (2006) Heft 1, S. 17–21, hier S. 17f.
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Solche Haltung, zum Prinzip erhoben, bedeutet permanente Negation und ernsthafte Störung des ästhetisch Verfestigten, permanente Umwertung des Bekannten und Einbeziehung des Unbekannten, und zwar künstlerisch, als transzendentale Erfahrung vermittelt. Von der künstlerischen Glaubwürdigkeit solcher Kommunikation als Negation ihrer eigenen Normen zugunsten der Freiheit des Ungenormten (sozusagen der Freiheit des ‚Unterdrückten’) wird es abhängen, ob sich der Hörer davon treffen und über den ästhetischen Erfahrungsbereich hinaus in seinem existentiellen Bewußtsein so provozieren und infizieren läßt, daß ihm die Erfahrung solcher Freiheit (durchs Anti-System) als wesentliche Notwendigkeit und Voraussetzung humanen Daseins überhaupt bewußt wird; einer Freiheit, deren Unterdrückung, wie sie gegenwärtig allenthalben organisiert ist, es zu bekämpfen gilt.“179
Kunst solle nach Lachenmann als permanente Negation und Störung des Bekannten eingesetzt werden, um damit beim Hörer eine kritische Reflexion in Gang zu setzen. In diesem Adorno’schen Negationsansatz steckt gleichwohl wiederum die traditionell idealistische Musikanschauung. Denn Lachenmann argumentiert: Durch „transzendentale Erfahrung“, „künstlerisch“ vermittelt, würde der Hörer „in seinem existentiellen Bewusstsein“ provoziert werden. Und nicht nur das: Der Hörende erfahre in der Musik die Freiheit des Ungenormten, eines Vorgangs, der zur Erfahrung von Freiheit überhaupt als Voraussetzung humanen Daseins führe. Es ist unübersehbar, wie unter dem Deckmantel einer Negationsästhetik die idealistische Ästhetik wieder hervorschaut. Bei alledem imponiert immer wieder, dass, egal welchen politischen Hintergrund die Komponisten der Avantgarde hatten, Musik in gleicher Weise der Bewusstmachung und Verkündung von Freiheit dienen sollte. Lachenmann bezeichnete es als das Grundproblem des Komponierens, wie man die kompositionstechnischen Mittel von ihren in der Gesellschaft etablierten „Fehlinterpretationen“ so befreien könne, dass sich der Komponist als schöpferischer Künstler frei und kritisch verhalten könne.180 Als Komponist selber „frei“ zu sein, die „freie“ Wahl kompositionstechnischer Mittel zu haben, diese dann von ihren traditionellen Fehlinterpretationen zu „befreien“, um damit endlich das „freie“ Kunstwerk zu schaffen, all das war ein Zirkelschluss, der schließlich in der Überzeugung endete, wie ihn der Komponist Hans Joachim Hespos zitierte: „Ein Kunstwerk ist eine Verkündigung der Freiheit. Für die Menschen hat es nie etwas Unerträglicheres gegeben als die Freiheit!“181 Lachenmann wie auch Hespos und seine gleichgesinnten Kollegen empfanden sich als Widerständler gegenüber dem kapitalistischen Kulturbetrieb, ihre Oppositionsrolle wollten sie aber ausschließlich auf dem Wege musikimmanenter Bewusstseinsbildung spielen. Daher wahrte man eine kritische Distanz zu den musika-
179 Josef Häusler (Hg.): Helmut Lachenmann. Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966– 1995, Wiesbaden 1996, S. 98 180 Jürg Stenzl: Luigi Nono: Texte. Studien zu seiner Musik, Freiburg 1975, S, 314 181 Neue Zeitschrift für Musik (3/2007), S. 13
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lischen Aktivitäten eines Nono oder Henze. Lachenmann behauptete gar, dass das Ziel, den Massen etwas zu verkünden oder sie aktivieren zu wollen, reaktionär sei.182 Das und ähnliches forderte den überzeugten Kommunisten Luigi Nono immer wieder heraus. Er kritisierte die seiner Ansicht nach konformistischen Komponisten der Avantgarde: „Man vergnügt sich mit Protestanwandlungen, mit Nadelstichen in die Oberfläche der Konvention.....damit, daß man die Indetermination und den Zufall als verwirklichte Freiheit verkündet...“, gerade dieses Verhalten sei die raffinierteste Art des Konformismus, sei Anpassung an die spätkapitalistische Ideologie.183 Indem man meine, allein dadurch eine revolutionäre Haltung einzunehmen, dass man die musikalische Sprache zerbreche, begebe man sich auf das Gebiet ästhetischer Experimente, die auch für die kultivierteste Bourgeoisie akzeptabel seien. Damit aber untermauere man nur die privilegierte Position und Isolierung der Intellektuellenschicht.
4.3 Ist Freiheit eine notwendige Bedingung von Kunst? Nonos Kritik an der Anpassung und dem Konformismus der Avantgarde an die spätkapitalistische Kunstideologie gründete auf dem grundsätzlich verschiedenen Verständnis von Freiheit im kapitalistischen und sozialistischen Denksystem. Der kapitalistische Freiheitsbegriff stimmt im wesentlichen mit all jenen in den Verfassungen westlicher Demokratien garantierten Freiheiten überein, die das Individuum vor den Eingriffen des Staates schützen sollen. Über diese demokratischen Grundfreiheiten hinaus hat sich in kapitalistischen Staaten bevorzugt seit 1945 ein Freiheitsbegriff entwickelt, der im Zusammenhang mit dem wirtschaftsliberalen Freiheitsverständnis eine Vielzahl individueller Freiheiten in sich vereint und vom Philosophen Charles Taylor als „negatives Freiheitskonzept“ bezeichnet wird. Nach diesem Konzept besteht Freiheit in der Abwesenheit von Hindernissen, „hinreichende Bedingung unserer Freiheit ist, daß keine Hindernisse im Wege stehen.“184 Das Spektrum reicht von der Rede-, Meinungs-, Presse- und Wahlfreiheit über die Freiheit der Produktion und des Handels bis zu den unterschiedlichsten Arten einer Freiheit zur Konsumbefriedigung, seien es Gebrauchsgüter, Reisen oder Kulturangebote (auch die der Musik). Taylor problematisiert selbst den auf der „negativen Freiheitstheorie“ basierenden Begriff von Selbstverwirklichung, so lange er sich darauf bezieht, seine eigenen Wünsche zu erfüllen. Denn es bleibe 182 Zit. nach Ernst Thomas: Von der Notwendigkeit, Ferienkurse für Neue Musik zu veranstalten, in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik XIII (1973), Mainz, S. 6–13, hier S. 13 183 Stenzl: Nono (wie Anm. 180), S.102ff. 184 Charles Taylor: Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt/Main. 1992, S. 121
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zu hinterfragen, ob diese Wünsche tatsächlich Ausdruck eines „freien“ Willens sind, da sie ebenso auf Basis innerer Zwänge oder gesellschaftlicher Beeinflussung zustande gekommen sein mögen. Taylor konstatiert, dass gleichwohl dieses Freiheitsverständnis, das allein das Individuum in Absehung von gesellschaftlichen Formen solidarischer Gemeinschaft in den Mittelpunkt stellt, zum common sense westlicher Demokratien geworden sei. Dabei geht es zu einem wesentlichen Teil, selbst bei dem was wir Sebstverwirklichung nennen, um die Freiheit der Auswahl unter verschiedenen Angeboten, also um ein Freiheitsverständnis, das seine Nähe zum kapitalistischen Wirtschaftssystem nicht leugnen kann. In diesem Sinne auch argumentierten viele Komponisten der Avantgarde, wenn sie die Freiheit, das musikalische Material unabhängig von Tradition und Moden auswählen und ergreifen zu können, zur unerlässlichen Voraussetzung des Kunstwerkes und sogar zu einer ihrer wesentlichen Bestimmungen machten. Mit der Transposition dieser so verstandenen Gestaltungsfreiheit des Künstlers auf sein Kunstwerk als Werk der Freiheit stülpten sie alledem einen dem Idealismus entnommenen Begriff über, bei dem es sich wiederum um die Gewinnung einer individuellen, angeblich ganz persönlich zu erringenden geistigen Freiheit des Einzelnen handelt. So stark wie der Westen die Vorzüge der individuellen Freiheit betonte, so stark argumentierte der Osten mit seinem Begriff einer gesellschaftlich verstandenen Freiheit. Dabei spielte das Moment von individueller Freiheit durchaus eine Rolle, gehörte sie doch mit zum Wesen der ideal gedachten sozialistischen Persönlichkeit. In erster Linie aber stand der Freiheitsbegriff im Kontext der Befreiung des ganzen Volkes „vom Joche der kapitalistischen Versklavung“, wie der sowjetische Kulturpolitiker Shdanov es 1934 ausgedrückt hatte. Dem Schutz des Kollektivs vor kapitalistischer Ausbeutung mit allen ihren gesellschaftlichen und sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten wurde oberste Priorität eingeräumt. Erst auf Basis einer derart errungenen Freiheit in einem sozialistischen Staate könne und solle sich die Freiheit der Person entwickeln. Bereits 1946 hatte der entscheidende Kulturpolitiker der deutschen Kommunisten der Nachkriegszeit und Begründer des Kulturbundes Johannes R. Becher ein Buch zum Thema „Erziehung zur Freiheit“ herausgebracht. Hierin sowie in zahlreichen anderen seiner Kommentare, Reden und Publikationen propagierte er eine umfassende geistige Erneuerung und Umerziehung des deutschen Volkes (man erinnere sich an das entsprechende „re-education“-Programm der West-Alliierten) und brachte zum Ausdruck, dass Erziehung zur Freiheit für ihn in erster Linie bedeutete: Demokratisierung und Politisierung des Menschen. „Erziehung zur Freiheit ist eine entschiedene, totale Demokratisierung des deutschen Menschen, wobei wir Demokratismus nicht nur als politisch staatlichen Begriff, sondern im weitesten Sinne auffassen als die freiheitlichste, fortschrittlichste Form der Lebenshaltung und der Weltanschauung [...] Deutsche Menschen und uns selbst zu neuen deutschen Menschen erzie-
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hen, den deutschen Menschen erziehen zum Menschen, zum Menschlichsein, Licht bringen müssen wir in diese furchtbare Finsternis ...“185
Es war Bechers Grundüberzeugung, dass wahres Menschsein und Menschlichsein nur im Rahmen marxistisch verstanden objektiv gesellschaftlicher Freiheit, also nur im Rahmen einer von kapitalistischen Zwängen befreiten Gesellschaft, ermöglicht würde. Dabei leitete auch er seinen Begriff vom Menschsein aus humanistischem Verständnis ab mit der Vorstellung individueller Freiheit und Selbstverwirklichung, doch könne sich diese nur unter den Voraussetzungen einer gerechten Gesellschaft entwickeln. In der angestrebten „sozialistischen Persönlichkeit“ wäre das Moment individueller und kollektiver Freiheit dialektisch aufgehoben. Erziehung zu Humanismus, Freiheit und Demokratie waren für Becher miteinander vernetzte Begriffe, die er als Basis seiner Kulturarbeit propagierte. Dass in der Aufbauphase des sozialistischen Staates die individuelle Freiheit nicht gleichermaßen jedem gewährt werden könne, bedauerte, aber verteidigte Hanns Eisler. Man habe den bürgerlichen Begriff der Freiheit durch die Diktatur des Proletariats ersetzen müssen, da man zunächst die feindliche Kapitalistenklasse habe unfrei machen müssen. „Wir mußten das Bürgertum unfrei machen, deren Helfershelfer und deren verbündete Klassen.“ Der Begriff der individuellen Freiheit sei aber nun einmal historischerweise geträumt und könne und solle nicht rückgängig gemacht werden, er solle sich eines Tages verwirklichen. „Ich glaube, daß in einer vollendeten Gesellschaft, in einer freien Gesellschaft, kommunistischen Gesellschaft, der Begriff der bürgerlichen Freiheit – umfunktioniert, auf einer sozialistischen Stufe – noch einmal eintreten wird. [...] Das freie Individuum wird sich im Kommunismus [...] noch einmal auf einer höheren Stufe vollenden. Also, die beschränkten Klassenträume von der Freiheit werden zur echten Freiheit werden. [...] Das heißt: Was die Gesellschaft einmal entdeckt hat [...], wird noch einmal umfunktioniert werden auf eine neue, klassenlose Gesellschaft.“186
Dass Eislers Vision individueller Freiheit in einer vollkommenen, klassenlosen Gesellschaft Realität werden könnte, war nicht nur die Hoffnung überzeugter Kommunisten in der Anfangsphase des noch aufzubauenden sozialistischen Staates, sondern sie gehörte zu den schon von Marx im „Kommunistischen Manifest“ beschriebenen Grundfesten sozialistischer Überzeugung. Damit ist auch zu erklären, dass der Musikwissenschaftler Günter Mayer gerade auf Basis sozialistischer Beweisführung 1987 seine Forderung nach freier Entfaltung des einzelnen nochmals artikulierte. Es entstehe, so argumentierte er, im Rahmen des Konzepts der sozialistischen Persönlichkeitsentwicklung und auf Grundlage einer jetzt reich entwickelten Arbeitsproduktivität zum erstenmal in der Geschichte die 185 Zit. nach Jens Wehner: Kulturpolitik und Volksfront. Ein Beitrag zur Geschichte der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945–1949 I, Frankfurt/Main 1992, S. 85 186 Zit. nach Günter Mayer: Weltbild-Notenbild. Zur Dialektik des musikalischen Materials, Leipzig 1978, S. 324f.
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Möglichkeit, dass die individuellen Unterschiede in den Fähigkeiten, Bedürfnissen und Genüssen der Bevölkerung nicht mehr auf ein Gleichmaß nivelliert werden müssten, sondern dass man der sich zunehmend erkennbar differenzierenden Ausprägung individueller und kollektiver Subjektivität Raum lassen könne.187 Wenn in den 80er Jahren die Forderungen nach einem höheren Maß an individueller Freiheit in der DDR immer lauter wurden, so spiegelte sich hierin, dass der Mangel daran immer deutlicher in der Bevölkerung zu einem Politikum geworden war. Trotzdem, so argumentierten eine Reihe von Komponisten nach der Wende, habe es für sie genügend Freiheiten zum „Widerstand“ gegeben. Die Musikwissenschaftlerin Nina Noeske wies in mehreren Publikationen188 darauf hin, dass eine Gruppe von Komponisten, die vornehmlich aus der Schule Paul Dessaus stammten, bereits in den 70er Jahren ein hohes Interesse an den musikalischen Entwicklungen der westlichen Avantgarde gezeigt und es verstanden hätten, sich der seriellen Techniken, teilweise auch der Aleatorik virtuos zu bedienen. Dazu gehörten ganz besonders Reiner Bredemeyer, Paul-Heinz Dittrich, Friedrich Goldmann, Georg Katzer, Siegfried Matthus und Friedrich Schenker. Sie alle hätten durch ihren Gebrauch avantgardistischer Mittel ein gewisses Maß an persönlicher Freiheit zum Ausdruck bringen können. Diesen sechs Musikern hatte der Musikwissenschaftler Frank Schneider 1979 ein eigenes Buch gewidmet,189 in dem er die neuen Ansätze rechtfertigte und damit einer neuen Beurteilung dieser Komponisten in der DDR das Tor zu besserer Akzeptanz öffnete. Nicht das runde, geglättete Werk, so forderte Schneider, sei ein in sozialistischem Sinne anzustrebendes, denn dies würde nur den Hörer zum „Konsumieren“ veranlassen, im Gegenteil: Das musikalische Material solle gerade durch seine Risse, durch sein heterogenes Material, das zum Teil unverbunden nebeneinander stehe, durch Brechung von Klischees die Hörer zum kreativen Weiterdenken bewegen. „Die Komponisten besinnen sich darauf, daß Musik offen sein, aufhören, abbrechen könne, sich nicht zwingen müsse, Nachbild hermetisch geschlossener, organisch-gerundeter Vorgänge zu sein, wenn sie selbst sich in ihrer Sprachbereitschaft und Beredtheit als von traditionellen Formkonventionen des Komponierens befreit weiß und zum Vorbild zwangloser sozialer Bewegung, gesellschaftlicher Bewegtheit und Beweglichkeiten avancieren darf.“190
187 Erwin Pracht et al. (Hg.): Ästhetik der Kunst, Berlin 1987, S. 115 188 Nina Noeske: Autorität und Differenz – Musikalische Dekonstruktion in der DDR, in: Matthias Tischer (Hg.): Musik in der DDR, Beiträge zu den Musikverhältnissen eines verschwundenen Staates, Berlin 2005, S. 93–104; Nina Noeske: Des Schenkers Schneider, des Schneiders Geissler. Anmerkungen zur musikalisch-ästhetischen Gruppenbildung in der DDR der 70er und 80er Jahre, in: Tischer (Hg.): Musik in der DDR, ebd. S. 185–206 189 Frank Schneider: Momentaufnahme. Notate zu Musik und Musikern der DDR, Leipzig 1979 190 Zit. nach Noeske: Schenkers Schneider ( wie Anm. 188), S. 194
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Mit der Abweichung vom staatlich verordneten Gleichklang, mit den Mitteln von Parodie, Ironie, Collage usw. hätten die genannten Komponisten, so meint Noeske, seinerzeit eine kritische Einstellung zum DDR-System an den Tag gelegt und sich damit der Adorno’schen negativen Dialektik angenähert. Es mag als bezeichnend angesehen werden, dass die gebrauchten Stilmittel von DDRKomponisten erst ein Dezennium nach der Wiedervereinigung ihre Deutung als Widerstand und Befreiungswunsch erfuhren, gehörte es doch zum Charakteristikum westlicher Kunstanschauung, dass der Freiheitsnachweis, das Streben des Komponisten nach freier Ausdrucksmöglichkeit, als notwendige Bedingung musikalischer Qualität angesehen wurde. Werden in dem Rahmen nun wiederum die musikalischen Neuerungen in der DDR nachträglich als Zeichen fortschrittlichen Freiheitsstrebens gedeutet, um diesen Werken jetzt das Attribut, Kunst zu sein, zuerkennen zu können? Dabei brachte es der Musikwissenschaftler Matthias Tischer 2005 auf den Punkt, als er die Verbindung von Kunst und Freiheit als westliche Ideologie entlarvte:„Das Verdikt, daß sich in der Unfreiheit des sowjetischen Einflußbereiches keine nennenswerte Kunst habe entwickeln können, also das strikte Junktim von Kunst und Freiheit, ist seinerseits eine der starrsten Denkfiguren des Kalten Krieges.“191 Die Vorstellung, dass Kunst nur in gesellschaftlicher und persönlicher Freiheit entstehen könne, war tatsächlich ein „starres“ Denkmuster im Westen, das dazu führte, dass die Kompositionen in der DDR nicht als Kunst akzeptiert wurden und demzufolge nicht auf dem Programm westlicher Konzertagenturen standen. Dabei entbehrt die Verbindung von Kunstschöpfung und persönlicher Freiheit des Komponisten jeder historischen Begründung, ist doch die Entwicklung der europäischen Musikgeschichte ohne die ökonomischen und gesellschaftlichen Abhängigkeiten, also „Unfreiheiten“ der Komponisten in der Feudalgesellschaft nicht zu denken. Wenn in der kapitalistisch geprägten Musikanschauung des Westens die musikimmanente Neuerung bereits als Ausdruck von Freiheit angesehen wurde, so ist die zuvor angesprochene Kritik Nonos aus kommunistischer Sicht verständlich. Denn er erklärte, dass ohne eine reale Befreiung, das heißt ohne ein Abschaffen der kapitalistischen Produktionsweise und mit ihr der Klassengegensätze, allein mit den Mitteln musikalischer Experimente keine revolutionäre Haltung entstehen könne und dass eine ausschließlich künstlerisch-ästhetische Freiheit nur das kultivierte Bürgertum in ihrem Konformismus bestärken würde. Einen ähnlichen Standpunkt vertrat Hans Werner Henze. Auch er gab der Erwartung Ausdruck, dass sich erst nach der zukünftigen Abschaffung der Klassen wirkliche Kunst
191 Tischer: Musik in der DDR (wie Anm. 188), S. 1
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entwickeln könne, und zwar dann eine neuartige Kunst, die von allen und jedem verstanden und nicht mehr nur von Kultureliten konsumiert werden wird. „Musik kann nicht voll entfaltet sein, bevor nicht auch der letzte Mensch, irgendwo auf der Welt, die Würde seiner Freiheit und seiner Produktionsmittel besitzt, und das Wissen um Leben und Sprache und Kunst. Bevor das erreicht ist, bleibt alles im Übergang, im Vergehen, bleibt alles in Bewegung auf eine neue Weltordnung zu, in der die zartesten, einsamsten Ideen der Künstler nicht mehr Geheimsprache, Kränkung und Herausforderung sein werden. Musik wird dann ein Verständigungsmittel geworden sein, nicht mehr ein Toten-Ritus, vor tauben Ohren....“192
Henzes hohe Erwartungen an eine zukünftige Kunst des ganzen Volkes in einer neuen Weltordnung trafen sich gleichermaßen mit denen ost- und westdeutscher Komponisten – mit denen Eislers, Nonos, Rihms und Stockhausens – in dem einen Punkt: Sie alle schrieben der Musik als Kunst, nicht der Popularmusik, eine hohe Bedeutung zur Erlangung von Freiheit zu, sei es in Form einer neuen Weltordnung, einer vom Kapitalismus befreiten Gesellschaft, einer individuell auf Selbstverwirklichung zielenden Freiheit oder einer Freiheit im Rahmen der sozialistischen Persönlichkeitsbildung. Dabei zielte das westliche Freiheitsverständnis darauf ab, dass bereits der kompositorische Schaffensprozess sich in einer Atmosphäre von Freiheit ereignen müsse, um dann auch die Rezipienten zur Bewusstmachung von Freiheit zu führen, während nach sozialistischer Auslegung das „sozialistische Bewusstsein“ des Komponisten zur Bildung der „humanistischen“, freien Persönlichkeit beitragen könne. In West wie Ost basierten beide Vorstellungen auf der traditionell idealistischen Vorstellung, Musik als Kunst habe etwas zu vermitteln, was weit über den musikimmanenten Genuss hinaus gehe. Nach westlicher Lesart jedoch herrschte die Vorstellung vor, Kunst könne sich im kommunistischen Lager nicht ereignen, da die Voraussetzung zu freiem künstlerischen Schaffen nicht gegeben sei, während man von Seiten der DDR das künstlerische Potenzial der „freien“, aber nicht gesellschaftsbezogenen Musik lange Zeit bestritt.
Zusammenfassung Die zwei unterschiedlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme von BRD und DDR „erschufen“ sich ihre eigene, jeweils zum System passende Musikanschauung. In der DDR wurde der von sowjetisch-russischer Seite propagierte „Sozialistische Realismus“ zum Zentrum marxistischer Kunstästhetik, in der BRD entstand die von den Westalliierten
192 Hans Werner Henze: Exkurs über den Populismus, in: Hans Werner Henze (Hg.): Zwischen den Kulturen (=Neue Aspekte der musikalischen Ästhetik I), Frankfurt/Main 1979., S. 7–31, hier S. 30
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geförderte Musikästhetik, die die Begriffe Fortschritt und Freiheit in ihren Mittelpunkt stellte. Entsprechend dem marxistisch-sozialistischen Verständnis vom idealen Staat, in dem es keine Ausbeutung mehr gäbe, demzufolge alle Menschen in gleicher Weise an allen materiellen wie geistigen Gütern Anteil haben sollten, galt auch für die Kunst als immateriellem Gut die Maxime, dass allen Menschen, ganz besonders den werktätigen Massen, der Zugang zu ihr ermöglicht werden müsse. Voraussetzung dafür sei ihre Verständlichkeit, denn nur was das Volk verstehe, könne es auch schätzen lernen. Die traditionelle Distanz von einer Kunst der Oberschicht gegenüber einer „Volkskunst“ der Werktätigen und Bauern sollte überbrückt werden, und eine gemeinsame sozialistische Kunst sollte entstehen. Für den Bereich der Musik bedeutete dies, dass Melodie, Lied und traditionelle Tonalität als Voraussetzung für eine verständliche Komposition gefordert wurden, dass sich Komponisten mit relativ einfachen Kompositionsmitteln bescheiden sollten. Hanns Eisler gelang es als Exponent dieser Anschauung, diese Einfachheit bei bisweilen hoher Originalität in viele seiner Kompositionen zu integrieren. Doch für das Gros der Komponisten bedeutete diese Forderung eine Einschränkung im Gebrauch musikalischen Materials, eine Begrenzung, die zu intensiver „Materialdiskussion“ in den 60er Jahren führte. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Theorie des Sozialistischen Realismus bestand in der Vorstellung, Musik solle die gesellschaftliche „Wahrheit“ widerspiegeln und gleichzeitig die Rezipienten zu Aktivität und Beteiligung am Aufbau des sozialistischen Staates motivieren. Damit würde Musik auch dazu beitragen, die menschliche Persönlichkeit auf die humanistischen Ziele von sozialer Verantwortung, Menschen- und Friedensliebe auszurichten. Gerade mit diesem Aspekt fußte die sozialistische Kunsttheorie auf der traditionellen bürgerlich-idealistischen Kunstästhetik, wonach der Kunst die Fähigkeit zugeschrieben wurde, etwas über ihr Stehendes, Ideales zur Anschauung zu bringen und als Mittlerin zwischen Realität und Ideal zu fungieren. Um den sozialistischen Gehalt einer Komposition zu verdeutlichen und die Eindeutigkeit der Aussage herzustellen, nutzten die Komponisten in den ersten 20 Jahren der DDR großenteils das Mittel des Wortes. Mit plakativen Titeln oder, viel häufiger, mit unterlegten Texten konnte man all das an Inhalten vermitteln, was allein mit den Möglichkeiten der Musik nicht aussagbar gewesen wäre. Daher auch dominierten in der DDR lange Zeit die Vokalwerke im Schaffen der Komponisten. Als Negativfolie zum Sozialistischen Realismus und als Argument im Kalten Krieg wurde in der DDR der Begriff des „Formalismus“ für die Kunst der westlichen Avantgarde geprägt, der beinhaltete, dass sich die Kunst im kapitalistischen Westen auf äußerliche Formen, das heißt auf Formen ohne Inhalt beschränken würde, dass sich die Kunst der Komponisten im Experimentieren mit neuen Klanggebilden erschöpfe, im technizis-
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tischen Fortschritt, ohne nach ihrem Inhalt und ihrer Funktion für die Bevölkerung und den Staat zu fragen. Je mehr allerdings auch sozialistische Künstler den Wunsch verspürten, die im Westen neu entwickelten musikalischen Techniken und Kompositionsprinzipien selber auszuprobieren und in ihre Arbeit zu integrieren, um so weniger wurde dem Formalismus-Argument Beachtung geschenkt. Bereits seit den 70er Jahren, ganz stark dann in den 80ern, als der Kalte Krieg auch von politischer Seite seine Schärfe eingebüßt hatte, wich die Formalismus-Debatte der offiziell geäußerten Ansicht, jedes musikalische Mittel könne dazu genutzt werden, ein sozialistisches Kunstwerk zu schaffen. Während in der DDR die musikästhetischen Diskussionen in starkem Maße unter der Dominanz der als offiziell verkündeten Regierungsmeinung stattfanden, waren die tonangebenden „Meinungsmacher“ in der BRD sehr viel indirekter tätig, weshalb sich der Eindruck ergeben musste, als habe sich die musikalische und musikästhetische Entwicklung sozusagen von alleine, ohne Lenkung von irgendeiner Seite her vollzogen. Gleich in den ersten Nachkriegsjahren verfolgten alle Siegermächte eine Politik der kulturellen Öffnung. Alles, was während des „Dritten Reiches“ als entartete Kunst diffamiert und verboten worden war, sollte jetzt als Ausdruck allgemeiner Befreiung von der Nazi-Herrschaft wieder zu Gehör gebracht werden. Als wichtigstes Medium setzten alle Besatzungsmächte in ihren Zonen ihre sofort nach Kriegsende besetzten Rundfunkanstalten ein. Die anfänglich gemeinsame Absicht, das deutsche Volk im Rahmen des „reeducation“-Programms vom faschistischen Gedankengut abzubringen und es auf Demokratie und Friedenswillen hin zu erziehen, entwickelte sich im Rahmen des beginnenden Kalten Krieges auf westlicher Seite zusehends zu einem Programm der „re-orientation“, der Betonung kapitalistisch-demokratisch-freiheitlicher Werte in Verbindung mit starker antikommunistischer Tendenz. Diese Richtung wurde auch nach Gründung der BRD von der Bundesregierung übernommen und auch nach Übergabe der Rundfunkanstalten in die öffentliche Zuständigkeit der Länder weitergeführt. Als Einrichtung der öffentlichen Hand verfolgten die Sender die von allen drei Westalliierten grundgelegte Förderung der musikalischen Avantgarde. Die großen Zentren der Moderne wie Darmstadt und Donaueschingen wurden vom Rundfunk stark finanziell gestützt, Radio München, der SWF und der RIAS entwickelten eigene Abteilungen und Sendungen für die musikalische Moderne, der NWDR (später NDR) baute sein eigenes Studio für elektronische Musik auf, dessen Arbeitsergebnisse eine zentrale Bedeutung für die musikalische Entwicklung der Avantgarde haben sollten. In der Kombination von musikalischem Experiment und unbeschnittenem Gebrauch aller denkbaren musikalischen Techniken entstand zusehends die Überzeugung, dass 1. nur das Neue, das Fortschrittliche überhaupt noch komponiert werden dürfe, dass die Innovation also Vorbedingung musikalisch-künstlerischer Qualität sei, und dass 2. nur
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in völliger „Freiheit“, in der Unbegrenztheit bezüglich musikalischer Techniken und der Unbegrenztheit der Phantasie sich Kunst ereignen könne. Darauf aufbauend bei gleichzeitigem Rückgriff auf traditionelle idealistische Vorstellungen wurde es dann besonders seit den 70er Jahren immer gängiger, das Kunstwerk selbst als Werk der Freiheit zu deklarieren, das seinerseits die Menschen zum Erahnen wahrer Freiheit führen würde. Auch die Komponisten, die sich in der Nachfolge des gesellschaftskritischen Ansatzes von Theodor W. Adorno verstanden, huldigten auf ihre Weise der „Freiheitsästhetik“, denn nach ihnen sollte der Hörer ebenfalls zum Bewusstsein von Freiheit gebracht werden. Durch die Störung aller bislang üblichen musikalischen Kommunikationswege, durch Umwertung des Bekannten und Einbeziehung des bislang Unbekannten sollte durch ästhetische Negation das „existentielle Bewusstsein“ so stark provoziert werden, dass ihm die Erfahrung von Freiheit ermöglicht würde. Es muss von einem Zusammenhang zwischen der „Freiheitsästhetik“ und der Bedeutung von Freiheit in der kapitalistisch-demokratischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der BRD ausgegangen werden. In allen kapitalistischen Staaten spielen Innovation und wirtschaftliche Freiheit als Movens kapitalistischer Wirtschaftsweise ihre bedeutende Rolle. Nicht ohne Grund bemühte die westliche Seite im Kalten Krieg in erster Linie das Argument der Freiheit gegenüber der Unfreiheit im kommunistischen Staat. Dass der Kapitalismus ein hohes Maß an individueller Freiheit zu seinem Funktionieren benötigt, wurde mit der berühmten Publikation des Ökonomen Milton Friedman „Kapitalismus und Freiheit“ von 1962 eklatant deutlich, womit er einen wichtigen Impuls zur Begründung und Einführung neoliberaler Politik geben sollte. Mit Hilfe einer Reihe bedeutender Publikationen zu kulturpolitischen Erscheinungen in der BRD kann gezeigt werden, dass dieser Zusammenhang inzwischen von vielen Autoren der jüngsten Zeit ähnlich gesehen wird. Auch sie stellen dar, dass ein sich gegenseitig bedingendes Verhältnis zwischen der Freiheits/Fortschrittsideologie und dem kapitalistischen Wirtschaftssystem bestand und besteht, ein Verhältnis, das offensichtlich bis ins kunstästhetische Denken hinein seinen Einfluss ausübt. Das Junktim von Kunst und Freiheit als starre Denkfigur westlicher Musikanschauung untermauerte und befestigte den musikalischen Kalten Krieg und führte zu der Konsequenz, dass im Westen die Kompositionen aus der „unfreien“ DDR als nicht kunstrelevant ausgeblendet wurden. Demgegenüber konterte das sozialistische Lager mit Verbalattacken, indem es den „formalistischen“ Experimenten der westlichen Avantgarde schlichtweg ihre künstlerisch-gesellschaftliche Bedeutung absprach.
5. Neue Musik ohne Publikum – Die gesellschaftliche Isolation in Ost und West
DDR und BRD, Ost und West hatten ein großes, wenn nicht gemeinsames so doch vergleichbares Problem: Die Werke ihrer lebenden Komponisten wurden niemals von der Breite der Bevölkerung rezipiert, geschweige denn anerkennend akzeptiert. Obwohl in beiden deutschen Staaten die Tendenzen der Weimarer Zeit sowie des „Dritten Reiches“ in der Kulturpolitik weiter verfolgt wurden, die Masse der Bevölkerung an die Kulturschätze heranzuführen, die Kunst für sie gleichermaßen verständlich und erlebbar zu machen, muss konstatiert werden, dass es keinem der beiden deutschen politischen Systeme gelang, die neu komponierte Musik „unters Volk“ zu bringen. Hier wie dort erfreute sie sich keiner verbreiteten Beliebtheit, hier wie dort blieb sie auf einen begrenzten Zirkel von Eingeweihten beschränkt. Hier wie dort auch rekrutierten sich die Komponisten und ihr Publikum aus der gesellschaftlichen Schicht der „Gebildeten“, die Musiker hatten mindestens einen, im Westen oft mehrere Studiengänge absolviert, konnten sich teilweise in hervorragender Weise in abstrakter Terminologie verbal zu ihren Kompositionen sowie zu allgemein musikalisch-gesellschaftlichen Fragen artikulieren, was ihnen über ihre Werke hinaus eine persönliche mediale Repräsentanz sicherte.
5.1 DDR: Das Werben um die Werktätigen Die breitenwirksame Verständlichkeit von Kunst war in der DDR ein fundamentaler Baustein der Musikästhetik. Im Arbeiter- und Bauernstaat sollte gerade die bislang unterprivilegierte Klasse sich die Kunst der ehemals herrschenden Gesellschaftsschichten aneignen. Mit den zwei Bitterfelder Konferenzen der Jahre 1959 und 1964 gedachte man, der bislang allzu zaghaften Beteiligung der Arbeiterschaft an künstlerischen Errungenschaften einen Anschub zu geben. Die 1. Konferenz stand unter der Losung „Arbeiter, erstürmt die Höhen der Kultur“. Mit neuen, praktischen Vorschlägen hoffte man, die Spaltung zwischen der Kultur der Bildungsschicht und derjenigen der Arbeiter wenn nicht ganz auszugleichen, so doch wenigstens zu verringern. Die Arbeiter sollten animiert werden, sich stärker mit Literatur, bildender Kunst, Theater und Kunstmusik zu befassen, um in die Lage versetzt zu werden, ihr „Mitsprache- und Mitbestimmungsrecht“ in Kultur und Kunst realisieren zu können. Angeregt wurden gemeinsame Konzertbesuche der Brigaden, Künstler sollten selbst in die Betriebe gehen einesteils, um ihre Werke dort vorzustellen und mit der Arbeiterschaft zu diskutieren, andererseits, um sich mit den Lebens- und Arbeitsverhältnissen, dem Denken und Handeln der Werktätigen vertraut
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zu machen. Sie sollten, so hieß es, mit der Arbeiterklasse gemeinsame gesellschaftlichkünstlerische Standpunkte gewinnen, die die Künstler in ihre Kunstproduktion einfließen lassen könnten. Nur so könne Kunst inhaltlich auf sozialistische Positionen ausgerichtet sein. Die Bitterfelder Konferenzen zeigen, wie in Regierungs- und Kunstkreisen offensichtlich die Erwartung bestand, Kunst würde sich zukünftig aus der Arbeiterschaft heraus rekrutieren, die gesellschaftlich präformierten Unterschiede von Volkskunst und höherer Kunst würden sich in einer „sozialistischen Nationalkultur“193 aufheben. Schon 1952 hatte E. H. Meyer postuliert: „Die Demokratisierung des Musiklebens beruht in ganz entscheidendem Maße darauf, daß nicht das Bürgertum, sondern die Arbeiterschaft, die Angestellten und die Bauernschaft in den schöpferischen und nachschöpferischen Berufen zu den tragenden Faktoren des Musiklebens werden.“194
Sowohl im Komponistenverband wie in der Akademie der Künste wurde die Überwindung der kulturellen Schichtunterschiede zu einem regelmäßig diskutierten Thema. Man forderte eine breit angelegte Propagandaarbeit in den Betrieben, vertraute gleichzeitig auf die Anziehungskraft eines Programms, das dem Geschmack der Werktätigen so weit entgegenkommen sollte, dass die Arbeiterschaft von sich aus gerne die Konzerte besuchen würde. Wie ein solches Projekt einer gelungenen Zusammenarbeit von Komponist und Werktätigen aussehen könne, beschrieb 1972 ein Redner anlässlich einer Konferenz in Halle zum Thema „Arbeiterklasse und Musik“. Beispielhaft für ähnliche Projekte zitieren wir Auszüge aus seinem Vortrag, in dem er darlegte, wie die Entstehung eines Werkes des Komponisten Siegfried Bimberg vor sich ging. „Während der Entstehung des Chor-Zyklus ‚Schreit aus, Genosse dieser neuen Welt’ stand dem Komponisten Siegfried Bimberg ein Kollektiv von Werktätigen zur Seite, dessen Mitarbeit sich befruchtend auf die Arbeit auswirkte. Günstig war dabei die Zusammensetzung der Diskussionsrunden, die Schrittmacher aus einem Kombinatsbereich, Vertreter der verantwortlichen Leitungen und Mitglieder des Chores umfaßte. Es ergab sich eine vielseitige Diskussion, die beiden Partnern wichtige Anregungen vermittelte. Obwohl natürlich auch viele Einzelheiten eine Rolle spielten, waren doch die meisten Diskussionspunkte nicht kompositions- oder chortechnischer Art, sondern betrafen Allgemeines, nämlich: Welche Haltungen in dem Werk zum Ausdruck kommen sollten, welche Grundfragen berührt werden, wie weit sich die Interpreten als musikalisch schon etwas Fortgeschrittenere gefordert fühlten und anderes mehr. Bimberg wurde seiner Verantwortung als Komponist gerecht, indem er auf die Diskussion nicht einfach mit einer undialektischen ‚Erfüllung‘ vorgetragener Bitten reagierte, sondern die geäußerten
193 Vetter: Kammermusik (wie Anm. 130), S. 23 194 Zit. nach Daniel zur Weihen: Anleitung und Kontrolle – Arbeitsbedingungen für junge Komponisten in der DDR der 50er Jahre und deren Folgen, in: Berg et al.(Hg): Zwischen Macht und Freiheit (wie Anm. 1), S. 23–37, hier S. 32
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Ansichten mit seinen kompositorischen Möglichkeiten zu einer neuen künstlerischen Qualität vereinigte. Der Erfolg des Zyklus bestätigt die Richtigkeit des Weges ...“195
In der Diskussion mit den Werktätigen sollte sich, so war es die Absicht, der Komponist mit grundsätzlichen Haltungen und Erwartungen der Arbeitenden so weit vertraut machen, dass er diese musikalisch in seiner Komposition umsetzen könne. Der Redner sah es als Erfolg an, „daß das Werk bis jetzt in neun Veranstaltungen vor fast viertausend Zuhörern [...] erklungen ist und stets eine sehr günstige Resonanz beim Publikum fand,“ und resumierte: „An diesem Beispiel zeigt sich ganz offensichtlich, daß bei richtigem Verständnis aller aus der gemeinsamen Arbeit erwachsenden Aufgaben eine große Effektivität möglich ist.“ In den folgenden Jahren wich diese Zuversicht einer stärker realistischen Einschätzung, und man begann langsam wahrzunehmen, dass die Bemühungen um einen kulturellen Ausgleich nicht so leicht zum gewünschten Erfolg führten. 1974 thematisierte der Präsident der Akademie der Künste Konrad Wolf wieder einmal den Abstand der Künstler zu den Werktätigen. „Die Arbeiterklasse ist seit der Existenz ihrer revolutionären Arbeiterbewegung die potentielle Erbin aller humanistischen Kulturwerte, und Parteiarbeiter [...] setzten ein Leben daran, dem Proletariat künstlerische Bildung zu vermitteln und es im Genuß der Kunst zu schulen. Dieser historisch-gesetzmäßige Anspruch der jungen Klasse ist aber auch unter heutigen Bedingungen als Kunstbedürfnis noch nicht einfach vorauszusetzen. Man kann doch einem Menschen, der schwer arbeitet, der in unserer Zeit enorm hohen physischen und geistigen Anforderungen in seiner unmittelbaren Arbeit und im gesellschaftlichen Leben ausgesetzt ist, nicht sagen: Du mußt Kunst genießen. Er wird fragen, warum muß ich das, erklärs mir.“196
Wolf gab hier der Erkenntnis Ausdruck, dass, anders als es sich die sozialistischen Musiker der ersten Stunde noch erträumt hatten: dass nämlich die Arbeiterschaft mit Begeisterung die Künste für sich erobern, in Anspruch nehmen und selber gestalten würde, die Werktätigen in der Mehrzahl kein Bedürfnis nach Kunst zeigten. Bei Wolf führte dies jedoch nicht zur Problematisierung der eigenen Position und zur Reflexion des eigenen Kunstverständnisses, sondern er deckte über alles den Mantel mit dem Bemerk, es bleibe weiterhin die Aufgabe der Künstler, das Bedürfnis für Kunst zu wecken, nur müsse dies vorsichtig und geduldig geschehen. Eine Befragung von 607 Schülerinnen und Schülern der 9. und 10. Klasse hatte 1969 ähnlich niederschmetternde Ergebnisse erbracht: Nur ein knappes Drittel der Befragten bekannte sich zur gesellschaftlichen und kulturpolitischen Bedeutung von Musik. 21,2% erklärte Musikunterricht für völlig bedeutungslos, weitere 38% suchten in der Musik „nur“ Genuss und Erholung. Aus den Ergebnissen der Studie folgerten die Autoren wie195 Musik und Gesellschaft (22/1972), S. 523 196 Mitteilungen der Akademie der Künste (1974), S. 8
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derum nur, dass Marginalien verbesserungswürdig seien, sie forderten keine grundsätzliche Revision des Ansatzes. Man bemängelte, dass der Musikunterricht in den Schulen zu langweilig wäre, bedauerte, dass das Fach Musik als Nebenfach gesellschaftlich von vornherein abgewertet sei und/oder dass die Eltern ihren Kindern oft nicht die adäquate Einstellung gegenüber der Musik vermitteln würden.197 Man thematisierte hingegen nicht die grundsätzliche Frage nach dem Sinn der Bedürfnisweckung nach Kunst, war man doch eingebunden in die feste Überzeugung idealistischer Ästhetik, Kunstmusik könne dazu beitragen, den Menschen zu „humanisieren“, ihn zur sozialistischen Persönlichkeit zu bilden. Die in Ost und West gleichermaßen unhinterfragte Prämisse, Kunst habe per se positiv persönlichkeitsbildende Wirkung, eine Funktion, die der von Werktätigen bevorzugten Unterhaltungsmusik, dem Schlager, der Popmusik und dem Jazz nicht so selbstverständlich zugesprochen, häufig sogar abgesprochen wurde, galt bis weit in die 70er Jahre hinein als Basis der Musikpolitik. Es war unvermeidbar, dass angesichts der weiterhin bestehenden kulturellen Klassenunterschiede auch in der DDR ganz besonders der zeitgenössischen Musik der Zugang in die Breite der Gesellschaft versagt blieb, obwohl von Regierungsseite der Aufbau einer eigenen Musikszene der Moderne gestützt wurde. Der „Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler“ (VdK, gegründet 1951) wurde zum wichtigsten Förderer und Träger entsprechender Konzerte. Die Zentrale in Berlin mit ihren 9 über die DDR verteilten Bezirksverbänden initiierte im wesentlichen die Aufführungen. Der VdK war gleichzeitig wichtigster Auftraggeber für neue Kompositionen, ermöglichte den zeitgenössischen Komponisten ihr wirtschaftliches Auskommen und eröffnete ihnen die Chance, ihre Werke in der Öffentlichkeit präsentieren zu können. Ein herausragendes Ereignis war 1967 die Musik-Biennale in Berlin, die als ein Fest für zeitgenössische Musik – später ergänzt durch die DDR-Musiktage – in erster Linie zum Podium für sozialistisch-realistische Werke von Komponisten der DDR und des Ostblocks wurde. Neben dem VdK gaben auch Opern- und Konzerthäuser neue Kompositionen in Auftrag, nicht zu vergessen sind auch die Großbetriebe als Auftraggeber wie z.B. die Chemischen Werke in Leuna oder das Stahlwerk in Eisenhüttenstadt. In Kombination mit den zwei wichtigsten Verlagen für zeitgenössische Musik in Leipzig, der Edition Peters und dem Deutschen Verlag für Musik, sowie dem 2. Programm von Radio DDR und den Kultursendern in Leipzig, Berlin, Dresden existierte damit für die Moderne ein relativ stabiles und funktionierendes Netzwerk, das von Beginn des ersten musikalischen Gedankens über die Aufführung und Verbreitung die gesellschaftliche Einbindung gewährleistete. Es war unumgänglich, dass in diesem System über die Auftrags- und Aufführungsvergabe bestimmte Komponisten protegiert, andere wiederum fallengelassen wurden. Die fast unendlich anmutenden Diskussionen gerade innerhalb des VdK über den Wert einer neuen 197 Musik und Gesellschaft (1969), S. 600ff.
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Komposition, sei es in ihrer sozialistisch-realistischen Aussagekraft, sei es in ihrem dem Sozialismus angemessenen „Materialstand“, zeugten von dem sicher nicht nur unter dem Vorzeichen politischer Einmischung des Kulturministeriums zu verstehenden Ringen der im VdK vertretenen Komponisten um Maßstäbe und Kriterien für eine förderungswürdige Musik. Ein bedeutender Einfluss kam auch der AWA zu, der staatlichen „Anstalt zur Wahrung der Aufführungsrechte“, die die durch Kompositionen eingenommenen Gelder an die bei ihr angemeldeten Komponisten verteilte und ihnen dadurch ihr Auskommen ermöglichte, wobei allerdings durch Einstufung in qualitative Wertungsgruppen unterschiedlich hohe Lohnauszahlungen erfolgten. Zur obersten Lohngruppe gehörten „Hervorragende Komponisten, die neue Wege im Musikschaffen bahnen und deren Werke besonderen kulturpolitischen Wert besitzen“, während in die zweite Gruppe „Komponisten mit einem außergewöhnlichen Können“ fielen usw. Gesondert bewertet wurden auch Komponisten von Arbeiterliedern.198 Eine 1968 publizierte Untersuchung199 zu den Spielplänen von 64 Kultur- und Theaterorchestern der DDR der Spielzeit 1967/68 listet insgesamt 610 Konzertaufführungen auf, aus deren Programmangebot ersichtlich ist, dass die Komponisten der DDR darin nicht besonders zahlreich vertreten waren. Hanns Eisler rangierte mit 13 Aufführungen vorne, gefolgt von Siegfried Matthus (12), Günter Kochan und Gerhard Rosenfeld (je 11), Siegfried Kurz (10), Paul Dessau (nur 8!!), Ernst Hermann Meyer (8), Ottmar Gerster und Johannes Paul Thilman (je 7) und Fidelio F. Finke (6). Trotz der staatlicherseits geförderten und relativ breit angelegten Aktivitäten in Sachen der Moderne wollte es nicht gelingen, sich musikalisch der werktätigen Bevölkerung anzunähern. Die Enttäuschung über die mangelhaften Erfolge einer breitenwirksamen neuen Kunstmusik wurde immer wieder aufs Neue artikuliert. So beklagte 1978 E.H. Meyer den schlechten Absatz der VEB-Schallplattenserie „unsere neue Musik“ und bedauerte, dass ihm „der Prozentsatz derjenigen, die unsere neue Musik, wie unsere Schallplattenserie heißt, wirklich verlangen und wünschen, verdammt klein zu sein [scheint]. Wenn du in einem Taxi sitzt oder bei irgendjemandem zu Besuch bist, was stellt er an? Er stellt Schlager an und oft auch noch Westschlager!“200
198 Zur detaillierten Darstellung der Förderung von Komponisten der DDR vgl. Daniel zur Weihen: Komponieren in der DDR. Institutionen, Organisationen und die erste Komponistengeneration bis 1961, Köln 1999 und zur Weihen: Anleitung und Kontrolle (wie Anm. 194) 199 Musik und Gesellschaft (1968), S. 230f. 200 Zit. nach Nina Noeske: ... und Nicolaus Richter de Vroe hat kein Telefon. Ein Streifzug durch die Akademie-Diskurse der 70er und 80er Jahre, in: Tischer (Hg.): Musik in der DDR (wie Anm. 188), S. 127–151, S. 130
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Wie weit dann in den 80er Jahren die Diskussion um die gesellschaftliche Positionierung von Kunst gediehen war, lässt sich bestens anhand eines Artikels in „Musik und Gesellschaft“, der Verbandszeitschrift des VdK von 1984 erkennen. Darin formulierte Michael Dasche zum Thema „Sozialistischer Realismus – ein aktuelles Problem?“ seine Bedenken gegenüber dem traditionellen Realismusbegriff, der an die Kriterien Parteilichkeit und Volksverbundenheit geknüpft sei. Die Volksverbundenheit, das Konzept der musikalischen Volkserziehung hin zu den Höhen der Kunst, habe sich vor allem am bürgerlichen „Erbe“ orientiert. Es bestehe weiterhin die Tendenz, dass die Barrieren zwischen vermeintlich höheren und niederen Formen der Musik immer stärker auseinanderdrifteten. Daher forderte Dasche die Überwindung von zweierlei „Dogmen“: a) dass sozialistischer Realismus und musikalische Avantgarde „zwei einander fremde Dinge“ seien, b) dass die Kunstmusik und die Musikerfahrungen des Alltagsbewusstseins nicht miteinander integrierbar seien. Der „fatale“ Trennungsstrich, der in der DDR zwischen realistischer und avantgardistischer Musik gezogen worden sei, stelle bis heute die eigentliche „historische Belastung“ dar. Das gleiche gelte für die Grenzziehung gegenüber den verschiedenen Formen der Unterhaltungsmusik. Dasche stellte abschließend die suggestive Frage: „...wie sollte im musikalischen Bereich die Lösung der [...] als ‚Kernproblem’ unserer Kunstpolitik bezeichneten ‚Darstellung der Arbeiterklasse als führende gesellschaftliche Kraft’ gelingen, wenn dabei die Integration massenrelevanter Musikpraktiken unterbliebe? Wie sollte sozialistisch-realistische Musik im Kampf um den Weltfrieden eine operative, internationalistische Funktion erfüllen, wenn sie sich nicht den Einflüssen verschiedenster Musikkulturen und somit auch sozial ganz unterschiedlicher Musiziersphären aussetzte und diese zu assimilieren versuchte?“ Man solle endlich einen zeitgemäßen Realismusbegriff fundieren, „der über die Grenzen klassisch-romantischer Kunsttradition hinausweist.“201 Dasche brach mit seiner Argumentation ein bislang gehütetes Tabu und eröffnete der Diskussion einen erweiterten Horizont. Es ist im Nachhinein nur schwer auszumachen, von welchen einzelnen Personen die Diskussion angefacht wurde, mit Sicherheit aber deutet Dasches Artikel auf eine zu Anfang der 80er Jahre längst in Gang gekommene Infragestellung ästhetischer Positionen gegenüber der Kunst. Vor den Realitäten des Musiklebens mit der massenhaften Bevorzugung von Tanzmusik, Beat, Rock und Jazz, wie sie seit den 70er Jahren in der DDR sich immer stärker verbreitet hatte, konnte und wollte man die Augen nicht mehr verschließen. Es war immer deutlicher geworden, dass gegenüber der Konkurrenz der „massenrelevanten Musikpraktiken“ mit zeitgenössischer 201 Musik und Gesellschaft (1984), S. 566f.
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Kunstmusik nicht anzukommen war. Damit veränderte sich die Einstellung und Bewertung gegenüber der Popularmusik. Deren Dasein wurde nun mit einer Daseinsberechtigung versehen, ihr Sosein als berechtigtes, anerkanntes, bisweilen sogar bewundertes Anderssein angenommen. Entsprechend hatte man 1983 am musikwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität ein Forschungszentrum Populäre Musik eingerichtet. Die Anerkennung des Wertes populärer Musik implizierte wenigstens zum Teil die Infragestellung traditioneller Kunstästhetik, denn angesichts einer massenhaften Begeisterung nicht mehr nur der Jugendlichen, sondern breiter Bevölkerungsteile, zum Teil auch akademischer Herkunft, wurde die idealistische Begründung für die Höherwertigkeit von Kunst immer fragwürdiger und immer weniger erlebbar. Von daher war die Forderung an die zeitgenössischen Komponisten folgerichtig, sich sowohl gegenüber der Popularmusik als auch gegenüber den Einflüssen der verschiedensten Kulturen aus aller Welt zu öffnen und diese in ihr Werk zu integrieren. Diese Forderung nach Öffnung gegenüber ersten Ansätzen der Postmoderne geschah in der DDR zu einem Zeitpunkt, als in der BRD die Fronten von hoher E- und niederer U-Musik von der Mehrzahl zeitgenössischer Komponisten weiterhin verteidigt wurden. Wenn sich in der DDR der 80er Jahre eine Relativierung von Kunst gegenüber unterschiedlichen Musiziersphären und –kulturen vollzog, so geschah dies allerdings nur bedingt im Sinne westlicher Postmoderne. Das Experimentieren mit andersartigen Musik- und Klangphänomenen sollte nicht als eine nur neuartige, beliebige Auswahl gleichberechtigter und gleichwertiger musikalischer Ausdrucksweisen gebraucht werden. Vielmehr betonte man weiterhin, dass die Komponisten die neuen Ausdrucksformen zwar frei und individuell nutzen sollten, jedoch immer vor dem Hintergrund, diese in den Dienst einer menschenwürdigen, „humanen“, sozialistischen Gesellschaft zu stellen. Insofern lässt sich gut begreifen, dass nach dem Fall der Mauer 1989 Musiker, Komponisten und Musikwissenschaftler zum großen Teil nicht nur in das Loch eigener beruflicher und damit gesellschaftlicher „Bedeutungslosigkeit“ fielen, sondern auch in das Vakuum einer ihnen sinnentleert scheinenden Komponiertätigkeit (Zitat: „Natürlich fragt jetzt niemand, was, warum, wofür ich komponiere, da bin ich völlig in die Freiheit entlassen, auch, nach Belieben aufzuhören. In der DDR hätte aber wenigstens noch einer gefragt: Warum hört der auf ?“)202, da im Westen der gesellschaftliche Auftrag des Komponierens für sie nicht ohne weiteres greifbar war. Beeindruckend brachte diesen Zusammenhang Günter Mayer, Professor der Musikwissenschaft der Humboldt-Universität, im Jahr der Wende 1989 auf den Punkt. Er setzte sich mit der Werte- und Sinnkrise der Künste in der DDR auseinander, mit den nicht zu übersehenden und überhörenden Phänomenen 202 Vgl. die Interviews von Gisela Nauck: Anpassen, Widersetzen, Aufgeben. Komponieren nach einem politischen Umbruch, in: Mark Delaere (Hg.): Neue Musik, Ästhetik und Ideolgie, Wilhelmshaven 1995, S. 118–128, hier S. 120f.
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„von Verunsicherung, Zweifel und Verzweiflung, von Weltschmerz und Weltflucht, von Sentimentalität und Weinerlichkeit, von wütenden Ich-Gesten und Resignation, von Leiden und Selbstmitleid“.203 Er diagnostizierte die sichtbaren Tendenzen zu einer entweder individuell anarchistischen Politisierung oder zu einer völligen Entpolitisierung. Beides sei gleichermaßen politisch relevant. Die Frage stehe im Raum, ob sich damit die Resignation über die Folgenlosigkeit einer kritisch engagierten Kunst für das Leben und die Gesellschaft ausdrücke. Als Erklärung für die resignative Haltung machte Mayer eine Existenzkrise aus, die globale und nationale Dimensionen habe: das Ohnmachtsgefühl gegenüber den Menschheitskrisen und zweitens „die Gesamterfahrung individueller und kollektiver Ohnmacht gegenüber der existentiellen Krise des Sozialismus in internationaler Dimension, aus der die kleine DDR nicht ausgeklammert werden kann.“204 Mayer hielt es trotz der Krise des Sozialismus für unabdingbar, in den Künsten nach dem Sinn und der Perspektive der menschlichen Existenz neu zu fragen, besonders aber nach ihrer sozialen und gesellschaftlichen Funktion. Die neue Globalität und Pluralität mochte er nicht einfach im Sinne des „alles ist möglich“ verstanden wissen, sondern im Sinne einer neuen Form von „kollektiver Subjektivität“, in der – über die traditionelle SozialismusZentrierung hinaus gedacht – sich kreative Individuen aus allen politischen Systemen der kapitalistischen, sozialistischen Länder und solchen der Dritten Welt solidarisch in künstlerischen Gemeinschaftsaktionen zusammenschließen würden, um für eine humane Gesellschaft einzutreten. In gegenseitiger Toleranz und Achtung der künstlerischen Vielfalt könne ein politisch und künstlerisch avancierter Neubeginn möglich sein. Was Mayer hier kurz vor der Wende formulierte, war das Ergebnis eines Diskussionsprozesses, der offensichtlich seit einigen Jahren auch innerhalb des Komponistenverbandes im Gange war. Denn bereits im Februar 1987 legte der VdK in Verein mit dem Ministerium für Kultur ein Positionspapier „zur weiteren Entwicklung der sozialistischen Musikkultur der DDR“ für die Diskussion unter den Mitgliedern vor, das schließlich in einen Entwurf im Juni 1989 mündete, der als erneute Diskussionsgrundlage dienen sollte. Dieser Entwurf imponierte dadurch, dass er anstelle der bislang so häufig postulierten Hinführung des Volkes zur Kunst jetzt die Unterschiedlichkeit der Bedürfnisse akzentuierte und damit Reichtum und Vielfalt im kompositorischen Schaffen aller Genres einforderte. „Unsere Gesellschaft braucht in allen Genres ein reichhaltiges kompositorisches Schaffen, das den Hörern ästhetischen Genuß, unterhaltsame und tiefgehende Erlebnisse, Einsichten und vielfältige Anregungen vermittelt, sie in Haltungen und Überzeugungen bestärkt, ihre Phantasie und schöpferische Aktivität anregt. Sie braucht die Vielfalt der Genres und Ausdrucksmöglichkeiten, den Reichtum der Inhalte und der künstlerischen Handschriften, um den dif203 Günter Mayer: Zur Theorie des Ästhetischen, Berlin 2006, S. 151 204 Ebd. S. 152f.
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ferenzierter werdenden Bedürfnissen und Erwartungen zu entsprechen, wie dem Reichtum des Lebens und der gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen.“205
5.2 BRD: Das Recht auf Individualität Es gehörte zur Rhetorik des Kalten Krieges, dass in der DDR die Kritik am Formalismus, an Dekadenz und Modernismus der westlichen Avantgarde meist an den Vorwurf gekoppelt war, dass es sich bei dieser Musik um die Kunst bürgerlicher Eliten handle, die ihrerseits ohne Beachtung der Masse der Bevölkerung ihren „Individualismus“ ausleben würden. Dieser Vorwurf, der durchaus auch auf westlicher Seite artikuliert wurde, traf viele Komponisten hart, nur so ist jedenfalls verständlich, wie stark und häufig man gegen diesen Vorwurf argumentierte. In den ersten Jahrzehnten der BRD nährte man die Hoffnung, die Neue Musik brauche eine Zeit der Gewöhnung, eine Zeit, in der sich ihre Qualitäten den Hörern eröffnen würden. Man argumentierte, auch in der Vergangenheit seien viele musikalische Werke bei ihrer Uraufführung auf Unverständnis des Publikums gestoßen, während sich erst später ihr wahrer Wert gezeigt hätte. Die Gewöhnung an neue musikalische Kompositions- und Hörweisen sei auch bei der Neuen Musik zu erwarten. Um den Hörern die neuartigen musikalischen Strukturen als logisch nachvollziehbaren Sinnzusammenhang nahezubringen, bedurfte es der verbalen Erläuterungen. Und so entwickelte sich der Typ des verbal kommunizierenden Komponisten, eine ganze Generation, die in bislang nie dagewesener Art und Weise in Vorträgen, Kursen, Schulungen, Interviews und Publikationen ihre Gedanken über ihre Musik verbreitete. Trotz der starken Unterstützung durch das Kommunikationsmedium Rundfunk gelang es bis heute nur ansatzweise, den Kreis derer, die überhaupt Interesse an der Avantgardemusik zeigten und sich der Diskussion und dem neuen Hören öffneten, zu vergrößern. Man könnte meinen, dass sich in der Zeit der Studentenunruhen die Situation auch für die Neue Musik hätte verändern können, wurde doch jetzt die gesellschaftliche und politische Funktion von Musik und Kunst grundsätzlich hinterfragt, wurde gerade ihre bürgerliche Elitesituation als bürgerliches Herrschaftsinstrument „entlarvt“. Die politisch engagierten Avantgarde-Komponisten folgerten aber daraus nicht, dass der Graben zwischen Elite- und Massenkunst zu überwinden sei, sondern ganz im Gegenteil: die Elitesituation der Moderne wurde zum Indiz ihrer Wahrhaftigkeit uminterpretiert. Man fühlte sich mit seiner Kunst als der bislang noch unverstandene Stachel im Fleische des kapitalistisch-bürgerlichen Musikkonsums. Damit wurde die Isolation der Moderne argumentativ in den Beweis ihrer Berechtigung verwandelt. Durfte man sich ja gerade nicht 205 Zit. nach Vetter: Kammermusik (wie Anm. 130), S. 26
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in dem System traditioneller Kommunikationssysteme bewegen, denn solange man sich den vorhandenen Vermittlungsformen anpasse, würde man dem affirmativen Wesen von Kunst genügen. Musik jedoch müsse befreien. Zwei politisch engagierte, marxistisch orientierte Komponisten der Avantgarde wollten sich nicht mit dem argumentativ untermauerten Isolationsmuster zufrieden geben. Hans Werner Henze und Luigi Nono forderten eine gesellschaftliche Parteinahme, die deutlich über die Nur-Kritik an den bestehenden Verhältnissen hinausgehe. „In Konzertsälen und wo auch immer der Bourgeoisie vorzuführen, wie kaputt sie ist, und wie kaputt wir, die Bourgeois sind, die für sie Musik schreiben, ist ein Schauspiel, das man bis zu einem gewissen Grad vollziehen kann, das aber sehr schnell an Attraktion verliert, weil es wirkungslos bleibt. Notwendig ist, die Unterdrückten aufzusuchen und sich mit ihnen zu solidarisieren.“206
Henzes Vorstellung von einer Solidarisierung mit den Unterdrückten, indem man musikalischerseits auf sie zugeht, musste sich den Einwand gefallen lassen, ob denn die „Unterdrückten“ überhaupt in der Lage wären, solche Solidarisierungsversuche wahrzunehmen, geschweige denn von ihnen zu profitieren. Doch Henze konterte mit seiner Überzeugung, dass gerade das Proletariat über „sehr viel unverbrauchte Rezeptionsfähigkeit“207 verfüge. Ähnlich optimistisch bezüglich der Rezeptionsbereitschaft Neuer Musik war auch Nono. Er sei beispielsweise nach seiner 1964 komponierten „La fabbrica illuminata“ oft von Arbeiterkulturkreisen Italiens aufgefordert worden, sein Werk in Fabriken aufzuführen. Einen andersartigen Kommunikationsweg suchte Karl-Heinz Stockhausen. Nachdem er in den 50er Jahren vornehmlich mit der musikalisch-technischen Entwicklung am Kölner Studio für elektronische Musik und der Konstruktion neuer musikalischer Strukturen beschäftigt war, begann er, sich im Rahmen der in Mode gekommenen Reisen zu indischen Meditationszentren mit meditativen, mystischen, allgemein weltumspannenden „Wahrheiten“ zu befassen und diese musikalisch-programmatisch umzusetzen. Damit traf er auf ein Bedürfnis, das ihm eine größere öffentliche Aufmerksamkeit garantierte. In Titeln wie „Telemusik“ (1966), „Stimmung“ (1968), „Aus den sieben Tagen“ (1968), „Sternklang“(1971), „Sirius“ (1977) ging es immer um das Thema einer die Welt umspannenden, die Welt als eine Einheit begreifende Musik. Der Kosmos, Gott, die Galaxien, die Atome und das Licht waren Bilder, die Stockhausen gerne seinen Musiken als Texte beigab. Modernste Techniken der Klangerzeugung sollten nach ihm mit einer imaginären, heilen Welt des Universums zu einer Einheit verschmelzen. Stockhausens Bemühen um solcherart „kosmische“ Klänge forderten Fachleute in der DDR zu harscher Kritik heraus. Stockhausen hätte sich der „vorderasiatisch angehauchten Hippie-Bewegung“ an206 Pauli: Für wen, (wie Anm. 151), S. 79 207 Ebd. S. 80
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geschlossen, seine Plattenaufnahmen würden sich nahtlos in die neue Mode einlullender, das kritische Bewusstsein ausschaltender Happiness-Musik einfügen. Es gelang Stockhausen mit seinen Stücken, die er teilweise mit weiter, theatralischer Gebärde in Szene setzen ließ (s. sein Opernzyklus „Licht“ u.a. ), was ihre Attraktivität nochmals erhöhte, sich über den engeren Kreis von Avantgarde-Anhängern hinaus bekannt zu machen. Dazu trug in besonderem Maße bei, dass er nicht nur von Seiten des Rundfunks, sondern sogar von Regierungsseite starke Unterstützung erhielt, denn für die Weltausstellung in Osaka 1970 erschienen der Komponist und seine Musik geeignet, in der Kombination von modernster Technik und Kunst das von der Wirtschaft angestrebte Image der BRD als Kultur-und Technikland zu repräsentieren. Darum baute man ihm für über 32 Millionen DM208 einen eigenen Kugelpavillon nach eigens von ihm angefertigten Skizzen, wo das Publikum auf einem schalldurchlässigen Gitterrost saß und von 50 rundherum angeordneten Lautsprechergruppen Musik vieldimensional erleben konnte. Ein halbes Jahr lang führte Stockhausen täglich in dem Auditorium seine meditativen Konzerte auf, fast 1 Million Zuhörer besuchten seine Vorstellungen. Damit stieg Stockhausens Bekanntheitsgrad weit über Deutschland hinaus. Angesichts seiner mit staatlicher Subvention und gleichzeitiger Vermarktungsstrategie produzierten Popularität brauchte er sich über Fragen der Kommunikation oder der Verständlichkeit kaum Gedanken zu machen. Der Erfolg gab ihm offensichtlich recht, er hatte einen Kommunikationskanal gefunden. Doch die jüngere Komponistengeneration war weiterhin mit dem Problem der Verständlichkeit konfrontiert. Wolfgang Rihm gab in seinem Beitrag „Verständlichkeit und Popularität – künstlerische Ziele?“ zu, dass die Neue Musik sicher nicht das Postulat nach Popularität erfüllen könne, forderte aber dennoch, dass das Ziel künstlerischer Arbeit ihre Verständlichkeit sein müsse. Das Kunstwerk müsse in der Lage sein, ein Grundgefühl auszudrücken und dieses nach Möglichkeit auch im Rezipienten anzusprechen. „Verständlichkeit kann aufgefaßt werden als Folge des mitgeteilten Grundgefühls. Große Verständlichkeit geht nicht aus von einer großen Menge von Affekten, sondern von einem einzigen, vertieften Affekt.“209 Mit dem Verzicht auf Popularität deutet sich an, dass sich spätestens seit den 80er Jahren die Avantgarde darauf einzustellen begann, dass sie nicht mehr die Rolle im Musikleben spielen könne, die die traditionelle, tonale Musik genießt. Man begann, sich in der sozialen Isolation zu etablieren und sich darin zu genügen, angesichts der ständig steigenden musikalischen Vielfalt, ganz besonders aber angesichts des rasanten Wachstums 208 Die Kostenangabe wurde aus „Musik und Gesellschaft“ 1972, S. 144 übernommen, konnte aber nicht überprüft werden 209 Wolfgang Rihm: Verständlichkeit und Popularität – künstlerische Ziele? in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik XVIII (1980), S. 53–64, hier S. 57
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der medialen Verbreitung von Popularmusik, ein musikalisches Nischendasein zu führen. Viele der jüngeren Komponisten passten ihre Theorie der Realität an: „Ich schätze die mir selbst zuteil werdende Befreiung im unmittelbaren Ausdruck des Hier und Jetzt“.210 Man konzentrierte sich auf das „Innenleben“ der Töne ebenso wie auf das eigene Innenleben und bekannte sich zur Subjektivität der Kompositionsweise, zum „subjektivierenden Ansatz meines Ausdruckswillens“,211 wie der Komponist Gerhard Schedl es formulierte. Während man also einerseits den Anspruch an Kommunikation auf die Vermittlung „des Subjektiven“ reduzierte, nutzten viele Komponisten eine neue Verständigungsmöglichkeit, indem sie sich gegenüber anderen Musikbereichen und Musikstilen zu öffnen begannen, sie in die eigene Komposition integrierten, um damit das Verständnis zu erleichtern und eventuell neue Hörerschichten anzusprechen. In diesem Sinne versuchte beispielsweise Michael Hamel, nachdem ihm „die elitäre Isolation der Oberschichten-Kultur [...] erschreckend“212 bewusst geworden sei, Jazz sowie neue Improvisationsmodelle nach dem Prinzip der unendlichen Wiederholung kleiner modaler Muster (ähnlich der in den USA kurz zuvor entstandenen „minimal music“) in seine Komposition mit einzubringen, integrierte nach einigen Reisen nach Indien und Asien östliche Tonsysteme und Improvisationsmethoden und war nach eigenen Angaben bestrebt, dabei auch dem „Geist“ der andersartigen Musikkulturen nahe zu kommen. Hamel hatte die Hoffnung, dass seine Musik aus dem Elfenbeinturm der Avantgarde herausführen und junge Menschen und Erwachsene aller Schichten ansprechen möge.
Zusammenfassung Die Erwartung der Komponisten der Moderne, dass ihren Werken der Zugang zu breiteren Bevölkerungsschichten gelingen würde, wurde in beiden deutschen Staaten in gleichem Maße enttäuscht. Da in der DDR die Forderung nach Teilhabe der Werktätigen an den Errungenschaften der Kunst zu einem der Grundsätze des sozialistischen Staates gehörte, unternahmen die Parteifunktionäre, ausübende Musiker und Komponisten im Komponistenverband große Anstrengungen, die neuen Kompositionen den Werktätigen gegenüber verständlich zu machen. Über verbale Erklärungen und auditive Gewöhnung erhoffte man, eine allgemeine Akzeptanz für die Moderne zu erreichen. Es gab Projekte, bei denen Künstler 210 Der Komponist Michael Hamel in: Neue Zeitschrift für Musik (1979), S. 24 211 Gerhard Schedl : Der formale Gedanke im permanenten Konflikt der zeitgenössischen MaterialKlang-Diskussion, in: Otto Kolleritsch (Hg.): Musikalische Gestaltung im Spannungsfeld von Chaos und Ordnung, Wien 1991, S. 114–119, hier S. 118 212 Neue Zeitschrift für Musik (1979), S. 23
Zusammenfassung
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bereits während des Kompositionsprozesses im Diskussions- und Erfahrungsaustausch mit Werktätigen standen, neue Werke spielte man mit didaktischen Erläuterungen in Fabriken vor, im Rundfunkprogramm stellte man Komponisten und ihre Arbeit vor usw. Es existierte ein breites staatliches Netzwerk zur Förderung der Moderne, das von der regelmäßigen Gehaltszahlung für Komponisten über die Auftragsvergabe von Kompositionen, den Druck und Vertrieb im volkseigenen Verlag bis zur Aufführung sowie den Werbe-Veranstaltungen in volkseigenen Betrieben reichte. Hinter allen Bemühungen stand die Prämisse, den Werktätigen sei aus traditionell mangelnder Bildung heraus der Zugriff zur Kunst verwehrt gewesen, nun müsse man Arbeiter und Bauern mit Geduld, mit Anleitung und Gewöhnung zu ihr hinführen. Auch in der BRD gab es im Rahmen des allgemeinen Demokratie-Verständnisses das Bemühen, der Allgemeinheit Kunst verständlich zu machen. Man überließ dies im wesentlichen den Musikschulen, die den Auftrag hatten, einem möglichst breiten Bevölkerungskreis Instrumentalunterricht zukommen zu lassen, und der Schulpädagogik, die das Ziel hatte, vom Singen ausgehend in die großen Werke der Kunst einzuführen. De facto verstand man unter „Kunst“ aber nur die traditionelle Musik, die Moderne blieb von vornherein ausgespart, da die Musikpädagogen in der Regel selbst keinen Zugang zu den Entwicklungen der Avantgarde hatten, und die Lehrpläne frühestens in den 70er Jahren zaghaft begannen, die Moderne zu integrieren. Die musikalischen Entwicklungen der westlichen Avantgarde spielten sich in den 50er Jahren in kleinen Zirkeln ab, im wesentlichen gelangten ihre Kompositionen nur durch die Rundfunksender an die Öffentlichkeit. Wer aber nicht speziell interessiert war, konnte die ungewohnten und die Hörgewohnheiten irritierenden Klänge nach eigenem Gutdünken abschalten. Gegen die gesellschaftliche Isolation versuchten viele Komponisten, mit verbalen Mitteln vorzugehen. Sie äußerten sich ausgiebig über Aufbau, Sinn und Absicht und über Rezeptionsmöglichkeiten, im allgemeinen jedoch auf einem so hohen Abstraktionsniveau, dass dies kaum dazu angetan war, ihre Arbeit der Breite der Bevölkerung gegenüber verständlicher zu machen. Als spätestens in den 70er Jahren nicht mehr zu übersehen war, dass die Avantgarde aus ihrer Position einer kleinen gesellschaftlichen Minderheit nicht heraus finden würde, gab es sogar Interpretationen, die die gesellschaftliche Isolation zum Beweis ihres fortschrittlichen Wahrheitsgehaltes umdeuten wollten. Sich selbst als vorwärtsweisender Verkünder zu sehen, als Stachel im Fleische, als Motor der Bewusstseinsbildung zu gesellschaftlichen Zielen wie „Freiheit“, „Emanzipation“ usw., beinhaltete notwendiger Weise, auf den Beifall der Masse verzichten zu müssen. Wenn auch wenige politisch „linke“ Komponisten wie Nono oder Henze weiterhin versuchten, sich mit ihren durch Titel oder Text artikulierten Programmatiken der Öffentlichkeit gegenüber verständlich zu machen und ihre Solidarität mit den Unterdrückten kund zu tun, dann trat seit den 80er Jahren demgegenüber eine Tendenz zutage, bei der man sich im Nischendasein einzurich-
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ten schien. Man betonte immer häufiger, dass der Komponist ein Recht und die „Freiheit“ zum subjektiven, ganz persönlichen Ausdruck habe und Rücksicht auf den Hörer ihn in dieser seiner Freiheit unnötig einschränken würde. Während sich die westliche Avantgarde also mit einem relativ kleinen elitären Hörerkreis begnügen musste, ließ in der DDR die Diskussion um die öffentliche Beteiligung an der modernen Musik bis zuletzt nicht nach. Zu Anfang der 80er Jahre wurde öffentlich zugegeben, dass man sein musikpolitisches Ziel nicht habe erreichen können, dass ganz im Gegenteil die Begeisterung für jede Art von Popmusik und nicht für die „ernste Musik“ zur Kenntnis genommen werden müsse, und dass es zu akzeptieren sei, dass verschiedene Bevölkerungsteile jeweils unterschiedliche musikalische Bedürfnisse hätten, deren Befriedigung in gleicher Weise Aufgabe des Staates sei.
6. Der Vormarsch der Popmusik
In den ersten Jahrzehnten des geteilten Deutschland gab es in Ost wie in West eine breite Phalanx bildungsbürgerlicher Schicht, die sich darüber einig war, dass ein wichtiges Kriterium für Kunst u.a. die Abgrenzung gegenüber der Musik der „unteren“ Gesellschaftsschichten war, also all jener Schichten, die sich dem kulturellen Anspruch verweigerten. Je höher man die eigene Kunst idealisierte, desto verachtungsvoller sprach man von Schlager, Jazz, Operette und der neuen, zunächst unter dem Begriff „Jazz-Musik“ summierten Tanzmusik. Damit führte man die Tradition bildungsbürgerlicher Musikanschauung fort, die seit ihrem Entstehen im 18. Jahrhundert stets die Minderwertigkeit anderer Musik als die der eigenen Schicht mit deren Sinnenhaftigkeit, Sinnlichkeit, mit ihrer betäubenden und/oder aufreizenden Wirkung begründete. Das Argument zu großer Sinnenhaftigkeit der Musik „unterer“ Gesellschaftsschichten hatte das ganze 19. Jahrhundert hindurch die musikalisch-ästhetischen Diskussionen begleitet und verlor auch nicht in der Weimarer Zeit und unter dem Nationalsozialismus an Brisanz, im Gegenteil: Die zunehmende gesellschaftliche Bedeutung des mittleren Kleinbürgertums sowie der Arbeiterschaft wurde von der Bildungsschicht angstvoll mit noch deutlicher formulierter Ablehnung bis hin zur Beschimpfung und Verachtung kommentiert. Selbst Hanns Eisler, der sich mit seinen Kompositionen in der DDR ja gerade der Arbeiterklasse zuwenden wollte und mit Hilfe einfach strukturierter, liedhafter – wenn auch meist verfremdeter – Stilmittel sich ihren Hörgewohnheiten anzupassen suchte, blieb in dem Urteil seiner eigenen Schicht der Gebildeten befangen, wenn er zu wiederholten Malen den musikalischen „Schmutz“ anprangerte. Er kritisierte, „welche abscheuliche Musik aus den Radios, aus dem Fernsehen, von den Grammophonplatten täglich, stündlich, nachts, morgens und abends unser Ohr beleidigt“, wollte den „allgemeinen dreckigen Schmutz, der aus allen West- und Oströhren fließt“ gleichermaßen bekämpfen. Dabei berief er sich auf seine Überzeugung, dass es eine zentrale Aufgabe der Musik sei, die „schmutzigen Gefühle zu reinigen. [...] Die Gefühle müssen in der Musik gereinigt werden. Leider werden sie verschmutzt [...] Ich kämpfe seit vierzig Jahren gegen die Verschmutzung der Gefühle durch die Musik und für die Reinigung der Gefühle in der Musik. Ein hoffnungsloses Unternehmen.“213 In fast identischer Weise fällte im „Westen“ Theodor W. Adorno sein Urteil über die „niedrige Kunst“, indem er sie als „vulgär“ charakterisierte. Er hielt bereits die Operetten mit ihren „abgeschmackten Libretti“ für „abscheuliche Ausgeburten“, vor allem 213 Zit. nach John: Verfehlte Liebe? Hanns Eisler und die politische Musik, in: Maren Köster (Hg.): Hanns Eisler. >‚s müßt dem Himmel Höllenangst werdenDas ReichsorchesterDie Musik in Geschichte und GegenwartWo bleibt das Negative?< Zur musikalischen Ästhetik Helmut Lachenmanns, Nicolaus A. Hubers und Mathias Spahlingers, in: Archiv für Musikwissenschaft 1/2005, S. 177–248
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