Musikwissenschaft und Kalter Krieg: Das Beispiel DDR 9783412213039, 9783412205867


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Musikwissenschaft und Kalter Krieg: Das Beispiel DDR
 9783412213039, 9783412205867

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Musikwissenschaft und Kalter Krieg

KlangZeiten

Musik, Politik und Gesellschaft Band 7 Herausgegeben von

Detlef Altenburg Michael Berg Helen Geyer Albrecht von Massow

Musikwissenschaft und Kalter Krieg Das Beispiel DDR

Herausgegeben von

Nina Noeske und Matthias Tischer

2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Foto von Nuria Nager © 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20586-7

Inhalt Vorwort Matthias Tischer Musikgeschichte schreiben für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts..........................5 Günter Mayer Reflexionen zur Methodologie der Musikgeschichtsschreibung....................................21 Stefan Weiss Landschaft mit Komponisten. Die DDR als Protagonistin von Musikgeschichte...........................................................69 Philip V. Bohlman 600 Jahre DDR-Musikgeschichte am Beispiel deutscher Volkslieder demokratischen Charakters.....................................79 Albrecht von Massow Autonomie und Kontext. Ein Beitrag zur Theorie der Musikgeschichtsschreibung am Beispiel von Neuer Musik in der DDR.......................................................................97 Elaine Kelly Reading the Past in the German Democratic Republic. Thoughts on Writing Histories of Music........................................................................117 Christoph Flamm Musik, Diktatur, Geschichtsschreibung. Fünf Anmerkungen.....................................131 Nina Noeske Sozialistischer Realismus als Männerphantasie? ›Gender‹ als Kategorie einer DDR-Musikgeschichte.....................................................143 Gerd Rienäcker »Haben wir eine marxistische Musiktheorie?«................................................................159 Matthias Tischer Erfragte Geschichte. Praktisches zu einer Theorie der Oral History.........................179 Die Autorinnen und Autoren...........................................................................................193

Vorwort Während in Berlin im aufwändig sanierten Admiralspalast, der nach dem Krieg mehrere Jahre der Staatsoper als Notquartier gedient hatte, ein lustiges Musical über Hit ler Besucherscharen anzog, konnte man Ende März 2009 in zahlreichen Zeitungen diese oder ähnliche Schlagzeilen lesen: »Dass die DDR ein Unrechtsstaat war, dürfen wir niemals vergessen.« Der Hintergrund: Ein ostdeutscher, in Westdeutschland gebürtiger Politiker war kurz zuvor in den Verdacht des Populismus und Stimmenfangs geraten, weil er öffentlich geäußert hatte, dass in der DDR »ja nicht alles nur schlecht gewesen« sei. Daraufhin empörten sich zu Recht die Opfer, aber auch jene, die wenig Probleme damit zu haben schienen, dass außer dem unbestreitbaren Unrechtscharakter der DDR weiter nichts zu erinnern sei. Politiker dürfen das (vielleicht), Historiker nicht. Wie der Mediziner sich prinzipiell allem Leben verpflichtet fühlt, gehört es zum Berufsethos des Historikers, jeder vergangenen Wirklichkeit einen Kredit auf ihr spezifisches Erkenntnispotential zu gewähren. Die Historiker aller Fachrichtungen haben hier nicht gezögert. Eine erste Welle der Forschung war sicherlich dem dringenden und ehrenvollen Bedürfnis nach Wiedergutmachung an den Opfern geschuldet (nicht zuletzt auch, um die Unterlassungssünden der deutschen Historiker bei der Aufarbeitung des NS-Staates symbolisch zu sühnen). Dieser erste Impuls zog dann auch international weite Kreise. Eine der verblüffendsten Erfahrungen für den deutschen Besucher bei der Tagung der German Studies Association im Oktober 2006 in Pittsburgh war die Tatsache, dass sich fast ein Viertel der Referate mit der (Kultur-)Geschichte der DDR beschäftigte – ein Umstand, der angesichts des kleinen, mittlerweile verschwundenen 17 Millionenstaates in der Tat bemerkenswert ist. Die Erforschung der Zusammenhänge von Unterdrückung und Widerstand hat sich längst differenzierteren Analysen geöffnet. Gerade Kultur im weiteren und Kunst im engeren Sinne versprechen hier immer neue Aufschlüsse, die weit über das Regional- wie Nationalgeschichtliche hinausreichen. DDR-Forschung ist ein besonders gut ausgestattetes Labor für die grundlegende Erforschung der Zusammenhänge von Kultur, Kunst, Musik und Macht. Die Einsicht in das überragende Erkenntnispotential, das die Kulturen der Länder des sowjetischen Einflussbereiches für prinzipielle Fragestellungen bereithalten, aber auch ganz konkret im Hinblick auf den Prozess der europäischen Einigung ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für diesbezügliche Forschung. Der Historiker hat sich Rechenschaft abzulegen, wie und letztlich auch warum er tut, was er tut. Im Zuge des ›linguistic turn‹ kam in der Geschichtswissenschaft eine rege Diskussion in Gang, wie der »Sinn der Geschichte« (Jörg Baberowski) zu deuten und »Geschichte in der Postmoderne« zu »schreiben« (Christoph Konrad/Martina Kessel) sei. Abermals erwies sich die Musikwissenschaft als »verspätete Disziplin« (Anselm Gerhard) und nahm bisher diesen Diskurs allenfalls am Rande wahr.

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VORWORT

Der Plan zu vorliegendem Band reifte im Rahmen der Forschung der Herausgeber zur Musikgeschichte der DDR. Die Diskussion grundlegender Fragen dehnte sich aus – vom Privaten über das Halbprivate ins Öffentliche. Bei allen Kontroversen gelang es, Brücken über verschiedene Meere zu schlagen, und, was vielleicht noch be merkenswerter ist, darüber hinaus Forscherinnen und Forscher unterschiedlicher Herkunft und aus verschiedenen Generationen miteinander ins Gespräch zu bringen. Sie alle brachten ihre spezifischen Interessen, ihr persönliches ›intellektuelles Hinterland‹ und ihre individuellen theoretischen Ansätze mit. In ganz besonderer Weise spiegeln die Beiträge die Methodenvielfalt der Musikforschung, welche, gewissermaßen gereift an Erfahrung wie Theorie, in den letzen Jahrzehnten ins akademische Erwachsenenalter eingetreten ist. Reife und Zweifel sind unlösbar miteinander verbunden. Jeder, der die sichere Antwort der verunsichernden Frage vorzieht, hat insgeheim intellektuell längst aufgegeben. Das Schöne an dieser kleinen Sammlung von Texten zur Musikhistoriographie ist, dass sie – so unterschiedlich diese und ihre Autoren auch sind – einen klar umrissenen Gegenstand umkreisen: Wir wollten eben keinen Band, der allgemein von Musikhistoriographie handelt. Jeder der Beiträge – mancher mehr, mancher weniger – kommt letztlich zurück auf die Frage, was seine theoretischen Überlegungen mit der Musikgeschichte der DDR zu tun haben. Dass sich der Blick dann auch immer wieder vom Konkreten auf Prinzipielles der Musikgeschichtsschreibung weitet, versteht sich von selbst. Gerd Rienäcker zeigt überaus plastisch, wie Biographie, Geschichte und Wissenschaftsgeschichte unlösbar miteinander verwoben sind. Nina Noeske erprobt, was mit der Perspektive der Gender Studies an der Musikgeschichte der DDR erkennbar gemacht werden kann, Christoph Flamm weitet den Horizont in Richtung einer vergleichenden Diktaturforschung in der Musikwissenschaft. Elaine Kelly zeigt, was Rezeptionsgeschichte und -ästhetik auf unserem Gebiete zu leisten vermögen und Philip V. Bohlman exemplifiziert am Beispiel von Volksliedern demokratischen Charakters, was die Perspektive der Ethnomusikologie für Historiographie bietet. Albrecht von Massow wirft am Beispiel DDR ein neues Licht auf die Idee der Kunstautonomie. Stefan Weiss mutete den Herausgebern zu, ihr ganzes Projekt in Frage zu stellen und hat ihnen damit eine große Freude gemacht. Günter Mayer verdeutlicht ausführlich, wie eine marxistische Herangehensweise an Musikgeschichte aussehen kann, und Matthias Tischer bietet Überlegungen zur Praxistauglichkeit der Oral History sowie zur Praktikabilität von Michel Foucaults historiographischen Forschungsprogramm an. Die Herausgeberin und der Herausgeber möchten sich bedanken. Zuallererst bei den Autoren für Freundlichkeit, sprühenden Geist und Geduld. Hermann Danuser und sein Oberseminar waren uns inspirierende Gesprächspartner und haben den Plan zu dieser Sammlung wesentlich mit befördert. Amy Wlodarsky und Elaine Kelly verdanken wir zahllose Anregungen, die wir auf der von ihnen initiierten Tagung Reconsidering the Arts in the GDR im Oktober 2007 in Carlisle erhalten haben. Widmen möchten wir dieses Buch allen Menschen aus der DDR, die uns von ihrer Geschich-

VORWORT

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te erzählt haben, die wir niemals aus Büchern bekommen hätten, insbesondere jedoch unserem Lehrer Michael Berg und seiner Frau Gudrun. Hannover und Berlin, im Mai 2010 Nina Noeske und Matthias Tischer

Musikgeschichte schreiben für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Matthias Tischer Dies ist die Suche nach einer Strategie, eine oder mehrere Geschichten der Musik nach dem Zweiten Weltkrieg zu erzählen. Die Grundannahme dabei ist, dass Politik und Kultur im weitesten Sinne in einem Wechselverhältnis stehen bzw. dass sich zahlreiche politische Kategorien ohne ihre ästhetischen Implikationen und umgekehrt ästhetische Kategorien ohne ihre politischen Implikationen nicht verstehen lassen. Möglicherweise ist grundsätzlich die Ära des Kalten Krieges, in der sich diese Interdependenzen geradezu aufdrängen, keine Ausnahme in der Kulturgeschichte, sondern nur ein besonders geeigneter Untersuchungsgegenstand, um danach zu fragen, wozu und wem die heftig verteidigten Grenzen zwischen den Sphären von Kultur und Politik in der Vergangenheit dienten. Unter solchen Prämissen scheiden einige traditionelle und durchaus verdienstvolle Arten, Musikgeschichte zu erzählen, als ausschließlicher Blickwinkel aus: eine rein philologische Herangehensweise, eine strikte Gattungsgeschichte, eine Geschichte der musikalischen Institutionen, eine Geschichte der Verdikte gegen Musik, eine Geschichte des ›Fortschritts‹ der musikalischen Verfahrensweisen, eine Geschichte der Notation, reine Biographik, die Nachzeichnung einer Höhenlinie der Meisterwerke, der Fokus auf Komponistinnen, eine reine Mediengeschichte, eine Geschichte der Kulturpolitik, eine Geschichte der musikalischen Subkulturen, eine Geschichte der Musikvermittlung, eine Geschichte der poetischen und ästhetischen Debatten, um nur einige zu nennen. Um Missverständnisse zu vermeiden: Alle diese Ansätze haben in der bisherigen Forschung zu wesentlichen Erkenntnissen geführt. Keiner davon scheint mir jedoch ausreichend, um der geäußerten Grundannahme gerecht zu werden. Wenn ich also behaupte, dass alle genannten Perspektiven eine Rolle spielen werden, gilt es von Anfang an, zwei grundsätzliche Probleme im Blick zu behalten. Bedeutet mein Anspruch eine Rehabilitation des illusorischen Projektes der musikgeschichtlichen Meistererzählung? Sollen möglichst alle Fakten und Namen genannt, alle vermeintlich bedeutenden Werke erneut zur Diskussion gestellt und somit ›die‹ Geschichte ›der‹ Musik erzählt werden? Nein! Dieses erste Problem ist untrennbar verwoben mit einem zweiten. Wenn es aussichtslos erscheint, lückenlos zu berichten, »wie es eigentlich gewesen war« 1 und gleichzeitig die subjektiven Vorlieben und Intentionen des Autors bis zum Verschwinden aus der Erzählung zu verdrängen, 2 was könnte die methodische Klammer 1 2

Leopold Ranke: Sämtliche Werke, 54 Bde., Leipzig 1867–1890, Bd. 33/34, S. VII. »Ich wünsche mein Selbst gleichsam auszulöschen und nur die Dinge, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen.« Leopold Ranke: Englische Geschichte, in: Ders.: Sämtliche Werke (wie

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einer solchen Erzählung sein, soll sie sich nicht in Beliebigkeit verlaufen? Welcher theoretische Rahmen könnte gewährleisten, dass sowohl die Rolle des Autors und seiner Wissenschaft als auch das anscheinend unhintergehbare Wissen um die Fakten der Musikgeschichte einer permanenten Selbstreflexion, Kontrolle und kritischen Befragung unterzogen werden? Es ist nur bedingt tröstlich, dass die Musikhistoriker mit dieser Frage nicht allein dastehen. Sie war es, die wesentlich zur vieldiskutierten Krise der Geisteswissenschaften führte und eine facettenreiche Suche nach Auswegen auszulösen half. Der anfangs rebellische Aufbruch nahm seinen Ausgang bei einer doppelten Kritik der Nomenklatur. Die Worte Kunst und Geist als Bestandteile der Kunst- und Geisteswissenschaften wurden zunehmend beargwöhnt. Hatten sie nicht lange dazu beigetragen, dass wesentliche Aspekte der Menschheitsgeschichte in der akademischen Betrachtung weitgehend ausgeblendet worden waren? Einen Ausweg schienen die neuen Fachrichtungen der Cultural Studies bzw. der Kulturwissenschaften darzustellen.3 Eines der Wahlverspechen der jungen Disziplinen hatte darin bestanden, das Studium dessen, was Terry Eagleton als Kultur in einem weiteren Sinne für alles Menschengemachte und was er als KULTUR im Sinne der Künste typographisch kennzeichnete, miteinander zu verbinden.4 Kultur – hoch und populär In den 60er Jahren hielten viele der westeuropäischen und nordamerikanischen sozialrevolutionären Hoffnungen Einzug in die Universitäten. Für die Kulturwissenschaften spielte hierbei sicher Großbritannien eine entscheidende Rolle. Für die Musikwissenschaft leuchtet es ein, dass das Mutterland der Beat- und Rockmusik diesen Breitenphänomenen nicht dauerhaft die Aufmerksamkeit der Forschung verweigern konnte. Im Zuge sozialer und pädagogischer Bewegungen sollte bisher marginali3

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Anm. 1), Bd. 15, S. 103. »Während im England der 1950er Jahre die cultural studies aus einer Krise der Humanities entstanden, gingen in Deutschland Anfang der 1990er Jahre die Kulturwissenschaften aus einer Krise der Geisteswissenschaften hervor. Diese Krise hat der Philosoph Jürgen Mittelstraß im Jahre 1995 noch einmal wortgewaltig beschworen. Er war der Meinung, dass die Geisteswissenschaften diese Krise durch esoterische Selbstbezüglichkeit und Fragmentierung von Forschungszusammenhängen selbst verschuldet hatten.« Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen, Berlin 2006, S. 23. »Bourdieu versucht den Nachweis zu erbringen, ›daß die Einstellungen, die der Wahl bestimmter legitimer Kulturgüter zugrundeliegen, umfassend nur zu verstehen sind, wenn sie in die Einheit des Systems der Disposition wieder eingeführt werden, wenn ›Kultur‹ im engeren und normativen Sinn des normalen Sprachgebrauchs in die weiter gefaßte, ethnologisch begriffene ›Kultur‹ eingebettet gedacht und der durchgebildete Geschmack für erlesenste Gegenstände mit dem elementaren Schmecken in Zusammenhang gebracht wird.‹« Franziska Schößler: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, Tübingen 2006, S. 53. Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt a. M. 1987, S. 171.

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sierten Stimmen mehr Gehör verschafft werden. In Folge dessen kam es sogar zeitweise zu einer Art Kulturforschung ›von unten‹ (Geschichtsworkshops, Alltagsgeschichte, Oral History). Das Interesse an philologischen und ästhetischen Fragen an das Kunstwerk trat dabei weitgehend in den Hintergrund. Zu sehr waren die neu ausgerichteten akademischen Disziplinen zum einen damit beschäftigt, den eigenen Stand in der Gesellschaft wie in der akademischen Landschaft zu festigen und zum anderen nach neuen methodischen Zugriffen für die neuen Untersuchungsgegenstände zu suchen. Das hier Erreichte ist bemerkenswert. Außenseiterpositionen in der Wissenschaft haben den Vorzug, bisher eher randständigen theoretischen Ansätzen mit mehr Offenheit zu begegnen als die alteingesessenen Disziplinen. Die epochalen Einsichten von Sigmund Freud und Karl Marx, die Kritik an Kolonialismus und Eurozentrismus, der Komplex von Geschlecht, Körper und Sexualität, die Kritik der sakrosankten Institutionen von Autor und Werk spielten in den jungen Kulturwissenschaften zusehends eine Rolle. Das Interesse an Kultur verschob sich merklich in Richtung verschiedener Fragen der sozialen Praxis. Wenn Literatur, Musik und bildende Kunst in ihren hochkulturellen Ausprägungen weiter eine Rolle spielen wollten, hatten sie sich zusehends der Frage nach ihrer Bedeutung für das Zusammenleben der Menschen gefallen zu lassen. Auf eine Formel gebracht, implizierte das die Frage, in welchem Zusammenhang der jeweilige Text mit seinem Kontext steht. Mit der Denkfigur der Kontextualisierung jedoch schlich sich in die jungen Kulturwissenschaften nicht selten der alte Dualismus von innen und außen, Welt und Werk bzw. Ästhetik und Gesellschaft wieder ein. Wenn der Text, nicht selten Synonym für Werk oder Artefakt, seine Bedeutung, die immer nur Bedeutung für jemanden, also soziale Bedeutung sein kann, durch seinen Kontext erhält, so ist dies im wesentlichen lediglich eine Variante der romantischen Vorstellung der Kunstautonomie.5 Für die Musik hatte dies traditionell geheißen: Das genuin Musikalische des Werkes erhält erst Bedeutung durch Bezüge auf ›Außermusikalisches‹. Die große Phantasie und Mühe, die aufgewendet wurde, die Methoden der Kontextualisierung auszudifferenzieren, steht häufig im Widerspruch zur fortschreitenden Vernachlässigung der Frage danach, wie ein Werk durch sein So-und-nicht-anders-Sein über seine bloße Faktur hinaus zu verweisen vermag. Mit anderen Worten: Die methodisch vielfältigen und inspirierenden Ansätze der kulturwissenschaftlichen Kontextualisierung schienen zuweilen aus den Augen zu verlieren, von welchem Text sie ihren Ausgang genommen hatten. 6 Ein Grund unter anderen ist der Um5

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»Luhmann bzw. das romantische Autonomiekonzept sperrt sich damit gegen das kulturwissenschaftliche Bestreben, Kunst an gesellschaftliche Diskurse zurückzubinden, sie zu kontextualisieren.« Franziska Schößler: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft (wie Anm. 4), S. 72. Ziel wäre »eine Wissenschaft vom je Konkreten und Besonderen, die die Repräsentativität ihrer mikrologischen Zusammenhänge wiederum im Konkreten und Besonderen fände und belegte, das heißt: auf der Ebene des Analysierten und dezidiert nicht auf einer abstrakten und allgemeinen Ebene«. Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen 2005, S. 39.

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stand, dass die Konzeption von Text seit den 60er Jahren im Extremfall so weit gehalten wurde, dass es eigentlich nichts mehr gab, was nicht Text war. Im Zuge dieser von Marx und Freud ausgehenden Dekonstruktion der romantischen Kategorien von Autor und Werk (etwa bei Julia Kristeva) erweist sich dies gerade für die Frage nach dem Wechselverhältnis von Artefakt und Gesellschaft eher als Teil des Problems denn als Beitrag zu seiner Lösung. Doch auch unter dem Gesichtspunkt der Historisierung ergeben sich Probleme: Grundsätzlich scheinen sich zahlreiche der Ausgangspunkte der Cultural Studies in eigentümlicher Weise verschoben zu haben. Spätestens seit die Heroen der Sub- und Popultur immer häufiger in Tempeln der Hochkultur auftreten und sich weder der Rezeptionsmodus noch die Eintrittspreise von Abonnement-Konzerten unterscheiden, lässt sich erneut die Frage nach dem tatsächlichen Unterschied zwischen den Sphären von E- und U-Musik stellen. Vor einem weiteren Phänomen nimmt sich die Warnung von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, dass Kulturindustrie alles mit Ähnlichkeit schlage, eher wie ein Unterschätzen der Problematik aus: Zusehends wird sichtbar, dass sich die Posen, Klänge, Bilder und Ikonen der Aufmüpfigkeit, Renitenz und des Widerstandes von einst nach nur wenigen Jahrzehnten perfekt eingegliedert in den systemstabilisierenden Mechanismen von Werbewirtschaft und Wahlkampfmanagement wiederfinden. Bernd Alois Zimmermanns begründete Skepsis gegenüber einer hochsubventionierten Avantgardemusik in den 60er Jahren erhält dabei aus der Retrospektive eine andere Färbung. Das Pathos der Widerständigkeit gegen Vereinnahmung verdient nicht nur im Hinblick auf die Neue Musik überdacht zu werden. Im Zentrum das Werk? In einem der Gründungsdokumente der Musikwissenschaft schreibt Guido Adler im Jahre 1885: »[I]mmer aber muß man sich vor Allem an die Kunstwerke selbst halten.«7 Das Alter des Textes ignorierend, und Kunstwerke durch Notiertes bzw. Erklingendes ersetzend, könnte man fragen: Womit sollte sich eine Wissenschaft von der Musik denn sonst beschäftigen? Wenn man sich die jüngsten Studien etwa zur Musikgeschichte der DDR oder der Musikverhältnisse in der Zeit des Kalten Krieges ansieht, stellt man fest, dass Adlers Credo entweder inzwischen seine Gültigkeit verloren hat oder in Vergessenheit geraten ist.8 Mit Carl Dahlhaus möchte ich für das Beibehalten einer romantischen Kategorie plädieren, ohne jedoch dessen stillschweigender Ausklammerung von Interpretation 7

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Guido Adler: Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft, in: Vierteljahrschrift für Musikwissenschaft 1 (1885), S. 5–20, hier S. 10. Amy C. Beal: New Music, New Allies: American Experimental Music in West Germany from the Zero Hour to Reunification, Berkeley 2006; Elisabeth Janik: Recomposing German Music. Politics and Musical Tradition in Cold War Berlin, Leiden 2005; David Monod: Setting Scores. German Music, Denazification, & the Americans, 1945–1953, Chapel Hill 2005.

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und Rezeption Folge zu leisten. 9 Desgleichen bedeutet das nicht, dass man mit dem Methodenschatz etwa der thematisch-motivischen Analyse an Popmusik herantritt. Hier sind es ganz andere Fragen, die das ›so und nicht anders Sein‹ der Musikstücke konstituieren. Dabei kann man durchaus auch im Falle von Popmusik von ›Werken‹ sprechen, ohne zwingend Adornos metaphysische Kategorie des ›Kunstwerkes im emphatischen Sinn‹ vor Augen zu haben. Gerade nach einer Zeit der radikalen Relativierung des musikalischen Werkgedankens lohnt es sich zu bedenken, welche Erkenntnisse die Analyse von Musikstücken verspricht. Dies muss weder bedeuten, dass dafür neuere Paradigmen (Klasse, Gender, Rasse) ausgeklammert werden, noch dass von den Facetten des Werkes als Warencharakter, medialer Repräsentation, Ort der Performanz, Erinnerungsort usw. abgesehen werden muss. Wie der Kunsthistoriker auch in der Auseinandersetzung mit Comic-Strips um bildbeschreibende und ikonographische Verfahren nicht herumkommt, gibt es im Nachdenken über Musik – egal welchen Genres – für die Beschreibung, Analyse sowie Deutung des Aufgeschriebenen und Klingenden keinen Ersatz. Natürlich darf Musikforschung hier nicht stehenbleiben. Der Kunstgriff, um das lange schon vorhandene kulturwissenschaftliche Profil der Musikwissenschaft weiter zu schärfen10, könnte darin bestehen, das Verfahren der Kontextualisierung anders zu gewichten, wenn nicht umzustülpen. So könnte es weniger darum gehen, augenfällige oder leicht holprige Bezüge zwischen realgeschichtlichen Ereignissen und Kunstwerken herzustellen, sondern vielmehr danach zu fragen, wie die vermeintlich subtilen Aspekte des Stils und der künstlerischen Verfahrensweisen Rückschlüsse auf die Gesamtheit der Geschichte des menschlichen Miteinanders zulassen. Interessanterweise kommen diesbezügliche Anregungen zur Zeit vor allem von der politischen Geschichte, wo zusehends Kultur und Politik nicht mehr als Gegensätze, sondern als wechselseitig erhellende Seiten ein und derselben Medaille begriffen werden.11 Probleme der Begriffs- und Ideengeschichte Die geschichtswissenschaftliche Hinwendung zur Sprache im 20. Jahrhundert ist nichts Neues. Eine erste ›sprachliche Wende‹ war um 1800 bei Herder und Humboldt erfolgt. Die Auffassung von Sprache als bewusstseinskonstituierender Leistung im Akt des Sprechens konnte sich allerdings im Laufe des 19. Jahrhunderts ebenso9

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Vgl. hierzu Hans-Joachim Hinrichsen: Musikwissenschaft und musikalisches Kunstwerk. Zum schwierigen Gegenstand der Musikgeschichtsschreibung, in: Laurenz Lütteken (Hg.): Musikwissenschaft. Eine Positionsbestimmung, Kassel u. a. 2007, S. 67–87. Heinrich Besseler, Hans Heinrich Eggebrecht, Martin Geck, Georg Knepler, Bruno Nettl, Charles Seeger, Richard Taruskin u. v. a. m. haben Musikwissenschaft immer schon als Kulturwissenschaft betrieben. Etwa Andreas W. Daum: Kennedy in Berlin, Paderborn u. a. 2003 und Patrick Major/Rana Mitter: East is East and West is West? Towards a Comparative Socio-Cultural History of Cold War, in: Cold War History 4 (2003), S. 2–22.

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wenig durchsetzen wie Hegels »dynamische Auffassung des Begriffs […], derzufolge Begriffe als wirklichkeitsstiftend gedacht werden.« 12 Auf entsprechenden Widerstand unter den Historikern stießen Ansätze in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, die im Zuge des ›Linguistic turn‹13 nach der Bedeutung der Sprache für Geschichte und Geschichtsschreibung fragten. Hayden Whites wirkungsvolle Provokation, dass Geschichtsschreibung eine literarische Gattung sei,14 verdeutlichte vor allem, in welchem Maße zahlreiche Historiker letztlich doch einem positivistischen Wahrheitsanspruch nachhingen. In diesem Sinne kann die Hinwendung von Reinhart Koselleck und seiner Mitherausgeber zur Begriffsgeschichte als Aufbruch verstanden werden: Das umfangreiche Projekt eines Lexikons der historischen Grundbegriffe15 ging von der Annahme aus, dass es in der von Koselleck sogenannten ›Sattelzeit‹ um 1800 bestimmte Begriffe gab, die gegenüber den anderen Wörtern für die Entwicklungen und Ereignisse von herausragender Bedeutung waren. Was diese Begriffe von der übrigen Sprache unterscheidet, bleibt bei Koselleck unscharf. Es bleibt zudem unklar, inwiefern sich Begriffe von Worten unterscheiden. Darüber hinaus gelingt es den Herausgebern nicht, einen plausiblen Begriff von ›Begriff‹ zu konturieren. Dies lässt den Verdacht aufkommen, dass sich das ›neue‹ Projekt der historischen Begriffsgeschichte prinzipiell nicht unterscheidet von dem der ›geistesgeschichtlichen Höhenwanderung‹ der traditionellen Ideengeschichte, in dem nicht nur Alltagstexte unter den Tisch zu fallen drohen. Dietrich Busse gibt zu bedenken: »Indem er [Koselleck] und die Herausgeber der ›Geschichtlichen Grundbegriffe‹ ihr Vorhaben in der Mitte von Semasologie und Onomasiologie, von Wortgeschichte und Sachgeschichte, von Erfahrungsgeschichte und Ideengeschichte ansiedeln wollen, laufen sie Gefahr, dass die Analysen entweder keines von allem sind, oder einem der Pole in starkem Maße zuneigen.« 16 Angesichts der Probleme des Begriffsgeschichtlichen Lexikons zeugt es von Kosellecks Größe, dass er als Herausgeber so scharfer Kritiken seines Projektes, 17 wie der eben zitierten von Busse, fungierte. Ohne die Leistungen der Begriffsgeschichte zu marginalisieren, musste es in der neueren Forschung darum gehen, einen theoreti12

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Rudolf Haller: Artikel Begriff, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.1, Basel 1971, S. 780–785. Vgl. Klaus P. Hansen: Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung, Tübingen 1995, S. 49–71; Antje Hornscheidt: Der ›linguistic turn‹ aus der Sicht der Linguistik, in: Bernd Henningsen/Stephan Michael Schröder (Hg.): Vom Ende der Humboldt-Kosmen. Konturen von Kulturwissenschaft, BadenBaden 1997, S. 175–206; Chris Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln u. a. 1997 (= Beiträge zur Geschichtskultur 13), S. 35–64 sowie Hayden White: Der historische Text als literarisches Kunstwerk, in: Christoph Conrad/Martina Kessel (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, S. 123–157. Hayden White: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1990. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 1972–1997. Dietrich Busse: Historische Semantik. Analyse eines Programms, Stuttgart 1987, S. 57. Diese Tendenz ist bereits angelegt in Reinhart Koselleck (Hg.): Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1979.

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schen Rahmen zu finden, der den Entstehungsbedingungen wichtiger Termini in ihrem jeweiligen historischen und kommunikativen Zusammenhang gerecht wird, ohne erneut Ideengeschichte zu betreiben. Einen Ansatz hierfür boten die Diskursgeschichte und Diskursanalyse im Sinne Michel Foucaults und die sich daraus ableitende historische Semantik. Diskurs ›Diskurs‹ ist zu Beginn des dritten Jahrtausends zum Modewort geworden. Es lässt sich die weitverbreitete Neigung beobachten, verschiedenste Arten von Kommunikation als Diskurs zu bezeichnen. Peter Schöttler macht einen Vorschlag, um die Diskurse im engeren Sinne herauszufiltern: Immer, wenn das Wort Diskurs in Verbindung mit den Präpositionen ›über‹, ›um‹, ›an‹ oder ›zu‹ auftrete oder auftreten könne, habe »der Autor oder die Autorin nicht Foucault im Hinterkopf, sondern Habermas – und oft nicht einmal den.«18 Foucault führt den Terminus Diskurs mit einer dreifachen Zielstellung ein. An erster Stelle interessiert ihn das Wechselverhältnis von Wissen und Macht. Dafür möchte er seine Vorstellung einer diskontinuierlichen ›Praxis‹ etablieren, die sich klar gegen eine tendenziell vereinheitlichende Ideengeschichte wendet. Das Ergebnis ist eine radikale Historisierung von ›Wahrheit‹: »Die Geschichte wird Geschichte von dem, was die Menschen Wahrheit nannten, und von ihren Kämpfen um diese Wahrheit.«19 An mehreren Stellen versucht Foucault einzugrenzen, was er unter Diskurs versteht. Er definiert ihn als »eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem angehören.«20 Seinen Terminus der ›Aussage‹ will er geschieden wissen von ›Satz‹ oder ›Proposition‹. Das ist von besonderem Interesse, wenn man von einem musikalischen Diskurs sprechen möchte, da sowohl ein Musikstück als auch eine einzelne Klangfigur sowie ein Kompositionstechnik als ›Aussage‹ verstanden werden können. Wie noch weiter unten zu zeigen sein wird, steht Foucault sowohl der Allmacht des Autors als auch der Autorität des Werkes skeptisch gegenüber: Die Beschreibung einer Äußerung als Aussage beruht nicht auf dem Verhältnis zu ihrem Autor. Es gehe nicht darum zu analysieren, was dieser gesagt hat, was er sagen wollte oder, ohne es zu wollen, gesagt hat. Vielmehr soll bestimmt werden, welche Position ein Individuum einnehmen kann und muss, um Subjekt einer bestimmten Aussage zu sein.21 Bei dieser Art des Geschichtsstudiums geht es weniger darum zu untersuchen, wie die Dinge und Ereignisse gewesen sind, sondern vielmehr nach den Möglichkeitsbedingungen ihrer Hervorbringung zu fragen, oder wie Busse es formuliert: »Das Diskurskonzept versucht nun darauf einzugehen, in welcher Weise Bedingun18

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Peter Schöttler: Wer hat Angst vor dem ›liguistic turn‹?, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 134–151, hier S. 141. Paul Veyne: Foucault: Die Revolutionierung der Geschichte, Frankfurt a. M. 1992, S. 55. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1981, S. 156; siehe auch S. 170. Ebd., S. 139.

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gen der Möglichkeit des Hervortretens bestimmter Aussagen in ihrer jeweiligen kognitiven Funktion geschaffen und beeinflußt werden durch eine diskursive Formation, die von vorne herein das zu denken bzw. zu sagen Mögliche einschränkt. Es betrifft also die intersubjektive Gültigkeit von Sinn und seine Produktionsbedingungen im Rahmen der sozialen Praxis.« 22 Dabei interpretiert der Diskurs laut Andrea Seier nicht einen zuvor gegebenen Gegenstand, sondern bringt diesen erst hervor, indem er ihn für die Betrachtung bzw. Erfahrung zugänglich macht. Die machtvolle Wirkung, die vom Diskurs ausgeht, besteht somit in seiner spezifischen Produktion von Wissen, indem er »Gegenstände auf eine bestimmte Weise erfahrbar macht und in diesem Sinne soziale Wirklichkeit erst schafft.«23 Im Diskurs lassen sich die kippbildartigen Beziehungen von Macht und Wissen analysieren. Der Diskurs ist nicht nur sprachlicher Ausdruck des Kampfes um die Macht, er ist bei Foucault »dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht.«24 Bei seinem Studium der Humanwissenschaften und der Sexualität ist Foucault wesentlich geleitet von der alles beherrschenden Frage nach der Beziehung von Wissen/Wahrheit und Macht: »Welche Regeln wendet die Macht an, um Diskurse der Wahrheit zu produzieren?« Bzw. welche Typen von Macht produziert der Diskurs der Wahrheit?25 Dabei handelt es sich nicht darum, »die Wahrheit zu ›entdecken‹, sondern vielmehr zu untersuchen, wie Wahrheit ›erfunden‹ wird«. Es gilt zu fragen, wie die Macht innerhalb der gesellschaftlichen Beziehungen produziert wird und zirkuliert: »Nicht in der ›Unwahrheit‹ der gesellschaftlichen Verhältnisse liegt daher das politische Problem, sondern in der Tatsache ihrer ›Wahrheit‹.« 26 Damit erscheint die Wahrheit unwiderruflich dem Bereich des Politischen zugeordnet. 27 Wissen und Macht Foucault bricht den Dualismus auf, den die Zwischenüberschrift suggeriert. In seiner Geschichtsauffassung ist die Welt des Diskurses nicht zweigeteilt zwischen dem zugelassenen und dem ausgeschlossenen bzw. zwischen dem herrschenden und dem beherrschten Diskurs. Diese bestehen aus einer Vielzahl von Strängen, deren Durchdringung und Interdependenzen es zu beschreiben gilt. »Diese Verteilung, mit allem, was sie an geforderten und untersagten Äußerungen enthält, mit den Varianten und 22 23

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Busse: Historische Semantik (wie Anm. 16), S. 222. Andrea Seier: Kategorien der Entzifferung: Macht und Diskurs als Analyseraster, in: Hannelore Bublitz/Andrea Bührmann/Christine Hanke/Andrea Seier (Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt a. M. 1999, S. 75–86, hier S. 77. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M. 92003, S. 11. Michel Foucault: Dispositive der Macht, Berlin 1978, S. 75. Thomas Lemke: Antworten auf eine Frage: Ist Foucaults ›Geschichte der Wahrheit‹ eine wahre Geschichte?, in: Bublitz/Bührmann/Hanke/Seier (Hg.): Das Wuchern der Diskurse (wie Anm. 23), S. 177– 193, hier S. 190. Vgl. Urs Marti: Michel Foucault, München 1988, S. 75.

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unterschiedlichen Wirkungen je nach dem, wer spricht, seiner Machtposition und seinem institutionellen Kontext, mit all ihren Verschiebungen und Wiederbenutzungen identischer Formeln zu entgegengesetzten Zwecken – diese Verteilung gilt es zu rekonstruieren.«28 Damit ist nicht nur das Repressionsparadigma als Teil der verschiedenen Ausprägungen der Totalitarismustheorie prinzipiell in Frage gestellt. Eine vermeintlich totale Macht würde sich Foucault zufolge darin erschöpfen, nein zu sagen, außerstande, etwas zu produzieren, nur fähig, Grenzen zu ziehen. Sie wäre in allen Bereichen der Gesellschaft gleich. Die Menschen wären in einem solchen Konzept von Macht nur als Unterworfene denkbar. Demzufolge würde sich eine solche Macht in dem Paradox erschöpfen, dass sie nichts vermag, als die Unterworfenen in ihrem Zustand der Machtlosigkeit verharren zu lassen.29 Seit den 70er Jahren hebt Foucault zusehends die produktive Dimension gegenüber der repressiven hervor: »Entgegen der Konzeption von Macht primär als Verbot, Repression und Herrschaft, d. h. als ein rein Negatives, das (dualistisch) ein Positives als das voraussetzt, was unterdrückt wird, erscheint Macht nunmehr als ein produktiver Integrationszusammenhang, der die gesamte Gesellschaft durchdringt und dem nichts äußerlich ist.«30 Indem Foucault Kultur als komplexe Strategie der Domestikation vorführt, schärft er laut Schößler nicht nur die Aufmerksamkeit für kulturelle Machtprozesse und verschleierte Unterwerfungsstrategien, 31 sondern macht zudem deutlich, dass in »dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, […] die Kritik die Funktion der Entunterwerfung« hat. 32 Diese Entunterwerfung hat sich wesentlich mit drei Ausschlusssystemen innerhalb des Diskurses auseinanderzusetzen: dem verbotenen Wort, der Ausgrenzung des Wahnsinns und dem Willen zur Wahrheit. Dabei stützt sich der Wille zur Wahrheit, ebenso wie die anderen Ausschlusssysteme auch, auf ein Geflecht von Praktiken – und ist vor allem im Sinne Nietzsches nicht nur Wille zur Wahrheit, sondern vielmehr Wille zur Macht. Er wird verstärkt und beständig erneuert von der Pädagogik, dem System der Bücher, der Verlage und Bibliotheken, den gelehrten Gesellschaften und in neuerer Zeit den (durchaus auch künstlerischen) Laboratorien. 33 Dies sind die Orte des Diskurses, welche mittels verschiedenster Ausschlussmechanismen darüber entscheiden, wer in den Diskurs eintreten darf und wer nicht: Zwar ist es »immer möglich, daß man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ›Polizei‹ gehorcht«.34 Bereits der Eintritt in den Diskurs ist von Vorbedingungen abhängig. 28 29

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Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a. M. 1991, Bd. 1, S. 122. Vgl. Isabell Lorey: Macht und Diskurs bei Foucault, in: Bublitz/Bührmann/Hanke/Seier (Hg.): Das Wuchern der Diskurse (wie Anm. 23), S. 87–96, hier S. 91 Andrea Seier: Kategorien der Entzifferung: Macht und Diskurs als Analyseraster, in: Bublitz/Bührmann/Hanke/Seier (Hg.): Das Wuchern der Diskurse (wie Anm. 23), S. 75–86, hier S. 80. Vgl. Schößler: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft (wie Anm. 4), S. 46. Michel Foucault: Was ist Kritik?, Berlin 1992, S. 15. Foucault: Die Ordnung des Diskurses (wie Anm. 24), S. 16. Ebd., S. 25.

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Den »Diskursgesellschaften« fällt dabei die Rolle zu, »Diskurse aufzubewahren oder zu produzieren, um sie in einem geschlossenen Raum zirkulieren zu lassen und sie nur nach bestimmten Regeln zu verteilen, so daß die Inhaber bei dieser Verteilung nicht enteignet werden.«35 Kritik der Begriffs- und Ideengeschichte Foucaults Konturierung des Diskurs-Begriffes erfolgt im Zuge einer Absage an die Ideengeschichte. Es geht ihm nicht darum, die Begriffe in einem virtuellen deduktiven Gebäude erneut anzuordnen, sondern »die Organisation des Feldes der Aussagen zu beschreiben, in dem sie auftauchen und zirkulieren«. 36 Nicht die Kohärenz der Begriffe soll untersucht werden, sondern die Gesetze ihrer Verteilung und Entwicklung bilden das, was Foucault als diskursive Formation bezeichnet. 37 Eine solche Beschreibung wendet sich gegen eine strukturale Linguistik, welche Aussagen lediglich in den Blick nimmt, um die Regeln, nach denen sie gebildet wurden, zu abstrahieren. Vor allem aber gilt Foucaults Skepsis den Vereinheitlichungstendenzen der Ideengeschichte, welche seiner Meinung nach dem Diskurs einen »Kohärenzkredit« gewährt.38 Dabei »spielt die Kohärenz immer dieselbe Rolle: aufzuzeigen, daß die unmittelbar sichtbaren Widersprüche nichts weiter als ein Schillern an der Oberfläche sind«.39 Der feine Unterschied, den Foucault im Vergleich zur Untersuchung der Geschichte der Ideen vorschlägt, besteht darin, nicht nach einer Vorstellung hinter dem Diskurs zu suchen, sondern Diskurse vorerst als geregelte Serien von Ereignissen zu untersuchen. Dabei könnte der Fokus auf die kleinen Verschiebungen ermöglichen, »den Zufall, das Diskontinuierliche und die Materialität in die Wurzel des Denkens einzulassen.«40 Schößler beschreibt Foucaults Projekt, das die Brüche, das Plötzliche und das Chaos der Aussagen profiliert, als bestimmte Negation: Foucault »kehrt die aufklärerisch-hermeneutischen Prinzipien wie Ganzheit, Identität, Kontinuität und Tiefe der Wahrheit um und setzt an ihre Stelle die Diskontinuität (die Diskurse überschneiden sich nur manchmal), die Spezifizität (es gibt keine vorgängigen Bedeutungen), die Äußerlichkeit (untersucht werden die ›äußeren Möglichkeitsbedingungen‹ des Diskurses) und die Verknappung (der Anschein von Fülle, von Kommunikation und Austausch ist der Effekt diskursiver Kontrollen).«41 Diese Geschichtsschreibung der »Grenzen«42 tauft Foucault, nicht zuletzt im Dienste der Unterscheidbarkeit, ›Archäologie‹. Für die archäologische Analyse seien 35 36 37

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Ebd., 27. Foucault: Archäologie des Wissens (wie Anm. 20), S. 83. Vgl. Rüdiger Brede: Aussage und Diskurs. Untersuchungen zur Discours-Theorie bei Michel Foucault, Frankfurt a. M. 1985, S. 35. Foucault: Archäologie des Wissens (wie Anm. 20), S. 213. Ebd., S. 215. Foucault: Die Ordnung des Diskurses (wie Anm. 24), 38. Schößler: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft (wie Anm. 4), S. 40. Vgl. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1969, S. 9.

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die Widersprüche weder zu überwindende Erscheinungen, noch geheime Prinzipien, die man herauslösen müsse: »Es sind Gegenstände, die um ihrer selbst willen beschrieben werden müssen, ohne daß man untersucht, von welchem Gesichtspunkt aus sie sich auflösen können oder auf welcher Ebene sie sich radikalisieren und aus Wirkungen zu Ursachen werden.«43 Im Rahmen seiner Kritik der ideenhistoriographischen Konstanten ›Tradition‹, ›Einfluss‹ und ›Geist‹ gelangen zudem die Konzeptionen von Werk (Buch) und Autor auf den Prüfstand. »Man verlangt, daß der Autor von der Einheit des Textes, die man unter seinen Namen stellt, Rechenschaft ablegt; man verlangt von ihm, den verborgenen Sinn, der sie durchkreuzt, zu offenbaren oder zumindest in sich zu tragen; man verlangt von ihm, sie in sein persönliches Leben, in seine gelebten Erfahrungen, in ihre wirkliche Geschichte einzufügen. Der Autor ist dasjenige, was der beunruhigenden Sprache der Fiktion ihre Einheiten, ihren Zusammenhang, ihre Einfügung in das Wirkliche gibt.«44 Desgleichen erachtet er das materielle Band des Buches/Werkes als eine zu schwache, nebensächliche Einheit hinsichtlich der diskursiven Einheit, der sie Unterstützung verleihen soll. 45 Ohne dieses zu leugnen, geht es Foucault weniger um die Bedeutung des einzelnen Werkes als vielmehr um die Vernetzung der ästhetischen Artikulation mit anderen Redeweisen, die vergleichbaren diskursiven Regelungen folgen.46 Dass er sich durch seine Fundamentalkritik der illusionären wechselseitigen Affirmation der Stifterfunktion des Subjekts und der Kontinuität der Geschichte 47 unter den Historikern vorläufig wenige Freunde machen würde, war Foucault bewusst: »Man wird also jedesmal vom Mord der Geschichte tönen, wenn man in der historischen Analyse – und vor allem wenn es sich um das Denken, die Ideen oder die Kenntnisse handelt – sieht, wie auf zu manifeste Weise die Kategorien der Diskontinuität und des Unterschiedes, die Begriffe der Schwelle, des Bruchs und der Transformation, die Beschreibung der Folgen und Grenzen benutzt wurden.« 48 43 44 45 46 47

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Foucault: Archäologie des Wissens (wie Anm. 20), S. 216. Foucault: Die Ordnung des Diskurses (wie Anm. 24), S. 21. Foucault: Archäologie des Wissens (wie Anm. 20), S. 36. Vgl. Schößler: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft (wie Anm. 4), S. 50. »Wenn die Geschichte des Denkens der Ort der ununterbrochenen Kontinuitäten bleiben könnte, wenn sie unaufhörlich Verkettungen knüpfte, die keine Analyse ohne Abstraktion aufzulösen vermöchte, wenn sie um das, was die Menschen sagen und tun, dunkle Synthesen wöbe, die ihm vorgreifen, es vorbereiten und unbegrenzt zu seinem Werden hinführen, – wäre sie für die Souveränität des Bewußtseins ein privilegierter Schutz. Die kontinuierliche Geschichte ist das unerläßliche Korrelat für die Stifterfunktion des Subjekts: die Garantie, daß alles, was ihm entgangen ist, ihm wiedergegeben werden kann; die Gewißheit, daß die Zeit nichts auflösen wird, ohne es in einer erneut rekomponierten Einheit wieder herzustellen; das Versprechen, daß all diese in der Ferne durch den Unterschied aufrechterhaltenen Dinge in der Form des historischen Bewußtseins vom Subjekt erneut angeeignet werden können und dieses dort seine Herrschaft errichtet und darin das finden kann, was man durchaus seine Blei be nennen könnte.« Foucault: Archäologie des Wissens (wie Anm. 20), S. 23. Ebd., S. 25.

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Längst hat die Historiographie ihren Frieden mit Foucault gemacht und nicht selten in ihm den »Historiker im Reinzustand« erkannt: »[A]lles ist historisch, die Geschichte ist vollständig erklärbar, und alle Ismen sind zu verabschieden.« 49 Dabei erfüllt seine Art der Historiographie alle Forderungen der traditionellen Geschichtsschreibung. Sie wendet sich der Kultur, der Gesellschaft, der Ökonomie etc. zu; jedoch anstatt ihre Gegenstände nach Jahrhunderten, Völkern, Kulturen oder fein säuberlich abgegrenzten Gegenständen zu strukturieren, wendet sie sich dem Kampf der Menschen um Wahrheiten und den Praktiken, in denen sie diese Wahrheiten gefunden zu haben glaubten, zu.50 In dem Maße, wie klar wird, dass Foucault in seinen Fallstudien wohl der Erzhistoriker unter den Philosophen war, ist man auch geneigt, seine Absage sowohl gegenüber dem Subjekt sowie der Semantik als Mittel zur Profilierung seines Forschungsprogramms zu verstehen. So leugnet er nicht das Subjekt, sondern stellt lediglich die Bedingtheit seines Sprechens in den Vordergrund: 51 »›Egal wer spricht‹, doch was er sagt, sagt er nicht von irgendwo aus. Er ist notwendig in das Spiel einer Äußerlichkeit eingefangen.«52 Wer an die Grammatik glaubt, wird letztlich das Subjekt nicht los. Dennoch zielt Urs Martis Spitze, dass Foucault am Ende wohl doch zur Idee des souveränen Subjekts zurückgekehrt sei, am Ziel vorbei. Foucault geht es weniger um die Demontage der vermeintlichen Souveränität, als vielmehr darum, die Rolle des sozialen und historischen Orts des Sprechens stark zu machen. Parallel- und Weiterentwicklungen eins Forschungsprogramms Das Programm der Diskursanalyse ist an »Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne« in ihrer zeitlichen, örtlichen und gesellschaftlichen Bedingtheit interessiert. Warum kann an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit, innerhalb einer bestimmten Gruppe von Menschen etwas wahr, richtig oder tonangebend sein, während andere Aussagen gar nicht erst geäußert oder gehört werden? In einem solchen Forschungsprogramm, das vorerst nicht nach dem Gemeinten hinter dem Gesagten fragt, ist für ›Ideologie‹ kein Platz. Foucault will Ideologie als Teil der Praktiken, in denen die Wahrheit verhandelt wird, verstanden wissen: »Die Ideologie liegt nicht außerhalb der Wissenschaftlichkeit.«53 Demzufolge wird die Rolle der Ideologie »nicht in dem Maße geschmälert, in dem die Strenge zunimmt und die Falschheit verschwindet.«54 Ideologie ist mithin keine Ansammlung von Irrtümern und Vorurteilen jenseits der reinen wissenschaftlichen Lehre, sondern tritt dort auf, wo Wis49 50

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Veyne: Foucault: Die Revolutionierung der Geschichte (wie Anm. 19), S. 57f. Foucaults eigenes gesellschaftspolitisches Engagement gegen Krieg, Ungerechtigkeit und Unterdrückung ist das anschaulichste Beispiel dafür, dass er keineswegs moralisch indifferent war, wie ihm immer wieder vorgeworfen wurde. Busse: Historische Semantik (wie Anm. 16), S. 247. Foucault: Archäologie des Wissens (wie Anm. 20), S. 178. Ebd., S. 264. Ebd., S. 265.

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sensfindung in gesellschaftlichen Zusammenhängen praktiziert wird. Paul Veyne geht so weit, dem Ideologiebegriff Hausverbot zu erteilen: »Ein für allemal: die Ideologie existiert nicht, den geheiligten Texten zum Trotz, und man sollte sich dazu entschließen, dieses Wort nie mehr zu gebrauchen.« 55 In ihrer Tendenz zur Historisierung der Wahrheit steht die Diskursanalyse den Cultural Studies und insbesondere der Kulturanthropologie nahe. Die ethnologische Perspektive ist weniger daran interessiert, ob ein Brauch, ein Ritual oder eine Religion wahr oder falsch ist. Vielmehr möchte sie wissen, warum diese Phänomene an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft wichtig waren und was sie demzufolge bedeuten. Clifford Geertz’ auf Max Weber fußender Kulturbegriff ist von der Überzeugung durchdrungen, »daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist«, wobei Geertz Kultur als dieses Gewebe ansieht. »Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.« Es geht ihm um das Erläutern und Deuten von Ausdrucksformen, die auf den ersten Blick rätselhaft erscheinen. 56 So integriert Geertz nicht nur kunstwissenschaftlich-hermeneutische Verfahren in die Ethnologie, sondern schärft auch den Blick für kulturelle Selbstauslegungsprozesse in Kunstwerken.57 Damit ist die Brücke geschlagen zu kontrolliert interpretierenden Ansätzen, wie etwa der historischen Semantik, mit dem Fernziel einer geläuterten Hermeneutik. »Im Sinne einer Ethnologie der westlichen Zivilisation sollte die Diskurssemantik das Wissen und Denken, die Bedingungen der sprachlich-diskursiven Konstitution von Wissen zu ihrem Thema machen.«58 Ein solches Programm macht nicht an den Grenzen der Sprache Halt, sondern zielt auf alles, was in einer Gesellschaft Bedeu tung hat. Gerade für ein Phänomen wie die untextierte Musik bietet sich dieser semantische Blickwinkel an. In der Versprachlichung des abstrakt Klingenden wird (ähnlich der abstrakten Malerei) Bedeutung generiert und verhandelt. In der Retrospektive kann die poststrukturalistische Absage an den Werkbegriff verstanden werden als Kritik jeglicher Vorstellung einer vorfindlichen Bedeutung des Werkes: »Das Werk als eine ihre Physiognomie durch die Zeit hindurch bewahrende Individualität existiert nicht (einzig existiert seine Beziehung zu jedem der Interpreten), aber es ist nicht nichts: es ist in jeder Relation bestimmt. Die Bedeutung, die es zu seiner Zeit hatte, kann beispielsweise zum Gegenstand positiver Diskussion werden. Was hingegen existiert, ist die Materie des Werkes, aber diese Materie wiederum ist nichts, solange die Relation nicht dies oder jenes daraus macht. […] Diese Materie ist der gedruckte oder handschriftliche Text, insofern dieser Text fähig ist, einen Sinn anzunehmen, dazu geschaffen ist, einen Sinn zu haben, und kein Kauderwelsch ist«.59 55 56

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Veyne: Foucault: Die Revolutionierung der Geschichte (wie Anm. 19), S. 45. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie der Kultur, in: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 31993, S. 7–43, hier S. 9. Schößler: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft (wie Anm. 4), S. 176. Busse: Historische Semantik (wie Anm. 16), S. 271. Veyne: Foucault: Die Revolutionierung der Geschichte (wie Anm. 19), S. 71f.

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Stränge des musikalischen Diskurses Foucault bezeichnet sein Forschungsprogramm der Diskursanalyse als Werkzeugkiste, der es je nach Werkstück/Untersuchungsgegenstand die passenden Werkzeuge zu entnehmen gilt. Diskursanalyse ist kein geschlossenes theoretisches System. Sie hat sich in der Forschungspraxis zu bewähren. Zum einen, indem sie sich von den Nachbardisziplinen, wie etwa der Begriffs- und Ideengeschichte abgrenzt, zum anderen – in unserem konkreten Fall – indem sie Einblick in das Wechselverhältnis der Mikrostrukturen der Musik mit den Makrostrukturen der Macht gewährt. Diskursanalyse hat mit einer präzisen Bestimmung und Begründung ihres Gegenstandes zu beginnen. Es muss geklärt werden, welche Aussagen sich unter einer diskursiven Formation subsumieren lassen. Zuerst seien die verschiedenen Stränge genannt, die einzeln und ihrer Wechselwirkung beschrieben werden sollen, um von einem musikalischen Diskurs zu sprechen: • • • • • • • •

Kompositionen verschiedener Genres Musikpublizistik in der ganzen Breite von Fachzeitschriften bis Boulevardzeitungen Kulturpolitische Dokumente Akademische Musikwissenschaft Sonntagsreden über Musik, z. B. anlässlich von Jubiläen (Beethovenjahr 1970) Politische Selbstbeschreibungen (etwa die ›freie westliche Welt‹) Musikalische Institutionen Musikalische Interpretation

Im Zentrum meiner Analyse soll die komponierte Musik im geteilten Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg stehen. Es handelt sich dabei, zumindest an der Oberfläche, um ein elitäres Phänomen. Der Kreis der Hörer Neuer Musik übersteigt traditionell seit der Klassik kaum mehr als 10% der Gesamtbevölkerung. Exklusivität könnte ein Wesensmerkmal von avancierter komponierter Musik sein. Dieses lässt sich jedoch nur in seiner ganzen Plastizität erkennen, wenn wir uns, wie zuvor bereits angedeutet, zugleich seinem ›Anderen‹ zuwenden: einer Musik, die, so kunstvoll sie auch gemacht sein mag, keine Teilhabe am künstlerischen Diskurs erfährt und diese vielleicht auch gar nicht anstrebt. Es sei also die These wiederholt, dass sich die Be deutung von Avantgardemusik in einer Gesellschaft nur verstehen lässt in Konfrontation mit ihrem Gegenbild, dem Schlager, dem Stimmungs- und Karnevalslied. Ich will die populärste und die elitärste Form des Musizierens verstanden wissen als Stränge ein- und desselben Diskurses. Während Neue Musik vor nichts mehr Angst hat, als trivial zu erscheinen, kann sich der Schlager nichts weniger leisten, als klanglich oder textlich zu beunruhigen. Das Elitäre kann ohne sein Anderes, das Triviale, nicht existieren. Von besonderem Interesse sind Fälle, in denen sich die beiden

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Stränge einander annähern bzw. durchdringen. Es sind dies die Augenblicke, in denen der ›seriöse‹ Komponist sich nach Breitenwirkung sehnt bzw. der Vertreter der vermeintlich leichten Muse die Grenzen der Konsumierbarkeit seiner Produkte auslotet. In diesem Zusammenhang muss die öffentliche Auseinandersetzung, warum Avantgardemusik unzumutbar und Trivialmusik moralisch verwerflich ist, fokussiert werden. Sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in der gesamten Breite der Medienöffentlichkeit geführt: von den Publikationen der Akademien der Künste bis zum Boulevardblatt. Eine Facette dieses Teils des musikalischen Diskurses sind die Aufwertung des Volksliedes gegenüber dem Schlager unter besonderer Berücksichtigung russischer Folklore und amerikanischer Populärkultur sowie die verschiedenen Stimmen, die eine »mittlere Musik« fordern, in der Kunstanspruch und Popularität (angeblich wieder) vereinigt werden. Unmittelbar damit verbunden erscheinen die verschiedenen Formen der Modernefeindlichkeit in Ost und West. Die Untersuchung ihrer Struktur und Semantik verspricht Aufschlüsse über den Umgang mit der NaziVergangenheit sowie den paradoxen Formen der Konversion zu guten Demokraten bzw. Sozialisten im geteilten Deutschland. Die Tatsache, dass die Deutung klingender und notierter musikalischer Phänomene immer über Sprache erfolgt, eröffnet die Möglichkeit, die Beschreibung von Klangwelten und Lebenswelten auf Wechselwirkungen hin zu untersuchen; wenn das Wortspiel erlaubt ist: unter anderem die Beziehung zwischen Notation und Nation. Ein Beispiel ist die Auseinandersetzung um die Freiheit oder Nützlichkeit von Musik innerhalb der Gesellschaften beiderseits des Eisernen Vorhangs. Welche Möglichkeitsbedingungen müssen vorliegen, um Klingendes als nützlich oder frei zu beschreiben und wie, vielmehr warum verändern sich diese Zuschreibungen in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg? Die Grundfrage, die hinter allen hier beschriebenen Strängen des musikalischen Diskurses steht, ist: Nach welchen Regeln und Ausschlusskriterien verhandeln insbesondere die deutschen Nachkriegsgesellschaften vor dem Hintergrund des Systemkonflikts die für sie ›richtige‹ Musik?

Reflexionen zur Methodologie der Musikgeschichtsschreibung Günter Mayer I. Zur Differenz zwischen nicht-marxistischen und marxistischen Positionen in der Erforschung und Darstellung der Musikgeschichte 1. Im Jahre 1977 hat der führende Musikwissenschaftler der BRD, Carl Dahlhaus, der sich als Nicht-Marxist begriff, im Zusammenhang mit grundsätzlichen methodologischen Problemen der Musikgeschichtsschreibung, die entstanden waren, weil »der Verfasser bei der Konzeption einer Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts in Schwierigkeiten geriet«1, auch einen »aktuellen Gegenentwurf zur marxistischen Geschichtstheorie« skizziert,2 den er fünf Jahre später im Band 6 des Neuen Handbuchs der Musikgeschichte einzulösen versucht hat.3 Zu beiden Veröffentlichungen haben sich Musikwissenschaftler der DDR, die sich als Marxisten begriffen und begreifen, kritisch geäußert: 1979 über das von Dahlhaus entworfene »Prinzip der Prinzipienlosigkeit« 4 sowie drei Jahre später über »die Nützlichkeit marxistischer Kategorien für die Musikhistoriographie« 5. Es gab bereits 1977 von Georg Knepler eine grundsätzliche methodologische Arbeit zur marxistisch orientierten Musikgeschichtsschreibung 6 und 1982 einen ähnlich gelagerten Text von mir7. Die Rückbesinnung auf diese geistigen Auseinandersetzungen hat durchaus aktuelle Bedeutung: Zum einen methodologisch, weil sie verdeutlichen kann, was die adäquat angeeignete und weiterentwickelte dialektische Methode von Marx und Engels auch heute noch für eine zu erforschende und zu schreibenden Geschichte der Musik in der DDR leisten kann – einbezogen die Kritik an den zwischen 1949 und 1990 entstandenen ›marxistisch-leninistischen‹ Texten zur Musikgeschichte der DDR sowie an den danach entstandenen, darauf bezogenen. Zum anderen diskurstheoretisch, weil die Rede von der »Musik unter Diktaturbedingungen«, Neuer Musik zwi1 2 3

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Carl Dahlhaus: Grundlagen der Musikgeschichte, Köln 1977, S. 10. Ebd., S. 186. Carl Dahlhaus: Die Musik des 19. Jahrhunderts (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft 6), Laaber 1982. Georg Knepler/Peter Wicke: Das Prinzip der Prinzipienlosigkeit, in: Beiträge zur Musikwissenschaft (im Folgenden: BzMw) 21 (1979), S. 222–228. Georg Knepler: Über die Nützlichkeit marxistischer Kategorien für die Musikhistoriographie. Reflexionen anlässlich des Erscheinen von Carl Dahlhaus’ Die Musik des 19. Jahrhunderts, in: BzMw 24 (1982), S. 31–42. Georg Knepler: Geschichte als Weg zum Musikverständnis, Leipzig 1977. Günter Mayer: Musiksoziologie und Geschichtstheorie, in: Carl Dahlhaus/Helga de la Motte (Hg.): Systematische Musikwissenschaft (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft 10), Wiesbaden 1982, S. 124–170.

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schen »Macht und Freiheit«, ja eines »Tanzes in Ketten« einer post-sozialistischen Außen-Sicht auf die Geschichte der DDR entstammt,8 die dem Begreifen der inneren Widersprüchlichkeit und Differenzierung innerhalb des in der DDR hegemonialen Diskurses gewissermaßen im Wege steht. Zu diesem von ›außen‹, aus der prinzipiellen Distanzierung kommenden Diskurs und den dafür wesentlichen Kategorien gehört der Begriff des totalitären Staates, der die Künstler und Wissenschaftler des Landes durchgehend bevormundet, durch Zensur behindert, isoliert, einsperrt (in »Ketten« legt) und sie zu Anpassung oder Widerstand zwingt. Interne solidarische Kritik im Interesse der Förderung der sozialistischen Entwicklung war nicht gleich Widerstand dagegen, wird also mit dieser Entgegensetzung nicht erfasst. Ebensowenig war prinzipielle Identifikation mit der DDR in diesen Kategorien denkbar, bzw. nur negativ: Wer sich zur DDR bekennt, sich also mit ›der Diktatur‹ identifiziert, ja bloß sich angepasst hat, erscheint dieser Denkweise als moralisch minderwertig, positiv dagegen nur Widerstand, und wirklich konsequent Ausreise oder Flucht. Schließlich: Die Parteinahme für die sozialistischen Ziele der DDR war nicht gleich Anpassung. Dass affirmative Parteinahme, Anpassung und Kritik sehr oft in einer Person vorkamen, ist in den für den Außen-Diskurs wesentlichen Denkkategorien nicht vorstellbar. Wohl aber, dass der totalitäre Staat, die Diktatur Kontakte mit den ›bürgerlichen‹ Kollegen, den ›ideologischen Feinden‹, unterbindet, erst recht jegliche Form wissenschaftlicher Kooperation zwischen marxistischen Wissenschaftlern der DRR und nicht-marxistischen Wissenschaftlern der BRD prinzipiell ausschließt und daher strikt verbietet oder nur unter strikten Auflagen partiell zulässt. Die Realität war interessanter: Tatsächlich gab es trotz der im allgemeinen dominierenden ›Gängelung‹ (die so durchgängig nicht war, wie manche sich das vorstellen), trotz der grundsätzlichen methodologischen Differenz nicht nur viele persönliche, beiderseitig von Respekt, Sachlichkeit und Toleranz bestimmte Begegnungen zwischen Dahlhaus, Knepler und anderen Musikwissenschaftlern der DDR – nicht nur privat in Berlin9, sondern auch offiziell in der DDR außerhalb von Berlin 10, ja sogar in einigen Formen direkter Kooperation. 11 8

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Michael Berg/Albrecht von Massow/Nina Noeske (Hg.): Zwischen Macht und Freiheit. Neue Musik in der DDR, Köln u. a. 2004 (= KlangZeiten. Musik, Politik und Gesellschaft 1). Peter Wicke erinnert sich, dass er Dahlhaus an der Grenze in Berlin zu Treffen in der Woh nung von Jürgen Mainka abgeholt hat. An dem internationalen Kolloquium über das Verhältnis von Kunstwerk und Biographie, das vom 3. bis 6. Mai 1981 auf Schloss Großkochberg bei Weimar stattfand, nahm auch Carl Dahlhaus teil. Er sprach über »Wagners Inspirationsmythen«, in: Harry Goldschmidt/Georg Knepler/Konrad Niemann (Hg.): Komponisten auf Werk und Leben befragt, Leipzig 1985, S. 108– 125, Diskussion S. 126–138. Für Band 10 des Neuen Handbuchs der Musikwissenschaft schrieb ich als einziger Autor aus der DDR und den sozialistischen Ländern, aufgefordert von Carl Dahlhaus und Helga de la Motte, das bereits genannte Kapitel »Musiksoziologische Reflexionen«. Das ist übrigens ein Text, in welchem das ›Prinzip der Prinzipienlosigkeit‹ von Dahlhaus detailliert kritisiert wird, den dieser aber unverändert angenommen und gedruckt hat, und überdies ein Text, der keiner lei Zensurbehörde in der DDR zur Genehmigung hat vorgelegt werden müssen, sondern nur vom Autor zu verantworten war und über den es zudem in der DDR von offizieller Seite kei-

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2. In den Grundlagen der Musikgeschichte verweist Dahlhaus auf die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit den Prinzipien und Leistungen der marxistisch orientierten Musikgeschichtsschreibung. Er leitet diese nicht aus dem Bedürfnis nach einem abstrakten Methodenstreit her, sondern aus der kritischen Einschätzung der Musikgeschichtsschreibung im allgemeinen, nicht zuletzt der in der BRD dominierenden: »In einer Situation, in der von einem Konsensus der Nicht-Marxisten über tragende Prinzipien der Musikgeschichtsschreibung nicht die Rede sein kann, […] erscheint die Auseinandersetzung mit marxistischen Theoremen als dringlich, sei es, um sich anzueignen, was haltbar ist, oder um in den eigenen Überzeugungen einen höheren Reflexionsgrad zu erreichen oder um ihnen durch Abgrenzung von fremden Prämissen überhaupt erst festere Umrisse zu geben.«12

Diese auf Sachlichkeit zielende Haltung gegenüber den »marxistischen Theoremen«, von denen anzueignen sei, »was haltbar ist«, kommt auch zum Ausdruck in seinen zutreffenden Bemerkungen über die Relation von Theorie und Praxis in der marxistischen Geschichtswissenschaft: »Es ist insgesamt für die marxistische Geschichtswissenschaft bezeichnend, daß sie in der Theorie – und in der Kritik an nicht-marxistischer Geschichtsschreibung – nicht selten einen Rang erreicht, hinter dem sie in der musikhistoriographischen Praxis weit zurückbleibt.« 13 Diese Haltung des Respekts, ja der partiellen Anerkennung und Aneignung von marxistischen Leistungen, die sich »als haltbar« erweisen, formulierte Dahlhaus unter den Bedingungen des Kalten Krieges, des scharfen politischen Gegensatzes zwischen der BRD und der DDR. Sie ist all jenen nicht- und anti-marxistischen Autoren haushoch überlegen, die nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Staatsbankrott der DDR ›den Marxismus‹, d. h. das, was sie davon zu wissen glauben, pauschal als historisch erledigt abgetan haben. Auch Knepler nahm in seiner Kritik an Dahlhaus diese auf Sachlichkeit gegründete Haltung ein.14 3. Was Dahlhaus dann jedoch als ›den Marxismus‹ skizziert, von dem er seinen ›Gegen-Entwurf‹ abgrenzt, ist – kurz gesagt – die Abgrenzung von einer flachen, vulgärsoziologischen Marx-Rezeption, die nicht nur in vielen, an Marx orientierten Arbeiten zur Musikgeschichte aufzufinden war, sondern auch bei Dahlhaus selbst zu finden ist. Generell geht Dahlhaus von der Unterstellung aus, dass für das geschichtsmaterialistische, dialektische Denken von Marx das ›Basis-Überbau-Schema‹ zentrale methodologische Bedeutung habe, nämlich das Axiom, »daß ›in der letzten Instanz‹

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ne einzige kritische Bemerkung gegeben hat. Aus der BRD schrieb mir der marxistisch orientierte Musikwissenschaftler Wolfgang Martin Stroh, er gratuliere mir dafür, dass ich in dieses so bürgerliche Handbuch ein »marxistisches Kuckucksei« gelegt habe. Dahlhaus: Grundlagen (wie Anm. 1), S. 195. Ebd., S. 197. In der Rezension der Grundlagen der Musikgeschichte steht als erster Satz: »Eine intelligentere, umfassendere, kenntnisreichere Erörterung zentraler Probleme der Musikgeschichtsschreibung dürfte es nicht geben, als dieses Buch zu bieten hat«. Knepler/Wicke: Das Prinzip der Prinzipienlosigkeit (wie Anm. 4), S. 222.

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immer und zu allen Zeiten die ökonomische Struktur ausschlaggebend sei‹, daß es also »in den geschichtlichen Ereignissen nur einen wahren Zusammenhang gebe«. 15 Er nennt dies einen »Dogmatismus, der von dem Vorurteil einer festen und immer gleichen Hierarchie geschichtlicher Ursachen ausgeht«. 16 Es sei dies ein »unumstößliches Axiom«17, ein vor jeder wissenschaftlichen Arbeit als gültig angesehenes Totalitätspostulat.18 Das ist im Prinzip richtig, aber kein Vorurteil, sondern ein Ergebnis bisheriger Forschungsarbeit. Das heißt: Einen solchen Dogmatismus, ein solches ›Schema‹ hat es weder bei Marx und Engels noch bei den von ihnen inspirierten gebildeten Marxisten gegeben, wohl aber bei den mittelmäßig und schlecht gebildeten Vulgär-Marxisten. Friedrich Engels schrieb bereits 1890 in einem Brief an Joseph Bloch: »Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase.«

Und an anderer Stelle lesen wir: »Daß von den Jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite gelegt wird, haben Marx und ich teilweise selbst verschulden müssen. Wir hatten, den Gegnern gegenüber, das von diesen geleugnete Hauptprinzip zu betonen, und da war nicht immer Zeit, Ort und Gelegenheit, die übrigen an der Wechselwirkung beteiligten Momente zu ihrem Recht kommen zu lassen. Aber sowie es zur Darstellung eines historischen Abschnitts, also zur praktischen Anwendung kam, änderte sich die Sache, und da war kein Irrtum möglich. Es ist aber leider nur allzu häufig, daß man glaubt, eine neue Theorie vollkommen verstanden zu haben und ohne weiteres handhaben zu können, sobald man die Hauptsätze sich angeeignet hat und das auch nicht immer richtig. Und diesen Vorwurf kann ich manchen der neueren ›Marxisten‹ nicht ersparen, und es ist dann auch wunderbares Zeug geleistet worden.« 19

3.1. Allein der Begriff der ›Basis‹ ist so simpel nicht gedacht worden, wie er bei Dahlhaus erscheint. In ihrer kritischen Rezension der Grundlagen der Musikgeschichte weisen Knepler und Wicke darauf hin, dass Dahlhaus die »dynamischen Qualitäten der marxistischen Geschichtskonzeption […] nicht erfaßt hat«, d. h. die aus den Widersprüchen zwischen den Produktivkräften (der »dynamischsten aller marxistischen Kategorien«) und den Produktionsverhältnissen hervorgehende »Dialektik von relativ stabilen Zuständen und mehr oder minder tiefen Umwälzungen« 20, also eine zudem dialektische Wechselbeziehung zwischen Strukturgeschichte und Ereignisgeschichte. Beide betonen, dass die Produktivkräfte »nicht allein Naturschätze, Maschi15 16 17 18 19

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Dahlhaus: Grundlagen (wie Anm. 1), S. 186. Ebd., S. 189. Ebd., S. 190. Ebd., S. 194. Friedrich Engels: Briefe: Januar 1888 bis Dezember 1890 (= Marx-Engels-Werke 37), Berlin 1978, S. 465. Knepler/Wicke: Prinzip der Prinzipienlosigkeit (wie Anm. 4), S. 224.

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nen, Techniken« bezeichnen, sondern vor allem »die Menschen selbst mit ihren körperlichen und geistigen Fähigkeiten, Erfahrungen, Möglichkeiten. Deren Entfaltung […] ist das Zentralthema der marxistischen Geschichtstheorie.« 21 Fast im selben Jahr, in welchem sich Dahlhaus skeptisch gegenüber dem ›Basis-Überbau-Schema‹ geäußert hat, wonach die Subjekte angeblich durch die Basis quasi mechanisch geprägt werden, schrieb sein Kollege an der Freien Universität zu Berlin, der marxistisch orientierte Begründer der Kritischen Psychologie, Klaus Holzkamp: »Der Historische Materialismus ist in der Art und Weise, wie er das Verhältnis zwischen objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung des historischen Prozesses herausarbeitet, quasi selbst die allgemeine historische Subjektwissenschaft par excellence. Dies nämlich macht seinen Charakter als revolutionäre Theorie aus.« 22 Für Marx und Engels erscheint die Einsicht, dass ›natürlich‹ die ›materielle‹ Betätigung der Individuen, die gesellschaftliche Produktion von jeher die »Grundform« ist, »von der alle andre [sic] geistige, politische, religiöse etc. abhängt« 23, trivial. Erst im historischen Materialismus erhält diese Evidenz geschichtstheoretischen Status: »Die ganze bisherige Geschichtsauffassung« hat die »wirkliche Basis der Geschichte […] unberücksichtigt gelassen«.24 3.2. Die prominenteste Formulierung des Basis-Überbau-Theorems steht im ›Vorwort‹ von Zur Kritik der Politischen Ökonomie aus dem Jahre 185925. In dieser ›Skizze‹, die er nur heuristisch für legitim hielt26, gibt Marx eine knappe Zusammenfassung des ›Leitfadens‹ seiner Studien, in der an zwei Stellen die Metapher von Basis-Überbau vorkommt. Es ist einerseits die strukturanalytische These: Die »Gesamtheit« der »Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen.« 27 Und es ist andererseits die prozessanalytische These: »Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze Überbau langsamer oder rascher um.« Bei der Analyse solcher 21 22

23

24 25

26 27

Ebd. Klaus Holzkamp: Kann es im Rahmen der marxistischen Theorie eine kritische Psychologie geben?, in: Ders.: Gesellschaftlichkeit des Individuums. Aufsätze 1974–1977, Köln 1978, S. 219f. Im HistorischKritischen Wörterbuch des Marxismus, das seit 1994 von Wolfgang Fritz Haug herausgegeben wird, bemerkt Thomas Weber: »Im Kontext ihrer materialistischen Revolutionstheorie haben Marx und Engels die Frage der Entwicklung der Produktivkräfte explizit mit dem Klassenkampf zusammengedacht. Hier steht die Kategorie der Produktivkräfte für die materiellen Bedingungen der gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten der Individuen«, die Kategorie der Produktionsverhältnisse dafür, »wie der Zugang zu diesen Ressourcen unter ihnen verteilt ist«. Thomas Weber: Art. Basis, in: Wolfgang Fritz Haug (Hg.): Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 2, Hamburg u. a. 1995, S. 34. Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie (= Marx-Engels-Werke 3), Berlin (Ost) 41969, S. 71. Ebd., S. 39. Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie (= Marx-Engels-Werke 13), Berlin (Ost) 31969, S. 7–11. Ebd., S. 8; Marx/Engels: Die deutsche Ideologie (wie Anm. 23), S. 27. Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie (wie Anm. 25), S. 8.

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GÜNTER MAYER

Umwälzungen ist zu unterscheiden »zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen« und den bereits genannten »ideologischen Formen«, in denen der Basis-Konflikt (Produktivkräfte – Produktionsverhältnisse) ausgetragen wird.28 Ich schrieb 1982 in meiner Polemik gegen die simplifizierende Marx-Rezeption von Carl Dahlhaus: »Häufig wird übersehen, daß die Kategorie der Basis sich auf die Gesamtheit der Produktions verhältnisse bezieht, auf die Verhältnisse der Produzenten zu den materiell-gegenständlichen Bedingungen der Produktion und auf die Verhältnisse, die sie dabei untereinander eingehen und betätigen. Häufig wird übersehen, daß die Kategorie der Basis mehr erfaßt als nur die Ei gentumsverhältnisse, und auch, daß die Struktur der ökonomischen Verhältnisse, die sie abbil det, nicht identisch ist mit den sozialen Beziehungen der Menschen überhaupt.« 29

Damit reagierte ich auch kritisch auf die Behauptung von Dahlhaus, der Max Weber dahingehend folgte, dass Marx angeblich seinem Geschichtsmodell die Unterscheidung von Eigentumsklassen zugrunde legte. Das sei aber, nach Weber, nicht der einzige, wissenschaftlich konstruierbare Typus einer sozialen Klassenbildung. Gesellschaft könne sich auch in Leistungs- oder Statusklassen gliedern lassen: der Gebildete, der Staatsdiener, der Kaufmann. 30 Hier aber werden ganz verschiedene soziale Differenzierungen von historischen Individualitätsformen benannt, deren gesellschaftliche Funktion ohne die Analyse der kapitalistisch formierten ökonomischen Widersprüche, der Widersprüche und Auseinandersetzungen zwischen denen, die die Produktionsmittel besitzen und über deren Orientierung und Verwertung verfügen – und in diesem Systemzusammenhang als Kaufleute, Gebildete, Staatsdiener funktionieren – und denen, die nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben, überhaupt nicht begriffen werden kann. Als Carl Dahlhaus seine Polemik gegen das Basis-Überbau-Schema formulierte, unterschied zeitgleich sein Kollege an der Freien Universität zu Berlin, der marxistisch orientierte Philosoph Wolfgang Fritz Haug, drei Bedeutungsdimensionen der Basis-Überbau-Theorie: Der »genetische Sinn« besagt, dass Überbau-Instanzen wie der Staat »aus der Gesellschaft entstanden« und dementsprechend »soziogenetisch zu begreifen« sind.31 Überbau hat hier »die konkrete Bedeutung einer durch einen Gewaltapparat vermittelten Überordnung«. Der »funktionelle Sinn« betont die »Notwendigkeit der Entstehung« dieses Überbaus aus der »Funktion, die Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse […] zu sichern«. Der »ökonomische Sinn« weist darauf hin, »daß die Bedingung für die Entstehung und Fortsetzung eines solchen Überbaus die Existenz von Mehrproduktion ist«.32 28 29 30 31

32

Ebd., S. 9. Mayer: Musiksoziologie und Geschichtstheorie (wie Anm. 7), S. 161. Dahlhaus: Grundlagen (wie Anm. 1), S. 193. Wolfgang Fritz Haug: Zur Dialektik von gesellschaftlicher Basis und politischem Überbau im Sozialismus, in: Ders.: Pluraler Marxismus. Beiträge zur politischen Kultur, Bd. 2, Hamburg 1977, S. 169–188, hier S. 171. Alle Zitate ebd.

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Diese Differenzierung hat Dahlhaus seinerzeit nicht zur Kenntnis genommen. Er hat, wie viele andere, nicht verstanden, dass die Kategorie des Überbaus bei Marx und Engels nicht auf die Ideen oder Anschauungen einzelner beschränkt worden ist, sondern gerichtet ist auf die durch Einrichtungen, Institutionen geprägten und vermittelten ideologischen Verhältnisse, also auf »in bestimmter Weise strukturierte gegenständliche Bedingungen und sich vergegenständlichende ideelle Beziehungen, innerhalb derer soziale Klassen und Gruppen auf ökonomische Grundwidersprüche geistig reagieren. Musikalische Strukturen etwa eines Werkes zur sozialen Struktur von Produktionsverhältnissen (oder gar produktionstechnischen Besonderheiten, die auf einer anderen kategorialen Ebene liegen) direkt auf Analogien hin zu vergleichen, ist ein vulgärsoziologischer, mechanistischer Fehler, der keineswegs beweist, daß in der gesellschaftstheoretischen Unterscheidung zwischen Basis und Überbau ein marxistisches ›Schema‹ vorliege.«33

3.3. An dieser Stelle sei verwiesen auf das, was Dahlhaus zum Begriff der ›relativen Autonomie‹ der Kunst kritisch gegen das ›Basis-Überbau-Schema‹ geschrieben hat: Er erfülle den Zweck, von diesem Schema »den Verdacht kunstfremder Banausie fernzuhalten oder abzuwehren«.34 Georg Knepler und Peter Wicke haben diese Behauptung als ein »schlichtes Missverständnis« bezeichnet. 35 Sie schrieben damals: »In den von Dahlhaus herangezogenen Briefen aus dem Jahre 1890 verfolgte Engels die Verselbständigung bestimmter Zweige menschlicher Tätigkeit – die er vor allem durch menschliche Arbeitsteilung bedingt sieht – an Hand der Beispiele Handel, Geldmarkt, Jus«.36 Diese zutreffende Feststellung sei an dieser Stelle mit einigen Zitaten aus dem Brief von Engels an Conrad Schmidt belegt: »Wo Teilung der Arbeit auf gesellschaftlichem Maßstab, da ist auch Verselbständigung der Teilarbeiten gegeneinander. Die Produktion ist das in letzter Instanz Entscheidende. Sowie aber der Handel mit den Produkten sich gegenüber der eigtl. Produktion verselbständigt, folgt er einer eignen Bewegung, die zwar im ganzen und großen von der der Produktion beherrscht wird, aber, im einzelnen und innerhalb dieser allgemeinen Abhängigkeit, doch wieder eignen Gesetzen folgt, die in der Natur dieses neuen Faktors liegen, die ihre eignen Phasen hat und ihrerseits wieder auf die Bewegung der Produktion zurückschlägt.« 37

Deutlicher noch wird dieser wechselseitige, widersprüchliche Zusammenhang von Engels im Hinblick auf den Staat, auf die Funktionen der Staatsmacht und der in deren Institutionen »allmählich weiterentwickelten relativen Selbständigkeit« erläutert: »[D]ie ökonomische Bewegung setzt sich im ganzen und großen durch, aber sie muß auch Rückwirkung erleiden von der durch sie selbst eingesetzten und mit relativer Selbständigkeit

33 34 35 36 37

Mayer: Musiksoziologie und Geschichtstheorie (wie Anm. 7), S. 161. Dahlhaus: Grundlagen (wie Anm. 1), S. 174. Knepler/Wicke: Das Prinzip der Prinzipienlosigkeit (wie Anm. 4), S. 225. Ebd. Engels: Briefe (wie Anm. 19), S. 489.

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GÜNTER MAYER begabten politischen Bewegung, der Bewegung einerseits der Staatsmacht, andererseits der mit ihr gleichzeitig erzeugten Opposition.« 38

Schließlich behandelt Engels nach der Entwicklung des Rechts (Jus) die »noch höher in der Luft schwebenden ideologischen Gebiete: Religion, Philosophie etc.«: 39 »[A]ls bestimmtes Gebiet der Arbeitsteilung hat die Philosophie jeder Epoche ein bestimmtes Gedankenmaterial zur Voraussetzung, das ihr von ihren Vorgängern überliefert worden und wovon sie ausgeht. Und daher kommt es, daß ökonomisch zurückgebliebene Länder in der Philosophie doch die erste Geige spielen können. […] Die schließliche Suprematie der ökonomischen Entwicklung auch über diese Gebiete steht mir fest, aber sie findet statt innerhalb der durch das einzelne Gebiet selbst vorgeschriebenen Bedingungen: […] Die Ökonomie schafft hier nichts a novo, sie bestimmt aber die Art der Abändrung und Fortbildung des vorgefundenen Gedankenstoffs, und das auch meist indirekt, indem es die politischen, juristischen, mora lischen Reflexe sind, die die größte Wirkung auf die Philosophie üben.« 40

Ich habe in meinen polemischen Bemerkungen 1982 darauf hingewiesen, dass Strukturgesetze in dialektischer Beziehung zu Entwicklungsgesetzen gedacht werden müssten, weil sonst nicht begriffen werden kann, dass ökonomisch zurückgebliebene Länder in der Philosophie und Kunst »die erste Violine spielen«. Und ich habe darauf hingewiesen, dass kausale und funktionale Abhängigkeiten nicht identisch sind: »Es gibt in den sozialen Verhältnissen nicht nur kausal-genetische Gesetze, sondern auch funktional-strukturelle.«41 Ob wir als Musikwissenschaftler mit Daten und Fakten zu Biographien zu tun haben, mit verbal dokumentierten Äußerungen von Musikern oder Hörern, mit musikpolitischen Direktiven, mit Werkanalysen und den verschiedenen Verweisfunktion musikalischer Strukturen – immer werden wir mit der Tatsache konfrontiert, »daß zwischen den verschiedenen, relativ selbständigen ideologischen Bereichen Wechselbeziehungen untereinander stattfinden: zwischen den politischen, moralischen, juristischen, philosophischen und ästhetischen Ideen.«42 Wenn also marxistisch orientierte Musikwissenschaftler nach dem Zusammenhang zwischen Musik und Weltanschauung, Ideologie, Politik, kritischer Philosophie 38

39 40 41 42

Ebd., S. 490. Aus der Erfahrung nach dem Ende der DDR dürfte eine Bemerkung von Engels von besonderem Interesse sein, deren Gewichtigkeit für das Begreifen der von der Parteibürokratie nicht beherrschten Ökonomie und deren Beitrag zum Staatsbankrott von 1989/90 im Jahre 1982 noch nicht abzusehen war: »Die Rückwirkung der Staatsmacht auf die ökonomi sche Entwicklung kann dreierlei Art sein: Sie kann in derselben Richtung vorgehn, dann geht’s rascher, sie kann dagegen angehn, dann geht sie heutzutage auf die Dauer in jedem großen Volk kaputt, oder sie kann der ökonomischen Entwicklung bestimmte Richtungen abschneiden und andre vorschreiben – dieser Fall reduziert sich schließlich auf einen der beiden vorhergehenden. Es ist aber klar, daß in den Fällen II und III die politische Macht der ökonomischen Entwicklung großen Schaden tun und Kraft- und Stoffvergeudung in Massen erzeugen kann« (ebd., S. 490f.). Ebd., S. 492. Ebd., S. 493. Mayer: Musiksoziologie und Geschichtstheorie (wie Anm. 7), S. 161. Ebd.

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etc. fragen, dann sind das Fragen nach verschiedenen ideellen Diskursebenen, die innerhalb dessen liegen, was ›Überbau‹ genannt wird. Um die Wirkungen der ›Basis‹ geht es dabei überhaupt nicht. Und dass Staat, Politik, Recht im Überbau Klassenherrschaft repräsentieren, stabilisieren und dabei durch die ökonomischen Verhältnisse wesentlich bestimmt werden, diese aber auch selbst rückwirkend beeinflussen, liegt auf einer anderen sozusagen vertikalen Ebene als die der horizontalen Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen, relativ selbständigen, sich auch entsprechend ihrer ›inneren‹ Problemhorizonte bewegenden, arbeitsteilig spezialisierten Diskurse und Institutionen im Überbau, von denen sich die Institution Musik qualitativ unterscheidet, die aber auch auf ihre Entwicklung einwirken. Dass Staat, Politik, Recht auf die Basis zurückwirken, ist nicht zu übersehen, die Rückwirkung von Kunst bzw. Musik auf die Basis ist kaum auszumachen, wohl aber die durch Politik, Recht in den ökonomischen Verhältnissen bewirkten Veränderungen, die für die Institution Musik durchaus Folgen haben können und immer hatten. Nicht nur das: Musik als Ware, und oft ziemlich profitable, ist ja bereits ein Basis-Phänomen. Das wird in dem Moment klar, wenn nach den ökonomischen Seiten der Musikverhältnisse gefragt wird. Die Musikverhältnisse, d. h. die Verhältnisse zwischen den Komponierenden, den Interpreten, den Vermittlern in den Institutionen und den Hörern, sind auch ökonomische Verhältnisse, insofern als auch hier eine Entwicklung der technischen Produktivkräfte (Instrumentenbau, Aufführungsbauten, kommunikative Veränderungen des gegenseitigen Informations-Austauschs, Produktionsprozesse in den Verlagen, Vermittlung durch Agenturen, neue technische Medien der Musikproduktion und Verbreitung) stattfindet. Das alles hat Einfluss auf den historischen Stand der Musik-Produktion (was mehr ist als der Blick auf den einzelnen Komponisten: das Allgemeine verschiedener individueller Produzenten im Hinblick auf das ihnen Gemeinsame; Stichwort: ›historischer Materialstand‹). Hier geht es dann auf spezifische Weise um Ideologie, Politik, Recht, um die Entscheidungen der entsprechenden Institutionen: um Geld, um Investitionen in Konzertbauten etwa, um materielle Ressourcen, um die Finanzierung des Lebensstandards der Komponisten, ihre Honorare und die der Interpreten, um die ökonomische Absicherung der Spielstätten, um die Preisgestaltung für Aufträge, Konzerte, Opernaufführungen, Verlagsprodukte etc. Da geht es zunächst auch nicht um Wechselwirkungen zwischen der Eigenbewegung von musikalischen Prozessen und der ökonomischen ›letzten Instanz‹, sondern um Ebenen, die quasi dazwischen liegen. Von der Ebene der Querschnittsanalysen sind also die Längsschnittanalysen methodisch deutlich zu unterscheiden. Auch darauf ist 1982 von mir hingewiesen worden: »Erst im größeren Entwicklungszusammenhang der Gesellschaft (in der Neuzeit nur international zu begreifen) tritt auch in kompositionstechnischen Normen und Ideen das Allgemeine am Einzelnen deutlicher hervor, zeichnet sich die Grenze der Immanenz-Auffassung schärfer ab. Wo musikgeschichtliche Befunde aus der Kenntnis des schöpferischen Individuums oder aus innermusikalischen Gesetzlichkeiten nicht mehr erklärt werden können, muß tiefer gefragt werden. Und es wird auch der Punkt erreicht, wo die Frage zu beantworten ist, ob man sich mit der aufgefundenen neuen Empfindsamkeit etwa, mit dem nachweisbaren Zusammenhang

30

GÜNTER MAYER zwischen weltanschaulichen, ästhetischen Ideen und kompositionstechnischen Befunden zufriedengibt, diese wieder nur aus sich selbst begreifen oder nicht doch untersuchen will, was ihnen in den eigenen Bedingungen der Geschichte zugrunde liegt.« 43

3.4. Auch die Behauptung von Carl Dahlhaus, dass Marx mit einer »rigorosen«, »ideologiekritischen Härte« Kunst pauschal als »falsches Bewußtsein« bewerte und deren utopisches Potential im fernen Ungewissen belasse, ist von Knepler und Wicke kritisiert worden: »Irrig ist Dahlhaus’ Meinung, Marx habe der Kunst eine Existenz im Überbau zwischen Ideologie – die für ihn übrigens nicht schlechterdings mit ›falschem Bewusstsein‹ zusammenfällt – und Utopie zugewiesen.« 44 Marx habe zwar dieses oder jenes Stück Literatur als von falschem Bewusstsein hervorgebracht bezeichnet, wohl aber in dieser oder jener Dichtung auch utopische Züge vermerkt. Dahlhaus übersieht, dass Marx/Engels allgemein die widersprüchlichen Beziehungen zwischen Verklärung und Aufklärung, Idealisierung und desillusionierender Realitätserkenntnis in den Systembereichen des Überbaus, auch in den Künsten wenigstens ansatzweise beschrieben haben. Es sei daran erinnert, dass Engels 1888 etwa in den Romanen von Balzac die dessen »eigene Klassensympathien und politischen Vorurteile« überwindende Erkenntnis der »wirklichen Menschen der Zukunft« sah, und dass er das »einen der größten Triumphe des Realismus« nannte. 45 Auch scheint Dahlhaus, wenigstens in seinen methodologischen Reflexionen, seine wohl vorauszusetzende Kenntnis davon vergessen zu haben, was marxistisch orientierte, kapitalismus-kritische Künstler nach Marx im 20. Jahrhundert an ›Ideologiezertrümmerung‹ geleistet haben: etwa Bertolt Brecht, Hanns Eisler, Peter Weiss, Luigi Nono usw., die auf die kapitalistisch formierte ›Basis‹ keineswegs bloß ideologisch, d. h. mit falschem Bewusstsein reagiert haben. Dahlhaus schrieb 1977: »Zu fragen wäre allerdings, ob nicht die Utopie einer gesamtgesellschaftlichen, nicht-entfremdeten Arbeit zu einem großen Teil irreal und schlecht abstrakt ist und ob nicht das Maß an Realisierungschancen, das sie enthält, in der künstlerischen Tätigkeit bereits vorausgenommen erscheint, einer Tätigkeit, die demnach – innerhalb der Grenzen des real Möglichen – ein Para digma nicht-entfremdeter Arbeit wäre.«46

Zu dieser Frage hätte er bei Marx in dessen Äußerungen über ›travail attractif‹, über das Komponieren eine Antwort finden können.47 43 44 45 46 47

Mayer: Musiksoziologie und Geschichtstheorie (wie Anm. 7), S. 161f. Knepler/Wicke: Prinzip der Prinzipienlosigkeit (wie Anm. 4), S. 225. Engels: Briefe (wie Anm. 19), S. 44. Dahlhaus: Grundlagen (wie Anm. 1), S. 183. Marx bestimmt ›travail attractif‹ als »Selbstverwirklichung des Individuums, was keineswegs meint, daß sie bloßer Spaß sei, bloßes Amusement«: »Wirklich freies Arbeiten, z. B. Komponieren ist gerade zugleich verdammtester Ernst, intensivste Anstrengung.« Hier wird in der Kunst ein utopisches Moment real vorweggenommen, für das in der kapitalistisch formierten Gesellschaft die allgemeinen Voraussetzungen noch nicht vorhanden sind. »Die Arbeit der materiellen Produktion kann diesen Charakter nur erhalten, dadurch daß (1) ihr gesellschaftlicher Charakter gesetzt ist, (2) daß sie wissenschaftlichen Charakters, zugleich allgemeine Arbeit ist, nicht Anstrengung des Menschen als bestimmt dressierter Naturkraft, sondern als Subjekt, das in dem Produktionsprozeß nicht in bloß natürlicher, naturwüchsiger Form, sondern

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3.5. Schließlich vermerken Knepler und Wicke: »Auch läßt Dahlhaus die Tatsache unerwähnt, daß die marxistische Theorie der letzten beiden Jahrzehnte, also seit sie sich (und so weit sie sich) von stalinistischen Verengungen und Verzerrungen frei gemacht hat, neueste Erkenntnisse der Psychologie und Soziologie, Anthropo logie und Biologie, Systemtheorie und Semiotik kritisch angeeignet hat. Daß Dahlhaus das alles unberücksichtigt läßt, wirkt in die gleiche Richtung, in die auch sein Gegenentwurf zielt: Das marxistische Denken soll, bei aller Anerkennung für seine irgendwie dennoch erzielten Leistungen, als schematisch und dogmatisch abgewertet werden.« 48

Diese Kritik war damals durchaus berechtigt: Tatsächlich hat es schon seit Mitte der 1960er Jahre, besonders seit den 70er und erst recht in den 80er Jahren in Deutschland, in der BRD und auch in der DDR, nicht zuletzt inspiriert durch die kritische Generation der 68er, zunehmend Ansätze zu einer Weiterentwicklung marxistisch orientierter Denkbewegungen gegeben, auf die hier nur allgemein verwiesen werden kann.49

48 49

als alle Naturkräfte regelnde Tätigkeit erscheint.« Karl Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857/58, Berlin (Ost) 1953, S. 505. Knepler/Wicke: Das Prinzip der Prinzipienlosigkeit (wie Anm. 4), S. 225. Bis zum Erscheinen des Buches von Carl Dahlhaus waren allein in der DDR und in der BRD zu allgemeinen Aspekten der Musikästhetik und der Musikgeschichtsschreibung u. a. erschienen: Harry Goldschmidt: Gedanken zu einer nichtaristotelischen Musikästhetik, in: BzMw 4 (1965), S. 387–195; ders.: Musikverstehen als Postulat, in: Peter Faltin/Hans-Peter Reinecke (Hg.): Musik und Verstehen. Aufsätze zur semiotischen Theorie, Ästhetik und Soziologie der musikalischen Rezeption , Köln 1974, S. 67–86; Georg Knepler: Zur Methode der Musikgeschichtsschreibung, in: BzMw 3 (1961), S. 3–13; ders.: Epochenstil?, in: BzMw 11 (1969), S. 213–233; ders.: Geschichte als Weg zum Musikverständnis. Zur Theorie, Methode und Geschichte der Musikgeschichtsschreibung, Leipzig 1977; Antonin Sychra: Die Anwendung der Kybernetik und der Informationstheorie in der marxistischen Ästhetik, in: BzMw 12 (1970), S. 83–108; Günter Mayer: Zur Dialektik des musikalischen Materials, in: BzMw 7 (1965), S. 362–372; ders.: Semiotik und Sprachgefüge der Kunst, in: BzMw 9 (1967), S. 112– 121; ders.: Historischer Materialstand. Zu Hanns Eislers Konzeption einer Dialektik der Musik, in: Deutsches Jahrbuch der Musikwissenschaft für 1972, Leipzig 1974, S. 7–24; ders.: Kunstbegriff und Kunstprozeß. Methodologische Aspekte der historisch-materialistischen Kunstauffassung, in: Weimarer Beiträge 22 (1976), S. 109–134; Hans Gunter Hoke: Spielbegriff und Spieltheorie im Ansatz der marxistischen Ästhetik, in: BzMw 13 (1971), S. 243–259; Doris Stockmann: Musik als Kommunikationssystem. Informations- und zeichentheoretische Aspekte insbesondere bei der Erforschung mündlich tradierter Mu sik, in: Deutsches Jahrbuch der Musikwissenschaft 14 (1969), S. 76–95; dies.: Der Kampf um die Glocken im deutschen Bauernkrieg, in: BzMw 16 (1974), S. 163–193; Hanns-Werner Heister: Die Musikbox. Studie zur Ökonomie, Sozialpsychologie und Ästhetik eines Massenmediums, in: Ders. u. a.: Segmente der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt a. M. 1974; Christian Kaden: Musikalische Kommunikationsprozesse und ihre Quellen, in: BzMw 17 (1975), S. 117–125. Die Entwicklungstendenzen und -ergebnisse in der allgemeinen marxistischen Ästhetik, Musikästhetik und Musiksoziologie bis zum Jahre 1982 sind zusammenhängend mit Quellennachweisen enthalten bei Günter Mayer: Musiksoziologie und Geschichtstheorie (wie Anm. 7). Hier sei besonders hingewiesen auf das von Joachim Fiebach herausgegebene Buch Ästhetik heute, Berlin (Ost) 1978, auf das von Georg Knepler und Harry Goldschmidt herausgegebene Buch Musikästhetik in der Diskussion. Vorträge und Diskussionen, Leipzig 1981, sowie auf Hanns-Werner Heisters zweibändige Arbeit Das Konzert. Theorie einer Kulturform, Wilhelmshaven 1983. Für die Zeit bis 1994 sei besonders hingewiesen auf das von Erwin Pracht herausgegebene Buch Ästhetik der Kunst, Berlin (Ost) 1987. Neuere Arbeiten

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GÜNTER MAYER

Es zeigt sich also als Fazit: Dahlhaus hat das Wesentliche der geschichtsmaterialistischen, dialektischen Methode von Marx/Engels und der von ihnen inspirierten, gebildeten Marxisten nicht verstanden. Was er als interessant, aber in seiner pluralistischen ›letzten Instanz‹ als nicht akzeptabel problematisiert, ist lediglich ein dogmatisches, ›murxistisches‹ Konstrukt dieses von der Sache her kritischen, auf die Widerspruchsbewegung der Gesellschaft konzentrierten und auf deren emanzipatorische Veränderungen zielenden, eingreifenden Denkens. 4. Der unterstellten »immergleichen Hierarchie« von Marx setzt Dahlhaus einige, wie er schreibt, »wissenschaftstheoretisch anspruchslose«50 Bemerkungen entgegen: 4.1. Es ist dies das ›Prinzip der Prinzipienlosigkeit‹, die These also, dass sich der Historiker eine »Pluralität von Erklärungen, die gleichberechtigt nebeneinander stehen«, offen lassen müsse, um »Hypothesen über Ursachen anzunehmen und zu erproben«.51 Man dürfe sich also den Möglichkeiten, die der Pluralismus bietet, nicht versperren. 4.2. Es gebe einen logischen Grund für das »Mißtrauen gegen die marxistische Geschichtstheorie«: Das Basis-Überbau-Schema erscheine Nicht-Marxisten keineswegs a priori verwerflich, sei aber für sie nicht als »unumstößliches Axiom« diskutabel, »sondern lediglich als hypothetische Konstruktion, die der empirischen Erprobung bedarf«.52 4.3. Es sei »für Nicht-Marxisten kaum einleuchtend und eher unwahrscheinlich, dass das ökonomische Moment unterschiedslos in sämtlichen Epochen der Geschichte die letzte Instanz gewesen sein soll. Was für das 19. Jahrhundert triftig ist, braucht nicht für das Mittelalter zu gelten.« Statt einer geschichtsphilosophischen Vorentscheidung sei das plausiblere Modell »die Vorstellung eines offenen und variablen Systems, in dem die Abhängigkeiten und Akzentuierungen der einzelnen Faktoren wechseln.«53 Als Beispiel für die »Variabilität der Fundierungen und Abhängigkeiten« verweist Dahlhaus auf jene, die Jacob Burckhardt zwischen den ›Potenzen‹ Religion, Staat und Kultur annahm. Dies sei für Historiker, in denen der Drang nach Beruhigung durch ein geschichtsphilosophisches Schema nicht übermächtig werde, »das einleuchtendere Modell«.54 4.4. Selbst wenn es sich um eine Epoche handele, in der die ökonomische Struktur als letzte Instanz wahrscheinlich sei, könne man »durchaus im Zweifel sein, ob und in welchem Maße in kunsthistorischen Darstellungen ein Rekurs auf das Ökonomische überhaupt wissenschaftlich lohnt.«55 Dahlhaus verweist abermals auf Jacob

50 51 52 53 54 55

von Günter Mayer zur Musikästhetik, Kulturtheorie und Medientheorie sind als Texte bzw. Quellenangaben enthalten in Günter Mayer: Zur Theorie des Ästhetischen: Musik – Medien – Kultur – Politik. Ausgewählte Schriften, Berlin 2006. Dahlhaus: Grundlagen (wie Anm. 1), S. 186. Ebd., S. 188f. Ebd., S. 190. Ebd. Ebd., S. 191. Ebd.

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Burckhardt: Der Geist, der sich einmal seiner selbst bewusst geworden sei, bilde sich von sich aus seine Welt weiter, begründe eine relative Autonomie der Entwicklung, die »den Rückgang auf die ›materielle Basis‹, obwohl er immer möglich ist, als wenig ertragversprechend erscheinen läßt«.56 Nach den Wurzeln einer Sache zu graben, statt deren Reife zum Ausgangspunkt der Betrachtung zu machen, sei ein Drang des misstrauischen Positivismus des späten 19. Jahrhunderts. Das exemplifiziert Dahlhaus an einer »anderen Reduktionstheorie« als der des Marxismus: wenn etwa Beethovens Spätwerk auf dessen prekäres Verhältnis zum Neffen Karl unangemessen in psychoanalytischen Kategorien diskutiert werde. 57 5. Zur Kritik des ›Prinzips der Prinzipienlosigkeit‹ 5.1. Dahlhaus fordert die Gleichberechtigung einer Pluralität von Erklärungen, um Hypothesen über Ursachen anzunehmen und zu erproben. Darin ist er jedoch logisch und sachlich inkonsequent: In der postulierten Gleichberechtigung ist die Marx’sche Hypothese nicht mitgedacht, sondern nach einem theoretischen ›Eiertanz‹ dann doch aus der Pluralität ausgeschlossen. Dahlhaus lässt zwar den Gedanken zu, dass die »marxistische These für manche Epochen als triftig« sich erweisen könne, vor allem für das 19. Jahrhundert »möglich und sogar wahrscheinlich« sei: »sicher ist es jedoch nicht«.58 5.2. Aus der postulierten Gleichberechtigung fallen andere Hypothesen sachlich heraus, sofern nicht abstrakt argumentiert, sondern musikgeschichtliches Denken konkret analysiert wird. Ich habe 1982 in meiner Polemik auf die historische Situation im Deutschland Anfang der 1930er Jahre aufmerksam gemacht: »[A]ngesichts des Illusionismus der Ideologie der ›Jugendmusikbewegung‹ [ …] oder gar der verlogenen ›völkischen‹ Ideologie des heraufkommenden Faschismus sah sich etwa Anfang der dreißiger Jahre in Deutschland kein marxistisch orientierter Musiker oder Musikwissenschaftler veranlaßt, andere Fundierungsverhältnisse oder Abhängigkeiten zu suchen als die der materiellen gesellschaftlichen, der ökonomischen Produktionsverhältnisse und der von daher bestimmten Klassenbeziehungen. In der allgemeinen Krise und in der Weltwirtschaftskrise war deren Bedeutung für das Begreifen der Krise in Gesellschaft und Musikkultur kaum noch zu übersehen. Religion, Staat, Kultur oder gar Rasse in jener Zeit als wesentliche Determinan ten für den Gesamtprozeß anzunehmen, lag objektiv nicht im Bereich pluralistischer Beliebig keit. Und wer sich so verhielt, ist vor der Geschichte gescheitert.«59

Also fallen in diesem Kontext auch diese Hypothesen, bei denen es sich ja um Überbau-Phänomene handelt, aus der Pluralität sachlich heraus. 5.3. Nun werden aber diese von Dahlhaus mit dem Hinweis auf Jacob Burckhardt – Religion, Staat und Kultur – im Kontext »weltgeschichtlicher Betrachtungen« als Hypothesen, als das »einleuchtendere Modell« dem marxistischen »Schema« entgegengehalten. 56 57 58 59

Ebd., S. 191f. Ebd., S. 192. Ebd., S. 218. Mayer: Musiksoziologie und Geschichtstheorie (wie Anm. 7), S. 160.

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Dahlhaus löst diesen sachlichen Querstand, der im Hinblick auf die Ebene der kausal-genetischen Determinationsbeziehungen erst recht in großen historischen Zusammenhängen offensichtlich ist und ja auch seiner generellen Pluralitätsthese widerspricht, durch eine Begriffskonstruktion. Da Religion, Staat und Kultur traditionellerweise eigentlich in einem Konzept der Geistesgeschichte reflektiert worden sind, das durch »unscheinbares Veralten« zerfallen ist, kann Musikgeschichte nicht mehr aus Bewusstseinsveränderungen erklärt werden, »die sich primär und am deutlichsten in der Religions- und Philosophiegeschichte zeigen«.60 Um nun im Unterschied zu den Marxisten »nicht einfach einen anderen Inhalt zur eigentlichen Substanz der Geschichte (die ökonomische Basis)«, also das geistesgeschichtliche Konzept nicht einfach ins Gegenteil zu verkehren, entlehnt Dahlhaus unter »Verzicht auf Substanzialisierungen« diesem lediglich »ein formales Moment: die Funktion nämlich, das Ganze der Zusammenhänge und Wechselwirkungen, die zwischen den Elementen und Faktoren eines geschichtlichen Zustands bestehen, zu benennen und auf einen Begriff zu bringen«. Mit anderen Worten: Dahlhaus wechselt einfach die Betrachtungsweise und gewinnt für seinen Gegen-Entwurf zwei Kategorien, von denen er behauptet, dass sie tragfähig seien, nämlich Struktur und Geist. Diese erfüllen, nach Dahlhaus, die Aufgabe, »einerseits einen Zerfall der geschichtlichen Wirklichkeit in voneinander isolierte Teilbereiche zu verhindern und andererseits die kausalen Erklärungen, zu denen eine naive Sozialtheorie neigt, durch funktionale zu ersetzen.« 61 So werden also Überbauphänomene zu den bestimmenden Determinanten erklärt und so, funktional isoliert betrachtet, von kausalen Erklärungen getrennt. Die werden überdies als naiv diffamiert und damit als untauglich bezeichnet. Abgesehen davon, dass damit eine weitere Einschränkung der Gleichberechtigung pluraler Erklärungsmodelle vorgenommen wird, ist es schon erstaunlich, dass der sonst so dialektisch argumentierende Dahlhaus die widersprüchliche Einheit von genetisch-kausalen und strukturell-funktionalen Hypothesen, von Entwicklungs- und Strukturgesetzen methodologisch nicht zusammendenken kann. Mit Struktur, Geist, Funktion wird so die relative Autonomie verabsolutiert, weiteres Fragen nach tieferliegenden ökonomischen Ursachen abgewiesen. Was Dahlhaus mit diesen Entitäten Burckhardts dem marxistischen »Schema« als »einleuchtenderes Modell« entgegenhält, ist seinerseits ein ›Schema‹ und zudem ein simplifizierend konservatives. Diese Wendung in der Gesellschafts- und Geschichtstheorie hatte in den 70er Jahren nun selbst objektiv eine affirmative, ideologische Funktion der Stabilisierung der kapitalistischen Verhältnisse in der BRD, die ja in der Studentenbewegung durch die Vertreter der vitalisierten marxistischen Denkbewegung innerhalb der Kritischen Theorie auf ihre inneren Widersprüche hin analysiert und in Frage gestellt worden waren.

60 61

Dahlhaus: Grundlagen (wie Anm. 1), S. 195. Alle Zitate ebd., S. 219.

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Dahlhaus war in dieser Hinsicht nicht sehr originell: Ich habe in meinen kritischen Bemerkungen von 1982 bereits darauf aufmerksam gemacht. 62 Schon 1957 hatte Karl Popper der materialistischen Geschichtsauffassung entgegengehalten, dass die Objekte der Geschichtswissenschaft nur theoretische Konstruktionen, Aussagen über gesetzmäßige Entwicklungszusammenhänge und -widersprüche nicht möglich wären. Immer gäbe es verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. Daher müsste ein selektiver Standpunkt in die Geschichte eingeführt werden, immer wäre eine »Pluralität der Interpretationen« notwendig.63 Das bereitete letztlich den postmodernen ›Konstruktivismus‹ mit vor. Anders argumentierte Mitte der 70er Jahre Daniel Bell mit seinem Konzept der ›postindustriellen Gesellschaft‹. Er kritisierte damals an Marx die »einseitige« Sicht auf das Eigentum an den Produktionsmitteln und die Verfügungsgewalt über die Produkte und setzte dagegen seine, letzten Endes ebenso ›einseitige‹ Sicht auf die durch Technologie bewirkten Veränderungen der sozialen Strukturen.64 Schließlich postulierte Dahlhaus, es solle die Reife einer Sache zum Ausgangspunkt der Betrachtung gemacht werden, statt nach deren Wurzeln zu graben. Genau diesen Ausgangspunkt hat Marx methodologisch in seiner Kapitalismus-Analyse und -darstellung gewählt.65 Beethovens Spätwerk auf biographische Besonderheiten hin auch psychoanalytisch zu analysieren, ist eine durchaus legitime Angelegenheit und hat mit der Unterstellung, das sei nur eine ›andere Reduktionstheorie‹ als die des Marxismus, nichts zu tun. Hier werden Kirschkerne mit Äpfeln verglichen. Fazit: Dahlhaus bietet keine Alternative zur Marx’schen Methode. Sein GegenEntwurf des methodologischen Pluralismus ist als tragendes Prinzip der Musikgeschichtsschreibung wenig geeignet und bleibt in Fragestellung sowie Schwerpunktsetzung unterhalb des Potentials, welches die Methode der geschichtsmaterialistischen, dialektischen, d. h. immer auch kritischen Analyse der geschichtlichen Widerspruchsbewegungen enthält.66 62 63 64 65

66

Mayer: Musiksoziologie und Geschichtstheorie (wie Anm. 7), S. 162. Karl Popper: The Poverty of Historism, Boston 1957, S. 151. Daniel Bell: The Coming of Postindustrial Society. A Venture in Social Forecasting, New York 1973. Marx schrieb 1857/58: »Die bürgerliche Gesellschaft ist die entwickeltste und mannigfaltigste historische Organisation der Produktion. Die Kategorien, die ihre Verhältnisse ausdrücken, das Verständnis ihrer Gliederung gewähren daher zugleich Einsicht in die Gliederung und die Produktionsverhältnisse aller der untergegangnen Gesellschaftsformen, mit deren Trümmern und Elementen sie sich aufgebaut, von denen teils noch unüberwundne Reste sich in ihr fort schleppen, bloße Andeutungen sich zu ausgebildeten Bedeutungen entwickelt haben etc. In der Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. Die Andeutungen auf Höheres in den untergeordneten Tierarten können dagegen nur verstanden werden, wenn das Höhere selbst schon bekannt ist.« Marx: Grundrisse (wie Anm. 47), S. 25f. Während die Positionen von Carl Dahlhaus auch im englischsprachigen Bereich relativ breit rezipiert wurden, sind die von Georg Knepler, nicht zuletzt infolge der in der BRD und in den anglo-amerikanischen Ländern vorherrschenden nicht- bzw. anti-marxistischen Haltungen in der universitären Musikwissenschaft kaum zur Kenntnis genommen worden. Einen wesentlichen Beitrag zur Erschließung ihrer historischen und aktuellen wissenschaftlichen Bedeutung hat Anne C. Shreffler mit ihrem Aufsatz Berlin Walls: Dahlhaus, Knepler, and Ideologies of Music

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Dieses ist mit und seit dem Staatsbankrott der Parteien des realen Sozialismus nicht verlorengegangen. Wohl aber ist ihre zum Lehrgebäude des Marxismus-Leninismus, zur kritiklosen Rechtfertigungsideologie der Parteipolitik erstarrte Gestalt verschwunden. Eine ideologisch auf Marx sich berufende Politik ist nicht identisch mit einer an Marx’ Methode orientierten Wissenschaft. Der ›Marxismus‹, der ja nur lebendig ist, wenn es lebendige, gebildete, die ständig sich verändernde Widerspruchsbewegung in der Gesellschaft erforschende ›Marxisten‹ gibt, ist keine Lehre, sondern ein Orientierungswerkzeug, dessen Potential auch für die Erkenntnis und Wertung von Geschichtsprozessen, für die Konzeptualisierung eingreifenden Denkens und emanzipatorischen Handelns längst nicht ausgeschöpft ist. Nach dem Staatsbankrott der DDR ist Heiner Müller gefragt worden, ob damit auch die kommunistische Utopie vorbei, der Sozialismus also am Ende und somit auch Marx widerlegt sei. Seine Antwort lautete: »Zuende ist der Versuch, Marx zu widerlegen. Bei Marx gibt es den einfachen Satz: Der Versuch, Sozialismus oder eine sozialistische Struktur auf der Basis einer Mangelwirtschaft aufzubauen, endet in der alten Scheiße. Das ist es, was wir jetzt erleben.« 67 Nicht der Marxismus ist widerlegt, sondern der Versuch, Marx zu widerlegen. Und solange die realen Widersprüche der nun fast durchgehend weltweit kapitalistisch formierten Produktions- und Lebensweise, auf die seinerzeit Marx kritisch reagiert hat, weiterbestehen, ja sich sogar zuspitzen, wird die Methode von Marx wohl immer noch oder jeweils wieder aktuell

67

History, in: The Journal of Musicology 20 (Autumn 2003), S. 498–525, geleistet. Sie zeigt, dass viele Fragestellungen und Leistungen der marxistisch orientierten Musikgeschichtsschreibung, wie Georg Knepler sie verstanden und praktiziert hat, in mehrfacher Hinsicht die sogenannte New Musicology antizipiert haben. Während Kneplers geschichtsmaterialistische Positionen übersichtlich referiert werden (etwa auf S. 522), sei wenigstens auf einige Äußerungen von Shreffler verwiesen, die kritisch diskutiert werden müssten, was in einer Fußnote nicht möglich ist: Erstens die These, dass Knepler die Musik aus dem Überbau-Zusammenhang herauslöse und die als Produktivkraft begriffene künstlerische Produktivität daher der »Basis« zuzurechnen sei (S. 522); zweitens die Behauptung, dass im Unterschied zu Kneplers Orientierung auf die aus dem Klassensystem hervorgehenden Machtverhältnisse soziale Ungleichheiten neuerdings im Hinblick auf andere Faktoren begriffen werden (Nationalität, Gender, Rasse) und daher in ihrer methodologischen Bedeutung relativiert werden (S. 523f.); drittens die Entgegensetzung des von Knepler vertretenen ›totalisierenden‹ Marx’schen Modells und der von Dahlhaus privilegierten individuellen ästhetischen Autonomie (S. 524). Zudem fehlt bei Shreffler so gut wie ganz eine kritische Analyse der Marx-Rezeption von Dahlhaus und seiner im »Prinzip der Prinzipienlosigkeit« formulierten Schein-Alternative. Worin dessen methodologische Relevanz für die weitere Entwicklung der Musikgeschichtsschreibung bestehen soll, hat die Autorin nicht näher bestimmt. Heiner Müller: Jetzt ist da eine Einheitssoße. Der Dramatiker Heiner Müller über die Intellektuellen und über den Untergang der DDR, in: Der Spiegel 31/1990, S. 141. Müller bezieht sich auf eine Stelle in der Deutschen Ideologie: »[I]st diese Entwicklung der Produktivkräfte […] auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung, weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müsste, weil ferner nur mit dieser universellen Entwicklung der Produktivkräfte ein universeller Verkehr der Menschen gesetzt ist.« Marx/Engels: Deutsche Ideologie (wie Anm. 23), S. 34f.

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sein. Angesichts der Tatsache, dass in der neoliberalen Politik und Praxis der Sozialund Kulturstaat abgebaut, der Repressionsstaat nach innen und militärisch nach außen ausgebaut wird (›totalitäre‹ Kontrolle der mündigen BürgerInnen und der globalen Zugänge zu Rohstoffen, Energie sowie Absatzmärkten), wesentliche Seiten des ›Überbaus‹ zugunsten der ökonomischen Zwänge zur Profitmaximierung durch immer weitergehende Privatisierungen reduziert wird, ist es geradezu aberwitzig, die Frage nach den in ›letzter Instanz‹ entscheidenden soziogenetischen, funktionalen und ökonomischen Aspekten der Basisprozesse aus dem wissenschaftlichen Denken auszuschließen. Inzwischen gibt es national und international eine sich ausweitende, marxistisch orientierte Denkbewegung: Ich verweise nur auf das internationale Projekt HistorischKritisches Wörterbuch des Marxismus, das von Wolfgang Fritz Haug seit 1994 herausgegeben wird, an welchem ca. 800 WissenschaftlerInnen an den bis 2004 erschienenen sechs umfangreichen Bänden mitgearbeitet haben und weiterarbeiten. 68 In der Musikwissenschaft ist die geschichtliche Entwicklung marxistisch orientierter Ansätze in einer internationalen Fachtagung an der Universität Oldenburg im Jahre 1999 bilanziert und im Konzept einer ›kritischen Musikwissenschaft‹ programmatisch aktualisiert worden.69 II. Musikgeschichte: Musik der DDR – Musik in der DDR Von dieser geschichtsmaterialistischen Position her ergeben sich aus der Analyse der Musikgeschichtsschreibung der DDR über die Musik der DDR und der Musik in der DDR, auch im Hinblick auf wertende Betrachtungen Anfang der 90er Jahre und die Ansätze einer Analyse der ›Musik unter Bedingungen der Diktatur‹ wesentliche Punkte der Kritik, in denen sich damit zugleich Desiderate einer qualitativ und quantitativ vertieften, weiteren Erforschung und Darstellung der Musikgeschichte zwischen 1949 und 1990 ergeben, die dem methodologischen Anspruch, dem kritischen und auf Zukunftsmöglichkeiten zielenden marxistischen Denken näherkommen dürften. 68

69

Von diesem Wörterbuch sind bisher erschienen: Bd. 1 (Abbau des Staates bis Avantgarde), Hamburg 1994; Bd. 2 (Bank bis Dummheit in der Musik), Hamburg 1995; Bd. 3 (Ebene bis Extremismus), Hamburg 1997; Bd. 4 (Fabel bis Gegenmacht), Hamburg 1999; Bd. 5 (Gegenöffentlichkeit bis Hegemonialapparat), Hamburg 2001; Bd. 6/I (Hegemonie bis Imperialismus), Hamburg 2004; Bd. 6/II (Imperium bis Justiz) Hamburg 2004; Bd. 7/I (Kaderpartei bis Klonen), Hamburg 2008. Zu Grundkategorien der Marx’schen Denkbewegung und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert (wie Abbild, Aneignung, Arbeitsteilung, Basis/Überbau, Dialektik, Dummheit in der Musik, Ideologie, Eigentum, Entfremdung, falsches Bewusstsein, Formalismus-Kampagnen, Geist, Gesellschaftstheorie, herrschende Klasse, Historischer Materialismus, Idealismus/Materialismus, Ideologietheorie) gibt es jeweils ausführliche Texte in den entsprechenden Bänden. Günter Mayer/Wolfgang Martin Stroh (Hg.): Musikwissenschaftlicher Paradigmenwechsel? Zum Stellenwert marxistischer Ansätze in der Musikforschung, Oldenburg 2000.

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Hier sind nur einige ausgewählte Andeutungen möglich: Neben zahlreichen Arbeiten zu einzelnen Aspekten der Musikgeschichte der DDR bzw. der Musik in der DDR, die etwa in den Zeitschriften Musik und Gesellschaft oder Beiträge zur Musikwissenschaft, in den Sammelbänden zur Musikgeschichte der DDR, in speziellen, thematisch orientierten Publikationen zur Biographik von Komponisten und Interpreten der DDR, zur Analyse von Kompositionen, zu Grundfragen der Entwicklung der Musikkultur, zum Verhältnis von Musik und Hörern, zu Problemen der musikalischen Volksbildung, der Musikpädagogik usw. veröffentlicht worden sind und nun zur kritischen Auswertung vorliegen, muss die Frage nach deren innerem Zusammenhang gestellt werden. Sie alle hier aufzuführen, ist unmöglich und erscheint mir in unserem Zusammenhang auch nicht erforderlich. Wesentlich dafür ist die Tatsache, dass es nur eine, auf das Ganze der Geschichte der Musik der DDR und der Musik in der DDR gerichtete Kollektivarbeit gegeben hat, an der viele Musikwissenschaftler durchaus unterschiedlicher Qualität mitgearbeitet haben: die Musikgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik.70 Sie erfasst die Musikgeschichte zwischen 1945 und 1976 und unterliegt als erster Versuch einer repräsentativen Gesamtdarstellung dem ideologischen Zwang der Schönfärberei, der Konstruktion einer durch die Partei geführten Erfolgsgeschichte, in der die inneren Widersprüche, die zum Teil heftigen theoretischen Auseinandersetzungen vor allem um die Neue Musik, verschwiegen, mit wenigen unverbindli chen Hinweisen heruntergespielt werden, die kritischen Stimmen zur Musikpolitik, zur Volksbildung, zur Orientierung der Massenmedien, zu den Perspektiven der Musikkultur der DDR nicht vorkommen und die Existenz und Funktion der auf die Realität der DDR kritisch bezogenen Musik (sowohl in den Bereichen der artifiziellen Musik als auch im politischen Lied und nicht zuletzt in der Rockmusik) entsprechend dem harmonistischen, apologetischen Grundkonzept kaum erwähnt werden. Die für eine marxistische Analyse wesentliche Kritik der eigenen Politik und ihrer Ergebnisse ist weitgehend unterdrückt, wird lediglich unter allgemeinen Floskeln quasi nebenbei erwähnt. Zudem stehen auch in diesem Ansatz einer marxistisch orientierten Musikgeschichtsschreibung die Darstellung der allgemeinen Gesellschafts- und Politikgeschichte, der Musikpolitik und der Institutionen der Musikkultur (von den neuen Konzertsälen und Einrichtungen bis zu den Musiker-Ehrungen und zur musikspezifischen Tätigkeit von Rundfunk, Schallplatte und Fernsehen) einerseits und die Beschreibung der spezifisch ästhetischen, musikalischen Produktionsbedingungen und -prozesse, vor allem die Wiedergabe ihrer ästhetisch relevanten Resultate und Wirkungen andererseits unvermittelt nebeneinander. Es gibt Werkanalysen, Biographien, die Skizzierung allgemeiner Tendenzen in der Entwicklung des Komponierens, in der Entwicklung verschiedener Genres. Und diese werden nicht auf Sinfonik, Oper, Chorsinfonik und Kammermusik beschränkt – obwohl sie von der Wertung her traditionellerweise im Vordergrund stehen. Es gibt, wenn auch spärlich, Aussagen zur 70

Heinz Alfred Brockhaus/Konrad Niemann (Hg.): Musikgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik 1945–1976, Berlin (Ost) 1979.

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Schauspiel-, Hörspiel-, Film- und Fernsehmusik, zum politischen Liedschaffen und in geringem Maße zu Tanz- und Unterhaltungsmusik sowie zum Jazz. Jetzt bereits eine Rekonstruktion der ökonomischen, politischen, sozialen, kulturellen, künstlerischen Geschichte der DDR als das allgemeine Bedingungsgefüge der musikalischen Entwicklung zu versuchen, wäre verfrüht. Ob und inwieweit die DDR nun sozialistisch oder proto-sozialistisch war oder nicht, kann von Musikwissenschaftlern allein nicht beantwortet werden. Das ist eine noch zu leistende Aufgabe interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Ökonomen, Gesellschaftstheoretikern, Soziologen, Sozialpsychologen, Kulturwissenschaftlern, Ästhetikern und Kunstwissenschaftlern. Deren Lösung ist zudem ziemlich schwierig: Die Frage, ob und wie diese von marxistischen oder nicht-marxistischen Positionen her erfolgen könnte, ist in den einzelnen Disziplinen bestenfalls umstritten, ein disziplinübergreifender Konsens höchst unwahrscheinlich. Das ist das Dilemma vor allem der Marxisten, deren Anspruch, dass einzig die Zusammenfassung der vielen Bestimmungen, die Einheit des Mannigfaltigen, die reiche Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen, den Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten leisten können, 71 individuell nicht lösbar und kollektiv zu lösen höchst unwahrscheinlich ist. Für Nicht-Marxisten ist diese Schwierigkeit infolge der bewussten Orientierung auf plurale Variabilität in der Wahl der Zugänge und der Abgrenzung der individuellen Sichten von kollektiven Verbindlichkeiten noch größer. Was bleibt, sind auf die Sache konzentrierte, methodologisch klar fixierte Arbeiten einzelner oder kleiner Gruppen mit dem Ziel, jeweils »die Vermittlungen bloßzulegen, die vom allgemeinen gesellschaftlichen Verhalten, von der Arbeit und der sozialen Gliederung, von den jeweiligen Errungenschaften und Leistungen, vom Denken, Wollen und Fühlen der Menschen hinführen zu der Art und Weise, in der jeweils musiziert wird und zur Beschaffenheit der musikalischen Produkte.«72 Je besser das von Fall zu Fall, und zudem noch deren Rückwirkung auf das allgemeine gesellschaftliche Verhalten zu rekonstruieren gelingt, desto weniger wichtig ist ein Streit um die Frage, ob es sich dabei um eine mehr oder weniger konsequente Anwendung der geschichtsmaterialistischen, dialektischen Methode von Marx handelt.73 Wesentlich für diese ist die theoretische Orientierung auf die Widersprüche und deren geschichtliche Entwicklungstendenz und, daraus abgeleitet, die praktische Orientierung auf eingreifendes, emanzipatorisches Denken und Handeln, also in diesem Sinne massenrelevante politische Wirksamkeit. Da die geschichtsmaterialistische Rekonstruktion der allgemeinen Geschichte der DDR und ihrer Erscheinungsformen in der Musikgeschichte nur das allmähliche Ergebnis kollektiver interdisziplinärer Arbeit und streitbarer Auseinandersetzungen sein kann, folgt daraus, dass dieses nur aus einer Vielzahl von je individuellen, zwangsläufig unvollständigen und unterschiedlich akzentuierten Konzeptualisierungen hervorgehen kann. Im Folgenden sei zunächst im Ansatz das ›Diskursiv‹ der DDR im Hin71 72 73

Marx: Grundrisse (wie Anm. 47), S. 21f. Knepler: Geschichte als Weg zum Musikverständnis (wie Anm. 49), S. 542. Günter Mayer: Art. Formalismus, russischer, in: Wolfgang Fritz Haug (Hg.): Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 4, Hamburg 1999, S. 635–654, hier S. 651f.

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blick auf die allgemeinen ökonomischen und politischen Widerspruchsbewegungen skizziert: Im Rückblick auf die Geschichte der DDR hatte Heiner Müller mit seiner drastischen Einschätzung den letztlich tragischen Verlauf und das Scheitern der bisherigen Ansätze zur Etablierung einer dauerhaften sozialistischen Alternative zur kapitalistischen Gesellschaftsformation mit dem Hinweis auf Marx/Engels durchaus zutreffend charakterisiert. Die politisch entscheidenden Subjekte der DDR und die Volksmassen des Staates waren mit einer enorm komplizierten Widerspruchssituation konfrontiert: Die ostdeutschen Territorien waren gegenüber den westdeutschen ökonomisch unterentwickelt, zudem durch umfangreiche Reparationsleistungen für die sowjetischen Befreier zusätzlich geschwächt; die Formierung der angestrebten alternativen ökonomischen und politischen Identität war ständig konfrontiert mit der antikommunistischen Orientierung der herrschenden Kräfte der BRD und deren zunehmender ökonomischer Dominanz einerseits und der ökonomischen und politischen Abhängigkeit von der Sowjetunion andererseits. Zudem hatte die herrschende Partei Illusionen über die Realisierbarkeit ihres paternalistisch, erzieherisch konzipierten und diktatorisch praktizierten sozialistischen Experiments – mit einer Bevölkerung, deren große Masse die Realität des Hitler-Faschismus fast durchweg unkritisch erlebt und dessen Ende nicht als Befreiung begrüßt, sondern als ›Zusammenbruch‹ hingenommen hatte. Die Impulse und die Akteure der Neugestaltung kamen vor allem von außen: aus dem Exil in der Sowjetunion und deren stalinistisch geprägten Erfahrungen in die Nachkriegssituation und seit 1947 in die Realität des ›Kalten Krieges‹. Im Gegensatz zur offiziell beanspruchten ›sozialistischen Demokratie‹ war für die sozialen Verhältnisse auf den verschiedensten Ebenen insgesamt wesentlich eine dominant vertikale Fremdbestimmung von oben statt der von der Sache her erforderlichen dominant horizontalen Selbstbestimmung. All das prägte sich aus in wenig erfolgreicher Verwaltung des Mangels, angestrengtem Identitätsanspruch, überzogener Abgrenzung, groben Feind-Freund-Bildern, einseitiger Traditionspflege, verabsolutiertem Führungsanspruch der herrschenden Partei, Tendenzen zum Personenkult, Allergie gegen Selbstkritik, Ausdifferenzierung eines Systems von Geboten und Strafen, von Privilegien, von Formen gesellschaftlicher Anerkennung und Ächtung, überzogener Kultivierung des Kollektivismus, formaler politischer Betriebsamkeit, Tendenzen zur Militarisierung gesellschaftlicher Praxisbereiche (›Gesellschaft für Sport und Technik‹, ›Kampfgruppen‹ der Betriebe und Verwaltungen) usw. Das hatte auch Verzerrungen in der antifaschistischen Grundorientierung und Praxis, in der konsequenten Friedenspolitik, in der großzügigen internationalen Solidarität zur Folge. Phänomene dieser Art findet der Musikhistoriker in spezifizierter Gestalt auch im Bereich der Musikpolitik, in der durch diese geprägten Orientierung: in der Formierung und Entwicklung und Praxis des Systems der Musik-Institutionen (Ausbildungs- und Aufführungsstätten, Produktion und Distribution von Aufführungsmaterialien, Tonträgern, Musikliteratur, Schulmusikpraxis, Musikwissenschaft usw.), im Verhalten der die Musikpraxis prägenden und realisierenden Individuen. Im Folgen-

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den sollen die musikgeschichtlichen Ausprägungen dieses Dispositivs in drei Schnittmengen skizziert werden: kompositionsgeschichtlich (A), kulturgeschichtlich (B) und mediengeschichtlich (C). A. Kompositionsgeschichtlicher Zugang: Da es nun um die Rekonstruktion der Musikgeschichte der DDR gehen soll, sei empfohlen, sich zunächst auf die zwischen 1949 und 1990 komponierte und aufgeführte Musik zu konzentrieren. Schließlich ist das jener Teil der musikalischen Realität der DDR, in welchem auf die speziellen ökonomischen, sozialen, politischen, kulturellen Bedingungen dieses Teils Deutschlands – wie vermittelt auch immer – ästhetisch durchaus unterschiedlich reagiert worden ist: affirmativ, kritisch, regressiv. Und durchaus nicht kontinuierlich, sondern in eigengesetzlichen Entwicklungsphasen auf verschiedenen Ebenen: in der artifiziellen Musik anders als im politischen Lied, im Jazz anders als in der Tanz- und Unterhaltungsmusik, in der Rockmusik anders als in den Kitschprodukten pseudo-volkskünstlerischer Provenienz. Dabei wird eine bloße Aneinanderreihung von Werkanalysen, biographischen Skizzen, dokumentierten Selbstzeugnissen, institutionellen Produktions- und Verteilungsbedingungen wenig mehr als eine Anhäufung von Faktenbergen erbringen, zwischen denen allgemeine Zusammenhänge kaum zu erkennen sein werden. Also wäre auf die chronologische Rekonstruktion der in den je individuellen kompositionstechnischen, ästhetischen Entwicklungsprozessen sich abzeichnenden Invarianten des Komponierens, der Formierung musikalischer ›Produktivkräfte‹ im allgemeinen Bereich der musikalischen Produktion (in welchem die Wechselbeziehungen vieler Produzenten sich vollziehen) zu orientieren. Und zwar vor allem im Hinblick auf die im Bereich der artifiziellen Musik sich entwickelnde Neue Musik der DDR, die sich ja in den anderen, bereits genannten Ebenen weniger bzw. gar nicht ausgeprägt hat. Im quantitativ sehr kleinen Bereich des Neuen in der artifiziellen Musik (darauf wird zurückzukommen sein) ginge es also um eine chronologische Strukturgeschichte im Kontext der jeweils diachronen internationalen Entwicklung der Neuen Musik und um die Grundfrage, ob die Neue Musik der DDR lediglich einen allmählichen Anschluss, einen Nachvollzug an die international vorgefundenen neuen Kategorien der Struktur und Musterbildung von Musik erreichte oder ob in der artifiziellen Musik der DDR eine eigenständige Form Neuer Musik entstand. Ich behaupte, dass letzteres der Fall ist, und zwar vor allem als Leistung jener kleinen Gruppe der Komponisten von bedeutendem Talent und Können, die der mittleren Komponistengeneration angehören und sich besonders seit den 70er Jahren vielseitig formiert hat. 74 Der neuerlichen empirischen Überprüfung dieser Hypothese, die auch andere schon geäußert haben,75 müsste eine durchdachte Konzeption, ein einheitliches Ras74

75

Vgl. hierzu Frank Schneider: Momentaufnahme. Notate zu Musik und Musikern in der DDR, Leipzig 1979. Frank Schneider: »Westwärts schweift der Blick, ostwärts treibt das Schiff.« Die Neue Musik in der DDR im Kontext der internationalen Musikgeschichte, in: Berg/Massow/Noeske (Hg.): Zwischen Macht und Freiheit (wie Anm. 8), S. 89–102, hier S. 98f.

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ter, ein durchgehender Fragespiegel zugrundegelegt werden, der auf eine Kette von Werkanalysen anzuwenden wäre: wie etwa Besonderheiten in der frei-atonalen Disposition des offenen Materials, in den Verfahrensweisen (Varianten von a-thematischen, a-metrischen, a-motivischen, seriellen oder quasi-seriellen, statistischen Gestaltungen usw.), in den prozessualen Konstruktionsweisen und (offenen) Formen beschaffen sind, ob sich darin bereits Ansätze zur Konventionalisierung avancierten Komponierens (Stereotypen, Klischees), qualitative Brüche usw. abzeichnen – und zwar anders als in den national und international zeitgleich sich vollziehenden Bewegungen avancierten musikalischen Denkens. Hierbei ginge es also um die Rekonstruktion der relativ eigengesetzlichen, autoreflexiven Problemgeschichte, um die Auseinandersetzung mit den historisch herangereiften Widersprüchen avancierten Komponierens, und zwar, wie diese mit welchen Ergebnissen in der DDR stattgefunden hat.76 Die Entwicklung des Jazz der DDR, der im Bereich artifiziellen Komponierens und Musizierens im internationalen Kontext einen herausragenden Platz eingenommen hat, muss selbstverständlich in die neu zu schreibende Musikgeschichte einbezogen werden.77 Zudem wäre – interdisziplinär – ergänzend in Querschnittsanalysen auch zu prüfen, ob und inwieweit im musikalischen Produktionsdenken qualitative Veränderungen aufzufinden sind, die sich vergleichsweise in den anderen Künsten oder auch in den neueren Natur- und Sozialwissenschaften vollzogen haben. Nun ist mit Recht darauf hingewiesen worden, dass DDR-Musikgeschichte als »politische Geschichte« geschrieben werden müsse.78 Hier geht es also um die Frage nach den semantischen Funktionen der Neuen Musik der DDR (den intendierten wie den unabhängig vom Wollen der Autoren sozial-indexikalischen Verweisfunktionen), also um die dialektische Vermittlung der komplexen Beziehungen zwischen den heteroreflexiven weltanschaulichen, politischen Positionen der Komponisten und ihren autoreflexiven musikalischen Denkbewegungen bzw. den unabhängig davon eintretenden Wirkungen. Es ist das die Unterscheidung und Wertung verschiedener Resultate ästhetischer Gestaltung im Hinblick auf deren intendierte bzw. potentielle und/oder realisierte Funktionen innerhalb der sozialen Verhältnisse des ›realen Sozialismus‹ in der DDR: idealisierende, illusionistische oder kritische, ›realistische‹. Im Unterschied zur widerspruchsblassen Selbstdarstellung der Musikgeschichte der DDR bei Brockhaus und Niemann, in der dementsprechend die idealisierenden Bekenntniswerke zur internationalen Solidarität, zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Sozialismus in der DDR den Ton angeben, muss die konsequent mar76

77 78

Dafür haben Frank Schneider und Ulrich Dibelius in den Schlussdiskussionen über die in den von ihnen herausgegebenen Bänden Neue Musik im geteilten Deutschland (Berlin 1993–1999) versammelten Dokumente aus Ost und West bereits sehr brauchbare Vorarbeiten geleistet. Vgl. Werner J. Sellhorn: Jazz – DDR – Fakten. Interpreten, Diskographien, Fotos, CD, Berlin 2005. Michael Berg: Ambivalenzen eines noch nicht vollends geklärten Geschehens, in: Ders./Massow/Noeske (Hg.): Zwischen Macht und Freiheit (wie Anm. 8), S. 1–16, hier S. 15f.

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xistische Analyse und Darstellung der Musik der DDR nicht nur deren Kritik zu ihrem Gegenstand machen, sondern jene Werke ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, die in ihrer Intention und Wirkung kritisch, ›realistisch‹ auf die Realität des ›realen Sozialismus‹ reagiert haben und in der Darstellung von Brockhaus/Niemann verdrängt werden. Hier besteht Forschungsbedarf. Diese Zeugnisse kritischen Komponierens sind interessanterweise in dem kleinen Sektor der artifiziellen Musik entstanden, der als Neue Musik beschrieben worden ist: Deren Autoren gehörten zu jener Gruppe jüngerer Komponisten, die sich an Hanns Eisler, Rudolf Wagner-Régeny und Paul Dessau, vor allem an dessen Autorität orientiert haben und vielseitig gefördert worden sind. 79 In besagtem Sinne kritische Kompositionen stammen auch vom frühen Tilo Medek. 80 Wird nun diese auf die Realität der DDR bezogene kritische Qualität der in der DDR komponierten, politisch intendierten und wirkenden Musik in den Vordergrund gerückt, weil sie bisher verdrängt worden war, so wäre die Geschichtsschreibung schlecht beraten, wenn sie sich darauf beschränken würde. Politisch engagierte Musik war in der DDR ›Institution‹: Für viele Anlässe gab es Aufträge und Aufführungsmöglichkeiten, die von manchem Opportunisten für politisch blinde Bekenntnisse genutzt wurden. Aber auch die in der DDR herrschende Form sozialistischer Politik war von ihrem Wesen her dennoch internationalistisch. Und dabei sind Musi79

80

Frank Schneider verweist auf diese damals jungen Komponisten, »die mit eigenwillig modernen Handschriften bei den offiziellen Kunstwächtern für unwilliges Aufsehen sorgten. Während der 70er Jahre konnte diese Gruppe – zu der Reiner Bredemeyer, Paul-Heinz Dittrich, Friedrich Goldmann, Jörg Herchet, Georg Katzer, Herrmann Keller, Siegfried Matthus, Friedrich Schenker, Ruth Zechlin oder Udo Zimmermann gehörten – im öffentlichen Bewusstsein gerade dadurch auf zunehmendes Interesse stoßen, dass sie als Gegenstand kritischer Ausein andersetzung nicht mehr offen unterdrückt, sondern ernst genommen wurde.« Schneider: »Westwärts schweift der Blick, ostwärts treibt das Schiff.« (wie Anm. 75), S. 98. Ich verweise auf sein 1967 entstandenes Dekret über den Frieden für Sprecher, Schlag-Idiophone und Schlagtrommeln, weil ich an dessen Entstehen, Uraufführung und Wirkung unmittelbar beteiligt, bzw. davon betroffen war. Aus dem Originaltext des Leninschen Dekrets haben wir einiges aus politischen Gründen gestrichen: die scharfen Aussagen über Annexionen als Akte von Eroberung und Vergewaltigung, der Missachtung des Willens kleiner Völker. Drin blieben hingegen die Sätze Lenins, die dann nach den Ereignissen in Prag den Unwillen der herrschenden Politbürokratie hervorriefen: »Wir kämpfen gegen den Betrug der Regierungen, die alle die Worte Frieden und Gerechtigkeit im Munde führen, in der Tat aber räuberische Eroberungskriege. Keine einzige Regierung spricht alles aus, was sie denkt. Wir aber sind gegen die Geheimdiplomatie und werden offen vor dem ganzen Volk handeln. Wir schließen und schlossen niemals die Augen vor Schwierigkeiten«. Die ästhetische Idee des Werkes war: Der in der Mit te des Raumes stehende Sprecher, um den herum das Publikum sitzt, kämpft gegen die im Rücken des Publikums quadratisch platzierten, immer lauter werdenden Schlagzeug-Gruppen an, bis der Text nicht mehr zu verstehen ist. Zwar gab es nach der Uraufführung im November 1967 (im Foyer der Komischen Oper in Berlin) in den Jahren 1968 und 1969 Aufführun gen in New York, Moskau und München. In der DDR sind die bei Peters gedruckten Exem plare der Partitur jedoch eingezogen worden. Ich hatte in einer Sendung für Radio DDR II über Dokument und Musik einen Ausschnitt daraus verwendet und wurde dafür auf einer Aktivtagung von ca. 150 Musikleuten von Nathan Notowicz und Ernst Herrmann Meyer wegen meiner »modernistischen Verirrungen« scharf kritisiert.

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ken entstanden, die in eine neu zu schreibende Geschichte der Musik der DDR gehören. Ich habe 1990 gesagt: »Das thematische, musikalisch avancierte Reagieren auf die Remilitarisierung, auf die atomare Bedrohung, auf das Schicksal bedeutender progressiver Politiker (und denke dabei an Martin Luther King, Patrice Lumumba) oder die gelebte Solidarität mit dem antiimperialistischen Befreiungskampf der Völker gehört meines Erachtens zu den Tugenden der neuen DDR-Musik dieser Zeit und ging keineswegs immer auf Kosten der ästhetischen, künstlerischen Qualität. Das verband sie mit analogen Aktivitäten der politisch engagierten Musiker in den kapitalistischen Ländern«.81

Das halte ich nach wie vor für zutreffend und empfehle entsprechende Längs- und Querschnitt-Analysen. Auf die Veränderungen im Selbstbewusstsein, in der Haltung und im kompositorischen Denken der jüngeren Generation hat Frank Schneider kompetent verwiesen.82 Seine allgemeine Charakterisierung öffnet den Blick für die intensive Erforschung dieses speziellen Bereichs der in der späten DDR entstandenen artifiziellen Musik.83 Hier hat im Bereich artifiziellen Komponierens zwischen kritischem autoreflexivem musikalischem Denken und kritischem weltanschaulich-politischem Denken eine kreative Wechselbeziehung stattgefunden, die es im konventionellen, klassizistisch beschränkten Bereich der artifiziellen Musik nicht gegeben hat und auf Grund der hier dominierenden apologetischen musikalischen und wenig reflektierten weltanschaulich-politischen Haltungen auch nicht geben konnte. Für diese Positionen extremer Mittelmäßigkeit ließen sich besonders aus dem Bereich der Oratorien und Kantaten, aber auch aus dem Bereich der ›betexteten‹ Orchestermusik, des Liedes zahlreiche abschreckende Beispiele anführen. Darauf kann hier verzichtet werden. Selbst ein in seiner Beschränktheit und Selbstbeschränkung handwerklich ›sauberes‹ Werk wie das Mansfelder Oratorium von Ernst Hermann Meyer, das in der frühen DDR als meisterhaft und beispielgebend beurteilt und mit dem Nationalpreis ausgezeichnet worden ist und in dieser Gestalt auch noch in der Musikgeschichte der DDR erscheint, muss kritisch als das gewertet werden, was Brecht bereits 1952 über »Beispiele Meyerscher Oratorienmusik mit ihrem Schmalzersatz und Kunsthonig« in einer Tagebuch-Eintragung spöttisch notiert hat. Für eine künftig zu schreibende Musikgeschichte der DDR ist dieser konventionelle Bereich der artifiziellen Musik, eines gemäßigt modernen Komponierens, das 81

82 83

Günter Mayer: Die sechziger Jahre – weder gedoppelt noch geteilt, in: hanseatenweg 10, 2/90, S. 56–58, hier S. 57. Schneider: »Westwärts schweift der Blick, ostwärts treibt das Schiff.« (wie Anm. 75). Er konstatiert zutreffend, dass sich die jüngeren, nachwachsenden Komponisten anfangs in das klangliche Fahrwasser der inzwischen etablierten Neuerer gedrängt fühlten: »So hemmten die Älteren zuweilen unbewußt deren notwendiges Freischwimmen gegen den Strom, förderten ungewollt auch Neigungen zu voreiliger kreativer Trägheit und Bequemlichkeit. Daher mangelte es dem Nachwuchs – trotz einiger Ausnahmen wie Robert Linke, Juro Metsk, Steffen Schleiermacher, Jakob Ullmann, Helmut Zapf, Lutz Glandien, Annette Schlünz oder Ellen Hünigen – zu lange an einem wirklich generationsspezifischen, rebellischen und experimentie renden Selbstausdruck« (ebd., S. 101).

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technisch im einem Feld zwischen Brahms und Hindemith verbleibt, besonders schwierig zu analysieren und darzustellen. Hier entstand fast alle in der DDR komponierte Musik: Dem Verband der Komponisten gehörten ca. 500 durch ihre Mitgliedschaft beruflich anerkannte Komponisten an. Um welche Dimensionen es sich hier handelt, wird daran deutlich, dass Frank Schneider in seiner Dissertation allein für den Zeitraum zwischen 1945 und 1970 aufgrund verfügbarer Quellen und eigener Recherchen etwa 340 Titel (Streichquartette) von 181 Komponisten nachgewiesen und analysiert hat.84 So ergibt sich aus einer nüchternen, materialistischen Analyse, die Realität so begreift, wie sie ist: Gegenüber diesen Kompositionen, die es ja in den anderen Genres in ähnlicher Fülle gibt, sind die Kompositionen der Neuen Musik zwar die qualitativ bedeutenden, herausragenden, aber in der Masse der mittelmäßigen und schlechten artifiziellen Musik quantitativ kaum wahrnehmbaren. Die Wenigen, deren bedeutendes Talent und Können sich letzten Endes durchgesetzt hat, sind etwa zehn bis fünfzehn gegenüber etwa 500, also ein verschwindender Anteil von zwei bis drei Prozent.85 Dazu kommt noch, dass die Komposition eines Werkes Neuer Musik keineswegs bereits seine Uraufführung zur unmittelbaren Folge hat: Zwischen der Niederschrift und der Uraufführung, zwischen der Niederschrift und der Drucklegung, der Sendung, der Produktion auf der Schallplatte usw. vergeht zwangsläufig etwas Zeit, tritt also eine Verzögerung ein, die nicht selten durch musikpolitische Entscheidungen wesentlich verlängert, wenn eine Aufführung nicht überhaupt verhindert wird.86 Dennoch gehören die wenigen Vertreter fortgeschrittenen und fortschreitenden musikalischen Denkens an die Spitze, die ihnen von der Sache her gebührt, auch deshalb, weil sie wegen ihrer kritischen Haltung von den politischen Spitzen ›oben‹ sehr aufmerksam zur Kenntnis genommen worden sind. Auch dies zu dokumentieren gehört als ein wichtiger Baustein in die zu schreibende Musikgeschichte der DDR. Das aber bedeutet nun wiederum für ein materialistisches Begreifen der in der DDR komponierten Musik nicht, dass alles, was in dem übrigen Bereich der artifiziellen Musik entstanden ist, bedeutungslos ist und dem Vergessen anheimzufallen 84 85

86

Frank Schneider: Das Streichquartettschaffen in der DDR bis 1970, Leipzig 1980, S. 26. Das ist in der BRD und anderen entwickelten Ländern nicht anders, also ›normal‹. Frank Schneider konstatiert: »Wir haben es in fünfzig Jahren […] mit 5000 Komponisten zu tun in Ost und West, die haben alle produziert. Unter denen, die Neue Musik geschrieben haben, haben vielleicht fünf Prozent den Diskurs bestimmt, die Themen bestimmt. Es hat also in allen europäischen Ländern auch einen sehr lebendigen Konservatismus im Komponieren gegeben« Schneider, in: Berg/Massow/Noeske (Hg.): Zwischen Macht und Freiheit (wie Anm. 8), S. 18. Nicht wesentlich anders ist die Relation zwischen den wenigen herausragenden und den vielen mittelmäßigen und schlechten Marxisten. Beispiele dafür finden sich bei Reiner Bredemeyer (1929–1995).Von seinem Gesamtwerk (meines Wissens über 300 Titel) ist ein gutes Drittel, besonders der Musiken für Konzertsaal und Funk, nicht aufgeführt worden. Das ist umso schlimmer, da Bredemeyer einer der produktivsten, politisch wachen Komponisten der DDR war: Vor allem durch seine sehr schnell für den Funk und/oder Aufführungen in kleinen Besetzungen komponierten kritischen politischen Kommentare zu aktuellen Ereignissen. Eine Analyse dieser Seite seines Gesamtwerkes wäre ein ganz wichtiger Beitrag für die zu schreibende Musikgeschichte der DDR.

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habe. Dass von einer fortgeschrittenen Kompositionserfahrung her auch verbrauchtes Material erneuert und sinnvoll musikalisch verwendet werden kann, Neue Musik also nicht nur infolge zunehmender arbeitsteiliger Spezialisierung zwangsläufig immer komplizierter werden muss, sondern unter bestimmten Bedingungen auch in neuer Einfachheit entwickelt werden kann, hat bekanntlich Hanns Eisler nicht nur in seiner ›Kampfmusik‹ gezeigt, sondern auch in der DDR theoretisch postuliert und in einigen in der DDR komponierten Werken praktiziert. Das gilt zum Beispiel für den Sektor des Liedes. Einige der Neuen deutschen Volkslieder Eislers (1950), aber auch einige Lieder von Paul Dessau, André Asriel und Eberhard Schmidt waren bei Jugendlichen präsent und sind bei vielen Gelegenheiten gesungen worden (auch von mir), ohne dass die Namen der Komponisten bekannt waren. Diese Phänomene als Vorwegnahme der durch die regressive Musikpolitik beschränkten weiteren Jahre der DDR-Kunstentwicklung abzuwerten, halte ich für ein eklatantes Fehlurteil. 87 Auch Eislers späte Tucholsky-Chansons würden, gemessen an einem rigorosen avantgardistischen Fortschrittskonzept, aus der Geschichte der in der DDR entstandenen Musik zu streichen sein, ebenso Die Teppichweber von Kujan-Bulak, eine 1958 uraufgeführte Kantate, in welcher auf einen Text von Brecht der kitschige Personenkult um Lenin kritisiert wird, der nach dem XX. Parteitag der KPdSU in der geforderten Rückbesinnung auf Lenin an die Stelle des Personenkultus um Stalin zu treten schien. Es müsste also untersucht und in vergleichenden Fallstudien dargestellt werden, wie sich die quantitativ geringe, intelligente, auf breite Wirksamkeit hin orientierte ›progressive‹ Vereinfachung des Komponierens von der Überzahl der dummen, populistischen, ›regressiven‹ Vereinfachung bzw. gedankenlosem Kitsch unterscheidet. Für diesen die musikalische Wirklichkeit dominierenden Sektor des konventionellen, mittelmäßigen Komponierens wären – analog zum Bereich Neuer Musik im Sektor der artifiziellen Musik – Analysen anzuregen: wie in der massenhaften Praxis des durchschnittlichen ›Auf der Stelle Tretens‹ im sehr begrenzt erweiterten tonalen Bereich das Material disponiert, mit welchen Verfahrensweisen (metrisch, thematisch, motivisch) musikalischer Zusammenhang entwickelt, variiert und in welchen Formtypen er gestaltet wird, welche Stereotypen, Standards, Versatzstücke sich hier allgemein abzeichnen, die mit ähnlichen, auch in der BRD oder anderen Ländern dominierenden Formen konventionellen Komponierens in ihrer ästhetischen Gestalt und Funktion durchaus vergleichbar wären – und wo da vielleicht doch hier und da etwas Originelles zu finden ist. Phänomene funktionszentrierter, ›progressiver‹ Einfachheit gibt es zum Beispiel, wenn es um die in der DDR entstandene Musik geht, seit den 80er Jahren auch im 87

Klaus Mehner: Art. Deutschland, 2. Ab 1945: Deutsche Demokratische Republik, in: 2MGG, Sachteil, Bd. 2, Kassel u. a. 2005, Sp. 1188–1192, hier Sp. 1188. Mehner schreibt über die Neuen deutschen Volkslieder, dass sie sich als als verhängnisvoll erweisen sollten: »In ihnen war ein Ergebnis der Diskussionen um den sozialistischen Realismus vorweggenommen, wie sie, aus sowjetischen Quellen gespeist und auf dem 2. Internationalen Kongreß der Komponisten und Musikkritiker verallgemeinert, die weiteren Jahre der DDR- Kunstentwicklung bestimmen sollten« (ebd.).

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Bereich des Kinderliedes und des politischen Liedes, in den neuen Formen eines ›Liedertheaters‹.88 Phänomene funktionszentrierter, ›progressiver‹ Einfachheit gibt es, sofern es um die in der DDR entstandene Musik geht, auch im Sektor der Rockmusik: bei den Massen der Jugend populär, weil sie deren Lebensbefindlichkeit auf eigene Art artikulierte und, gegen vielfache Widerstände der Musik-Polit-Bürokratie allmählich durchgesetzt, nach- und mitvollziehbar machte. 89 B. Kulturgeschichtlicher Zugang: Über Musikkultur, zudem sozialistisch orientierte, ist in der DDR und in den sozialistischen Ländern intensiv diskutiert worden, schon allein deswegen, weil zur Musik der DDR, d. h. der in diesem Lande komponierten und aufgeführten, auch die Musik in der DDR, d. h. alle jene Musiken gehören, die nicht hier entstanden, wohl aber aus Geschichte und Gegenwart anderer Länder und Weltregionen stammen und im Musikleben quantitativ in viel höherem Maße präsent gewesen sind. Insofern ist die zu schreibende Musikgeschichte nicht ohne die zu schreibende Geschichte der Musikkultur in der DDR zu denken. Diese Diskussionen um Begriffs- und Positionsbestimmungen auszuwerten, wäre ein weiterer Baustein zur besagten Musikgeschichtsschreibung. Dabei wird sich Ähnliches zeigen wie bei der Analyse der produktionsästhetischen Probleme der Entwicklung des musikalischen Materials, die bereits vorliegt: 90 Es gab auch zum Thema ›sozialistische Musikkultur‹ durchaus verschiedene, konträre Standpunkte über den Begriff, über seine soziologische Dimension, über die Frage nach der sozialistischen Qualität, über das erreichte Entwicklungsniveau. Ich kann das im vorliegenden Zusammenhang nicht reproduzieren, verweise daher nur auf entsprechende Quellen. 91 Hier nun war und ist methodologisch von Belang, von welcher Kulturauffassung der Musikhistoriker ausgeht. Die allgemein übliche Auffassung, dass es sich dabei um die Gesamtheit der historisch vorfindlichen und neu entstehenden musikalischen 88

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Hier sei verwiesen auf die Lieder von Reinhard Lakomy oder Gerhard Schöne, auf die Lieder von Wolf Biermann und die Produktionen der kollektiven Autoren und Akteure in Berlin (Oktoberclub, Karls Enkel); Dresden (Gruppe Schicht), Hoyerswerda (Brigade Feuerstein). Die meisten solcher Programme sind auf DVD dokumentiert, zum Beispiel von Karls Enkel die Veranstaltung Der Pilger Mühsam. Von meiner Hoffnung lass ich nicht (Gera 1982), oder Die Hammer-Revue (in Zusammenarbeit mit anderen an mehreren Orten, teils verboten 1984), oder das Clownsprogramm von Hans Eckhardt Wenzel und Steffen Mensching Neues aus der DaDaehR (Berlin 1983). Hier sei verwiesen auf in der DDR berühmte Formationen wie Die Puhdys, Sterncombo Meißen, Pankow, Renft-Combo, Silly, City, usw. Lars Klingberg: Die Debatte um Eisler und die Zwölftontechnik in der DDR in den 1960er Jahren, in: Berg/Massow/Noeske (Hg.): Zwischen Macht und Freiheit (wie Anm. 8), S. 39–61. Über die musiksoziologischen Dimensionen des Begriffs der Musikkultur habe ich mich 1982 ausführlich geäußert; vgl. Mayer: Musiksoziologie und Geschichtstheorie (wie Anm. 7), S. 145–164. Zum Thema ›Sozialistische Musikkultur heute‹ fand im Mai 1986 das 8. Internationale Seminar marxistischer Musikwissenschaftler statt. Die Referate und Diskussionsbeiträge sind dokumentiert in: BzMw 29 (1987). Die Differenzen in Haltung, Argumentation und Wertung zwischen Heinz Alfred Brockhaus einerseits und Jaroslav Jiránek oder mir andererseits sind nicht zu übersehen.

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Werte und ihre Pflege, gewissermaßen um geistig und emotional relevante Stapelware handelt, die für ›den‹ Menschen und seine Bildung unentbehrlich ist, verbleibt im abstrakten Horizont der idealistischen Tradition bürgerlichen Denkens. Auch die einfach deskriptive Summierung all dessen an Beziehungen, Verhältnissen, Institutionen, all dessen, was mit dem Musikleben in Theorie und Praxis zu tun hat, ist wenig geeignet zu begreifen, worin die Schwierigkeit und der Reiz eines kulturgeschichtlichen Zugangs zur Musikgeschichte liegt. Ein geschichtsmaterialistischer Zugang zu den Phänomenen von Kultur ergibt sich zunächst aus deren philosophischer Bestimmung: In kultureller Wertung wird, vom Kriterium je klassenspezifischer Persönlichkeitsideale her, einerseits die Gesamtheit der objektiven (materiellen und ideellen) Arbeits- und Lebensbedingungen darauf hin beurteilt, inwieweit sie die Entwicklung der Talente, Fähigkeiten, Bedürfnisse und Genüsse der Individuen ermöglichen (bzw. daraufhin verändert werden), und andererseits, inwieweit dieses Potential von den Individuen tatsächlich angeeignet, in subjektiven Kulturniveaus real ausgebildet und betätigt wird. 92 Dieser Zugang bedeutet etwa für das Begreifen von Kultur bzw. für die Konzeptualisierung von Kulturprogrammatiken, die auf die Veränderung und Umgestaltung der in dieser Hinsicht bewerteten objektiven Bedingungen und subjektiven Praktiken der Lebensweise gerichtet sind, dass je konkret historisch nach den Akteuren gefragt werden muss, die darin tätig sind bzw. sich formieren. Da das nun nicht schlechthin ›die‹ Menschen sind, sondern Angehörige verschiedener sozialer Klassen und Schichten, deren Persönlichkeitsideale sich zwangsläufig unterscheiden (die nicht nur von allgemeinen menschlichen, sondern auch von Sonderinteressen, der Eroberung oder Verteidigung von Privilegien für die Entwicklung individueller Talente, Bedürfnisse, Fähigkeiten und Genüsse geprägt werden), kommen in einer solchen materialistischen Kulturauffassung auch Widersprüche der Kulturentwicklung, d. h. die Existenz verschiedener Kulturen innerhalb einer Kultur, Widersprüche zwischen der hegemonialen Kultur und Gegen-Kulturen, Subkulturen usw. ins Blickfeld. Das bedeutet etwa für das Begreifen der mit der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft entstandenen bürgerlichen Musikkultur, dass sich ein Widerspruch zwischen der arbeitsteilig hochspezialisierten, anspruchsvollen Kultur der Highbrows, der Kenner, der Liebhaber differenzierter musikalischer Genüsse einerseits, und der einfachen, anspruchslosen, primitiven Kultur der Lowbrows entstanden ist, mit dem alle jene sich auseinanderzusetzen hatten und haben, die sich für eine Demokratisierung der Musikkultur einsetzen, sich also nicht damit abfinden wollen, dass die geschichtlich überlieferten musikalischen Werte und die neu entstehenden der artifiziellen Musik nur wenigen zugänglich, den Massen des Volkes aber, die durch ihre alltägliche Arbeit die gesellschaftliche Reproduktion auch der Hochkultur erst ermöglichen, unerreichbar bzw. fremd bleiben, weil sie mit ihrem Leben nichts zu tun haben. Hatten sie früher die Volksmusik, so sind es im 20. Jahrhundert die Produkte der – nicht sozialistischen – Musikindustrie, die ihre musikalische Praxis bestimmen. 92

Vgl. Dietrich Mühlberg: Zur Diskussion des Kulturbegriffs, in: Weimarer Beiträge 22 (1976), H. 1, S. 5ff.

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Für die bürgerlich-demokratischen, für die sozialdemokratischen und die kommunistisch orientierten sozialen Bewegungen, die sich vom Ziel der allgemeinen menschlichen Emanzipation leiten ließen, war gleichermaßen die leitende Idee: Die Kunst dem Volke. Für diese musikgeschichtlich relevante gegenkulturelle Bewegung zu den Fortschrittstheorien der elitären bürgerlichen Musikkultur hieß das: Überwindung des musikalischen Analphabetismus, gleiche Chancen musikalischer Bildung für alle, Orientierung der professionellen Musiker auf die musikalische Situation, auf die Bedürfnisse, die Erwartungen der Masse der Arbeiter, Bauern und Angestellten. Diese vorwiegend pädagogische Grundidee, die krisenhaften Erscheinungen der bürgerlichen Musikkultur durch die Erziehung der Musiker und allgemeine musikalische Volksbildung überwinden zu können, war auch in der deutschen Arbeiterbewegung lebendig, seit 1906 nachweisbar. Sie ist 1927 von Hanns Eisler auf die Möglichkeiten ihrer durchgreifenden Realisierung hin historisch präzisiert worden: »Erst nach Ergreifen der Macht durch das Proletariat kann eine neue Musikkultur allmählich entstehen.«93 Es wird zu prüfen sein, was aus dieser Grundidee und dem daraus entstandenen Diskurs der Institution Musik mit dem Beginn und im Verlauf des sozialistischen Experiments in der Sowjetunion seit 1917 und in der DDR seit 1949 auf welchen Ebenen, in welchen Sektoren, in welchen Widerspruchsbewegungen geworden ist, was sich (vom sowjetischen Vorbild geprägt) als überspannte Forderung und gescheiterte Hoffnung, als klassizistisch beschränkte Enge erwiesen hat, wer also wann und womit gescheitert ist; aber auch: was, wo, von wem, wann mit welchen Mitteln real, partiell erreicht worden ist und auch für die gegenwärtigen musikkulturellen Prozesse ›aufzuheben‹ wäre. Dazu kann ich nur einige wenige Andeutungen formulieren. Es war das eine äußerst komplexe Angelegenheit, da es sich im Unterschied zu den volkspädagogischen Bestrebungen unter herrschenden kapitalistischen Bedingungen hier um einen Versuch gesamtgesellschaftlicher Umwälzung von der Ökonomie bis zu den Künsten handelte. Zu untersuchen wäre also, wie nach dem Ersten Weltkrieg und mit der Oktober-Revolution, wie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Ostdeutschland mit dem antifaschistisch-demokratischen Neuansatz und dem Übergang zu sozialistischen Zielstellungen die nun zur Herrschaft gekommenen politischen Akteure Einfluss nahmen auf die Gesamtheit der Musikverhältnisse, auf ihre Wiederbelebung, Um- und Neugestaltung im Sinne einer realen, demokratischen, sozialistischen Musikkultur. Dieser Neubeginn ist etwa 1974 in einer Tagung über das Thema ›Arbeiterklasse und Musik‹ im Rahmen der herrschenden ideologischen Denkkategorien interpretiert worden: Die politische Macht und damit die Verantwortung für die Musikkultur sei auf die von der revolutionären Partei geführte Arbeiterklasse übergegangen.94 93 94

Hanns Eisler: Musik und Politik. Schriften 1924–1928, hg. von Günter Mayer, Leipzig 1973, S. 5. Günter Mayer: Über Praxis und Perspektive des Verhältnisses von Arbeiterklasse und sozialistischer Musikkultur, in: Hans-Klaus Jungheinrich/Luca Lombardi (Hg.): Musik im Übergang, München 1977, S. 146–158.

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Tatsächlich war, wie wir wissen, die Macht auf die Parteibürokratie übergegangen, die im Namen ›der Arbeiterklasse‹ agierte, und nicht auf ›die Arbeiterklasse‹. Dennoch waren die in Ostdeutschland nun herrschenden Akteure mit Entscheidungsmöglichkeiten gesamtgesellschaftlicher Dimension, sieht man einmal von den ideologischen Selbstdarstellungen ab, von der Grundidee der kulturellen Emanzipation der Volksmassen geleitet. Und die auf der genannten Tagung vorgetragenen kritischen Urteile und Empfehlungen zielten genau darauf. Dieser Versuch war also fundiert in einer allgemeinen politischen Zielstellung und ihrer Umsetzung und Durchsetzung in einer für die auf den verschiedensten Ebenen tätigen Subjekte verbindlichen Kultur-, Kunst- und Musikpolitik. Diese Ebenen oder Sektoren waren sehr unterschiedliche und entsprechend wären sie bei Forschungsarbeiten zu berücksichtigen: Zur Erforschung des Sektors der musikalischen Produktion, zu den musikpolitischen Forderungen und den unterschiedlichen Reaktionen der professionell bzw. amateurhaft Komponierenden habe ich bereits einiges im vorigen Punkt angedeutet – ohne mich auf die vielfältigen Probleme des sogenannten ›sozialistischen Realismus‹, die ›Formalismus-Kampagnen‹, die sogenannten ›Materialschlachten‹ einzulassen, weil das ein ganz eigenes Thema wäre und dazu bereits brauchbare Arbeiten vorliegen.95 Weggelassen habe ich auch die Frage, ob und wie eine realistische, sozialistische Überzeugung und Grundhaltung von Interpreten (vor allem von Regisseuren oder Dirigenten) die ästhetische Vergegenwärtigung von Kunstwerken aus der Vergangenheit beeinflusst hat, etwa bei der Inszenierung der Opern von Richard Wagner, Giuseppe Verdi, Leoš Janáček (Stichworte: die Inszenierung des Ring-Zyklus durch Joachim Herz, das ›realistische Musiktheater‹ von Walter Felsenstein). Das wäre ebenfalls ein ergiebiges Feld musikwissenschaftlicher Forschungsarbeit zur Geschichte der Musik in der DDR. In scharfem Kontrast zur kompositionsgeschichtlichen Analyse sei (mit dem Blick auf die geschichtsmaterialistische Methode) der (erst noch zu erforschende) Sektor der Ökonomie genannt, in welchem staatliche Regulierung und Regulierung durch die Ware-Geld-Beziehung sich überlagerten: Er reicht von Investitionen für den Wiederaufbau bzw. die Neuerrichtung von Spielstätten, kontinuierlichen Subventionen für die sehr zahlreichen Musikerensembles, Produktionsstätten der technischen Medien bis hin zur Preispolitik für musikalische Leistungen und Produkte, zur Finanzierung von Musiker-Ehrungen, Nationalpreisen, Musikfestspielen, Musikhochschulen, Forschungseinrichtungen, Bibliotheken, Archiven usw. Was sich die DDR auf diesem Sektor wie lange, mit welchen Effekten, Gewinnen, Verlusten usw. geleistet hat bzw. auf die Dauer nicht hat leisten können, wäre in Kooperation mit Ökonomen zu untersuchen, d. h. ob – ähnlich wie im Bereich der Bildungspolitik, der Wohnungspolitik, der Gesundheitspolitik – auch im Bereich der Musikkultur die im Grunde schon kommunistische Orientierung auf ›Jedem nach seinem Bedürfnis95

Klingberg: Die Debatte um Eisler (wie Anm. 90); Laura Silverberg: The East German Sonderweg to modern music, Dissertation, unveröffentlichtes Typoskript, University of Pennsylvania 2007.

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sen‹ nicht doch ›in letzter Instanz‹ ökonomisch den Staatsbankrott zur Folge haben musste. Genannt sei der Sektor der musikbezogenen Bildungs- und Kaderpolitik. Er reicht von der Konzipierung und Realisierung der musikpädagogischen Programme in Kindergärten, Schulen, Spezialschulen für Musik bis zur musikalischen Bildung und Weiterbildung von Kulturfunktionären in Partei, Staatsapparat, Verbänden, Gewerkschaften, Kultur- und Jugendorganisationen, Musikhochschulen, Universitäten usw. Ein interessanter Aspekt der Kaderpolitik sind die Widersprüche, die mit dem Bau der Mauer durch den Verlust vieler Musiker, die schon vorher in den Westen ge gangen waren bzw. nun nicht mehr aus dem Westen ihrer Arbeit nachgehen konnten, für die Erhaltung der Spielfähigkeit der vielen Orchester der DDR entstanden waren. Genannt sei der Sektor der massenorientierten sogenannten ›Kulturarbeit‹: Er reicht von der Belebung und Unterstützung einer breiten volkskünstlerischen Bewegung in Chören und Tanzgruppen, der Organisation von Wettbewerben und Festivals bis hin zum Platz der Musik in den ›Kultur- und Bildungsplänen‹ der in den ökonomischen Wettbewerb integrierten Brigaden der Produktionsbetriebe in Industrie und Landwirtschaft. An dieser Stelle halte ich einige Bemerkungen zum sogenannten ›Bitterfelder Weg‹ für erforderlich. Michael Berg spricht im Hinblick auf die kultur- und kunstpolitisch relevanten Konferenzen in Bitterfeld (1959 und 1964) von der »Bitterfelder Eiszeit«, ironisch von Wunsch und Willen kommunistischer »Kulturrevolutionäre« 96 und stützt sich dabei auf die distanzierte Interpretation von Wolfgang Emmerich, der den ›Bitterfelder Weg‹ aus literaturwissenschaftlicher Sicht undifferenziert abwertet. Emmerich behauptet, dass die SED mit dem ›Bitterfelder Weg‹ darauf gezielt habe, »die Trennung von Hand- und Kopfarbeit als das Ergebnis eines langen Zivilisationsprozesses zu unterlaufen«97. Den Funktionären so viel naive Dummheit zu unterstellen, lässt eher auf Emmerichs Unsachlichkeit schließen. Er kann offensichtlich nicht nachvollziehen, dass sich die Idee zu einer kulturpolitischen Initiative, die in Bitterfeld öffentlich gemacht wurde, aus der einfachen Überlegung ergab, die Künstler, die von der Lebenswelt der Arbeiter kaum etwas wussten und sich dafür von sich aus nicht interessierten, den Arbeitern näher zu bringen, die von der Lebenswelt der Künstler kaum etwas wussten und aus eigener Initiative sich dafür auch nicht interessierten. Diese Idee ergab sich nicht nur aus der allgemeinen Orientierung, die ›Schätze der Kultur‹ den Volksmassen zu erschließen, sondern aus dem durchaus nachvollziehbaren Gedanken, dass die Künstler die Arbeiter und ihre Erfahrungen in der materiellen Produktion, ihre Funktion in den ›volkseigenen‹ Betrieben als Themen und Gegenstände ästhetischer Gestaltung entdecken mögen. Mit dieser Losung sollte nicht die Trennung von Hand- und Kopfarbeit unterlaufen werden. So weit gezielt war sie gar nicht. In ihr kam vielmehr die Einsicht der Funktio96 97

Berg: Ambivalenzen eines noch nicht vollends geklärten Geschehens (wie Anm. 78), S. 15. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, erweiterte Neuausgabe, Berlin 2000, S. 187.

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näre zum Ausdruck, dass entgegen den Reden von ›der‹ sozialistischen Nationalkultur Künstler und Arbeiter im ›realen‹ Sozialismus nebeneinander in zwei verschiedenen Kulturen leben und von daher die Vorstellung, beide einander in eine produktive Wechselbeziehung zu bringen. Allerdings war das kulturpolitische Konzept, im Diskurs der alten bildungsbürgerlichen Tradition beschränkt, paternalistisch orientiert. Das zeigt sich deutlich in der in Bitterfeld ausgegebenen Losung »Stürmt die Höhen der Kultur«. Dieser liegt einerseits die emphatische Wertung der hohen Kunst und Bildung zugrunde, die die Künstler auf den Höhen vertreten, andererseits die Abwertung der anspruchslosen, leichten Unterhaltungskunst, der populären Genres, die den Arbeitern in den Niederungen gefallen. Statt zu begreifen, welchen funktionalen Stellenwert diese Kunstformen im Leben der Arbeitenden haben, warum sie für diese einen eigenen kulturellen Wert haben, wurde den Arbeitenden mit dieser Losung bedeutet, dass sie der falschen Kunst folgen, dass sie nicht die richtigen Bedürfnisse haben usw. Abgesehen von der militanten Kampfmetapher verrät die Formulierung der Losung das illusionäre Denken der Funktionäre, die sich das ausgedacht haben: Würden sich die Arbeiter tatsächlich aus ihren Niederungen erheben und auf die Höhen stürmen – sie hätten in ihrer Masse darauf gar nicht Platz haben können. Dennoch hatte der ›Bitterfelder Weg‹ und seine Organisation für die Arbeitenden durchaus anregende Wirkungen: Es gab auf beiden Seiten, auch wenn keine großen Kunstwerke entstanden, gegenseitiges Kennenlernen und Verständnis für die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Lebenstätigkeit in den beiden Kulturen. Da die Besuche von Theateraufführungen und Konzerten zum Bestandteil des ökonomischen Wettbewerbs gemacht wurden, als Zielstellung in den Kultur- und Bildungsplänen enthalten waren und so Impulse für kollektive Bewegungen zu den Künsten hin auslösten und diese wiederum bei der Planerfüllung mit der Aussicht auf Prämierung abzurechnen waren, sind nicht wenige Arbeiter zum ersten Mal in ihrem Leben Künstlern und Kunstwerken begegnet und haben damit eine ihnen bisher fremde Welt entdeckt. Ich selbst habe als Student im Berliner Kabelwerk eine ›Brigade‹ betreut, bin mit den Arbeitern in Aufführungen der Staatsoper gegangen, habe Einführungsvorträge in der Betriebsakademie des Werkes gehalten. 98 Im Rahmen des ›Bitterfelder Weges‹ hat es auch Initiativen gegeben, künstlerisch talentierte Arbeiter und Arbeiterinnen zur kreativen Tätigkeit anzuregen und diese durch professionelle Beratung und Betreuung zu fördern: Es ist daraus die Bewegung der ›schreibenden‹, der ›malenden‹, ja sogar der ›komponierenden‹ Arbeiter entstanden. Bedeutende Werke konnten da nicht entstehen, aber darum ging es gar nicht. Dieser spezielle Entwicklungszusammenhang sollte in der zu schreibenden Musikgeschichte nicht fehlen, wäre also auch zu erforschen. 98

So etwas ähnliches wie den ›Bitterfelder Weg‹ gab es in den 60er und 70er Jahren auch bei den Linken in Italien. Die Gewerkschaften hatten durchgesetzt, dass ihnen an bestimmten Tagen in der verlängerten Mittagspause eine gewisse Zeit für Bildung zur Verfügung stand. Als ich anlässlich einer Hommage für Paul Dessau im Jahre 1976 in Reggio Emilia war, ist Luigi Nono mit mir in eine Gerätefabrik gefahren, wo ich auf seine Veranlassung hin einen kleinen Vortrag über Paul Dessau gehalten habe, den er übersetzt hat.

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Es sei schließlich darauf hingewiesen, dass die in den verschiedenen Formen der ›volkskünstlerischen‹ Bewegung aktiven Teile der Bevölkerung (staatlich geförderte professionelle Ensembles, Betriebsensembles, einzelne Chöre und Laientanzgruppen) infolge der Grenzen in der ästhetischen Orientierung und/oder ihres musikalischen Könnens sich über den Bereich des Erbes bzw. konventioneller oder progredient einfacher Musik hinaus nicht haben bewegen können. Es wird zu prüfen sein, welche Subjekte in diesem Gesamtprozess in welcher Entwicklungsphase der DDR, auf welchen Ebenen, mit welcher Qualifikation Einfluss auf die musikkulturelle Entwicklung, auf deren Reproduktion bzw. Veränderung haben nehmen können und was letzten Endes dabei herausgekommen ist: eine andere als die vorhergehende und in der BRD parallel existierende bürgerliche Musikkultur, vielleicht wenigstens Ansätze zu sozialistischen Elementen der Musikkultur? Die mit der Frage nach den Subjekten der Musikkultur sichtbar werdenden Unterschiede sind enorm: An die in der DDR lebenden und arbeitenden Komponisten der artifiziellen Musik sind zwar musikpolitisch die größten Anforderungen gerichtet worden, nämlich in ihrer Schreibweise die Kluft zwischen Ernster und Unterhaltungsmusik zu überbrücken, wenn nicht zu schließen, die Masse der Hörer politisch und ästhetisch im sozialistischen Sinne zu verändern. Da sie jedoch die Arbeits- und Lebensbedingungen der Volksmassen nicht kurzfristig umwälzen konnten, durch die deren musikalische Bedürfnisse wesentlich geprägt werden, waren die vorgegebenen und von manchen akzeptierten Ziele illusorisch, ihre Einflussmöglichkeiten zudem sehr gering. Die Mehrheit der mittelmäßig Komponierenden hat sich, wie bereits ausgeführt, in den Diskurs der tradierten Institution Musik integriert. Und die äußerst kleine Anzahl der avanciert und kritisch engagierten Komponisten der Neuen Musik der DDR hat die Volksmassen nicht erreicht, die Grenzen der tradierten Institution Musik nicht durchbrechen können und blieb daher weitestgehend beschränkt auf den kleinen Sektor der artifiziellen, ›inszenierten‹, ›konstruierten‹ Realität des Komponistenverbandes und der daran beteiligten professionellen Kollegen, Musiker, Musikkritiker, Kultur- und Musikfunktionäre und Musikwissenschaftler. Im Hinblick auf die produzierenden Subjekte waren Musikpolitik und -wissenschaft vor allem auf die professionellen Kollegen fixiert. Aus einem so engen Begriff vom Komponisten-Subjekt fielen ungezählte Rockmusiker heraus, die auch komponierten. Die im Verband der Komponisten herrschenden großen Widerstände gegen diese ›Dilettanten‹ sind 1986 kritisiert worden, da auf diese Weise Massenprozesse musikalischer Kreativität nicht begriffen werden können. 99 Andere Subjekte der Musikkultur der DDR waren die zahlenmäßig größere Gruppe der Interpreten: die Instrumentalisten, Sänger und Tänzer in den zahlreichen Ensembles des Landes. Sie haben als musikalisch Gebildete ausgeführt, was in den Spielplänen vorgegeben war. Die von ihnen reproduzierten Gegenstände der ob99

Günter Mayer: Zur Frage der sozialistischen Qualität der Musikkultur, in: BzMw 29 (1987), S. 159– 161, hier S. 160.

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jektiven Musikkultur waren weitestgehend dem sogenannten ›klassischen Erbe‹ zugehörig, dem Repertoire zwischen Bach/Händel und Brahms/Mahler. Der Neuen Musik gegenüber hatte die Mehrheit der Interpreten ein reserviertes, zurückhaltendes, wenn nicht ablehnendes Verhältnis. Dieses Phänomen war zudem auch ein Ergebnis der Musikpolitik, das deren Protagonisten ungewollt produziert haben: In den sehr zahlreichen Orchestern reichten die Besetzungen im allgemeinen nicht aus, um größere anspruchsvolle Werke avancierter Musik überhaupt aufführen zu können (oder, wenn gewollt, mit ausgeborgten Musikern aus anderen Klangkörpern). So konnten die älteren Musiker in ihrer Arbeit mit Neuer Musik kaum in Kontakt kommen. Die in diese Orchester vermittelten Absolventen der Musikhochschulen konnten ihre mitunter bereits höhere Qualifikation dort nicht entfalten, wurden in ihrer Entwicklung beschränkt und zurückgeworfen. Daher gingen von der großen Zahl dieser Subjekte, deren musikalische Bildung in der Regel nicht auf der Höhe der Zeit war, kaum Impulse für die Umgestaltung der tradierten Institution Musik aus. Die Leipziger Gruppe Neue Musik Hanns Eisler war da eine absolute Ausnahme. Was nun die Interpretation des sogenannten ›klassischen Erbes‹ und der spätbürgerlichen Moderne angeht, ist in den 80er Jahren, angeregt durch Äußerungen von Peter Weiss,100 in der Literaturwissenschaft der DDR im Bereich der Rezeptionsästhetik mit der Ausarbeitung einer erweiterten Realismus-Theorie begonnen worden. Das hieß, Realismus nicht nur als Schaffensmethode zu begreifen, sondern auch als eine ›realistische‹ Lektüreweise. Peter Weiss hatte in seiner Ästhetik des Widerstands auf seine proletarisch-revolutionäre Kafka-Rezeption hingewiesen, die sich von dem vulgärmaterialistischen ›Impfnadel-Modell‹ der Kommunikation qualitativ unterscheidet (Kafka beschreibt die Entfremdung, durchschaut sie aber nicht; wer ihn liest, könne daher diese Grenze nicht überschreiten. Daher sei er für die Bürger der DDR schädlich). Die ›realistische‹ Lektüreweise überschreitet diese Grenzen, weil ihr ein entwickelteres Bewusstsein der gesellschaftlichen Widersprüche, über die Entfremdung und die Perspektiven ihrer Aufhebung zugrunde liegt, was den literarischen Wert der Werke Kafkas keineswegs mindert. Auch von Hanns Eisler gab es Anregungen dieser Art: etwa in der Weise, wie er Werke von Hölderlin oder Schönberg rezipierte oder in seinen kritischen Äußerungen über die Schubert-SchumannBrahms-Rezeption bei Sängern, die er unerträglich fand. 101 Hier war ein Forschungsfeld sichtbar geworden, in welchem die Theorie des Realismus und des ›sozialistischen‹ Realismus, d. h. die Herausbildung von sozialistischen, ›realistischen‹ Qualitäten in der rezeptiven Aneignung auch von Musik enorm weiter zu fassen war: weit hinaus über die bisherige Beschränkung auf die produktionsästhetische Sicht des Gegenwartsschaffens, zwar von Bedeutung für die Komponierenden (die ja auch Hörer sind), vor allem aber von zentraler Bedeutung für die große Zahl der Interpreten des Erbes und für die große Masse der daran interessierten und darauf fixierten Hörer. Hiermit wurde deutlich, was das Entscheidende an der Fragestellung ›Was ist sozia100 101

Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands, 3 Bde., Berlin 1983. Hanns Eisler: Gespräche mit Hans Bunge. Fragen Sie mehr über Brecht, übertragen und erläutert von Hans Bunge, Leipzig 1975, S. 148 und 150.

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listischer Realismus?‹ ist: die Qualität, das Niveau der Subjektivität, der Haltung des Produzenten wie des Rezipienten. Und deren Gegenstände und Themen sind keineswegs nur die aus der geschichtlichen und jeweils gegenwärtigen Widerspruchserfahrung des Sozialismus! Dieses Forschungsfeld ist zwar angeregt worden, zu seiner theoretischen und empirischen Erkundung kam es meines Wissens jedoch nicht. Ich halte es für einen perspektivisch ganz wichtigen Gegenstand künftiger musikwissenschaftlicher Forschung. Eine weitere Gruppe von Subjekten der Musikkultur waren die an den allgemeinbildenden Schulen, an den polytechnischen Oberschulen tätigen Musikpädagogen. Es ist dies die große Gruppe von Subjekten, die der Entwicklung der Neuen Musik nicht besonders nahe stand und weitgehend bewahrend, konservativ wirkte. Was ihre Unterrichtsgegenstände in bezug auf die Neue Musik und die gegenwärtigen Musikprozesse angeht, von denen sie kaum (Neue Musik) oder gar nichts (Rockmusik z. B., mit der ihre Schüler lebten) wussten, so zeigte sich, dass nur die artifizielle Musik ganz vereinzelt in den Lehrplänen vorkam, dies aber auf einem Niveau, das 10 bis 15 Jahre zurücklag. Rockmusik war überhaupt nicht vorgesehen. Die für die Lehrpläne Verantwortlichen vertraten die Auffassung: Wir müssen erst einmal abwarten, was aus der Fülle des gegenwärtig Entstehenden sich als wertvoll herausstellen wird. Wenn dann eines solcher Werke in den Lehrplan kam, sah die relevante musikalische Realität längst anders aus. Und das war im Bereich der internationalen Popmusik erst recht der Fall. Ich habe 1986 dafür plädiert, dass ein wesentlich erweitertes Konzept vom Musikpädagogen für eine sozialistisch orientierte Musikkultur erforderlich sei: »Wir müssen sie selber als mündige Subjekte, als aktive Teilnehmer der gegenwärtigen Musikprozesse begreifen, […] sie mit so viel Selbständigkeit ausrüsten, daß sie im territorialen Musikleben und bezogen auf die musikalischen Leistungen der Massenmedien selbst auswählen und mit ihren Schülern diskutieren, was gerade vor sich geht – ohne erst eine Anleitung abwarten zu müssen, was denn nun das Wertvolle ist und wie es zu interpretieren sei.«102 Und das hätte zugleich bedeutet, sich der Musikkultur der Schüler zu öffnen, diese nicht nur verständnislos zu tolerieren, sondern sie in den gemeinsamen Prozess wechselseitiger Erfahrung einzubeziehen. Darauf waren die Musikpädagogen, bis auf ganz wenige Ausnahmen junger, engagierter Lehrer, nicht eingestellt. Es hätte bedeutet, deren Ausbildung zu reformieren. Und diese hätte ohne eine Aktivierung des politischen Interesses, also gesamtgesellschaftlichen Engagements im sozialistischen Sinne nicht erfolgreich sein können. 103 Von den herausragenden Komponisten der DDR war Paul Dessau der einzige, der viele Jahre lang in einer Klasse der allgemeinbildenden Schule Musikunterricht gegeben, ja mit den Kindern Tierverse von Brecht ›komponiert‹ hat. Es ist schließlich angeregt worden, dass die Musikpädagogen nicht nur Kinder und Jugendliche im Auge haben sollten, sondern dass eine musikbezogene Erwach102 103

Mayer: Zur Frage der sozialistischen Qualität (wie Anm. 99), S. 161. Ich habe seit 1985 in Kulturbund-Club der thüringischen Stadt Zeulenroda zu Abendveranstaltungen über Neue Musik, u. a. zu Komponisten-Gesprächen etwa mit Friedrich Schenker gezielt die Musikpädagogen eingeladen. Es ist niemand gekommen.

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senenpädagogik erarbeitet werden müsste: Man kann nicht bis zum Verlassen der Schule all das lernen, was im Laufe des weiteren Lebens an neueren musikalischen Entwicklungen stattfindet. In einer solchen Pädagogik wären die Adressaten beruflich vielseitig Tätige, lebenserfahrene Menschen, die nicht als Objekte der Erziehung, sondern als mitdenkende Partner begriffen werden müssten.104 Unter den Subjekten der Musikkultur sind nun ganz entscheidend diejenigen, die auf die Qualität der Gesamtorganisation der objektiven musikalischen Bedingungen und der subjektiven musikalischen Aktivitäten einwirken: die Musikfunktionäre. Wenn sie selber auch keine Musik produzieren oder interpretieren, so haben sie aber auf die Musikproduktion, die Musikdistribution, auf deren Austausch, auf die Darbietung von Musik und auf die Art und Weise des Umgangs mit Musik einen enormen Einfluss. Es sind diejenigen, die in den Musik-Institutionen, den Konzert- und Opernhäusern, den Konzertagenturen, in Kultur- und Jugendorganisationen, in den Klubhäusern, in den Redaktionen der Massenmedien, schließlich in den Kulturabteilungen der Parteien und des Staatsapparats auf bestimmte Anteile im Gesamt der für die Individuen erreichbaren klingenden Objekte direkten oder indirekten Einfluss haben. Sie treffen die Entscheidungen über verfügbare Finanzen, über Kompositionsaufträge, orientieren und organisieren die Programmpolitik, Festivals, Gastspiele. Sie kommentieren, werten, was gefördert, aufgeführt, gesendet, gedruckt, auf Tonträgern reproduziert wird und was nicht. Diese Gruppe hatte einen wesentlich größeren Einfluss auf die Profilierung der Musikkultur als die Komponisten, die Interpreten, die Pädagogen. Das gilt sowohl langfristig für die konzeptionelle Orientierung als auch hinsichtlich praktischer Entscheidungen, von denen die anderen Subjekte abhängig sind, auf die sie kaum Einfluss nehmen konnten. Auch diese Gruppe war infolge der in der DDR herrschenden Musikpolitik vorwiegend paternalistisch, konservativ, klassizistisch eingestellt. Es wäre allerdings sehr einseitig, die Ursache dafür nur in der engen musikpolitischen Orientierung, in den Abgrenzungsgefechten gegen die ›schädlichen‹ Einflüsse des ›Formalismus‹ und der US-amerikanischen Musikindustrie zu sehen: Diese Entscheidungsträger waren fast durchgängig wenig oder gar nicht musikalisch gebildet, waren in ihren Entscheidungen wesentlich von ökonomischen, politischen Effektivitätskriterien geleitet, daher kaum in der Lage oder willens, die innere Widersprüchlichkeit der Musikpolitik zu durchschauen oder zu kritisieren und haben sich insofern, aus Unkenntnis oder Opportunismus, dem hegemonialen Diskurs entsprechend verhalten. So hat diese Gruppe in der DDR die Herausbildung und Entwicklung einer demokratischen, weltoffenen Musikkultur, die sich politisch und musikalisch auf der

104

Mit derartigen Ideen habe ich 1986 versucht, die von Michail Gorbatschow ausgehenden In itiativen zu einer realen Demokratisierung der sozialen Beziehungen, für Offenheit (Glasnost), Kritik, solidarische Kollektivität, politisch bewusstes Verhalten in die Diskussion über sozialistische Musikkultur einzubringen, die ich bereits zeitgleich in Überlegungen zu einem Konzept sozialistischer Massenkultur formuliert hatte (in: Informationen der Generaldirektion beim Komitee für Unterhaltungskunst 3/86, Beilage August 1986, S. 4–6).

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Höhe der Zeit und der Höhe der Kunst bewegt, wohl eher behindert als in engen Grenzen befördert. Schließlich sei auf diejenige Gruppe von Akteuren der Musikkultur verwiesen, die als Rezipienten in ihrem subjektiven musikalischen Verhalten darüber entscheiden, was aus der Gesamtheit der geschichtlich objektiv vorhandenen, erreichbaren, verfügbaren Musiken in welchem Umfang und in welcher Qualität tatsächlich angeeignet wird: Es sind dies die Hörenden. Ein materialistisches Urteil über das historisch erreichte Niveau der subjektiven Kultur einer Gesellschaft muss die Gesamtheit der ›Ohren‹ in Betracht ziehen, die Angehörigen aller Klassen und Schichten des Volkes, aller Generationen der in der betreffenden Gesellschaft Lebenden. Aus der angedeuteten Übersicht über die Besonderheiten und den Stellenwert der verschiedenen Subjekte der Musikkultur ergibt sich, dass es fragwürdig erscheint, weiterhin von ›der‹ Musikkultur, von ›der sozialistischen‹ Musikkultur zu sprechen. Das Gesamtniveau einer Musikkultur wird nicht wesentlich bestimmt durch die musikalischen Gegenstände und Praktiken der Minoritäten (die Spezialisten-Kultur der Neuen Musik, die quasi hermetische Jazz-Kultur, die klassizistisch-konservative artifizielle Kultur, die Kultur der kreativen Amateure), sondern durch die musikalischen Gegenstände und Praktiken der Majoritäten (der populären Massenkultur). Letztere ist fast durchgehend auf wenig anspruchsvolle, ›leichte‹, entspannende Tanz- und Unterhaltungs-Musik, auf die Welt der Schlager, auf die vermarkteten Reste der Volksmusik und deren pseudo-volkstümliche Derivate fixiert. Im Unterschied zu den Kulturen der Minoritäten ist die musikalische Aneignung hier weder evolutiv noch bewahrend konservativ, sondern eher statisch, regressiv. 105 Davon zu unterscheiden wären die Phänomene musikalischer Praxis im weiten Bereich der Jugendkultur – der Rockmusik, des Jazz und der Bewegung des politisches Liedes –, die demgegenüber auf spezifische Weise, anders als die elitäre Neue Musik, zeitweise dynamisch, kreativ und insofern auch evolutiv sind. In diesen beiden Sektoren der musikalischen Massenkultur war das Hören in der DDR wesentlich geprägt und bewegt durch die Produkte der kapitalistisch formierten Kultur- und Unterhaltungsindustrie, gegenüber der die im Lande unternommenen Versuche, eine eigenständige Tanz- und Unterhaltungsmusik zu entwickeln, keine Chance hatten. In der Rockmusik war die Lage etwas anders. 106 Da die Institutionen der DDR auf diese, durch die Reichweite der technischen Medien des ›Westens‹ in den Ohren der Volksmassen zunehmend präsenten, lebendigen Bestandteile der objektiven Musikkultur keinen gestaltenden Einfluss im sozialistischen Sinne hatten, gab es lediglich Versuche, diesen ideologischen Fremdeinflüssen durch Verbote, Kampagnen (etwa gegen Beat, Punk und ähnliche Erscheinungen im Lande) zu be105

106

Vgl. Theodor W. Adorno: Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens (= Gesammelte Schriften 14), Frankfurt a. M. 1973, S. 14–50; Günter Mayer: Wirklichkeit – Wahrnehmung – Ästhetisch. Zur Differenzierung der Theorie ästhetischer Praxis, in: Das Argument 40 (2000), S. 533–540. Vgl. Günter Mayer: Popular Music in the GDR, in: Journal of Popular Culture, Vol. 18/3 (winter 1984), Ohio, S. 145–158.

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gegnen. Sie sind bekanntlich erfolglos geblieben und seit den 70er Jahren aufgegeben worden. Wie in einer sozialistisch orientierten Gesellschaft auf diese, das musikalische Verhalten der Volksmassen sehr stark prägende Wirkung der ›Fremdmedien‹ mit den durch eigene Politik beeinflussbaren Maßnahmen, auch in den ›eigenen‹ Medien, sinnvoll zu reagieren sei, war eine mit der Entwicklung der DDR zunehmend schwierige Frage. Diesbezüglich gab es seit den 80er Jahren Ansätze, in der Rezeptionsästhetik die Eigenständigkeit der rezipierenden Subjekte mit der Frage nach ›realistischer‹, sozialistisch orientierter Lektüreweise theoretisch herauszuarbeiten, in der Medientheorie gab es mit der Rückbesinnung auf Brechts Radiotheorie konzeptionelle Ansätze zur Veränderung der Programmpolitik und Sendepraxis. 107 Für geschichtsmaterialistische Positionen sind Massenphänomene dieser Art, ihr quantitativer und qualitativer Stellenwert in der Musikgeschichte eines Landes ein ganz zentraler Gegenstand der Historiographie. Das hatte Georg Knepler in seiner Kritik an der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts von Carl Dahlhaus deutlich betont. Dessen Entscheidung, dass die ›Trivialmusik‹ zum Darstellungsgegenstand einer Musikgeschichte kaum oder nicht gehöre, weil dergleichen ›niedere‹ Musik zwar sozial und psychologisch interessant, ästhetisch aber unerheblich sei, wies Knepler zu Recht zurück. Anfechtbar sei, dass der Sammelbegriff ›Trivialmusik‹ sehr Heterogenes zusammenfasst. Schließlich sei die Einteilung von Musik, deren einer Teil Musikästhetiker und Musikhistoriker, deren anderer nur Kultur-, Sozial- und Psychologiefachleute zu beschäftigen habe, irrtümlich: »Sozialgeschichtliche, psychologische und andere Kriterien müssen an jede Musik herangebracht werden, auch an die höchste; umgekehrt, ästhetische Kriterien sind auch bei der niedrigsten unentbehrlich.«108 Von Dahlhaus war in der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts die unübersehbar große Schicht weggelassen worden, die weder als ›Volksmusik‹ noch ganz als ›komponierte‹ zu begreifen ist: Traditionelles; Stücke, die einen historisch neuen Ton anschlagen (Gassenhauer, Lieder aus Theaterstücken, aus Kabarett, Kneipen und Vorstadt-Cafés), Selbständiges versuchend und meist nicht erreichend, Blicke in Bereiche des Lebens freigebend, die nicht trivial sind. Dahlhaus stellte sich nicht dem Widerspruch, »daß sich Millionen in bestürzender, rührender Weise mit schlechter Musik identifizieren und ihr dadurch einen Nimbus verleihen, den als schmerzlich empfindet, der weiß, daß sie zwar oft Metier verrät, gelegentlich Talent (manchmal sogar großes) durchschimmern läßt […] und dennoch, gemessen an dem, was gleichzeitig von anderen geleistet wurde, als rückständig, ja schäbig zu bezeichnen ist.« 109 Knepler forderte, dass diese komplizierten, widersprüchlichen Zusammenhänge ernstgenommen werden müssten: soziologisch, kulturgeschichtlich, psychologisch und ästhetisch, also nicht nur an die Sozialwissenschaften und Psychologen überwiesen werden sollten. Die Fragen, die er im Hinblick auf die Musikgeschichte des 107 108 109

Mayer: Zur Frage der sozialistischen Qualität (wie Anm. 99). Knepler: Über die Nützlichkeit marxistischer Kategorien (wie Anm. 5), S. 32. Ebd., S. 34.

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19. Jahrhunderts stellte, dürften für die zu schreibende Musikgeschichte der Musik in der DDR vergleichsweise auch heute noch aktuell sein: »Kann wirklich, was drei Viertel aller Menschen im 19. Jahrhundert als Musik empfanden, als ›pseudomusikalisches Phänomen‹ […], als ›Nicht-Kunst‹ […] abgetan werden?« 110 Es waren in der DDR vermutlich wesentlich mehr als drei Viertel aller Einwohner, zu deren Leben ›populäre‹ Musik verschiedener Traditionen verschiedener Genres und – anders als im 19. Jahrhundert – weitgehend Musik internationaler, anglo-amerikanischer Herkunft gehörte. Daher war es für jüngere, marxistisch orientierte Musikwissenschaftler selbstverständlich, populäre Musik nicht – wie gehabt – als ›ideologische Konterbande des Imperialismus‹ zu behandeln, sondern ernsthaft als Problem der Musikhistoriographie zu thematisieren.111 Und es war selbstverständlich, dass die Einbeziehung der populären Musik in die Musikhistoriographie nicht bedeuten konnte, die unterschiedlichen Musikbegriffe und Musiziertypen der populären Musik einfach der archivalischen Vollständigkeit wegen in die Darstellung aufzunehmen: »Wie sich diese zueinander verhalten, und welche soziale, ästhetische und politische Qualität ihnen immanent ist, das ist bisher nicht ausgemacht und führt auf den alten Glaubensstreit von ›U‹ und ›E‹ zurück.« 112 Peter Wicke ergänzt: »Selbst der Bezug auf die klassenspezifische Determination kultureller Prozesse als auch der Musikkultur(en) führt einer Lösung hier nicht viel näher, denn die bestehenden Musiziertypen lassen sich nicht einfach pauschal der einen oder anderen Klassenkultur zuschlagen, um auf diese Weise dann den Klassenkonflikt zur sozialen Klammer zwischen populärer Musik und Kammermusik, Sinfonik, Oper usw. zu machen. So sind die verschiedenen Formen populärer Musik historisch eben nicht einfach der lineare Ausdruck des Industrieproletariats und seiner Lebensweise.«113

Damit kritisierte Wicke zu Recht die 1976 erschienene Geschichte der Pop-Musik der westdeutschen Linken Klaus Kuhnke, Manfred Miller und Peter Schulze. Die entscheidende Frage war die, dass »der soziale und politische Stellenwert der Massen als Repräsentanten des gesellschaftlichen Fortschritts zur Frage zwingt, was sich daraus an Konsequenzen für den Kunstfortschritt ergibt«. 114 Wenngleich die Massen in dieser Sicht – wie in jenen Jahren üblich – mit dem Blick auf die ›historische Mission‹ der Arbeiterklasse in ihrer Funktion für den gesellschaftlichen Fortschritt auch in Wickes Konzeption theoretisch idealisiert worden sind, sehe ich darin bleibende Anregungen, um über die Kategorie der Popularität zu

110 111 112 113 114

Ebd. Peter Wicke: Populäre Musik als Problem der Musikhistoriographie, in: BzMw 26 (1984), S. 208–213. Ebd., S. 210. Ebd. Ebd., S. 209.

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reflektieren115 und über die Ideen des Fortschritts in anderen Dimensionen als in der neuerdings postmodernen Version nachzudenken.116 Als Ergebnis einer der hier formulierten persönlichen, kritischen und selbstkritischen geschichtsmaterialistischen Reflexion über die Musik der DDR und die Musik in der DDR ergibt sich ohne bereits vorliegende Forschungsergebnisse im Vergleich zu überlieferten Selbstdarstellungen ein ziemlich ernüchternder Befund. Dennoch meine ich, dass sich in einigen Resultaten der Musikkultur der DDR ›sozialistische‹ Elemente ausgeprägt haben, die in der zu schreibenden DDR-Musikgeschichte nicht nur vorkommen sollten, sondern auch in der nun herrschenden ›bürgerlichen‹ Musikkultur perspektivisch ›aufgehoben‹ werden sollten. Ich nenne nur einige Beispiele: Die bewusst niedrig gehaltenen Preise für Konzert- und Opernbesuche waren eine soziale Leistung, die viele Menschen der arbeitenden Bevölkerung das Erlebnis anspruchsvoller Musik ermöglicht hat, die sich das früher (und heute wieder) finanziell nicht haben leisten können. Diese wenn auch geringfügige Erweiterung des Musikpublikums hat zwar die Grundwidersprüche nicht lösen können, sollte aber 115

116

»Popularität als Kriterium für musikalische Praxis zielt aber mit dem Bezug auf die quantitative Wirksamkeit von Musik immer zugleich auch auf einen bestimmten sozialen Produktions-, Funktions- und Wirkungszusammenhang, aus dem ihre quantitative Wirksamkeit hervorgeht und in dem sie vermittelt ist. Hinter der quantitativen Wirksamkeit, also der Popularität von Musik, steht immer ein Komplex von sozialen Faktoren, eine bestimmte soziale Qualität von musikalischer Praxis, die sich in der sozialen Organisation des Musizierens, des musikalischen Kommunikationsprozesses in seiner Gesamtheit und in der Struktur jener Verhältnisse, die zur Ausübung und Aneignung von Musik in Gesellschaft eingegangen werden müssen, ausdrückt. So setzt die massenhafte Wirksamkeit von Musik ihre massenhaft vervielfältigte Existenz und damit die Massenmedien voraus. […] Versteht man die Entwicklung der populären Musik […] als die musikalische Konsequenz aus den Bedingungen, die sozial, technisch und ökonomisch mit der sich entfaltenden Medientechnologie verbunden sind, […] dann lenkt das den Blick auf die materiellen Bedingungen und Verhältnisse sozialer Kommunikation überhaupt.« (Ebd., S. 211). »Wenn aber gilt, was Marx […] als universelles Entwicklungsgesetz menschlicher Produktivität geltend gemacht hat, nämlich ihre fortschreitende Entfaltung in Arbeitsteilung und Kooperation als Potenzierung menschlichen Gattungsvermögens […], dann ist von den in diesem Sinne fortgeschrittensten allgemeinen Bedingungen sozialer Kommunikation auch die Frage nach dem Fortschritt in der Musik neu zu stellen: dann definiert sich Fortschritt auch hier eben nicht eo ipso nach den traditionellen Kriterien größtmöglicher Differenziertheit des musikalischen Materials oder größtmöglicher Originalität, und auch nicht simpel nach der vermeintlichen oder tatsächlichen, intendierten oder als Wirksamkeit realisierten Nähe zu den politisch fortschrittlichen sozialen Kräften der Gesellschaft, sondern nach dem gleichen universellen Entwicklungsgesetz durch den Grad der Vergesellschaftung, dem in der sozialen Organisation des Musizierens entfalteten Grad der Arbeitsteiligkeit und Kooperation, als Entwicklung weg von einem individuell verfügten und hierarchisch gegliederten Kommunikationsmodell zu einem kollektiv und kooperativ aufgebauten, wie es ansatzweise etwa den entwickeltsten Formen der Rockmusik oder dem Jazz zugrunde liegt. Freilich keine dieser beiden Musiziertypen […] hat angesichts ihrer dominant durch den kapitalistischen Warentausch vermittelten Realisierung die darin liegenden ästhetischen Möglichkeiten bisher tatsächlich zum Tragen gebracht.« (Ebd., S. 212).

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nicht als Zwangsmaßnahme, als Ergebnis der ›Diktatur‹ der Funktionäre abgewertet werden. Im Bereich der artifiziellen Musikproduktion war das funktionszentrierte kritische Komponieren in der DDR – im Unterschied zum materialzentrierten kritischen Komponieren in der BRD – eine eigenständige Entwicklungstendenz von bleibendem Wert, die daher auch nach dem Staatsbankrott der DDR von einigen avancierten Komponisten fortgesetzt worden ist (Bredemeyer, Katzer, Schenker, Glandien) und erhalten bleiben sollte. Im Bereich ›progressiv einfachen‹, tendenziell kollektiven Komponierens sind in der DDR besonders im funktionszentrierten kritischen Bereich des politischen Liedes und der Rockmusik – ähnlich wie in nicht-sozialistischen Ländern – Musiken und Veranstaltungsformen entstanden, an die anzuknüpfen wäre und angeknüpft wird: Das in der DDR-Musikkultur besonders für die politisch interessierte Jugend attraktive, internationale Festival des politischen Liedes, das seit 1971 bis 1990 jedes Jahr im Februar in Berlin stattfand (in welchem auch Komponisten der artifiziellen politischen Musik mit einigen ihrer Arbeiten zu hören und zu diskutieren waren), und zunächst mit dem Ende der DDR verschwand, gibt es seit 2004 wieder regelmäßig als internationales Festival ›Musik und Politik‹. Im Bereich musikalischer Bildung und Weiterbildung gab es zahlreiche Aktivitäten, die in einer zu schreibenden Musikgeschichte der Musik in der DDR nicht fehlen sollten: Ich erinnere an das einsame Beispiel, das Paul Dessau mit seinem Engagement in der schulischen Musikerziehung gegeben hat. Die Ergebnisse dieser Tätigkeit sind in gedruckter Form dokumentiert.117 Im November 1961 fand in Eisenhüttenstadt eine populärwissenschaftliche Tagung statt, an der rund 200 Musiker, Musikwissenschaftler, Komponisten, Dirigenten, Musikpädagogen sowie Funktionäre der Massenorganisationen, der staatlichen Organe, der Rundfunks und der Verlage teilnahmen, um über die Funktion von Wort und Schrift im Dienste des Musikverständnisses zu beraten. Dabei sind gesprochene Einführungen, Einführungen in Jugendkonzerte, die musikalisch bildenden Sendungen des Rundfunks, Textbeilagen zu Schallplatten, Konzertprogramme, populärwissenschaftliche Reihen kritisch analysiert worden. 118 Dieser frühe Versuch, der dem ähnlich war, den Adorno in seinem Radio Research Project Ende der 30er Jahre in den USA begonnen hatte (der natürlich damals in der DDR nicht bekannt sein konnte, da Adorno erste Ergebnisse daraus erstmalig 1963 in der BRD veröffentlicht hatte)119, ist meiner Auffassung nach ein positives Erbe, ein Aufgabenfeld 117

118 119

Paul Dessau: Musikarbeit in der Schule, Berlin (Ost) 1968; vgl. auch den Dokumentarfilm von Richard Cohn-Vossen: Paul Dessau. Über die aufbauende Unzufriedenheit eines Komponisten, DEFA-Studio für Wochenschau und Dokumentarfilme, Berlin (Ost) 1967. Vgl. Musik und Gesellschaft 12 (1962); BzMw 4 (1962). Gemeint ist das Buch Der getreue Korrepetitor. Lehrschriften zur musikalischen Praxis. Die diesbezüglichen Texte aus dem Nachlass sind erst 2006 unter dem Titel Current of Music veröffentlicht worden. Theodor W. Adorno: Current of Music: Elements of a Radio Theory (= Nachgelassene Schriften, Abt. 1: Fragment gebliebene Schriften 3), hg. von Robert Hullot-Kentor, Frankfurt a. M.

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von bleibender Aktualität, das in der Musikwissenschaft als Forschungsfeld noch nicht einmal hinsichtlich der bereits vorliegenden Ergebnisse ausgewertet, geschweige denn weitergeführt worden ist. Veranstaltungen der öffentlichen Meinungsbildung über Musik und Musikentwicklung gab es in den vielen Zusammenkünften nicht nur des Komponistenverbandes, sondern auch zum Beispiel in den Clubs des Kulturbundes der DDR, die in allen größeren und kleinen Städten des Landes existierten. Deren Aktivitäten sind durch die ehrenamtlich tätige Zentrale Kommission Musik beim Präsidialrat des Kulturbundes koordiniert worden. Den Freundeskreisen wurde etwa im Beethoven-Jahr 1977 in einer landesweiten Konferenz durch Harry Goldschmidt der Stand der internationalen Beethoven-Forschung vermittelt. Es gab z. B. eine Modell-Veranstaltung der gemeinsamen, sinnvollen Einbeziehung von Fernseh-Konzerten bedeutender Interpreten in die Clubarbeit, die man am Ort nicht hätte engagieren, erst recht nicht hätte bezahlen können. Die Leitung der Gewerkschaft der DDR organisierte für die in den Betrieben und Verwaltungen tätigen Kulturfunktionäre mehrere einjährige Intensivkurse. Zu deren Programm gehörte ein thematischer Block ›Musikgeschichte von der Renaissance bis zur Gegenwart‹. Dafür standen zwei Wochen zur Verfügung, die jeweils im Herbst/ Winter in einem der Ferienheime der Gewerkschaft stattfanden. Diese Kurse wurden realisiert von Harry Goldschmidt, einmal assistiert von Georg Katzer, zweimal assistiert von mir. Hier wurde die Neue Musik ohne Einschränkungen einbezogen. Es gab erregte Diskussionen und bleibende Wirkungen: Manch einen der Teilnehmer habe ich später in Konzerten wiedergetroffen. Schließlich sei auf die Leistungen der Musikverantwortlichen von Radio DDR II verwiesen: Hier gab es viele Jahre hindurch live oder leicht versetzt Gespräche über Uraufführungen, über theoretische Probleme (etwa über das Verhältnis von Musik und Sprache), an denen Komponisten, Interpreten, Wissenschaftler, interessierte Hörer teilnahmen. Mit diesen Formen ist der Rundfunk nicht nur als einseitiges Distributionsorgan benutzt worden, sondern als Produktionsstätte musikbezogener Kommunikation, der kollektiven Meinungsbildung über Musik, so etwa wie Bertolt Brecht und Walter Benjamin das bereits in den 30er Jahren, Hans Magnus Enzensberger 1970 gefordert hatten. (Meines Wissens sind die diesbezüglichen Akten des Kulturbundes, der Gewerkschaft und des Rundfunks erhalten und für wissenschaftliches Arbeiten zugänglich.) Damit ergibt sich von der Sache her in meiner Sicht ein letzter Zugang zu der zu schreibenden Geschichte der Musik der DDR, der Musik in der DDR. Es ist dies C. der mediengeschichtliche Zugang: Im Allgemeinen wird der Zusammenhang von Musik und ›Medien‹ unter dem Gesichtspunkt ihrer technischen Reproduzierbarkeit gesehen und darauf hingewiesen, dass die audiovisuellen Kommunikationsmittel als technische Apparaturen und die durch die Institutionen, die ›Apparate‹ Rundfunk und 2006. Vgl. dazu Günter Mayer: Über Radio und Filmmusik. Zu Büchern von Adorno und Eisler, in: MusikTexte, H. 113 (Mai 2007), S. 74–78.

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Fernsehen ermöglichte Vermittlung von Musik an große Massen von Rezipienten die Existenzbedingungen von Musikkultur tiefgreifend verändern. Dabei ist die Aufmerksamkeit konzentriert auf die technisch vermittelte Distribution von Musiken, die ihre Rezeption, den Musikgenuss infolge der nun viel größeren Reichweite demokratisiere. Dass die ›übertragene‹ Musik und das Hören selbst sich dabei vom LiveErlebnis in vieler Hinsicht unterscheidet, hat Adorno in seiner Radiotheorie ausführlich analysiert.120 Das aber ist noch längst nicht ins musikwissenschaftliche Denken eingegangen. Was aber auch bei Adorno im Grunde fehlt, ist die Frage, inwieweit mit dem geschichtlichen Aufkommen dieser technischen Apparaturen und ›Apparate‹ nicht nur die technische Reproduzierbarkeit von Musik möglich und real geworden ist, sondern auch deren technische Produzierbarkeit. Hierbei geht es also um die Fragen, wie das Musizieren in den hochentwickelten Studios tatsächlich organisiert ist, wie der Produktionsprozess, Komponieren also, erfolgt, wenn er arbeitsteilig in einzelne ›takes‹ zerlegt wird und der Gesamtprozess eine solche Komplexität erreicht, dass er von einem Komponisten traditioneller Prägung mit dem ihm eigenen Instrumentarium notenschriftlicher Fixierung nicht mehr realisiert werden kann, ja dieses nicht nur nicht mehr ausreicht, sondern nicht mehr erforderlich ist, und welche Konsequenzen das für die ästhetische Gestalt der ›Werke‹ hat, für die auch keine Interpreten mehr erforderlich sind. Denken wir nun die Entwicklungsgeschichte von Komposition und Interpretation im Kontext der Geschichte der Medien, so ergibt sich eine wesentliche Erweiterung des Horizonts und eine Verschiebung der Werte. Mit der seit der Mitte des 20. Jahrhunderts sich entfaltenden Medienrevolution ist nicht nur ganz allgemein eine neue Qualität der Produktivkräfte überhaupt entstanden, sondern auch eine neue Qualität der musikalischen Produktivkräfte. Es ist der allmähliche Übergang von der Verschriftlichung der Musik zu ihrer Elektrifizierung. Hat die Herausbildung und Durchsetzung der Notenschrift vor über eintausend Jahren alle Bereiche der Musikkultur tiefgreifend umgewandelt, die eigentliche Geschichte des Komponierens eröffnet, die Entwicklung des musikalischen Denkens qualitativ verändert usw., so führt deren Aufhebung durch die historisch neue Möglichkeit der Elektrifizierung der musikalischen Produktion wiederum zu qualitativen Veränderungen des musikalischen Denkens, der Existenzweise von Musik, der Art ihrer Wahrnehmung. Ich muss das hier nicht weiter ausführen, weil all dies weitgehend bekannt sein dürfte. Es soll aber im Zusammenhang mit der zu schreibenden Musikgeschichte der DDR darauf hingewiesen werden, dass diese Umwälzungsprozesse in dem in der DDR 1987 publizierten Buch Ästhetik der Kunst bereits ausführlich dargestellt worden sind, sowohl im Hinblick auf die Entwicklung der artifiziellen elektro-akustischen Musik und ihre damals international bekannten Komponisten und deren Produktio-

120

Adorno: Current of Music, ebd.

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nen als auch im Hinblick auf die Popmusik und ihre damals international herausragenden Akteure und deren Produktionen.121 Aus diesem mediengeschichtlichen Rückblick ergibt sich nun ein für die Beurteilung der Musikentwicklung in der DDR weiterer ernüchternder Befund: Im Hinblick auf die Entwicklung kompositorischen Denkens ist die sogenannte und viel umstrittene ›Materialrevolution‹ um 1909/1910 von den aufgeklärten Musikern und Musikwissenschaftlern zutreffend als eine qualitative Umwälzung begriffen worden. Im Hinblick auf den mediengeschichtlich bedeutsamen Übergang von der verschriftlichten Musik zum ›sound-recording‹ ist die ›Materialrevolution‹ nur noch von untergeordneter Bedeutung. Sie hat zwar die verschriftlichte Musik bis an ihre Grenzen geführt und wesentliche Züge der elektrifizierten ›vorweggenommen‹ (A-Tonalität; AMetrik; A-Thematik; A-Motivik; die offene Form – Prozessualität statt Dramaturgie, Proportionierung statt Teiligkeit –; das offene Material), blieb aber im geschichtlich überkommenen Diskurs-System der spätbürgerlichen Musikkultur. Diese prägt immer noch das herrschende Musikbewusstsein der komponierenden, interpretierenden und hörenden Eliten sowie der Musikfunktionäre, ist aber unter mediengeschichtlichem Gesichtspunkt längst überholt. Die historisch-materialistische Nüchternheit führt zwangsläufig zu der Einsicht: Die ›Elektrifizierung‹ ist, ausgehend von den avancierten Studios elektro-akustischer Musikproduktion, weit darüber hinaus zu einer in der weltweit wirkenden populären Musik längst vorherrschenden Praxis geworden und formiert in diesen Formen die kreativen Aktivitäten vieler junger Musiker und ›genialer Dilettanten‹, deren Wege zur Professionalisierung und vor allem allgemein die musikalische Erfahrung und Praxis der Massen des Volkes. Selbst die akustisch-musikalischen Äußerungen der vielen Tausend Fans in den Fußball- und Eishockey-Stadien sind eine inzwischen musikgeschichtlich relevante Tatsache, die bisher kaum wahrgenommen worden ist.122 121

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Das entsprechende Kapitel hat die Überschrift: »Von Musik in den Medien zu Musik für die Medien. Gedanken zu einer Ästhetik ›radiogener Musik‹«. Die inhärenten Qualitäten des ›recording‹, die es als neues Mittel der Speicherung von Musik und der musikalischen Produktion von der Notation unterscheiden, sind mit dem Hinweis auf die Arbeiten des marxistisch orientierten englischen Rockmusikers und Theoretikers der Popmusik Chris Cutler wie folgt charakterisiert worden: 1. Recording führt die musikalische Produktion zurück in den Bereich des Ohres. Das wichtigste ist wieder der Klang; 2. Recording ermöglicht die Sammlung und/oder Manipulation von Klängen sowie von aktuellen Aufführungen auf empirischem Wege. Das Studio wird zum Instrument der Veränderung, der auswählenden Hinzufügung, Löschung, Umformung usw.; 3. Recording ist ein Medium, in welchem Improvisation die Möglichkeit von Komposition in sich enthält oder durch nachfolgende Arbeit in Komposition transformiert werden kann; 4. Im Recording sind die konstruktiven Entscheidungen konkret und empirisch. Sie können durch Diskussion erreicht werden. Eine ganz persönliche Auffassung kann Bestandteil einer kollektiven Aktivität werden. Es ist ein Medium, das kollektive Arbeit, kollek tives Komponieren befördert. Vgl. Pracht (Hg.): Ästhetik der Kunst (wie Anm. 49), S. 96ff. Eine absolute Ausnahme ist das Buch von Reinhard Kopiez und Guido Brink: Fußball-Fangesänge. Eine Fanomenologie, Würzburg 1998.

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Das, was infolge der rasanten Entwicklung der Produktivkräfte (innerhalb des totgesagten Kapitalismus) inzwischen als ›digitale Revolution‹ sich vollzogen hat und vollzieht, hat auch bewirkt, dass die Volksmassen, d. h. die herrschenden Klassen wie auch die nicht-herrschenden, also sowohl die verschiedenen Fraktionen der Unternehmer, der sogenannten Arbeitgeber, als auch die verschiedenen Schichten der sogenannten Arbeitnehmer in allen Zweigen der Produktion, in allen Institutionen und die Masse der noch nicht in den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess einbezogenen Jugend bzw. der aus diesem bereits ausgeschiedenen Arbeitslosen, Arbeitsunfähigen, Rentner usw. in den breiten Strom der elektrifizierten Musik eingesogen worden sind und werden. Mit der immer weiter fortschreitenden Miniaturisierung und Verbilligung der technischen Apparaturen konnten und können diese vor allem von jungen Leuten auch kreativ genutzt werden – allerdings nicht nach den ästhetischen Kriterien, die von der Hochkunst her bislang gegolten haben. Das erfolgt weitgehend unabhängig von den tradierten Musik-Institutionen, konnte auch durch die von der Parteibürokratie der DDR beherrschte Musikpolitik nicht ganz unterdrückt werden. Diese historische Situation einer das ganze Volk erfassenden Musik unterscheidet sich deutlich von der Volksmusik früherer Zeiten. Zudem auch, weil das, was sich ›unten‹ kreativ, mitunter kritisch äußert, durch die Popmusikindustrie ›oben‹ profitorientiert aufgesaugt und vermarktet, damit zwar verbreitet, aber system-stabilisierend neutralisiert wird. Die hier angedeutete Umwälzung ist eine geschichtlich sehr weit reichende, nur sehr allmählich sich durchsetzende, unabhängig davon, ob die Musikhistoriker sie in ihrer Tragweite bereits begriffen haben oder nicht. Die digitale Revolution ist im Hinblick auf ihre umwälzenden, widersprüchlichen Erscheinungsformen zutreffend verglichen worden mit dem langen geschichtlichen Zeitraum des Übergangs von der Natural- zur Geldwirtschaft. Dieser Prozess hat mit der Elektrifizierung der Musik bereits in den 20er und 30er Jahren begonnen und hat mit dem Übergang zur Digitalisierung eine qualitativ neue Phase erreicht. In unserem Zusammenhang von Musikhistoriographie dürfte sich nun als Folgerung ergeben: Die Musikkultur der DDR war in der längsten Zeit ihrer Existenz sowohl im Hinblick auf die bewusste Aneignung des historisch Neuen der ›Materialrevolution‹ nicht auf der Höhe des Möglichen und erst recht nicht geleitet von der Einsicht in die Konsequenzen, die sich aus der ›Elektrifizierung‹ der Musik bereits seit den 70er Jahren abgezeichnet haben: Die darin enthaltenen Potentiale einer ›Demokratisierung‹ der Musikproduktion sind nicht erkannt worden, obwohl sie in der Popmusik längst gängige Praxis waren. Diese Zurückgebliebenheit gab es in der DDR und ebenso in der BRD, in welcher der gewisse Anteil elektro-akustischer Musik im artifiziellen Bereich an diesem allgemeinen Befund nichts ändert. In der DDR ist allerdings direkt kontraproduktiv reagiert worden: Das bis in die Mitte der 60er Jahre in Berlin-Adlershof existierende elektronische Studio des Rundfunks, in dem als erster der avancierte, politisch links engagierte Pianist und Komponist Frederic Rzewski gearbeitet hat, auch Siegfried Matthus, ist bald aufgelöst und

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GÜNTER MAYER

nur noch für Trickfilme und Werbespots benutzt worden. Georg Katzer, einer der ganz wenigen Komponisten, die die neue Qualität elektro-akustischen Produzierens sich angeeignet hatten (auch Paul Heinz Dittrich, Lothar Voigtländer und Ralph Hoyer sind hier zu nennen), konnte 1976/1977 nur in den Studios von Bosvil (Schweiz), in den Experimentalstudios für elektronische Musik in Warschau, in Bratislava, Stockholm und Belgrad arbeiten. Erst Mitte der 80er Jahre gelang es ihm, an der Akademie der Künste in Berlin (Ost) ein arbeitsfähiges Studio aufzubauen. Auch die diesbezügliche Haltung und Praxis von Luigi Nono ist nicht wirklich begriffen worden, obwohl er zur DDR eine positive Grundeinstellung hatte, mit Paul Dessau befreundet war und als korrespondierendes Mitglied der Akademie der Künste der DDR vor allem wegen seiner politischen Position in der italienischen Kommunistischen Partei offiziell respektiert worden war. Dennoch, seine Musik ist partiell in der DDR, von den Funktionären mehr geduldet als akzeptiert, präsent gewesen: sowohl die Fabbrica illuminata als auch das Streichquartett Fragmente – Stille. An Diotima. Beispielsweise gab es am 19. Mai 1967 in der Veranstaltung ›Elektronische Klangkunst II‹ einen Abend im Plenarsaal der Akademie der Künste der DDR in Berlin, in welchem La Fabbrica illuminata nach jeweils einführenden Bemerkungen (durch mich) zweimal (ohne die Sängerin) ›aufgeführt‹ worden ist. Die historisch neue Qualität der Arbeiten von Luigi Nono bestand ja gerade darin, dass er erstens die Grenzen der traditionellen Institution Musik durchbrochen, zweitens die Potentiale der technischen Produzierbarkeit von Musik freigesetzt hat und dass diese neue Qualität zugleich politisch motiviert war, nicht im Sinne des üblichen klassizistischen Konzepts von politischer Konzertsaal-Musik, sondern mit der Intention, die Einheit von politischer und musikalischer Avantgarde mit einer Umwälzung der tradierten Institution Musik in Richtung auf neue Adressaten und Partner, die Arbeiter, zu verbinden. Das ist nicht nur in der DDR nicht begriffen worden. Die in der marxistisch orientierten ›Berliner Ästhetik‹ der Humboldt-Universität beschriebenen internationalen Umwälzungen der ›Medienrevolution‹ hatten keinen Einfluss auf die herrschende Musikpolitik, 123 ebensowenig die differenzierte Kritik an den vom Verband der Komponisten entworfenen Perspektiven der sozialistischen Musikkultur (siehe Kulturbund, Zentrale Kommission Musik) oder auch die aus der Medienrevolution allgemein abgeleitete scharfe Kritik der herrschenden Informationspolitik, der dementsprechenden Orientierung der sogenannten Massenmedien, d. h. der ›Apparate‹, Rundfunk, Fernsehen. Angesichts der zunehmenden Dominanz der ›Fremd-Medien‹ ist im Interesse von notwendigen Veränderungen der politischen Kultur im Lande empfohlen worden: konsequente Aktualisierung, Dialogisierung, Kreativisierung und Popularisierung. 124 All solche Initiativen konnten keinen Einfluss haben, da das notwendige Umdenken eine relativ lange Zeit erfordert hätte. Diese Zeit hatte die DDR nicht mehr. 123 124

Pracht: Ästhetik der Kunst (wie Anm. 49). Mayer: Zur Frage der sozialistischen Qualität (wie Anm. 99).

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Immerhin war es in der DDR gelungen, am Bereich Musikwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin im Herbst 1983 das in Deutschland erste Zentrum zur Erforschung populärer Musik zu installieren.125 Dieses hatte zudem engste Kooperationsbeziehungen zur 1983 gegründeten, linksorientierten ›International Association for the Study of Popular Music‹.126 Es zeigt sich: Auch am Beginn des 21. Jahrhunderts bewegt sich die nun herrschende bürgerliche Musikkultur in den überkommenen Strukturen, in den Bahnen der sich weiter ausdifferenzierenden, aber historisch auslaufenden verschriftlichten Musik. Selbst das Reflektieren über Musik ist weiterhin zentriert auf die artifizielle Musik und steht den Massenphänomenen der ›elektrifizierten Musik‹ weitgehend ahnungslos und hilflos gegenüber. Mit dem Staatsbankrott der DDR und ihrem Anschluß an die BRD war der erste praktische Versuch, in Deutschland eine sozialistisch formierte Gesellschaft und eine ihr entsprechende Musikkultur aufzubauen, gescheitert. Was, wann, auf welchen Ebenen, in welcher Qualität in der DDR im allgemeinen und in deren Musikkultur im besonderen sozialistisch war, ist umstritten. Unbestritten ist, dass die DDR verschwunden ist. Nicht verschwunden sind die Erfahrungen, die ihre ehemaligen Bürger auf unterschiedliche Weise gemacht haben und auf die sie nun auf unterschiedliche Weise zurückblicken. Nicht verschwunden ist die Möglichkeit, die Geschichte der DDR und die Geschichte der Musiken in ihr, mit der geschichtsmaterialistischen, dialektischen Methode von Marx zu erforschen und darzustellen. Ebenfalls nicht verschwunden ist die Möglichkeit, unter den Bedingungen der nun wieder herrschenden, kapitalistisch formierten Gesellschaft von pro-sozialistischen, ›realistischen‹ Positionen her Musik zu komponieren, zu interpretieren und zu hören.

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Für den Zeitraum bis 1990 lagen die Schwerpunkte der Forschung auf der Untersuchung des sozialen Gebrauchs von Rockmusik durch Jugendliche (in Kooperation mit dem musikwissenschaftlichen Institut der Universität Göteborg/Schweden), auf der Analyse institutioneller und medienspezifischer Aspekte der populären Musik, ihrer Organisation als internationaler Industrie und auf der historischen Aufarbeitung ihrer aktuellen Entwicklungserscheinungen als Vor aussetzung für die weitere Qualifizierung der Lehre an Hochschulen und Universitäten. Vgl. BzMw 26 (1984), S. 281. Da in den bestehenden internationalen Musik-Organisationen die populäre Musik als Gegenstand nicht vorkam, ist auf Initiative von Phillip Tagg (Göteborg), Gerard Kempers (Amsterdam) und David Horn (Exeter) die Gründung einer internationalen Assoziation zur Erforschung populärer Musik vorbereitet worden. Ich war auf deren Wunsch als einziger Vertreter aus sozialistischen Ländern daran beteiligt. Um die Institutionen in den übrigen sozialistischen Ländern von der politischen und fachlichen Vertrauenswürdigkeit dieser neuen Organisation zu überzeugen, bin ich 1983 auf deren Gründungsveranstaltung in Reggio Emilia (Italien) zum Chairman gewählt worden, eine Funktion, die ich bis 1985 innehatte. Generalsekretär war John Shepherd (Kanada), ihm folgte 1985 Peter Wicke, der das Popmusik-Zentrum an der Humboldt-Universität seit seiner Gründung 1983 bis heute erfolgreich leitet.

Landschaft mit Komponisten. Die DDR als Protagonistin von Musikgeschichte Stefan Weiss Ein Überblick über die in den letzten Jahren erschienene musikwissenschaftliche Literatur würde vermutlich ergeben, dass die Textsorte ›Monographie zur Musikgeschichte eines Landes‹ bei Forschenden zur Zeit nur marginales Interesse findet. Abseits von Staaten wie den Nachfolgerepubliken der Sowjetunion, die ihre nationale Identität auch kulturell zu befestigen suchen, ist die Motivation zu einem solchen Unternehmen gering, zumal dort, wo durch Nationalismus ausgelöste Katastrophen noch schockhaft nachwirken. Wer eine ›Deutsche Musikgeschichte‹ zu schreiben beabsichtigte, zöge unweigerlich misstrauische Blicke auf sich; eine ›Geschichte der DDR-Musik‹ aber ist ein lockendes Unternehmen, wie eine Flut an neueren Publikationen mit auf »…in der DDR« auslautenden Titeln und nicht zuletzt der vorliegende Band zeigt. Wo nicht Nationalstolz ausschlaggebend für ein solches Unternehmen sein kann, muss der Grund in Anderem zu suchen sein, und was läge da näher, als ihn in der Qualität der hier vorgefundenen Musik zu vermuten. Diese Mutmaßung greift jedoch zu kurz. Denn wenn es auch verfehlt wäre, die Qualität der aus der DDR hervorgegangenen Kompositionen grundsätzlich abzustreiten, so stellt diese Musik im Ganzen doch ein Repertoire dar, nach dem geringer Hörbedarf besteht, selbst im Kontext der ohnehin nur vergleichsweise kleine Interessentengruppen anziehenden Neuen Musik. Kein in der DDR entstandenes Musikstück hat es bisher vermocht, in den Kanon zeitgenössischer Musik einzudringen – auch wenn ein solcher Kanon nur imaginär und wandelbar sein mag, so bleibt unabweisbar, dass für die ambitionierten mitteleuropäischen Konzertprogramme der Gegenwart eine Neue Musik zwischen 1950 und 1990 nur entweder westlich der Elbe oder östlich der Oder existiert. Die von Frank Schneider vor einigen Jahren fast trotzig erhobene Forderung, es müsse »das Beste an Leistungen, an Können und Erfahrung aus dem Osten [Deutschlands] immer wieder auf die Podien und in die Ohren, weil es doch auch […] zur Geschichte der Neuen Musik gehört«, 1 bleibt weiterhin unerfüllt, und es erscheint fraglich, ob die monumental angelegte CD-Anthologie Musik in Deutschland 1950–2000 diesem Ziel zu dienen imstande ist, mit ihrem Häppchen-Prinzip – zwei Chöre Meyer, ein Satz Bredemeyer –, das vielleicht »das Beste an Leistungen« dokumentieren mag, aber dieses in mehrfacher Hinsicht seines Zusammenhangs beraubt. Nein, »auf die Podien und in die Ohren« ist die Musik der DDR 1

Frank Schneider: »Westwärts schweift der Blick, ostwärts treibt das Schiff« – Die Neue Musik in der DDR im Kontext der internationalen Musikgeschichte, in: Michael Berg/Albrecht von Massow/Nina Noeske (Hg.): Zwischen Macht und Freiheit. Neue Musik in der DDR, Köln u. a. 2004 (= KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft 1), S. 89–102, hier S. 100.

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nicht gelangt, und es ist auch nicht wahrscheinlich, dass die Qualität selbst der »besten« ihrer Leistungen als Motivation dafür ausreicht, eine Geschichte der DDRMusik als Ganzes in Angriff zu nehmen. Gemessen an ihrer Präsenz im Konzertleben sollten wir mittlerweile genug über diese Musik wissen, und mehr als genug. Da wir aber offensichtlich doch noch immer mehr und mehr über sie erfahren wollen, ist wohl der Gedanke nicht ganz unabweisbar, dass die Motivation für das Anwachsen der Studien zur DDR-Musik nicht allein in der Qualität des Repertoires begründet liegt. Will man wissen, was die Forschenden zusätzlich antreibt, sollte man die Frage nach der Protagonistin der jeweiligen Untersuchungen nicht vorschnell für beantwortet erklären. Zugespitzt formuliert handelt es sich um einen sprachlich kleinen, inhaltlich aber entscheidenden Unterschied: Ist es eine Geschichte der DDRMusik, der man auf der Spur ist und in die man seine forscherischen Energien investiert, oder ist es vielmehr eine Musikgeschichte der DDR? Diese, die eigentliche Protagonistin, ist zweifelsohne von einer eigentümlichen Attraktivität: die DDR, eine heroische Landschaft. Fast musiknah, opernhaft, gleichen ihre Geschicke einem Mythos, der zweifellos zum Teil propagandistisch lanciert wurde, teils aber unfreiwillig entstand. Die Aufteilung eines Volkes mit dunkler Vergangenheit auf zwei Teilterritorien, der beidseitige Versuch der Geschwister, einander zu übertreffen, die Legende, dass nur der eine Teil mit seiner Vergangenheit vollständig brach, in seinem Streben zum Wohl seiner Bürger jedoch vom anderen, nie ganz reformierten Staat beständig unterwandert wurde: Dies ist der politische Gründungsmythos, ein Teil des in der DDR bis zum Ende verbreiteten offiziellen Selbstbildes. Die selbst gewählte Isolation dieses kleineren Staates jedoch, seine Einmauerung, bestimmte seine Innen- und Außenwahrnehmung durch den größten Teil seiner Geschichte hindurch – auch dies eine Situation mit mythischen oder auch märchenhaften Obertönen: Wohlmeinende mochten diesen Teil der Geschichte als eine Art Verpuppung verstehen, aus der eines Tages ein Schmetterling hervorgehen würde, den meisten aber waren die Parallelen zu negativen Utopien offenkundig. Die DDR realisierte den »Einzigen Staat« aus Evgenij Ivanovič Zamjatins Roman Wir. Schließlich hatte auch das Verschwinden des Landes mythischen Charakter, erfolgte doch keine Wiedervereinigung, sondern ein Beitritt, mit dem Ergebnis, dass weder beide Staaten in ihrer Identität gleichberechtigt fortbestanden, noch dass ein neuer, dritter entstand, sondern dass nur einer von beiden überlebte, während der kleinere sich auflöste, seine Bestandteile dem größeren überantwortend: Ys, Atlantis, Vineta, DDR. Ein Mythos bleibt das Land erst recht im Rückblick, ein verloren gegangenes Ensemble aus Ideologie, Farben, Alltag, Gerüchen, Geschichten, Losungen, Festen, ungeordneten und geordneten Klängen. Das Mythische, Verlorengegangene aber provoziert Neugier, Hoffnung auf Erkenntnis und, ja, auf Rekonstruktion. Der Vorwurf, das sei pure Ostalgie, ist deplatziert. Ebenso gut könnte man einem Schumannforscher vorhalten, er sei ein unverbesserlicher Romantiker. Was heute gern als Ostalgie bezeichnet wird, ist bloß der weitestverbreitete Ausdruck eines legitimen Erkenntnisinteresses: zu verstehen, wie das alles geschehen konnte, zu verstehen, wie

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die Menschen dieses Landes dachten und fühlten – zu verstehen, wie man selbst, war man dabei gewesen, sich damals zu diesem mythischen Ganzen verhielt. Zu dieser Landschaft führen unterschiedliche Wege, und einer davon ist die Beschäftigung mit ihren Komponisten. Und von dieser Seite ließe sich eine Motivation, die Musikgeschichte der DDR zu schreiben und zu lesen, leicht ableiten: Nicht um des vereinzelten Werks willen, des nie entstandenen Klassikers braucht man sie, sondern des verschwundenen Landes wegen, das diese Musik hervorbrachte. Andernfalls ist schwer erklärbar, warum dem großen Interesse an DDR-Musikgeschichtsschreibung kein oder nur mäßiges Interesse an einer BRD-Musikgeschichtsschreibung gegenübersteht, obwohl doch hier die eigentlichen, kanonisierten Heroen der Neuen Musik wirkten und wirken: Karlheinz Stockhausen, Mauricio Kagel, György Ligeti, Alfred Schnittke, Helmut Lachenmann, Mathias Spahlinger, Wolfgang Rihm – die Liste ließe sich leicht erweitern. Die BRD ist eine weitgehend mythenfreie Zone, und diejenigen ihrer historischen Bestandteile, die ähnlich bildkräftig wären – wie das Wirtschaftswunder oder der Deutsche Herbst –, sind nicht annähernd dazu geeignet, das Ganze zu repräsentieren, wie das die genannten Momente der DDR-Historie sind. Dieses relative Desinteresse ließe sich übrigens leicht kompensieren, denn natürlich ist DDR-Musikgeschichtsschreibung gleichzeitig BRD-Musikgeschichtsschreibung. Die DDR – das wird Teil ihres Mythos bleiben – war die dunkle, früh dahingegangene Schwester der BRD. Noch hat die Überlebende nicht ganz erkannt, dass ihrer beider Lebensläufe nur als Ganzes, Zusammenhängendes lesbar sind. Musikgeschichte der DDR zu schreiben, könnte also heißen, die DDR über ihre Musik zu verstehen und nicht bloß, wie es bereits häufig geschehen ist, einzelne ihrer Musikstücke über deren Bezug zu dem Staat, der sie hervorbrachte. Wer dies als Erkenntnismöglichkeit ernst nimmt, sollte jedoch erwägen, bestimmte sich allenthalben anbietende Erzählschemata zu hinterfragen und auch seine Auswahl des zu Erzählenden von vornherein anders zu treffen als dies in der Vergangenheit üblich war. Vereinfacht gesagt zwingt einen das Material in diesem Fall zu einer Gewichtung zwischen dem DDR-Typischen und dem international Kompatiblen, wobei hier im Folgenden für eine Aufwertung des Typischen gegenüber dem Kompatiblen plädiert werden soll. Zentral ist dabei die Frage nach dem Wert von Musik. Man mag unterschiedlicher Auffassung sein, wonach sich der Wert eines Musikstückes bemisst: Wer Musikgeschichte schreibt, um bedeutende Musik zu identifizieren und damit bewahren zu helfen, wird seine Entscheidung über die Aufnahme eines bestimmten Werkes an einen wie auch immer begründbaren – etwa über Konformität mit international akzeptiertem Materialbewusstsein – innermusikalischen Wert dieses Werkes knüpfen wollen. Wem es jedoch im Rahmen einer Musikgeschichte der DDR um die Erkenntnis des betrachteten Landes geht, wird anders denken: Der Betrachtung wert ist ihm jede Musik, die geeignet ist, das Typische, Besondere hervortreten zu lassen. Und im Einzelfall kann dazu ein Pionierlied besser geeignet sein als eine ambitionierte Komposition, die den Anschluss an technische Errungenschaften des Westens sucht. Mit Adorno vereinbar ist dies nicht, der mit Blick auf Richard Strauss postu-

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lierte, es sei »die Apologie zu verschmähen, er habe dem sogenannten Geist der Zeit musikalisch zum genauesten Niederschlag verholfen, ein Chroniqueur, der, unverfälschtes Echo der Epoche, aus Treue zu dieser die Stichhaltigkeit des Eigenen opferte. Dies Verdienst hätte die Siegesallee, und jeder Schlager, vor Strauss.« 2 Sicher ist kein besonderes Verdienst darin zu erkennen, dass irgendein Komponist einen bestimmten Zeitgeist aufsog wie ein Schwamm. Musikgeschichtsschreibung sollte ohnehin keine Verlagswerbung ersetzen und auf Schritt und Tritt ›Verdienste‹ postulieren; was sie dagegen darf und muss, ist hervortreten zu lassen, wodurch sich der jeweilige Gegenstand von anderen unterscheiden und verstehen lässt. Für eine Musikgeschichte der Gründerzeit ist Richard Strauss daher genau aus dem Grund interessant, den Adorno mit seinem oben zitierten Verdikt als Verdienst verwirft, und wer Musikgeschichte der DDR betreibt, sollte ästhetische Glacéhandschuhe tunlichst für ein anderes Unternehmen aufsparen. Hält man eine imaginäre BRD-Musikgeschichtsschreibung des Zeitraums 1945– 1990 daneben, so wäre nichts langweiliger und verfälschender, als zwischen zwei Buchdeckeln die Geschichte der modernen und postmodernen Avantgarden präsentiert zu bekommen. Denn auch wenn der Kanon der westdeutschen musikalischen Hervorbringungen zwischen Zweitem Weltkrieg und Mauerfall zur Zeit fixiert scheint, so umschreibt er doch alles andere als eine ›Musikgeschichte der BRD‹ – eine Musikgeschichte der Darmstädter Ferienkurse wäre ein solches Unterfangen weit eher zu nennen. Eine Musikgeschichte der BRD hätte Ralph Siegel mindestens so große Aufmerksamkeit zu schenken wie Dieter Schnebel, und abgelehnt werden müsste eine Musikgeschichte der DDR, die zwar Paul Dessaus Meer der Stürme erwähnt, nicht aber das Aufbaulied der FDJ. Die Frage ist dabei nicht, ob man sich eine Musikgeschichte der DDR versuchsweise ohne Paul Dessau vorstellen könnte, sondern, ob man überhaupt eine Musikgeschichte der DDR schreiben will oder doch lieber eine solche des Dessauschen Kreises. Denn so wie für eine Musikgeschichte Westdeutschlands der Kurzschluss der BRD mit Darmstadt eine Versuchung für den Historiographen darstellt, so verhält es sich mit der DDR und Zeuthen. Die Vorrangstellung Dessaus und des Kreises der von ihm geförderten jüngeren Komponisten ist im Rahmen der DDR-Musikhistoriographie heute unangefochten. Zweifellos schlug er eine Brücke zur westlichen Avantgarde Darmstädter Prägung, deren Bedeutung für junge DDR-Komponisten, die sich durch die Doktrin des Sozialistischen Realismus gegängelt fühlten, nicht hoch genug veranschlagt werden kann. War aber einerseits die Orientierung an Darmstadt unter den Bedingungen des DDR-Musiklebens eine herausragende Leistung einzelner, so hielt andererseits mit ihr ein ›internationaler Stil‹ Einzug in die Musik der DDR, dessen Auffassungen als Mainstream die Eigenarten der in der DDR insgesamt entstandenen Musik verkennt. Wenn die jüngste Generation von DDRKomponisten nach allgemeinem Dafürhalten kaum mehr DDR-spezifische Eigenheiten aufweist, dann deutet das möglicherweise weniger auf einen kollektiven musi2

Theodor W. Adorno: Richard Strauss. Zum hundertsten Geburtstag: 11. Juni 1964, in: Musikalische Schriften I-III (= Gesammelte Schriften 16), Frankfurt a. M. 1978, S. 565–606, hier S. 604.

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kalischen Identitätsverlust hin als auf einen eingeschränkten Blickwinkel des Betrachtenden, der vorrangig die Ebene der Ausdrucksmittel zum Indikator musikalischen Charakters macht und dabei andere Parameter vernachlässigt. Nicht darum geht es, dass diese Entwicklung etwa schlecht gewesen wäre und deswegen in ihrer Bedeutung relativiert werden müsse. So bedeutungsvoll die Revolution von 1989 auch gewesen ist, so wenig kann sie aber als ausschließlicher Zielpunkt all dessen gelten, was sich in den vorangegangenen 40 Jahren musikgeschichtlich ereignete. Häufig liest man DDR-Musikgeschichte als ein Miteinander von zwei Prozessen, einem Fortschritts- und einem Verfallsprozess: Dem Verfall der Doktrin auf der einen entspricht die Emanzipation fortschrittlichen Denkens auf der anderen Seite. Dass dieser Sichtweise eine bestimmte Bewertung bereits zugrunde liegt, sollte niemandem entgehen, auch nicht, dass sich dadurch die Musikgeschichte der DDR umstandslos dem Erzählschema der Moderne anschmiegt, einer Schablone, die dem zu beschreibenden Gegenstand nur sehr bedingt entspricht. Wer von vornherein das Ende fokussiert und die Geschichte der DDR-Musik als eine zielstrebige Entwicklung dorthin anlegt, zelebriert auf seine eigene affirmative Weise den Beitritt zum Bundesgebiet. Die Folgen eines solchen mentalen Adaptionsprozesses mussten schon viele der damals beteiligten Komponisten am eigenen Leibe erfahren: Nicht mehr nach DDR ›zu riechen‹, war aus ihrer Sicht vielleicht ein erstrebenswertes Ziel, verhieß es doch den ersehnten Anschluss an die internationale Neue-MusikSzene, in die man hineindrängte. Kaum zufällig jedoch traf sich das Erreichen dieses Zieles nicht nur mit dem Verschwinden des Staates – sondern auch mit dem eigenen aus dem internationalen Interesse. Ohne die DDR blieben ihre einstigen Komponisten als Tonsetzer ohne Eigenschaften zurück. Fruchtbar wäre es daher für jeden Neuversuch einer DDR-Musikgeschichte, das Paradigma Verfall und Fortschritt, Unterdrückung und Befreiung – das unweigerlich zu einem Aufgehen der DDR-Musikgeschichte in eine Geschichte der modernen Musik ohne Rückstände führt – mindestens versuchsweise und eine Zeitlang zu suspendieren. Anderen Erscheinungsformen der Musik als den international kompatiblen Prioritäten einzuräumen, ist nicht nur durch das Erkenntnisinteresse legitimiert, sondern ermöglicht auch einen frischen Zugang. Eine Neubestimmung des Wertbegriffs ›Wert‹ ist, wie erwähnt, ein erster Schritt hierzu, zwei weitere liegen in der Hinterfragung der Konzepte ›Provinz‹ und ›Masse‹ begründet, im Unterschied zum erstgenannten Begriff zwei in der traditionellen Musikgeschichtsschreibung eher pejorativ gebrauchte Termini. Ein dezentraler Ansatz, wie er sich für die Erforschung der DDR-Musikgeschichte (und nicht nur für sie) anbietet, verändert nicht nur den zu berücksichtigenden Personal- und Werkbestand, sondern auch den zur Debatte stehenden Raum. Wenn man schon über eine durch topologische Zusammenhänge hergestellte Identität nachdenkt, sollte die Kategorie der Stadt in diesen Überlegungen eine bedeutende Rolle spielen. Weimar, Rostock, Halle, Potsdam und andere Städte hatten und haben ihren eigenen Charakter und ein über die Jahre mehr oder weniger konstantes Personal, das in der jeweiligen Stadt eine Bedeutung beanspruchte, die ihm auf die Ge-

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samtsituation der DDR bezogen nicht zukam. Entsprechend ist unter Umständen die lokale Identität eines Komponisten für ihn bedeutsamer als die Zugehörigkeit zu seinem Staat. Dresden z. B. ist eine Stadt, deren Bewohner sich in starker Weise ihrer Historie bewusst sind, und von der der Leipziger Komponist Steffen Schleiermacher verächtlich sagte, dass sie das Hinzufügen immer weiterer vergoldeter Turmspitzen zu ihrer Stadtsilhouette zur Hauptsache erklärt habe. Zweifellos gehört das Bewahrende hier zum Selbst- und Fremdbild. Bei näherem Hinsehen aber lässt sich revolutionärer Drang als Teil der lokalen Tradition ausmachen, ebenso wie ein besonderer Schönheitssinn, der durch die Harmonie von Architektur und Landschaft begründbar ist. Die revolutionären Ambitionen Richard Wagners gehören so sehr zu dieser Dresdner Tradition wie die klangliche Opulenz seiner hier entstandenen Opern. Wie eine Besinnung auf beides mutet 1986 die aus heutiger wie damaliger Sicht überraschende Gründung des Dresdner Zentrums für zeitgenössische Musik an, das in einer Villa mit prächtigem Elbblick hoch über der Stadt eingerichtet wurde, nach Intrigen, die wiederum auf eine andere Weise typisch dresdnerisch waren. Dass Dresden 1975 der Schauplatz einer stürmisch umjubelten DDR-Erstaufführung von Schönbergs Moses und Aron war, ist ebenso Teil des musikalischen Stadtmythos wie die Beziehung Richard Strauss’ zur Staatskapelle, die bereits lange vor dem Ableben des Komponisten in der Benennung eines Verkehrskreisels der Südvorstadt als RichardStrauss-Platz kuriosen Ausdruck fand. Komponisten, die hierher geraten, klagen gerne über den Konservativismus dieser Stadt, und doch bleiben sie am liebsten dort wohnen, auf fast magische Weise von ihr angezogen. Eine Psychologie ist hierin beschlossen, die nicht auf direkte Weise von einer allgemeinen DDR-Mentalität abzuleiten ist, die jedoch dem Musikleben und der Musikgeschichte dieses Landes eine besondere Farbe verleiht, die andernorts schwer aufzufinden ist. Anders geartete, doch auf ihre Weise ebenso prägnante Individualitäten ließen sich für Leipzig, Magdeburg, Schwerin oder andere Städte konstruieren. Wenn von Stadtidentitäten die Rede ist, sollte aber nicht Summierung das Ziel sein, sondern lediglich das Bewusstsein für unterschiedliche lokale Entwicklungswege und Funktionsweisen geschärft werden. Fatal wäre jedenfalls ein Kurzschluss der DDR mit ihrer Hauptstadt und die Vernachlässigung der Provinz, eines für die DDR – und auch für deren Musikgeschichte – zentralen Phänomens. Vielleicht wurde nirgendwo so gut für die Komponisten der Provinz gesorgt wie in der DDR. Gewissermaßen, etwas böse formuliert, war die DDR sogar das Paradies provinzieller Komponisten. Ob dem Geschichtsschreibenden deren Musik gefällt, ist in diesem Zusammenhang weniger interessant als die Aufgabe, die Geschichte dieses paradiesischen Zustandes zu erhellen. Freilich droht dabei die Gefahr, sich im Dickicht immer unbedeutenderer Einzelheiten zu verlieren, einem Positivismus zu verfallen, wie er als Damoklesschwert ohnehin über jeder musikalischen Regionalforschung schwebt. Wer jedoch von vornherein seine Aufmerksamkeit vorrangig der international kompatibleren Ost-Berliner Situation widmet und die kleineren Städte nur in den Anhang oder in Exkurse verweist, bleibt im Bannkreis des Vorhersehbaren und wird alte Erzählungen wiederholen; da nützt ihm auch das Alibi in der Fußnote nichts. Hierin

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liegt eine Herausforderung, deren Bewältigung von den unterschiedlichen Möglichkeiten des jeweiligen Historiographen abhängt – eine Vielfalt zeichnet sich ab, die das gleichzeitige Entstehen mehrerer DDR-Musikgeschichten nur erstrebenswert erscheinen lässt. Jede von ihnen hätte sich der Tatsache zu stellen, dass die Musikgeschichte eines Landes zur Debatte steht und daher regionale Vielfalt in nennenswerter Weise darzustellen ist. Machbar ist das auf unterschiedliche Weise, z. B. schon in der Auswahl von vier bis fünf Städten, deren Musikgeschichten den Erzählfaden an bestimmten Stellen, gewissermaßen als in Fortsetzungen eingestreute Mikrohistorien, unterbrechen. Ganz besonders aber hätte eine DDR-Musikgeschichte, die den Namen verdient, das Problem der Historiographie von Massenkultur zu lösen. Die Masse, erklärte Zielgruppe der DDR-Kulturpolitik, war zwar auch in Berlin zu erreichen, vor allem aber war sie überall in der Republik zu bedienen, z. B. im thüringischen Suhl, wo für den 19. September 1985 die Aufführung eines Massenjodlerchors belegt ist. Fernab solcher Skurrilitäten stellte die Komposition von Massenliedern eine durchaus ernst genommene Aufgabe der Komponisten dar, eine Gattung, von der die Brücke zur (wirklich) populären Musik leicht geschlagen werden konnte. Komponisten in der DDR fanden sich eingebunden in ein Kontinuum von Gattungen, deren eines Extrem Massentauglichkeit erlaubte und forderte – eine Situation, die mit derjenigen westlicher Länder nichts gemein hatte. Die ›offizielle‹ DDR-Musikgeschichte des von Heinz Alfred Brockhaus und Konrad Niemann geleiteten Autorenkollektivs hat diesem Umstand 1980 Rechnung getragen, und wenn sich auch manches gegen dieses Unternehmen einwenden ließe, so bleibt es doch imponierend in der Breite, in der es das Musikleben auffächert.3 Neben den Genres, die auch in einer traditionellen Musikgeschichte Platz finden würden, berücksichtigt der Band Gattungen wie ›Theatermusik‹, ›Operette und Musical‹, ›Tanzmusik‹, ›Beat‹, ›Jazz‹, ›Film- und Fernsehmusik‹ und natürlich das ›Massenlied‹ – all dies Bereiche, die sich prinzipiell durch eine Hinwendung an das große Publikum, die ›Masse‹ auszeichnen. Selbstverständlich gab es diese Gattungen zur selben Zeit auch im Westen. Charakteristisch für die DDR sind jedoch die Schnittstellen, jene Komponisten, die die ernsten Gattungen bedienen ebenso wie die, die sich an die Masse wandten. Die Zusammenarbeit zwischen Paul Dessau und Wolfram Heicking ist nur ein Beispiel dafür. Massen waren in der DDR nicht allein Rezipienten der für sie komponierten Musik, sondern auch Mitwirkende. Das Entstehen von groß angelegten kantaten- oder oratorienhaften Chorwerken begleitete die DDR durch die vierzig Jahre ihres Bestehens und endete nicht, wie es manchmal scheinen will, mit der Austreibung des Personenkults am Ausgang der 1950er Jahre. Diese Werke könnte man in vieler Hinsicht als den Kern eines für die DDR spezifischen Musikschaffens bezeichnen, und gleichzeitig verschwanden sie – als Folge ihrer Bindung an das ideologische oder auch nur auf das Aktuelle Bezug nehmende Wort – am schnellsten, spätestens nach 3

Musikgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik 1945–1976, von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Heinz Alfred Brockhaus und Konrad Niemann, Berlin (Ost) 1980 (= Sammelbände zur Musikgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik 5).

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der Wende. Aber bedeutet das, dass sie für das Verständnis der DDR weniger relevant sind als Avantgarde-Kompositionen, die nie oder nur einmal aufgeführt wurden? An Werken wie Ottmar Gersters Eisenkombinat Ost, einer zu Anfang der 1950er Jahre viel gespielten Kantate, zeigt sich die ganze Problematik des Aufbewahrens von DDR-Musik: Handelte es sich bei Eisenkombinat Ost um ein Werk der Bildenden Kunst, wäre es heute, museumspädagogisch entsprechend aufgearbeitet, an repräsentativer Stelle in einem Museum zu sehen, mindestens aber als Abbildung in kunstgeschichtlichen Standardwerken präsent. Als Musikstück jedoch, das auf klingende Vergegenwärtigung angewiesen ist, fällt es dem völligen Vergessen anheim, denn welcher Dirigent würde heute die Chor- und Orchestermassen zu einer Wiederaufführung mobilisieren, welcher Solist die Worte »dieser Feind sitzt am Petersberg und im Parlament zu Bonn am Rhein« deklamieren wollen? Wenn sich Musikwissenschaftler derartiger Kompositionen annehmen, sollten sie daher behutsam verfahren. Verwerfen lassen sich solche Werke heute leicht, allein wegen der antediluvianischen Kompositionstechnik. Viel wichtiger wäre dagegen, ihre einstige Wirkung zu erforschen. Was sagte Eisenkombinat Ost den Zeitgenossen auf und vor der Bühne? War es wirklich nur musikalisiertes Phrasendreschen, oder spiegelten Musik und Text im Verbund ein bestimmtes Lebensgefühl wider? Wenn die historische Mission der sozialistisch-realistischen Kantaten der DDR nur darin bestanden hätte, rasch zugunsten anderer, aufgeklärt-rationaler moderner Gattungen überwunden zu werden, so bliebe schließlich das Fortbestehen von Werken im Kantatentypus (wenngleich mit anderen Ausdrucksmitteln versehen) bis in die letzten Jahre der DDR unerklärt. Noch im Frühling 1990 fanden Uraufführungen statt wie die von Rainer Hraskys Oratorium Mater Terra (nach Texten von Hanns Cibulka) oder Diether Nolls »chinesischem Requiem« Der himmlische Friede (nach altchinesischen Dichtungen und Zeitdokumenten); letzteres ein Reflex des Tian-an-men-Massakers des vorangegangenen Jahres, ersteres eine Anklage gegen die fortschreitende Umweltzerstörung. Ein zeitliches Kontinuum bekenntnishaft engagierter Chormusik zeichnet sich ab, dessen geschichtliche Anfänge von politischer Konformität gekennzeichnet gewesen sein mögen, das aber ungeachtet dessen nie abriss und sich einen zunehmend breiten thematischen und ideellen Spielraum eroberte: Die besondere Affinität der frühen DDRKantaten zum Sozialistischen Realismus reichte nicht aus, die Gattung insgesamt zu diskreditieren. Vielleicht bestand die zentrale Charakteristik der DDR-Musik darin, immer wieder, wenn nicht primär, die DDR selbst zu reflektieren. Das tat sie 1990, in Nolls Der himmlische Friede und in Hraskys Mater Terra, nicht weniger als 1951 in Gersters Eisenkombinat Ost, wenn auch vielleicht in impliziter Form. Gerade dieser Umstand macht eine Musikgeschichte der DDR so interessant: Die aus der DDR hervorgegangenen Kompositionen kreisen in einer Weise um das Land ihrer Entstehung, wie es in einem anderen, weniger mythisch aufgeladenen Staat kaum möglich gewesen wäre. Partei und Staatsapparat waren so präsent, in ihren Missständen ebenso wie in den ihnen zugeschriebenen positiveren Seiten, dass eine Auseinandersetzung mit ihnen für Künstler fast unausweichlich war. Auf der Musiktheaterbühne begegnet man der

Landschaft mit Komponisten

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DDR (in skurrilen Varianten) als dem Land Bum-Bum in Georg Katzers gleichnamiger Oper, als »Ostfalen« in Reiner Bredemeyers Candide oder als »Reich Popo« – kein Zufall, dass Georg Büchners Leonce und Lena in der DDR mindestens drei Mal als Oper vertont wurde, von Kurt Schwaen, Paul Dessau und Thomas Hertel. Dass die DDR uralte Mythen selbstverschuldet untergegangener Königreiche aktualisierte, stimulierte Komponisten wie Musiktheater-Regisseure in ihren Interpretationen kanonisierter Werke, z. B. Erich Geiger, der seiner 1962 bei Reclam in Leipzig erschienenen Nabucco-Übersetzung eine waghalsige Einführung voranstellte, in der er scheinbar über Nabuccos Babylon schreibt, tatsächlich aber dem im Vorjahr eingemauerten Ost-Berlin eine düstere Zukunft voraussagte: »Man grub dort die größte Stadtbefestigung aus, die jemals von Menschenhand erbaut worden war: eine Mauer, die Nebukadnezar II. hatte errichten lassen und die Babylon für die damaligen Waffen absolut uneinnehmbar machte. Wenn sich die Prophezeiung des Zacharias von der Rückkehr der Juden nach Jerusalem […] geschichtlich dennoch erfüllte […], so dadurch, daß der Feind nicht von außen her über Babylon siegte, sondern von innen. Von innen, während die Perser unter Kyros […] vor den Mauern standen. Das babylonische Heer unter Belsa zar wird vernichtend geschlagen, die Perser als Befreier begrüßt. Das Babylonische Reich verliert für alle Zeiten seine Selbständigkeit, wenige Jahrzehnte nach Vollendung des ›Turmes zu Babel‹, nach Vollendung der ›Mauer‹, nach den großen Siegen über das ägyptische und das jüdische Reich. Die Zerrissenheit der Babylonier und ihr Unfrieden machte Turm und Mauer schwach.«4

Wie ein roter Faden zieht sich das Motiv »Die Welt verändern wir« durch die DDRMusik: Obrigkeitlich verordnet seit den frühen Jahren, blieb Weltverbesserung als Anliegen in zahlreichen DDR-Kompositionen bis zum Schluss präsent, durchaus auch und zunehmend als Mahnung an das Land und seine Führung. Auch dort aber, wo die Musikstücke auf die DDR selbst nicht direkt anzuspielen scheinen, ist vielfach – auch bei solchen Komponisten, die Realismus in seinen kruderen Erscheinungsformen verschmähten – eine Neigung zu Inhaltlichkeit und Bildlichkeit zu bemerken, die bei ihren westlichen Kollegen weitaus seltener durchscheint. Dass eine Inhaltlichkeit von Musik politisch erwünscht war, sollte nicht dazu führen, sie als eine nur widerwillig erfüllte Verpflichtung zu sehen: Als per se verschlüsseltes Aussagemedium konnte Musik in der DDR als Mittel nicht nur ideologiekonformer, sondern auch subversiver Kommunikation dienen. Entscheidend scheint dabei die Kommunikativität an sich zu sein, die für DDR-Musik überaus bezeichnend ist und daher ins Zentrum ihrer Musikgeschichtsschreibung gehört. Freilich hat manche DDR-Komposition die Kommunikativität eines Wahlkampfplakats, aber auch in diesem Genre lässt sich über Qualität diskutieren. Der kommunikative Grundwesenszug ist Folge sowohl der Orientierung an der Masse als auch des Anspruchs der Weltverbesserung – inwiefern eines davon, oder beides, bloß verordnet oder auch seitens des jeweiligen Komponisten selbst angestrebt war, sollte eine Einzelfallentscheidung sein und kein a priori gefälltes Verdikt. Tatsache ist, dass Musik in der 4

Erich Geiger: Einführung zu Giuseppe Verdi, Nabucco, Oper in vier Akten [Libretto], übersetzt von Erich Geiger, Leipzig 1962, S. 9.

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DDR eine gesellschaftliche Relevanz beanspruchen konnte, um die sie in der freien Welt manch einer beneidete. Eine Musikgeschichte der DDR kann nicht definitiv sein, keine Musikgeschichte kann das. Sie kann aber zumindest versuchen, endlich von Deutungsmustern Abstand zu nehmen, die der Kalte Krieg hervorbrachte. Sie muss nicht rehabilitieren wollen, sollte sich aber selbstverständlich mit den Ausgegrenzten beschäftigen – gleich ob es der Sozialistische Realismus war, in dessen Namen Ausgrenzung betrieben wurde, oder die internationale Moderne. Sie darf bei allem Stolz des Historiographen auf bestimmte Teilaspekte seines Gegenstandes nicht versäumen, die peinlicheren Seiten davon mit gleicher Akribie zu untersuchen, denn nur dann wird es ihr gelingen, die Musik der DDR nicht als einen verspäteten Teilhaber am Mainstream der Kompositionsgeschichte erscheinen zu lassen, sondern als Mitspieler mit eigenem, und sei es unregelmäßigem Profil. Sie sollte schließlich von jeglicher Heroisierung Abstand nehmen und bereit sein, Distanz zu wahren gegenüber herkömmlichen musikhistoriographischen Einstellungen zu musikalischem Wert, Provinz und Massenkultur. Und wie auch immer sie ausfällt: Zu wünschen ist, dass sie nicht lange allein bleibt.

600 Jahre DDR-Musikgeschichte am Beispiel deutscher Volkslieder demokratischen Charakters Philip V. Bohlman »Es sind die alten Weisen, die neu in uns erstehn und die im Wind, dem leisen, von fern herüber wehn.« (Johannes R. Becher/Hanns Eisler: Die alten Weisen, aus: Neue deutsche Volkslieder, Nr. 1)

Das Neue Europa und die Völker ohne Geschichte »Im ›Neuen Berlin‹ gibt es keine Volkskunde, keine Volksmusik aus der Vergangenheit.« Als sich sein Reisebus der alt-neuen Grenze zum ehemaligen Ost-Berlin näherte, war der Reiseleiter vom ›Berlin Welcome Committee‹ stolz auf das »Neue Berlin«, seine Stadt der verklungenen Volkskultur. Seine Zuhörer bei dieser Stadtrundfahrt Anfang September 2003 waren die vor ein paar Tagen angekommenen Fellows der American Academy zu Berlin sowie ihre Familien, vor allem Wissenschaftler und Akademiker. Die Ankündigung einer Kultur der Gegenwart ohne Volksgeschichte sollte offenbar eine positive Wirkung auf die Vertreter und die Vertreterinnen der internationalen Geistes- und Sozialwissenschaften haben. »Die deutsche Volksmusik sollte unsere Vergangenheit nicht überleben. Damals war sie völkisch, nationalistisch, und sie symbolisierte ein mythisches Deutschland, ein Deutschland, das nur in der Vergangenheit existierte. Im heutigen Berlin gibt es keine Funktion mehr für solche historischen Volkslieder.«

Als Geschenk vom Berlin Welcome Committee bekamen die mitreisenden amerikanischen Wissenschaftler ein Exemplar von Berlin: Open City,1 und beim Durchblättern begegneten ihnen weitere Behauptungen eines ›Neuen Berlin‹, das seine Geschichte vor kurzem überlebt hätte.2 »Between Myth and Future«, »Berlin Mitte – the New Centre« und »Things Are Changing in the East« lauteten die Kapitel. – »Nichts bleibt, wie es damals war«, tönte der Leiter. »Welche Zeugnisse aus der Vergangenheit würde man noch gerne sehen?« Versuchsweise erwiderte ich: »Gerne würde ich das Scheunenviertel besuchen, dessen jüdische Volks-, Popular- und Kabarettmusik ich auf die Bühnen Amerikas bringe.« Irritiert beendete unser Leiter seine rhetorische Frage. »Die Bezeichnung ›Scheunenviertel‹ verwenden wir heute nicht mehr.«

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Berliner Festspiele und Architektenkammer Berlin (Hg.): Berlin: Open City – The City on Exhibition, Berlin 1999. Auf dem Buchumschlag steht das Symbol wie das Logo eines Markenproduktes der neuen Moderne: »das Neue Berlin«.

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Die Immanenz der Geschichte »Vorwärts! und nicht vergessen« (Bertolt Brecht/Hanns Eisler: Das Solidaritätslied) »Vergessen und vergessen und vergessen!« (Heiner Müller, Wolokolamsker Chaussee)

Volkslieder liegen der Geschichte sowie der Geschichtsschreibung der DDR zugrunde. Jahrhunderte vor der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik gab es Volkslieder demokratischen Charakters, und werktätigerseits entwickelten sie sich gleichsam zur Vorgeschichte der DDR. Die Geschichte erscheint nicht nur den Stimmen der Völker in Liedern3 immanent, sondern spiegelt sich auch in der Tendenz einer Gesellschaft und ihrer Institutionen, die Geschichte der arbeitenden Klassen ausgrenzen zu wollen. Die Geschichte, die im Volks- und Arbeiterlied sowie in der Volksmusik und im Volkstanz immanent zum Tragen kam, ermöglichte eine alternative Musikhistoriographie gegen das Vergessen und die Vergesslichkeit. Ein Problem der Volksmusikhistoriographie gab es nie in der DDR. Der Übergang von der Vorgeschichte der DDR zur modernen Geschichte eines demokratischen Landes vollzog sich unter Berufung auf die Texte historischer Volkslieder, die angeblich schon in der Vergangenheit als Vorbilder für die Gegenwart erkennbar gewesen waren. Ihre Leistungsfähigkeit, die Vergangenheit zu historisieren, gestaltete die Grundlage der Volksmusikforschung im deutschen Sprachraum, die mit den Herderschen Sammlungen in Gang gebracht worden war, und die darüber hinaus in den nachfolgenden Generationen der Volksliedforschung im 19. Jahrhundert bis in die Vergleichende Musikwissenschaft und die moderne Musikethnologie auf internationaler Ebene im 20. Jahrhundert fortgeführt wurde.4 In der DDR wurden diese Vorgeschichte und der Historismus, der daraus entstand, nie vergessen. Von Beginn an wurde die Volksmusikforschung gepflegt und offiziell von Institutionen unterstützt. Im wissenschaftlichen Bereich bestand eine Zusammenarbeit zwischen Ost und West, und ideologische Unterschiede wurden nicht nur toleriert, sondern auch als deutsch-deutscher Diskurs gewährt. Die deut3

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Johann Gottfried Herder: Stimmen der Völker in Liedern und Volkslieder, 2 Bde., Leipzig 1779. Unter den modernen Ausgaben dieser klassischen Studie des Volksliedes sind am bekanntesten jene im Reclam-Verlag (Stuttgart 1975) und jene im Deutscher Klassiker Verlag (Johann Gottfried Herder: Werke, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1999, S. 69–428). Siehe Philip V. Bohlman: Central European Folk Music. An Annotated Bibliography of Sources in German, New York u. a. 1996. Ein Überblick der modernen Historiographie der deutschsprachigen Volksmusikforschung befindet sich im zweiten Teil (Fields of Folk-Music Scholarship, S. 105– 69); siehe auch Dietmar Sauermann: Das historisch-politische Lied, in: Rolf Wilhelm Brednich/Lutz Röhrich/Wolfgang Suppan (Hg.): Handbuch des Volksliedes, Bd. 1: Die Gattungen des Volksliedes, München 1973, S. 293–322; Rolf Wilhelm Brednich (Hg.): Geschichte (1815– 1979) in Liedern, Programmheft der öffentlichen Abendveranstaltung beim 22. Deutschen Volkskundekongreß (19. Juni 1979), Kiel 1979; Rochus Freiherr von Liliencron: Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert, 4 Bde., Leipzig 1865–69; Hermann Strobach: Bauernklagen. Untersuchungen zum sozialkritischen Volkslied, Berlin 1964.

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sche Volksmusikforschung, Musikethnologie und Musiksoziologie entwickelten sich als international anerkannte und erfolgreiche Disziplinen. Die neuesten Methoden der Feldforschung im In- und Ausland prägten deren Verfahrensweisen.5 Neue Sammlungen wurden organisiert, neue Forschungsinstitute etabliert. Die grundlegenden Forschungen der DDR-Volksmusikforschung, wie etwa Wolfgang Steinitz’ Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, wurden gewissermaßen zu Bestsellern, und zwar sowohl in der BRD als auch in der DDR. 6 Eine Angst, dass das Volkslied oder der Volkstanz untergehen oder vergessen werden könnte, war kaum zu spüren. Wolfgang Steinitz (1905–1967) galt als Nestor der volksmusikalischen Historiographie in der DDR. Nach seinem Studium der Sprachwissenschaft (vor allem finnougrische Sprachen) und Volkskunde an den Universitäten von Breslau und Berlin war er tätig an der Berliner Universität, der heutigen Humboldt-Universität zu Berlin, bis er als Jude und KPD-Mitglied 1933 entlassen wurde. Sein Exil während der NaziZeit und dem Holocaust führte ihn über die Sowjetunion und Schweden. Darüber hinaus wurden seine wissenschaftlichen Schwerpunkte von den Tätigkeiten während der Kriegsjahre tief geprägt, vor allem von der slawistischen Linguistik (Finnougraistik und Ostjakologie) und der skandinavischen Volkskunde (Philologie und Volksmusikforschung). Nach 1949 suchte Steinitz als deutscher Remigrant ebenfalls nach einer Synthese in der deutschen Wissenschaft. Seine akademischen Funktionen an der Humboldt-Universität waren vielfältig, und seine Leistungen im Wiederaufbau der Sprachwissenschaft und der Volkskunde in den 1950er Jahren bis zu seinem Tod im Jahre 1967 waren mannigfaltig und einflussreich. Die Grundlagen seiner synthetisierenden Beiträge umfassten eine volkskundlich und volksmusikalisch dargestellte deutsche Geschichte der Bauern und Arbeiter. Deswegen spielten Revolutionsjahre jeweils eine besonders wichtige Rolle: die Bauernkriege im 16. Jahrhundert (Bauernlieder), der 30jährige Krieg im 17. Jahrhundert (Soldatenlieder) und die 1848er Revolution (Arbeiterlieder). Seine Beiträge zur Geschichtsschreibung in der DDR lassen sich weiterhin in der Nachfolgegeneration erkennen: sowohl in der Sprachwissenschaft und der Linguistik als auch in der Musikforschung. Seine Laufbahn verlief analog zur Geschichte und der Tradition der Geschichtsschreibung der DDR bis zur Wende von 1989.7 5

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Siehe Felix Hoerburger/Erich Stockmann/Wolfgang Suppan: Art. Volksgesang, Volksmusik und Volkstanz, in: 1MGG, Bd. 13, Kassel u. a. 1966, Sp. 1923–1956; Doris Stockmann (Hg.): Volksund Popularmusik in Europa, Laaber 1992 (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft 12). Als Fallbeispiel vgl. Christian Kaden: Hirtensignale – Musikalische Syntax und kommunikative Praxis, Leipzig 1977. Wolfgang Steinitz: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, 2 Bde., Berlin 1955/1962; Wolfgang Steinitz: Der große Steinitz, Berlin 1979 (= Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten 1 und 2). Siehe Wolfgang Steinitz: Ich hatte unwahrscheinliches Glück. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, Berlin 2006; zu Leben und Arbeit von Wolfgang Steinitz siehe Eckhard John (Hg.): Die Entdeckung des sozialkritischen Liedes. Zum 100. Geburtstag von Wolfgang Steinitz, Symposium vom 1. bis 3. Juli 2005 in Rudolstadt, Münster 2006, sowie Annette Leo: Leben als Balance-Akt. Wolf-

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Abb. 1: Wolfgang Steinitz: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, gekürzte Ausgabe, Berlin 31978, Umschlag.

Das Fundament von Wolfgang Steinitz’ historiographischem Projekt der Volksliedforschung war eine Geschichte der Arbeiterklasse. Als Grundlage einer umfassenden Geschichte der Nation bot sich in der DDR die Volksliedforschung geradezu an, nicht zuletzt im Dienste der Aneignung einer gesamtdeutschen Musikgeschichte. Die Suche nach einer allgemeinen deutschen Geschichte in Volksliedern wurde schon in Herders Schriften pointiert gefordert – und zwar als Herausforderung einer aufklärerischen Historiographie.8 Die mustergültige Rolle der Volkskunde und Volksliedforschung in der DDR verdankte sich einer Interdisziplinarität, in der sowohl die Geisteswissenschaften (Philologie und Musikwissenschaft) als auch die Sozialwissenschaften (Historiographie und Ethnologie) zusammenflossen. Gerade diese Interdiszipli8

gang Steinitz – Kommunist, Jude, Wissenschaftler, Berlin 2005. Siehe vor allem Johann Gottfried Herder: Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter, Hamburg 1773, ders.: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts, Riga 1774.

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narität unterschied sich von der Volkskunde und Volksliedforschung in der BRD, die sich bis in die Gegenwart ziemlich weit abseits der historischen Musikwissenschaft hält. Auch wenn der Untersuchungsgegenstand Volksmusik in der DDR als historischer begriffen wurde, wirkten Subjekt und Subjektivität der Volksmusik im Sinne von ›werktätig‹ in die Gegenwart. Wenn sich eine demokratische Musikgeschichte im Sinne der DDR schon vor der Staatsgründung der DDR anhand des demokratischen Volkslieds zeigen ließ, wirkte diese auch über deren Bestehen hinaus. Nach wie vor durchdringen sich die Vorgeschichte und Nachgeschichte der DDR in der Geschichte des Volkslieds demokratischen Charakters. 1525 – Das Volkslied und die Anfänge der Geschichte

Abb. 2: »Ein neuw Lied vom Bauern Krieg« (1525) Quelle: Hermann Strobach (Hg.): Der Arm man 1525. Volkskundliche Studien, Berlin 1975, Tafel 2, S. 272f.

Für die demokratische Volkskunde der DDR gab es keinen Zweifel hinsichtlich der Anfänge der deutschen Geschichte: Diese begann 1525, als der Bauernkrieg sein

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Ende erreichte.9 Von vornherein war der Bauernkrieg (1517–1525/26) revolutionär, weil eine Schicht der Arbeiter sich gegen die Feudalherren des späten Mittelalters auflehnte – und zwar in Art eines Klassenkampfs avant la lettre. Im revolutionären Kontext der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts verdeutlicht sich hier die Kluft zwischen den oberen Schichten und der sich herauskristallisierenden Arbeiterklasse. Zeitlich fällt dies zusammen mit der Reformation. In diesem Sinne lässt sich der Bauernkrieg als eine religiöse und politische Bewegung verstehen, die auch durch geistliche und kulturkritische Lieder nachzuweisen ist. Im Jahre 1525 wandelte sich der Feudalismus in die Ursprünge einer Demokratie um, die zum Leitbild des deutschen Klassenkampfs wurde, und dieser Moment spiegelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Übergang vom Faschismus zur Demokratie der DDR als zwei Zeitalter des Neubeginns wider. Über dieses Zusammenfließen wirkungsvoller Symbole für die DDR in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im historischen Spiegelbild der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts schrieb Hermann Strobach 1975: »Zur historischen Rolle und zu den Leistungen der aufstrebenden bürgerlichen Kultur dieser Periode sind in den letzten Jahren in der DDR wichtige Untersuchungen und allgemeine Darstellungen veröffentlicht worden. Besonders die Feiern zum 450. Jahrestag der Reformation 1967 und die Ehrungen und Ausstellungen zum 500. Geburtstag Albrecht Dürers im Jahre 1971 brachten bedeutende Fortschritte in der Analyse und kritisch-produktiven Aneignung dieses bedeutenden Bestandteils unseres humanistischen Kulturerbes.« 10

In der DDR-Geschichtsschreibung gilt das Jahr 1525 als der »Höhepunkt der Klassenkämpfe dieser Periode«,11 der sich aus seiner Vorgeschichte politisch und musikalisch interpretieren lässt. In der volksmusikalischen Historiographie der DDR stammte der erste Liednachweis des Bauernaufstands aus England (1381), vor allem in dem vermutlich von Wat Tyler und John Ball kolportierten Spruch: »Als Adam grub und Eva spann, wer war da wohl der Edelmann?« 12 Diesem Spruch kommt aus mehreren Gründen historiographische Bedeutung zu. Erstens dehnte er sich sowohl durch mündliche als auch durch schriftliche Überlieferung auf internationale Ebene aus. Aufgrund der Wechselwirkung beider Arten der Volksliedtradition wurde der Spruch schon vor dem Ende des 15. Jahrhunderts nachweisbar in deutschen Varianten angeeignet. In der ersten Ausgabe der Deutschen Volkslieder demokratischen Charakters zitieren Wolfgang Steinitz und der Herausgeber, Hermann Strobach, den Spruch als erstes historisches Beispiel eines deutschen Volkslieds. 13 9

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Das Jahr 1525 wurde von vielen Disziplinen in der DDR thematisiert und vergleichend untersucht, um seine Rolle als revolutionärer Gründungsmoment zu rekonstruieren. Vgl. z. B. Hermann Strobach (Hg.): Der Arm man 1525. Volkskundliche Studien, Berlin 1975. Hermann Strobach: Einleitung, ebd., S. 8f. Hermann Strobach: Die Bauern sind aufrührig worden. Lieder aus dem Bauernkrieg, in: ders. (Hg.): Der Arm man 1525 (wie Anm. 9), S. 237f. »Whan Adam dalf und Eve span, who was than a gentilman?« (Ebd., S. 237). Steinitz: Deutsche Volkslieder (wie Anm. 6), S. 47. In der Originalausgabe wird der Spruch erst als Nr. 4 bezeichnet (ebd., Bd. 1, S. 9). Als Nr. 1 zitiert Steinitz das Lied »Was Hände gebaut, können Hände zerbrechen« (»wat hendeken gebuwet haen dat können wol hendken tobreken«) aus dem Jahre 1404 (ebd., Bd. 1, S. 3).

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1. »Als Adam grub und Eva spann« »Da Adam reütet und Eua span. Wer war die zeit da ein Edelman?«

Kennzeichnend für Steinitz und seine Nachfolger war, zweitens, die Mobilität des Spruches, d. h. seine Aneignung durch verschiedene Gattungen der Volkliedstraditionen im deutschen Sprachraum. Die älteste Variante tauchte ca. 1493 in den 5. und 6. Strophen eines gedruckten Gedichtes von einem gewissen Meister Hanns Sporer zu Bamberg auf: »Wer der erst Edelmann gewest ist«. 14 Im 15. Jahrhundert fand sich der Spruch in Sammlungen von Sprichwörtern, nicht nur mit deutschen, sondern auch mit dänischen und schwedischen Varianten. Im 17. Jahrhundert war die Verwandlung des Spruches in ein Bauernlied abgeschlossen. Er erscheint nun häufig in Handschriften und gedruckten Sammlungen als eine sich wiederholende Spur des revolutionären Moments des Bauernkriegs, wie etwa in der abschließenden Strophe des zwölften Liedes in Steinitz’ gekürzter Ausgabe, »Ich bin ein freier Bauernknecht«, das bereits mit Melodie zu singen ist. »Ich bin ein freier Bauernknecht«

13. »Was bildet sich der Hofmann ein. Daß er als ich will besser seyn? Da Adam ackert und Eva spann, Wer war damals ein Edelmann? Traltiralla! Ich leb all Morgen, Sicher und frey von allen Sorgen.«15 Abb. 3: »Ich bin ein freier Bauernknecht«16 14 15 16

Ebd., Bd. 1, S. 9. Steinitz: Deutsche Volkslieder (wie Anm. 6), S. 68. Ebd., S. 67. Die Quelle für die Melodie und den Text zu dieser Variante von »Ich bin ein freier Bauernknecht« ist Johann Hecks Lieder-Handschrift (1679), S. 108. Sie ist als Nr. 453 erschienen in Franz Magnus Böhme: Altdeutsches Liederbuch, Leipzig 1877.

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Drittens stellten die Lieder aus der Zeit des Bauernaufstands und der Reformation eine symbolische Verknüpfung von geistlichen und weltlichen Traditionen dar. Zugleich waren sie Bestandteil eines oppositionellen Diskurses, welcher sich weltlich anverwandelter biblischer Metaphern bediente. Es handelt sich um die historische Kontinuität, wonach Johann Gottfried Herder in Liedern suchte: »Dies zeigt sich in allen Jahrhunderten, aus denen man Deutsche Geschichte, Chronik, Sprüchwörter, Reime, Erzählungen, Lehrsprüche u. dgl., selten aber Lieder und Lieder der Art kennet, die man noch jetzt auftragen könnte.«17 In der DDR war die Bedeutung der historischen Kontinuität von Volksliedern für die Gegenwart und die kulturelle Praxis und Identität der modernen Kulturnation noch größer. Aus dem Lied von Adam und Eva spannte sich ein historischer Bogen bis in die Gegenwart der DDR, welcher die Volkslieder der Vergangenheit massiv aktualisierte. »Für unsere heutige revolutionäre Praxis, den Kampf gegen imperialistische Ausbeutung und Menschheitsbedrohung und um die Gewinnung der Werktätigen für eine sozialistische Entwicklungsperspektive, in der auch die Ziele und Hoffnungen aller früheren revolutionären Kämpfe und Bewegungen Verwirklichung und Erfüllung finden, haben die überlieferten oppositionellen und revolutionären Volkslieder früherer Gesellschaftsformationen und gesellschaftlicher Bewegungen eine große historische Bedeutung.« 18

1989 – Das Volkslied am Ende der Geschichte Der kleine Trompeter

1. »Von all’ unsren Kameraden War keiner so lieb und so gut Als unser kleiner Trompeter, Ein lustig Rotgardistenblut. 2. Wir saßen so fröhlich beisammen In einer so stürmischen Nacht, Mit seinen Heimatliedern Hat er uns so fröhlich gemacht. 17 18

Johann Gottfried Herder: »Einleitung«, in: ders.: Volkslieder, zweiter Teil (wie Anm. 3), S. 179. Hermann Strobach: »Vorwort«, in: Wolfgang Steinitz: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, gekürzte Ausgabe, Berlin 31978, S. 13.

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3. Da kam eine feindliche Kugel Bei ein’ so fröhlichem Spiel, Mit einem seligen Lächeln Unser kleiner Trompeter, er fiel. 4. Da nahmen wir Hacke und Spaten Und gruben ihm ein Grab. Und die ihn am liebsten hatten, Die senkten ihn still hinab. 5. Schlaf wohl, du kleiner Trompeter, Dir waren wir alle so gut, Schlaf wohl, du kleiner Trompeter, Du lustig Rotgardistenblut.«19 Abb. 4: Der kleine Trompeter. Melodie aus Steinitz: Deutsche Volkslieder, gekürzte Ausgabe (wie Anm. 18), S. 323.

Im letzten Lied der 1979 erschienenen Ausgabe von Wolfgang Steinitz’ Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters erscheinen Ende und Neubeginn der in Volksliedern gedichteten Geschichte der DDR untrennbar. Der kleine Trompeter des nach ihm benannten Volksliedes war zwar eine historische Figur, die metaphorisch aus der Vergangenheit durch das Lied in die Gegenwart transportiert wurde. Das Lied wirkt wie eine Chronik des Ursprungs der DDR als Ergebnis der antifaschistischen Bewegung und der Wahlkundgebung der Kommunistischen Partei Deutschlands in der Weimarer Zeit, das zur Entstehung der DDR noch im Volksmund gesungen wurde.20 Der kleine Trompeter, Fritz Weineck, spielte eigentlich Horn in einem Spielmannszug, der am 13. März 1925 auf einer Wahlversammlung in Halle auftrat, auf der Ernst Thälmann als Reichspräsidentschaftskandidat der Kommunistischen Partei sprach. Als die Polizei versuchte, die Versammelten, darunter Arbeiter aus England und Frankreich, auseinanderzuknüppeln, spielte der Hornist Weineck, um wieder Ordnung und Ruhe zu erzeugen. Seine Hornsignale blieben vergebens; er wurde im Kampf mit der Polizei erschossen. Das Volkslied war eine Variante eines Soldatenliedes aus dem Ersten Weltkrieg und ging rasch in die mündliche Überlieferung ein. Als Schlusslied in seiner Sammlung zeichnete Steinitz eine Variante auf, die von dem Volkskunst-Ensemble der Leunawerke 1953 aufgeführt wurde. Im Kanon der demokratischen Lieder wirkte Der kleine Trompeter deswegen höchst aktuell: »Als kleiner Trompeter ist er in die Geschichte der Arbeiterbewegung eingegangen und erhielt in diesem Lied ein bleibendes Denkmal«.21 Das Ende der Geschichte der DDR in demokratischen Liedern war im bleibenden Denkmal ihrer Volkslieder nicht voraussehbar. Ihre Auswirkung war die historische Kontinuität zwischen Vergangenheit und Zukunft. Das Trompetensignal erin19 20 21

Zitiert nach: Steinitz: Deutsche Volkslieder, gekürzte Ausgabe (wie Anm. 18), S. 323f. Ebd., S. 324. Zitiert nach ebd., S. 324.

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nert metaphorisch an das Telos der Fortbewegung der Zeiten, an eine Zukunft, die durch die Musik noch zu realisieren war. Für die Volkskundler der DDR blieb das Lied lebendig und außerdem war es international erfolgreich. Es tauchte in den Liedsammlungen europäischer Nachbarländer auf, sowie in dem 1950 von Stephan Hermlin und Ernst Hermann Meyer komponierten Mansfelder Oratorium.22 Für seinen 1961 veröffentlichten Roman, der das Leben von Fritz Weineck würdigte, wählte Otto Gotsche den Liedtitel Unser kleiner Trompeter als Buchtitel.23 Vor dem Hintergrund der Fragestellung des vorliegenden Bandes spielt das Ende der DDR eine widersprüchliche Rolle in der eschatologischen Geschichtsschreibung der Jahrhundertwende.24 Wie schreibt man die Geschichte nach dem Ende der DDR weiter?25 Kommt die Geschichte zum Schluss, oder gibt es eine Chance für ein Nachleben, wenngleich nicht für ein neues Leben? Was bleibt in einem solchen Leben nach dem Ende? Wie hört man hinein in das Schweigen des neubelebten Lebens nach dem Ende der Geschichte?26 Der Widerspruch in der Immanenz der Geschichte zeigt sich vor allem im Unterschied zwischen dem Ursprung und dem Beginn, sowie zwischen Ende und Weiterleben. Für die DDR-Volkskunde blieb die Immanenz von sechshundert Jahren Volksliedern demokratischen Charakters selbstverständlich. In Steinitz’ Bänden zeigt sich ein grenzenloser Optimismus, der in den späteren Ausgaben keinesfalls geringer wurde. Das Zeitalter des roten Trompeters war vorbei, aber nach seinem Tod lebte sein Lied weiter. Wenn sich das Lied als bleibendes Denkmal in der DDR noch erkennen lässt, bleibt es wirksam in der Geschichte. 27 Jederzeit könnte das ›Werktätige‹ und das Oppositionelle in ihr erklingen; jederzeit könnte es verklingen. Anstatt als Denkmal zu bleiben, bleibt das Ende der Geschichte von ›Volksliedern demokratischen Charakters‹ bis heute eine offene Frage.

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Ebd., S. 284 und 325. Ebd., S. 325. Zur Eschatologie in der Historiographie der zeitgenössischen »world music« siehe Philip V. Bohlman: World Music at the ›End of History‹, in: Ethnomusicology 46 (2002), H. 1, S. 1–32. So lautet die Frage im Titel von Holger Helbig (Hg.): Weiterschreiben. Zur DDR-Literatur nach dem Ende der DDR, Berlin 2007. Siehe die Essays in Werner Liersch (Hg.): Die Kraft der Empfindlichkeit. Essays 1949 bis 1990, Leipzig 1998, insbesondere Christoph Hein: Die Zeit, die nicht vergehen kann, oder: Das Dilemma des Chronisten, in: ebd., S. 335–361; Peter Hacks: Unter den Medien schweigen die Musen, in: ebd., S. 383–396. Sammlungen politischer Volkslieder waren nicht nur ein Phänomen der DDR. Sie spielten auch eine wesentliche Rolle in den Studentenbewegungen der BRD, und einige erschienen in stets überarbeiteten Ausgaben bis ins 21. Jahrhundert. Siehe z. B. Walter Moßmann/Peter Schleuning: Wir haben jetzt die Schnauze voll. Alte und neue politische Lieder, Reinbek bei Hamburg 1978; Heide Buhmann/Hanspeter Haeseler: Das kleine dicke Liederbuch. Lieder und Tänze bis in unsere Zeit, Schlüchtern 41986.

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Gliederung der DDR-Geschichtsschreibung in demokratischen Liedern »Euch weih’ ich die Stimme des Volks, der zerstreueten Menschheit, Ihren verhohlenen Schmerz, ihren verspotteten Gram; Und die Klagen, die Niemand hört, das ermattende Ächzen Des Verstoßenen, des Niemand im Schmuck sich erbarmt. Laßt in die Herzen sie dringen, wie wahr das Herz sie hervordrang, Laßt sie stoßen den Dolch in des Entarteten Brust.«28

Als Auftakt zur Geschichte der deutschen Volkslieder nimmt Wolfgang Steinitz als Epigramm eines der allerletzten Volkslieder, das Herder für seine Sammlungen aussuchte, und zwar erst in Adrastea im Jahre seines Todes (1803) und in der »Zueignung der Volkslieder«, die posthum als Anhang zu Stimmen der Völker in Liedern erschien.29 Für Steinitz symbolisierten Herder und die Spätaufklärer – Steinitz nennt sie Herders »Freundeskreis« – durch den Nachweis der Volkslieder einen Schlüsselmoment der Geschichtsschreibung, nicht nur im Sinne von Herders »Zeugnissen der Volkslieder«, sondern auch als Grundlage einer Geschichte, die im Text und Klang eines Volkslieds enthalten war. Herders Stimmen der Völker in Liedern erhoben sich als das Oppositionelle und das ›Werktätige‹ in Liedern. Bei Herder war die Geschichte noch bruchstückhaft und unvollendet. Die Verantwortung, sie in die Gegenwart zu tragen, mussten Steinitz und seine Generation von DDR-Volkskundlern übernehmen. Dieser Nachweis lag der Wiederentdeckung einer volksmusikalischen Tradition zugrunde, die aus Sammeltätikeit und Sammlungen der Generationen nach Herder entstanden ist. »Das vorliegende Werk will den ersten und, ich wage zu hoffen, entscheidenden Schritt tun, diese in der deutschen Volksliedforschung bisher im wesentlichen übersehenen und unbekannten Lieder zusammenzufassen und damit der wissenschaftlichen Erforschung zugänglich zu machen, sowie gleichzeitig diese Erforschung schon zu beginnen. […] Unter demokratischen Volksliedern verstehe ich, wie oben gesagt, Lieder des werktätigen Volkes, die den sozialen und politischen Interessen der durch Feudalismus, Kapitalismus und Militarismus unter drückten Werktätigen einen klaren Ausdruck geben.« 30

Im ›werktätigen‹ Lied verflechten sich Geschichte und Geschichtsschreibung, deswegen bezieht sich Steinitz sowohl auf die Volkslieder als Diskursgeschichte als auch auf die Sammlungen als Wirkungsgeschichte. Um mich dieser Art der Geschichtsschreibung anzunähern, wende ich mich skizzenhaft den Hauptfiguren in Steinitz’ Geschichte, d. h. jenen Vorfahren zu, die eine Prosopographie der volksmusikalischen Stimmen der Gegenwart bildeten.31 28

29 30 31

Steinitz: Deutsche Volkslieder (wie Anm. 6), Bd. 1, S. xix; die »Zueignung der Volkslieder« erscheint als Anhang in: Herder: Werke, Bd. 3 (wie Anm. 3), S. 429f. Johann Gottfried Herder: Adrastea, in: Herder: Werke, Bd. 10, Frankfurt a. M. 2000. Steinitz: Deutsche Volkslieder (wie Anm. 6), S. xix und xxii. Zur Prosopographie bzw. kollektiven Biographie als Geschichtsschreibung siehe Walter Pötzel: Prosopographie und Volkskulturforschung, in: Dieter Harmening/Erich Wimmer (Hg.): Volkskultur – Geschichte – Region. Festschrift für Wolfgang Brückner zum 60. Geburtstag, Würzburg 1990,

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Johann Gottfried Herder. Es ist deutlich, dass die DDR-Geschichtsschreibung der deutschen Volkslieder von Herder ihren Ausgang nahm. Seit der Spätaufklärung galt Herder als der Gründungsvater einer Volkskunde, welche die Kluft zwischen Oralität und Schriftlichkeit überbrückte. Herders »Übertragungen« – nicht nur die Volksliedbände, sondern auch seine Tätigkeit als Übersetzer, etwa von El Cid und des biblischen Hoheliedes als Lieder der Liebe brachten neue Ansätze der Geschichtsschreibung hervor.32 Nach Steinitz’ Vorstellung galt Herder als »der bewußteste und klarste Vertreter der demokratischen und nationalen Interessen des jungen deutschen Bürgertums am Ende des 18. Jhs.«.33 Dennoch stellt sich eine Frage, die von Steinitz und anderen DDR-Volkskundlern pointiert formuliert und diskutiert wurde: Welcher Herder? Für die DDR-Volkskunde zeigten sich zwei ›Seiten‹ in den Herderschen Schriften: jene der Werktätigen und jene der Schriftkultur. Davon wirkte die erste Seite, die vernachlässigt worden war, viel prägnanter auf die Entwicklung einer auf das demokratische Lied bezogenen Historiographie. Achim von Arnim und Clemens Brentano. Für die unmittelbar nachfolgende Generation entwickelte sich eine neue, wenngleich nicht weniger prägnante Frage aus dem demokratischen Lied, und zwar die nationale Frage. Während sich das ›werktätige‹ Volkslied in Herders Sammlungen weit über die Grenzen einer nationalen Volkskultur erstreckte – z. B. stammt die überwiegende Mehrzahl der Volkslieder in seinen Sammlungen von 1778/79 nicht aus dem deutschen Sprachraum –, setzten sich Arnim und Brentano in Des Knaben Wunderhorn (1806/08) mit der Lage der deutschen Volkskultur in der Napoleonzeit auseinander. Ihre »große nationale Aufgabe« stand den »offen reaktionären Züge[n] der deutschen romantischen Schule«, wie etwa der »unhistorische[n] Lehre vom Volksgeist als einer immanenten, unveränderlichen Eigenschaft«, entgegen.34 Johann Wolfgang von Goethe. Der langjährige Beitrag Goethes zur Volksdichtung wirkte auch als eine Art Überbrückung zwischen Spätaufklärung und romantischer ›Erweckung‹ einer demokratischen Nation. Die DDR-Volkskunde war fasziniert von Goethes früher Tätigkeit als Volksliedsammler (in erster Linie zusammen mit Herder in den 1770er Jahren im Elsaß) und den daraus entstandenen Übertragungen elsässischer Volkslieder. Es ist kaum überraschend, dass sich die moderne Ausgabe von Goethes Handschrift aus dem Jahre 1770 der DDR-Volkskunde verdankt. 35 In Goe-

32

33 34 35

S. 111–127, sowie Lawrence Stone: Prosopography, in: Felix Gilbert/Stephen R. Graubard (Hg.): Historical Studies Today, New York 1972, S. 107–140. In fast allen Herderschen Schriften findet sich eine Fragestellung zur Historiographie – meis tens deutscher Historiographie; siehe z. B. den 5. Teil (»Deutsche Geschichte«) in: Herder: Von deutscher Art und Kunst, und in ders.: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (wie Anm. 8). Für eine Fassung der Hohelieder Salomons als Popularlektüre siehe Johann Gottfried Herder: Lieder der Liebe. Die ältesten und schönsten aus Morgenlande Nebst vier und vierzig alten Minneliedern, Zürich 1992. Steinitz: Deutsche Volkslieder, gekürzte Ausgabe (wie Anm. 18), S. 23. Ebd., S. 24. Der Herausgeber der Wiederausgabe von Goethes Handschrift, Hermann Strobach, war zugleich der Herausgeber der 1978er Ausgabe von Steinitz’ Deutsche Volkslieder demokratischen Cha-

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thes späteren Schriften blieb seine Hinwendung zum demokratischen Volkslied noch einflussreicher für »die nationale Einigung und die Demokratisierung Deutschlands« sowie für die Entstehung von nationalen Sammlungen auf internationaler Ebene, etwa in Südosteuropa.36 Jakob Grimm, Ludwig Uhland und August Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Für die DDR-Volkskunde stellten sich Grimm, Uhland und Hoffmann von Fallersleben als das Triumvirat des frühen 19. Jahrhunderts vor, das die eher vielfältigen Sammlungen ihrer Vorgänger in deutschsprachigen Fassungen zusammenfasste. Einerseits beschäftigten sich alle drei mit Sprache, Sprachwissenschaft, regionaler und nationaler Dichtung in deutscher Sprache und Deutsch als Sprache der Kulturnation. Als Wissenschaftler und Dichter verwandelte jeder Sammlungen aus der Mundart in Hochsprache, und jeder dichtete seine eigenen Gedichte und Lieder in einer Nationalsprache. Andererseits waren alle drei politisch engagiert – Grimm und Uhland in der Frankfurter Nationalversammlung, Hoffmann von Fallersleben wurde für seine Kritik an der Kleinstaaterei und Pressezensur aus Preußen ausgewiesen. Er galt im Osten als Widerstandskämpfer, da sich seine literarisch geprägte Volksdichtung als oppositionell verstehen ließ. Mitte des 19. Jahrhunderts wirkte das Volkslied politisch und klassenkämpferisch. Seine Sprache entsprang der Stimme des Volkes, und seine Wirksamkeit spiegelte sich im demokratischen Engagement. Das Volkslied symbolisierte eine dynamische Wechselwirkung, die – so die Hoffnung in der DDR – die Demokratie der Kulturnation weitreichend erneuern konnte.37 Franz Wilhelm Freiherr von Ditfurth, Ludolf Parisius und Ludwig Erk. Ein zweites Triumvirat vertritt eine weitere Generation der Volksliedsammler im 19. Jahrhundert, sowie die zwei Seiten, die sich aus den Schriften von Herder entwickelten. Jeder konzentrierte sich intensiver auf Sammeltätigkeiten, vor allem auf diejenigen Sammlungen, die schließlich zum kanonisierten Repertoire eines nationalen Volksliedguts wurden. In jedem Fall waren diese Sammlungen zunächst regional – von Ditfurth sammelte in Franken, Parisius in der Altmark –, und aus dem regionalen Liedgut entstanden schließlich gemeinsame Sammlungen im Hinblick auf eine Geschichte aus Volksliedern, wie etwa von Ditfurths einflussreiche Beiträge zum historischen Volkslied.38 Je mehr sie die Sammeltätigkeit intensivierten, desto mehr wurden sie nahezu zu Berufsvolkskundlern: Allein im handschriftlichen Nachlass von Ludwig Erk befinden sich 20.000 Volkslieder. Seine Veröffentlichungen sind bis heute Standardwerke. Franz Magnus Böhme. Infolge der revolutionären Jahre Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgte ein politischer Paradigmenwechsel in der Historiographie des deutschen Volkslieds; Franz Magnus Böhme ist hierfür signifikant. Während seine Vorgänger

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rakters aus sechs Jahrhunderten (wie Anm. 18); siehe Johann Wolfgang Goethe: Volkslieder, hg. mit Transkriptionen von Hermann Strobach, Weimar 1982 (= Schriften der Goethe-Gesellschaft 62). Steinitz: Deutsche Volkslieder, gekürzte Ausgabe (wie Anm. 18), S. 24. Ebd., S. 25f. Franz Wilhelm Freiherr von Ditfurth: Die historischen Volkslieder vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zum Kriege vom 1870/71, 7 Bde., Berlin u. a. 1871–77.

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Vertreter des Liberalismus waren – viele waren sogar Parlamentsabgeordnete im Vormärz –, wird eine konservative, der Obrigkeit zugewandte Seite in vielen von Böhmes Sammlungen erkennbar. Steinitz’ Meinung nach fügte Böhme den Sammlungen Volkslieder hinzu, um ihre historische Relevanz zu verringern. Nichtsdestoweniger sind die zwei Seiten aus dem 18. Jahrhundert erneut spürbar, vor allem in einem großen Buch des Kanons des 19. Jahrhunderts, dem Deutschen Liederhort, den er aus dem Nachlass von Ludwig Erk und seinen eigenen Forschungen herausgab. 39 John Meier. Die zwei Seiten der Geschichtsschreibung mündeten in dem großangelegten Unternehmen von John Meier, Gründer des Deutschen Volksliedarchivs (DVA) in Freiburg im Breisgau und Nestor der deutschen Volksliedforschung des 20. Jahrhunderts. Meier realisierte gleichsam eine disziplinäre Revolution, die schon im Erk-Böhmeschen Deutschen Liederhort erkennbar war, die aber erst in einer zentralisierten Institution an Einfluss gewinnen konnte. 40 Für Meier blieb das Geschichtsbild des Volkslieds zwar noch präsent, aber darin spiegelte sich für ihn eine tote Vergangenheit. Meier und seine Kollegen am DVA sowie ein riesiges Netzwerk von Sammlern und Institutionen41 interessierten sich für das Volkslied als Ergebnis der modernen Schriftkultur. Sammeln hieß vor allem, schriftliche Belege und Nachweise zu sammeln und historisch zu klassifizieren. Meiers historiographischer Ansatz lässt sich unter dem Begriff »Kunstlied im Volksmunde« fassen, wobei er die historische Bewegung von oben nach unten innerhalb der Gesellschaft kennzeichnen wollte. 42 Im 20. Jahrhundert wirkte Meiers Begriff quasi als Gegenpol zum Konzept eines Volkslieds demokratischen Charakters, und trat in einen grundsätzlichen, aber auch dialektischen Widerspruch zum ›werktätigen‹ Volkslied der DDR-Volkskunde.43 Die kollektive Diskursgeschichte gestaltete sich auf zwei Seiten. Auf der einen Seite wirkte die Geschichte von oben nach unten; sie wurde von Schriftlichkeit – vom Volkslied als ›Objekt‹ – bestimmt. Am deutlichsten lässt sich diese Seite im Begriff des ›Volksliedguts‹, als Meiers Kunstlied im Volksmunde fassen. Bezeichnenderweise spielten erzählende Lieder eine Hauptrolle für diese Richtung, wie zum Beispiel anhand der Balladenforschung am Deutschen Volksliedarchiv von den 1930er Jahren bis zum Ende des 20. Jahrhunderts erkennbar ist.44 39 40

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42 43

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Ludwig Erk/Franz Magnus Böhme: Deutscher Liederhort, 3 Bde., Leipzig 1893f. Für eine ausführliche Geschichte des Deutschen Volksliedarchivs siehe Otto Holzapfel: Das Deutsche Volksliedarchiv Freiburg im Breisgau, Bern u. a. 1989. Solche Institutionen befanden sich nicht nur im deutschen Sprachraum oder in Europa, sondern auch außerhalb Europas, z. B. an meiner Universität, der University of Chicago, deren Professor für Germanistik, Archer Taylor, zwischen 1927 und 1939 Volksliedsammlungen mit Meier austauschte. John Meier: Kunstlieder im Volksmunde. Materialien und Untersuchungen, Halle 1906. Nach dem Zweiten Weltkrieg ergaben sich intensive Zusammenarbeiten zwischen dem DVA in Freiburg und dem neu gegründeten Arbeiterliederarchiv in Berlin, d. h. zwischen John Meier und Wolfgang Steinitz. Ohne die zahlreichen Quellen in den Freiburger Sammlungen wären Steinitz’ Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten (vgl. Anm. 6) nicht realisierbar gewesen. John Meier (Hg.): Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien, Bd. 1, Berlin, Leipzig 1935.

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Aus dem oppositionellen und ›werktätigen‹ Volkslied heraus entstand eine Geschichte, die sich von unten nach oben erstreckte. Anstatt in der Schriftlichkeit lag die Quelle der Volksmusik im Menschen, und zwar verkörpert durch Arbeit und Kampf. Aus den Verfahrensweisen der postkolonialen Historiographie lässt sich der Begriff ›subaltern studies‹ dafür entlehnen. Kaum überraschend, wenngleich doch unerwartet, nahm die DDR-Volkskunde diese ›Geschichte von unten‹ auf, die im Moment der kolonialen Begegnung aufkam: Zum ersten Mal in den grundlegenden Volksliedsammlungen der Spätaufklärung, wie etwa 1807 im posthumen Anhang zu Herders Volksliedern als außereuropäische Lieder in kolonialen Ländern wie Afrika oder Südamerika. In diesem Sinn galt die Musikgeschichtsschreibung der DDRVolkskunde als äußerst modern und bahnbrechend. Unnötig zu betonen, dass die beiden Seiten in einem dialektischen Verhältnis zueinander standen. In der DDRGeschichtsschreibung war die Dialektik ein übergeordnetes Prinzip, in dem die DDR-Gegenwart aus dem Geschichtsbild der Vergangenheit aufscheinen sollte. Unvollendetes Ende, oder: Eine kleine Geschichte der Gegenwart »Vorwärts und nie vergessen Und die Frage konkret gestellt Beim Hungern und beim Essen, Wessen Morgen ist der Morgen? Wessen Welt ist die Welt?« (Bertolt Brecht/Hanns Eisler: Solidaritätslied, abschließender Refrain)

Zum Schluss des vorliegenden Essays komme ich in der ethnographischen Gegenwart an, d. h. in der Arbeitswelt, die ich als Musikethnologe wie als Musiker bewohne. In dieser ethnographischen Gegenwart nähere ich mich der Welt ohne Volkskunde, Volksmusik, Scheunenviertel und jüdischer Präsenz des ›Neuen Berlin‹, die mir im einführenden Exkurs zu Beginn begegnete. Ich suche nach der Kontinuität der Diskontinuität in einer Musikgeschichte der Volkslieder demokratischen Charakters im 21. Jahrhundert. Gerade nahm mein eigenes Kabarettensemble, die »New Budapest Orpheum Society«, eine neue CD im Tonstudio von Cedille Records und der Radiostation WFMT in Chicago auf.45 Auf der neuen CD wird das Exil während der Nazizeit und des Holocaust im Repertoire des jüdischen Kabaretts thematisiert, d. h. als Geschichte musikalisch dargestellt. Lieder aus dem Berlin der Weimarer Zeit sowie aus dem KZ Terezín/Theresienstadt sowie Stücke von Filmkomponisten im Exil, wie etwa solche von Friedrich Holländer, ergeben sich als unterschiedliche historische Strö45

New Budapest Orpheum Society: Jewish Cabaret in Exile, Chicago: Cedille Records 2009. Der Name des Ensembles bezieht sich auf die ›Budapester Orpheumgesellschaft‹ des Wiener Fin de Siècle; für weitere Aufnahmen (z. B. des Solidaritätsliedes, Track 17) siehe New Budapest Orpheum Society: Dancing on the Edge of a Volcano. Jewish Cabaret, Popular and Political Songs, 1900– 1945, Chicago: Cedille Records 2002 (CDR 90000 065).

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mungen, die als Geschichte – erneut durch Oralität und Schriftlichkeit einer Sammeltätigkeit – zusammenfließen. Die Lieder, die die Geschichte wiederaufbauen, sind bewusst proletarisch, oppositionell und demokratisch, und sie stellen eine Mischung der Gesellschaftskritik von oben und von unten dar. Eventuell würden sich Wolfgang Steinitz und die DDR-Volkskunde über die auf unserer CD geschilderte Geschichte freuen; wir wagen jedenfalls als Musikerinnen und Musiker aus Chicago hierauf zu hoffen. Das Repertoire von Jewish Cabaret in Exile stammt vor allem aus Berlin, und es spiegelt den Klassenkampf des kosmopolitischen kapitalistischen Deutschlands am Vorabend des Zweiten Weltkriegs wider. Die Geschichte ist in einigen Liedern explizit, den meisten ist sie immanent. Symbolisch im Zentrum des Repertoires stehen Hanns Eisler und Kurt Tucholsky. Lebenslang beschäftigte sich Eisler mit dem historischen Zusammenhang zwischen alten und neuen Liedern,46 und Tucholsky komponierte Liedtexte als Zeit- und Gesellschaftskritik. Deutlich treten das jüdische Berlin und die Metropole der Arbeiter in den 1920er Jahren hervor. Im Zentrum des Musiklebens steht das Scheunenviertel, ebenfalls ein Ergebnis des Klassenkampfs und des oppositionellen Musizierens – und des jüdischen Kabaretts bzw. Populartheaters.47 In der Geschichte einer Musik demokratischen Charakters liegt das Repertoire eines amerikanischen Ensembles, das in Synagogen und Museen sowie auf den Bühnen von Blues-Bars und Broadway, und im Februar 2009 im Berliner Scheunenviertel in deutscher Sprache auftrat, im Zentrum einer historischen Welt, die sich selbst eine Frage aus der Ferne stellt: Wessen Welt ist die Welt? Im gegenwärtigen Deutschland fehlt es nicht an Volksliedern demokratischen Charakters sowie an klassenkämpferischer und sozialkritischer Musik. Es ist die Musik von Straßenmusikanten und Hip-Hop-Bands, von postmodernem Kabarett und Russendisko, von Avantgardisten und jenen, die Altes neu entdecken. Die Musik, die die Musikgeschichte der Gegenwart formt, stammt aus verschiedenen Quellen, und ihr Verhältnis zur Schriftlichkeit der Technologien unseres Zeitalters ist genauso heterogen. Sie ist eine Musik, die weitreichend an das historiographische Projekt der DDR-Volkskunde erinnert. In der Welt der Geschichte wird die Vergangenheit vergegenwärtigt. Es ist relativ einfach, die Volkslieder der DDR-Jugendbewegungen (z. B. der FDJ) erklingen zu lassen – etwa auf CDs, die zum Teil sehr günstig sind. 48 Oberflächlich scheinen die Lieder auf solchen Aufnahmen nostalgisch und vergangenheitsbezogen. Wer singt noch »Wir singen schon heute die Lieder von Morgen« oder das »Lied vom kleinen Trompeter«? Aber wer sang zu DDR-Zeiten den »Kleinen Trompeter«, der als ab46

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Siehe z. B. Hanns Eisler: Neue deutsche Volkslieder/Chansons, Kinder- und Jugendlieder, in: Ders.: Gesammelte Werke, Serie 1, Bd. 18, vorgelegt von Nathan Notowicz, Leipzig 1968. Siehe Kapitel 9 (»Tales of the Metropole«) in Philip V. Bohlman: Jewish Music and Modernity, New York u. a. 2008 (= AMS Studies in Music). Vgl. Unser Zeichen ist die Sonne. Die schönsten Lieder der FDJ, Berlin: BMG 1999 (74321 69977 2); Fröhlich sein und singen. Die schönsten Pionierlieder, Berlin: BMG 1998 (74321630262).

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schließendes Lied in Wolfgang Steinitz’ Kanon stand? Es geht nicht darum, ob solche Lieder aktuell sind oder es je waren. Im Gegensatz dazu handelt es sich um die Geschichte und die Historiographie der Musik in der DDR. Bei Revivalprojekten der Popularmusik ist die historisierende Aktualität nicht weniger vergangenheitsbezogen.49 Sowohl die CD Russendisko als auch die des deutschen Klesmerrevivals kolportieren die Vergangenheit in Art eines fremden Landes, das von der deutschen Geschichte ausgeklammert wurde, heute aber reintegriert werden müsste. 50 Das Ende einer Musikgeschichte sollte sich emotional erkennen lassen, eventuell in Form eines Verlustsgefühls, als Nostalgie und Ostalgie, als Angst vor dem Vergessen. Der DDR-Volkskunde und deren Volksmusikforschern waren solche Gefühle wohlbekannt, aber sie wussten darüber hinaus, dass ihre Möglichkeiten hinsichtlich einer Musikgeschichte aus demokratischen und oppositionellen Liedern begrenzt waren. Wolfgang Steinitz und seine Kollegen kämpften gegen die Ausgrenzung der Vergangenheit, um deren Kämpfe in der DDR erneut erklingen zu lassen. Die zwei Seiten der Geschichtsschreibung, die aus den Volksliedern demokratischen Charakters hervorgehen, bleiben heute – in unserer Welt nicht weniger als in der Welt der DDR-Musikgeschichte – immer noch aktuell als historische Stimmen in der Geschichte der Gegenwart.

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Sogar Subway to Sally’s Auf Kiel, das Siegerlied des Bundesvision Songcontest 2008, lässt sich als bewusst vergangenheitsbezogen auffassen, wenngleich in einer spezifisch ostdeutschen Klangwelt von Heavy Metal; siehe Bundesvision Songcontest 2008, Tr. 7, Berlin: Polystar 2008 (00422 8823850). Siehe z. B. Wladimir Kaminer/Yuriy Gurzhy: Russendisko Hits 2, Berlin: BuschFunk 2004 (15862); vgl. Philip V. Bohlman: Historisierung als Ideologie. Die ›Klesmerisierung‹ der jüdischen Musik, in: Eckhard John (Hg.): Jüdische Musik? Fremdbilder – Eigenbilder, Köln u. a. 2004, S. 241–255.

Autonomie und Kontext. Ein Beitrag zur Theorie der Musikgeschichtsschreibung am Beispiel von Neuer Musik in der DDR Albrecht von Massow Die Musikgeschichtsschreibung der DDR erfordert wegen der Sonderbedingungen dieses Staates als politisches Kunstgebilde auch eine Theorie unter Berücksichtigung eben dieser Sonderbedingungen. 1 Solche Theorie zu fordern, setzt voraus, dass sie noch nicht besteht. Ein Blick auf die bisherige Literatur zur Musikgeschichte der DDR lehrt aber, dass solche Theorie sehr wohl schon besteht, nämlich wirksam ist, gleichwohl als solche Theorie sich explizit in den meisten Fällen nicht zu erkennen gibt und daher auch nicht kritisch reflektiert wird. Sie besteht in der Voraussetzung, dass man die politischen, insbesondere die kulturpolitischen Kontexte vorgängig zur Kenntnis zu nehmen und zu Beginn einer Untersuchung auch zu skizzieren habe, um von ihnen her – als Erklärungsursprung und Erklärungsweg im Folgenden quasi sich von selbst bestätigend – dann auf die zu betrachtenden Gegenstände – nämlich kompositorisches bzw. ästhetisches Handeln in der DDR – ohne größere Umstände schließen zu können; das heißt aber auch, letztere historiographisch und ästhetisch auf ihre Funktion als Bestätigung jenes Erklärungsweges zu reduzieren. Meine zunächst verkürzende sowie differenzierende Ausnahmen unberücksichtigt lassende Kennzeichnung jener impliziten theoretischen Voraussetzung kann vielleicht für die folgenden Fragen Interesse wecken: 1) Inwieweit schreibt die wissenschaftliche Kontextualisierungsperspektive der Sekundärliteratur nach 1989 das Kontextualisierungsgebot seitens des DDR-Staates gegenüber der Kunst vor 1989 nahezu ungebrochen fort, nämlich unter der weiterhin unterschwellig wirksamen Voraussetzung einer vorgeblich in der westlichen Geisteswissenschaft schon seit Jahrzehnten ›überwundenen‹ Widerspiegelungstheorie? 2) Inwieweit ist die Kontextualisierungsperspektive als heutige Fortschreibung der Widerspiegelungstheorie gar keine Theorie nur bezüglich der Sonderbedingungen der DDR, sondern die allgemeine Theorie, von der die Geisteswissenschaften generell durchdrungen sind, und zwar im Blick auf Gattungskontexte bzw. Materialkontexte, verstanden als Ausdruck historischer bzw. gesellschaftlicher Kontexte? 2 3) Was wird als andere historisch wirksame Kraft – nämlich eine Autonomie des kompositorischen bzw. ästhetischen Handelns – durch jene Kontextualisierungsperspektive verdeckt, wenn diese ästhetisches und kompositorisches Handeln in erster Linie durch den Verweis auf prägende Kontexte auszulegen versucht? 1

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Grundlegend hierzu Nina Noeske/Matthias Tischer: Prolegomena zu einer Musikgeschichte der DDR, in: Die Musikforschung 59 (2006), S. 346–356. Vgl. hierzu Albrecht von Massow: Nach welchen Kriterien begründet sich heutige Musikwissenschaft?, in: Archiv für Musikwissenschaft 57 (2000), S. 39–63.

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4) Sollte Theorie von daher nicht besser die Auseinandersetzung zwischen Autonomie und Kontext als verschüttete Wahrheit der Geschichte zu Tage fördern, um erst von solcher Auseinandersetzung auf die Beschaffenheit der Werke wie auch auf deren für gesellschaftliche Zukunft relevantes Potential menschlicher Selbsterkenntnis zu schließen? Eine solche Theorieanstrengung zöge erst wirklich die oft beschworene, selten aber ernsthaft gewollte ›Lehre aus der Geschichte‹; denn zu stark scheint das Bedürfnis, Kunst quasi prometheisch an den Felsen ›ihrer‹ Kontexte zu schmieden, um ihr damit den ebenso prometheischen Empfehlungscharakter, nämlich das ›Feuer der gesellschaftlichen Selbsterkenntnis‹ als Ausdruck von Reflexion, abzusprechen. Eine erneute Auseinandersetzung mit der Kontextualisierungsperspektive soll daher zeigen, inwieweit deren Voraussetzungen und Leitgedanken, wie sie als Widerspiegelungstheorie bezüglich des Verhältnisses zwischen Kunst und Gesellschaft im Rahmen einer sozialistischen Gesellschaftsauffassung entwickelt wurden, abstrahiert zum allgemeinen Modell jenes Verhältnisses auch in einer Musikgeschichtsschreibung im Rahmen anderer Gesellschaftsauffassungen wiederkehren. Der Kontextualisierungsperspektive wird Musik zwar zum Gegenstand, in der Regel aber nur als Objekt eines historischen bzw. gesellschaftlichen Interesses, nicht aber auch als Ausdruck des Subjekts einer historischen bzw. gesellschaftlichen Reflexion; jedenfalls beziehen geläufige Selbstdefinitionsversuche einer Musiksoziologie diese zweite Möglichkeit nicht ausdrücklich mit ein. Vielmehr betrachten sie Musik als ein Objekt, durch welches hindurch sich historische bzw. gesellschaftliche Kontexte ausprägen. Musik erscheint hier eher bloß als Verstärker oder als Sprachrohr, allenfalls als konzentrierender Transformator in der Art einer unreflektierten Widerspiegelung, beispielsweise im folgenden Zitat: »Musik existiert nicht außerhalb der menschlichen Gesellschaft. Was jeweils als ›Musik‹ gemacht, erlebt, ästhetisch (und vielfach anders) bewertet wird, ist selbst Erscheinungsform, Vergegenständlichung sinnlich-praktischer Lebenstätigkeit von Menschen innerhalb bestimmter, real existierender gesellschaftlicher Verhältnisse. Mit diesen entwickelt sich ›Musik‹ in einem historischen Prozeß arbeitsteiliger Differenzierung zu einer besonderen Weise menschlicher Produktivität und Sinngebung, klangsinnlicher-kommunikativer Praxis in ausdrucksspezifischem Material, die zunehmend innerhalb geschichtlich gewordener Bedingungen sich entfaltet. Diese realen, in und durch Musik sich vollziehenden, vermittelten sozialen Prozesse – die gegenwärtigen wie die vergangenen, Geschichte gewordenen – sind relativ spät zu Gegenständen von Musikforschung geworden.«3

Im Hintergrund solcher Überlegungen zum Verhältnis zwischen Musik und Gesellschaft steht eine Voraussetzung, deren Vorhandensein zwar aus der Sicht eines Bedürfnisses nach gesellschaftlicher Selbstaufklärung unbedingt zu begrüßen ist, deren Art und Weise, wie sie den Gegenstand ihres Interesses bestimmt, jedoch kritisch befragt werden muss. Als begrüßenswerte Voraussetzung vorhanden ist Soziologie als wissenschaftliche Perspektive auf Gesellschaft als Kontext; sie ist eine vergleichswei3

Carl Dahlhaus/Helga de la Motte-Haber (Hg.): Systematische Musikwissenschaft, Laaber 1982 (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft 10), S. 128 (Hervorhebungen vom Verf.).

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se junge Wissenschaft, deren Herausbildung mit der Entwicklung moderner Gesellschaften seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zusammenfällt. Doch die Art und Weise, wie Soziologie sich den Gegenstand ihres Interesses bestimmt, muss kritisch befragt werden. Denn eine erdrückende Mehrzahl soziologischer Forschungen geht selbstverständlich von einer gesellschaftlich weit verbreiteten Voraussetzung aus, der zufolge sich Gesellschaft in ihre ›wichtigen‹, primären Bereiche und in ihre ›unwichtigeren‹, die ›wichtigen‹ nur begleitenden oder widerspiegelnden, also sekundären Bereiche aufteilt. Das hauptsächliche Interesse gilt hiermit Staat, Familie, sozialem Umfeld, Wirtschaft, Militär, Religion oder Naturwissenschaft als ›wichtigen‹, wirkungsmächtigen, daher primären Bereichen als Kontexten, von denen ein allgemeiner Begriff von Gesellschaft und Soziologie abgeleitet wird. Ein nur nebensächliches Interesse hingegen gilt Kunst, Philosophie oder Geisteswissenschaft als nicht wirkungsmächtigen, daher sekundären Bereichen, die einem allgemeinen Begriff von Gesellschaft und Soziologie untergeordnet werden, indem sie durch ihn »innerhalb geschichtlich gewordener Bedingungen«4 – und das meint die primären gesellschaftlichen Kontexte – verortet werden. Deswegen hat sich Kunst- und speziell Musiksoziologie auch nur als verspätete Ableitung allgemeiner Soziologie seit Beginn des 20. Jahrhunderts herausgebildet. Immer wieder wird daher diskutiert, ob Musiksoziologie als Musikwissenschaft überhaupt ein eigenständiges Fach ist oder nicht vielmehr als Teildisziplin der Soziologie zugeschlagen werden sollte. So sehr man diese Diskussion als Ausdruck des Dilemmas der Herausbildung eigenständiger Fachkriterien verstehen kann, so sehr muss man aber auch einwenden, dass ein Ursprung dieses Dilemmas in der völlig unzureichenden Bestimmung des Fachgegenstands liegt, wenn nämlich Musik als bloß sekundär, somit aus gesellschaftlichen Kontexten abgeleitet angesehen wird. Bezüglich der Musik ist diese Aufteilung in primäre Kontexte und deren sekundäre Ableitungen besonders fatal, wenn dadurch der sekundäre Status von Musik im besten Falle als bloße (manchmal auch idealisierende) Widerspiegelung affirmiert, im schlechteren Falle als schöner Selbstzweck isoliert und im schlechtesten Falle, nämlich dem »arbeitsteiliger Differenzierung« 5, als bloße Zerstreuung und Entspannung vom durchökonomisierten Berufsleben spezifiziert wird, so dass spätestens mit solchen Zuweisungen Musik als Ausdruck von Autonomie und einer aus ihr möglichen Selbstreflexion der Subjekte gar nicht erst in den Blick gerückt werden kann. Zur Entschuldigung einer Ableitung und Verallgemeinerung soziologischer Kriterien von den zwar wirkungsmächtigen, gleichwohl nicht die ganze Gesellschaft repräsentierenden Kontexten muss man allerdings einräumen, dass sich Musik vielfach ihrerseits in ihrem gesellschaftlichen Selbstverständnis – sei es, um aus materieller Not Erwartungshaltungen im Sinne jener Zuweisungen zu erfüllen, sei es aus Bequemlichkeit – mit einem Status als sekundäre Ableitung zufrieden gegeben und ihn somit affirmiert hat.

4 5

Ebd. Ebd.

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Subjekt und Gesellschaft Kompositorisches bzw. ästhetisches Handeln als eine Form gesellschaftlichen Handelns ist nur als Handeln von Subjekten plausibel herzuleiten. Doch gerade die Kategorie ›Subjekt‹ erscheint mit maßgeblichen Theorien, die die Ästhetik des 20. Jahrhunderts beeinflusst haben, als entmächtigt – zwar jeweils auf unterschiedliche Weise, aber im Kern mit der Tendenz, das Subjekt nicht systematisch als erkenntnis- und handlungstheoretische Voraussetzung jeglicher Bildung von Gesellschaft anzuerkennen, sondern als ›bürgerliche‹ Kategorie zu historisieren, nämlich auf den geschichtlichen Geltungsbereich der bürgerlichen Gesellschaft – und zwar als deren philosophisches Selbsterhaltungskonzept – zu reduzieren. Soziologisch wird häufig eine Spaltung zwischen Sein und Bewusstsein primär in der Weise vorgestellt, dass ›Subjekt‹ gleichzusetzen sei mit ›Bewusstsein‹, während mit ›Sein‹ vorrangig die ökonomischen Verhältnisse gemeint seien, die ein bestimmtes Bewusstsein von ihnen je nach dessen Position zu oder in ihnen haben soll; 6 mit ›Subjekt‹ sei eine dieser Positionen, nämlich die bürgerliche, und zwar als bestimmte Form der Herrschaft, gemeint. Folglich sei alles, was nicht diese Form des Bewusstseins und der Herrschaft ist, also die übrigen Positionen in oder zu den ökonomischen Verhältnissen, nicht als Position von Subjekten zu begreifen: »Ein […] Wandel scheint sich im Verhältnis zu Persönlichkeit und Subjekt zu vollziehen. Dessen Wesen lag einmal im Gefühl des Individuums, aus den mittelalterlichen Bindungen gelöst und Herr seiner selbst geworden [zu sein]. [Dies] drückte sich philosophisch in der Theorie vom Subjekt als dem Grund alles Begreifens; politisch im Gedanken der bürgerlichen Freiheiten; lebensmäßig in der Vorstellung aus, das menschliche Individuum trage eine innere Gestalt in sich, welche fähig und verpflichtet sei, sich aus sich selbst heraus zu entfalten und ein nur ihr eigenes Dasein zu verwirklichen. Dieser Gedanke scheint aber mit einer bestimmten soziologischen Struktur, nämlich der bürgerlichen, verbunden zu sein […]. Im Zusammenhang mit der Technik kommt nun eine anders geartete Struktur herauf, für welche die Idee der sich selbst aufbauenden schöpferischen Persönlichkeit, beziehungsweise des autonomen Subjekts offenbar nicht mehr maßgebend ist. Das wird an deren äußerster Gegenform deutlich, nämlich am Menschen der Masse […]. Bei diesem Menschen kann von Persönlichkeit und Subjektivität im oben entwickelten Sinne nicht mehr gesprochen werden. Er hat gar nicht den Willen, eigen in seiner Gestalt und origi nell in seiner Lebensführung zu sein, noch sich eine Umwelt zu schaffen, die ihm ganz und möglichst ihm allein entspricht. Er nimmt vielmehr die Gebrauchsdinge und Lebensformen an, wie sie ihm von der rationalen Planung und den genormten Maschinenprodukten aufgenötigt werden […].«7 6

7

Die Nähe der ontologischen Unterscheidung Martin Heideggers zwischen Sein und Subjekt – letzteres verstanden als historisierbare Perspektivität – zu jener auf Karl Marx zurückgeführten soziologischen Unterscheidung zwischen Sein und Bewusstsein ist unübersehbar. Zur Kritik an Heideggers Historisierung des Subjekts als angeblich nur neuzeitliche Perspektivität sowie auch zur Kritik am ontologischen Rangverhältnis zwischen Sein und Subjekt vgl. Albrecht von Massow: Musikalisches Subjekt – Idee und Erscheinung in der Moderne, Freiburg i. Br. 2001 (dort Kapitel »Voraussetzungen«). Romano Guardini: Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung, Würzburg 31951, S. 71ff.

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Gegen diese Sichtweise ist eine Auffassung einzuwenden, die das Subjekt nicht in dieser Art soziologisch historisiert, sondern erkenntnis- und handlungstheoretisch als Ursprung aller Formen des Bewusstseins und Unbewusstseins und aller Formen der Gesellschaftlichkeit ansieht. Aus der Sicht einer solchen Auffassung ist eine Spaltung zwischen Subjekt und Kollektiv nicht als eine zwischen Bewusstsein und Sein anzuerkennen. Denn sie ist tatsächlich eine Spaltung zwischen Subjekt und Subjekten, dies aber als Verhältnis gegenseitiger Wahrnehmung und intersubjektiven Handelns, nicht also als ein Verhältnis, wo eine Seite, die des Subjekts als Bewusstsein, bloß geprägt wäre durch die andere, die des Kollektivs als Sein bzw. Kontext, sondern als ein Sich-Verhalten beider Seiten als Subjekte, deren jedes – bewusst oder unbewusst, erfolglos oder erfolgreich – im vollen erkenntnis- und handlungstheoretischen Sinne tätig wird, und zwar in einer Grundsätzlichkeit, die noch vor aller Ausgestaltung zur Theorie gesellschaftlichen Handelns als systematischer Ursprung mentalen Handelns vergegenwärtigt werden muss. Denn was Guardini als Subjekt, und zwar »als den Grund alles Begreifens« historisiert, muss tatsächlich erkenntnistheoretisch in einer Weise fundamental für menschliches Subjektsein gelten, dass eine solchermaßen einschränkende Historisierung nur um den Preis einer eingeschränkten Auffassung von ›Begreifen‹ oder aber um den Preis einer nach Individuen und gesellschaftlichen Gruppen zu spezifizierenden Auffassung von ›Begreifen‹ zu haben ist. Wie aber kann Begreifen als ein Spezifisches gelten ohne die Voraussetzung eines grundsätzlichen Vermögens, nämlich überhaupt begreifen zu können, ohne die es gar nichts gäbe, was überhaupt spezifiziert werden könnte? Denn in dieser Grundsätzlichkeit ist erkenntnistheoretisch bei Immanuel Kant das Subjekt als autonomes Vermögen des mentalen Handelns in Form von Zeit und Raum, nämlich als Synthesis, gemeint: »Unsere Vorstellungen mögen entspringen, woher sie wollen, ob sie durch den Einfluß äuße rer Dinge, oder durch innere Ursachen gewirkt seien, sie mögen a priori, oder empirisch als Erscheinungen entstanden sein; so gehören sie doch als Modifikationen des Gemüts zum in neren Sinn, und als solche sind alle unsere Erkenntnisse zuletzt doch der formalen Bedingung des inneren Sinns, nämlich der Zeit unterworfen, als in welcher sie insgesamt geordnet, ver knüpft und in Verhältnisse gebracht werden müssen. […] Jede Anschauung enthält ein Mannigfaltiges in sich, welches doch nicht als ein solches vorgestellt werden würde, wenn das Gemüt nicht die Zeit, in der Folge der Eindrücke aufeinander unterschiede: denn als in einem Augenblick enthalten, kann jede Vorstellung niemals etwas anderes, als absolute Einheit sein. Damit nun aus diesem Mannigfaltigen Einheit der Anschauung werde, (wie etwa in der Vorstellung des Raumes) [sic] so ist erstlich das Durchlaufen der Man nigfaltigkeit und dann die Zusammennehmung derselben notwendig, welche Handlung ich die Synthesis der Apprehension nenne, weil sie geradezu auf die Anschauung gerichtet ist, die zwar ein Mannigfaltiges darbietet, dieses aber als ein solches, und zwar in einer Vorstellung enthalten, niemals ohne eine dabei vorkommende Synthesis bewirken kann.« 8

Man kann an der Erkenntnistheorie Kants vieles kritisieren, angefangen bei den Formulierungen, in denen Zeit noch in der Art eines Behälters für Eindrücke, Vorstellungen etc. vorgestellt wird, wodurch Kant eigentlich hinter seine eigene Auffassung 8

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, 1. u. 2. Originalausgabe, neu hg. von Raymund Schmidt, Hamburg 1956, S. 142(a)f.

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zurückgeht, nämlich dass Zeit diejenige Form ist, in der überhaupt Eindrücke erlangt werden bzw. etwas als etwas vorgestellt wird (»nämlich der Zeit unterworfen« [unterworfen vermutlich in Lehnübersetzung für subiectum]), und zwar im Verhältnis zu uns selbst, die wir uns als Selbstbewusstsein stets aufs Neue positionieren in Bezug zu jenem von uns als wirklich Hingestellten. Aber deutlich weiß Kant die Tatsache zu machen, dass solches Begreifen als Bewusstsein ein mentales Vermögen, nämlich ein mentales Handeln, und zwar das einer Synthesis ist. Bewusstsein als mentales Vermögen ist in dieser Weise von Kant grundsätzlich, das heißt als anthropologisches Vermögen vorgestellt, welches nicht – jedenfalls nicht innerhalb menschheitsgeschichtlicher Zeiträume – als Vermögen nur einer bestimmten Gruppe – also etwa der bürgerlichen – historisiert werden kann; denn dies hieße, früher, später oder anderswo lebenden Gruppen Bewusstsein als mentales Vermögen abzusprechen. Ferner wird Bewusstsein als mentales Handeln hier von Kant näher charakterisiert, nämlich als Syntheseleistung im Zuge des Begreifens, wie es daher als Handeln eines Subjekts in ebenso grundsätzlicher, und das heißt anthropologischer Weise und nicht auf Zeiträume weniger Jahrhunderte beschränkt angenommen werden muss. Den Charakter des Begreifens, nämlich als Handeln des Subjekts, stellt daher Gerold Prauss klar heraus: »Als ›Wahrnehmen‹ von ›Wahrgenommenem‹ bleibt Subjektivität nicht passiv-rezeptiv bloß ein ›Vernehmen‹ von schon immer ›Vorgegebenem‹, wird Subjektivität vielmehr erst recht spontan-aktiv, indem sie umgekehrt etwas schon immer durch sich vorgestelltes Anderes als sich durch sich auch zu verwirklichen sucht. Gerade Deutung von deutbarer Anschauung mittels deutfähigem Begriff ist Subjektivität als ›Wahrnehmung‹ von ›Wahrgenommenem‹ daher in solchem Sinn, daß sie aus sich als der deutbaren Anschauung heraus durch sich als den deutfähigen Begriff sich das vermittels beider stets schon vorgestellte Andere dann stets erst zu erdeuten sucht […].«9

Begreifen als Handeln wie auch dessen Entfaltung zu gesellschaftlichem Handeln geschieht somit a priori unter der »formalen Bedingung des inneren Sinns, nämlich der Zeit«, welche zugleich das Vermögen des Subjekts ist, nämlich als Vermögen der Zeitsetzung, wie es jeglicher Wahrnehmung von schon Existierendem wie auch jeglicher Erzeugung von noch nicht Existierendem, aber Beabsichtigtem – etwa als Artefakt – zugrunde liegt. Dies – nämlich gar nicht anders als unter der formalen Bedingung der Zeit erkennen und handeln zu können – ist die Autonomie des Subjekts: ihm gesetzt und von ihm gesetzt. Die Autonomie dieses mentalen Handelns akzeptiert daher auch Niklas Luhmann aus soziologischer Sicht, wenn er sagt, »daß […] Außenwelt eine eigene Konstruktion des Gehirns ist und nur durch das Bewußtsein so behandelt wird, als ob sie eine Realität ›draußen‹ wäre.«10 Allerdings muss man hier differenzieren, dass Realität nicht allein als Konstruktion der Subjekte existiert – das wäre Solipsismus –, sondern dass die Art und Weise, wie etwas als Realität gesetzt wird, zu den autonomen Bedingungen und Bedingtheiten des Subjekts, nämlich als Zeit und Raum, geschieht. Dies 9 10

Gerold Prauss: Die Welt und wir, Bd. I/2: Raum – Substanz – Kausalität, Stuttgart 1993, S.782. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 15.

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ist die bis heute schwer zu vermittelnde Einsicht der Kritik der reinen Vernunft Kants, dass nämlich Zeit und Raum nicht als etwas außerhalb des Subjekts Vorfindliches erwiesen werden können, sondern nur als autonom verwirklichte Bedingungen mentalen Handelns als Formen des Subjekts, also im Sinne des ›subicere‹ von ›etwas als etwas setzen‹, zu erschließen sind, dass somit Außenwelt nicht als gegebene Realität vom Subjekt erkannt wird, sondern dass die Formen des Realisierens – nämlich Zeit und Raum – die Formen des Subjekts sind. Mit dieser grundsätzlichen Bestimmung von Erkennen als Handeln eines Subjekts muss man einer soziologischen Kontextualisierungsperspektive, wenn sie Widerspiegelungstheorie fortschreibt und das Handeln der Subjekte aus gesellschaftlichen Kontexten ableitet, vorwerfen, dass sie Subjektivität historisiert, anstatt sie systematisch zu Grunde zu legen, indem sie nämlich für jenes Vermögen des Subjekts als Ursprung von Erkennen und Handeln sowie daraus folgend von Gesellschaftlichkeit wiederum einen noch davor anzusetzenden gesellschaftlichen Kontext postuliert. Das aber bedeutete, dass Gesellschaft schon vor ihren Subjekten existieren müsste. Doch wie ist dies vorstellbar? Oder aber man erkennt zwar Gesellschaft als Handeln von Subjekten an, unterscheidet hier aber die Generation der früheren Subjekte als prägende im Sinne eines Seins von der Generation der späteren Subjekte als geprägte im Sinne eines Bewusstseins, wobei (immer eingedenk der Maxime, dass das Sein das Bewusstsein bestimmen solle) letztere als rein passiv hinnehmende und nicht – im Sinne Kants und Prauss’ – als immer zugleich auch aktive, nämlich ihr Hinnehmen erzeugende gedacht werden. Im Begriff ›Hinnehmen‹ wäre jedoch zur Hervorhebung des damit gekennzeichneten Erkennens als Handeln eines Subjekts das Verb ›nehmen‹ zu betonen. Dem entrüsteten Einwand, dass wohl schlechterdings im Falle eines Erleidens nur noch zynischerweise von einem Handeln, etwa im Sinne von einem Sich-selbst-Einhandeln, gesprochen werden könne, muss entgegnet werden, dass es gerade zum Wesen des Leidens als Erleiden gehört, dass eine sinnlich-geistige Lebensaktivität etwas ihr Entgegengesetztes erfahren muss, und auch dies in dem Sinne, dass sie, bis hin zum Sterben, als Sinnes- und Erdeutungstätigkeit des Erfahrens oder Erfahrenmüssens bis zuletzt aktiv bleibt; dies kennzeichnet die Silbe ›er-‹ etymologisch als Subjektperspektive. Übertragen auf das Verhältnis des Subjekts zur Gesellschaft, nämlich zu anderen Subjekten, bedeutet dies, dass es zwischen diesem und jenen kein passives Verhältnis in der Art eines vom Sein bestimmten Bewusstseins geben kann, sondern stets nur ein jenes wie auch anderes Sein im Zuge aktiver Sinnes- und Erdeutungstätigkeit erfahrendes Bewusstsein oder – und das ist hier wichtig bezüglich dessen, was alles Subjekt-Sein bedingt – Unbewusstsein. Denn auch letzteres steht nicht neben einem Subjekt wie ein empirischer Gegenstand neben einem anderen, sondern ist stets nur als das Unbewusste eines Subjekts zu denken, somit im psychischen Sinne eine Weise von dessen Lebensaktivität, also dessen Handeln, gleichwohl als triebhaftes möglicherweise ein von ihm nicht kontrolliertes Handeln. Bewusster oder unbewusster Umgang mit künstlerischem Material, welches als Ausdruck gesellschaftlicher Normprozesse wie auch deren Selbstreflexion gilt, ist so-

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mit auch immer schon ein Handeln: zunächst, insofern man es übernimmt – nämlich im Akt der bewussten oder unbewussten Reproduktion –, und weiter, indem man damit umgeht. Nicht aber ist ›Material‹ zu verselbständigen als seinerseits handelndes, das in der Art einer kontextuellen ›Objektivität‹ hinzunehmen, die Subjekte zu reiner Passivität verdammt. Materialästhetik in Ost und West Es scheint, dass die Kluft zwischen Kontextualisierungsperspektive und Subjektautonomie bezüglich der DDR wie auch der BRD einen Unterschied zwischen ästhetischer Reflexion und kompositorischer Praxis erkennen hilft. Dies zeigt sich hinsichtlich der Musik besonders offenkundig mit dem Begriff ›Material‹, wie ihn Georg Lukács und Theodor W. Adorno entwickelt haben. In ihr Verständnis vom ›Material‹ ist ein marxistischer Begriff des kollektiven, gesellschaftlichen Seins, welches das Bewusstsein bestimme, eingegangen. Lukács zufolge ist es die »Breite, Weite und Tiefe jener Welt [als Sein], die den Ausdruck [von Kunstwerken] in unmittelbarer wie in vermittelter Weise bestimmt«, also aktiv handelnd (nämlich bestimmend) erscheint, während das »Widerspiegelungsmaterial im Subjekt aufgespeichert ist«,11 so dass das Subjekt als Bewusstsein bloß passiv hinnehmend zum Aufbewahrungsbehälter und seinerseits aktiv allenfalls nur in der Weitervermittlung des Aufgespeicherten wird. Ein Vermögen zur Reflexion von Erfahrung, die mit Kant ihrerseits schon als aktive Sinnes- und Erdeu tungsfähigkeit zu denken ist, erst recht aber ein Vermögen, jene Reflexion als Musik auszudrücken, kommt mit Lukács’ Widerspiegelungstheorie nicht in Betracht. Dass solche Reduktion des Subjekts auf gesellschaftliche Kontexte keineswegs nur einer sozialistischen Ästhetik eignet, zeigt sich bei Adorno. Er setzt zunächst einer Auffassung, die musikalisches Material »physikalisch, allenfalls tonpsychologisch definiert«12, entgegen, dass dies tatsächlich etwas »gesellschaftlich […] Präformiertes« sei: »Die Forderungen, die vom Material ans Subjekt ergehen, rühren vielmehr davon her, daß das ›Material‹ selber sedimentierter Geist, ein gesellschaftlich, durchs Bewußtsein von Menschen hindurch Präformiertes ist. Als ihrer selbst vergessene, vormalige Subjektivität hat solcher objektive Geist des Materials seine eigenen Bewegungsgesetze. Desselben Ursprungs wie der gesellschaftliche Prozeß und stets wieder von dessen Spuren durchsetzt, verläuft, was bloße Selbstbewegung des Materials dünkt, im gleichen Sinne wie die reale Gesellschaft […].« 13

Zwar scheint es so, als ob Adorno das Subjekt als allein Verantwortliches für musikalisches Material anerkennt, wenn er dies »Präformierte« als »ihrer selbst vergessene, vormalige Subjektivität« ansieht. Schon hier aber ist im Umkehrschluss zu vermuten, 11 12

13

Georg Lukács: Die Eigenart des Ästhetischen, Bd. 2, Berlin (Ost) u. a. 1981, S. 313. Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik (= Gesammelte Schriften 12), hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1975, S. 38. Ebd., S. 39f.

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dass er den Begriff Subjekt auf eine Bewusstheit beschränkt, die nur, solange sie eine nicht »ihrer selbst vergessene« ist, das Material verantwortet. Daher verantwortet bei ihm das aktuelle Subjekt nicht die »eigenen Bewegungsgesetze« jener vormaligen Subjektivität. Das ist widersprüchlich. Denn so, wie frühere Subjektivität ihr Material erzeugt, so muss aktuelle Subjektivität – bewusst oder unbewusst – wiederum das Aufgreifen oder die Absetzung von jenem vormaligen Material ihrerseits erzeugen, nämlich als aktuelles Material. Adornos Wortgebrauch tendiert aber dahin, das aktuelle Subjekt von dieser Verantwortlichkeit zu entbinden und sie einem von ihm unabhängigen Gesellschaftlichen zuzuschreiben, wenn er von den »eigenen Bewegungsgesetzen« des Materials sagt, sie seien der »objektive Geist« als »Präformiertes«, nämlich als »Gesetze« »durchs Bewußtsein von Menschen hindurch«. Wessen Geist meint er hier? Gesellschaft entsteht intersubjektiv; nicht ist sie wie ein selbständig handelndes Supersubjekt vorzustellen. Zu fragen ist ferner, durch wessen geschichtliche Wahrnehmung Zeitverhältnisse zugrundegelegt werden, denen zufolge etwas als »Präformiertes«, als »vormalige Subjektivität« rekonstruiert wird, und weiter, durch wessen »Bewußtsein […] hindurch« dies geschieht. In Adornos Begrifflichkeit wirkt das aktuelle Subjekt wie ein konturloses Sprachrohr, durch das »hindurch« der »objektive Geist« als etwas vom Subjekt nicht Verantwortetes sich kund tut. Doch ehe man hierfür wieder eine vom Subjekt unabhängige oder gar von ihm bloß passiv hinzunehmende oder widerzuspiegelnde Realität ansetzt und dabei die Formen des Realisierens seitens des Subjekts unterschlägt, 14 sollte man mit den Konsequenzen einer Erkenntnis- und Handlungstheorie Kants und Prauss’ gerade die Formen jenes Realisierens, nämlich zu den Bedingungen des Subjekts, als obicere kennzeichnen, somit Objektivität als Produkt von Subjekten, nämlich im Akt ihres Setzens von etwas als etwas. Bei Adorno hingegen bekommt das Material seinerseits den Charakter eines handelnden Lebewesens, indem es »Forderungen« stellt, die »ans Subjekt ergehen«, etwa als ihm »aufgenötigte Gestalt des Musikalischen« 15. Natürlich meint Adorno nicht, dass Material als empirisches solchermaßen verlebendigt handelt, sondern er meint Material als Ausdruck gesellschaftlichen Geistes. Diesen jedoch definiert er nicht intersubjektiv, sondern als gegenüber dem Subjekt verselbständigte Objektivität, die das Subjekt zu etwas nötige. Hierdurch aber ist der Begriff Subjekt nicht ausgeschöpft. Denn erstens besteht geschichtliche Notwendigkeit allein durch Subjekte und nicht unabhängig von ihnen; nur durch sie bestehen Wertsysteme als Motivation von Geschichte, denen zufolge es erstrebenswert sein kann, naturale oder gesellschaftliche Zwänge zu durchbrechen oder zu akzeptieren. Denn von wem sonst soll dies als Notwendigkeit angesehen und durchgeführt werden oder nicht? Zweitens ist auch das Objektive mit seinem Wortkern ›icere‹ ein substantiviertes Handlungswort. Um wessen Handeln geht es 14

15

Dies ist die erkenntnis- und handlungstheoretische Grundannahme der Widerspiegelungstheorie Georg Lukács’. Ders.: Die Eigenart des Ästhetischen (wie Anm. 11), S. 313f. Theodor W. Adorno: Mahler. Eine musikalische Physiognomie (= Gesammelte Schriften 13), hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1985, S. 258.

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hierbei? Durch wessen Bedingungen und Bedingtheiten ist dies Handeln, welches die Anschauung von etwas als etwas konstituiert, geprägt? Und drittens: Von wem ist die Rede, wenn etwas als bewusst oder unbewusst, als frei oder unfrei angesehen wird? Bei Adorno bleibt auch dort, wo er im Hinblick auf bewusstes oder freies Handeln die Verantwortlichkeit des Subjekts anerkennt, eine nicht haltbare Trennung zwischen Material und Subjekt bestehen, beispielsweise wenn er die »reale Subjektivität und das radikal von ihr durchgeformte Material« gegenüberstellt und letzteres als »das unterworfene Material der Subjektivität« bezeichnet. 16 Denn auch hier wirkt es so, als sei Material erst schon für sich vorhanden und würde dann vom Subjekt verarbeitet. Wie aber ist musikalisches Material vorzustellen, wenn kein Subjekt es erzeugt oder als vormals erzeugtes rekonstruiert?17 Bei Adorno zeigt sich immer wieder ein Zwiespalt zwischen marxistischer Regression und kantischer Subjekttheorie. Nur mit letzterer aber und den aus ihr zu ziehenden Konsequenzen könnte er eine systematisch tragfähige Kategorie Subjekt entwickeln, die dann wiederum die Voraussetzung für ein Vermögen zur Reflexion und speziell zur gesellschaftskritischen Reflexion werden könnte, eines Vermögens, das anzunehmen eigentlich die notwendige Voraussetzung ist für Adornos Bemühen, Neue Musik als Ausdruck verdrängter gesellschaftlicher Wahrheit zu charakterisieren. Doch solchem Hinweis auf verdrängte gesellschaftliche Wahrheit fehlt bei Adorno das hinweisende Subjekt, jedenfalls dann, wenn er es als Voraussetzung gesellschaftlichen Handelns entmächtigt. Deutlicher als gesellschaftlich handelnde Instanz in den Blick gerückt erscheint das Subjekt bei Günter Mayer, und zwar in Form von Musik als einem »relativ autonomen« Bereich, wobei allerdings auch bei Mayer Gesellschaft als Kontext zum »Totalzusammenhang« verselbständigt erscheint, was in der Tendenz immer noch nahe legt, Gesellschaft in der Art eines Supersubjekts, welches »die Prägung des neuen ebenso wie die Art der Fortbildung des vorgefundenen Materials bedingt«, vorauszusetzen, anstatt Gesellschaft wie auch jene Prägung als Produkt von Intersubjektivität resultieren zu lassen: 16 17

Adorno: Philosophie der neuen Musik (wie Anm. 12), S. 59ff. Die Spaltung zwischen Subjekt und Material bleibt auch in späteren Bezugnahmen auf Adornos These stehen, die beides zwar möglichst eng aufeinander beziehen, gleichwohl nicht als Verhältnis, dessen zwei Bestandteile nur von einem von beiden, nämlich vom Subjekt, hergestellt werden, begreifen: »Adornos nie absolut gesetzte These, das Material selbst zwänge dem Komponisten auf, wie er jenes zu organisieren habe, impliziert für die Spontaneität des Sub jekts, daß dieses nur durch jenes hindurch, als dessen immanente Negation, ins Werk Eingang finden könnte. Dies ist aus der Perspektive des Komponisten, zumal des 20. Jahrhunderts, eine Selbstverständlichkeit […].« Claus-Steffen Mahnkopf: Das Überdauern der musikalischen Eigenlogik. Reflexionen zu einer Ästhetik des Surplus, in: Wilfried Gruhn (Hg.): Das Projekt Moderne und die Postmoderne, Regensburg 1989 (= Hochschuldokumentationen zu Musikwissenschaft und Musikpädagogik der Musikhochschule Freiburg 2), S. 137. Es wirkt auch hier noch so, als gäbe es das Material schon für sich; dann würde es vom Subjekt aufgegriffen und verändert bzw. negiert. Tat sächlich aber existiert das Material als rekonstruiertes wie als negiertes oder neu erzeugtes al lein durch das Subjekt.

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»Bekanntlich war das Komponieren für Marx ein Modell für wirklich freies Arbeiten… Auch die künstlerische Produktion ist hier nicht denkbar ohne die schöpferische Phantasieleistung des kompositorischen Subjekts […]. Dieser Prozeß des Herausarbeitens der schöpferischen Anlagen […] im speziellen, relativ autonomen musikalischen Bereich ist nicht sozial abgesondert, nie von vornherein Selbstzweck, sondern vollzieht sich stets im gesellschaftlichen Totalzusammenhang, der die Prägung des neuen ebenso wie die Art der Fortbildung des vorgefundenen Materials bedingt […]. So ist also die relativ autonome, immanente Dialektik des Materials, der Lösung und Neusetzung von spezifischen Problemen der musikalischen Logik […] ihrerseits […] dialektisch vermittelt: durch Widersprüche zwischen der relativen Immanenz der musikalischen Syntax einerseits und der gesellschaftlichen Wirklichkeit, veränderten Sinngehalten und Funktionen der Musik andererseits.«18

Autonomie jeglicher Musik Wieder vorauszusetzen als grundlegende Erkenntnis- und Handlungsinstanz von Gesellschaft und Geschichte wie auch Geschichtsschreibung ist das Subjekt. In dem Maße, wie die Kontextualisierungsperspektive, radikalisiert zur postmodernen Theorie von der Abschaffung des Subjekts, sich als unplausibel, weil systematisch nicht belastbar erweist, ist eine theoretische Grundlage, die die Formen des Erkennens und Handelns des Subjekts näher als autonome Formen ersichtlich werden lässt, erneut notwendig. Als wichtigstes Kennzeichen hierfür kann die Fähigkeit des Subjekts gelten, seinem Erkennen und Handeln Systeme zu verleihen, und zwar solche Systeme, die, gerade weil sie nicht jenseits des Subjekts in der naturalen Empirie existieren oder ersichtlich sind, somit – weil nicht von solcher Empirie herrührend – nicht als Heteronomie des Subjekts gedeutet werden können, ausschließlich seiner Autonomie entspringen. Systemdenken ist aber nicht etwa die nur als rein deterministisch zu denkende Auswirkung einer rein deterministisch verstandenen Gehirnfunktion, welche als deterministische sozusagen gar nicht anders könne, als deterministisch zu denken. Denn wenn einer empiristischen Hirnforschung eben jene Gehirnfunktion als deterministische Ursache für Wahrnehmung und Erkenntnis gilt, dann kann sie nicht erklären, warum das Denken sich offenkundig frei entscheiden kann, ob es als systematisches Denken oder als nicht-systematisches Denken zu Wahrnehmung und Erkenntnis und auch Kritik gelangt. Verlangt doch der Wahrnehmungs- und Erkenntnisgegenstand seinerseits – nämlich die Empirie als Natur bzw. Welt, somit im Falle der Musik als deren Voraussetzung die unendliche Vielzahl möglicher Frequenzen – gar keine Festlegung hierüber, hat vielmehr gar nicht das Vermögen, irgendetwas zu verlangen, insofern er nicht als Subjekt begegnet. Als dieses Empirische ist Natur bzw. Welt von jeher vielmehr gerade nicht als System wahrnehmbar, sondern sein Systemcharakter, so er denn besteht, wird erschlossen qua Reflexion oder aber in ihn hineingedeutet. Systemdenken jedoch, nämlich als Reflexions- und Deutungskrite18

Günter Mayer: Zur Dialektik des musikalischen Materials, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 14 (1966), S. 1367–1388, hier S. 1372f.

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rium, ist eine autonome Leistung des Subjekts. Ihm aber kann der Normalfall der Natur bzw. Welt, nämlich als oft unvorhersehbare Mannigfaltigkeit und Vielfalt der Erscheinungen, gerade nicht als ›zwingender‹ Anlass gelten, Wahrnehmung und Erkenntnis in Systemen zu denken. Vielmehr liegt das Wesen des grundlegenden Systems schlechthin – nämlich der Mathematik – in seiner völligen Verschiedenheit von Empirie, welche zwar zählbar ist, in welcher das System der Zahlen aber nicht vorkommt. Dieses System entspringt vielmehr dem Vermögen des Subjekts, seine Formen Zeit und Raum rational oder nicht-rational zu verwirklichen: »Ohne Bewußtsein, daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten, würde alle Reproduktion in der Reihe der Vorstellungen vergeblich sein. Denn es wäre eine neue Vorstellung im jetzigen Zustande […]. Vergesse ich im Zählen: daß die Einheiten, die mir jetzt vor Sinnen schweben, nach und nach zueinander von mir hinzugetan worden sind, so würde ich die Erzeugung der Menge, durch diese sukzessive Hinzutuung von Einem zu Einem, mithin auch nicht die Zahl erkennen […], denn dieser Begriff besteht lediglich in dem Bewußtsein dieser Einheit der Synthesis. Das Wort Begriff könnte uns schon von selbst zu dieser Bemerkung Anleitung geben. Denn dieses eine Bewußtsein ist es, was das Mannigfaltige, nach und nach Angeschaute, und dann auch Reproduzierte, in eine Vorstellung vereinigt.« 19

Zwar verwirklichen sich Zeit und Raum als Vermögen des Subjekts nicht ausschließlich mathematisch; aber Mathematik als eine autonome Form der Verwirklichung von Zeit und Raum, die nicht der Natur entnommen werden kann, demonstriert das Vermögen des Subjekts, aus sich heraus als Autonomem Systeme bzw. weitere Autonomie zu erzeugen. Geeignet, Empirie als System aufzufassen oder in ein System zu bringen, lässt nämlich Mathematik darauf schließen, dass das Bedürfnis nach ihr gerade der unbefriedigenden Wahrnehmung einer systemlos erscheinenden Empirie entsprang und immer wieder entspringt. Systemdenken ist eine Fähigkeit des Subjekts trotz Empirie und frei insofern, als es entgegen dem Augenschein von Empirie dazu übergeht, jene Empirie zu unterteilen in das Wahrnehmbare als Augenscheinliches und in dessen Systematisierung als Nicht-Augenscheinliches. Zum Systemdenken nötigt daher gerade nicht eine empirische Erfahrung; vielmehr ist Systemdenken eine Selbstnötigung des Subjekts aus Freiheit, welches entscheidet, ob es sich dazu nötigt oder nicht. Weder Theologie als Kosmologie – auch wenn sie nach wie vor den Charakter solcher Selbstnötigung als Fremdnötigung, nämlich durch Gott bzw. durch die ›Harmonie des Universums‹, auszugeben trachtet – noch empiristische Hirnforschung – nämlich wenn sie Systemdenken als ein durch Empirie, nämlich die der Gehirnströme, veranlasstes auszugeben trachtet – können uns weismachen, wir seien durch etwas außerhalb von uns zum Systemdenken genötigt. Wenn, dann nötigen wir uns dazu selbst, und sei es, um unsere Verfügungsgewalt über Empirisches zu demonstrieren. Wir nötigen Empirie in ein System – nicht nötigt Empirie uns zum Systemdenken. Solche Fähigkeit aber entsteht aus der Freiheit eines Systemdenkens gegenüber Natur sowie – als Ordnungsmodell für den Umgang mit Naturalem, nämlich Schall – aus Freiheit im Umgang mit Natur. So gesehen ist jegliches musika19

Kant: Kritik der reinen Vernunft (wie Anm. 8), S. 149(a)f.

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lisches Denken – egal ob vokales oder instrumentales, egal ob als Kunstmusik oder als Muzak –, insofern es als Umgang mit Akustisch-Naturalem irgendeine Systemgrundlage aufweist – etwa die eines artifiziell typisierten Sprachtonfalls, die einer Harmonik oder die einer Sounddramaturgie –, zugleich Ausdruck eines autonomen Vermögens des Subjekts, solche Systemgrundlagen zu erfinden und zu verwenden. Die Unterscheidung zwischen einer autonomen Musik und einer heteronomen Musik innerhalb der DDR bliebe systematisch unscharf, wenn sie mit heteronom bloß nicht-autonom meinte, somit etwa die Symphonie in B von Ernst Herrmann Meyer als heteronom verkürzte, während sie in Wahrheit Ausdruck einer Autonomie ist, die sich in den Dienst einer Heteronomie stellt. 20 Zu unterscheiden ist daher grundsätzlich innerhalb der Musikgeschichte nicht zwischen Autonomie und Heteronomie, sondern – immer unter der Voraussetzung eines wie auch immer in sich syntaktisch zunächst selbstbezüglich intendierten musikalischen Materials – zwischen bei sich verbleibender Autonomie, etwa als rein instrumentale Kunstmusik um 1800, und sich heteronom verwendender Autonomie, etwa als text- oder handlungsgebundene Kunstmusik oder aber als Muzak. Und ebensowenig ist Musik nicht bloßer Ausdruck gesellschaftlicher Gehalte, somit von ihnen her heteronom geprägt, sondern sie ist der autonome artifizielle Umgang mit gesellschaftlichen Gehalten. Autonomie der Musik in der DDR Systemgesetzlichkeit als ein Vermögen aus Freiheit zu demonstrieren – also nicht mehr als Fremdnötigung auszugeben, sondern als Autonomie zu beanspruchen –, kann möglicherweise das Interesse eines musikalischen Systemdenkens auch im Umgang mit Anderem als Natur, nämlich mit Gesellschaft, erklären. Denn so, wie Systemdenken als Autonomie des Subjekts gegenüber Empirie die Ideologie des Em20

Möglicherweise diesbezüglich in systematischer Hinsicht noch missverständlich bzw. als unscharf aufzufassen ist mein Text Autonomieästhetik im Sozialistischen Realismus, in: Michael Berg/Albrecht von Massow/Nina Noeske (Hg.): Zwischen Macht und Freiheit. Neue Musik in der DDR, Köln u.a. 2004 (= KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft 1), S. 157–164; jedenfalls ist diese Unschärfe auch in der Kritik an jenem Text von Anne Shreffler weiterhin gegeben, die nämlich ihrerseits Autonomie als historisierbare Eigenart bestimmter Musik ansieht, so auch im Sinne eines für die westliche Neue Musik nach 1950 geltenden ästhetischen Konzepts, und daher an jenem Text kritisiert, dass er dieses Konzept nun auch als ein für bestimmte Musik innerhalb der DDR geltendes Kennzeichen in die DDR-Musikgeschichtsschreibung einführen wolle, um die ästhetisch polarisierenden Konzepte des Ost-West-Konflikts ein weiteres Mal zu zementieren. Vgl. Shrefflers Rezension von vier Büchern zur Musikgeschichte im Ost-WestKonflikt, in: Journal of the American Musicological Society 60 (2007), S. 453–463, hier S. 456. Zu kritisieren ist an meinem Text vielmehr, dass er Meyers Wahl tonalen und formal traditionellen Materials als heteronom verursacht nahelegt, dem gegenüber das Material der Atonalität Friedrich Goldmanns als autonom erscheint, während die systematische Konsequenz, welche Heteronomie näher als eine sich in außermusikalische Dienste stellende Autonomie bestimmt, Meyers wie Goldmanns Material als genuin autonom anerkennen müsste, um erst den Um gang damit als entweder heteronom verwendet oder als autonom verbleibend bzw. heteronome Verwendbarkeit verweigernd zu kennzeichnen.

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pirismus zu widerlegen vermag, so vermag Systemdenken als Autonomie des Subjekts gegenüber Gesellschaft die Ideologie einer heteronom begründeten Vergesellschaftung zu widerlegen, nämlich deren Glaube, Kunst sei – in Fortsetzung eines empiristisch, nämlich deterministisch verstandenen Vorgangs von Wahrnehmung und Erkenntnis – ausschließlich ein Vorgang von Widerspiegelung, zurückführbar auf gesellschaftliche Kontexte. Denn gesellschaftliche Repräsentationsformen, wie sie auch musikalisch möglich sind, müssen ein musikalisches System ihrer Darbietung nicht zwangsläufig auf die Widerspiegelung des gesellschaftlichen Systems als Kontext reduzieren; vielmehr sind schon musikalische Repräsentationsformen ein artifiziell-autonomer Umgang mit gesellschaftlichen Repräsentationsformen und können darüber hinaus ihrerseits zum Material eines weiteren artifiziell-autonomen Kompositionsprozesses bestimmt werden, und zwar als Ausdruck einer Verfügungsgewalt und Reflexion des Subjekts im Umgang mit gesellschaftlichen Repräsentationsformen und deren musikalischer Transformation. Und genau dies scheint die Kompositionsstrategie mancher Werke der Neuen Musik in der DDR gewesen zu sein. So sind beispielsweise musikalische Formen gesellschaftlicher Repräsentation – etwa zeremonieller Gestus, Fanfare, Signal oder Repräsentationsgattungen wie Hymne, Symphonie oder Kantate oder aber Normgrundlagen wie Tonalität – in Friedrich Goldmanns 2. Symphonie oder in Georg Katzers D-Dur-Musikmaschine zum Material eines sie karikierenden, verfremdenden und transformierenden Kompositionssystems und Kompositionsmediums bestimmt – nämlich durch mathematische Materialorganisation, Klangtransformation sowie instrumentale Formdramaturgie. Dass hier Gesellschaft als Systeme bildende Intersubjektivität zum Gegenstand eines reflektierenden kompositorischen Systemdenkens bestimmt wird, zeigt die Freiheit bzw. Autonomie jenes Systemdenkens als Bestimmendes, nämlich als Vermögen eines kompositorischen Subjekts. Zumindest ist zwischen gesellschaftlichem System und einem es reflektierenden kompositorischen Systemdenken, gerade weil beide nicht miteinander identisch sind, kein Widerspiegelungsverhältnis zu konstruieren, so wenig, wie zwischen Systemdenken und Empirie ein empirisches Entsprechungsverhältnis konstruiert werden kann, weil Systemdenken nicht-empirisch ist. Theologie, Empirismus sowie Widerspiegelungstheorie bzw. Kontextualisierungsperspektive haben miteinander gemeinsam, dass sie Systemdenken als Fremdnötigung ausgeben, um sich auf sie als Grundlage für politische Machtausübung oder wissenschaftliche Deutungshoheit berufen zu können und damit das Subjekt als jene Instanz zu umgehen, die intersubjektiv allein solche Nötigung zu verantworten hat und, wenn sie Nötigung als Vermögen aus Freiheit erkennt, allein im Stande ist, Fremdnötigung als Legitimation für politische Machtausübung und wissenschaftliche Deutungshoheit zu widerlegen. Dies ermöglicht eine neue Sicht auf die verschiedenen Beweggründe für den Umgang mit Kompositionssystemen in der Neuen Musik nach 1950. Dabei lassen sich zwei Formen der Systemkritik unterscheiden: erstens eine generelle Kritik am Systemdenken, etwa der Modalnotation, der Tonalität, der Materialselektion regelmäßiger und diskreter Frequenzen, des chromatischen Tonsystems, der Zwölfton-

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technik, des Serialismus etc.; solche Kritik sucht sich vom Systemdenken unabhängig zu machen – etwa in der Musik Edgar Varèses, John Cages oder Wolfgang Rihms –, und hat zugleich zur Voraussetzung, dass sich das Subjekt frei entscheiden kann, ob es überhaupt in einem System denken will oder nicht; zweitens eine Kritik am gesellschaftlichen Systemdenken durch Systemreflexion. Dies ist als Fall einer Kritik an musikalischen Formen gesellschaftlicher Repräsentation seltener in den Blick gerückt worden. Doch liegt hierin möglicherweise ein spezifischer Beweggrund für die Verwendung autonomer Kompositionssysteme – etwa durch mathematische Materialorganisation – in Neuer Musik der DDR, indem nämlich musikalische Formen gesellschaftlicher Repräsentation, in denen sich das politische System zu repräsentieren suchte, zum Material eines sie reflektierenden und kritisierenden kompositorischen Systems wurden, welches – als Ausdruck autonomer kompositorischer Verfügungsgewalt – mit ihnen umgeht, wie es will, und sie damit in ihrer gesellschaftlichen Funktion und Bedeutung paralysiert bzw. dekonstruiert. Es handelt sich also um Autonomie durch Systemdenken, welches – etwa als musikalische Materialorganisation – wiederum Verfügungsgewalt als Ausdruck des freien Willens demonstriert. Goldmann lässt in seiner 2. Symphonie Systemreflexion als Mittel der Systemkritik offenkundig werden, über welches er frei verfügt, und welches er auch nicht als Fremdnötigung verschleiert, sondern als Systemkritik inszeniert aus einer Perspektive heraus, die – quasi von außen – sich in einer Position sieht, der auch die Alternative – nämlich ein musikalischer Raum frei von Systemzwängen – als möglich gilt: zumindest im Ausdruck von Narrenfreiheit mit dem karnevalesken Mittelteil seiner Symphonie. Aber auch die Systemgrundlage Goldmanns ist nicht etwa nur Widerspiegelung gesellschaftlichen Systemdenkens, sondern legt als ästhetisch erfahrbare Systembeschränkung gerade den Charakter gesellschaftlicher Selbstbeschränkung offen, dies aber von einer mathematischen Position aus, die sich ihre Gesetze selbst gibt, 21 was man als Differenz zum ästhetischen System der von Goldmann kritisierten Gesellschaft auch daran sieht, dass letztere in ihrem sozialistischen Selbstbild sich gerade von mathematischen Kompositionsweisen wie denen Goldmanns deutlich distanzierte. Denn gerade von einer sozialistischen Ästhetik, die vorrangig einem klassischen Pathosbegriff sich verpflichtet fühlte,22 wurde kompositorisches Systemdenken wie das Goldmanns als ›formalistisch‹ abgelehnt. Zwar schlösse das noch nicht aus, dass Goldmanns Systemdenken trotzdem Widerspiegelung eines zwar nicht ästhetisch, aber um so mehr politisch sich repräsentierenden Systemdenkens gewesen wäre; aber Goldmanns Autonomie zeigt sich zumindest schon innerhalb des ästhetischen Diskurses der DDR durch die gezielte Abgrenzung seines individuellen Systemdenkens vom Pathos-Postulat der offiziellen Kulturpolitik. Dass diese ästheti21

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Zur Systemgrundlage in Goldmanns 2. Symphonie vgl. Frank Schneider: Momentaufnahme. Notate zu Musik und Musikern in der DDR, Leipzig 1979, S. 228, sowie Massow: Autonomieästhetik im Sozialistischen Realismus (wie Anm. 20), S. 160f. Vgl. hierzu Victoria Piel: ›Sym-Pathie‹ und Monumentalität. Pathos im frühen DEFA-Film, in: Michael Berg/Knut Holtsträter/Albrecht von Massow (Hg.): Die unerträgliche Leichtigkeit der Kunst – Ästhetisches und politisches Handeln in der DDR, Köln u. a. 2007 (= KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft 2), S. 143–162.

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sche Differenz registriert wurde, zeigen verschiedentlich Publikumsreaktionen auf die Uraufführung seiner 2. Symphonie in Jena.23 Dass diese Differenz auch von Goldmann intendiert war, somit eine Differenz war, für die er sich bewusst, und zwar nicht im, sondern gegen den Kontext des ästhetischen Diskurses der DDR, also frei entschied, zeigen seine Beweggründe für seine Rezeption verschiedener Systemgrundlagen. Daraus geht nämlich klar hervor, dass sein Hinweis auf Systemgrundlagen – ganz gleich, wie weitgehend er sie wirklich als kompositorische Grundlage gebrauchte oder nicht – dreierlei bezweckte: nämlich erstens – wenn jene Systemgrundlagen schwer verständlich waren – Funktionären den Zugang zu Kriterien kompositorischen Handelns zu versperren, zweitens damit jenes kompositorische Handeln selbst als autonomen Bereich zu beanspruchen und drittens einem vergesellschafteten Musikverstehen die Beschränkungen, die es sich durch voreilige oder beflissene Kontextualisierung auferlegt, vorzuführen: »Daß ich selbst diese Idee von Autonomie irgendwie immer in mir hatte und daß die mich umgetrieben hat, ist gar keine Frage. Ich sah sie […] nicht unbedingt in einem Widerspruch zu dem, was Sie ›gesellschaftliche Widerspiegelung‹ nennen. Mit dem Begriff ›Widerspiegelung‹ habe ich immer Mühen gehabt, aber daß es dennoch Bezüge gibt, hätte ich für möglich gehalten. In dem, was ›Sozialistischer Realismus‹ hieß, hielt ich es eher nicht für möglich. […] Autonomie heißt ja zunächst lediglich, daß Kunst sich selbst bestimmt und nicht durch Zwecke von außen bestimmt wird. Das bedeutet doch nicht, daß es keinerlei Verweisung von Klängen auf Umwelt, Außenwelt etc. mehr geben dürfe. Eventuell erscheinende gesellschaftliche Konnotationen als Bruch mit der Autonomieästhetik zu werten, schiene mir ein wenig borniert zu sein. […] Ich würde zunächst ein bißchen vorsichtig umgehen mit Ausdrücken wie ›mathematisch-strukturell fundiert‹. Bei diesem Beispiel 2. Sinfonie […] sind ein paar Zahlen musikalischen Vorgängen zugeordnet, das sind ein paar numerologische Spiele, aber keine großen mathematischen Angelegenheiten. […] Ich bin 1959, als Achtzehnjähriger, in Darmstadt bei Stockhausen gewesen in einem Spezialseminar und in seinen Erläuterungen ging es immer um Hinweise auf informationstheoretische Bedingungen, Gegebenheiten etc. […] Und dann kam beispielsweise im letzten Heft der Reihe, in Heft 8 […], ein Vier-Seiten-Text von Meyer-Eppler über die musikalische Kommunikation. […] Da ging es natürlich genau um diese Frage, um dieses berühmte, bekannte Kommunikationsschema – Sender – Kanal – Empfänger (S – K – E), die Unterscheidung von Zeichen mit eidetischem Sinn oder Zeichen mit operativem Sinn etc. Im Musikalisch-Theoretischen sind mir diese Begriffe praktisch nicht mehr begegnet. Ich kann auch nicht mehr so sehr viel damit anfangen, es gibt nicht sehr viel her. Obwohl: D a m a l s hatte es auch noch einen strategischen Zweck in der DDR. Wenn irgend so ein Idiot von Funktionär kam – und die kamen ja immer, weil sie wissen wollten: ›Was wollten Sie damit sagen?‹ – dann konnte ich ihnen Meyer-Eppler vor die Nase klatschen und sagen: D a s passiert in der Kommunikation! Was Sie mich fragen, kann ich gar nicht beantworten! Dann glotzte der doof und gab es irgendwann auf, wunderbar!«24

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Vgl. hierzu Massow: Autonomieästhetik im Sozialistischen Realismus (wie Anm. 20), S. 162–164. Albrecht von Massow/Friedrich Goldmann: Gespräch, in: Berg/Massow/Noeske (Hg.): Zwischen Macht und Freiheit (wie Anm. 20), S. 165–176, hier S. 165–169.

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Nicht nur die Ebene einer wie auch immer beschaffenen Systemgrundlage, von der aus eine Kritik an musikalischen Formen gesellschaftlicher Repräsentation ästhetisch organisiert wird, ist hierbei autonom, sondern ebenso sind es weitere Ebenen solcher Organisation, vor allem auch die Ebene der Formdramaturgie eines ganzen Werks. Die Formdramaturgie von Goldmanns 2. Symphonie besteht aus zwei Außenteilen, welche einen ritualisierenden Charakter sowie eine gezielt als kollektive Beschränkung inszenierte Verwendung musikalischer Parameter aufweisen, sowie aus dem Mittelteil, der Bruchstücke von musikalischen Formen gesellschaftlicher Repräsentation in einem karnevalesken Spiel durcheinander wirbelt. 25 Formal autonom ist hierin die A-B-A-Form des Werks; ereignispsychologisch autonom ist Goldmanns Darstellung verschiedener Facetten gesellschaftlichen Verhaltens – nämlich als rituell wie auch, subversiv darauf bezogen, als karnevalesk –, Facetten also, die im Selbstbild offizieller gesellschaftlicher Repräsentation jenseits der Kunst gerade nicht als Formen der Selbstkritik zugelassen und aufeinander bezogen sind, somit auch nicht heteronom als Widerspiegelung gelten können, sondern von Goldmann erst im Medium der Kunst zu Formen einer Kritik an gesellschaftlichem Verhalten gemacht werden. Dies geschieht im Rahmen einer musikalischen Form, die jene Formen gesellschaftlichen Verhaltens im Medium einer autonomen musikalischen Syntax zur Darstellung bringt und ihre Widersprüchlichkeit im Rahmen einer autonomen Ereignispsychologie bewusst macht. Ebenso ist die musikalische Perspektive, von der aus Goldmann in seiner 1. Symphonie eine überkommene autonome musikalische Gattung als Form gesellschaftlicher Repräsentation – nämlich die symphonische Sonatensatzform – kritisiert, indem er sie dekonstruiert, ihrerseits autonom, nämlich in der Art und Weise, wie hier dekonstruiert wird. Dieser Hinweis auf die bestimmte Art und Weise, in der ein Autorsubjekt ein Material gesellschaftlicher Repräsentation rezipiert und dekonstruiert, ist grundsätzlich mitzudenken, wenn solche Dekonstruktion im Sinne der poetologischen Theorie Michail Bachtins als Erweis für die Kontextgebundenheit von Kunstwerken gedeutet wird.26 Denn die Perspektive, aus der heraus ein Subjekt sich kontextualisiert und Kontexte reflektiert, ist autonom, nämlich als die je individuelle Seinsweise eines Subjekts, in der es auf gesellschaftliche Prägung reagiert. Denn schon die Tatsache, dass auf gleiche gesellschaftliche Prägung nicht gleich und auch nicht vorhersehbar reagiert wird, lässt indirekt auf Individualität als jeweilige Autonomie schließen, welche bedingt, wie reagiert wird; auch ein konformes Reagieren ist autonom, und zwar als eine sich heteronom verwendende bzw. zur Verfügung stellende Autonomie. Man kann sich gleichwohl fragen, ob bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse eine bestimmte Art, sozusagen eine bestimmte Manier des autonomen Umgangs mit ihnen provozieren, ob es also – solchermaßen provoziert – nicht das musikalische Material der Neuen Musik nach 1950 gibt, sondern verschiedene Materialentwicklungen, also etwa verschiedene Atonalitäten, die in Auseinandersetzung 25 26

Vgl. hierzu Massow: Autonomieästhetik im Sozialistischen Realismus (wie Anm. 20), S. 160–162. Grundlegend hierzu Nina Noeske: Musikalische Dekonstruktion. Neue Instrumentalmusik in der DDR, Köln u. a. 2007 (= KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft 3).

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mit bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen entstehen. Aber dies ist schwer zu zeigen. So gibt es im Mittelteil der 2. Symphonie von Goldmann eine Art von Atonalität, die Tonalität negiert im Impetus des Punktualismus bzw. der Gruppenkomposition, wie sie verschiedentlich in Orchesterkompositionen der BRD nach 1950 ebenso begegnen; ferner karikieren, fragmentarisieren und verfremden Goldmanns Atonalität, Instrumentierung und Artikulation bzw. überkippende Intonation bestimmte musikalische Formen gesellschaftlicher Repräsentation, etwa Trompetensignale, Fanfaren etc. Das Tongewimmel ist nicht so komponiert, dass seine kompositorische Beherrschbarkeit demonstrativ vorgeführt wird; vielmehr scheint es, als unterliefe den musikalischen Formen gesellschaftlicher Repräsentation ihre Selbstverfremdung. Es ist schwer, dies analytisch zu zeigen. Aber man möchte glauben, dass hier von Goldmann so etwas wie die kompositorische Perspektive eines Narren im Blick auf gesellschaftlichen Irrsinn intendiert ist. Seine Symphonie an dieser Stelle somit als Ausdruck eines Narrengrimms zu deuten, impliziert einen Adressaten, wie er von Bachtin poetologisch unterstellt wird. Ähnliches ließe sich aber auch über manche Orchesterpartien des in der BRD lebenden Bernd Alois Zimmermann sagen. Die Frage ist daher, ob Goldmanns Komponieren eine kompositorische Perspektive ausdrückt, die spezifisch an die Adresse der sozialistischen Kulturpolitik und ihre Repräsentationsbedürfnisse gerichtet ist, und ob ferner solchermaßen Spezifisches sich auch demjenigen Hörer und Analytiker erschließt, der von einer spezifischen Kulturpolitik und ihren Repräsentationsbedürfnissen nichts weiß. Es kann sein, dass man daran arbeiten müsste, noch viel spezifischere Analysekriterien zur Stützung dieser Hypothese zu entwickeln, bis sie die angenommenen feinen Unterschiede, hervorgerufen durch die Genese in unterschiedlichen politischen Systemen, hörbar werden lassen. Es kann aber auch sein, dass Goldmann der Autonomie seines Komponierens bewusst einen Impetus verliehen hat, der zum einen Werken der Neuen Musik nach 1950 in der BRD wie auch in der DDR allgemein die Einschätzung als ›gesellschaftsfern‹ eingebracht hat, der daher aber zum anderen genau deshalb innerhalb der DDR nicht als gegen deren spezifische gesellschaftliche Repräsentationsformen gerichtet denunziert werden konnte. So gesehen hätte seine Autonomie zwar einen für die Zeit nach 1950 charakteristischen Impetus innerhalb der Neuen Musik, ohne aber sich als einen spezifisch an die Kulturpolitik der DDR und deren musikalische Formen gesellschaftlicher Repräsentation adressierten Akt der Reflexion und Kritik angreifbar zu machen. Solche Mimikry – nämlich in dem Vermögen, sich nicht auf Konkretes festlegen zu lassen – wird grundsätzlich durch die Begriffslosigkeit und Abstraktheit von Musik begünstigt. Auch darin ist sie immer schon autonom, und zwar in immer neuen Formen. Historiographisch ist Autonomie also kein Sonderfall bestimmter Epochen, Gesellschaften oder Individuen, sondern sie ist die Form des Erkennens und Handelns, an der ein Subjekt überhaupt als individuelles Subjekt erkennbar werden kann und sich erkennbar machen kann, und sie ist – indem ein Subjekt sich in ihr für andere Subjekte als Subjekt kenntlich machen kann – auch die Form des Vermögens zu intersubjektivem Handeln, somit des Vermögens, sich gegenseitig zu kontextualisie-

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ren. Historiographisch ist daher nicht eine Entscheidung relevant, ob man Autonomie oder Kontext zum theoretischen Leitkriterium erhebt, sondern vielmehr ist der Zwiespalt herauszuarbeiten, in den Autonomie im jeweiligen Verhältnis zu dem aus ihr selbst entspringenden jeweiligen intersubjektiven Kontextualisierungsvermögen gerät. Und von besonderem Interesse für die Betrachtung der Geschichte musikalischer Formen gesellschaftlicher Repräsentation (und Repression) – und es gab und gibt deren immer noch genug, weswegen sie eher eine Theorie des Regelfalls und nicht des Sonderfalls erfordern27 – sind solche Werke, die jenen Zwiespalt thematisieren und ausagieren. Dabei liegt ihr Erkenntniswert als Selbstaufklärung für die Zukunft darin, dass mit solchem ästhetischen Handeln eine Autonomie des Subjekts gegenüber Natur wie auch Gesellschaft überhaupt bewusst wird und als ästhetisches Selbstverwirklichungsrecht des Individuums einzufordern ist, und zwar noch bevor aus solcher Autonomie als Vermögen des Subjekts auch eine gesellschaftliche Pflicht zur Kontextbereitschaft abgeleitet werden kann, die einzufordern vielmehr ihrerseits ein Einwilligen des Subjekts benötigt, will sie nicht auf intersubjektivem Zwang beruhen. Aussichten Wenn man nun trotz der vorliegenden Theorieanstrengung bezüglich des Verhältnisses zwischen Autonomie und Kontext weiterhin der Meinung bleiben möchte, dass es Autonomie nicht gäbe, so sollte man zumindest anerkennen, dass es die Autosuggestion, man könne autonom sein, als poetologisches und kompositorisches Selbstbild gibt: »Daß ich selbst diese Idee von Autonomie irgendwie immer in mir hatte und daß die mich umgetrieben hat, ist gar keine Frage.«28 Und nicht etwa ist diesem Selbstbild seine Geschichtswirksamkeit, nämlich als Mentalität zur Herausbildung von Fakten als musikalischen Artefakten, in dem Maße abzusprechen, wie irgendeinem politischen Funktionär die Geschichtswirksamkeit seines Selbstbildes, nämlich ausführendes Organ einer stattlich verordneten und die Kunst einschließenden Vergesellschaftung zu sein, zugesprochen wird. Das Selbstbild des einen als ›unrealistisch‹, hingegen das Selbstbild des anderen als ›realitätstüchtig‹ zu unterscheiden oder das eine als ›Bewusstsein‹ nachrangig und das andere als ›Sein‹ vorrangig zu verstehen, bedeutete nichts anderes, als einmal mehr gesellschaftliche Machtverhältnisse historiographisch zu affirmieren und das ihnen Entgegenstehende zu nivellieren. Solcher Affirmation und Nivellierung sollte sich nicht nur eine Geschichtsschreibung zur Musik der DDR entgegenstellen. Denn wenn Grundlagen, wie etwa das Verhältnis zwischen Autonomie und Heteronomie, nicht von vornherein systematisch reflektiert, sondern unreflektiert historisiert werden, 27

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Triftige Vergleiche zwischen bestimmten Aspekten der Musikgeschichte der DDR und denen anderer musikgeschichtlicher Epochen siehe bei Michael Berg: Restriktive Ästhetik als kreative Chance, in: Berg/Holtsträter/Massow (Hg.): Die unerträgliche Leichtigkeit der Kunst (wie Anm. 22), S. 177–191. Massow/Goldmann: Gespräch (wie Anm. 24), S. 165.

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und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Entstehung als auch hinsichtlich ihrer Anwendung, dann kann es passieren, dass eine Geisteswissenschaft, die sich wie auch ihren Gegenstand von vornherein ausschließlich historisch versteht, bestimmte Vermögen des Erkennens und Handelns, wenn sie als Autonomie des Subjekts tatsächlich dem Bereich des anthropologisch Möglichen entspringen, eingrenzt auf bestimmte Zeiten und Kulturen, was nichts anderes heißt, als sie in demselben Maße anderen Zeiten und Kulturen abzusprechen. Etwas ganz anderes hingegen rückt historiographisch als gesellschaftliche Selbsterkenntnis ins Bewusstsein, wenn man einzelnen Subjekten in bestimmten Zeiten und Kulturen zusätzlich zu ihrem Vermögen zur Autonomie des Erkennens und Handelns als einem anthropologisch Möglichen auch noch die Fähigkeit bzw. das Interesse zuspricht, ihr Vermögen der Autonomie zu thematisieren, und zwar entweder als ein heteronom zu verwendendes bzw. heteronomen Ansprüchen sich unterstellendes oder als ein autonom verbleibendes bzw. einer heteronomen Verwendung sich verweigerndes Vermögen. Die gesellschaftliche Selbsterkenntnis besteht darin, dass Subjekte erkennen, dass sie – und nur sie – es in der Hand haben, Konsens oder Dissens herbeizuführen über die Frage, was überhaupt als Gesellschaft gelten oder entworfen werden soll, ferner, wie diese entworfen werden und gelten soll, und schließlich, was und wie deren Geschichte und die geistigen Grundlagen ihrer politischen, ökonomischen und künstlerischen Verhältnisse sein sollen. Reflektierende und handelnde Instanzen jenseits der menschlichen Subjekte gibt es nicht, sind jedenfalls stets nur postuliert, jedoch niemals nachgewiesen worden. ›Gott‹, ›Gesellschaft‹, ›Geschichte‹, ›Natur‹, ›Ökonomie‹, ›Politik‹, ›Kunst‹ ›Realität‹ oder ›Zufall‹ als handelnde Instanzen jenseits der menschlichen Subjekte und ihrer Selbstverantwortlichkeit zu postulieren, ist Aberglaube. Kunstwerke hingegen, die Autonomie als Vermögen des Subjekts thematisieren, tragen zu einer Zweiten Aufklärung bei, zu der einige Subjekte schon in der DDR wie auch anderswo bereit waren und zu der weitere Subjekte gegenwärtig bereit sind – eine Selbstaufklärung, die Subjekte sich als geistigen Kontext gegen alle verordneten Heteronomieideologien bzw. ›Subjektentmächtigungsphilosophien‹ selbst erzeugen.

Reading the Past in the German Democratic Republic. Thoughts on Writing Histories of Music Elaine Kelly Totalitarian Readings The demise of the GDR was accompanied by a rapid demolition of its intellectual culture, a culture for which there was no place in a reunified Germany. GDR histo riography came under particular attack, dismissed at best as political opportunism, at worst as moral bankruptcy.1 Such denunciations, an indicator of the durability of the intellectual boundaries established during the Cold War, depended heavily on the construct of history as an objective science. Yet, as Hayden White has observed, invention and subjectivity are central to historiography. 2 Specific narratives of the past were fundamental to perceptions of the present in the GDR, and history played a significant role in legitimizing the state. White’s observation is no less pertinent, however, to the histories of the GDR that have been constructed in the years since the Wende. Shaping the direction of historiography in the early 1990s was the totalitarian interpretation of the state that emerged from the Bundestag’s Enquete commission. Established in 1992 to determine “the history and consequences of the SED dictatorship in Germany,”3 the Enquete was conceived as a form of truth and reconciliation commission. In practice its orientation was primarily an anti-communist one, and although a forum was provided for East German dissidents, it failed to take account of the experiences of the vast majority of GDR citizens who had functioned within the state.4 Reviving instead the black-and-white logic of the early Cold War, the Enquete concluded that the GDR was a totalitarian dictatorship in which SED power penetrated “all areas of state and society … effecting the complete submission of freedom of opinion and the free exchange of political views.” 5 The impact of the1

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The West German political scientist Hermann Weber, for instance, has dismissed pre-1989 work by East German historians as “rubbish”. See “Zum Stand der Forschung über die DDRGeschichte,” Deutschland Archiv 31, 2 (1998): 249–57, here 249–50. For a general discussion of this see Catherine Epstein, “East Germany and Its History since 1989,” The Journal of Modern History 75, 3 (2003): 634–61. Hayden White, Metahistory (Baltimore: The John Hopkins University Press, 1973). Materialien der Enquete-Kommission “Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland”, 18 vols, (Baden-Baden: Nomos-Verlag, 1995). Cited in James McAdams, Judging the Past in Unified Germany (Cambridge: Cambridge University Press, 2001), 3. On the failure to engage the East German majority see Jennifer Yoder, “Truth without Recon ciliation: An Appraisal of the Enquete Commission on the SED Dictatorship in Germany,” German Politics 8, 3 (1999): 59–80. Cited in McAdams, Judging the Past, 113. See also Klaus Schroeder, Geschichte und Transformation des SED-Staates: Beiträge und Analysen (Berlin: Akademie Verlag, 1994) for an example of the manifestation of these findings in the wider historical community. In the years of Ostpolitik western commentators were reluctant to use the totalitarian model in discussions of the GDR. Such qualms disappeared once the state was consigned to history.

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se findings on historiography was considerable, resulting in a spate of histories that adopted a “top-down” approach, attempting to illuminate the GDR from the narrow confines of its political structures. The “top-down” approach is particularly evident in the post-Wende discussions of canonic reception and music historiography in the GDR with which this paper is concerned. Symptomatic is Lars Klingberg’s 1997 account of the GDR’s musicological societies, Politisch fest in unseren Händen.6 Klingberg portrays a culture firmly in the grip of the SED, in which musicologists and musicians effectively serve as an extension of the party and exploit the canon for purely political purposes. 7 Central to many studies in the totalitarian mode is the contextualisation of the GDR as Germany’s “second dictatorship”;8 as McAdams has observed, the Enquete aimed at a catharsis from not one but two unwanted German pasts. This orientation is apparent in Pamela Potter’s 2001 article: “The Politicization of Handel’s Oratorios in the Weimar Republic, the Third Reich, and the Early Years of the Democratic Republic.” 9 Her juxtaposition of the Third Reich and the GDR inevitably emphasises parallels between the regimes, and centres Handel reception in the GDR firmly within a paradigm of German dictatorship. Given the recent surge of interest in the roles played by culture in 20th-century politics and the increasing awareness of the politicization of music in Nazi Germany and in the wider contexts of the Cold War, 10 the focus on the political aspects of music in the GDR is really not surprising. What is surprising, however, is the tenacity with which scholars of music reception and music historiography have held to the totalitarian mode and their reluctance to stray beyond political narratives of the state.

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Kassel: Bärenreiter, 1997. The book and Klingberg’s related publications caused serious consternation among musicologists who had been active during the GDR. See for example the correspondence between Klingberg and Georg Knepler, and Knepler and Gerd Rienäcker in the Stiftung Archiv der Akademie der Künste: AdK Knepler 34 and Knepler 56 respectively. See for example Ludger Kühnhard, Gerd Leutenecker, Martin Rupps and Frank Waltmann, eds, Die doppelte deutsche Diktaturerfahrung. Drittes Reich und DDR – ein historisch-politikwissenschaftlicher Vergleich (Frankfurt a. M.: Lang, 2nd edn, 1996). For a short overview of the debate in English see Corey Ross, The East German Dictatorship: Problems and Perspectives in the Interpretation of the GDR (London: Arnold, 2002), 158–59. Pamela Potter, “The Politicization of Handel and His Oratorios in the Weimar Republic, the Third Reich, and the Early Years of the German Democratic Republic,” The Musical Quarterly 85, 2 (2001): 311–41. On music in the Third Reich, see Pamela Potter’s groundbreaking Most German of the Arts: Musicology and Society from the Weimar Republic to the End of Hitler’s Reich (New Haven: Yale University Press, 1998). On the Cold War see Amy Beal’s New Music, New Allies—American Experimental Music in West Germany from the Zero Hour to Reunification (Berkeley: University of California Press, 2006) and David Monod’s Settling Scores: German Music, Denazification and the Americans, 1945– 1953 (Chapel Hill: University of North Carolina Press, 2005).

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Problematising the totalitarian model of the GDR Debates surrounding the limitations of the totalitarian model, most notably its failure to allow for the diverse fabric of GDR society and intellectual culture, have played out at length among historians. Attempts to define a model of totalitarianism that accounts for the relative flexibility of the GDR dictatorship have been accompanied by moves to approach the GDR from a socio-cultural rather than political angle, thus giving agency to ordinary GDR citizens. 11 Microhistories of everyday life (Alltagsgeschichte) have been accompanied by explorations of life and culture within the boundaries of a dictatorship (a durchherrschte Gesellschaft and Grenze der Diktaturen).12 The impact of these currents on musicology is evident in recent studies on new music and jazz, which aim to look beyond music in the GDR as a purely political entity. 13 Studies of reception history, however, particularly in Anglo-American scholarship, have remained largely unaffected by this changing climate. Notably the locus of comparison has shifted from the Third Reich to West Germany, a move no doubt inspired by recent studies exploring the efforts of the Allied and West German authorities to control music in the Federal Republic. 14 Thus Elizabeth Janik’s Recomposing German Music: Politics and Musical Tradition in Cold War Berlin offers a comparative study of music reception in a divided Berlin, 15 while Toby Thacker’s Music after Hitler, 19451955,16 widens the scope to encompass a more complete picture of East and West Germany. Yet, the grip of the totalitarian mode remains firm. Toby Thacker, for instance, in a recent survey of current trends in 20th-century German music history describes the arts in the GDR as “rigidly controlled”. 17 He conceives his explorations in 11

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For alternative models of totalitarianism, see Jürgen Kocka’s “The GDR: A Special Kind of Modern Dictatorship,” and Konrad H. Jarausch, “Care and Coercion: The GDR as Welfare Dictatorship,” both in Jarausch, ed., Eve Duffy, trans., Dictatorship as Experience: Towards a SocioCultural History of the GDR (New York: Berghahn Books, 1999), 17–26 and 47–72. See for example Thomas Lindenberger, “Everyday History: New Approaches to the History of the Post-War Germanies,” in Christopher Kleßmann, The Divided Past: Rewriting Post-War German History (Oxford: Berg Publishers, 2001) and Jürgen Kocka, “Eine durchherrschte Gesellschaft,” in Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka and Hartmut Zwahr, eds, Sozialgeschichte der DDR (Stuttgart: Klett-Cotta, 1994), 547–53. See Michael Berg, Albrecht von Massow, and Nina Noeske, eds., Zwischen Macht und Freiheit: Neue Musik in der DDR (Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2004); Matthias Tischer, ed., Musik in der DDR. Beiträge zu den Musikverhältnissen eines verschwundenen Staates (Berlin: Ernst Kuhn, 2005), and Uta Poiger, Jazz, Rock and Rebels: Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany (Berkeley: University of California Press, 2000) On music see Amy Beal, New Music, New Allies and David Monod, Settling Scores. A more general account can be found in Francis Stonor Saunders, Who Paid the Piper? The CIA and the Cultural Cold War (London: Granta, 1999). Leiden: Brill, 2005. It should be noted that although her account of the “Bach Year” of 1950 is very much in the totalitarian vein, her insights into composition in the GDR offer a more complex view. Aldershot: Ashgate, 2007. Thacker, “Music and Politics in Germany 1933–1955: Approaches and Challenges,” History Compass 5, 4 (2007): 1338–58, here 1349.

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Bach and Handel reception history accordingly, depicting a musical world that exists only within the sphere of SED regulation.18 The prominence placed by such scholars on the totalitarian model, owes much to the privileged position they continue to assign to archival sources. In the years immediately following reunification, GDR studies were dominated by the sudden availability of the SED archives. Describing in detailed minutiae the machinations of the state, the vast body of documents did much to confirm perceptions of the GDR as a purely political construct. While undoubtedly a rich source of information, the archives represented something of a poisoned chalice, and the pitfalls arising from excessive reliance on them became increasingly apparent as a more complex picture of the GDR evolved. The problems associated with reading and interpreting archival sources are by no means unique to GDR studies. The assumption that the “truth” can be revealed purely through archival documents is one that has been undermined in various historiological contexts. 19 Nevertheless, the tendency to assume that government documents, because of their provenance, are necessarily imbued with historical authenticity and can reveal the “true” history of the GDR was widespread in early post-Wende studies. David Pike, for instance, in a review of Alan Nothnagle’s Building the East German Myth: Historical Mythology and Youth Propaganda in the German Democratic Republic, 1945–1989, scathingly observes that “compilations of what often constitute the babble of party and state orthodoxy — no less devoid of content just because they boast a top-secret stamp at the top of the document — do not add measurably to our understanding of the GDR.”20 As socio-cultural models of GDR history have become more prevalent, the inadequacies of archive-centric studies are increasingly pronounced. The failure to contextualise the archives, to determine correlations between them and actual experiences in the GDR has frequently resulted in one-dimensional histories. 21 Corey Ross describes the tendency to “write GDR history ‘from the inside outwards’, without focusing on the experiences of contemporaries, and in the process painting a picture of the past that the East Germans themselves do not recognise.” 22 Notably, 18

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See in particular his chapter “‘Renovating’ Bach and Handel: New Musical Biographies in the German Democratic Republic,” in Jolanta Pekacz, ed., Musical Biography: Towards New Paradigms (Aldershot: Ashgate, 2006), 17–41. See in particular Nathalie Zemon Davies, Fiction in the Archives: Pardon Tales and Their Tellers in Sixteenth-Century France (Stanford: Stanford University Press, 1987). David Pike, Review of Nothnagle in Journal of Cold War Studies 4, 1 (2002): 118–19, here 119. Nothnagle’s book (Ann Arbour: University of Michigan Press, 1999) includes discussions of the Bach Gedenkjahr of 1950 and the Beethoven Gedenkjahr of 1952. On the problems of not contextualising archives in terms of their impact on daily life, see Jan Plamper, “Foucault’s Gulag,” Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 3, 2 (2002): 255–80, here 272. Corey Ross, The East German Dictatorship: Problems and Perspectives in the Interpretation of the GDR (London: Arnold, 2002), 201. See also Lutz Niethammer’s essay “Methodische Überlegungen zur deutschen Nachkriegsgeschichte,” in Christoph Kleßmann, Hans Misselwitz, Günter Wichert, eds., Deutsche Vergangenheiten – ein gemeinsame Herausforderung. Der schwierige Umgang mit der doppelten Nachkriegsgeschichte (Berlin: C. Links Verlag, 1999), 307–27.

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overemphasis on government documents denies legitimacy to experiences or events that were not recorded by the SED.23 Yet the growing sensitivity to the multiple narratives that constituted the fabric of the GDR has yet to encroach seriously on studies of canonic reception. An awareness of current debates is noticeably absent from Thacker’s recent summary of trends in German music historiography. Dismissing the entire body of literature on music published in the GDR as “partisan”, he notes that “fortunately for the historian, the GDR was a highly bureaucratic state, and it kept extensive records on its efforts to ‘guide and control’ every aspect of music-making.”24 Highlighting these records as key to a musical history of the GDR, he continues: “these documents have provided the empirical basis for the work of researchers who have at last started to produce a picture of this uniquely idealistic and controlling culture.”25 The constrictions associated with a privileging of SED archives are clearly evident in the picture that has emerged of musical life in East Germany. A disproportionate amount of materials relating to the canon in the Bundesarchiv is made up of documents charting government involvement in the various Ehrungen or festivals that were organised to celebrate and, more specifically, to appropriate composers such as Bach, Beethoven and Handel for the GDR. Consequently, it is no coincidence that the work on canonic reception mentioned so far, focuses heavily on these events. 26 This concentration is not in itself a problem. A difficulty arises however when Ehrungen are read as a microcosm of other musical practices in the GDR, and the level of government involvement is assumed to be indicative of SED control of all aspects of the arts. Furthermore, the tendency to centre on the propagandistic elements of these Ehrungen is restrictive and often somewhat redundant given that the majority of these events were conceived specifically as showcases for the government. To quote Guido Heldt, in his appraisal of research on Nazi propaganda films: “to show how manipulative the Nazis were in their most obviously manipulative films seems somewhat pointless.”27 More problematic is the subconscious moral narrative that tends to underlie this approach. As Linda Schulte-Sasse, also discussing Nazi propaganda films, notes: “the subject position of both writer and audience [is] defined be-

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As Elizabeth A. Clark observes regarding the perils of archival work: “documents do not record everything and as such are not necessarily representative. The historian has no control over the chance selection of documents that remain.” History, Theory, Text: Historians and the Linguistic Turn (Cambridge, M.A.: Harvard University Press, 2004), 94. Thacker, “Music and Politics in Germany 1933–1955,” 1350. Ibid. The Bach festival of 1950, the Beethoven celebrations of 1952 and 1970 and the various Han del events that were held in the GDR form the focus of Erbe discussions in the works referred to by Janik, Klingberg, Nothnagle, Potter and Thacker.

Guido Heldt, “Hardly Heroes: Composers as a Subject in National Socialist Cinema,” in Music and Nazism: Art und Tyranny, 1933–1945, ed Michael H. Kater and Albrecht Riethmüller (Laaber: Laaber Verlag, 2003), 114–35, here 114.

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forehand as one of moral and aesthetic superiority, and thus never [needs] to be problematised or even articulated.”28 Other possibilities for discussions of the Erbe emerge if propaganda is considered as just one element of a more complex narrative. A useful example in this context is the reception of romantic music in the GDR, a case which highlights the need to acknowledge the often distinct worlds of political doctrine, aesthetic thought and actual music practice. SED and Marxist histories (not necessarily the same) placed romanticism firmly within the trajectory of a reactionary irrationalist school of German thought that heralded the rise of facism, a fact that had a significant impact on the reception of romantic literature. For the first two decades of the state’s existence, romanticism was essentially a taboo topic. Novalis, Schlegel and Tieck were confined to the backwaters of history until the 1970s, 29 while so-called late romantics such as Nietzsche remained out in the cold well into the 1980s. 30 Documents in government archives hint that romantic music was destined to a similar fate. 31 Yet, a quick glance at the actuality of the GDR indicates that, in this instance, rhetoric and practice were quite divergent. Bruckner stood at the helm of the emphatically romantic repertoire of the Leipzig Gewandhaus,32 while in the 1950s the GDR boasted a significantly greater number of Wagner performances than the Federal Republic. 33 The case of Wagner is particularly interesting. The breadth of opinion that existed within the framework of German Marxist-Leninism is revealed in the vitriolic debates of the late 1950s that played out in the journal Theater der Zeit about the composer’s place in the socialist canon.34 Similarly, the range of performing styles that emerged during this period offers some indication of the potential for artistic diversity: while Bodenstein’s Wagner in Dessau was firmly rooted in the nationalistic traditions of the preWar era, the Wagner of Eric Witte at the Staatsoper Berlin owed much to Neu-Bay28

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Quoting Linda Schulte-Sasse, Entertaining the Third Reich: Illusions of Wholeness in Nazi Cinema (Durham, N.C.: Duke University Press, 1996), 2–3. Cited in Heldt, “Hardly Heroes,” 115.

See in particular Gerda Heinrich, Geschichtsphilosophische Positionen der deutschen Frühromantik (Friedrich Schlegel und Novalis) (Berlin [East]: Akademie-Verlag, 1976). David Bathrick, “The Powers of Speech”: The Politics of Culture in the GDR (Lincoln: University of Nebraska Press, 1995), 193–217. See the negative remarks about Bruckner cited in Thacker, Musik after Hitler, 160. Thacker’s source is “Referat zur Orchesterleiter-Tagung am 26.11.52: Kritische Beleuchtung der Konzertprogramme der DDR,” Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BA), DY 30/IV 2/9.06/279. Hans-Rainer Jung and Claudius Böhm, Das Gewandhaus-Orchester: seine Mitglieder und seine Geschichte seit 1743 (Leipzig: Faber & Faber, 2006). Werner P. Seiferth, “Wagner-Pflege in der DDR,” Richard-Wagner-Blätter: Zeitschrift des Aktionskreises für das Werk Richard Wagners (Bayreuth), 13, 3–4 (1989), 89–113. Theater der Zeit 13–14 (1958–9). The debate explored not only Wagner’s place in the socialist canon but also the more fundamental question of the function of a canon within a socialist so ciety. Regarding this and other issues of Wagner reception in the 1950s and early 1960s, see Elaine Kelly, “Imagining Richard Wagner: The Janus-Head of a Divided Nation,” Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 9, 4 (2008), 799–829.

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reuth, and Joachim Herz’s Leipzig Wagner drew on the socialist and realist traditions of Brecht and Walther Felsenstein. Central to any history of Erbe reception in the GDR is the realisation that there was no single unified narrative of the past. Firstly, the crude proclamations of the SED drew on several, often disparate traditions of German historicism, all of which had a role to play in the formulation of the canon that emerged in the 1950s. Secondly, although there are clear consistencies in the SED’s rhetoric concerning the Erbe, the narratives of the canon were not cast in stone. 35 As the society and culture of the GDR evolved, so too did portrayals of the past. One way of granting these narratives validity in their own right, is to acknowledge that all histories are ideological statements. Anne Shreffler has taken steps in this direction in her comparative study of Knepler and Dahlhaus, demonstrating that the absence of political content in the case of the latter’s writings does not preclude a political undertext. 36 This admission is useful in that it can free GDR narratives from the hegemony of Cold-War discourses and allow them to be contextualised in terms of the wider debates that surrounded the nature and function of historiography and, more specifically, music historiography in the 20th century.37 Two different approaches are explored here: the first considers Erbe reception in terms of universal modes of national history writing; the second examines Marxist interpretations of the canon in terms of the constructs of progress and evolution that have dominated musicology since its inception in the 19th century. Modes of Historical Construction: Functions of History The climate of historical consciousness in the GDR in the 1950s involved a conspicuous set of tensions arising from the incongruities of the different factions dictating the course of Erbe reception. Marxist conceptions of historicism vied with the nationalistic Germanic tradition and formed a somewhat uncomfortable partnership through the conduit of Georg Lukács’s interpretation of Marxism as an essentially 35

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Corey Ross observes that totalitarian concepts tend to be problematic because they are “fundamentally static”. See his The East German Dictatorship, 35. In this vein Thacker in his “‘Renovating’ Bach and Handel,” [p. 20] asserts that “the view of Bach and Handel presented in the GDR was largely static.” On one level he is correct: much of the party rhetoric formulated in the 1950s was retained in later biographies. Beyond this rhetoric, however, images of composers evolved just as the GDR itself did. Shreffler, “Berlin Walls: Dahlhaus, Knepler, and Ideologies of Music History,” Journal of Musicology 20, 4 (2003): 498–525. See also James Hepokoski, “The Dahlhaus Project and Its ExtraMusicological Sources,” 19th-Century Music 14, 3 (1991): 221–46. The term “narrative” is used here in its broadest sense, encompassing interpretations that can be derived from a combination of archival sources, published literature, oral histories and musical practices. As such, this discussion is intended not as an advocation for a structuralist or post-structuralist deconstruction of language but as a vehicle for exploring broader tropes and themes.

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historical concept.38 The discrepancies between these schools of thought are apparent in the often contradictory themes of change, stability, continuity and progress that underlie early GDR historiography. Historical consciousness was intrinsic to Marx’s view of a teleologically evolving society, in which history was reconstructed as a necessary requisite of the present. Frederic Jameson explains that “Marx’s discussions [in Das Kapital] of commerce and merchant capital, and his analysis of the ‘stage’ of primitive accumulation, are reconstructions of what, once capital is fully emergent as such, can now be written as the latter’s preparatory requirements.”39 History, for Marx, was an agent of change; an understanding of history was essential to effect a trajectory to a social utopia. 40 The impact of this on 1950s musicology is clearly apparent; composers such as Beethoven, Chopin and Schumann are invariably portrayed as precursors to the socialist revolution and discussed in terms of their radical qualities and their struggles for freedom and progress. Hans Pischner for example, writing in the journal Musik und Gesellschaft describes the “vehemence” with which Schumann employed his Davidsbündler in the fight “against the German petite bourgeoisie of the fragmented fatherland.” 41 In this context, history is reconstructed in terms of the present, and serves to galvanise GDR citizens towards the necessary change needed to achieve a socialist utopia. Yet history functions here not only as an agent of change; juxtaposed is the somewhat incongruous need for stability. Walter Ulbricht was well aware of the need to appease the considerable non-Marxist sector of GDR citizens and to convince them of the validity of a socialist state. He was also aware of the emphasis placed on the Kulturnation by the German intelligentsia.42 As he explained to the KPD in 1945: “It is essential that one first tells the young something about the role of Prussian militarism and about the lies of the Nazis. Then one must begin to acquaint them with German literature, with Heine, Goethe, Schiller etc. Do not begin with Marx and 38

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The term historicism is a notoriously controversial one. See for example Georg G. Iggers, “Historicism: The History and Meaning of the Term,” Journal of the History of Ideas 56, 1 (1995): 129–52. Stefan Berger also discusses the difficulties associated with the term in “The Search for Normality” Six Years Later: History Writing and National Identity in Germany at the Beginning of the 21st Century (Oxford: Berghahn Books, 2nd edn, 2003). See in particular pp. 3–5. It is being used in the current essay to denote a historical consciousness that impacts on the present. Frederic Jameson, “Marxism and Historicism,” New Literary History, 11, 1 (1979): 41–73, here 49. See for instance his “Theses on Feuerbach,” in which he explained that “the philosophers have only interpreted the world in different ways; the point, however, is to change it.” Translated in T. B. Bottomore, ed., Karl Marx: Selected Writings in Sociology and Social Philosophy (New York: McGraw-Hill, 1956), 69. Hans Pischner, “Robert Schumann und die ‘Übergangszeit’: Zu seinem hundertsten Todestag,” Musik und Gesellschaft (MuG) 6, 7–8 (1956): 242–46 and 292–95, here 244. This vein of rhetoric is particularly prominent in Ernst Hermann Meyer’s seminal Musik im Zeitgeschehen (Berlin [East]: Henschel, 1952). See Friedrich Meinecke, trans. Robert B. Kimber, Cosmopolitanism and the National State (Princeton: Princeton University Press, 1970).

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Engels. They will not understand that.” 43 Accordingly, the historicization of socialism and its placement in the tradition of an accepted Germanic canon also had a stabilising effect reminiscent of the 19th-century tradition of state-affirming historicism espoused by Leopold von Ranke. Crucially, Ranke invoked the past to promote permanence and national unity. As Stefan Berger observes, “in Ranke’s political thought, the state was a quasi-mythical category which provided the cement between its contemporary inhabitants as well as between present and past generations.”44 The similarities to 19th-century Germany are no coincidence. Narratives of music history in the GDR of the 1950s share conspicuous features with the romance emplotment of mythical historiographies typically written in infant and/or unstable states. Such histories, which were prominent in the early years of the Irish Republic and more recently in Israel and Palestine, typically romanticise and idealise national protagonists and deal in mythical struggles between good and evil. 45 Notable is the absence of irony and a reluctance to over-familiarise; protagonists are assigned a quasi-mythical status and are discussed primarily in terms of a set of idealised qualities. 46 Elements of this emplotment are particularly apparent in the historicist movement that arose in Germany at the start of the nineteenth century. The evil Other is manifest in the shape of the French, opposition to which is provided in the form of an idealised past. As James Garratt observes, “in the case of the early-music revival, ‘old music’ is placed at the opposite end of the moral and religious scale to the art of the French Enlightenment.”47 In the drive to create national spirit, composers such as Bach were elevated to iconic status, hailed as symbols of a great German cultural heritage. Thus Forkel’s proclamation: “This great man was a German. Be proud of him, German fatherland, but be worthy of him too… His works are an invaluable national patrimony with which no other nation has anything to be compared.” 48 43

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Walter Ulbricht, Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, vol. 2, 1. Zusatzband (Berlin [East]: Dietz-Verlag, 1966), 234. Cited in Manfred Jäger, Kultur und Politik in der DDR 1945–1990 (Köln: Edition Deutschland Archiv, 1995), 20.

Berger, “The Search for Normality”, 27. For a discussion of this phenomenon in Ireland and in Israel-Palestine, see Stephen Howe, “The Politics of Historical ‘Revisionism’: Comparing Ireland and Israel/Palestine,” Past and Present 168, 1 (2000): 227–53. See also Anne McCarthy, “Writing Twentieth-Century Irish History: Mutabilitie (1997),” New Hibernia Review 6, 2 (2002): 65–81. On the question of familiarisation in history see Nietzsche’s The Use and Abuse of History (1873). Michelet’s theories of resurrection as espoused in his Histoire de la Révolution française (1847–53) are also relevant here. White describes the romance emplotment as “a drama of self-identifica tion symbolized by the hero’s transcendence of the world of experience, his victory over it, and his final liberation from it… It is a drama of the triumph of good over evil, of virtue over vice, of light over darkness, and of the ultimate transcendence of man over the world in which he was imprisoned by the Fall.” Metahistory, 8–9. James Garratt, “Prophets Looking Backwards: German Romantic Historicism and the Representation of Renaissance Music,” Journal of the Royal Musical Association 125, 2 (2000): 164–204, here 170.

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This emplotment is clearly discernable in the early narratives of the canon that emerged in the GDR. The metaphor of good versus evil is unsurprisingly omnipresent raising its head ubiquitously in comparisons of the Eastern Self and the Western Other. The cultural environment of the GDR, triumphed as one which “actualises the conceptions and ideals, the traditions of the humanistic German poets and thinkers,”49 is set against an image of the West as a degenerate source of “cultural barbarity”, replete with “gangster and slayer movies with unscrupulous sensations, with mysticism, [the] cult of death, and all types of a perverse eroticism.” 50 The romantic mode is particularly conspicuous in biographies of those composers associated with the socialist canon. Here a mythic trope is unmistakably in evidence. Mystical or religious rhetoric is admittedly absent from discussions of Bach, Handel and Beethoven, the emphasis instead on their roles as figureheads for a very human society. Nevertheless they are imbued with certain transcendental qualities. There is little discussion of mundane domestic details, illnesses and personal relationships. Instead, they are presented as flawless icons of socialist realism with which citizens can identify and to which they can aspire.51 The statement of the SED’s Central Committee for the Handel-Gedenkjahr of 1959, for example, portrays him as a political activist, filled with the spirit of the English bourgeois revolution, and concerned with the rights of the working classes: “Against suppression, slavery and war, against injustice, Handel invoked the people and sang to them of the beauty of a liberated, peaceful life in a just world, for which it was necessary to struggle.”52 Central to this construct of a romance emplotment is the fact that it is temporary. As states stabilize, the romantic ideal is replaced by satire and irony. 53 This change is clearly evident in the GDR of the 1970s. As the socialist dream stagnated, the past became an increasingly popular medium for personal expression. The 19th-century in particular represented a focus for many artists disillusioned with the present. 54 Symptomatic is Horst Seemann’s DEFA biopic Beethoven – Tage aus einem Leben of 48

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J. S. Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke (1802). Cited in Nicholas Temperley and Peter Wollny, “Bach Revival,” Grove Music Online, ed. Laura Macy (Accessed 6 January 2008), http://www.grovemusic.com. “Offener Brief des Deutschen Kulturbundes an die westdeutsche Bevölkerung,” Neues Deutschland 129, 10 May 1960. Reprinted in Elimar Schubbe, ed., Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED (Stuttgart: Seewald, 1972), 654. All translations are mine unless otherwise indicated. “Die Kunst im Kampf für Deutschlands Zukunft,” (Rede Otto Grotewohls zur Berufung der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten am 31. August 1951), Neues Deutschland 203, 2 February 1951, Reprinted in Schubbe, Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED, 206. This mythical status contrasts strongly with composer biopics in the Nazi era, which commonly focused on character weaknesses and failure. See, Guido Heldt, “Hardly Heroes.” “Erklärung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zum HändelGedenkjahr 1959,” (dated 17 February 1959) SAPMO-BA DY 30/IV 2/9.06/294, p. 67. See White, Metahistory, 432 for a summary of these developments in the 19th century. Howard Gaskill, Karin McPherson, and Andrew Barker, eds, Neue Ansichten. The Reception of Romanticism in the Literature of the GDR (Amsterdam/Atlanta: Rodopi, 1990).

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1976. As its title suggests, Seemann’s film offers a decidedly familiar version of Beethoven, depicting his failed love affairs, domestic ineptitude, constant battles with housekeepers, and above all his struggles with deafness and resulting isolation. 55 The writer of the screenplay, Günter Kunert, summed Beethoven up as a “choleric person sui generis”.56 Notably, for Kunert the roles of “positive hero” and revolutionary were no longer synonymous; irrespective of his failings, Beethoven represented the archetypal “rebellious artist”.57 Now however, rebellion had stark dissident rather than official resonances. As Kunert explained: “[Beethoven] lived in the time of Restoration and repression, controlled by Metternich’s ‘Black Cabinet’, a precursor to the Mielke enterprise.”58 Progress versus Continuity One of the defining features of Marxist historiography is its emphasis on progress. Progress can be considered here on two related levels: the specific concept of progress related to socialist realism, to which I will return shortly, and the more general notions of progress that have dominated teleologically driven historical writing from the 19th century onwards. The debates surrounding the latter need no rehearsal. Suffice to say that evolutionary narratives of history with their accompanying metaphors of Darwinian struggle have perturbed theorists at various points in the 20th century, most notably leading to the structuralist attempts of Lévi-Strauss and his contemporaries to circumvent causal and diachronic modes of history. 59 As we have seen, narratives of music historiography in the GDR do contain some of the usual Darwinian metaphors of struggle, couched in revolutionary terms. Yet the concept of progress inherent in them was by no means straightforward and differs in many ways from more conventional evolutionary driven styles of history writing. Central to music history in the GDR of the early 1950s was Georg Lukács’s historical dialecticism and his polarisation of rationalism and irrationalism as the intellectual constituents of socialism and capitalist fascism respectively. 60 Locating the origins of socialism clearly in the rationalism of the Enlightenment, Lukács traced an antithetical line from the irrationalism of the romantic school, through Schopenhauer, the late romantics and Nietzsche to fascism. Crucially he viewed the rationalist legacy, which formed the basis for GDR historiography, as a historical dialectical 55

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An interesting candidate for comparison is the 1954 DEFA biopic Ludwig van Beethoven directed by Max Jaap, in which Beethoven is typically cast in the role of the positive socialist hero. Günter Kunert, Erwachsenenspiele: Erinnerungen (München, Wien: Carl Hanser Verlag, 1997), 367. Ibid. Ibid. For a discussion of these debates as they relate to musicology see Leo Treitler’s Music and the Historical Imagination (Cambridge, M.A.: Harvard University Press, 1989). This theory found its ultimate exposition in Lukács’s Destruction of Reason of 1952, but was manifest in earlier works such as History and Class Consciousness (1923) and The Young Hegel (1938).

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progress in the tradition of Hegel: the past is sublated but not negated and thus lives on in new manifestations.61 Apart from validating the GDR’s claim to the established canon, which was by and large interpreted into the tradition of rationalism, Lukács’s theories did much to shape the way in which music history was written in the GDR.62 One of the main characteristics of progressive histories tends be a focus on change and innovation. Periods of music evolve, culminate and then stagnate and draw to a close as the novelty of a new period takes over. 63 Lukács’s dialectical historicism however, demands a narrative of continuity rather than change. A rationalist history of music should be read as a continuously evolving line of thought that becomes ever purer but never culminates (except in the eventuality of a socialist utopia). This philosophy explains attempts in the GDR to challenge the traditional placing of Bach and Handel at the climax of the baroque era. Ernst Hermann Meyer, for example, in his address to the Bach Festival in 1950 declared that “it is indefensi ble to approach Bach only as the end of a development; Bach was above all a beginning.”64 More importantly it contextualises the long-running concern in the GDR about the validity of categorising music history under the traditional banners of baroque, classical, romantic etc. on the basis of stylistic and temporal criteria. Georg Knepler was particularly vociferous about the inadequacies of this system, decrying it as a bourgeois invention which dealt only with the superficial aspects of music. 65 More conducive to Lukácsian and Marxist philosophies is an essentialist mode of history, one in which sameness is vaunted and works are grouped on the basis of a shared “inner content” indicative of the rationalist tradition. Progress does occur as this content evolves to reflect current social ideals, but is not manifest in terms of evolutionary change and novelty. Hanns Eisler explained: “There is progress in art but that does not imply of course that Beethoven’s polyphonic style, for example, prevails over that of Bach. Instead: progress in the history of art signifies the enrichment of the means of expression (and [the enrichment] of musical works through new ideas drawn from the time), through ideas and content that flow from the new social consciousness.”66 It is with this inner content that the second notion of pro61

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See for example G. H. R. Parkinson, Georg Lukács (London: Routledge and Kegan Paul, 1977), 32ff. On Lukács’s impact on intellectual thought in the GDR see Caroline Gallée, Georg Lukács. Seine Stellung und Bedeutung im literarischen Leben der SBZ/DDR (Tübingen: Stauffenburg, 1996). Treitler, Music and the Historical Imagination, 36. Ernst Hermann Meyer, Festrede given at the Bach-National Feier, 28 July, 1950. Published in Walther Vetter und E. H. Meyer, eds., Bericht über die Wissenschaftliche Bachtagung der Gesellschaft für Musikforschung Leipzig 3. bis 26. Juli 1950 (Leipzig: C. F. Peters, 1951), 29–47, here 41. Emphasis in original. This was an on-going concern of Knepler. See his comments in the “Lehren aus dem xix. Parteitag der KpdSU,” published in MuG 3, 2 (1953): 70–73, here 72–73. It is a major theme in both Musikgeschichte des 19. Jahrhundert (Berlin [East]: Henschelverlag, 1961) and in Geschichte als Weg zum Musikverständnis (Leipzig: Reclam, 1982). “Diskussionsbeitrag von Prof. Hanns Eisler, Berlin, zu dem Referat von Prof. Dr. Cherbuliez,” in Günter Mayer, ed., Hans Eisler. Gesammelte Werke Serie III; Schriften und Dokumente,

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gress, one firmly situated in the world of socialist realist art, comes into play. Variously described as “content” (Inhalt) and “progress” (Fortschritt), this inner content was something of an elusive concept, as Knepler admitted. 67 Nevertheless the presumption of its existence in works that were deemed to fall within the tradition of humanism and rationalism provided a useful criterion on which to base the GDR canon. These necessarily brief case studies offer a glimpse of the insights that can be revealed through a more encompassing and multifaceted approach to Erbe studies. The appropriation of the past in the GDR can clearly not be dismissed as a mere by-product of Cold-War politics but must be considered on its own terms. Narratives of the past need to be contextualised in terms of universal modes of historiography, and the actualities of musical life must be constructed not just from the official archives but from the full range of available sources including published literature, documents detailing practical musical making and oral histories. If attitudes to the past, canon formation and music historiography in the GDR are to be truly understood, more emphasis needs to be placed on the roles played by pragmatism, tradition, aesthetic ideology, and indeed individual musicians and musicologists. Musical life and thought was manifestly not dictated by political doctrine alone.

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Vol 2: Musik und Politik: Schriften 1948–1962 (Leipzig: VEB Deutscher Verlag für Musik, 1982), 216. The exchange took place at the 1952 Beethoven conference. Geschichte als Weg zum Musikverständnis, 365. He devotes a considerable portion of this text to a discussion of progress in music. The idea of Inhalt and Fortschritt is also given particular prominence in Ernst Hermann Meyer’s Musik im Zeitgeschehen, and Knepler’s Musikgeschichte des XIX. Jahrhunderts.

Musik, Diktatur, Geschichtsschreibung. Fünf Anmerkungen1 Christoph Flamm 1. Eine ›vollständige‹ Musikgeschichte: Notwendige Utopie Der auf einem Symposium während des Internationalen Kongresses der International Musicological Society (IMS) in Zürich 2007 in den Raum gestellte Wunsch nach einer ›vollständigen‹ Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts mochte naiv wirken.2 Vollständigkeit im Sinne von Lückenlosigkeit war aber nicht gemeint. Es geht um die Ausweitung unseres Blickes auf bislang tabuisierte Bereiche der Musikgeschichte – also eine Erweiterung des für betrachtenswert erachteten Gegenstandsbereichs. Es geht auch allgemein um die Ent-Tabuisierung bei der Betrachtung politisch vorbelasteter Bereiche der Musikgeschichte – also eine Korrektur tradierter Sichtweisen, das Entfernen der Scheuklappen, speziell in Bezug auf die großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts: den italienischen Fascismo, den sowjetischen Stalinismus und den deutschen Nationalsozialismus. Dass es solche (wenn nicht explizit, so durch Totschweigen) tabuisierten oder zumindest stigmatisierten Bereiche gibt, ist offenkundig; sie definieren sich teils aus den Biographien der Musiker, teils aus der Ästhetik der Werke, betreffen das Ganze oder nur Teile eines Œuvres. Zwei willkürlich herausgegriffene Beispiele: a) Adriano Lualdi wird, wenn sein Name überhaupt je erscheint, ausschließlich als Musikpublizist und Abgeordneter im faschistischen Parlament behandelt, der sich mit polemischen Ausfällen gegen die europäische Avantgarde zum »Wortführer der offiziellen Musikpolitik des faschistischen Regimes« gemacht habe. Dass Lualdi lange vor seinen Schriften und politischen Aktivitäten und noch über diese hinaus eigentlich Komponist war, nämlich Schüler von Ermanno Wolf-Ferrari, der mit Lustspielen wie Le furie di Arlecchino (1915) und Sinfonischen Dichtungen noch vor den 1920er Jahren Erfolge feierte, ist heute vergessen. Seine Werke werden weder gespielt noch musikhistorisch untersucht.3 b) Wolfgang Fortners Bedeutung als Mitbegründer der Kranichsteiner Ferienkurse für Neue Musik sowie als prominente Figur der Musica Viva und inspirierender 1

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Dieser Text basiert in Teilen auf dem Vortrag, den der Verfasser während des 18. Internationalen Kongresses der IMS in Zürich 2007 (»Transitions«) am 12. Juli 2007 als Einleitung zum Symposium »The Sound of Dictatorships« gehalten hat. Der Untertitel des Symposiums »The Sound of Dictatorships« lautete: »Towards a ›Comprehensive‹ Music History of the Totalitarian Regimes of the 20th Century«. Eine seltene Würdigung auch des kompositorischen Werkes bietet Virgilio Bernardoni: Art. Lualdi, Adriano, in: 2MGG, Personenteil, Bd. 11, Kassel u. a. 2004, Sp. 534–535. Zu Lualdis Schriften als musikhistorischer Quelle vgl. meinen Aufsatz »Chi non è con, è contro.« Adriano Lualdis ›Viaggio musicale nell’U.R.S.S‹ als Spiegel totalitärer Kulturpolitik in den 1930er Jahren , in: Sabine Ehrmann-Herfort/Markus Engelhardt (Hg.): »Vanitatis fuga, aeternitatis amor«. Wolfgang Witzenmann zum 65. Geburtstag, Laaber 2005 (= Analecta musicologica 36), S. 583–632.

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Lehrer für die jüngere Generation hat lange Zeit den Blick auf sein Schaffen im Dritten Reich verhindert. Selbst nach 2000, in der Neuauflage der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart, musste der Text der beauftragten Autorin von der Schriftleitung um einen entsprechenden Absatz ergänzt werden; 4 der Fortner-Artikel derselben Autorin im Lexikon Komponisten der Gegenwart wurde jüngst (2007) ersetzt durch eine umfassendere neue Darstellung, die nun auch auf einige spezielle Studien zu Fortners Aktivitäten im Nationalsozialismus und zu seiner damals entstandenen Musik zurückgreifen kann; die Bedeutung der Schaffensphase 1933–1945 wird dabei nicht überbetont, aber ihre Problematik auch nicht verschwiegen. 5 Eine derartige Marginalisierung oder Ausgrenzung von Individuen oder Teilbereichen aus der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts bedeutet, das machen die gewählten Beispiele deutlich, kein historiographisch besonnenes Aussortieren von allzu Belanglosem, das durch das Raster der Bedeutsamkeit hindurch in den Schutt der Geschichte gefallen wäre. Es handelt sich stattdessen um moralische Entscheidungen. Entscheidungen, die sich zunächst als Reaktion auf jene Selektion und Tabuisierung erklären lassen, welche zuvor die Kulturpolitik der betreffenden Regime gekennzeichnet hatte: Lualdis starke Position im faschistischen Musikleben hat nicht nur den Menschen, sondern auch seine Werke kompromittiert, ganz gleich, wann diese komponiert wurden; Fortner hat die Ausblendung seiner ›dunklen‹ Jahre durch die nachträgliche Distanzierung von den Werken dieses Zeitraums und eine Entnazifizierungsakte, in der er sich als Mitläufer klassifiziert, selbst vollzogen, und die Musikhistoriker wollten nicht unter seinen Teppich blicken, solange er als Motor die Neue Musik vorantrieb. In gewisser Weise schlug das Pendel der Bewertung von Musik nach 1945 in die entgegen gesetzte Richtung aus – es musste in die andere Richtung schlagen, schon weil die vorausgegangene Verbannung von ideologisch unliebsamen Komponisten und Kompositionen zumindest in Deutschland zu einem Defizit an Hörerfahrung und dem brennenden Wunsch nach Gerechtigkeit und Wiedergutmachung geführt hatte. Dazu gehörte auch, nun umgekehrt das zu ächten, was im Glanzlicht des diktatorischen Kulturlebens gestanden hatte: partei- und linientreue Künstler, offiziöse Werke. Den Impuls für diesen ›Pendelausschlag‹, seine Heftigkeit und Richtung, gab also letzten Endes die Musikkultur in den Unrechtsregimen vor (oder genauer: das Bild, das man sich von ihr gemacht hatte), auch – so unschön das klingen mag – das polare Muster von emphatischer Würdigung und Ausgrenzung. Die Nachkriegs-Musikwissenschaft schuf sich gleichsam eine ›verfemte Musik der anderen Art‹. 6 Mittler4

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Brigitta Weber: Art. Fortner, Wolfgang, in: 2MGG, Personenteil, Bd. 6, Kassel u. a. 2001, Sp. 1509–1516. Benedikt Vennefrohne: Art. Wolfgang Fortner, in: Hanns-Werner Heister/Walter-Wolfgang Sparrer (Hg.): Komponisten der Gegenwart (KdG), München 1992ff., 34. Nachlieferung Juli 2007. Dieses Bild habe ich 2002 in Athen auf dem deutsch-griechischen Kongress zum »Wert der Musik heute« gebraucht; vgl. die Druckfassung O ēchos tōn diktatoriōn: To problēma mias »perifronēmenēs mousikēs« allou eidous [Der Klang der Diktaturen. Das Problem einer ›verfemten‹ Musik der anderen Art], in: Olympia Psychopaidē-Frangou (Hg.): Ē axia tēs mousikēs sēmera. Ē mousikē metaxy oumanismou kai emporeumatopoiēsēs [Der Wert der Musik heute. Musik zwischen Humanis-

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weile ist die Zeit gekommen, statt auf neue einseitige Pendelschwünge auf eine historiographische Summe des 20. Jahrhunderts zu hoffen. 2. Mundschutz und Einweghandschuh: Umgang mit musikalischem ›Aussatz‹ Lassen sich an solche Tabubereiche wie Huldigungsmusiken die gleichen analytischen Instrumente anlegen wie an den Kanon der geläuterten Werke? Infiziert sich der Musikhistoriker nicht beim Umgang mit ›unreinen‹ Gegenständen, die gleichsam auf eine Aussätzigeninsel abseits der Geschichtsbücher verbannt wurden? Sich dieser ›Gefahr‹ zu stellen ist unabdingbar. Ob eine stalinistische Jubiläumskantate wertlos ist, kann nicht allein ihrem Text entnommen werden und auch nicht dem Anlass, für den sie geschrieben wurde; nötig ist eine Analyse, die das Werk zunächst einmal ›ernst nimmt‹ und auf seine möglichen musikalischen Qualitäten befragt. 7 Hier zumindest gilt: In dubito pro reo. Dann erst müssen die weiteren Schritte erfolgen – die verschiedenen kontextuellen Schichten aufzudecken, deren Gesamtheit erst ein Urteil ermöglicht. (Der die Noten umgebende Kontext eines Werkes reicht von der Biographie seines Schöpfers bis zum Rahmen seiner Aufführungen und darüber hinaus in die Sinnebenen seiner Rezeptionsgeschichte hinein.) Kontextualisierung und vom Kontext abstrahierende Werkbetrachtung sind methodisch zunächst zu trennen, auch wenn nur die synthetisierende Kombination von beidem ein wirkliches Verständnis, damit eine fundierte Wertung und letztlich eine angemessene Darstellung im Rahmen von Musikgeschichtsschreibung ermöglicht. Diese eigentlich selbstverständlichen Forderungen an einen wissenschaftlichen Umgang mit Kunstwerken sind, der Blick in die bisherige Literatur zeigt es, selten eingehalten worden. Offensichtlich stoßen hier wissenschaftliche auf höhere Tugenden und damit an ihre Grenzen: die Beschäftigung mit Tätern statt mit Opfern. Wenn schon im Alltag Programme zur Reintegration von Straftätern Empörung auslösen, wie unverantwortlich scheint dann erst die wissenschaftliche Gleichbehandlung kultureller Erzeugnisse derer, die an der Unterdrückung und Existenzvernichtung ungezählter Massen zumindest moralisch Mitverantwortung trugen. An dieser Empörung rütteln zu wollen und die Opferperspektive aufzugeben, ist ein kritisches Unterfangen.8 Immerhin müsste vielfach gründlicher und schärfer darüber nachgedacht werden, wo der Makel Biographisches und wo er Ästhetisches betrifft. Dass beides oft kurzgeschlossen wird, ist eine häufige Erfahrung. 7

8

mus und Kommerzialisierung], Athen 2003, S. 44–56. Dass so etwas möglich ist, beweist beispielsweise Thomas Schipperges: Engagement und Selbtsbehauptung. Die ›Sinfonie‹ in Prokof’evs »Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution« op. 74, in: Friedrich Geiger/Eckhard John (Hg.): Musik zwischen Emigration und Stalinismus, Stuttgart u. a. 2004, S. 224–240. Der erst an der deutschen Übersetzung 2008 entfachte Skandal um den dezidiert aus einer Täterperspektive geschriebenen Roman über den Vernichtungskrieg im Osten Les Bienveillantes (Die Wohlgesinnten) von Jonathan Littell (Paris 2006) zeigt, wie hoch hier die Empfindlichkeiten noch immer sind und vielleicht auch bleiben werden.

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3. Fortschritt und Moral: Persönliche Erfahrungen mit einer ›Politik der Töne‹ Bei der Arbeit über den russischen Komponisten Nicolas Medtner (Nikolaj Metner) in den 1990er Jahren musste ich feststellen, dass zwar russische Musik allgemein als lohnender Gegenstand galt – ganz besonders nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion –, dass aber die meisten Kollegen an konservativen Tonsetzern wie Medtner keinerlei Interesse zeigten. Das apodiktische Urteil ›uninteressant‹ fußte dabei auf minimaler oder gar keiner Kenntnis von Medtners Werken, die damals außerhalb Russlands kaum mehr als ein Geheimtipp für Pianisten waren. Medtners musikalische Qualität und Bedeutung standen offensichtlich fest, ohne die Kompositionen selbst je in Augenschein nehmen zu müssen: Das Merkmal ›nicht progressiv‹ genügte, um jedes weitere Nachdenken im Keim zu ersticken. Einige Jahre danach, auf einem Symposium zum Schicksal russischer Komponisten im Exil, bestand tatsächlich Interesse an Medtner – allerdings nicht an seiner Musik, sondern an seiner Biographie, die ihn als Opfer sowjetischer Barbarei gegenüber alten Eliten erscheinen ließ. 9 Als ich später den Artikel Medtner für die Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart verfasste, drängte ein Fachbeirat darauf, den Komponisten deutlich als überzeugten Antisemiten zu charakterisieren – was ich nicht tat, da es kein einziges Dokument gibt, das diese Annahme belegen würde. (Letztere stützt sich ausschließlich auf die Vermutung, dass Nicolas alle Ansichten seines Bruders Emil geteilt, also auch dessen antisemitischen Äußerungen zugestimmt habe). Dies ist ein ein typisches Beispiel für die Gleichsetzung von konservativem Komponieren mit politischer Reaktion, wenn nicht gar ideologischer Verirrung – und für die damit einhergehende Vernachlässigung üblicher wissenschaftlicher Standards. Noch weitaus erschreckender aber war der umgekehrte Eindruck auf dem 2002 in Moskau abgehaltenen internationalen Kongress zur Familie Medtner: Er bot – aus dem Wunsch nach Wiederentdeckung russischer Emigrantenkultur heraus – eine Plattform auch für Beschönigung geistesgeschichtlicher Problemfelder. Es wurde die Wiederauferstehung auch von reaktionären, ultra-nationalistischen und tatsächlich offen antisemitischen Aspekten des Silbernen Zeitalters gefeiert, also auch von Emil Medtner (mit dem man, so eine Stimme aus dem Publikum, doch nachsichtiger und liebevoller umgehen müsse als sein schwedischer Biograph, der Emils Hitler-Verehrung und manischen Judenhass in deutlichen Worten charakterisiert hatte) 10 oder des mit den Medtners befreundeten, wesentlich berühmteren und einflussreicheren Philosophen Ivan Il’in, der ebenfalls emigrierte und dessen manchmal auch die Musik und Medtner berührende Schriften in post-sowjetischer Zeit als Werkausgabe erschienen. Dass große Teile der russischen Intelligenz im Zarenreich und in der Emigration oft für Antisemitismus anfällig waren, ist kein Geheimnis, selbst bei Stra9

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Vgl. Christoph Flamm: Die Rezeption Nikolaj Metners in der UdSSR, in: Friedrich Geiger/Eckhard John (Hg.): Musik zwischen Emigration und Stalinismus, Stuttgart u. a. 2004, S. 168–192. Magnus Ljunggren: The Russian Mephisto. A Study of the Life and Work of Emilii Medtner, Stockholm 1994 (= Acta Universitatis Stockholmiensis. Stockholm Studies in Russian Literature 27); russische Übersetzung Sankt Petersburg 2001.

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vinskij nicht; dieses Faktum zu ignorieren widerspricht wissenschaftlicher Redlichkeit, es unkommentiert zu akzeptieren widerspricht allen Lehren, die aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts gezogen werden können. ›Nachsicht‹ also für den russischen Chamberlain Emil Medtner, der vor Hitler auf die Knie fiel und schon vor dem Ersten Weltkrieg den schädlichen Einfluss des Judentums auf das Musikleben anprangerte? Es muss auch in der Musikwissenschaft einen Mittelweg zwischen moralischer Blindheit und ideologischer Paranoia geben. Warum nur ist er so schwer zu finden? Als ich eine analytische Studie zu Ottorino Respighi und der Musik seiner Zeit begann, waren die Reaktionen vieler Kollegen ähnlich wie zuvor beim Medtner-Projekt. Obwohl es bislang so gut wie keine analytische Auseinandersetzung mit Respighis Musik gab, wurde dem Komponisten und seinem Werk der Stempel einer faschistischen Kunst aufgedrückt, und das, obwohl er einer der ganz wenigen war, der den Parteiausweis des Partito fascista bis zu seinem Tod 1936 verweigerte. Der alles in allem konservative Habitus seiner Tonsprache, die folkloristischen und nationalistischen Elemente mancher seiner Tondichtungen sowie seine wenigen ästhetischen Äußerungen haben ihn in den Augen einer kritischen Musikwissenschaft zum Inbegriff faschistischer Reaktion gefrieren lassen. Respighi ist in dieser Perspektive seit mehr als einem halben Jahrhundert eine musikologische bête noire, obwohl (oder gerade weil?) seine Werke auf der ganzen Welt gespielt und aufgenommen werden. In Musikgeschichten wird er deswegen oberflächlich als Schöpfer brillanter Orchestermusik behandelt – oder gar nicht. Es gibt jedoch eine dritte Art des wissenschaftlichen Umgangs mit Figuren wie Respighi: als negatives Exempel im Rahmen einer Nachkriegs-Gut-und-Böse-Weltanschauung, die maßgeblich auf Adorno zurückgeht. In dieser letzten Hinsicht scheint das Urteil über Respighi bereits gefallen, noch bevor seine Musik tiefergehend analysiert worden ist. Seinen komponierenden Zeitgenossen Gian Franceso Malipiero und Alfredo Casella dagegen werden selbst die allerunverstelltesten Huldigungen an die faschistischen Mythen und Aggressionen verziehen, da ihre Musiksprache fortschrittlicher als diejenige Respighis war.11 Doch das Klischee von der latenten Subversion der italienischen Moderne, wie es Luigi Pestalozzas Anthologie aus La rassegna musicale seit den 1960er Jahren bedient hat,12 ist ebenso ein Phantom wie das Gegenbild einer faschistischen Musikästhetik, die dann auf Komponisten wie Respighi projiziert wurde. Wie Guido Salvetti eindrucksvoll in mehreren Publikationen der letzten Jahre ausgeführt hat, 13 war der 11

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Mit solch problematischen Deutungen und der zwischen Publikum und Wissenschaft gespaltenen Respighi-Rezeption beschäftigt sich ausführlich mein Buch Ottorino Respighi und die italienische Instrumentalmusik von der Jahrhundertwende bis zum Faschismus, Laaber 2008 (= Analecta musicologica 42); zur Frage von Musikgeschichte und Moral siehe bes. Kap. D., S. 809–827. Luigi Pestalozza (Hg.): La rassegna musicale. Antologia, Mailand 1966. Guido Salvetti: Politica, cultura, musica, in: Ders./Bianca Maria Antolini (Hg.): Italia millenovecentocinquanta, Mailand 1999 (= Musica nel 900 italiano 1), S. 13–28; Ders.: Ideologie politiche e poetiche musicali nel Novecento italiano, in: Rivista italiana di musicologia 35 (2000), S. 107–133, engl. S. 135– 157.

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Dienst an der nationalen Sache das einigende Band aller italienischen Komponisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Suche nach einer spezifisch italienischen Stimme im Konzert der Nationen war geradezu eine Frage der Ehre, jeder erblickte diese auf seine eigene Weise, aber alle mochten anschließend in dasselbe Lied einstimmen – ›I did it my way‹. Eine eigentliche faschistische Ästhetik hat es nicht gegeben, nicht geben können, da der patronistische Staat alle Sparten förderte – die Avantgarde ebenso wie die Konservativen, die Elite ebenso wie die Masse. Diese beiden persönlichen Erfahrungen zeigten mir, dass musikalischer Konservatismus im 20. Jahrhundert tendenziell gleichgesetzt wird mit politischer Reaktion. In den angeführten Fällen geschah dies fast immer in Form ungestützter Konstruktionen ohne analytischen oder dokumentarischen Beleg. Man könnte auch sagen, es wurde ein ›politisch korrektes‹ Weltbild auf Gegenstände projiziert, die eine Untersuchung nach wissenschaftlichen Kriterien anscheinend nicht verdient hatten. Dem früheren Feindbild der Moderne – das es, wie gesagt, unter Mussolini nicht gegeben hatte und das unter Hitler und Stalin nach ganz unterschiedlichen Kriterien definiert wurde: in Deutschland überwiegend anhand der Rassenideologie, in der Sowjetunion nach persönlicher Willkür14 – stand ein neues Feindbild entgegen: der Konservatismus. Dass auch im 20. Jahrhundert konservativem Komponieren eine musikgeschichtliche Bedeutung innewohnt, weit über das Feld der Diktaturen hinaus, zeigt sich in der Musikwissenschaft nach der allmählichen Aufgabe von Adornos Perspektive immer deutlicher, besonders in den Musikgeschichten außerhalb der deutschsprachigen Länder. Noch kaum je fallengelassen wurde dagegen die idealistische Vorstellung, dass Musik überhaupt eine moralische Dimension besitzt. Wohl niemand hat das konsequenter und sinnfälliger getan als Richard Taruskin, indem er die romantische Idee musikalischer Autonomie und ihr massives Echo im 20. Jahrhundert, kulminierend bei Adorno, als Fiktion bloßstellte. 15 Zu diskutieren wäre auch der anhaltende Mythos einer ›Stunde Null‹, der nach 1945 geboren wurde, um die musikalische Zukunft in Opposition zur (vermeintlich?) faschistischen Ästhetik zu bauen. 16 Musik musste jetzt autonom und modern sein. Stunde Null: das ist der Moment, in dem das Pendel auf die andere Seite schwang. Wie sehr Adornos offen germanozentrische Philosophie noch immer fortlebt, zeigt sich etwa dann, wenn Weberns Begeisterung für Hitler übergangen wird, da seine Musik nur in Begriffen von Autonomie, struktureller Komplexität und somit politischem Widerstand gedeutet werden darf. Dass der Musik eine moralische und erzieherische Dimension eigne, daran hielt auch Adorno fest, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Er invertierte die Vorstellung, welche das Dritte Reich von der Musik als Instrument der Massenerziehung kultiviert hatte. 14

15

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Die jüngste und ausführlichste Untersuchung hierzu stammt von Friedrich Geiger: Musik in zwei Diktaturen. Verfolgung von Komponisten unter Hitler und Stalin, Kassel u. a. 2004. Richard Taruskin: Is There a Baby in the Bathwater?, in: Archiv für Musikwissenschaft 63 (2006), S. 163–185 und 309–327. Auf dem Kongress der Gesellschaft für Musikforschung in Lübeck 2003 war der Stunde Null ein eigenes Symposium gewidmet; die Beiträge sollen demnächst im Druck erscheinen.

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4. Musikgeschichtsschreibung heute: Schlaglichter Wie steht es also um die Musikgeschichtsschreibung mit Blick auf die Diktaturen des 20. Jahrhunderts – sind die eingangs gewünschte Erweiterung des Blickfeldes oder Korrektur überkommener (polarisierter) Sichtweisen erkennbar? Ich kann und will hier keine erschöpfende Auflistung rezenter Musikgeschichten und Studien bieten, sondern stattdessen nur einzelne Beobachtungen anfügen. a) Fascismo. Eine umfassende Aufarbeitung dessen, was in den 1920er bis 1940er Jahren in Italien komponiert wurde, hat bisher nur eine Musikgeschichte versucht, die monumentale dreibändige Darstellung der italienischen Musik des 20. Jahrhunderts von Roberto Zanetti.17 Von wenigen Hauptfiguren (der sogenannten ›Generazione dell’Ottanta‹, die um 1880 geboren wurde) abgesehen, ist die italienische Musik dieses Zeitraums nahezu unbekannt geblieben. Dass die musikhistorische Wertung des bereits bekannten Materials nunmehr starken Schwankungen unterliegt, zeigt eine Sammelpublikation zum Thema, in der sich völlig gegensätzliche Deutungen gegenüberstehen:18 Während manche Autoren nach wie vor Malipiero und Luigi Dallapiccola vor einer ästhetischen Verbindung mit dem Regime in Schutz nehmen, weist Ben Earle unmissverständlich darauf hin, dass die Inszenierung von solchen Komponisten als Regimegegnern eine realitätsfremde Geschichtsklitterung ist, die auf dem antifaschistischen Wunschdenken der Nachkriegsjahre beruht. Dieser jüngeren Sichtweise ist auch das jüngste Projekt zur Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts verbunden, die von Guido Salvetti herausgegebene Reihe Musica nel 900 italiano, die von instruktiven CD-Roms mit umfassenden Werkanalysen ausgewählter Zeiträume flankiert wird. b) Sowjetunion. Während der Arbeit in der Redaktion der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart floss ein scheinbar endloser Strom von ›kleineren‹ sowjetischen Komponisten durch meine Hände, deren Werke offensichtlich den Prinzipien des Sozialistischen Realismus entsprachen. Erst spät habe ich darüber nachgedacht, warum fast jede Würdigung dieser russischen, baltischen, ukrainischen oder kaukasischen Komponisten gleich klang. Dies kann nicht nur mit der Musik selbst erklärt werden, was implizieren würde, dass diese Werke tatsächlich einander so ähneln, als wären sie über Jahrzehnte hinweg geklont worden: minderwertige Produkte eines perpetuierten ästhetischen Inzests. Die Frage, ob es einen offiziellen sowjetischen Musikstil überhaupt gegeben hat, ist nicht abschließend beantwortet. Während Marina Frolova-Walker typische Elemente des Sozialistischen Realismus zu benennen und als Stilbegriff (etwa als Neoklassizismus) zu definieren versucht, 19 spricht die Herausgeberin einer der jüngsten russischen Musikgeschichten von der Inexistenz 17 18

19

Roberto Zanetti: La musica italiana nel Novecento, 3 Bde., Busto Arsizio 1985. Roberto Illiano (Hg.): Italian Music during the Fascist Period, Turnhout 2004 (= Speculum musicae 10). Siehe Marina Frolova-Walker: The Glib, the Bland, and the Corny: An Aesthetic of Socialist Realism, in: Roberto Illiano/Massimiliano Sala (Hg.): Music and Dictatorship in Europe and Latin America, Turnhout 2009 (= Speculum Musicae 14), S. 403–423.

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des ›Sowjetischen‹ in der sowjetischen Kunst, das man vergeblich in Begriffen wie Asaf’evs ›Intonationsstruktur‹ fassen wollte.20 Das uniforme Erscheinungsbild der sowjetischen Kultur basiert mindestens ebenso sehr auf ihrer Rezeption und damit einem Mangel an methodologischer Reflexion und historischer Einsicht. Für gewöhnlich wiederholen die Autoren solcher Artikel zu Kleinmeistern schlicht die alten sowjetischen Stereotypen, denen zufolge die Musik in der nationalen Folklore wurzeln und nicht zu modern sein solle, um einem Massenpublikum verständlich zu sein und sowohl epische als auch dramatische und lyrische Qualitäten aufzuweisen hat. In vielen Fällen ist das Vokabular solcher Artikel von Würdigungen aus stalinistischer Zeit nicht zu unterscheiden. Die Situation in The New Grove Dictionary of Music and Musicians ist nicht viel besser. Ist diese Gesichtslosigkeit den Werken tatsächlich immanent, oder verstehen wir nur nicht, auf sie die richtigen Kategorien anzuwenden? Versteht es vielleicht die heutige Musikwissenschaft in der ehemaligen Sowjetunion besser? Als einzigem westlichen Teilnehmer auf dem Kongress zu Aram Chačaturjans 100. Geburtstag im Jahr 2003 drängte sich mir der Eindruck auf, dass die Uhren der Musikwissenschaft in Jerewan stillgestanden waren. Zu hören waren nicht kritische Diskussionen über den historischen Ort der Werke und die Ästhetik seiner Zeit aus post-sowjetischer Perspektive, wie ich vermutet hatte, sondern überwiegend jene Art rhetorischer Elogen und hymnischer Emphase, die für die Sowjetära so typisch waren und doch nur ins Leere liefen (und die tatsächliche Qualität einiger Beiträge fast entwerteten). Kurzum, die Idee des Sozialistischen Realismus schien noch lebendig, sie wurde in einer Feier nationalistischer Akklamation reanimiert, die sich als musikwissenschaftlicher Kongress getarnt hatte. Geändert hatte sich nicht die Einstellung gegenüber den Grundlagen der sowjetischen Ästhetik, sondern nur das Ausmaß des kulturellen Stolzes angesichts neuer politischer Autonomie. Ähnliche Stadien musikalischen Nationalstolzes konnten und können noch immer in allen ehemaligen Sowjetrepubliken entdeckt werden. Zumeist wird dabei an die Kultur vor der Revolution angeknüpft, aber zugleich das sowjetische Erbe nicht kritisch reflektiert, jedenfalls nicht über einfache Schwarz-Weiß-Muster hinaus. Und die jüngste russische Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts, nämlich die dreibändige Istorija sovremennoj otečestvennoj muzyki, hat es 2005 im neu eingeleiteten, ansonsten unveränderten Nachdruck des ersten Bandes (der noch in den 1980er Jahren geschrieben worden war) nicht vermocht, eine kritische Hinterfragung der sowjetischen Perspektive vorzunehmen, auch wenn die Fülle der erwähnten Werke und Komponisten von großem Wert ist.21 In die westliche Musikwissenschaft ist von solchen Publikationen kaum etwas eingedrungen. Daher wissen wir noch immer wenig über die 20

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Elena B. Dolinskaja/Aleksandr I. Demčenko: Otečestvennaja istoriografija XX veka, in: Elena B. Dolinskaja (Hg.): Istorija sovremennoj otečestvennoj muzyki, Bd. 3: 1960–1990, Moskau 2001, S. 515–551, hier S. 531. Ausführlich werden diese und andere jüngeren russischen Musikgeschichten betrachtet in meinem Aufsatz Das Problem sowjetische Musikgeschichte. Gedanken zu einer schwierigen Vergangenheitsbewältigung, in: Roberto Illiano/Massimiliano Sala (Hg.): Music and Dictatorship in Europe and Latin America, Turnhout 2009 (= Speculum Musicae 14), S. 383–402.

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Quantität und fast nichts über die mögliche Qualität von Musik unter sowjetischer Herrschaft, ausgenommen eine Handvoll namhafter Komponisten, die als Dissidenten oder Exilanten biographische ›Pluspunkte‹ gesammelt haben. Nur im Fall von Šostakovič und Prokof’ev ist der Erkenntnisgewinn in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen, an ihnen entzündeten sich die Diskussionen um Musik und Politik, Kunst und Macht, um die Bedeutung und Wertung von offizieller und inoffizieller Musik, von geheimen und offenen Botschaften. Dass aber dieser investigative Eifer praktisch nirgends je auf einen anderen Komponisten übergesprungen ist (Mjaskovskij, Šebalin, Sviridov, Šaporin, Popov) – das gibt über unser heutiges Verhältnis zur Musik in der Sowjetunion doch zu denken. c) Nationalsozialismus. Sobald die Diskussion auf die Musik im Nationalsozialismus kommt, sind die moralischen Hürden besonders hoch. Dass die Musikforschung in diesem Gebiet seit Fred K. Priebergs Pionierstudie 22 viel extensiver als im Bereich des italienischen Fascismo gewesen ist, kann zum Teil durch die traurige Tatsache erklärt werden, dass Hitlers Reich einer astronomisch hohen Zahl von Opfern so unglaublich viel Leid und Tod beschert hat, völlig unvergleichbar mit Mussolinis Italien. Obwohl die Musikwissenschaft (und vor allem die deutsche Musikwissenschaft) eine schändlich lange Zeit zögerte, sich mit diesem Thema abzugeben, hat der Wunsch nach Wiedergutmachung begangenen Unrechts seit den 1980er Jahren etliche Studien zu Musik und Musikern im Dritten Reich hervorgebracht. In ihrem Essay What is ›Nazi Music‹? betonte Pamela M. Potter vor kurzem, dass der Fokus all dieser Studien auf der Untersuchung der Opfer liegt. »There was a tacit understanding that all composers who left Nazi Germany, for any reason, were morally up standing and therefore worthy of having their works taken seriously, while all composers who remained were morally suspect and therefore artistically unworthy of attention, as their music most certainly represented Nazi kitsch at best and racist or nationalist propaganda at worst.«23 Diese Beobachtung lässt sich ebenso auf die Musikforschung über das faschistische Italien oder die stalinistische Sowjetunion anwenden. Werden Komponisten von innerhalb der Regime in den musikgeschichtlichen Kanon aufgenommen, so meist unter Betonung ihrer Entfernung zur Politik oder zumindest zur offiziellen Ästhetik. Wie immer letztere auch definiert werden mag: Pamela M. Potter kommt für die deutsche Musik im Nationalsozialismus zu einem ähnlichen Ergebnis, wie es oben für die Musik im italienischen Faschismus skizziert wurde – dass es keine offizielle Nazi-Ästhetik in der Musik gab. Aber was es ganz sicher in allen genannten Musikländern gab, waren Elemente, mit denen ein Komponist sein Werk einem breiten Publikum annähern oder es auch inhaltlich ›definieren‹ konnte. Selten lesen wir auf so direkte Art von Carl Orffs ›neoprimitivistischer‹ Jugendkultur und Paul Hindemiths ›altdeutschem‹ Nationalismus, wie es Richard Taruskin in seiner sechsbändigen Musikgeschiche beschreibt. 24 Es ist wohl nicht allzu ungerecht zu behaupten, dass unser Verständnis der Musik in den 22 23

Fred K. Prieberg: Musik im NS-Staat, Frankfurt a. M. 1982. Pamela M. Potter: What is ›Nazi Music‹?, in: Musical Quarterly 88 (2006), S. 428–455, hier S. 433.

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Diktaturen von Mussolini, Hitler und Stalin lange Zeit von einem simplifizierten und artifiziellen Bild geprägt war: dem der ›Un-Kultur‹, die ex negativo nicht nur Musikästhetik und Musikdenken während des Kalten Krieges determiniert, sondern auch historiographische Standards gesetzt hat. Diese Standards zeigen mittlerweile Spuren der Erosion, am deutlichsten bei Taruskin. Seine Musikgeschichte bietet nichts weniger als den Versuch, die Zusammenhänge von Musik und Politik in den drei großen Diktaturen gemeinsam darzustellen, punktuell natürlich, aber mit enormem Verständnis um die geschichtlichen Hintergründe und einem besonderen Gespür für die wackelige Position des Musikhistorikers, der sich mit diesen Themen beschäftigt. Denn ein Nachdenken über die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts bedeutet nicht nur die Infragestellung etablierter Konzepte von Modernität und Konservatismus, von linker und rechter Musik, von ästhetischer Autonomie und politischer oder sozialer Funktion: Es geht in besonderer Weise um den Nationalismus in der Musik und, vielleicht sogar noch mehr, um den Nationalismus in der Musikgeschichtsschreibung, um unsere eigenen modernen Mythologien. Letzten Endes geht es um uns, die Musikwissenschaftler und ihr Tun. 5. Der Musikhistoriker als zōon politikon Gleich von welcher Seite wir uns der Musik (oder Unmusik?) in den großen Unterdrückungsregimen des 20. Jahrhunderts nähern: Es ist unmöglich, dies in neutraler Weise zu tun. Unabhängig davon, welchen Stellenwert wir allgemein dem Verhältnis von Musik und ihrer (gesellschaftlichen, politischen, geistesgeschichtlichen) Umgebung zuweisen mögen – dass Musik in totalitären Regimes auf irgendeine Weise etwas von ihrer Umgebung spiegelt, und sei es durch den Rückzug in die innere Emigration, scheint eine unumstößliche Wahrheit. Daher bedeutet die Beschäftigung mit einem Werk aus solchem Kontext immer zugleich eine Stellungnahme über den unmittelbaren Gegenstand hinaus. Dies geschieht bereits durch die Wahl des Objektes selbst. Der Musikhistoriker offenbart sich dabei als zōon politikon, und zwar in einem Ausmaß, das bei Forschungen vor dem 20. Jahrhundert völlig undenkbar wäre (etwa, wenn tatsächlich einmal die politische Dimension von Brahms-Werken thematisiert wird). Und da wir das wissen, fällen wir die Entscheidungen bei der Ausübung unseres Metiers weniger nach objektiven wissenschaftlichen Kriterien (falls es eine Objektivität in der Kulturwissenschaft überhaupt geben sollte) als nach unseren persönlichen Interessen, öffentlichen Erwartungen und moralischen Ansprüchen – die im Fall einer politisch belasteten Musik besonders hoch sind. Dass sich fast alle Studien mit den komponierenden Opfern, fast nie aber mit der anderen Seite der Musikkulturen beschäftigt, ist verständlich. Bleibt ein solcher ›kritischer‹ Kontext aber wirklich auf die drei großen Unrechtsregime des 20. Jahrhunderts beschränkt? Taugen geografische Grenzen zur Abgren24

Richard Taruskin: The Oxford History of Western Music, Bd. 5, Oxford 2005, S. 743–796 (Chapter 59: Music and Totalitarian Society).

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zung? Befindet sich etwa skandinavische oder amerikanische Musik der 1930er Jahre a priori außerhalb eines durch dramatische politische Entwicklungen bestimmten geistes- und kulturgeschichtlichen Zusammenhangs? Außer Italien, Deutschland und der Sowjetunion gab es viele andere europäische und außereuropäische Diktaturen, deren Musik selten je in Verbindung mit den sie umgebenden politischen Realitäten gebracht wurde, zum Beispiel Griechenland. Noch heute wird Weißrussland diktatorisch regiert. Man mag die Frage stellen, welche (staatlich gelenkte) Funktion die Musik bei den Massen-Inszenierungen der Olympiade in Beijing 2008 hatte: der Auftritt von Lang Lang als Synthese von westlicher Kunstmusiktradition und komponiertem Nationalschmalz, die Einbettung traditioneller chinesischer Musik zwischen archaischem Instrumentarium und modernstem elektronischem Accessoire. Es könnte sich zeigen, dass jene geografischen und geschichtlichen Grenzen, die wir eng um Nationen und politische Systeme zu ziehen gewohnt sind, ein tieferes Verständnis der Musikgeschichte eher behindern als fördern. Eine Anmerkung zum Schluss: In seiner Einschätzung von Medtner und Respighi, die bei ihm eine marginale Stellung einnehmen, kommt Richard Taruskin zu ganz anderen Ergebnissen als ich. Aber auf gleichartige Ergebnisse kommt es nicht an. Dass die Musikwissenschaft beim Blick auf die Musik in den großen Diktaturen nicht mit einer Stimme spricht, gibt auch Anlass zum Aufatmen: Denn Einstimmigkeit wäre das Letzte, was eine Musikgeschichte solcher Staaten benötigt, die Einmütigkeit mit Gewalt erzeugten.

Sozialistischer Realismus als Männerphantasie? ›Gender‹ als Kategorie einer DDR-Musikgeschichte Nina Noeske Zahlreiche Anregungen für eine Neuorientierung auch musikwissenschaftlicher historiographischer Ansätze gingen in den letzten Jahren von der Gender-Forschung aus,1 die in den 1980er und 90er Jahren ihrerseits von poststrukturalistischen Herausforderungen zehrte. Ein zentrales Anliegen war und ist dabei die kritische Hinterfragung des etablierten kulturellen Kanons. 2 So wurde u. a. danach gefragt, wie es zur Anerkennung bestimmter Werke als ›Meisterwerke‹ kommt, was dies über das Selbstverständnis einer Kultur besagt, welche Ein- und Ausgrenzungsmechanismen dabei zugleich wirksam sind und wie alternative Modelle des kulturellen Gedächtnisses beschaffen sein könnten.3 Die hiermit einhergehende Kritik an einer Geschichtsschreibung, die sich ausschließlich auf den ›Höhenkämmen‹ einer Kultur bewegt, implizierte zugleich eine verstärkte Aufmerksamkeit gegenüber vermeintlich Peripherem. (Deutlich wird hier der Zusammenhang mit ›postmodernen‹ historiographischen Konzepten.)4 Ausgehend von der Frage, warum komponierende und musizierende Frauen vom kulturellen Gedächtnis lange Zeit nahezu komplett ausgeblendet wurden, richtete sich das Interesse seit den 1970er Jahren mehr und mehr auf die Gebiete, die in der westlich-abendländischen Musikgeschichtsschreibung bis dato eher am Rande thematisiert wurden: Hierzu zählen interpretatorische Leistungen ebenso wie die Rolle der Frauen etwa als Musikschriftstellerinnen, Nachlassverwalterinnen oder Betreiberinnen eines musikalischen Salons. Gegenüber der jahrzehntelang im Vordergrund stehenden Analyse musikalischer ›Meisterwerke‹ ist damit der Fokus auf die Musikverhältnisse im umfassenden Sinne gerichtet (was eine modifizierte Form von Werkanalyse durchaus einbezieht). Die Musikkultur – wozu die Tradierung ästhetischer und musiktheoretischer Regelsysteme ebenso gehört wie Komposition, Interpretation und Rezeption – ist nur zu verstehen, wenn zugleich deren gesellschaftliche und soziale Voraussetzungen ins Blickfeld geraten. Im folgenden seien die Implikationen und Folgerungen jener u. a. aus den Gender Studies hervorgehenden Ansätze für eine Geschichtsschreibung, die sich mit den 1

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Vgl. Lynn Hunt: The Challenge of Gender. Deconstruction of Categories and Reconstruction of Narratives in Gender History, in: Hans Medick/Anne-Charlott Trepp (Hg.): Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven, Göttingen 1998, S. 59–97, hier S. 59. Vgl. Marcia Citron: Gender and the Musical Canon, Urbana u. a. 22000; Nina Noeske: Gendering the Musical Canon vs. Canonizing Gender in Music? Musikwissenschaftliche Perspektiven, in: Dies./Annette Kreutziger-Herr/Susanne Rode-Breymann/Melanie Unseld (Hg.): Gender Studies in der Musikwissenschaft – Quo Vadis?, Hildesheim u. a. 2010 (= Jahrbuch Musik und Gender 3), im Druck. Aleida Assmann: Kanon und Archiv – Genderprobleme in der Dynamik des kulturellen Gedächtnisses, in: Marlen Bidwell-Steiner/Karin S. Wozonig (Hg.): A Canon of Our Own? Kanonkritik und Kanonbildung in den Gender Studies, Innsbruck u. a. 2006, S. 20–34. Vgl. Christoph Konrad/Martina Kessel (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne, Stuttgart 1994.

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Musikverhältnissen der DDR befasst, näher betrachtet. Dabei ist zunächst von den konkreten Geschlechterverhältnissen auszugehen, um von dort aus zu Fragen und Ausblicken zu gelangen, die sich aus der historiographischen ›Gender-Perspektive‹ für die Praxis der Musikgeschichtsschreibung ergeben. ›Weibliche Komponisten‹ Im Gegensatz zu den offiziellen Proklamationen und ungeachtet der gesetzlich festgeschriebenen Gleichberechtigung5 war die DDR bis zuletzt eine patriarchalisch strukturierte Gesellschaft. Zwar waren Frauen, anders als in Westdeutschland, in die Arbeitswelt integriert und häufig in technischen Berufen tätig, wordurch sie mit einer gewissen Aufmerksamkeit von Seiten des Staates rechnen konnten (hiervon zeugen etwa die zahlreichen Reden Walter Ulbrichts auf dem jährlich begangenen Internationalen Frauentag 8. März)6, doch die Entscheidungsträger – so auch die Riege des Politbüros – waren fast ausschließlich Männer. Zwar konnten Frauen ohne weiteres, um ein häufig bemühtes Beispiel zu nennen, Kranführerinnen 7 oder technische Assistentinnen werden, doch dass sich Männer im Haushalt oder an der Kindererziehung beteiligten, kam offenbar selten vor. Die hiermit einhergehende Ungleichbehandlung, oder besser: die daraus resultierende Chancenungleichheit der Geschlechter, die in der Doppelbelastung der Frauen besteht, wurde – außerhalb des ostdeutschen Staates – oft beschrieben und angeprangert.8 Auch das Musikleben der DDR war geprägt durch jene Rollenverteilung. Egal, ob Ruth Zechlin (1926–2007) zur ›älteren‹ oder ›mittleren‹ Generation der DDR-Komponisten zu zählen ist: Sie ist die einzige Frau, die es als Professorin für Komposition an der Hochschule für Musik Hanns Eisler (seit 1969; 1984 wurde ihr eine Ordentliche Professur zuerkannt) und Vizepräsidentin der Akademie der Künste der DDR 5

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Vgl. Herta Kuhrig: Die Gleichberechtigung der Frauen in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1973 (= Schriften des DDR-Komitees für Menschenrechte 5). Walter Ulbricht: Frauen – Miterbauerinnen des Sozialismus. Aus Reden und Aufsätzen, Leipzig 1968. Zum »optimistische[n] neue[n] Mädel, das aus Spaß an die Arbeit geht und die verdutzten, an alten Rollenvorstellungen hängenden Männer an Leistung sogar übertrifft« vgl. Stefan Weiss: »Heut seid Ihr die Stärkeren!« Zur musikalischen Repräsentation des Frauenbildes in der frühen DDR , in: Katharina Hottmann/Christine Siegert (Hg.): Feste – Opern – Prozessionen. Musik als kulturelle Repräsentation, Hildesheim u. a. 2008 (= Jahrbuch Musik und Gender 1), S. 115–129, hier S. 129. »A new work world has opened up to them but women have not gotten rid of the old world in the kitchen and in the children’s rooms.« Christel Sudau: Women in the GDR, in: New German Critique, No. 13, Special Feminist Issue [1978], S. 69–81, hier S. 72. Ähnliches gilt für nahezu sämtliche sozialistischen ›Bruderstaaten‹ bis 1989 und darüber hinaus. – Von den Schwierigkeiten der Emanzipation von Mann und Frau zeugt die seinerzeit äußerst erfolgreiche DEFA-Komödie Der Mann, der nach der Oma kam (1971; Drehbuch und Regie: Roland Oehme) mit Winfried Glatzeder in der Hauptrolle. Nachdem hier die Geschlechterrollen durch das be herzte Agieren einer männlichen Haushaltskraft – eines getarnten Doktoranden – massiv durcheinandergeraten, endet der Film schließlich mit der mehr oder minder resignierten Bestätigung des Status Quo.

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sowie Leiterin der dortigen Kompositions-Meisterklasse (1970) zu einiger Berühmtheit im eigenen Lande gebracht hatte; damit konnte sie als weibliches Aushängeschild der sozialistischen Musikkultur gelten. (Die jüngste Generation mit den Komponistinnen Annette Schlünz oder Ellen Hünigen, beide in den 1960er Jahren geboren, trat erst in den späten 1980er Jahren ans Licht der Öffentlichkeit, als die DDR schon fast von der politischen Landkarte verschwunden war.) Zechlin war sich ihrer Ausnahmestellung – als Bestätigung der Regel – zwar bewusst, begründet diese aber ausschließlich mit den ihr als ›besonderem‹ Individuum eigenen, vom Vater (!) ererbten logisch-kombinatorischen Fähigkeiten. Dies sei, wie sie in einem Gespräch (1979) bekräftigt, eine typisch »maskuline Begabung«. 9 Dass vergleichsweise wenig Frauen in der DDR (und auf der ganzen Welt) komponieren, hält sie mithin für ein »physiologisches Phänomen«.10 Wenn Frauen, so Zechlin weiter, die Fähigkeit zum Komponieren hätten, hätten sie sich im Musikleben – wie sie selbst – längst bemerkbar gemacht, denn: »Das Frauenproblem ist in der DDR weitgehend gelöst. Wer und was aufgeführt wird, ist keine Frage der Emanzipation, sondern allein der Qualität.« 11 Anders gesagt: In der DDR als einer reifen und aufgeklärten Gesellschaft sind bestehende Schranken allein durch die ›Natur‹ begründet. Noch 1988, in einer Umfrage der verbandseigenen Zeitschrift Musik und Gesellschaft unter Musikerinnen, erklärt die Komponistin: »Ich denke, ich bin der lebendige Beweis dafür, daß man als Frau in unserem Lande alles tun kann – vorausgesetzt, daß man mit größter Verantwortung, mit Phantasie und Kühnheit sowie mit echtem handwerklichen Können unverwechselbare und persönliche neue Musik schreibt.« 12 Das Vorhandensein einer – wie auch immer fragwürdigen, in den 1980er Jahren aber häufig als selbstverständlich angenommenen13 – ›weiblichen Ästhetik‹ bestreitet Zechlin vehement; zu unterscheiden sei allein zwischen ›guter‹ und ›schlechter‹ Musik.14 Bemerkenswert ist, wie sich die Komponistin, indem sie das Komponieren, gleichsam biologistisch, für eine typisch »maskuline Begabung« hält, selbst inszeniert: Aufgrund einer Laune der Natur, d. h. mittels ihrer für Frauen ungewöhnlichen Begabung wäre ihr demnach, so die implizite Annahme, ausnahmsweise in einen eigentlich versperrten Bereich Einlass gewährt worden, wodurch sie sich ebenfalls (analog dem Sprachgebrauch in der DDR, wo der Gebrauch der ›weiblichen Form‹ noch in 9

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Ruth Zechlin, in: Ursula Stürzbecher: Komponisten in der DDR. 17 Gespräche, Hildesheim 1979, S. 154. Zechlin, ebd., S. 153. Zechlin, ebd., S. 152. Weiter heißt es: »Wenn eine Frau etwas zu sagen hatte, dann durfte sie es auch sagen, und es wurden ihr niemals Schwierigkeiten gemacht. Und wenn Clara Schumann oder Alma Mahler-Werfel sich ihrem Mann unterwarfen und sich selbst in den Schatten stellten, so war das allein ihre persönliche Entscheidung […]« (ebd., S. 153). Ruth Zechlin: Qualität der Werke zählt, in: Musik und Gesellschaft (im Folgenden: MuG) 38 (1988), H. 3, S. 116–117, hier S. 117. Vgl. u. a. Eva Rieger: Weibliches Musikschaffen – weibliche Ästhetik?, in: Neue Zeitschrift für Musik 145 (1984), H. 1, S. 4–7. Zechlin, in: Stürzbecher: Komponisten in der DDR (wie Anm. 9), S. 155; Zechlin: Qualität der Werke zählt (wie Anm. 12), S. 116.

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den 1980er Jahren unüblich war) als ›Komponist‹ bezeichnen kann. »Es wäre mir suspekt, als ›weiblicher‹ Komponist zu schreiben, als ›weiblicher‹ Komponist Vorträge zu halten, als ›weiblicher‹ Komponist Verantwortungen zu übernehmen und kulturpolitisch zu arbeiten.«15 Diese Abneigung ergibt sich zwangsläufig aus dem (gesellschaftlich geprägten und sanktionierten) Selbstverständnis Zechlins als Frau, der einige wesentliche ›männliche‹ Eigenschaften zukommen, die sie – als Ausnahmebegabung – für einen genuin und eigentlich ›männlichen‹ Beruf befähigen. Als ›weiblicher‹ Komponist hingegen wäre sie, zumal in der DDR, von vornherein als das ›Andere‹ stigmatisiert;16 die Chancen, an den Schlüsselstellen des Musiklebens ernstgenommen zu werden, wären damit gegen Null tendiert. Es kann, mit anderen Worten, den eigenen Wert steigern, wenn man sich als der ›dominierenden‹ Gruppe, jener, die über die Definitionsmacht verfügt, zugehörig begreift. Die Skepsis gegenüber einer ›Ghettoisierung‹ von Künstlerinnen, wie sie durch die zahlreichen ›Frauen-Festivals‹ der 1980er Jahre in Westdeutschland durchaus bestand, scheint dagegen bei Zechlin keine Rolle zu spielen. Dass sie selbst die in ihr wirksamen und durch sämtliche Äußerungen hindurchschimmernden Mechanismen allem Anschein nach nicht durchschaut, zeigt nicht zuletzt ihre Überzeugung, dass es für sie persönlich »nie die Frage nach Mann oder Frau« gebe, wenn sie Musik beurteile: 17 Tatsächlich kann sich diese Frage nicht stellen, wenn Komponieren als eine genuin männliche Begabung aufgefasst wird. Ein auf andere Weise typisches Beispiel für das Selbstverständnis einer Frau innerhalb des (späteren) DDR-Musiklebens stellen die Äußerungen der Dirigentin Romely Pfundt, ebenfalls 1988 in Musik und Gesellschaft abgedruckt, dar. Pfundt betont im Gegensatz zu Zechlin die ›besondere‹ Natur des ›Weiblichen‹, indem – im Sinne einer ›weiblichen Ästhetik‹ dessen vermeintlich genuin ›eigene‹ Qualitäten herausgestellt werden. Laut Pfundt bestehe die spezifische Individualität einer Frau vor allem in ihrer »Weiblichkeit« – diese wiederum sei, auch dies bekanntlich ein gängiger Topos in Ost wie West, durch den Reichtum der »Gefühlswelt« gekennzeichnet. Damit könne sie (d. h. ›die Frau‹) die »interpretatorische Palette um jene Varianten« bereichern, »die nur ihr vorbehalten sind«.18 Traude Ebert-Obermeier schließlich, einzige habilitierte musikwissenschaftliche Lehrstuhlinhaberin in der DDR, beurteilt die Stellung der Frauen in ihrem Land äußerst kritisch. So berichtet sie von einem Kongress, auf dem sie vom Moderator als »Herr Prof. Ebert« angekündigt wurde, und als sie sich auf den Weg aufs Podium machte, beschloss man, mit dem nächsten Referenten fortzufahren, da »Herr Prof. Ebert« nicht anwesend wäre. »Erst mein Protest und der Hinweis, daß es gelegentlich, wenn auch selten, Professorinnen gibt und sogar solche, die den Mut aufbringen, bei Konferenzen zu referieren, ermöglichte es mir, mein Referat vorzutragen. 15 16

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Ruth Zechlin, ebd. Vgl. Nina Noeske: Art. Dualismus, in: Annette Kreutziger-Herr/Melanie Unseld (Hg.): Lexikon Musik und Gender, Kassel u. a. 2010, im Druck. Ruth Zechlin, Qualität der Werke zählt (wie Anm. 12), S. 116. Romely Pfundt: Leistung und berufliches Ethos, in: MuG 38 (1988), H. 3, S. 117f.

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Wie sollen sich Frauen unter solchen Voraussetzungen entwickeln können?« 19 Ellen Hünigen dagegen, damals 23jährige Kompositionsstudentin, kann für sich im Jahr 1988 keine Benachteiligung aufgrund ihres Geschlechts mehr ausmachen: In ihrer Kinderkompositionsklasse hätte es mehrere Mädchen gegeben, auch sei ihr die bestmögliche Förderung zuteil geworden. Anders als Ruth Zechlin wiederum stellt sie fest: »Eine geschlechtsspezifische Teilung sowohl des Empfindungsaufbaus als auch des Erkenntnisprozesses in weibliche und männliche Aspekte scheint mir bloße Gedankenkonstruktion zu sein.«20 – Wozu diese vier Beispiele? Möglicherweise können die hier vorgestellten Standpunkte als prototypisch für die Wahrnehmung der Geschlechterverhältnisse innerhalb des DDR-Musiklebens gelten: Hünigen und Pfundts Einschätzungen sind dabei am optimistischsten (wobei Pfundt mit ihrer Betonung der ›weiblichen‹ Gefühlsnähe im Gegensatz zur Studentin Hünigen essentialistisch argumentiert), die Stellungnahme Ebert-Obermeiers am skeptischsten (und wohl auch problembewusstesten), Zechlin nimmt ein ›Problem‹ gar nicht wahr. Es scheint mithin, als verdeutliche vor allem der ›Komponist‹ Ruth Zechlin auf paradigmatische Weise nicht nur die Selbstwahrnehmung eines international wahrgenommenen weiblichen Aushängeschildes innerhalb der sich als ›Elite‹ begreifenden (Berliner) DDR-Komponistenriege, 21 sondern zugleich spiegelt Zechlin die gesellschaftlichen Erwartungen, die an sie gestellt waren, wider. So musste sie sich als ›Komponist‹ inszenieren und vor allem selbst an ihre ›männliche‹ Identität glauben, um für ihre Leistungen überhaupt gewürdigt zu werden. 22 Damit verortet sie sich zugleich präzise innerhalb eines ›Herrschaftsdiskurses‹ mit seinen spezifisch Praktiken des Ausschlusses, um künstlerisch zu überleben, wie auch Frank Kämpfer nahelegt: »Als Überlebensform gab es für die DDR-Musikerin kaum eine Alternative zur Kooperation mit dem männlichen Geschlecht.« 23 (›Kooperation‹ bedeutet hier allerdings soviel wie ›Anpassung‹. Dass dies für das Feld der Literatur nicht gilt, wie etwa Christa Wolf, Monika Maron und Irmtraud Morgner, die explizit ein spezifisch ›weibliches Schreiben‹ kultivierten, zeigen, sei an dieser Stelle nur angemerkt.) Zugleich verdeutlichen ihre Stellungnahmen, in welchem Maße die musikalische ›Königsdisziplin‹, nämlich die Komposition, auch in der DDR vom Ausschluss des ›Weiblichen‹ zehrte, der mit der Genieästhetik des späteren 18. und des 19. Jahrhun19 20 21

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Traude Ebert-Obermeier: Bewährungschancen eröffnen, in: MuG 38 (1988), H. 3, S. 115f. Ellen Hünigen: Wege der Selbsterprobung, in: MuG 38 (1988), H. 3, S. 120. Vgl. Nina Noeske: Des Schenkers Schneider, des Schneiders Geißler: Anmerkungen zur musikalisch-ästhetischen Gruppenbildung in der DDR der 70er und 80er Jahre, in: Matthias Tischer (Hg.): Musik in der DDR. Beiträge zu den Musikverhältnissen eines verschwundenen Staates, Berlin 2005, S. 185–206. Ähnliches konstatiert Susan E. Reid für die Kunst der Sowjetunion der 1930er Jahre: »The official precepts that women were already equal and that ›there is no such thing as masculine and feminine art‹ meant that their success and very survival as artists depended on proving their capacity to conform to masculine norms.« Susan E. Reid: All Stalin’s Women: Gender and Power in Soviet Art of the 1930s, in: Slavic Review 57/1 (1998), S. 133–173, hier S. 171. Frank Kämpfer: Sozialer Freiraum, ästhetische Nische: Frauen und Musik in der ehemaligen DDR, in: Neue Zeitschrift für Musik 152/10 (1991), S. 25–28, hier S. 26. Vgl. hierzu auch Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft, aus dem Französischen von Jürgen Bolder, Frankfurt a. M. 2005, S. 27f.

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derts konsequent einherging.24 Deutlich wird hier der Bruch, der zwischen Anspruch (völlige Gleichberechtigung) und Realität (faktisches gesellschaftliches Ungleichgewicht) herrschte – und welcher nicht zuletzt, analog hierzu, als Gegensatz zwischen im Sozialismus nach wie vor wirksamer ›bürgerlicher‹ Ästhetik und eingefordertem Sozialistischem Realismus bereits häufig beschrieben wurde. (Die Ironie liegt darin, dass sich der Sozialistische Realismus in concreto ebenfalls als zutiefst ›bürgerlich‹ erwies.) Festzuhalten ist: »Die ›Musikpäpste‹ der kleinen DDR waren bis zuletzt Männer, Vaterfiguren, Überväter.«25 Da der Sozialismus jedoch programmatisch für Gleichberechtigung stand – denn mit der ›Klassenfrage‹ war nach sozialistischem Verständnis, wie es auch Marx formulierte, zugleich die ›Frauenfrage‹ (als Nebenschauplatz) gelöst –, galt es, von diesem Widerspruch so effizient wie möglich abzulenken. Mit Erfolg, wie Frank Kämpfer 1991 mit Blick auf die DDR feststellt: »Die Unterpräsenz der künstlerisch tätigen oder vermittelnd tätigen Frau als ein geschichtlich gewachsenes und aktuell unbewältigtes Phänomen findet in der Gesellschaft keinerlei Raum für Nachdenken und öffentliche Diskussion. Den Betroffenen selbst sind die Fragestellungen bis heute zudem kaum selbst bewußt. […] Gegen die Frauenrechtsbewegung in Westeuropa und den USA, gegen alternatives, auch feministisches Denken schottete die DDR ihre Gesellschaft weitgehend ab.« 26 In der Alltagssprache war der Begriff ›Feminismus‹ bis zum Ende der DDR – wie übrigens auch in zahlreichen weiteren Ostblockstaaten, darunter vor allem auch Polen – entsprechend negativ besetzt.27 Jenes Zusammenspiel zwischen Anspruch, Proklamation, Realität, Selbst- und Fremdwahrnehmung ist komplex und teilweise widersprüchlich. Das »Frauenproblem« wurde in der DDR weitgehend als nicht existent wahrgenommen, und zwar deshalb, weil – so könnte man aus den Stellungnahmen vor allem Zechlins schließen – die Eingliederung der Frauen in die von Männern dominierte Welt bereits (fast) perfekt war: »In der DDR verschwand das zweite Geschlecht als werktätiger Mensch in der Ideologie.«28 Dies gilt auch für das Musikleben; es ist also von einer beachtli24

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Vgl. u. a. Citron: Gender and the Musical Canon (wie Anm. 2), S. 143. Dass Frauen keine ›Genies‹ sein können, zieht sich seit dem 18. Jahrhundert als Topos durch die Literatur. Vgl. etwa J. H. B. in M***: Der große Geist oder das Genie, Mannheim 1781, S. 25–28; ein Beispiel aus dem frühen 20. Jahrhundert ist Otto Weiningers bekanntes Buch Geschlecht und Charakter (Erstauflage: Leipzig 1903). Kämpfer: Sozialer Freiraum, ästhetische Nische (wie Anm. 23), S. 26. Frank Kämpfer, ebd. – Eine der möglichen Ursachen hierfür liegt jedoch auch in der Tatsache, dass der Kampf gegen das Unrechtsregime als dringlicher empfunden wurde als der Kampf um Gleichberechtigung. Vgl. u. a. Ingrid Miethe: Frauenbewegung in Ostdeutschland als Teil osteuropäischer Dissidenz?, in: Berliner Osteuropa-Info: Neue Realitäten Ost- und Ostmitteleuropäischer Frauen 12 (1999), S. 3–6; http://www.oei.fu-berlin.de/media/publikationen/boi/boi_12/ 03_miethe.pdf (23.2.2009). Dorothee Schmitz-Köster: Trobadora und Kassandra und… Weibliches Schreiben in der DDR, Köln 1989, S. 22. Vgl. auch Nina Noeske/Melanie Unseld (Hg.): Blickwechsel Ost/West. GenderTopographien, Hildesheim u. a. 2009 (= Jahrbuch Musik und Gender 2). Kornelia Hauser: Patriarchat als Sozialismus. Soziologische Studien zur Literatur aus der DDR, Hamburg 1994, S. 24.

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chen, nahezu gesamtgesellschaftlichen Verdrängungsleistung auszugehen. Zu fragen ist, ob und inwiefern sich jener Zusammenhang auch in den (›offiziellen‹ wie ›inoffiziellen‹) musikästhetischen Entwürfen innerhalb der DDR manifestierte, ob von hier aus Rückschlüsse auf den Umgang mit weiteren sozialen und geschichtlichen Dichotomien innerhalb des Felds der ›Ästhetik‹ möglich sind, ob und inwiefern jene (mit Foucault gesprochen) ›Episteme‹ des Gender-Diskurses in musikalische Produktion, Interpretation und Rezeption Eingang fanden und vor allem, was sich aus den hieraus resultierenden Erkenntnissen für die Praxis der Musikhistoriographie ergibt. Im Folgenden möchte ich mich auf drei Punkte beschränken: Zunächst sei die staatlich sanktionierte Ästhetik des Sozialistischen Realismus nach unterschwellig wirksamen Geschlechter-Codierungen befragt. Dies ist insofern aufschlussreich, als hier das repräsentative Selbstbild des Staates DDR gewissermaßen auf einer anderen als der politischen, nämlich auf ästhetischer Ebene verhandelt wird. Die Untersuchung des Geschlechter-Diskurses auf dieser Ebene wiederum lässt Rückschlüsse auf die real existierenden Ausschlussmechanismen zu. Zweitens ist in aller Kürze nach kompositorischen Umgangsweisen mit dem geschilderten ›Gender-Trouble‹ zu fragen, und drittens sei ein Ausblick auf die Chancen einer gleichsam ›geläuterten‹ Musikhistoriographie gewagt. Das Eigene und das Fremde, oder: Sozialistischer Realismus Die DDR favorisierte für ihr Selbstverständnis bis in die 1980er Jahre hinein »jene klassisch-humanistische deutsche Kultur am Ende des 18. Jahrhunderts, mit der sich Gesellschaftsaufbruch, bürgerlich-männliche Subjektwerdung und zugleich politischer Regreß verband.«29 Dies trifft etwa für die staatliche Vereinnahmung Ludwig van Beethovens zu dessen 200. Geburtstag im Jubiläumsjahr 1970 zu:30 Im Bericht zum Ostberliner Beethoven-Kongress, 1970 von Heinz Alfred Brockhaus und Konrad Niemann herausgegeben, strotzt es nur so vor heroisch konnotierten Vokabeln wie »kämpferisch«, »kampferfüllt«, »humanistisch-revolutionär« und »entbehrungsreich«. Was Beethoven künstlerisch antizipiert hatte, werde, so die ›offizielle‹ Einschätzung zahlreicher Musikwissenschaftler und Funktionäre in der DDR, im eigenen Lande politisch fortgeführt.31 Der »imperialistische Bonner Staat« hingegen verschmutze jenes Erbe – vor allem, indem er Werke wie Mauricio Kagels Ludwig van oder Stockhausens Opus 1970 dulde bzw. sogar indirekt als Auftraggeber fungiere. 29 30

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Kämpfer: Sozialer Freiraum, ästhetische Nische (wie Anm. 23), S. 26. Für eine ausführliche Reflexion des Jubiläumsjahrs 1970 in der DDR vgl. Matthias Tischer: Ulbrichts Beethoven? Die Konzeption des Beethovenjubiläums in der DDR 1970, in: Deutschland Archiv 41 (2008), S. 473–480. »[W]as für Beethoven geniale Antizipation und Zukunftsvision war, vollendet der wissenschaftliche Sozialismus und Kommunismus unseres Jahrhunderts in der Wirklichkeit.« Ernst Hermann Meyer: Das Werk Ludwig van Beethovens und seine Bedeutung für das sozialistisch-realistische Gegenwartsschaffen, in: Heinz Alfred Brockhaus/Konrad Niemann (Hg.): Bericht über den Internationalen Beethoven-Kongress 10.–12. Dezember 1970 in Berlin, Berlin 1970, S. 581–592, hier S. 586.

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Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass hiermit vor allem ein ganz bestimmtes Beethoven-Bild proklamiert wurde: Jenes des ›mittleren‹, ›heroischen‹ Komponisten, der bereits im 19. Jahrhundert als Prototyp bürgerlicher, musikgeschichtlicher bzw. kompositorischer ›Subjektwerdung‹ galt und so souverän wie autonom über sein ›Material‹ verfügte. Die bereits früh vollzogene Etablierung des Komponisten auf dem sprichwörtlichen ›Sockel‹, die damit verbundene Ausbildung einer emphatischen Autonomieästhetik, die bis ins 20. Jahrhundert verbreitete Abwertung von Komponisten wie Franz Schubert, der ein alternatives Sonaten-Konzept vertrat und sich mit Vorliebe der (intimen) Liedform widmete, als ›weiblich‹, 32 lassen hinter der sozialistischen Favorisierung des ›heroischen‹ Beethoven die implizite Entscheidung für dessen (vermeintliche) ›Männlichkeit‹ vermuten. Dass sich dagegen der in der DDR offiziell verteufelte (Musik-)Philosoph Theodor W. Adorno wie auch der ›Bonner Staat‹ (bzw. die genannten ›spätbürgerlichen‹ Komponisten Kagel und Stockhausen) angeblich vor allem den kompositorischen ›Auflösungstendenzen‹ des späten Beethoven widmen, zeuge, so der Tenor der Ostberliner Beethoven-Feierlichkeiten, von gesellschaftlichen Verfallserscheinungen; Ernst Hermann Meyer wittert hier gar »Pornographie«.33 So verkörpere die westliche »Dekadenz« mit ihrem »Nihilismus« 34 letztlich das genaue Gegenbild zum Eigenen, Heroischen, Kämpferischen, der Zukunft und damit einer »brüderlich vereinten Welt«35 Zugewandten. Die Vernachlässigung des Beethovenschen Spätwerks seitens der DDR-offiziellen musikwissenschaftlichen Proklamationen wiederum geht mit der Ausklammerung und damit Verdrängung bestimmter Aspekte der Realität einher, die traditionell mit dem Bild des ›Weiblichen‹ verbunden sind. So konstatiert der Musikwissenschaftler Harry Goldschmidt inmitten der ostdeutschen Beethoven-Feierlichkeiten, bezogen auf sein eigenes Fach, kritisch: »[W]as nicht in das revolutionäre Beethoven-Bild hineinzupassen schien, wurde beiseite gelassen; der lyrische Beethoven blieb unbewältigt, das Spätwerk – mit einer Ausnahme, natürlich der Neunten – einfach beschwiegen.« 36 Das – um Adorno zu paraphrasieren – ›Zurückziehen‹ des (traditionell als ›männlich‹ konnotierten) ›Geistes‹ aus dem musikalischen ›Material‹ (der ›Erscheinung‹, dem ›Körper‹), das beim späten Beethoven zum Tragen komme, taugt nicht für die staatliche Inanspruchnahme: Der 32

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Vgl. noch (allerdings mit anschließender Revision) Elmar Budde: Musik und Zeit – Beethoven und Schubert, in: Cornelia Bartsch/Beatrix Borchard/Rainer Cadenbach (Hg.): Der »männliche« und der »weibliche« Beethoven, Bonn 2003, S. 33–40, hier S. 33. Ernst Hermann Meyer: Das Werk Ludwig van Beethovens und seine Bedeutung für das sozialistisch-rea listische Gegenwartsschaffen, in: Brockhaus/Niemann (Hg.): Bericht über den Internationalen BeethovenKongress (wie Anm. 31), S. 581–592, hier S. 583. Werner Rackwitz: Die Bedeutung Ludwig van Beethovens für die sozialistische Nationalkultur der Deutschen Demokratischen Republik, in: Brockhaus/Niemann (Hg.): Bericht über den Internationalen Beethoven-Kongress (wie Anm. 31), S. 9–20, hier S. 16. Willi Stoph: Festansprache auf dem Festakt zur Beethoven-Ehrung der DDR am 16.12.1970, in: Brockhaus/Niemann (Hg.): Bericht über den Internationalen Beethoven-Kongress (wie Anm. 31), S. 1–8, hier S. 1. Harry Goldschmidt: Der späte Beethoven – Versuch einer Standortbestimmung, in: Brockhaus/Niemann (Hg.): Bericht über den Internationalen Beethoven-Kongress (wie Anm. 31), S. 41–58, hier S. 44.

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Eindruck von (wie auch immer gearteter) ›Schwäche‹ darf in einer geschichtlichen Situation, in der beide deutschen Staaten um die kulturelle Deutungshoheit konkurrieren, nicht aufkommen. Was hier als großangelegte Proklamation des ›männlichen‹ Beethoven als gleichsam offizielles Identifikationsangebot gedeutet werden kann, 37 findet sich Anfang der 50er Jahre in nahezu sämtlichen programmatischen Schriften zum Sozialistischen Realismus. Die Etablierung des ›Maskulinen‹ als Norm geschieht dabei selten explizit – vielmehr handelt es sich um bestimmte Begriffsfelder, die allesamt entweder das ›Männliche‹ als unausgesprochene Voraussetzung in sich tragen (etwa, wenn es um ›Stärke‹ geht), oder um Begriffsfelder, die konventionell mit ›männlich‹ assoziiert werden (etwa, dies ein verbreiteter Topos, wenn der in die Zukunft gerichtete ›Weitblick‹ betont wird).38 So heißt es bereits in Ernst Hermann Meyers programmatischer Schrift Musik im Zeitgeschehen von 1952, dass realistische Kunst »vorwärtsführen« müsse: »Das Prophetische, das heroische Vorstoßen zu immer höheren Höhen der gesellschaftlichen Einheit und der Naturüberwindung, […] das ist eine notwendige Forderung an jedes echte Kunstwerk. […] So ist realistische Kunst vorwärtsgewandt, prophetisch und kämpferisch.«39 (Dass ›Natur‹, im Gegensatz zu ›Geist‹ seit Jahrtausenden mit ›weiblich‹ assoziiert,40 überwunden werden müsse, um gesellschaftlichen Fortschritt zu erzielen, wird bekanntlich insbesondere in der Dialektik der Aufklärung – und damit von jenem Autor, der eine in der DDR ›ungültige‹ Beethoven-Deutung vertritt – einer grundlegenden Kritik unterzogen. Adornos Ästhetik kann mithin generell als dem Anliegen des Sozialistischen Realismus in der ›primitiven‹ Lesart der Linie Stalin-Sychra-Meyer diametral entgegengesetzt bezeichnet werden.) Dem tschechischen Autor Antonin Sychra (1953) zufolge »erkämpft« sich der sozialistische Komponist an verschiedenen »Fronten […] seine persönlichen Beziehungen zum sozialistischen Morgen und kämpft gleichzeitig in der Familie um ein neues Verhältnis zur Frau und zu den Kindern«. 41 Dass das ›kompositorische Subjekt‹ ein Mann ist, wird mithin nicht angezweifelt. Das Gegenbild sowohl bei Meyer als auch bei Sychra besteht wiederum in einer Musik, die für das Neurotische, Hysterische, Nervöse, Todessehnsüchtige, aber auch Sentimentale stehe. Entsprechend gelte es, nicht nur der ›atonalen‹ Musik, sondern auch bestimmten Formen der (›westlichen‹) 37

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Ein solches unterbreitet bereits Ernst Hermann Meyer: Musik im Zeitgeschehen, Berlin 1952, S. 61. Hier geht es um Beethovens 5. Symphonie, die von »einem heldenhaften, revolutionären und zum Schluß strahlend-optimistischen Charakter getragen ist« (ebd.). Vgl. hierzu Joan Wallach Scott: Über Sprache, Geschlecht und die Geschichte der Arbeiterklasse, in: Konrad/Kessel (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne (wie Anm. 4), S. 283–309, hier S. 300. Grundlegend zu den jahrtausendealten philosophischen Ursprüngen der Begriffsfelder um den Geschlechter-Dualismus: Cornelia Klinger: Feministische Theorie zwischen Lektüre und Kritik des philosophischen Kanons, in: Hadumod Bußmann/Renate Hof (Hg.): Genus. Geschlechterforschung/Gender in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Stuttgart 2005, S. 328–364. Meyer: Musik im Zeitgeschehen (wie Anm. 37), S. 175. Vgl. u. a. Klinger: Feministische Theorie (wie Anm. 38), S. 338ff. Antonin Sychra: Parteiliche Musikkritik als Mitschöpferin einer neuen Musik. Eine Einführung in die Musikästhetik des sozialistischen Realismus, aus dem Tschechischen von Bruno Liehm, Berlin 1953, S. 10.

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Unterhaltungsmusik den Kampf anzusagen; der »flache, süßliche, abgestandene Kitsch« ist nach Meyer ebenso verwerflich wie »schmalzige, schmachtende Salonmusik niedrigsten Niveaus«, die im Volk verbreitet werde »wie schlechte Limonaden oder ordinäres Parfüm«.42 Ganz in diesem Sinne springt Sychra für den Komponisten Frédéric Chopin in die Bresche: Demzufolge dominiere in dessen Werken nicht, wie häufig behauptet, das »Salonmäßige, Verweichlichte« 43, sondern vielmehr das »Revolutionäre, die Volkstümlichkeit, eine gesunde, unsentimentale Lyrik. […] Und es ist nur verständlich, daß der sozialistische Künstler gerade diese fortschrittlichen Züge des revolutionären demokratischen Komponisten hervorhebt.« 44 Parfüm, süße Limonaden, schmachtende, sentimentale Salonmusik: Gemeinsam ist jenen Assoziationen, dass sie traditionell allesamt der Sphäre des ›Weiblichen‹ – wahlweise auch des ›Homosexuellen‹ – zugeordnet sind. So handelt es sich beim Sozialistischen Realismus um ein genuin ›maskulines‹ Programm – und wenn Ernst Hermann Meyer fordert, dass sich jeder Komponist im Massenlied »stählen und reinigen« 45 solle, so lassen sich unschwer (unbewusst wirksame) Verbindungen zu männlichen Initiationsriten (nicht nur des Nationalsozialismus) ziehen.46 Jener Vergleich ist insofern nicht ganz weit hergeholt, als der Kampf um die ›richtige Kunst‹ im Rahmen des Kalten Krieges ausgefochten wurde: Auf der symbolischen Ebene der musikästhetischen Programmschrift spielt die mit Kriegen immer verbundene ›Aggression‹ als spezifische (positive) Qualität somit eine maßgebliche Rolle. Wer in den Krieg zieht, muss zugleich, wie es bei Sychra heißt, »gesund« und »unsentimental« auftreten, d. h. er darf keinesfalls »verweichlicht« sein. Wenn auch – nicht nur – auf politischen Festreden in der (frühen) DDR stets von ›Frieden‹ die Rede ist:47 Die gleichzeitigen ästhetischen Proklamationen verweisen deutlich auf den – politisch wie kulturell wirksamen – ›Krieg‹ mit seinem nahezu jede Äußerung durchdringenden Freund-Feind-Denken als politische Leitkategorie. Wie bereits im Vorfeld und mit Beginn des Ersten Weltkriegs, so zeugt auch das Vokabular des Kalten Krieges östlich des Eisernen Vorhangs von der Absage an ›dekadente‹ Phänomene wie Hysterie, Nervosität und Todessehnsucht. (Wie sich der Kalte Krieg im ›westlichen‹ Reden über Musik in den 1950er Jahren bemerkbar macht, gilt es noch zu untersuchen – offensichtlich ist es hier die Betonung des objektiv-technischen sowie intellektuell-geistigen Aspekts von Musik, die eine ähnliche Funktion erfüllt.) Hysterie und Todessehnsucht als während der vorletzten Jahrhundertwende in der Musik verhandelte Themen wiederum sind traditionell ›weiblich‹ konnotiert. 48 Die Rhetorik Meyers, Sychras und anderer lässt sich mithin verstehen als eine breit angelegte Ab 42 43

44 45 46 47

Meyer: Musik im Zeitgeschehen (wie Anm. 37), S. 163. Sychra: Parteiliche Musikkritik (wie Anm. 41), S. 104. Zum Konnex von Salonmusik und Weiblichkeit vgl. Citron: Gender and the Musical Canon (wie Anm. 2), S. 138 und 161. Sychra: Parteiliche Musikkritik (wie Anm. 41), S. 124f. Meyer: Musik im Zeitgeschehen (wie Anm. 37), S. 179. Vgl. auch Klaus Theweleit: Männerphantasien, Bd. I und II, Frankfurt a. M. 1977 und 1978. Vgl. Stefan Weiss: »Die Hand am Gewehr, und der Frieden wird sein«: Friedensklänge aus der DDR , in: Susanne Rode-Breymann (Hg.): Krieg und Frieden in der Musik, Hildesheim u. a. 2007 (= Ligaturen 1), S. 103–132.

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grenzung gegenüber allem, was mit ›Schwäche‹ assoziiert werden könnte, zur Festigung der eigenen Unverwundbarkeit auf politischer wie kultureller Ebene – durchaus auch als Folge der während der Nazi-Herrschaft erlebten eigenen Hilflosigkeit. Aus dieser Perspektive scheint es, als solle die Musik des Sozialistischen Realismus vor allem von ›Soldatentugenden‹ geprägt sein. (Die Affinität des ›Soldaten‹ zum ›einfachen Volk‹ bzw. zu den ›Arbeitern‹ als Ausgangspunkt auch des Sozialistischen Realismus spielt bei der Etablierung des hier dargestellten Denkmusters möglicherweise eine zentrale Rolle.) Nicht zuletzt, was im Gegensatz hierzu der Sphäre des erotisch aufgeladenen Tanzes zugehört (wie etwa der amerikanische Jazz der 1950er Jahre), fällt damit – neben einer vermeintlich übermäßig ›intellektuellen‹ Musik wie der Serialität – der Verachtung anheim.49 Weder die Sinnlichkeit noch der Verstand vermögen demnach letztlich ohne weiteres Vertrauen zu erwecken, denn beide – jene mit ihrer Unbedingtheit, dieser mit seinem kritischen Potential – stehen der reibungslosen Unterordnung des menschlichen Organismus als Funktionsträger im Wege. Die gängige Brandmarkung marktgängiger westlicher Unterhaltungsmusik als ›Prostitution‹ verweist wiederum auf die Besetzung des Verachtenswerten mit verachtenswerter (weiblicher) Sexualität bzw. in den Bereich des Strichertums verdrängter Homosexualität. 50 Normen und Realitäten Die in den genannten musikästhetischen Programmschriften zum Sozialistischen Realismus offensichtliche Rhetorik des Kalten Krieges entpuppt sich somit – auch – als gewaltige ›Männerphantasie‹ (Klaus Theweleit). Komponieren in der DDR wiederum musste sich – auch als die Normativität der Proklamationen nicht mehr bestand – bis 1989 mit jenen ästhetisch-politischen Forderungen der frühen DDR auseinandersetzen;51 das heißt, dass, wer in der DDR komponierte, sich zugleich impli48

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Vgl. Melanie Unseld: »Man töte dieses Weib!« Weiblichkeit und Tod in der Musik der Jahrhundertwende, Stuttgart u. a. 2001. »This insistence on specific norms of male and female respectability found one of its most powerful articulations in official rejections of jazz as a music associated with gangsters and prostitutes. […] East German authorities could not relinquish their own association between female sexual passivity, ›civilization,‹ and ›whiteness‹«. Uta G. Poiger: Rock’n’Roll, Female Sexuality, and the Cold War Battle over German Identities, in: The Journal of Modern History 68/3 (1996), S. 577–616, hier S. 593. Zum Konnex Intellektualität/Weiblichkeit durch das Bindeglied »mangelnder Realismus, Weltfremdheit, Unverantwortlichkeit« vgl. Bourdieu: Männliche Herrschaft (wie Anm. 23), S. 182. Uta G. Poiger stellt mit Blick auf beide deutsche Staaten fest, dass »the consumption of American popular culture was connected to female sexual expressiveness, male hyperaggres sion, and fascist behavior and was therefore incompatible with respectable German femininity and masculinity.« Poiger: Rock’n’Roll, Female Sexuality, and the Cold War Battle (wie Anm. 49), S. 593. Vgl. auch Andreas Huyssen: Mass Culture as Woman: Modernism’s Other, in: Ders.: After the Great Divide. Modernism, Mass Culture, Postmodernism, Bloomington u. a. 1986, S. 44–62, hier v. a. S. 47. Vgl. Nina Noeske: Musikalische Dekonstruktion. Neue Instrumentalmusik in der DDR, Köln u. a. 2007.

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zit, bewusst wie unbewusst, an dem beschriebenen ›Ideal‹ abzuarbeiten bzw. sich zu diesem zu verhalten hatte. Tatsächlich geschah dies auf vielfältige Weise: Von Bedeutung ist dabei nicht nur die ›Autorintention‹, sondern mindestens ebenso wichtig erscheint die Art und Weise, wie (und als was) die Musik vom Publikum, von der Musikkritik und -wissenschaft wahrgenommen wurde. Dabei legt die Gattung Oper in besonderem Maße mehr oder minder konkrete Bedeutungszuschreibungen nahe und bietet zahlreiche Identifikationsmöglichkeiten: So entdeckt etwa Sigrid Neef in Paul Dessaus Musiktheaterproduktionen Opernheldinnen von nahezu utopischem Format. Vor allem in seiner ersten Oper, Die Verurteilung des Lukullus, 1953 uraufgeführt, habe Dessau Frauenfiguren eingeführt, die politisch »Fehlendes« einklagen: 52 »Dessau schuf mit kommentierender Frauenstimme, Fischweib und Kurtisane, nicht nur bergend-schützende oder mütterliche Gestalten, vor allem entwarf er mit ihnen einen Typus Mensch, der sich in konflikthaften Situationen immer für das einzelne und sei es noch so unbedeutende Leben entscheidet; der dafür eintritt, so zum Antipoden jener wird, für die ein abstraktes Prinzip mehr ist als der konkrete Mensch.« 53 Laut Neef fungiere die ›Frau‹ bei Dessau damit als ›Anti-Prinzip‹, ›Anti-Held‹ und ›Narr‹ zugleich: »Shakespeare und andere haben für die Gestaltung ihrer Perspektive Narren – Kunstfiguren – geschaffen. Bei Dessau erhalten Frauen diese Funktion.« 54 (Die sich durch die Geschichte ziehende Beschreibung des Daseins der Frau als vermeintliche ›Leerstelle‹, als Nichtdefiniertes oder als kontradiktorisches ›Non-A‹, 55 und damit ihre Funktion als Projektionsfläche auch für Utopien wurde häufig beschrieben.) Hier ist nicht der Ort zu entscheiden, ob diese Deutung Neefs kohärent ist, sondern wichtig erscheint vor allem, dass dieses in der Oper enthaltene Deutungsangebot innerhalb der DDR von einer Musikwissenschaftlerin aufgegriffen und verarbeitet wurde. Vor dem Hintergrund der oben dargelegten ästhetischen Voraussetzungen, die wiederum von (Kalter-)Kriegsrhetorik geprägt sind, erscheint es tatsächlich möglich, dass Dessau in seinen Opern »die traditionellen Heldenbilder« diskutiert, »aber nicht abstrakt, sondern er zielt ganz konkret auf die Antinomie: der Mensch als Instrument fremder Zwecke und der Mensch als sein eigener Endzweck.« 56 Bemerkenswert ist, dass für die Gestalt der Kunigunde, weibliche Protagonistin in Reiner Bredemeyers Oper Candide (1981/82), seitens der musikwissenschaftlichen Rezeption nahezu einhellig eine fast gleichlautende Deutung in Anspruch genommen wurde: Kunigunde erscheint hier, wie in der DDR-Literatur die Kassandra (1983) Christa Wolfs, gleichsam als Hellseherin und Vertreterin einer wahrhaft menschenwürdigen Gesellschaft.57 Die Beispiele ließen sich fortführen; genannt seien an dieser Stelle nur 52

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Sigrid Neef: »Alles was ist, ist um seiner selbst willen da.« Zum Bild der Frau in Dessaus Opern, in: MuG 39 (1989), H. 6, S. 291–296, hier S. 291. Ebd., S. 293. Ebd. Klinger: Feministische Theorie (wie Anm. 38), S. 352f. Neef: »Alles was ist, ist um seiner selbst willen da.« (wie Anm. 52), S. 296. Vgl. Nina Noeske: Die beste aller möglichen Welten: Bredemeyers Candide (1981/82), in: Michael Berg/Albrecht von Massow/Nina Noeske (Hg.): Zwischen Macht und Freiheit. Neue Musik in der DDR, Köln u. a. 2004, S. 141–156.

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Siegfried Matthus’ Judith (1985) und Friedrich Schenkers Bettina (1984).58 Damit kann zumindest für Teile der Opernproduktion behauptet werden, was vielfach für eine sich seit den 1970er Jahren in der DDR formierende Literatur geltend gemacht wurde:59 Das ›Weibliche‹ steht (zumindest für weite Teile der Rezeption) für eine mögliche Alternative zur umfassend ›verwalteten Welt‹, hier: der Männergerontokratie im Staatsrat des real existierenden Sozialismus. (Volker Braun etwa parodiert in seinem Hinze-Kunze-Roman von 1985 mit dem Kongress der »tüchtige[n] Glieder […] unserer Gesellschaft« eben jenes sozialistische Patriarchat; die Versammlung mündet allerdings in eine lustvolle, positive Utopie.)60 Vermittelt lässt sich die Auseinandersetzung mit ›männlicher‹, ebenso wie die ›weibliche‹ auf bestimmte Bereiche beschränkte Identität jedoch auch in Werken wie Schenkers Missa Nigra (1978) – einem damals die Zuhörer erschütternden musikalischen Durchspielen des Atomkriegs – erkennen, wie sich jede Thematisierung von Krieg und Vernichtung letztlich auch als Verhandlung soldatischer Tugenden verstehen lässt: Wenn Schenker in besagter Missa Nigra, aber auch in seinem Konzert für Flöte und Orchester (1977) den ›Preußischen Marsch‹ parodiert, werden eben jene Tugenden aufs Korn genommen. In einem ähnlichen Sinne parodieren Bredemeyers Bagatellen für B. (1970) mit dem vermeintlich ›heroischen‹ Beethoven der Eroica die Ansprüche des eigenen Staates aufs ›Heldentum‹.61 Auch hier ließen sich die Beispiele beliebig fortführen. So sei an dieser Stelle nur die These aufgestellt, dass die Einseitigkeit der offiziellen politisch-ästhetischen Implikationen des Sozialistischen Realismus, in dem sich reale gesellschaftliche (d. h. hier zugleich: geschlechtliche) Machtverhältnisse ausprägten, konkret in der Musik verhandelt wurde. Es scheint, als kompensiere künstlerisches Schaffen damit zugleich gesellschaftliche Missstände, die öffentlich nicht diskutiert wurden. (Nur ganz am Rande: Bemerkenswert ist, dass sich ausgerechnet Ruth Zechlin auf jenes in der DDR verbreitete ästhetisch-kompositorische ›Narrentum‹ – das u. a. von Reiner Bredemeyer, aber auch von Friedrich Goldmann bedient wurde – nicht einlässt, indem sie ihre Werke einer möglichen, im weitesten Sinne ›politischen‹ Deutung konsequent entzieht und sie damit implizit mit 58

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Antje Kaiser: Leben oder Sterben »Hand in Hand«. Musikalische Frauencharaktere in Friedrich Schenkers »Bettina«, in: MuG 38 (1988), H. 3, S. 135–137. Vgl. u. a. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, erweiterte Neuausgabe, Berlin 2000, S. 288ff. Volker Braun: Hinze-Kunze-Roman, Frankfurt a. M. 2000 [11985], S. 143: »Es war eine große Versammlung in der geschmückten Sporthalle, es waren ausgesuchte, delegierte Schwänze, die alle der Bewegung SCHNELLER LÄNGER TIEFER angehörten, tüchtige Glieder, Mitglieder unserer fleißigen Gesellschaft.« Vgl. hierzu Roderick H. Watt: Sex and Socialism in Volker Braun’s »Hinze-Kunze-Roman«, in: The Modern Language Review 91/1 (1996), S. 124–137, hier S. 136: »In this extended sexual allegory of the actual weaknesses and potential strengths of contemporary socialism the language of socialist political theory and practice is consistently applied to sexual activity and vice versa. The result is an entertaining and telling satire em phasizing the shortcomings of the GDR’s patriarchal, phallocentric brand of socialism, which not only denies women their rights but demands from its male citizens personal self-negation in the interests of ideological orthodoxy.« Noeske: Musikalische Dekonstruktion (wie Anm. 51), S. 147ff.

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dem Epitheton ›reine Kunst‹ versieht. Es scheint, als müsse sie auch hier konsequent und mit einer gewissen Ernsthaftigkeit negieren, was ihr den Status als ›DDR-Komponist‹ streitig machen, d. h. was sie gleichsam als eigentlich ›nicht-dazugehörig‹ entlarven könnte.) Schluss(folgerungen) Ästhetik ist, ebenso wie Musik, immer zugleich auch Politik. Es geht dabei, wie gezeigt wurde, um Macht und Deutungshoheit. Geltungsansprüche wiederum sind durchdrungen von herrschenden Normvorstellungen wie dem Geschlechterdualismus: »[G]ender is a primary field within which or by means of which power is articulated«.62 Für die Musikhistoriographie ergibt sich damit die besondere Herausforderung des ›mehrschichtigen Lesens‹ von Dokumenten, die zugleich, sozusagen als ›Monumente‹, Teil eines Machtfeldes sind. Indem die Beschäftigung mit dem ›Gender-Aspekt‹ für die Abhängigkeit geltender (musikästhetischer) Normen von realen gesellschaftlichen Machtverhältnissen, d. h. letztlich für die Unwahrscheinlichkeit und Arbitrarität des So-und-nicht-Anders-Seienden, sensibilisiert, fragt eine entsprechende Geschichtsschreibung vor allem auch nach dem Nicht-Gesagten, NichtKomponierten, Nicht-Gedachten, welches, gleichsam als »Höhlung«, bei jeder Äußerung immer mitschwingt.63 Jenes nicht ›im Wahren‹ Befindliche 64 ist jedoch nicht einfach ›nicht vorhanden‹, sondern von ihm finden sich zahlreiche Spuren, denen es nachzugehen gilt. Die besondere Aufmerksamkeit richtet sich also auf Mechanismen des Ausschlusses wie der Eingrenzung, die auf musikästhetischer, musiksoziologischer, kompositorischer, interpretatorischer etc. Ebene gefunden werden können; dabei muss insbesondere dafür Sorge getragen werden, dass die DDR-internen ›Meistererzählungen‹ nicht 1:1 übernommen werden, und seien sie – wie Frank Schneiders 1979 erschienenes Buch Momentaufnahme. Notate zu Musik und Musikern in der DDR – aus einem kritischen Impuls heraus entstanden (und damit ebenfalls der ›Meistererzählung‹ zugehörig). Möglicherweise erwiese es sich im Zuge dessen als gewinnbringend, anstelle einer primär am Zeitstrahl orientierten, diachronen (zur ›Erfolgsgeschichte‹ einer Autonomieästhetik tendierenden) 65 Erzählweise auf die Synchronizität der Ereignisse abzuheben, um die jeweiligen diskursiven ›Felder‹ genauer, das heißt auch in ihrem Zusammenspiel mit anderen ihrer Art untersuchen zu können. Denn das DDR-Musikleben spielte sich ebenso wenig einzig in Berlin oder Leipzig ab, wie es ausschließlich aus männlichen Protagonisten bestand. Um das Bild der Musikgeschichte in möglichst hoher Auflösung (inklusive der genannten, unter62

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Joan Wallach Scott: Gender: A Useful Category of Historical Analysis, in: The American Historical Review 91/5 (1986), S. 1053–1075, hier S. 1069. Ausführlich hierzu Gilles Deleuze: Foucault, übersetzt von Hermann Kocyba, Frankfurt a. M. 1992, S. 134f. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, München 92003, S. 24f. Vgl. Klaus Mehner: Art. 3. Ab 1945: Deutsche Demokratische Republik, Teil des Artikels Deutschland, in: 2MGG, Sachteil, Bd. 2, Kassel u. a. 1995, Sp. 1188–1192.

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schwellig wirksamen, im weitesten Sinne politischen Mechanismen) wiederzugeben, müssen auch entlegene Orte aufgesucht werden, die zu DDR-Zeiten und teilweise bis heute aus den verschiedensten Gründen für musikhistorisch irrelevant gehalten wurden: Dazu gehören (halb-)private Zusammenkünfte von Musikern und Intellektuellen, wie jene bei Dessaus in Zeuthen, ebenso wie der alltägliche Umgang mit Musik, etwa in der Schule oder bei Feiern. Auf der anderen Seite sind zentrale Institutionen wie die Akademie der Künste der DDR oder der Komponistenverband als spezifische soziale Biotope nur angemessen zu verstehen, wenn sie als bestimmte, eingrenzbare ›Orte‹ auf der Landkarte, mit einer bestimmten (und bestimmenden) Umgebung untersucht werden. Wichtig ist, als was jene Institutionen ›galten‹, wie sie innerhalb des Kontexts ›DDR‹ von den verschiedenen Bevölkerungsgruppen wahrgenommen und definiert wurden (etwa: ob und von wem sie ernst genommen wurden oder nicht – dies ist vor allem für das Phantom des Sozialistischen Realismus von größter Bedeutung). Für Musikhistoriographie ist das Denken in Beziehungen zentral. ›Gender‹ als »Useful Category of Historical Analysis« (J. W. Scott) vermag hierfür zu sensibilisieren; allein ausschlaggebend ist sie keinesfalls – und will es im besten Falle auch nicht sein. Zweifellos rückt die Kategorie jedoch ins Blickfeld, wenn a) für die verschiedenen zeitlichen Etappen eine (oder mehrere) ›Landkarte(n)‹ des DDR-Musiklebens erstellt werden und b) hieraus eine tiefengeschärfte musikhistoriographische Diskursanalyse entwickelt wird. Auf diese Weise finden die verschiedenen, gleichzeitigen wie ungleichzeitigen historischen Stränge in ihrer je eigenen Beschaffenheit Berücksichtigung, ohne dass deren Zusammenhang aus dem Blickfeld gerät.

»Haben wir eine marxistische Musiktheorie?« Gerd Rienäcker So fragte im Januar 1989 Georg Knepler. Als Chefredakteur der Zeitschrift Beiträge zur Musikwissenschaft beabsichtigte er hierzu eine Gesprächsrunde. Musikwissenschaftler verschiedener Generationen waren gebeten, Thesen zu schreiben, in denen sie die gestellte Frage positiv oder negativ beantworteten, mögliche Arbeitsfelder einer marxistischen Musiktheorie, vorab Anforderungen an sie kenntlich machten. Dies wiederum sollte die Grundlage für Podiumsdiskussionen sein, in denen Errungenschaften, Defizite, Probleme ohne Wenn und Aber, ohne Beschönigung erörtert würden. Kneplers Angebot, das er mir und anderen im persönlichen Gespräch übermittelte,1 blieb fast unbeantwortet. Die meisten Teilnehmer sagten ab. Ich hingegen, an der Fragestellung interessiert, versuchte einige Thesen; sie wurden in den Beiträgen zur Musikwissenschaft abgedruckt2 und fanden wenig Anklang – darüber später. Aufs damals Geschriebene zurück zu kommen, ist nostalgischer Rückschau enthoben; nicht was ein für allemal verloren ist, möchte ins Leben gerufen werden – dies wäre sinnlos. Eher gilt es nachzudenken über Unabgegoltenes, diesseits und jenseits der Kneplerschen Frage. I. Sie nämlich hatte es in sich. Im kleineren, vertrauteren Kreise lautete sie: »Haben wir wirklich eine marxistische Musiktheorie?« Schärfer noch: »Meint ihr, dass wir schon eine marxistische Musiktheorie hätten?« Unüberhörbar die Skepsis – sie konnte in beißende Ironie, brüske Abweisung umschlagen, wenn die Befragten die Frage bejaht haben. Derlei Skepsis war Knepler nicht neu. Schon in den späten 1970er Jahren, geradewegs nach dem Abschluss seines Buches Geschichte als Weg zum Musikverständnis3, beendete er eine Gastvorlesung an jenem Institut, das er doch bis 1970 leitete, 4 mit der 1

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Inwieweit die Zeitschriftenredaktion, erst recht die Leitung des Institutes für Kunstwissenschaften der Akademie der Künste (AdK) der DDR Kneplers Einladung zu einem RundtischGespräch offiziell fasste, lässt sich einstweilen nicht rekonstruieren. Gerd Rienäcker: Haben wir eine marxistische Musiktheorie?, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 31 (1989), S. 159–165. Georg Knepler: Geschichte als Weg zum Musikverständnis: Zur Theorie, Methode und Geschichte der Musikgeschichtsschreibung, Leipzig 1977. Gemeint ist das Musikwissenschaftliche Institut der Humboldt-Universität zu Berlin. Für die Mitarbeiter überraschend, ließ er sich beurlauben – wahrscheinlich, um seiner Entlassung zuvorzukommen. Der Grund: Er hatte während des Krieges gegen Israel verzweifelt geäußert, er sei doch Jude und wisse nicht, wie er sich verhalten solle. Diese Äußerung wurde denunziert und kam all denen zupass, die seit längerem politische Schwierigkeiten mit ihm hatten.

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Feststellung, dass die Behauptung marxistischer Positionen noch lange nicht dafür garantiere, dass man das nötige Wissen in der Tasche habe. Und wenn er, zehn Jahre zuvor,5 von der Überlegenheit des Marxismus sprach, meinte er keineswegs jene Standards, auf die er sich noch in seiner Musikgeschichte des XIX. Jahrhunderts berufen hatte.6 Zunehmend kritisch setzte er sich mit eigenen Positionen, erst recht mit denen einiger, dazumal führender Kollegen auseinander: Mit harschen Worten wurde Walther Siegmund-Schultze öffentlich zurechtgewiesen; 7 nicht minder vernichtend war Kneplers Wertung des Festvortrages von Heinz Alfred Brockhaus während der 150-Jahresfeier der Berliner Musikwissenschaft 1979 in einer internen Versammlung,8 eingeleitet mit der Frage: »Du meinst also, dein Referat hätte Tiefgang?«, hernach: »Ich kann Dein Referat leider nicht so milde beurteilen wie du.« Auch Jüngere hatten skeptische bis abweisende Repliken zu gewärtigen, wenn sie ihre Positionen apodiktisch vortrugen. »Wie weiß man?«9 Dass er im Jahre 1973 mit meiner Dissertation 10 hart, kritisch zu Gerichte ging, gehorchte seinem Wunsche, mich wie jeden anderen seiner Schüler zum Überdenken zu veranlassen. Vor allem monierte er, dass ich nicht kritisch genug vorgegangen wäre – in der Einschätzung von Werken und im Nachdenken über analytische Instrumentarien, bezogen auf Musik und Musiktheater. »Wenn du so weiterschreibst, wirst du bald so schlecht sein wie Siegmund-Schultze!« – so unter vier Augen in den späten 70er Jahren. Knepler übertrieb mit Bedacht, weil er um meine Neigung zur Apodiktik wusste. Besser kam ich mit ihm zurecht, wenn ich selbst Bisheriges infrage stellte, vor allem, wenn ich kulturpolitische Dummheiten erregt angriff oder für immer noch beargwöhnte Avantgarden mich einsetzte. 11 Am besten verstanden wir uns, wenn wir über politische und kulturpolitische Fehlentscheidungen, ja, Auswegloses uns verständigten – u. a. über die Ausbürgerung von Wolf Biermann, über 5

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Im Januar 1967, anlässlich eines nachgeholten Festkolloquiums zu seinem sechzigsten Geburtstag. Georg Knepler: Musikgeschichte des XIX. Jahrhunderts, 2 Bde., Berlin (Ost) 1961. Im Vorwort zum ersten Band hob Knepler den »unbeirrbaren Blick« sowjetischer Musikforscher »für die Verbindung von Wissenschaft und Musikleben« hervor (S. 7). Jahrzehnte später hätte er dies nicht mehr so ungebrochen artikuliert. Bereits 1966, während eines internationalen Seminars marxistischer Musikwissenschaft in Moskau, widersprach er den sowjetischen Lesarten bürgerlicher Moderne. Im Jahre 2001 bezeichnete Knepler den Stalinismus als »Pest«. Während eines Kolloquiums, das die Sektion Musikwissenschaft des Verbandes der Komponisten im Frühjahr 1975 veranstaltete. Unvergesslich die Szene: Walther Siegmund-Schultze diskutierte im Rundtischgespräch mit anderen. Knepler rannte erregt nach vorn, schlug aufs Mikrophon und rief: »Walther, so geht es nicht!« In der Parteigruppe Lehrkörper des Bereichs Musikwissenschaft im März 1979. So in schier unzähligen Randglossen, mit denen Knepler sowohl Referate als auch Graduie rungsarbeiten bedachte. Vgl. Gerd Rienäcker: Zu einigen Aspekten dialektischer musikalisch-dramaturgischer Figureninterpretation in neueren Werken des Opernschaffens der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (Ost) 1972, unveröffentlichtes Typoskript. So in meinen Plädoyers für Friedrich Goldmanns erste und zweite Symphonie, zugespitzt in meinem Aufsatz Der Streit zwischen Phoebus und Pan? Exkurs zum Problem Avantgarde und Popularität, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 30 (1988), S. 262–272.

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Schikane gegen Künstler, über den Selbstmord des Philosophen Lothar Kühne. 12 Und über kleine Hoffnungen, die Gorbatschow auszulösen schien. Was im Inneren der Sowjetunion tatsächlich vorging, hatte diese Hoffnungen sehr schnell zerstört, aber es durfte keine Rückkehr zum Ehemals geben – in Kneplers Denken nicht, auch nicht in meinem; Erich Honeckers sarkastisch sein sollende Bemerkungen über »quakende Spießer« im Januar 198913 veranlassten uns zu offenem, schreiendem Protest – sehr spät, zu spät! Aufzurollen, was Georg Knepler in den 50er und frühen 60er Jahren von sich gab,14 ist unnötig, weil Freunde und Schüler dies seit geraumer Zeit kritisch vermerkt haben, weil vor allem er selbst seit dem Ende der 60er Jahre von früheren Positionen nicht im Geheimen, sondern öffentlich abgerückt ist. Mit der Wende war solche Revision nicht abgeschlossen; der 90- oder gar 95jährige fand sich bereit, vom Begriff ›Marxismus‹ Abschied zu nehmen:15 Anders als früher wäre er ihm nicht mehr wichtig, so lange Grundfragen gestellt würden, so lange Kunstwissenschaften über Tellerränder hinausschauten. Meine Antwort darauf – er erhielt sie noch und schien damit einverstanden zu sein: »Entweder bekennen wir uns zum Begriff marxistisch; dann fallen die meisten als marxistisch ausgegebenen Arbeiten unter den Tisch. Oder, wenn dies nicht möglich ist, verzichten wir auf den Begriff. Ich schwanke einstweilen zwischen beiden Optionen.« Dass ich neuerdings den Begriff wieder in Anspruch nehme, gehorcht trotziger Widerrede gegen ältere und neuere Versuche, nicht nur gegen offenkundige Defekte marxistischer Theorien, sondern gegen Marx insgesamt zu Felde zu ziehen. Mehr denn je insistiere ich darauf, zwischen dem Theoretiker und dem Tagespolitiker Karl Marx, zwischen seinen Analysen und denen von Friedrich Engels, zwischen Marx und Marxismen (es gibt derer mehrere, ja viele), zwischen Marxismen und jenen Lehrgebäuden, die über viele Jahrzehnte als MarxismusLeninismus ausgegeben wurden, sauber zu unterscheiden; dies umso mehr, als nicht einmal Lenins Anschauungen in Stalins Definitionen des Leninismus aufgehen. Dass »der Marxismus leider als Murxismus eingeführt worden sei«, vermerkte Bertolt Brecht mehrfach seit den späten 30er Jahren. Mit einigem Recht hatte Günter Mayer in den 70er, 80er Jahren frühere Wertungen sogenannter spätbürgerlicher Künstler als »murxistisch« bezeichnet.16 12

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Lothar Kühne (1932–1985) lehrte Marxismus an der Humboldt-Universität. Im Jahre 1980 erhielt er Lehrverbot. Bereits Jahre zuvor hatte er mit mehreren Aufsätzen sich politisch zwischen die Stühle gesetzt – weil er auf Marx und nicht auf dessen offiziöse Interpretation sich berief. Vgl. hierzu Lothar Kühne: Gegenstand und Raum, Dresden 1981 sowie ders.: Haus und Landschaft, Dresden 1985. Am 7. Oktober 1985 (es war der 36. Jahrestag der Gründung der DDR) nahm er sich das Leben. Verärgert und gänzlich unqualifiziert reagierte Honecker auf Proteste, die gegen das Vertriebsverbot der sowjetischen Zeitschrift Sputnik zunehmend gegen die Unbeweglichkeit der ›Führung‹ der SED gerichtet waren. Sein Referat in einer Parteiversammlung zu verreißen, brauchte allen Mut; Bernd Powileit brachte ihn auf. Nachzulesen vor allem in den frühen Jahrgängen der Zeitschrift Musik und Gesellschaft. So in einem Brief an mich im Jahre 2000. U. a. im Schlusswort zu einer Konferenz über Arnold Schönberg, veranstaltet vom Kulturbund der DDR im Herbst 1974.

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Sind derlei Unterscheidungen nötig, um Vor- und Fehlurteile zu minimieren, so gilt es zugleich, Marx’ Theorien selbst zu historisieren, d. h. Errungenschaften und Kurzschlüsse, ja, Fehlurteile gleichermaßen festzuhalten: Dies ist ein Unterfangen, zu dem geradewegs bedeutende Marxisten aufrufen. 17 Dass Altgewohntes, bislang Abgesichertes in Frage zu stellen sei, gehört zur Sache. II. Nicht nur im Wissen um Georg Kneplers skeptische Tonlage beantwortete ich die Frage, ob wir eine marxistische Musiktheorie haben, eindeutig mit nein. 18 Und dies aus mehreren Gründen. Zum einen sah ich die meisten Arbeiten, gerade jene, die sich als marxistisch ausgaben, weit von jener Anstrengung des Begriffs entfernt, die nicht erst Hegel dem philosophischen Denken, Argumentieren und Analysieren als unerlässlich auferlegte. Auch meine Arbeiten hatten davon wenig begriffen. Spätestens seit Mitte der 70er Jahre machten Diskussionen, ja zunehmend scharfe Repliken begabter Studenten und Doktoranden darauf aufmerksam. 19 Ich hatte also nicht nur von Marx zu reden und zu schreiben, sondern überhaupt mich zu seiner Analytik hochzuarbeiten,20 was die Beschäftigung mit Philosophie unweigerlich voraussetzte. Zum anderen sah ich, dass Marx’ Forderung, wirklich alle Verhältnisse in Augenschein zu nehmen, die einer bestimmten Gegebenheit zugrunde liegen, 21 selten eingelöst wurde, am wenigsten in Arbeiten, die ausführlich sich über gesellschaftliche Verhältnisse verständigten, um hernach ins Reich der Kunst zu gelangen. Allzu oft traf ich die Analysierenden bei unguten Selektionen dessen, was ihnen zupass oder nicht zupass kam: War beispielsweise in offiziellen und weniger offiziellen Verlautbarungen von Bachs Kirchenmusik die Rede, so bestenfalls nebenher vom theologischen, weniger noch vom gottesdienstlichen Kontext,22 als ob man die Werke für sich nehmen könnte. Hatten sich als marxistisch gebende Bach-Exegeten Schwierigkeiten, 17

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So u. a. Werner Mittenzwei im letzten Kapitel seines Buches Die Intellektuellen, Berlin 2003, S. 512. Im Typoskript meiner Thesen deutlicher als in der Druckfassung; Konrad Niemann als geschäftsführender Redakteur der Beiträge zur Musikwissenschaft hatte einige Formulierungen abgemildert – vermutlich, um mir Ärger zu ersparen. Auch die nachfolgende Begründung meiner Antwort war in den Thesen nur angedeutet. Eckehard Binas, später ein bedeutender Kultursoziologe, derzeit Professor in der Fachuniversität Görlitz, teilte mir im Dezember 1981 mit, er käme nicht in meine Lehrveranstaltungen, um Schäferstündchen abzuhalten. Dies mochte übertrieben sein, verfehlte die offenkundigen Defizite meiner Lehre jedoch keineswegs. Dazu Eckehard Binas: Es gäbe eine Fachdisziplin, und das wäre der Marxismus; unsere Fächer hingegen wären als Hilfswissenschaften einzustufen und unterlägen den Postulaten des Marxismus. Binas’ eigene Lesarten machten alsbald offenbar, dass nicht der offiziell verbreitete Marxismus-Leninismus gemeint war. Vgl. hierzu seine Dissertation: Zur Problemstruktur der ästhetischen Aneignung, Berlin (Ost) 1985, unveröffentlichtes Typoskript. Exemplarisch realisiert in Marx’ Analyse der Ware und der sie konstituierenden Kategorien.

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mit Theologien, mit protestantischen Kirchen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts zurecht zu kommen, weil sie zu strikter Historisierung unfähig waren? 23 Kein Wunder, dass es zu einschichtigen Positionsbestimmungen kam – Bach als Repräsentant ›der‹ Aufklärung,24 freilich in Opposition zu kaum weniger einseitigen Gegenpositionen.25 Als nicht minder komplikativ erwies sich, dass Warnungen, ausgesprochen u. a. von Wolfgang Heise im privaten Gespräch in den 70er und 80er Jahren, unter den Tisch gekehrt wurden: Kam er nämlich auf Beziehungen zwischen Kunst und Gesellschaft zu sprechen, so rief er aus, wir wüssten doch gar nicht, wie es um diese Beziehungen wirklich bestellt sei; stattdessen zögen wir unentwegt Linien von einem zum anderen, die das Eigentliche verfehlten. In der Tat: Sprach Knepler eingangs der 60er Jahre von »tief unter der glänzenden Oberfläche des bürgerlichen Musiklebens verborgenen« Zusammenhängen,26 die es aufzudecken gelte, so hatte auch er sie gravierend vereinfacht. So einschichtig, wie er in der Visitation des Geschehens zwischen 900 und 1800 die Entwicklung von Musik und Gesellschaft zusammendenken wollte,27 fand sie nicht statt; schon gar nicht ließ sie sich auf die »magere Schnur einer einzigen durchgehenden Idee« (Goethe zu Eckermann) fädeln. Analytik, wollte sie wirklich auf Marx sich berufen, hätte nicht nur alle Verhältnisse, sondern die tatsächliche Komplexität ihrer Verflechtungen in Augenschein zu nehmen, dabei sich aller Traumtänze zu begeben, die über Risse, Sprünge, Lücken, Abgründe hinweg gleiten, sie hätte also auch Unlösbares festzuhalten – in der Beschaffenheit der Gegenstände und der Instrumentarien gleichermaßen. Zum dritten sah ich die wenigen Versuche marxistischer Analytik und Theorie behindert durch politische, kulturpolitische Eingriffe. Wie sollte – so in einem Passus, der leider in der Druckfassung meiner Thesen gestrichen wurde – von entfalteter Theoriebildung die Rede sein, wenn bedeutende Philosophen mit handfesten Repressionen bedacht werden? Ich bezog mich auf jenes im Jahre 1979 gegen den Philosophen Lothar Kühne verhängte Lehrverbot, das ihn im Herbst 1985 zum Selbstmord veranlasste, auf Parteistrafen, die die Bezirksleitung der SED eingangs der 80er Jahre gegen Camilla Warnke, Werner Röhr, Peter Ruben verhängte, weil ihre persönlichkeitstheoretischen Vorschläge sich mit offiziösen Menschenbildern schwerlich vertrugen. Was dem Nachdenken über gesellschaftliches Heute und Morgen nützlich, unerlässlich gewesen wäre, wurde als ideologische Verwirrung gebrandmarkt. 22

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Dies habe ich nach der Wende in mehreren Aufsätzen kenntlich gemacht. Vgl. hierzu Gerd Rienäcker: Vertane Chancen. Nachdenken über Bach-Bilder in der DDR, in: Matthias Schneider (Hg.): Bach in Greifswald. Zur Geschichte der Greifswalder Bachwoche 1946–1996, Frankfurt a. M. u. a. 1996, S. 97–107. Mitzudenken allerdings sind ungute Erfahrungen einiger Marxisten mit der katholischen Kirche als Institution. Das gilt vor allem für Georg Knepler und Hanns Eisler. Noch in der Bach-Ehrung des Jahres 1975, zurückgenommen ein Jahrzehnt später. Vgl. hierzu die Auseinandersetzungen in den frühen 50er Jahren. Vgl. Knepler: Musikgeschichte des XIX. Jahrhunderts (wie Anm. 6), Bd. I, S. 7. Ebd., S. 13–110.

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All diese Defizite waren, so meinte ich, festzumachen auch in der allgemeinen philosophischen Reflexion, soweit sie öffentlich, namentlich in Zeitschriften stattfand.28 Nicht ohne Abstriche ließ sich dies für das Feld der Kulturtheorie und Ästhetik verallgemeinern: Hier gab es Anderes – die lyriktheoretischen Arbeiten von Michael Franz, Texte von Lothar Kühne, Karin Hirdina, 29 Günter Mayer,30 vor allem von Wolfgang Heise,31 der eben deshalb seit den späten 50er Jahren eine Blessur nach der anderen auf sich nahm. 32 Waren solche Texte Ausnahmen, die die Regel bestimmten? Weniger Abstriche mochte ich auf eigenem Felde machen, so sehr mich die neueren Texte von Georg Knepler und Harry Goldschmidt, erst recht die Arbeiten von Günter Mayer, Christian Kaden33 und Peter Wicke34 in den Bann schlugen. Wie auch immer – in meinen Thesen kam ich zu ungewöhnlich schroffen Urteilen: Was denn hatten all jene Versuche, die sich als musiktheoretisch ausgaben, von Theoriebildung verstanden, was denn als musikästhetisch ausgepreiste Texte von Aisthesis, Ästhetik? Entpuppten, so meine Frage, die meisten musikästhetischen Arbeiten sich nicht in Wahrheit als musikideologisch, ließen sie nicht, was eigentlich als ›annehmlich‹, ›abstoßend‹, ›schön‹, ›hässlich‹ zu definieren sei, unter den Tisch fallen zugunsten hehrer Ideen, Ideologien? 35 Was hatten marxistische Analysen vom ›So und nicht Anders‹ des Musizierens, von Musik verstanden, wenn sie ihr Terrain aufs nur Hörbare, Gehörte eingrenzten, d. h. der Aktion des Musizierens alles Sichtbare wegnahmen? Und was hatten sie von Musik begriffen, wenn ihnen die Aufhebung unsäglicher Dichotomien zwischen ›hoher‹ und ›niedriger‹ Musik, zwischen ›U‹ und ›E‹ auch theoretisch misslang, wenn ihnen tatsächliche oder zumindest wünschbare Zusammenhänge aller Musiziersphären uninteressant, unerheblich waren? Zu solchen Urteilen gesellte sich das Bedauern darüber, dass wichtige Debatten seit längerem stagnierten – mitsamt all den Einsichten, die es zuhauf gab: Diskussio28

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Dazu Werner Röhr sarkastisch im Gespräch mit mir, Frühjahr 1986: Er habe die Deutsche Zeitschrift für Philosophie abbestellt, weil sie nichts mehr mitzuteilen habe. U. a. deren immer noch lesenswertes Buch Pathos der Sachlichkeit. Tendenzen materialistischer Ästhetik in den zwanziger Jahren, Berlin (Ost) 1981. U. a. seine Aufsatzsammlung Weltbild-Notenbild. Zur Dialektik des musikalischen Materials, Leipzig 1978. Vgl. Wolfgang Heise: Aufbruch in die Illusion. Zur Kritik der bürgerlichen Philosophie in Deutschland, Berlin (Ost) 1964; ders.: Realistik und Utopie. Aufsätze zur deutschen Literatur zwischen Lessing und Heine, Berlin (Ost) 1982; ders.: Hölderlin. Schönheit und Geschichte, Berlin (Ost) u. a. 1988. Vgl. hierzu Achim Trebeß: Entfremdung und Ästhetik. Eine begriffsgeschichtliche Studie und eine Analyse der ästhetischen Theorie, Stuttgart u. a. 2001, insbesondere S. 251–274. U. a. Christian Kaden: Musiksoziologie, Berlin (Ost) 1984. Ich bekenne, dass sein Denken mich spätestens seit 1967 beeinflusst hat. Peter Wicke: Rockmusik. Zur Ästhetik und Soziologie eines Massenmediums, Leipzig 1987. Dies galt noch in jenen Bestimmungen, die Eberhard Lippold und Werner Kaden im Hand buch für Musikästhetik versucht hatten. Vgl. hierzu Siegfried Bimberg/Werner Kaden/Eberhard Lippold/Klaus Mehner/Walther Siegmund-Schultze (Hg.): Handbuch der Musikästhetik, Leipzig 1979, insbesondere S. 13–20, S. 185–237.

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nen über Grundfragen ästhetischen Verhaltens, also auch ästhetischer Wertung, 36 über Möglichkeiten und Grenzen semiotischer Analysen, 37 ja, über Methoden der Analyse38 und Geschichtsschreibung insgesamt.39 Was, so fragte ich im internen Kreise meiner Schüler, hatte sich seit den Semantisierungsversuchen von Harry Goldschmidt40 und Georg Knepler,41 seit den kritischen Einwürfen von Manfred Bierwisch,42 seit Christian Kadens skeptischem Vorwort zu einer Semiotik der Musik43 getan? Und warum blieb der Vorschlag ungehört, 44 Musik, auch die sogenannt artifizielle, nach dem Vorhandensein unterschiedlicher Kultursymbole zu befragen, die doch andernorts, in Gesten, Kleidern, Raumgestalten gleichsam mit den Händen zu greifen waren?45 Gerade er hätte für Weiterungen semiotischer Analysen nützlich sein können.

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Angeregt durch Georg Knepler, Wolfgang Heise und Günter Mayer inmitten der 70er Jahre: Im Jahre 1974 trug Knepler das erste Kapitel seines Buches Geschichte als Weg zum Musikverständnis vor, das sich auch mit der Genese ästhetischer Wertungen befasste. Im Februar 1975, während einer Tagung der Sektion Ästhetik und Kunstwissenschaften, diskutierten Wolfgang Heise und Günter Mayer über Grundbestimmungen des Ästhetischen – sie leiteten sie aus dem Widerspruch zwischen Gebrauchs- und Gestaltwert ab. Vgl. hierzu Erwin Pracht (Hg.): Ästhetik heute, Berlin (Ost) 1978, insbesondere S. 173–340. Angeregt durch mehrere Arbeiten von Georg Klaus. Seit den frühen 60er Jahren versuchte Georg Knepler, semiotische Kategorien für die Musikanalyse fruchtbar zu machen. Seit 1962 forderte Knepler die Einbeziehung naturwissenschaftlicher, namentlich mathematischer Methoden in die Analyse von Musik. Eben deshalb setzte er sich mit Fragestellungen der Kybernetik und Informationstheorie auseinander. Und er berief, dies solide zu untermauern, den Tontechniker Reiner Kluge an sein Institut. Dies ein Problemfeld, das Georg Knepler seit den mittleren 50er Jahren beschäftigte. Vgl. hierzu Geschichte als Weg zum Musikverständnis (wie Anm. 3), vor allem das letzte Kapitel »Der Fortschrittsbegriff in der Musikgeschichtsschreibung«. Sie leider verengten sich zunehmend auf Versuche, Instrumentalmusik mit Texten zu unterlegen, und zwar Wort für Wort, ja, Silbe für Silbe. Damit blieb Goldschmidts einstiger Weitblick der Analyse und Geschichtsschreibung großenteils auf der Strecke. Vgl. Georg Knepler, Geschichte als Weg zum Musikverständnis (wie Anm. 3), erstes Kapitel. Bemerkenswert ist Kneplers Versuch, Prozeduren der Semiotisierung aus der Entstehung der Musik herzuleiten. Vgl. Manfred Bierwisch: Musik und Sprache, in: Jahrbuch Peters. Aufsätze zur Musik 1 (1978), Leipzig 1979, S. 9–102. Abgedruckt in: Harry Goldschmidt/Georg Knepler (Hg.): Musikästhetik in der Diskussion. Vorträge und Diskussionen, Leipzig 1981, S. 153–197. Geäußert u. a. von Andreas Mertsch und Bernd Powileit im Jahre 1988 in mehreren Sitzungen der Abteilung Musikgeschichte am Institut für Musikwissenschaft der Humboldt-Universität. Seit längerem hatte Andras Mertsch mit neueren kulturgeschichtlichen Arbeiten sich auseinandergesetzt. Vgl. hierzu Kühne: Gegenstand und Raum (wie Anm. 12). Nach der Bedeutung von Kultursymbolen hatte seit längerem Irene Dölling gefragt, sie wiederum konnte sich auf Kühne, vor al lem auf kulturanalytische Studien u. a. von Roland Barthes beziehen. Vgl. Irene Dölling: Individuum und Kultur. Ein Beitrag zur Diskussion, Berlin (Ost) 1986.

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Warum stagnierten Debatten über die Relevanz musikgeschichtlicher Epochenbegriffe und darüber, welche Prozesse, Entwicklungen dadurch abgedeckt oder unter den Tisch gekehrt wurden?46 Nicht dass ich, im Gericht über solche und andere Defizite, der Meinung gewesen wäre, sie schon beheben zu können. Aber sie sollten kenntlich gemacht werden – mehr nicht, weniger nicht. III. Von hier aus skizzierte ich einige Problemfelder, deren Erörterung nützlich sein könnte, diesseits und jenseits einer Musiktheorie, die das Attribut marxistisch in Anspruch nimmt.47 1. Zu rekapitulieren waren Selbstverständlichkeiten – zumindest unter marxistischen Musikwissenschaftlern –, die einzulösen jedoch selten gelang. Wenn nicht von Musik an sich, sondern von Musikkultur die Rede sei, so gehe es um »Kommunikationsprozesse, in denen Musizieren als gesellschaftliche Aktion konstitutiv ist. Damit rücken ganz unterschiedliche Teilgegenstände und ihre Wechselbeziehungen ins Blickfeld der Analyse«: Zum einen »Subjekte unterschiedlicher Art, befasst mit der Hervorbringung, Distribution, Rezeption bzw. Konsumtion von Musik«; zum anderen »unterschiedliche Prozeduren der Produktion«; vorausgesetzt, Produktion sei »nicht nur Komposition oder Aufführung, sondern beziehe sich auf die »Hervorbringung von Musik insgesamt«, und dies bis in die an neuere Medien gebundenen technischen Prozeduren hinein; zum dritten »unterschiedliche Teilvorgänge der Distribution«; zum vierten »unterschiedliche Modalitäten der Rezeption bzw. Konsumtion«; zum fünften »unterschiedliche, von der Gesellschaft initiierte Organe bzw. Organisationsformen, insofern darin Musik produziert, distribuiert und rezipiert wird«; zum sechsten alle jene Kommunikationsmodalitäten, denen die Produktion, Distribution, Rezeption von Musik gehorcht; schließlich und endlich verschiedenartige »Vergegenständlichungen des Produktions-, Distributions- und Rezeptionsprozesses«. 48 Schon auf den ersten Blick ist erkennbar, dass ich, um derlei »Teilgegenstände« zu beschreiben, Begriffe zu Hilfe nahm, die Marx in seinen ökonomischen Schriften 46

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Gerade sie waren in Kneplers Buch Geschichte als Weg zum Musikverständnis (vgl. Anm. 3) aufs neue angeregt worden. Was hierzu Anneliese Schneider (in ihren Vorlesungen zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts der Jahre 1978ff.) und Heinz Alfred Brockhaus (im zweiten Band seiner Europäischen Musikgeschichte, Berlin [Ost] 1986, bezogen auf Barock und Aufklärung) ausführten, konnte doch nicht als der Weisheit letzter Schluss genommen werden. Glücklicherweise fragte Sebastian Klotz 1985, damals Student im zweiten Semester, ob es nicht mehrere, einander widersprechende Epochenbegriffe geben könne. In meiner Überblicksvorlesung ging ich sofort darauf ein, und wir hatten eine Debatte über das So und nicht Anders musikgeschichtlicher Epochen und ihrer möglichen Definitionen, wie sie öffentlich kaum stattfand. Im folgenden sollen die Thesen nicht referiert werden. Es geht um zentrale Ausgangspunkte – sie bedürfen der Nachfrage. Gerd Rienäcker: Haben wir eine marxistische Musiktheorie? (wie Anm. 2), S. 159f.

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entfaltet hatte,49 Begriffe denn auch, die in den neueren Arbeiten der Kulturtheorie und Ästhetik kursierten – Musiktheorie, die als marxistisch sich begreift, hätte hier Nachholbedarf. Dies stimmte nur zum Teil, denn auch das Handbuch der Musikästhetik hatte sie partiell eingeführt;50 inwieweit sie für die spezifischen Gegenstände der Musikwissenschaft tauglich waren, musste offen bleiben. Davon unabhängig verwies die Auflistung auf Probleme und Defizite. Zunächst genügte sie nicht den gängigen Bestimmungen von Musikkultur, weil sie Wertungen ausschloss – dies der Grund, warum ich in einem früheren Aufsatz vorschlug, die oben genannten Teilgegenstände und ihre Wechselbeziehungen im Terminus ›MusikVerhältnisse‹ zusammenzufassen,51 um Bestimmungen der Musikkultur davon abzugrenzen.52 Dieser Vorschlag mitsamt anderen Versuchen 53 blieb undiskutiert – vielleicht, weil Unlust darüber sich ausbreitete, »bekannte Fakten« mit »neuen Lesarten« zu versehen, und dies auf Kosten dringlicher Quellenarbeit. 54 Sodann war der Auflistung unzureichend im Blick, dass den verschiedenen Teilgegenständen unterschiedliches Gewicht zukam, mehr noch, dass die Geflechte ihrer Beziehungen sich höchst ambivalent bestimmen ließen, je nachdem, welcher Ausgangspunkt gewählt wird: Aus der Sicht der jeweiligen Institutionen anders als aus der Sicht der jeweiligen Produzenten. Solchen Ambivalenzen zufolge war jegliche lineare Auflistung verfehlt, hingegen permanenter Wechsel der Perspektive unerlässlich. Schließlich boten sich der Analyse der einzelnen Teil-Gegenstände erhebliche Lücken, faktologisch und theoretisch: Was wussten wir über physiologische und psychologische Bedingungen des Musizierens, erst recht des Komponierens, was über die wirklichen Regulative musikproduzierender und musikverbreitender Institutionen – und über deren politische, ökonomische, soziale Kontexte –, was über die Auswirkung solcher Faktoren für die Produktion und Rezeption der Musik? Und wie ließ sich das Gewusste und Nichtgewusste theoretisch fassen? 2. Solche und ähnliche Fragen nun prägten den Bestimmungen von ›Musik‹ 55 sich auf: Über ihr tatsächliches oder vorgebliches ›So und nicht Anders‹ zu handeln, be49

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Das bezieht sich auf die Begriffe Produktion, Distribution, Konsumtion, Vergegenständlichung. Vgl. Bimberg u. a. (Hg.): Handbuch der Musikästhetik (wie Anm. 35), S. 73–108. Dies im Rekurs auf Marx’ Bestimmungen der Produktionsverhältnisse; in früheren Schriften hatte er von »Verkehrsformen« gesprochen. Vgl. Gerd Rienäcker: Zur Frage der Musikverhältnisse, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 26 (1984), S. 52–55. Peter Wicke hatte, in seiner Dissertation A über Popmusik, zwischen ›Musik‹ und ›Musikkultur‹ unterschieden, in den Musikbegriff jedoch die Prozeduren ihrer Produktion, Distribution und Rezeption einbezogen. Darauf wies das meinen Thesen vorangestellte redaktionelle Vorwort hin: Beiträge zur Musikwissenschaft 31 (1989), S. 158. Vgl. Rienäcker: Haben wir eine marxistische Musiktheorie? (wie Anm. 2), S. 162–164. Freilich ist es problematisch, den Begriff ›Musik‹ im Singular zu lassen. Mit einigem Recht schlug Christian Kaden den Plural vor: Von ›Musiken‹ sei zu sprechen, um tatsächliche Vielfalt terminologisch kenntlich zu machen.

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durfte mehrfacher Herleitung. Zum einen sollte Musik von höchst konkreten Tätigkeiten her bestimmt werden, denen sie sich verdankt: Vom Musizieren als Handlung, gebunden an Individuen und Gemeinschaften. Waren Parameter solcher Handlung zu definieren, so war dies unmöglich ohne die Frage nach der Befindlichkeit musizierender Individuen und Gruppen, nach deren sozialen und mentalen Dimensionen. Ließ das Musizieren sich nicht anders denn als soziale, sozial bedeutsame Aktion bestimmen, so erübrigte sich jedwede Gegenübersetzung von Musik und Gesellschaft; 56 eher war von »Musizieren als gesellschaftlichem Handeln«, bedingt auch von »Musik als Gesellschaft« zu reden. Solche Überlegungen konnten wesentlich auf Analysen von Kommunikationsmodalitäten und -prozessen aufbauen, die Christian Kaden sowohl in seiner Dissertation A als auch in seiner Musiksoziologie vorgestellt hatte. Sollten, zum anderen, diese Tätigkeiten ins Verhältnis gesetzt werden zu bestimmten Feldern der Realität, so reichte es nicht aus, sie auf eine wie auch immer geartete ›ästhetische Wirklichkeit‹ zurückzuführen: Jene nämlich war selbst das Resultat mehrerer Transformationen, und welche Rolle sogenannt ›vorästhetische‹ Signalgebungen dabei spielten, hatte Doris Stockmann in den späten 70er Jahren herausgearbeitet.57 Ihre Bestimmungen affiner und diffuger Laute schienen auch mir geeignet als Türen für jene Aisthesis, ohne die Ästhetisches sich nicht fassen lässt. Aber selbst die Rückführung auf Felder »akustischer Realität« erwies sich als strittig, weil die verschiedenen Sinnesorgane miteinander kooperieren, weil Akustisches sich vom Optischen nicht ohne weiteres separieren lässt. Erst recht war das Musizieren nicht anders denn im Zusammenwirken von Hören und Sehen zu fassen. Vorzustellen waren mehrere, ineinander verschränkte Transformationsketten, um aus ganz unterschiedlichen Realitätsfeldern jene der ästhetischen Wirklichkeit, aus ihnen wiederum ganz unterschiedliche Gegenstände ästhetischer Aneignung, aus ihnen schließlich besondere Gegenstände und Verhaltensweisen zu destillieren, die als künstlerisch bezeichnet werden könnten; Transformationsketten wiederum, in denen bestimmte Aktionen, die als Musizieren bezeichnet werden können, schrittweise von anderen sich abheben, um diese wiederum zu beeinflussen, so wie sie von ihnen beeinflusst, geprägt waren. Von hier aus erst konnten bestimmte Tätigkeiten, Entscheidungen, Handlungen in Augenschein genommen werden, die im Begriff des ›Komponierens‹ mehr oder minder überein kamen – ganz nebenher hatte Marx sie als herausgehobene Spezies befreiter, weil unentfremdeter Arbeit, als Modell der »travail attractif« bezeichnet, mit dem Zusatz allerdings, es handle sich um »verdammteste Arbeit, verdammtesten Ernst«.58 Nach Besonderheiten solcher Aktionen zu fragen, setzte voraus, dass sie ins Verhältnis gesetzt wurden zu anderen Tätigkeiten, diesseits und vor allem jenseits 56

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So der Name der Zeitschrift, die der Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler von 1951 bis 1990 herausgab. Vgl. Doris Stockmann: Die ästhetisch-kommunikativen Funktionen der Musik unter historischen, genetischen und Entwicklungs-Aspekten, in: Goldschmidt/Knepler (Hg.): Musikästhetik in der Diskussion (wie Anm. 43), S. 90–125. Vgl. Karl Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857/58, Berlin (Ost) 1953, S. 505.

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des Musizierens; dass Beziehungsgeflechte transparent gemacht (oder erst konstruiert!) wurden, deren Bestandteile wechselseitig aufeinander einwirken. Komponieren, so schien mir festzuhalten wichtig, sei nicht nur durch sogenannt umliegende Situationen, Entscheidungen, Handlungen beeinflusst, sondern es präge zunehmend allen Lebenstätigkeiten des Komponierenden sich auf. Von hier aus wiederum konnten ganz unterschiedliche Resultate des Musizierens – im Spezialfall: des Komponierens – in Augenschein genommen werden. Diesseits und jenseits von ›Musik‹, was immer mit diesem Begriff sich verbindet, diesseits und jenseits mündlicher und schriftlicher Festlegungen, diesseits und jenseits von Kompositionen, Werken. Sie wiederum waren ins Verhältnis zu setzen zu jenen Tätigkeiten, denen sie sich verdankten. 3. Solche Transformationsketten mitsamt ihren Resultaten freilich bedurften der Historisierung: Nicht länger konnte das Musizieren, das Komponieren, konnten deren Resultate – bis hin zu komponierten Werken – im Stadium der Abstraktion belassen werden; es galt, sie zurückzuführen auf sehr unterschiedliche soziale, politische, ökonomische, kulturelle Verhältnisse, vor allem auf vorkapitalistische und kapitalistische Produktionsverhältnisse. Dass sie dem künstlerischen Tun nicht äußerlich blieben, musste nicht eigens hervorgehoben werden. Komplikationen jedoch bereitete der Aufweis tatsächlicher Zusammenhänge. Um es im Felde sogenannt bürgerlichen Musizierens, Komponierens aufzuschlüsseln: Inwieweit war es durch Modalitäten der Warenproduktion geprägt,59 inwieweit ließ Kunst überhaupt sich als Ware begreifen und mit welchen Konsequenzen für ihr ›So und nicht Anders‹? Welche Rolle spielten jene Prozeduren, die Marx in seinen frühen Schriften als »entfremdete Arbeit« bezeichnet,60 welche Rolle jene Verdinglichung der Produktion und Produkte, zunehmend auch der Produzenten, auf die Marx vielfach zu sprechen kam, diesseits und jenseits des Warenfetischismus?61 Auf solche Fragestellungen ließ ich in meinen Thesen mich kaum ein. Umso mehr jedoch in Seminaren und Gesprächen eingangs der 80er Jahre, vor allem im einleitenden Kapitel meines Buches Richard Wagner. Nachdenken über sein Gewebe62, das mit dem Bayreuther Festspielhaus im Pendel zwischen Idealität, Illusion und höchst prosaischer Realität sich befasste: Mitnichten, so notierte ich, ließ Wagners Taumel zwischen Einsichten und Irrtümern, ließen seine Utopien und Illusionen, ließen jene desaströsen Begebenheiten während der Uraufführung der Tetralogie Der Ring des Nibelungen und des Bühnenweihfestspiels Parsifal ohne die von Marx beschriebenen Wundmale entfremdeter Arbeit, ja, zunehmend universeller Entfremdung begreifen; mitnichten durfte die Geschichte des Festspielhauses bis in ihre dunkelsten Kapitel hinein von eben diesen Wundmalen abgekop59

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Ich erinnere mich heftigster Kontroversen, an denen auch jüngere Ästhetiker teilnahmen. Marx ließ durchaus offen, inwieweit auf dem Terrain künstlerischer Produktion von Warenproduktion gesprochen werden kann. Vgl. Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte vom Jahre 1844, Leipzig 1988 sowie Achim Trebeß: Entfremdung und Ästhetik (wie Anm. 32), S. 79–122. Vgl. Karl Marx: Das Kapital, Bd. I, Berlin (Ost) 1980, S. 85–108. Gerd Rienäcker: Richard Wagner. Nachdenken über sein Gewebe, 1987 als Typoskript, veröffentlicht Berlin 2001.

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pelt werden. Was für die Institution galt, musste für die Werke selbst, für die ihnen zugrunde liegenden dramaturgischen, kompositorischen Prinzipe eine Rolle spielen. Mehr als Andeutungen vermochte ich hierzu nicht zu machen, zumal jene ›Überväter‹ (Brecht, Eisler, Adorno), auf deren Analysen kapitalistischer Warenproduktion im Gefilde der Musik, auf deren Exegesen bürgerlicher »Entfremdungs-, Verdinglichungs-, Verblendungszusammenhänge« (Horkheimer/Adorno) ich mich berief, teils vage, teils missverständliche Auskünfte gaben: An der Oberfläche blieb, was Bertolt Brecht und Hanns Eisler über Wagner zu sagen hatten, so sehr sich beider Aversion begründen ließ. Und so grandios Theodor W. Adorno in seinem Versuch über Wagner (1952 erschienen) die verschiedenen Parameter bürgerlichen Verhaltens, bürgerlicher Kunstauffassungen, bürgerlichen Komponierens zusammendachte, so sehr verschränkten sich in seiner Visitation dramaturgischer und kompositorischer Prinzipe Einsichten mit ihrem Gegenteil. Entschieden war ihnen zu widersprechen, wenn es um Wagners Grundthemenarbeit, um Prinzipe seiner Instrumentation, um das Miteinander verschiedener Medien ging: um den Verzicht auf illustrative Verdopplungen zwischen Musik und Szene, um die Überlagerung der »feinsten Kunst des Übergangs« (Wagner) mit ihrem Gegenteil, um die Kunst unversöhnter Kontraste, um jene Stringenz thematischer Verwandlung, die allen Leitmotiv-Katalogen zuwider lief. Solche Einsichten, gewonnen aus jahrzehntelangem Partiturstudium, bargen die Gefahr in sich, den Blick erneut zu verengen aufs Komponierte, auf dessen Besonderung. Zwangsläufig führte dies zu Kollisionen mit einem Gutteil meiner Schüler, namentlich mit jenen, die sich seit längerem mit Fragen der Pop- und Rockmusik befasst hatten, mit dem Projekt ›Erforschung der kulturellen Massenprozesse‹ meiner Sektion ohnehin. Solcher Verengung, solchen Kollisionen – sie konnten bedenkliche politische Konsequenzen haben –, musste begegnet werden: Es ging um die Visitation aller Musiziersphären, aller je erdenklichen Ausprägungen. Solchermaßen den Blick zu weiten, führte allerdings zu komplikativer Abstraktion. Was ich hierzu, in meinen Thesen, auch in früheren Verlautbarungen über Musik-Verhältnisse, zu formulieren suchte, blieb historisch und analytisch ungedeckt. Jedoch, was ich im musikästhetischen Schrifttum, namentlich im marxistischen, hierzu vorgefunden hatte, konnte nicht befriedigen. Allerdings hatten Lothar Kühne, Karin Hirdina, Günter Mayer interessante Überlegungen vorgestellt – Kühne am konsequentesten, weil er zunächst auf jegliche Spezifizierung ästhetischen Verhaltens verzichtete, stattdessen ›Gegenstand‹ und ›Raum‹ aus der Gesamtheit gesellschaftlichen, also auch individuellen Verhaltens herleitete, dabei von der Arbeit als Stoffwechsel des Menschen mit der Natur ausging; ihm schloss Karin Hirdina in ihren (leider bislang ungedruckten) Vorlesungen zur Systematischen Ästhetik der Jahre 1985 bis 1989 sich an. 4. Dass, um solche Problemfelder zu thematisieren, zu bearbeiten, das Zusammenwirken verschiedener Wissenschaftsdisziplinen unerlässlich war, konnte vorausgesetzt, musste nicht eigens hervorgehoben werden. Seit den 50er Jahren hatte Ge-

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org Knepler sich darum bemüht, und dies mit zunehmend geweitetem Radius: Einbezogen wurden Fragestellungen, methodologische Instrumentarien und Forschungsresultate sowohl der Ethnologie, Archäologie, der Geschichts- und Kulturwissenschaften als auch der Mathematik, Kybernetik, Biologie, namentlich Bioakustik, Psychologie. Solch interdisziplinäres Arbeiten war denn auch für einige seiner Schüler verbindlich, und dies in ganz unterschiedlichen Ausprägungen: Für den ausgebildeten Tonmeister Reiner Kluge, der nach seinem Erststudium ein Studium der Mathematik absolvierte, über mehrere Jahre am Rechenzentrum der Humboldt-Universität arbeitete, hernach jahrzehntelang die Abteilung Systematische Musikwissenschaft am Bereich Musikwissenschaft leitete; für Christian Kaden, der Musikwissenschaft und Ethnologie studierte, sich beizeiten mit Fragestellungen und Methoden der strukturellen Linguistik, seit den frühen 80er Jahren mit Fragestellungen und Instrumentarien der Mediävistik befasste, Ausschau hielt nach Erkenntnissen der Physiologie und Psychologie. Ihnen und anderen Schülern von Georg Knepler musste interdisziplinäres Arbeiten nicht nahegelegt werden. Anders freilich war es um das Zusammenwirken verschiedener Wissenschaftsdisziplinen innerhalb der Sektion Ästhetik und Kunstwissenschaft der Humboldt-Universität – unserer Heimstätte – bestellt, und dies, obwohl darin Ästhetiker, Kultur- und Kunstwissenschaftler, Archäologen und Musikwissenschaftler organisatorisch zusammenwirkten: Kaum zureichend nahmen die einzelnen Wissenschaften voneinander Kenntnis, von wirklichem Zusammenspiel ihrer Fragestellungen, Instrumentarien konnte nur in Ausnahmefällen die Rede sein, auch wenn Forschungsprogramme, erst recht die jährlichen Sektionstagungen dem Separatismus der vereinigten Wissenschaftsdisziplinen zu opponieren suchten. Zusammenarbeit zwischen den Vertretern der vereinten Wissenschaftsdisziplinen – sie fand eher außerhalb als innerhalb der Sektion statt. Mir bereitete die Begegnung mit Repräsentanten der Ästhetik und Kulturtheorie, neben vielfältigen Impulsen, etliche Enttäuschungen, ja, Frustrationen. Faszinierende Begegnungen gab es mit dem Philosophiehistoriker Wolfgang Heise: Was er an wirklicher Zusammenschau philosophischer und ästhetischer Fragestellungen uns, namentlich den Jüngeren, mitzuteilen hatte, beschäftigt mich immer noch – zumal in seinem Denken sich der Blick aufs Einzelne und aufs Ganze derart verschränkte, wie es sonst kaum oder selten der Fall war. Heise war kein Kunstwissenschaftler, und doch kam er ihren Gegenständen genauer auf die Spur als mancher vom Fach; dies bezog sich noch auf subtilste musikalische Gewebe. Kurz vor seinem Tode 63 trug er seine Konzeption zu einer kulturgeschichtlichen Vorlesungsreihe vor: Über zehn Semester ausgebreitet, sollte sie möglichst alle entscheidenden Präsentationen der verschiedenen Künste mit denen der Wissenschaften, der Politik, der Lebensweise zusammendenken. Unvergessen seine Frage danach, warum denn Künstler in der Wende zum 20. Jahrhundert den Weg ins Einsame auf sich genommen hätten – fernab beflissener Verurteilung sogenannt elitären Verhaltens. Die Lücke, die sein Tod riss, ist eigentlich nicht aufgefüllt worden. 63

Während einer Tagung der Sektion Ästhetik und Kunstwissenschaft, Februar 1985.

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Impulse vermittelten mir die Arbeiten mehrerer Kulturtheoretiker, namentlich von Dietrich Mühlberg64 und Irene Dölling, und dies ungeachtet bitterer, für mich oft deprimierender Wortgefechte: Galt es doch, den Begriff Kultur aus geistigen Höhen herab zu holen in die Niederungen tatsächlichen Lebens, vor allem ins Terrain der unteren Schichten – von Industriearbeitern war damals die Rede; heute müsste das sogenannte Prekariat einbezogen werden. Nach wie vor faszinieren mich die Untersuchungen zur Kneipe und zur Gartenlaube im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert – Mühlberg hatte, dies zu ›er-forschen‹, seine Arbeitsgruppe in Bewegung gesetzt. Nachdenkenswert waren persönlichkeitstheoretische Bestimmungen von Irene Dölling, gerade weil sie heftige politische Kontroversen hervorriefen. Impulse gingen von den Entwürfen zu einer Systematischen Ästhetik aus, für die Günter Mayer, Michael Franz, Karin Hirdina einstanden 65 – diesseits und jenseits der Anregungen, die sie von Lothar Kühne erhielten. Und gewiss war das Voranstürmen jüngerer Wissenschaftler vonnöten – etwa von Eckehard Binas, der jeglicher Abgrenzung bisheriger Wissenschaftsdisziplinen zornig den Kampf ansagte. Enttäuschungen hingegen bereitete zweierlei. Zum einen die Einsicht, weit unter dem Niveau philosophischer, kulturtheoretisch-ästhetischer Debatten zu sein, ja, das Eigentliche der Probleme überhaupt nicht zu begreifen – ich brauchte Jahrzehnte, damit fertig zu werden –, zum anderen, namentlich bei den Jüngeren, die seltsame Unwegsamkeit theoretischer Artikulation, die Lust daran, von den Niederungen der sogenannten Einzelwissenschaft sich abzuheben, gepaart mit der Unlust, darauf sich überhaupt einzulassen.66 Schwer auszumachen, inwieweit darin wirkliche Einsicht mit arroganter Ignoranz sich mischte – schließlich waren musikalische Detailanalysen nicht a priori zurückzuweisen als Emanationen hoffnungsloser Verengung, Vereinzelung, Emanationen gar bürgerlicher Verdinglichung. Hier hätte ich mir Differenzierungen gewünscht; nur zögerlich kamen sie zustande, meist nach der Wende. Überflüssig zu sagen, dass in den Enttäuschungen die Impulse nicht verschwanden – sie wirken nach, und wenn von marxistischer Theorie positiv die Rede ist, so spielen sie, spielt die Begegnung u. a. mit Dietrich Mühlberg, Irene Dölling, Helmut Pietsch, mit Günter Mayer, Michael Franz, Karin Hirdina, mit Eckehard Binas und Annette Musiolek eine gewichtige Rolle – mit Wolfgang Heise ohnehin! Lothar Kühnes Selbstmord schließlich zwang mich, seinen Analysen genauer nachzugehen, auch wenn dabei einige Kapitel meines Wagner-Buches neu zu schreiben waren. 64

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Vgl. hierzu seine Dissertation Der Kulturbegriff bei Marx und Engels, Berlin 1975, unveröffentlichtes Typoskript. Vgl. hierzu Pracht (Hg.): Ästhetik heute (wie Anm. 36), zweiter Teil: »Grundbestimmungen ästhetischer Wertung«. Diese Unlust hatte freilich an allzu dogmatischen Positionen einiger marxistischer Musikwis senschaftler sich entzündet, namentlich an den Positionen von Heinz Alfred Brockhaus und Jürgen Elsner in den 60er, 70er Jahren. Als Günter Mayer im Jahre 1968 auf einer Tagung des Zentralkomitees der SED angegriffen wurde, fiel ihm Heinz Alfred Brockhaus in den Rücken – vor allem in seinem Hauptreferat der II. Theoretischen Konferenz des Verbandes der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR im Dezember 1969.

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IV. In summa: Was hatte ich mir erhofft, als ich meine Thesen in der Redaktion der Beiträge zur Musikwissenschaft abgab, mehr noch, als ich kleinere Retuschen in Kauf nahm, damit sie gedruckt würden? Zum einen, dass sie nicht die einzigen Bekundungen zu diesem Thema blieben – ich wünschte mir, dass genügend Andere sich meldeten, dass es zu einem Rundtischgespräch käme. Zum anderen, dass Musikwissenschaft, so wie ich sie verstand, nicht länger sich unterhalb des Niveaus philosophischer Reflexion bewege, dass die Anstrengung des Begriffs ihrer eigenen Substanz zugute käme – die musikphilosophischen Texte von Theodor W. Adorno zeigten, dass dies möglich war, nicht anders etliche musikologische Arbeiten von Günter Mayer oder die Studie zur Ontologie der Musik von Georg Knepler. Zum dritten, dass nach dem wirklichen gesellschaftlichen Wesen des Musizierens, der Musik gefragt wurde – auch meine Überlegungen befanden sich vor der Schwelle des Eigentlichen, dies wusste ich, eben deshalb erhoffte ich mir Dialoge. Immerhin glaubte ich, durch meine Herleitungen genauer bestimmen zu können, was Musikkultur sei, wie möglicherweise Musikkulturen von Musikverhältnissen abgegrenzt werden könnten und worin das ›So und nicht Anders‹ von Musik bestünde – systematisch und historisch. Überdies glaubte ich, jenem unsäglichen Gegeneinander von sogenanntem ›E‹ und ›U‹ dadurch das Wasser abzugraben, dass ich jeder Stufe der Transformationsketten, also auch jeder Spezies des Musizierens und der Musik gleiches Recht zusprach, das ich hochgradig differenzierte Gebilde europäischer Kompositionen – auch der Moderne – nicht im Drahtverhau bloß quantitativer Wert-Bestimmungen verenden ließ. Zum vierten, dass interdisziplinäre Arbeit, realisiert in wirklichem Teamwork, sich ein für allemal als unerlässlich erweise. Zum fünften und eigentlichen, dass Musiktheorie, nimmt sie das Attribut ›marxistisch‹ ernst, nicht oder nicht primär der tagespolitischen Äußerungen von Karl Marx sich vergewissert, schon gar nicht die wenigen, überaus kargen Äußerungen über Kunst und Literatur zur Hand nimmt, sondern die philosophischen, vor allem ökonomischen Analysen und ihre Methodik durchdenkt: Etwa seine schrittweise Dechiffrierung der Ware, seine kategorialen Bestimmungen ihres Gebrauchs- und Tauschwertes. Etwa, und für Kunstprozesse nicht unwichtig, alles, was über Arbeit, Arbeitsgegenstand, Arbeitsmittel, über das Erlöschen der Arbeit in ihrem Resultat, über Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse zu lesen ist. Dass, wie Marx nebenher anmerkt, Kunst eine »besondre« Weise »der Produktion« sei, die unter deren »allgemeines Gesetz« falle,67 bringt jene Basis-Überbau-Dialektik, auf die auch 67

Karl Marx: Schriften und Briefe: November 1837 bis August 1844 (= Marx-Engels-Werke 40), Berlin (Ost) 1985, S. 537.

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marxistische Musikwissenschaftler sich beriefen, zu Fall: 68 Mitnichten lässt materielle Produktion sich als Teil der Basis, geistige, also auch künstlerische sich als Teil des Überbaus begreifen. Wichtiger noch als solche Einsichten waren mir jene methodologischen Prinzipe, denen sie gehorchten: Prinzipe radikaler Dialektik, wie sie einst Bertolt Brecht in seinem Gedicht Lob der Dialektik aus seinem Theaterstück Die Mutter formuliert hatte: »Das Sichere ist nicht sicher […] Und aus Niemals wird: Heute noch.« Musiktheorie, die auf solche Maximen des Denkens und Handeln sich einließ, sollte denn auch fähig sein zu kritischem Eingreifen: Längst waren auch mir Defekte, Gebrechen, Komplikationen aufgegangen, weit über kulturelle, erst recht musikkulturelle Belange hinaus. Ihnen auf den Grund zu gehen, konnte, so glaubte ich, im Großen und Ganzen auf Postulate der letzten Parteitage sich berufen. Hatte doch Kurt Hager die Gesellschafts-, also auch die Kultur- und Kunstwissenschaften aufgefordert, Gesetzmäßigkeiten der entwickelten sozialistischen Gesellschaft zu erforschen – Gesetzmäßigkeiten, also auch Widersprüche ihrer Entwicklung, also auch das Miteinander von Errungenschaften, Defekten, Gebrechen! Wie aber durfte dies angehen, wenn eben diese Wissenschaften sich entweder in Nischen sogenannt freien Geisteslebens begaben oder ihr Genüge darin sahen, Beschlüsse, Maßnahmen des Zentralkomitees der SED zu ornamentieren – oder nachträglich zu begründen? Als ich Ende September 1989, innerhalb eines vom Dresdner Zentrum für Neue Musik veranstalteten Kolloquiums, an den gesellschaftlichen Auftrag auch meiner Fachdisziplin erinnerte, stand mir jene kritische Solidarität gegenüber dem Sozialismus vor Augen, die Christoph Hein ein Jahr zuvor für sich in Anspruch nahm 69 – also die Notwendigkeit kritischer Eingriffe, um den Status quo zu verändern, und zwar jenseits kosmetischer Operationen, die allenthalben versprochen, teilweise durchgeführt, vor allem als tiefgreifende Veränderungen ausgegeben wurden. Schon einmal hatte ich es versucht:70 Im August 1988. Ich nahm Stellung zu einem Positionspapier, das der Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler im Winter 1987/88 als Beilage der Zeitschrift Musik und Gesellschaft veröffentlichte und im Frühjahr 1988 diskutieren ließ – es versprach, Probleme und Perspektiven 68

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Hierzu Georg Knepler während einer Zusammenkunft von Musikwissenschaftlern im Dezember 1981: Er habe die Begriffe »Basis und Überbau« in Marx’ Schriften »ganze drei Mal« entdeckt; man könne sie also nicht verallgemeinern. U. a. in seinem Diskussionsbeitrag auf dem Schriftsteller-Kongress 1987, fast zeitgleich in seiner Rezension des Buches Kritik der zynischen Vernunft (1983) von Peter Sloterdijk. Zuvor leider nur verdeckt! Natürlich wusste ich, dass ich im Nachdenken über die Institution Bayreuth Regulative nicht nur sogenannt bürgerlicher Institutionen im Blick hatte. Natürlich blickte ich, über Strukturen des Opernfinales nachdenkend (vgl. Gerd Rienäcker: Finali in Opern von E. T. A. Hoffmann, Louis Spohr, Heinrich Marschner und Carl Maria v. Weber, Dissertation, Berlin 1984, unveröffentlichtes Typoskript), über den Gegenstand hinaus: Es ging mir um Merkmale entfremdeter Öffentlichkeit, gepaart mit den Visionen befreiter, unentfremdeter Gesellschaften. Und wenn ich im Jahre 1985 über den Choraleinbau in Bachs Passionen schrieb, so forderte ich verdeckt zum Austrag gesellschaftlicher Widersprüche auf. Derlei Implikationen – mitnichten waren sie a posteriori eingefügt! – blieben meist unentdeckt. Glücklicherweise?

»Haben wir eine marxistische Musiktheorie?«

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sozialistischer Musikkultur zu erörtern. Meine Replik begann mit weitaus grundsätzlicheren Fragen: Würden sie hier, heute nicht gestellt, so wäre der Sozialismus gefährdet. Die Wochenzeitschrift Sonntag des Kulturbundes der DDR hatte meine Erklärung im September 1988 abgedruckt. Daraufhin wurden zwei Parteiverfahren gegen mich beantragt. Dass sie nicht zum Austrag kamen, verdanke ich Dieter Klein, dem damaligen Prorektor für Gesellschaftswissenschaften an meiner Universität, einem mutigen Wirtschaftswissenschaftler, der seit längerem für Reformen plädierte, mehrfach an die Grenzen des Möglichen ging. Zu meiner Verwunderung wurde ich hinfort gebeten, meine Erklärung öffentlich vorzutragen Dies bestärkte mich in meiner Illusion, es bewege sich etwas in der Gesellschaft, auch in den oberen Gremien der SED. Dieser Illusion gehorchte, dass ich mich aufs Neue, mehrere Male zu Worte meldete, um Grundsätzlicheres zu artikulieren, über die musikkulturellen und musikwissenschaftlichen Belange hinaus. Es war zu spät – auch für die von Georg Knepler erbetene Diskussionsrunde zur Frage »Haben wir eine marxistische Musiktheorie?« , also auch für meine Thesen. Wie bereits erwähnt, sagten fast alle Teilnehmer ab, weil die zugespitzte Krise, in der die Deutsche Demokratische Republik sich befand, ihnen anders zu denken, zu tun aufgab. Also blieb ich allein, und meinen Thesen kam ebenso unerwartete wie unerwünschte Singularität zu. Folgerichtig gab es nur wenige, meist negative Repliken. Einige der Älteren fühlten sich angegriffen, beleidigt, weil ich ihre Verdienste beiseite gelassen, gar ihre Positionen infrage gestellt hatte. Einer von ihnen, der Musikpsychologe, Musikästhetiker, Musikdidaktiker, Chorleiter und Komponist Siegfried Bimberg, warf mir vor, ich vertrete nicht nur altbackene, sondern dogmatische Positionen. Jahre später, 1996, äußerte er, dass in diesen Zeiten von Marx, gar von marxistischer Musiktheorie zu reden wirklich obsolet sei71 – hatte er vergessen, dass ein Jahrzehnt früher auch er über ›marxistische‹ Positionen sich lautstark äußerte? Empörung rief der allzu forsche Ton meiner Thesen, rief erst recht die, zugestanden missverstehbare Entgegensetzung von marxistischer und ›bürgerlicher‹ Musikwissenschaft72 hervor: Ihr stand die Unterstellung zur Seite, ich hätte unter den Tisch gekehrt, was bedeutenden Musikwissenschaftlern in der Bundesrepublik und anderswo zu verdanken sei, mithin so getan, als ob es Hans Heinrich Eggebrecht, Carl Dahlhaus, Ludwig Finscher nicht gäbe – Musikwissenschaftler, die seit Jahrzehnten für mich wichtig waren73 und sind. Selbstüberhebung, Anmaßung, Arroganz, Flegelei, gepaart mit unzureichendem Wissen – so einige der Zurechtweisungen zwischen Tür und Angel. 71 72

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Vgl. Siegfried Bimberg: Nachhall 1 und 2. Musikerziehung zwischen Marx und Lenin, Essen 1996. Dabei gehorchte ich der Vorrede des Redaktionsbeirates. Dass den Rubriken ›nichtmarxistisch‹, gar ›bürgerlich‹ immer noch abwertende, diffamierende Konnotationen anhafteten, hatten weder Georg Knepler noch ich bedacht; im Blick u. a. auf Manfred Vetter (er hatte Carl Dahlhaus als subjektiven Idealisten gebrandmarkt, ihn solcherart ins Obsolete verwiesen) hät ten wir es anders wissen können. Als Carl Dahlhaus im Herbst 1988 starb, widmete auch ich ihm einen Nachruf, den ich an die Wandzeitung meines Institutes heftete. Explizit als ›Gedenkvorlesung für Carl Dahlhaus‹ be zeichnete ich mein Kolleg über Richard Wagner bis zum Ende des Wintersemesters.

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Übersahen die Empörten, dass nicht Eitelkeit, nicht Besserwissen, sondern blanke Verzweiflung meine Thesen diktierte? Verzweiflung über die Situation jenes Landes, in dem ich lebte, wirkte, für das ich mich konflikthaft einsetzte; Verzweiflung über theoretische Standards jenes Faches, dem ich mit Leib und Seele verbunden war, Verzweiflung erst recht über eigenes Scheitern, und dies trotz meiner Graduierungsarbeiten, trotz meines gerade eingereichten Buchmanuskripts, trotz unzähliger Lehrveranstaltungen. Verzweiflung darüber, dass auch ich allzu lange von Marx, vom Marxismus sprach, ohne zu begreifen, was damit gemeint sei. V. War doch mein Weg zu Marx nicht nur lang, sondern gewunden: Protestantisch erzogen,74 kindlich fromm über die Einsegnung hinaus, bekannte ich mich zur Vision einer solidarischen Gesellschaft.75 Erste Risse bekam mein Christentum durch Gottesdienst und Konfirmandenunterricht: Pastor Rüß hatte seine Erlebnisse als Soldat im zweiten Weltkrieg in Schreckbilder des jüngsten Gerichts verwandelt: Kriege seien der Vorbote – unvermeidlich, um Gottlosigkeit ein für allemal auszumerzen. Dramatisch hielt uns der Pastor die Qualen des Infernos vor Augen; uns würden sie ereilen, wenn wir vergessen hätten zu beten. Solch drohende Zukunftsbilder verabschiedete ich schrittweise. Umso emphatischer wandte ich mich den Gedichten und Dramen von Bertolt Brecht zu: In ihnen sah ich Visionen einer anderen, besseren Welt entfaltet, Denkweisen überdies, die, so Brecht, auf Marx, Engels, Lenin gründeten. Auf den ersten Blick entsprachen ihnen jene philosophischen Konstrukte, die mir kurz vor dem Abitur, hernach in Seminaren von Ernst Hermann Meyer offeriert wurden: Für sie stand der Begriff ›Marxismus-Leninismus‹ ein, allerdings in Stalins Lesart76 und von Auffassungen kommunistischer Revolution gezeichnet, die sich als 74

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Allerdings im Widerstreit verschiedener Lesarten protestantischen Glaubens: Mein Vater wurde von Reformtheologen in Bremen erzogen. Uns jedoch trug Pfarrer Zühlke im Jahre 1955 auf, ihren ›Irrlehren‹ nicht zu folgen. Meine Eltern hatten sich zu jüdischen Freunden, zu Sozialdemokraten und Kommunisten bekannt, als es gefährlich war. Als Rektor der Universität Rostock wollte der Chemiker Günther Rienäcker sich im Jahre 1946 für ein besseres Deutschland einsetzen – für ein Deutschland im Namen von Bach, Händel, Goethe, Schiller. Sein Bekenntnis zum Sozialismus, seine Mitgliedschaft in der SPD, hernach SED, schloss unentwegte Kritik an borniertem Denken, an Dog matismus und Inhumanität ein. Als Naturwissenschaftler begegnete er philosophischen Denkgebäuden mit Skepsis. Noch im September 1958 teilte an der Carl v. Ossietzky-Oberschule Berlin-Pankow der Direktor, zugleich Lehrer für Staatsbürgerkunde, Hefte aus, die Stalins Einführung in den Marxismus enthielten. Ernst Hermann Meyer berief sich in seinen Lehrveranstaltungen auf Broschüren, die Otto Gropp in Leipzig verfasst hatte. Dass Gropp nicht nur gegen Einsteins Relativitätstheorie, sondern gegen den marxistischen Philosophen Ernst Bloch zu Felde zog – noch vor dessen Hinauswurf aus der Leipziger Universität –, erfuhr ich erst in den mittleren 60er Jahren.

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verheerend erwiesen, was mir erst 1961, ein Jahrfünft nach dem XX. Parteitag der KPdSU (1956), aufgehen sollte. Wenige Lehrer jedoch, die mir während des Studiums und in Doktorandenzirkeln begegneten, setzten Fragezeichen, die zu mehr oder minder gravierenden Korrekturen aufforderten.77 Dessen ungeachtet und wiederholt suchte ich nach dem Strohhalm vermeintlich abgesicherter, als marxistisch ausgewiesener Sekundärliteratur, diesseits und jenseits von Lehrbüchern und ergänzt durch Text-Auszüge von Marx, Engels, Lenin. Erst im Frühjahr 1978 las ich Das Kapital, d. h. wenigstens 800 bis 900 Seiten davon, und es fiel mir wie Schuppen von den Augen, wie sehr noch die triftigsten LehrbuchDefinitionen das Eigentliche verfehlt hatten. Verwirrt sagte ich meiner Frau, wir hätten Marx verfälscht, müssten von vorne anfangen. Jahrzehnte brauchte ich, um diese Einsicht fruchtbar zu machen. Immerhin galten mir seine Schriften als unendliche Kletterstange, die ich zu bewältigen hatte – immer noch, und dies ungeachtet dringlicher Historisierung, also auch Relativierung seiner Erkenntnisse und methodologischen Instrumentarien.78 Dass, wer heute auf Marx sich beruft, sich mit sehr unterschiedlichen Denk- und Wissenskonzepten auseinander zu setzen hat – auch mit denen der Theologie –, ist mir wohl bewusst. Was davon einzulösen sei, solange ich schreibe und lehre, muss offen bleiben.

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U. a. der Ökonom Kurt Heuer, der im Wintersemester 1959/60 ausgezeichnete Vorlesungen über die Politische Ökonomie des Kapitalismus hielt, Lothar Kühne im Frühjahrssemester 1960, Ruth Jansen ein Jahr später, schließlich Werner Röhr, dem im Studienjahr 1963/64 die marxistische Weiterbildung der Doktoranden an der Philosophischen Fakultät der HumboldtUniversität anvertraut war. Leider sind die Seminarteilnehmer seinem Vorschlag, Das Kapital zu analysieren, nicht nachgekommen. Sie verlangten lehrbuchhaft aufbereitetes Wissen. Darauf freilich ging Röhr kaum ein – er konfrontierte die Teilnehmer mit sehr komplexen Arbeiten u. a. von Adam Schaff und Wolfgang Heise. Bereits im Herbstsemester 1963 suchte Georg Knepler, inmitten eines Seminars zur marxistischen Musikwissenschaft, nach Wegen ins Offene, dabei berief er sich auf Georg Klaus und auf österreichische Marxisten, namentlich auf Ernst Fischer und Walter Hollitscher. Vgl. hierzu u. a. Olaf Gerlach/Stefan Kalmring/Andreas Nowak (Hg.): Mit Marx ins 21. Jahrhundert. Zur Aktualität der Kritik der politischen Ökonomie. Für Klaus Peter Kisker zum 70. Geburtstag , Hamburg 2003; Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, aus dem Französischen von Susanne Lüdemann, Frankfurt a. M. 1995.

Erfragte Geschichte. Praktisches zu einer Theorie der Oral History Matthias Tischer »[D]er Sinn der Geschichte ist in ihrer Form geronnen.« 1

Während ich an meinem Buch über Paul Dessau in der DDR arbeitete, 2 wurde mir klar, dass ich die Gelegenheit nicht verstreichen lassen durfte, mit den noch lebenden Zeitgenossen des Komponisten zu sprechen. Besonders interessierte mich der engste Kreis um Dessau, der sich informell und in unterschiedlicher Zusammensetzung im Hause Berghaus/Dessau in Zeuthen am See bei Berlin traf. Mit der Praxis der Zeitzeugengespräche, die ich von 2002 bis 2005 führte, ergaben sich eine Vielzahl theoretischer Überlegungen, welche im Folgenden in Gestalt einer theoretisch-praktischen Reflexion meiner Vorgehensweise im Besonderen und der Oral History im Allgemeinen am Beispiel der Musikgeschichte der DDR vorgestellt wird. Oral History Die andere Seite der nahezu zwanghaften Produktion von Akten in der DDR ist eine spezifische Kultur der Mündlichkeit. Den ungezählten laufenden Metern an Mit- und Abschriften, Gutachten, Berichten, Gesprächsnotizen, Abhörprotokollen u. v. a. m. steht eine nicht zu unterschätzende Praxis der privaten und halbprivaten Absprachen gegenüber. Als Modell kann hier die Rolle der mächtigsten Männer im Staate (Ulbricht/Honecker) gesehen werden. Wie absolutistische Herrscher konnten sie im Einzelfall ›Gnade vor Recht‹ ergehen lassen. Das Bewusstsein dessen in der Bevölkerung spiegelt sich in der Flut persönlicher Petitionen und Eingaben an die Generalsekretäre der SED während des gesamten Bestehens der DDR. 3 In ihren eigenmächtigen Entscheidungen hatten sie sich auf nationaler Ebene niemandem gegenüber zu verantworten; prekär konnte es erst werden, wenn sich der ›große Bruder‹ Sowjetunion in der Wahrung seiner Interessen beeinträchtigt sah (erinnert sei an das Ende der Karriere von Walter Ulbricht). Ab einer gewissen Stufe in der Hierarchie lässt sich zum Regelfall einer existenzsichernden Risikoscheu der Ausnahmefall der beherzten Entscheidung beobachten. 1

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Lutz Niethammer: Fragen – Antworten – Fragen. Methodische Erfahrungen und Erwägungen zur Oral History, in: Ders. (Hg.): Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930–1960, 3 Bde., Berlin (West) 1983–1985, Bd. 3, »Wir kriegen jetzt andere Zeiten«. Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern, Berlin 1985, S. 392–445, hier S. 416. Matthias Tischer: Komponieren für und wider den Staat. Paul Dessau in der DDR, Köln u. a. 2009 (= Klangzeiten – Musik, Politik und Gesellschaft 6). Jochen Staadt: Eingaben: die institutionalisierte Meckerkultur in der DDR. Goldbrokat, Kaffee-Mix, Büttenreden, Ausreiseanträge und andere Schwierigkeiten mit den Untertanen, Berlin 1996.

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Dabei bietet sich ein stetiges ›Für und Wider‹ als Deutungsmuster an. So dürfte die Möglichkeit einer strikten Scheidung von ›Ja- und Neinsagern‹ eher die Ausnahme sein. Die Bereitschaft zur Anpassung und der gelegentliche Drang zum Aufbegehren fallen nicht selten in einer Biographie zusammen. Schließlich waren es Individuen mit Träumen, Wünschen, Ängsten, Hoffnungen und Eitelkeiten, die alltäglich mit der zusehends versteinernden offiziellen Vision der ›sozialistischen Menschengemeinschaft‹4 konfrontiert wurden. Ihre Ausbrüche aus eingefahrenen Entscheidungswegen sind sicherlich im seltensten Fall als oppositionelle Handlungen zu interpretieren, vielmehr versuchten sie, den Mangel an Informationen, Partizipation, Freizügigkeit sowie Waren und Dienstleistungen aus ihrer jeweiligen Entscheidungsposition heraus zu lindern. Dabei handelt es sich um das Gegenstück zum vorauseilenden Gehorsam, welcher in der DDR dazu neigte, den Wald der Verordnungen, Empfehlungen und Verbote als noch undurchdringlicher zu interpretieren, als dieser es ohnehin war. Ein weiteres Argument gegen das lange schon in die Kritik geratene Paradigma des Totalitarismus dürfte sein, dass es in der DDR zu Entscheidungsprozessen kam, die im Extremfall keine Spuren in den Archiven hinterließen. Wir haben es demnach mit einer Art Zwischenwelt zwischen den stark vereinheitlichten gesellschaftlichen Strukturen und der relativen Ungestörtheit der Privatsphäre zu tun. Es scheint also Informationsstrukturen bzw. eine eigene Klasse von Informationen zu geben, deren Erschließung wesentlich der persönlichen Nachfrage bedarf. 5 Der Zeitzeuge (in der DDR-Forschung) Im Folgenden gilt es, immer unter dem besonderen Blickwinkel der Erforschung der Musikverhältnisse der DDR, die Frage der Quellenkritik des mündlichen Zeugnisses kursorisch zu rekapitulieren. Betrachtet man die nach 1989 entstandenen Beiträge zur Musikgeschichte der DDR, so fällt auf, dass sie alle explizit oder implizit auf die Erinnerungen von Beteiligten rekurrieren. Dieser Praxis stehen in der deutschsprachigen historischen Musikwissenschaft keine Ansätze zur Theoriebildung oder zumindest ein Theorietransfer aus anderen Forschungsgebieten zur Seite. So macht sich das verdienstvolle Erschließen von Erinnerungen schlimmstenfalls verdächtig, lediglich das zu erfragen, was der Erzählung des Fragenden dienstbar scheint. Dabei kann DDR-Forschung zur bloßen Folklore verkommen, wenn man in der Auseinandersetzung mit zum Teil äußerst ambivalenten Persönlichkeiten die nötige Distanz aufgibt. Der zuweilen zu 4

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Ulbrichts bald geflügeltes Wort von der ›sozialistischen Menschengemeinschaft‹ wurde 1969 in der Verfassung der DDR festgeschrieben. Für die Zeitgeschichte allgemein hält Niethammer fest: »Denn wenn man überhaupt Zeitge schichte von sonstiger Geschichte unterscheiden will, so wird sie dadurch charakterisiert, daß sie Geschehen und Strukturen untersucht, mit denen die Mitlebenden noch ein Herrschaftsund unmittelbarer Erfahrungszusammenhang verbindet.« Niethammer: Fragen – Antworten – Fragen (wie Anm. 1), S. 427.

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beobachtende Mangel an theoretischer Reflexion verwundert umso mehr, als das ›Erfragen‹ von Geschichte nicht nur zu einer regen Praxis (etwa der Alltagshistoriographie), sondern seit langem auch zu einem methodischen Rüstzeug in der englischsprachigen Forschung ausgebaut wurde.6 Die Zweifel, gerade im deutschsprachigen Raum,7 an der Verlässlichkeit der Erinnerungen,8 sind leichter zu durchschauen und damit zu zerstreuen, als mögliche Interessen hinter solchen Vorbehalten. Die Kritik an der Erinnerung des Zeitzeugen erscheint bei näherer Betrachtung von derjenigen anderer Quellentypen nicht prinzipiell unterschiedlich: »Denn unter den Verdacht der Fehlerinnerung, ideologiegeleiteter Interpretation, Schönfärberei bis zu bewußter Fälschung müssen auch Quellen gestellt werden, mit denen wir es im normalen Historikeralltag zu tun haben.« 9 Darüber hinaus gilt es im Blick zu behalten, dass die Quelle nicht ›die Geschichte‹ ist, sondern erst vermittelt durch Interpretation und die Entscheidung für eine plausible Erzählung in den historiographischen Text Eingang findet. Das Bruchstückhafte der Erinnerung teilt das Zeitzeugengespräch mit allen anderen Quellentypen. Das unüberlegte Wort von der Objektivität dieser oder jener historischen Quelle hat die Komplexität des historischen Überlieferungsvorganges selbst aus den Augen verloren. Was sich aus der Vergangenheit erhalten hat, sind nicht selten willkürliche Spuren einer früheren Wirklichkeit. Das ist beim Verhältnis von ›Befragung und Gedächtnis‹ nicht anders als bei einer archäologischen Ausgrabung, der Erforschung vergangener politischer Beziehungen oder der Quellenheuristik für eine Edition. Welche Zeugnisse der Vergangenheit sich in welchem Maße warum erhalten haben, lässt sich aus der Perspektive des Historikers allenfalls näherungsweise abschätzen.10 Das Misstrauen gegenüber der Erinnerung des Zeitzeugen richtet sich nicht nur gegen die Verlässlichkeit des Gedächtnisses, sondern auch gegen die Subjektivität des Erinnerns, welche jedoch »in der Geschichtsschreibung über die Herrschenden schon immer eine merkwürdige Symbiose mit der allgemeinen Geschichte eingegangen ist.« Oral History möchte diese »auch für die anderen Mitglieder der Gesellschaft in die Geschichte hereinholen – selbst auf die Gefahr hin, daß damit der mit dem Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft vereinheitlichte Geschichtsbegriff wieder

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Vgl. hierzu die kommentierte Bibliographie von Patricia Pate Havlice: Oral History. A Reference Guide and Annotated Bibliography, Jefferson u. a. 1985. Das deutsche Misstrauen gegenüber einer erzählten Geschichte zeichnen Detlef Briesen und Rüdiger Gans in ihrem Beitrag Über den Wert von Zeitzeugen in der deutschen Geschichte. Zur Geschichte einer Ausgrenzung nach, in: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 6 (1993), S. 1–32. Zur Kritik der Oral History vgl. Wolfgang Benz/Martin Müller: Geschichtswissenschaft, Darmstadt 1973, S. 63ff. und Bodo Scheurig: Einführung in die Zeitgeschichte, Berlin 1970, S. 40ff. Herwart Vorländer: Mündliches Erfragen von Geschichte, in: Ders. (Hg.): Oral History. Mündlich erfragte Geschichte, Göttingen 1990, S. 7–28, hier S. 15. Vgl. Niethammer: Fragen – Antworten – Fragen (wie Anm. 1), S. 409f.

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zerplatzt: das ist ja, was die etwas hilflosen Formeln einer ›Geschichte von unten‹ oder einer ›demokratischen Geschichte‹ intendieren.« 11 Um Missverständnisse zu vermeiden: Bei meinem Oral-History-Projekt zu den Musikverhältnissen der DDR kamen verschiedene Probleme einer ›Geschichte von unten‹ nicht zum Tragen. Auch wenn im Rahmen einer Musikgeschichte der DDR zahlreiche ›Geschichten von unten‹ von Interesse sind (Wahrnehmung des ›Bitterfelder Weges‹ aus der Perspektive der Arbeiterschaft, Musikausbildung an den Schulen, Musikschulen, Spezialgymnasien und Hochschulen der DDR, musikalische Subkulturen u. v. a. m.), geht es bei der Erforschung komponierter Musik weniger um eine Studie mit breiter empirischer Fundierung, als vielmehr um die modellhafte Durchleuchtung einer sehr begrenzten sozio-kulturellen Struktur mit ihrer relativen Eigenständigkeit. Meine monographische Hinwendung zu den Ereignissen, die im näheren oder weiteren Zusammenhang mit der Person Paul Dessaus und dem Zirkel, der sich im Zeuthener Haus traf, stehen, fühlte sich der Mikrohistorie und der qualitativen Untersuchung verpflichtet: »Mikrogeschichte verstand – und versteht – sich als Gegenbewegung gegen eine Historiographie, die den großen Gang der Dinge und die wesentliche Struktur vergangener Gesellschaften immer schon zu kennen meint und die sich stets auf die Seite der ›Sieger‹ stellt, indem sie sich den Gesichtspunkt des Fortschritts, der Modernisierung im Sinne ›westlicher‹ Gesellschaften zu eigen macht. ›Ethnozentrismus‹ und ›Teleologie‹ warf die neue Richtung der ›traditionellen‹ vor.«12

Die Untersuchung einer solch relativ homogenen und geschlossenen Gruppe bringt eine vergleichsweise rasche Sättigung und Differenzierung latenter Strukturen durch den Vergleich der Informationen der einzelnen Zeitzeugen mit sich. 13 Eine strikte Hinwendung zum Individuum14 verspricht, fußend auf den detailreichen Studien zu Strukturen des kulturellen Lebens der DDR, das Subjekt, das letztlich diese Strukturen sowohl mit Leben füllte als auch zumindest partiell gestaltete, hervortreten zu lassen.15 Dabei erwies es sich aus verschiedenen Gründen als Vorteil, mit den Gesprächspartnern weniger lebensgeschichtliche Interviews zu führen, als sie vielmehr immer wie11

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Ebd., S. 400 sowie S. 419: »Oral History [versteht sich] als […] Beitrag zu einer demokrati schen Geschichtsschreibung […], als eine Annäherung an die Erfahrung und Subjektivität derer, die sonst aus Mangel an Überlieferung keine Stimme in der Geschichte gewinnen.« Jürgen Schlumbohm: Mikrogeschichte-Makrogeschichte: Zur Eröffnung der Debatte, in: Ders.: Mikrogeschichte. Makrogeschichte. Komplementär oder inkommensurabel?, Göttingen 1998, S. 7–32, hier S. 19. Vgl. Niethammer: Fragen – Antworten – Fragen (wie Anm. 1), S. 412. Vgl. Arno Mohr: Die Rolle der Persönlichkeit in politischen Institutionen. Biographische Ansätze in der Politikwissenschaft, in: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 3 (1990), S. 225–236. »Es ist eine Binsenweisheit, daß man historische Ereignisse nicht nur an abstrakten Struktur veränderungen gesellschaftlicher Verhältnisse, an Entscheidungen politisch Verantwortlicher oder an mehr oder weniger ›objektiven‹ Quellen, meist schriftlichen Dokumenten ablesen kann, sondern auch am Erleben einzelner.« Armin Nassehi: Zwischen Erlebnis, Text und Verstehen. Kritische Überlegungen zur »erlebten Zeitgeschichte«, in: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 5 (1992), S. 167–172, hier S. 167.

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der auf den Fragenkomplex ›Paul Dessau‹ zurückzuführen: Dies eröffnete die Möglichkeit, von teilweise sehr Persönlichem wie emotional Präsentem im Gespräch über einen Dritten zumindest in gewissem Maße zu abstrahieren. War im Vorangegangenen wiederholt auf Ähnlichkeiten zwischen mündlich übermittelten Zeitzeugnissen und etablierten Quellentypen hingewiesen worden, eröffnen sich in der Person des Fragenden und seiner Beziehung zum Befragten die prinzipiellen Unterschiede: Was das Zeitzeugengespräch von allen anderen Quellen des Historikers unterscheidet, ist der Umstand, dass der Forscher selbst an der Herstellung der Quelle beteiligt ist.16 Bei der Begegnung mit seinen Gesprächspartnern stößt der Interviewer auf ein grundlegendes Problem der Zeitgeschichte. Denn überall dort, »wo Historiker versuchen, sich einer Periode zu bemächtigen, aus der noch Augenzeugen überlebt haben, treffen zwei völlig entgegengesetzte Geschichtsauffassungen aufeinander oder ergänzen sich bestenfalls: das gelehrsame und das existentielle, das archivalische und das per sönliche Gedächtnis.«17

In der Erforschung von DDR-Geschichte kommt noch hinzu, dass ältere Befragte nicht nur immer wieder generationsbedingte Verständigungsprobleme befürchten, sondern die Ausläufer der Ost-West-Konfrontation zuweilen den westlichen Frager mit Vorurteilen konfrontieren bzw. dem östlichen ein nicht immer selbstverständliches Vorverständnis abverlangen. Zwar fallen manche Probleme einer erfragten ›Geschichte von unten‹ (z. B. Divergenzen in Status und Sprachkompetenz) bei einem Zeitzeugenprojekt mit Künstlern und Intellektuellen weg, doch berührt die Erforschung einer Diktatur nolens volens immer wieder die Themen Schuld und Sühne: »Die Komplexität der asymmetrischen Relation zwischen Interviewer und Interviewtem betrifft schließlich auch die beiden Kommunizierenden als Personen mit ihren spezifischen, unterschiedlichen Frage- beziehungsweise Antworthorizonten: als Angehöriger unterschiedlicher Generationen etwa, was die allgemeine Generationsproblematik einschließt; oder gar mit der zusätzlichen Problematik der Begegnung zwischen einer stigmatisch belasteten und einer gerade hier besonders kritisch nachfragenden Generation.« 18

Für den Fragenden bedeutet das sowohl, dass er ausreichend eingearbeitet sein muss, um die Auskünfte, die er im Rahmen der Zeitzeugengespräche erhält, gegebenenfalls im Abgleich mit anderen Quellenarten zu erhärten, als auch, dass er durch seine Erwartungen in Fragestellung und Gesprächsführung das Interview, über das unvermeidliche Maß hinaus, nicht in die von ihm intendierte Richtung lenken darf. 19 Dem 16

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Zur Rolle des Historikers in der Oral History vgl. Georges Devereux: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, Frankfurt a. M. 1984. Eric Hobsbawm: Das imperiale Zeitalter 1875–1914, Frankfurt a. M. 1989, S. 13. Vorländer: Mündliches Erfragen von Geschichte (wie Anm. 9), S. 17. »Jedenfalls sind Oral History-Gespräche keinen Seltenheit, in denen der Interviewte vom Fragenden zu denjenigen Aussagen und Formulierungen geleitet wird, die dieser hören wollte. Die Ideologiekritik, und auch formale Kritik, muß also den Fragenden mit einschließen, und sie muß die gesamte kommunikative Situation des Interviews mit einschließen, wenn wir der gegenüber der ›normalen‹ Quelle anderen Situation beim Zustandekommen der Oral HistoryInformation gerecht werden wollen.« Vorländer: Mündliches Erfragen von Geschichte (wie Anm. 9),

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Historiker wird dabei eine außergewöhnliche Sensibilität abverlangt, wenn der Gesprächspartner im Interview mit der eigenen Lebensgeschichte konfrontiert wird, wobei die nicht selten einsetzende Legitimation der eigenen Biographie zuweilen verschüttete Erinnerung zutage gefördert. In dieser Situation ist ein Frager gefordert, der nicht schon alles weiß bzw. im Gespräch Belege für das abruft, was sich ihm aus anderen Quellen bereits erschlossen hat. Es gilt, neugierig und offen zuzuhören, Umwege und Seitenpfade der Erzählung mitzugehen und dem Gesprächspartner immer wieder Handreichungen anzubieten, zum Hauptstrang der Erzählung zurückzukehren bzw. fallen gelassene Gesprächsfäden wieder aufzunehmen. Dafür ist es unabdingbar, dass ein nicht unbedeutender Teil der Initiative vom Interviewer auf den Interviewten übergeht.20 Die Person des Interviewers ist ausschlaggebend für das Ergebnis der Interviews. Für meine Studie bedeutete das etwa, dass sie anders verlaufen wäre, wenn sie nicht von einem Westdeutschen des Jahrgangs 1969, sondern von einem Ostdeutschen beispielsweise der unmittelbaren Nachkriegsgeneration durchgeführt worden wäre. Die Überlegungen zum Sprechaktcharakter des Zeitzeugengesprächs verdeutlichen, dass es sich um einem Typus Quelle handelt, dessen Chancen nicht so sehr in der »quantifizierenden Auswertung, sondern vielmehr in der qualitativen Interpretation« zu suchen sind.21 Mindestens in dem Maße, wie im Zeitzeugengespräch zum Teil verschüttete Sachverhalte erinnert werden und zur Sprache kommen, interessieren seine Form und sein Verlauf. Dabei stehen Erinnerungsinterviews »nicht unter dem Imperativ meßbarer Vergleichbarkeit, wie der rekonstruktive und assoziative Charakter von Erinnerungen allenfalls deren Inhalt, nicht aber die Form ihres Abrufs vergleichbar macht.«22 Es gilt im Blick zu behalten, dass es sich bei Vielem des Erinnerten um ein Set von Standardgeschichten handelt, die gewissermaßen zum erzählerischen Repertoire des Befragten zählen.23 Diese haben sich als Kommunikationsbausteine über die Jahre hinweg bewährt und im Laufe der Zeit sicherlich auch verschliffen. Zur Rekonstruktion vergangener Wirklichkeiten können sie nur bedingt einen Beitrag leisten, wohl aber gewähren sie Einblick in die Art des Befragten, mit seinem Umfeld zu kommunizieren und Erfahrungen zu verarbeiten. 24 Neben wichtigen Informationen, die im Zeitzeugengespräch zutage befördert werden, ist es die Form der Erzählung, die Aufschluss über das Verifizierbare hinaus zu gewähren vermag. So geht es primär nicht darum zu rekonstruieren, ›wie es gewe20 21

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S. 19f. Vgl. Niethammer: Fragen – Antworten – Fragen (wie Anm. 1), S. 400. Michael Zimmermann: Zeitzeugen, in: Bernd Rusinek/Volker Ackermann/Jörg Engelbrecht (Hg.): Einführung in die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt: Neuzeit, Paderborn u. a. 1992, S. 13–26, hier S. 23. Niethammer: Fragen – Antworten – Fragen (wie Anm. 1), S. 401. Dies trifft in besonderem Maße zu, wenn ein Gesprächspartner bereits ein- oder mehrmals von Historikern um Auskunft gebeten wurde oder gar die Erinnerungen in einer oder mehre ren autobiographischen Darstellungen festgehalten hat. Vgl. Niethammer: Fragen – Antworten – Fragen (wie Anm. 1), S. 404f.

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sen ist‹; dafür reicht in der Regel das bereits vorhandene Traditionswissen aus. Im Zentrum steht vielmehr die Bedeutung der Geschichte innerhalb der jeweiligen Erzählung. In ihr fallen Zeugnis und ästhetische Artikulation in eins. Jedes Erinnerungsinterview enthält »Geschichten, die sich in einer unvorhersehbaren Weise über den gesamten Interviewverlauf verteilen. Der Erzählcharakter kann im Gesprächsstil des Interviews, in der szenischen Form […] oder im kommunikativen Code einer Kultur begründet sein. Diese Geschichten sind der größte Schatz der Oral History, weil in ihnen Sach- und Sinnaussagen ästhetisch verschmelzen. Zugleich sind sie aber historisch am schwierigsten zu interpretieren, weil der Zeitpunkt dieser Verschmelzung irgendwann zwischen dem Datum, von dem erzählt wird, und jenem, an dem erzählt wird, liegen mag.«25

Damit ist bereits der Angelpunkt zwischen der Durchführung und der Aufbereitung bzw. Interpretation des Zeitzeugengespräches in den Blick gerückt. Ganz praktisch bedeutet das: Was soll mit den aufgezeichneten Zeitzeugengesprächen geschehen? Probleme der Verschriftlichung Das akustische Zeugnis ist und bleibt das unüberbietbare Ergebnis eines Oral-History-Projektes. Jegliche ›Übersetzung‹ in die Schriftform bringt Verluste mit sich. Auch die Versuche, Dialekt, Aussprache, Lautstärke, Prosodie, Gestik, Mimik u. a. durch Sonderzeichen und Anmerkungen in die Umschrift zu integrieren, können allenfalls zu einem Kunstprodukt führen, welches sich, wenn überhaupt, nur von einem Linguisten mit Gewinn lesen lässt und damit als historische Dokumentation kaum geeignet ist. Bei der reinen, in Wahrheit aber immer schon redigierten Umschrift entsteht seinerseits ein Kunstprodukt, das um zahlreiche Handreichungen für interpretative Ansätze beschnitten ist; die Audio- durch eine Videoaufzeichnung zu ersetzen, ist sicherlich von Vorteil, aber nur ein scheinbarer Ausweg aus dem Dilemma. »Werden solche ›übersetzten Texte‹ dann noch in aparten Ausschnitten publiziert, in denen mit den Beiträgen des Interviews die letzten Hinweise auf die Entstehungsbedingungen des Textes eliminiert sind, wird eine volkstümliche Scheinoriginalität vorgetäuscht, in der die Verfremdung des Erinnerungsinterviews durch seine Überlieferungsform ihren Gipfel erreicht.« 26

Andererseits ist die Umschrift eines ausführlichen Erinnerungsinterviews als Dokument des Ringens um Formulierungen, des Aufspürens von Erinnerung und nicht zuletzt wegen seiner Länge der Öffentlichkeit nicht präsentabel. In seinem Schwebezustand zwischen geschriebenem und gesprochenem Wort kann man es nicht ›lesen‹, sondern nur bearbeiten, erschließen, interpretieren und am Ende edieren. Eine Dokumentation dieses Prozesses kann wiederum helfen, die Rolle des Bearbeiters, Interpreten und Editors transparent zu machen und nachfolgenden Annäherungen an 25 26

Ebd., S. 407. Ebd.

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das akustische Zeugnis den Weg zu ebnen. Der spätere Interpret kann sich mit den Sachfragen, die die Gespräche umkreisen, vertraut machen und von den Hintergrundinformationen und angebotenen Interpretationen der Zeitzeugen profitieren, es fehlt ihm »aber der lebensgeschichtliche Horizont und der interaktive Kontext, aus denen die Geschichte entstanden ist, und damit der wesentliche Schlüssel zu ihrer historischen Interpretation.«27 Es ist die Aufgabe dessen, der die erfragten Geschichten miterlebt und mitgestaltet hat, zumindest einen Teil dieses Horizonts und Kontextes in seiner Interpretation mitzuteilen. Die Grenzen des Erkenntnisprozesses, den ein Oral-History-Projekt in Gang setzt, verlaufen fließend zwischen Fachwissenschaft und interessierter Öffentlichkeit. So kann der Wissenschaftler am Ende kein ›fertiges‹ Ergebnis präsentieren, sondern allenfalls einen weiterführenden gesellschaftlichen Kommunikationsprozess anregen und begleiten. Da Bearbeitung ganz praktisch an erster Stelle immer Kürzung meint, ist absehbar, dass sich mit wandelndem Erkenntnisinteresse unterschiedlichste Rückgriffe auf das ursprüngliche akustische Dokument ergeben werden. Eine so verstandene Oral History hält dem Leser, Hörer, Seminarbesucher etc. die Erkenntnisschranken weitgehend offen für eine ästhetische Begegnung mit ausgewählten Geschichten und ihrer historiographischen Verortung und Interpretation. Die vorangegangenen theoretischen Erwägungen verstehen sich dabei keinesfalls als a priori-, vielmehr als arbeitsbegleitende Reflexion eines Oral-History-Projektes: »Mündliches Erfragen von Geschichte ist eine Methode historischen Forschens und Arbeitens. Und ihre theoretische Reflexion steht in ständigem direktem Bezug zur Praxis dieses Arbeitens und drängt zu ihr hin.«28 Das Zeuthener Haus Hebt man die zentralisierten staatlichen Medien, das intendierte Informationsmonopol der Einheitspartei, die im Laufe der Zeit ausufernden inlandsgeheimdienstlichen Aktivitäten der Stasi u. v. a. m. bei der Betrachtung der Kultur der DDR hervor, so gerät leicht aus dem Blick, dass die Gesellschaft nicht gleichmäßig »durchherrscht« war: Angefangen bei der weit verbreiteten heiteren bis bitteren Auseinandersetzung mit dem Mangel an Informationen, Waren, Dienstleistungen und Freizügigkeit, über eine ausgeprägte Witzkultur, bis in den Bereich der kirchlichen, ökologischen, künstlerischen und politischen Zirkel, die von der SED als Feinde eingestuft und mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln bekämpft wurden. Irgendwo zwischen dem alltäglichen Missmut über strukturelle Gebrechen der DDR und, wenn nicht Opposition, so doch DDR-Ferne, dürften jene Zirkel im privaten bzw. halbprivaten Raum angesiedelt sein, die so eigentümlich an den Salon des 19. Jahrhunderts erinnern. Ihrem ideellen Ursprung aus der Zeit um 1800 waren sie 27 28

Ebd., S. 418. Vorländer: Mündliches Erfragen von Geschichte (wie Anm. 9), S. 25.

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dahingehend verbunden, dass in ihnen die Befähigung zur geistreichen Kommunikation alle anderen Statusmerkmale zeitweise aufzuwiegen vermochte. Die Einheitspartei konnte versuchen, diesen Typus des informellen Zusammenschlusses im Einzelfall zu zerschlagen oder durch die Stasi unterwandern zu lassen, gänzlich unterbinden konnte sie ihn nicht immer. Dabei stand der staatlichen Furcht vor Machtverlust mangels Kontrolle nicht selten der Argwohn mancher Zeitgenossen zur Seite, die fürchteten, durch derlei mutmaßlich elitäre Zirkel, zu denen sie nicht geladen waren, indirekt verächtlich gemacht zu werden. Solche ›Reiz-Reaktions-Schemata‹ werden besonders deutlich am Beispiel jener Gruppe von Menschen, die sich in gemischter Besetzung, unregelmäßig und ohne besondere Struktur im Hause von Ruth Berghaus und Paul Dessau traf. In seiner gesamten Zeit in der DDR wurde Dessau mit dem Vorwurf konfrontiert, er sei Kopf einer ›Clique‹ 29 bzw. mitverantwortlich für die Bildung einer ›Plattform‹. Mit diesen Vorwürfen, die im Wortschatz der Stasi bis zu deren Auflösung eine für die Gemeinten fatale Rolle spielten, waren alte Vorstellungen von ›Konterrevolution‹ verbunden. Einer ›feindlichen Gruppe‹ anzugehören, konnte in der Stalinbzw. frühen Nachstalinzeit Gefahr für Leib und Leben bedeuten und bis zum Untergang der DDR den Betroffenen immerhin noch in erhebliche Schwierigkeiten bringen.30 Im Lauf meines Projektes wurde die anfängliche Vermutung zur Gewissheit, dass im Falle des Kreises um Ruth Berghaus und Paul Dessau Selbst- und Fremdwahrnehmung stark divergierten. Den ›homogenen Block‹ im Umfeld Dessaus, wie er immer wieder in Invektiven des Komponistenverbandes, der Kulturadministration und selbst in der Akademie der Künste angeprangert wurde, hat es nie gegeben. Es versteht sich, dass die Gäste aus dem Ausland (inklusive BRD) nur von Zeit zu Zeit zu Besuch kamen. Von den Freunden und Schülern wohnten einige nicht in Berlin und reisten demzufolge nur zu besonderen Anlässen (Geburtstage u. ä.), und, falls sie Meisterschüler waren, zum Unterricht an. Zudem scheint es solche gegeben zu haben, die eher Ruth Berghaus und solche, die mehr Paul Dessau zuneigten. Es ist bemerkenswert, welch unterschiedliche Persönlichkeiten im Zeuthener Haus in der Karl-Marx-Straße zusammenkamen; um nur eine Auswahl zu nennen: René Leibowitz, Hans Werner Henze, Karl Amadeus Hartmann, Aribert Reimann, die Ehepaare Blacher, Nono, Wagner-Régeny, Henselmann und Kegel, des weiteren Heiner Müller, Karl Mickel, Manfred Wekwerth, Bernhard K. Tragelehn, Volker Braun, Friedrich Goldmann, Max Pommer, Reiner Bredemeyer, Paul-Heinz Dittrich, Achim Freyer und, eher selten, Friedrich Schenker, Luca Lombardi und Jörg Herchet. Naturgemäß standen für mein Projekt nur noch die seinerzeit Jüngeren zur Verfügung. Zu Gesprächen fanden sich bereit: Friedrich Goldmann, Jörg Herchet, PaulHeinz Dittrich, Max Pommer, Manfred Wekwerth, Luca Lombardi, Friedrich Schen29

30

Vgl. Akademie der Künste, Berlin, Paul-Dessau-Archiv 1.3.3. 174.1762 Umgang mit Luigi Nono und jungen Komponisten (um 1970). Vgl. Lars Klingberg: IMS »John« und Schostakowitsch. Zur Stasi-Karriere von Heinz Alfred Brockhaus, in: Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa 4 (2000), S. 82–116.

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ker, Nuria Nono-Schönberg, Hans Pischner, Bernd K. Tragelehn, Günter Mayer und Gerd Rienäcker. Das Zeitzeugengespräch mit Fritz Hennenberg stellt dahingehend eine Ausnahme dar, dass er keine engere Verbindung zum Zeuthener Kreis hatte und zudem vor Gesprächsbeginn eine schriftliche Fassung seiner Erinnerungen an Begegnungen mit Paul Dessau vorlegte, auf die er sich im Verlauf des Gesprächs durchweg bezog. Im Zentrum der Interviews stand das Leben und Wirken Paul Dessaus. Von hier aus eröffneten sich für alle Gesprächspartner verschiedene ›Seitenpfade‹ der Erinnerung und Reflexion. Im Gespräch wurde also auf unterschiedliche Weise, zum Einen gebrochen durch die Perspektive auf Leben und Werk Paul Dessaus und zum Anderen durch die jeweilige Persönlichkeit des Gesprächspartners, ein Ausschnitt der (Musik-)Geschichte der DDR vor mir ausgebreitet. Daraus konnte ich als Historiker Verschiedenes lernen: Zuallererst wurde im Gespräch manches in mein Blickfeld gerückt, dem ich beim Studium anderer Quellen nicht die nötige Bedeutung beigemessen, oder was ich schlicht missverstanden hatte. Ein wesentlicher Vorzug des Zeitzeugen gegenüber schriftlichen Quellen ist der Umstand, dass er gegebenenfalls widerspricht.31 Was zudem überdeutlich in der Auseinandersetzung mit historisch Beteiligten wird, ist der altbekannte juristische Erfahrungswert, dass unterschiedliche Zeugen ein- und desselben Ereignisses abweichende Angaben darüber machen. Dabei gingen in vorliegender Studie die verschiedenen Aussagen weniger der Sache als der Form nach auseinander. Nuria Nonos Blick von außen auf die DDR, gepaart mit ihren im Kreis der Befragten einzigartigen Erinnerungen an Dessau im Exil, Max Pommers Erinnerungen aus der Perspektive des Interpreten, Fritz Hennenbergs Begegnungen mit Dessau als Musikwissenschaftler und Dramaturg, Luca Lombardis und Friedrich Schenkers Erfahrungen als Schüler, Paul-Heinz Dittrichs Perspektive des jahrelangen Nachbarn in Zeuthen und Hans Pischners freundschaftliche Verbundenheit als Künstler, Intendant sowie Politiker mit dem Ehepaar Berghaus/Dessau folgen sicherlich streckenweise gemeinsamen Erzählsträngen, sind jedoch darüber hinaus in ihren Um- und Seitenwegen im Hinblick auf die Musikgeschichte der DDR allesamt bemerkenswert. In ihrer Unterschiedlichkeit führen sie die Vielzahl der möglichen Arten vor Augen, die Musikverhältnisse der DDR zu beschreiben. Der Umstand, dass beispielsweise Friedrich Goldmanns Erzählung Elemente der Schelmengeschichte, derjenigen Manfred Wekwerths der Tragödie und bei Jörg Herchet des biblischen Gleichnisses eingelagert sind, erscheint dabei von ebensolchem Interesse wie die erinnerten Begebenheiten selbst. Im konkreten Fall war die Befragung der Freunde, Schüler und Kollegen von Paul Dessau dazu angetan, mehr über die Persönlichkeit des Komponisten, seine 31

»Fachhistoriker, die ergraute Soldaten oder Politiker befragen, besitzen weit mehr und zuver lässigere Informationen über das vergangene Geschehen, die schwarz auf weiß vorliegen, als ihre Gewährsleute aus der Erinnerung hervorholen können, und trotzdem ist es möglich, daß sie diese falsch verstehen.« Hobsbawm: Das Imperiale Zeitalter 1875–1914 (wie Anm. 17), S. 13.

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Umgangsformen, seine Art künstlerischen Denkens, seinen Unterrichtsstil sowie die Diskussionskultur in seinem Hause zu erfahren. Die damit stets implizit präsente Frage nach den Vor- und Nachteilen des Projektes einer musikalischen Alltagsgeschichte tritt spätestens hier explizit zutage. Dabei lässt sich von den Auseinandersetzungen in der allgemeinen Historiographie lernen. Hier war es zur tatsächlichen oder vermeintlichen Frontstellung zwischen herkömmlicher Arbeit mit schriftlichen Quellen und der Aufwertung einer erzählten Geschichte (›von unten‹) gekommen.32 Neben dem Misstrauen, das in einer akademischen Disziplin alles Neue zu gewärtigen hat, war es auch das Pathos des Paradigmenwechsels, gepaart mit einem Moment fragwürdiger Modernisierungs- bzw. Zivilisationskritik, was den verschiedenen alltagsgeschichtlichen Ansätzen nicht immer förderlich war.33 Ein solches ideologisches Moment zielte dabei mutmaßlich an den Chancen und Risiken einer alltagsgeschichtlichen Herangehenswiese vorbei. Bereits wenn man statt einer Geschichte von ›unten‹ von einer Geschichte von ›innen‹ spricht, zeichnen sich wesentlich deutlicher deren Perspektiven, aber auch Grenzen ab. Für meine Abkehr vom Totalitarismus- bzw. Repressionsparadigma und der bewussten Hinwendung zu historischen Subjekten wurde eine wesentliche Konsequenz erkennbar. An erster Stelle ist dies eine »Entthronisierung der Politik«: »Wenn der politische Herrschaftsapparat nicht mehr die historische Zentralperspektive abgibt, muß dadurch Historie jedoch keineswegs unpolitisch werden. Die identitätsfördernden Perspektiven von Geschichte werden von den Zentren und Ganzheiten abgelöst und verwandeln sich in ein vielfältiges Angebot wirklicher Lebensdimensionen. Begrenzte Handlungsmöglichkeiten werden dort konkret untersucht, wo allgemeine oder gar keine unterstellt worden waren, und der Blick für Selbstregelungen und Eigensinn wird geschärft« 34

Zudem wird deutlich, dass alltagsgeschichtliche Herangehensweisen ›dem‹ Alltag ›der‹ Gesellschaft weitgehend hilflos gegenüberstehen. Somit erscheint die Hinwendung zu einer sehr kleinen Gruppe von Menschen, in unserem Fall den Künstlern und Intellektuellen um Paul Dessau, auch dem Umstand geschuldet, dass eine sinnvolle alltagsgeschichtliche Perspektive einen klar umrissenen Untersuchungsgegenstand braucht: 32

33

34

Ausläufer dieser Auseinandersetzung lassen sich an den Beiträgen zu einer Podiumsdiskussion des 35. Deutschen Historikertags 1984 in Berlin nachvollziehen. Diese sind wiedergegeben in: Fernuniversität/Gesamthochschule (Hg.): »Geschichte von unten – Geschichte von innen«. Kontroversen um die Alltagsgeschichte, Hagen 1985. »Die Modernisierung erschien aus alltagsgeschichtlicher Perspektive vor allem als Verlust, alte Lebenswelten und -werte als Verlierer unter dem Ansturm von Kapitalismus und Bürokratie, Industrialisierung und Urbanisierung. Was Max Weber als kosten- und chancenreiche Rationalisierung analysierte, erscheint nun eher als ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹, wie Jürgen Habermas es genannt hat.« Jürgen Kocka: Worum es geht, in: Fernuniversität/Gesamthochschule: »Geschichte von unten – Geschichte von innen« (wie Anm. 32), S. 4–10, hier S. 7. Lutz Niethammer: Zur Ortsbestimmung des humanwissenschaftlichen Beitrags zur Geschichte, in: Fernuniversität/Gesamthochschule: »Geschichte von unten – Geschichte von innen« (wie Anm. 32), S. 11– 16, hier S. 13.

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»Wenn überhaupt, dann läßt sich so ein Programm nur bei der Untersuchung kleiner überschaubarer Räume, Gruppen und Konstellationen annähernd erfüllen. Von daher ist die mikrohistorische Ausrichtung der ›Alltagsgeschichte‹ verständlich: ihre Konzentration auf einzelne Gemeinden, Dörfer, Familien, Lebensläufe.« 35

Mit der hier angedeuteten Perspektive einer musikalischen Alltagsgeschichte soll keineswegs eine alleingültige Gegeninstanz zu bestehenden Formen der Musikauffassung und -forschung proklamiert werden. Vielmehr soll es um eine Verbreiterung der methodischen Basis gehen. Ein vielversprechender Weg der Erforschung der Musikverhältnisse der DDR könnte darin bestehen, der Strukturgeschichte künstlerischer und politischer Institutionen die Untersuchung des Kunstwerks als Quelle eigenen Erkenntniswertes und die musikalische Alltagsgeschichte in Form des Zeitzeugenprojektes zur Seite zu stellen. Diese Vorgehensweise, die sich unter Umständen den Vorwurf des Bruchstückhaften und Patchworkartigen gefallen lassen muss, ist der Überzeugung geschuldet, dass weder die Konzentration auf institutionelle Strukturgeschichte, noch die reine musikalische Sozialgeschichte, noch die selbstgenügsame Strukturanalyse von Kompositionen dem Projekt einer ›politischen Musikgeschichte‹, mithin der Frage nach dem Verhältnis von Weltbild und Ästhetik allein gewachsen ist. Ebenso einseitig wie die Betrachtung des ›Meisterwerkes‹ als ›ens causa sui‹ ist die in Vergangenheit, gerade im Zusammenhang mit der Musik aus der DDR, immer wieder zu beobachtende reine Hinwendung zur Abbildung der Herrschaftsverhältnisse in den Strukturen des Musiklebens. Musikalische Alltagsgeschichte, also der Rekurs auf »Fragestellungen, Begriffe und Argumentationsmuster der Kulturund Sozialanthropologie«36, erhält ihrerseits eine weitere Reflexionsebene in der deutenden Analyse von Kunstwerken – angesichts ihres Gelingens wie auch Scheiterns. Praktische Fragen Auch die Oral History hat eine eigene Art der Quellenheuristik. Jedes Projekt zum Erfragen von Geschichte beginnt mit der Auswahl und dem Ausfindigmachen der Gesprächspartner sowie der Anbahnung der Interviews. So vermag der Zeitzeuge im Unterschied zu anderen Quellentypen nicht nur im Einzelnen zu widersprechen, sondern ganz grundsätzlich auch ein Interview abzulehnen. Dies kann aus unterschiedlichsten Gründen geschehen: So verschlechterte sich ganz konkret der Gesundheitszustand Henzes nach der ersten Kontaktaufnahme über seine Agentin beim Verlag derart, dass ein Gespräch nicht zustande kam. 37 Aribert Reimann und Achim Freyer waren so sehr mit ihrer künstlerischen Arbeit beschäftigt, dass sie keine Zeit für ein Interview fanden. Volker Braun schien meine Anfrage, mit ihm über Paul Dessau zu sprechen, zu sehr in seine Privatsphäre einzugreifen. 35 36 37

Kocka: Worum es geht (wie Anm. 33), S. 6f. Ebd., S. 6. Henzes Erinnerungen an Paul Dessau sind gedruckt in Hans Werner Henze: Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955–1984, München 21984, S. 288–290.

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Auch wenn es sich kompliziert gestaltete, den ein- oder anderen Gesprächspartner aufzuspüren, waren die in meinem Projekt versammelten Interviewten alle spontan und mit großem Entgegenkommen bereit, teilzunehmen. Wer mündlich Geschichte erfragt, macht die Erfahrung, dass er nicht selten keine oder Antworten auf Fragen bekommt, die er nicht gestellt hat und diese wiederum neue Fragen aufwerfen. Und so hat es sich durchweg gelohnt, mit den Gesprächspartnern die Umwege ihrer Erzählung, die nicht selten der Erläuterung der eigenen Rolle in der Geschichte der DDR dienten, mitzugehen. Dies führte dazu, dass manche Gespräche bis zu drei Stunden dauerten und der rote Faden – Leben und Werk Paul Dessaus – allenfalls noch schwach im Gewebe der Geschichten zu erkennen war. Die Verschriftlichung erfolgte in zwei Schritten. Eine vollständige Rohumschrift der Interviews diente dabei als Grundlage der gekürzten und behutsam redigierten Fassungen. Sie soll kommenden Benutzern der Tonaufnahmen der Gespräche über schwer verständliche Passagen hinweghelfen. Zum vollständigen Lesen oder gar zur Veröffentlichung (s. o.) sind diese Rohfassungen völlig ungeeignet. Die anschließende redaktionelle Arbeit folgte nicht den Standards, die bei einem Interview in einer Zeitung oder Zeitschrift zum Tragen kommen. Das gesprochene Wort wurde nicht der Schriftsprache angenähert. Inversionen, Reihungen und Halbsätze, wie sie dem Gesprochenen eignen, wurden ebenso belassen wie umgangssprachliche und zum Teil auch dialektale Wendungen. Es galt, dem Duktus des gesprochenen Wortes so weit als möglich in der schriftlichen Fassung zu folgen. Die teilweise starken Kürzungen sind ausschließlich dem Erkenntnisinteresse des Verfassers geschuldet. Die ›Um- und Seitenwege‹ der Erzählungen wurden mitunter ausgeblendet, längere Wiederholungen vermieden. Wie gesagt: Wer sich eingehender mit vorliegendem Zeitzeugenprojekt beschäftigt, kommt an den Tondokumenten nicht vorbei; die Rohumschriften können bei der Orientierung in den Aufzeichnungen helfen und eventuelle Unzulänglichkeiten in Verständlichkeit und Aufnahmequalität ausgleichen. In der redigierten Fassung sind im Dienste der Leserlichkeit keine editorischen Anmerkungen zu Kürzungen und Änderungen vermerkt. Mit der Akademie der Künste wurde vereinbart, dass sie die Tonträger sowie die Stadien der Verschriftlichung im Paul-Dessau-Archiv archiviert und den Benutzern nach einem noch mit den Interviewpartnern zu vereinbarenden Modus zugänglich macht. Naheliegend ist die Rücksprache mit den Urhebern (bzw. deren Erben), wie dies in der AdK Usus ist. Das Oral-History Projekt zu Paul Dessau ist nicht abgeschlossen. Zu wünschen ist, dass in einem ersten Schritt weitere Zeitzeugengespräche zu Dessau hinzukommen. Ein zweiter Schritt wären Zeitzeugenprojekte zu anderen Aspekten der Musikverhältnisse der DDR. Weiter oben war bereits angeklungen, dass hier tatsächlich Fragestellungen einer ›Geschichte von unten‹ thematisiert werden könnten. Einige Themen seien zur Veranschaulichung nochmals herausgegriffen: »Dessaus Musikunterricht an der Zeuthener Schule«, »Rezeption des ›Bitterfelder Weges‹ bei ehemaligen Arbeitern« sowie »Studien zu einzelnen Sektionen des Verbandes der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR«. Dass diese Fragestellungen wegen der

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zeitlichen und territorialen Begrenztheit der DDR sich besonders gut zur Erforschung der Musikgeschichte des kleineren deutschen Staates mit seinen spezifischen Kommunikationsstrukturen eignen, soll jedoch nicht den Blick auf mögliche Ansatzpunkte für die Erforschung der Musikverhältnisse der alten BRD – vielleicht sogar unter den Vorzeichen der deutschen Teilung – verstellen.

Die Autorinnen und Autoren Philip V. Bohlman ist Mary Werkman Distinguished Service Professor of the Humanities and of Music an der University of Chicago und Honorarprofessor der Hochschule für Musik und Theater Hannover; Musikethnologe, Pianist und Kabarettist. Veröffentlichungen u. a.: The Land Where Two Streams Flow (1989), The World Centre for Jewish Music in Palestine 1936–1940 (1992), World Music – A Very Short Introduction (2002), Jüdische Volksmusik – eine mitteleuropäische Geistesgeschichte (2005) und Music, Nationalism, and the Making of the New Europe (2010), sowie drei CDs, u. a. Jewish Cabaret in Exile (2009). Auszeichnungen u. a. Edward Dent Medal (1997), Berlin Prize der American Academy (2003), Derek Allen Prize der British Academy (2007) und Donald Tovey Memorial Prize der University of Oxford (2009). Christoph Flamm studierte Musikwissenschaft an der Universität Heidelberg, wo er 1995 mit einer Dissertation über russische Musik promoviert wurde (Der russische Komponist Nikolaj Metner. Studien und Materialien, Berlin 1995). 1992 war er Stipendiat des DAAD am Moskauer Konservatorium. Von 1994 bis 2001 arbeitete er hauptberuflich in der Redaktion der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart im Bärenreiter-Verlag Kassel. Von 2001 bis 2004 war er wissenschaftlicher Angestellter der Musikgeschichtlichen Abteilung des Deutschen Historischen Instituts (DHI) in Rom. Von 2003 bis 2007 lehrte er kontinuierlich an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main. Die DFG gewährte ihm 2005 ein zweijähriges Forschungsstipendium zur Beendigung seiner Arbeit Ottorino Respighi und die italienische Instrumentalmusik von der Jahrhundertwende bis zum Faschismus (2 Bde., Laaber 2008), mit der er sich 2007 an der Universität des Saarlandes habilitierte. Er lehrt dort und an der Hochschule für Musik Saar in Saarbrücken. Elaine Kelly studierte Musik und Musikwissenschaft an der National University of Ireland, Maynooth sowie an der Queen’s University Belfast und wurde 2002 mit einer Dissertation über Brahms und die Alte Musik promoviert. Seit 2002 ist sie Lecturer in Music an der University of Edinburgh. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. die Romantik in der DDR, Erinnerungskultur und Kalter Krieg, Brahms und die Alte-Musik Bewegung, Nationalismus und Musik des 19. Jahrhunderts. Albrecht von Massow, geboren 1960, Musikwissenschaftler, Promotion über Halbwelt, Kultur und Natur in Alban Bergs »Lulu«, Habilitation über Musikalisches Subjekt – Idee und Erscheinung in der Moderne, lehrt am Gemeinsamen Institut für Musikwissenschaft der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar und der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Forschungsschwerpunkte: Musik des 18.–21. Jahrhunderts, Neue Musik der DDR, Musikterminologie, Ästhetik und Analyse.

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DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

Günter Mayer, geboren 1930, Professor für Ästhetik/Musikwissenschaft i. R.; Humboldt-Universität Berlin bis 1994. Veröffentlichungen: Zur Theorie des Ästhetischen. Musik – Medien – Kultur – Politik (2006); Ästhetik der Kunst (Mitverfasser, 1987); Ästhetik heute (Mitverfasser, 1978); Weltbild – Notenbild. Zur Dialektik des musikalischen Materials, 1978); Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 10 (Mitverfasser, 1982); Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus (Mitverfasser) Bd. 1 (1994), Bd. 2 (1995), Bd. 4 (1999), Bd. 6/II (2004), Bd. 7/I (2008). Herausgaben: Hanns Eisler. Schriften (1973; 1982; 1983; 2007); Tradition in den Musikkulturen – Heute und Morgen (Konferenz des IMC Berlin 1985, 1987); Bausteine zu einer Theorie der populären Musik (1992); Hanns Eisler der Zeitgenosse. Positionen und Perspektiven (1997); Musikwissenschaftlicher Paradigmenwechsel. Zum Stellenwert marxistischer Ansätze in der Musikforschung (2000). Nina Noeske, geboren 1975 in Bonn, studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Musikpraxis in Bonn, Weimar und Jena. Magister 2001, Promotion 2005 (Musikalische Dekonstruktion. Neue Instrumentalmusik in der DDR, Köln, Weimar, Wien 2007). Mitarbeit bei den Sämtlichen Schriften Franz Liszts, 2006 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt ›Die Neudeutsche Schule‹ am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena. Seit 2007 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungszentrum Musik und Gender an der Hochschule für Musik und Theater Hannover. Veröffentlichungen zu den Themen Musik und Politik, Ästhetik, Filmmusik, zu methodischen Fragen (Raumtheorie, Historiographie), Musik und Popularität sowie Musik und Gender. Schwerpunkt ist die Musikgeschichte des 19.–21. Jahrhunderts. Gerd Rienäcker, geboren 1939 in Göttingen. 1959–1964 Studium der Musikwissenschaft mit Nebenfach Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin bei Ernst Hermann Meyer, Georg Knepler, Walther Vetter. 1960–1964 Kompositionsunterricht. 1964–1966 Musikdramaturg am Landestheater Eisenach. 1967–1985 wissenschaftlicher Assistent an der Humboldt-Universität Berlin. 1985 Dozent, 1988 Professor für Theorie und Geschichte des Musiktheaters an der Humboldt-Universität. Seit 1996 dort Privatdozent und Titularprofessor, ab 1994 Lehraufträge an mehreren Universitäten und Hochschulen in Deutschland. Buchpublikationen: Richard Wagner. Aufsätze, (Berlin 1999); Richard Wagner. Nachdenken über sein Gewebe (Berlin 2001); Musiktheater im Experiment. 25 Aufsätze (Berlin 2004). Ca. 200 Aufsätze zur Theorie und Geschichte des Musiktheaters, zur Musikgeschichtsschreibung, zur älteren und neueren Musikgeschichte, zur musikalischen Analyse. Seit 1966 Lehrveranstaltungen zur Geschichte der Oper und Operette, zur älteren und neueren Musikgeschichte, zur Analyse von Werken des 16. bis 20. Jahrhunderts. Matthias Tischer, geboren 1969 in München. Studium von Musik, Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Erziehungswissenschaft in München, Jena und Weimar. Tätig als Musiker in zahlreichen Ensembles. 2001 Promotion mit einer Arbeit über Musikästhetik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und 2008 Habilitation über Paul Dessau in der DDR. 1999–2004 Mitglied der Forschungsgruppe Musical Life in Euro-

DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

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pe der European Science Foundation. 2004–2008 Thyssen-, Feodor Lynen- und Humboldtstipendiat. 2006–2007 Visiting Scholar am Center for European Studies und dem Music Department der Harvard University. Seit 2008 Gastwissenschaftler an der Humboldt Universität Berlin. Seit 2008 Gerda Henkel-Stipendium für die Studie Musik im Kalten Krieg sowie Lehraufträge in Weimar, Hannover und Berlin. Forschungsschwerpunke: Musikgeschichte des 18.–21. Jahrhunderts, Musikästhetik, Musik und Politik, Populärmusik, Theorie der Musikgeschichtsschreibung, Musik und Bildung. Stefan Weiss, geboren 1964, studierte Musikwissenschaft, Anglistik und Germanistik an der Universität zu Köln. Promotion mit der Studie Die Musik Philipp Jarnachs (Köln 1997). 1997–2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Musik Dresden, seitdem Professor für Historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater Hannover. Forschungsschwerpunkte sind insbesondere deutsche und russische Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Seine Tätigkeit in Dresden, u. a. die Mitwirkung am Forschungsprojekt Dresden und die avancierte Musik im 20. Jahrhundert (3 Bde., Laaber 1999–2004) führte zu einem fortdauernden Interesse für die Musikgeschichte der DDR.