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German Pages [284] Year 2014
Christiane Berth / Dorothee Wierling / Volker Wünderich (Hg.)
Kaffeewelten Historische Perspektiven auf eine globale Ware im 20. Jahrhundert
Mit 16 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0389-9 ISBN 978-3-8470-0389-2 (E-Book) Mit freundlicher Unterstützung der Forschungsstelle Zeitgeschichte in Hamburg. Ó 2015, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Glasfenster der Hamburger Kaffeebörse, Foto: Monika Sigmund Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Steven Topik Produktbiografien, Warenketten und Kaffeegeschichten . . . . . . . . . .
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Julia Laura Rischbieter Röster : die Geburt eines neuen Wirtschaftszweiges. Globaler Wettbewerb und lokale Konsumentenwünsche im Deutschen Kaiserreich . . . . . . .
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Justus Fenner Arbeiteranwerbung und Wanderarbeit auf den Kaffee-Fincas in Chiapas (Mexiko). Eine Neuinterpretation des Enganchesystems . . . . . . . . . .
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Volker Wünderich Kaffee, nationales Selbstverständnis und zeitgenössische Kunst in der Großen Depression: Costa Rica, 1932 – 1936 . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dorothee Wierling Mit Rohkaffee handeln. Hamburger Importeure im 20. Jahrhundert . . . 105 Nicole Petrick-Felber Zwischen Mangel und Gefälligkeit – Die Versorgung mit Kaffee im »Dritten Reich«, 1938 – 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Christiane Berth Kaffee als politisches Druckmittel? Der schwierige Wiederaufbau der Handelsnetzwerke zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Guatemala in den 1950er-Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
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Inhalt
Bhaswati Bhattacharya Kaffeekonsum in Indien: ein Blick auf die Vermarktung von Kaffee in Indien, 1935 – 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Christof Dejung Staatliche Interventionen und multinationale Handelsfirmen. Der globale Kaffeehandel nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Anne Dietrich Kaffee in der DDR – »Ein Politikum ersten Ranges« . . . . . . . . . . . . 225 Ruben Quaas Der Kaffee der Gerechtigkeit. Wertzuschreibungen des fair gehandelten Kaffees zwischen 1973 und 1992 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Kommentare: Jakob Vogel, Angelika Epple . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
Einleitung
Das Bild auf dem Umschlag dieses Buches zeigt das Glasfenster an der Stirnseite des Börsensaals der Hamburger Kaffeeterminbörse, die Mitte der 1950er-Jahre in der Hamburger Speicherstadt neu errichtet wurde – dort, wo sich seit den 1880er-Jahren die Kaffeeimporteure, Makler und Agenten niedergelassen hatten. Der Neubau der Börse verwies auf die Entschlossenheit, mit der der Hamburger Rohkaffeehandel nach den Zerstörungen und Brüchen des Zweiten Weltkriegs einen Neuanfang versuchte. Während der Börsensaal selbst im schlichten und sachlichen Stil der Zeit eingerichtet wurde, strahlte das riesige Fenster das Versprechen von zukünftigem Kaffeegenuss und Wohlstand aus. Es verlieh dem nüchternen Saal außerdem einen Hauch von Sakralität und Exotik. Im Vordergrund sieht man fröhliche Arbeiter und Arbeiterinnen, die die geernteten Kaffeekirschen aufhäufen. Das Rot der Früchte findet sich wieder in der Kleidung und auf den Lippen der Pflückerinnen. Im Hintergrund erstreckt sich ein unendlicher Horizont mit leicht gewellten Furchen, in denen dicht bei dicht die Kaffeebäume stehen. Das Bild bildet einerseits einen Kontrast zur männlichgrauen Welt der Hamburger Händler und repräsentiert damit die romantischen Fantasien über den »Ursprung«. Andererseits verweist es – wenn auch in idealisierender Form – auf den untrennbaren Zusammenhang zwischen den verschiedenen Welten des Kaffees. Insofern illustriert dieses Fenster auf seine eigene Weise das Anliegen des vorliegenden Bandes. Dieser geht zurück auf eine Konferenz, die im Dezember 2012 an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) von den Herausgebern organisiert wurde. Seit einigen Jahren gab es an der FZH ein Forschungsprojekt unter dem Titel »Kaffee-Welten«, das aus drei Einzelprojekten bestand, die sich mit verschiedenen Aspekten der historischen Bedeutung des Kaffees für die Seehäfen Hamburg und Bremen befassten. Dabei ging es um den Rohkaffeehandel vor Ort, um die über den Kaffee vermittelten transnationalen Bezie-
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Einleitung
hungen zu Lateinamerika und um die Bedeutung des Kaffees als Genussmittel in den beiden deutschen Nachkriegsstaaten.1 Ausgangspunkt des Projektes und der anschließenden Tagung war Hamburg. Die FZH hat seit ihrer Entstehung ein besonderes Profil entwickelt, indem sie den Lokal- und Regionalbezug aus der landesgeschichtlichen Ecke herausgeholt, methodisch vertieft und für die Erforschung der großen Themen des 20. Jahrhunderts genutzt hat. Beim Kaffee bot es sich an, von der hanseatischen Tradition des Kaffeegeschäftes auszugehen und das Thema auf die Zusammenhänge und Widersprüche seines weltweiten Zusammenhangs auszuweiten. Dieses »glokale« Vorgehen (Stuart Hall) ist besonders für die Entwicklung neuer Perspektiven geeignet, da es die Durchführung von Lokal- und Regionalstudien von vornherein mit den Fragestellungen und dem Erkenntnisinteresse des übergeordneten Zusammenhangs verbindet. So öffnet sich ein Arbeitsfeld, das die unterschiedlichsten Themen entlang der »Warenkette« des Kaffees umfasst, von den Produktionsländern mit ihren Arbeitssystemen über den Handel bis zur Weiterverarbeitung und zum Konsum. Die Verknüpfung dieser Themen ist ein produktives Feld für innovative Thesenbildung und die Entwicklung neuer, globaler Perspektiven. Während der Arbeit im Feld der historischen Kaffeestudien wurden wir auf eine Reihe von Projekten aufmerksam, die sich ebenfalls mit einzelnen Aspekten der Kaffeegeschichte beschäftigten. Auch diese Untersuchungen ordnen sich in globale Zusammenhänge ein und hatten, bei aller Spezialisierung, den Bezug zu den verschiedenen Gliedern der Warenkette Kaffee immer im Blick. Während ein großer Teil der älteren Literatur den Schwerpunkt auf die Frühe Neuzeit und das frühe 19. Jahrhundert gelegt hatte, also auf die Anfänge der Kaffeepräsenz in Europa und Übersee, konzentrierten sich die neueren Arbeiten auf das späte 19. und ganze 20. Jahrhundert. So entstand die Idee, diese Einzelforschungen miteinander ins Gespräch zu bringen. Deshalb luden wir auch Kollegen ein, die keine Kaffeespezialisten waren, dafür aber aus der weiteren Perspektive ihres Feldes konzeptionelle Überlegungen einbringen und zugleich Wege aufzeigen konnten, wie die zum Teil hoch spezialisierte Forschung zu diesem Produkt an die großen Trends und Paradigmen der Geschichtswissenschaft anschlussfähig gemacht werden können. Die einzelnen Forschungsprojekte unterschieden wir im Tagungsprogramm nach den drei großen Stufen der Kaffee-Warenkette: Produktion, Handel und 1 Zwei dieser Projekte liegen inzwischen als Monografien vor. Christiane Berth: Biografien und Netzwerke im Kaffeehandel zwischen Deutschland und Zentralamerika 1920 – 1959, Hamburg 2014; Monika Sigmund: Genuss als Politikum. Kaffeekonsum in beiden deutschen Staaten, München 2014. Das Projekt von Dorothee Wierling befindet sich in der Niederschrift. Die Forschungsprojekte wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur finanziert.
Einleitung
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Konsum. Es spricht für die vorgestellten Projekte, dass sie sich fast alle dieser engen Zuteilung entzogen, weil gerade die vielfältigen Bezüge zwischen den drei Bereichen von allen erkannt und reflektiert wurden, oft gerade den Kern ihrer Fragestellung ausmachten. Wir haben dieser Einsicht beim Aufbau des Konferenzbandes Rechnung getragen und eine lose chronologische Struktur gewählt. Zusammen stellen die Beiträge den ersten Versuch dar, ausgehend von einem nationalen Kontext die vielschichtige Geschichte des globalen Produkts und zentralen Konsumguts »Kaffee« zu untersuchen. Dies ist bisher auch für keinen der wichtigen Kaffeehandelsplätze wie London, New York oder Le Havre geschehen. Der deutsche Kontext weist dabei einige Besonderheiten auf: erstens, die Existenz des Hamburger Vereins der am Caffeehandel betheiligten Firmen mit seinem eigenen Werte- und Ehrenkodex, zweitens die starke Ausprägung des deutschen Plantagenbesitzes in Lateinamerika, die ein konfliktreiches Erbe hinterließ, drittens die Folgen zweier verlorener Weltkriege und schließlich, unter den Bedingungen des Kalten Krieges, die unterschiedliche Ausprägung von Konsum und Handelsnetzwerken in beiden deutschen Nachkriegsstaaten, zwischen denen dennoch eine enge Beziehung existierte. Außerdem zeigte der Nationalstaat über den gesamten Zeitraum hinweg eine starke Präsenz im Kaffeegeschäft, allein schon wegen der hohen Kaffeesteuer, einer »Luxussteuer«, die sich nach der Aufhebung der Kaffeeverbote des 18. Jahrhunderts etablieren konnte. Geografisch reichen die vorgestellten Projekte jedoch weit über den deutschen Kontext hinaus, wobei es immer um die wechselseitigen Bezüge zwischen Regionen einerseits und den verschiedenen Stufen der Warenkette andererseits geht.2 Der folgende Band erhebt nicht den Anspruch, einen chronologischen oder thematischen Gesamtüberblick über die Geschichte des Kaffees im 19. und 20. Jahrhundert zu liefern und das gesamte Spektrum des Themas in den Blick zu nehmen. Die aktuellen Forschungen verfolgen aber alle sozial-, wirtschaftsund kulturgeschichtliche Fragen nach der Geschichte der Globalisierung, exemplifiziert durch den Blick auf das globale Produkt Kaffee und die konkreten Akteure in seinem Feld. Immer schon hat das schwarze Getränk das Interesse und die Fantasie seiner Genießer angeregt, und immer wieder sind über der dampfenden Tasse »Heeßen« (wie die Sachsen sagen) die Bilder von seinem orientalischen Ursprung, von der tropischen Plantage, von stolzen Schiffen auf dem Atlantik und vom 2 Einige der Projekte, neben den in Anm. 1 genannten, liegen als Buchpublikationen vor: Julia Laura Rischbieter : Mikro-Ökonomie der Globalisierung. Kaffee, Kaufleute und Konsumenten im Kaiserreich 1870 – 1914. Köln u. a. 2011; Christof Dejung: Die Fäden des globalen Marktes. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des Welthandels am Beispiel der Handelsfirma Gebrüder Volkart 1851 – 1999. Köln u. a. 2013. Die Dissertationen von Ruben Quaas und Nicole PetrickFelber sind eingereicht und erfolgreich verteidigt worden.
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Einleitung
gediegenen Geschäft der Händler und Röster am Hamburger Kai aufgetaucht. In diesen Vorstellungen haben sich historische Fakten, exotische Träume und freihändige Projektionen vermischt, und in den ersten Geschichten des Kaffees, zum Beispiel in Heinrich Eduard Jacobs Sage und Siegeszug des Kaffees,3 halten sich entsprechend viele Legenden und Kuriositäten. Das Themenspektrum solcher historischen Sachbücher reicht von der oft idealisierten Rolle der Kaffeehäuser, den legendären Kaffeeverboten des 18. Jahrhunderts, dem teils bizarren Aufstieg der Kaffeeersatzprodukte bis hin zur Folklore des »Kaffeesatzlesens«.4 Wolfgang Schivelbuschs originelle Essays zur Kulturgeschichte der Genussmittel verwiesen auf den Eigensinn der Konsumenten und die dadurch ausgelöste kulturelle und soziale Dynamik zu einer Zeit, als der Kaffee noch ein Luxusprodukt im engeren Sinne war.5 Auf diese Anfänge folgten dann fundierte wissenschaftliche Studien zur Früh- und Konsumgeschichte des Kaffees, unter denen die Arbeiten von Peter Albrecht besonders hervorzuheben sind.6 Seit Längerem gibt es auch eine wirtschaftsgeschichtliche Beschäftigung mit dem Kaffeegeschäft, wofür das Kompendium von William H. Ukers als früher Klassiker gilt.7 Ukers schreibt aus der Perspektive der Börse und Großröster in New York, gibt allerdings ebenfalls eine große Zahl ungeprüfter Geschichten und Legenden rund um den Kaffee weiter. In dieses Genre ist auch das viel gelesene Buch Uncommon Grounds von Mark Pendergrast einzuordnen.8 Pendergrast stellt den US-Konsum darin zwar angemessen in den internationalen Kontext und zeigt sich findig beim Aufspüren neuer Trends (z. B. der kalifornischen specialty revolution) und weltweiter Zusammenhänge (z. B. Spannungen USABrasilien wegen des Kaffeepreises), ohne seine Thesen jedoch immer ausreichend zu belegen. 3 Heinrich Eduard Jacob: Sage und Siegeszug des Kaffees, Berlin 1934; überarbeitete Neuauflage 1952; letzte Neuauflage unter dem Titel: Kaffee. Die Biographie eines weltwirtschaftlichen Stoffes (mit einer Fortschreibung der Kaffeewelt von den 1950er Jahren bis heute von Jens Soentgen), München 2006. 4 Z. B. Ulla Heise: Kaffee und Kaffeehaus. Eine Kulturgeschichte, Leipzig 1987 und weitere Auflagen. 5 Wolfgang Schivelbusch: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel, Frankfurt/Main 1980 u. weitere Auflagen. 6 S. z. B. Peter Albrecht: Kaffeetrinken. Dem Bürger zur Ehr’ – dem Armen zur Schand, in: Das Volk als Objekt obrigkeitlichen Handelns, Rudolf Vierhaus (Hg.), Tübingen 1992, S. 57 – 100; zuletzt: Zeitungen und Journale in Braunschweiger Kaffeehäusern, von den Anfängen bis heute, in Claire Gantet, Flemming Schock (Hg.): Zeitschriften, Journalismus und gelehrte Kommunikation im 18. Jahrhundert, Bremen 2014, S. 113 – 134. Andere Beispiele sind: Antoinette Schnyder-v.Waldkirch: Wie Europa den Kaffee entdeckte. Reiseberichte der Barockzeit als Quellen zur Geschichte des Kaffees, Zürich 1988 und Daniela U. Ball (Hg.): Kaffee im Spiegel europäischer Trinksitten, Zürich 1991. 7 William H. Ukers: All About Coffee, zuerst New York 1922. 8 Mark Pendergrast: Uncommon Grounds. The history of coffee and how it transformed our world, New York 1999 u. weitere Aufl.
Einleitung
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Der transatlantische Handel, ausgehend von Hamburg und Bremen, ist lange unter der Überschrift »Deutschland und die Welt« thematisiert worden. Viele dieser Arbeiten behandeln den Kaffeehandel im Kontext der Geschichte deutscher Auswanderer nach Lateinamerika und konzentrieren sich darauf, das spektakuläre Wachstum des Kaffeehandels seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, die Geografie der Überseeverbindungen und die Leistungen seiner Pioniergestalten zu untersuchen. Neben einer nationalistischen Grundtendenz ist es vielen dieser Studien gemeinsam, dass sie die äußerst widersprüchlichen Konsequenzen für die Produktionsländer ausblenden und die Steigerung der Kaffeeausfuhren kritiklos in ein Modernisierungsnarrativ einfügen, das das Wachstum des Welthandels als Fundament des zivilisatorischen »Fortschritts« begreift.9 Auch ein großer Teil der Literatur über die soziale Figur des hanseatischen Überseekaufmanns folgt diesem Muster.10 Rein empirisch, aber wohltuend sachlich heben sich davon die Studien zum Kaffeeweltmarkt in der älteren Tradition der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ab.11 Trotz der Eigenschaft des Kaffees als globaler Ware blieb die Geschichtsschreibung zu Handel und Produktion lange auf den nationalstaatlichen Kontext beschränkt. Dies zeigt sich exemplarisch an der umfangreichen Kaffeeliteratur in Lateinamerika, wo der Kaffee entweder als wichtiger Faktor für die gesellschaftliche Modernisierung oder als Synonym für die Abhängigkeit vom Weltmarkt im Sinne der Dependenztheorie galt. Hier stand lange die Diskussion der höchst unterschiedlichen Arbeits- und Produktionssysteme im Vordergrund, die naturgemäß jeweils regional beziehungsweise national geprägt sind. Doch in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre wurden die nationalstaatlich verengten und theoriegebundenen Interpretationen erstmals aufgebrochen. Eine internationale Konferenz in Kolumbien auf Initiative von William Roseberry und Kollegen 9 Hendrik Dane: Die wirtschaftlichen Beziehungen Deutschlands zu Mexiko und Mittelamerika im 19. Jahrhundert (Forschungen zur internationalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1), Köln u. a. 1971; Regina Wagner : Los Alemanes en Guatemala 1828 – 1944, 2. verb. u. Erw. Aufl., Guatemala-Stadt 1996; Hartmut Fröschle (Hg.): Die Deutschen in Lateinamerika. Schicksal und Leistung, Tübingen 1979. 10 Bei einem Teil dieser Literatur handelt es sich um Auftragsarbeiten, wie z. B. Dirk Bavendamm: Wagnis Westafrika. 150 Jahre C. Woermann. Die Geschichte eines Hamburger Handelshauses 1837 – 1987, Hamburg 1987; Johannes Gerhardt: Albert Ballin, Hamburg 2010. Als Klassiker einer kultur- und sozialgeschichtlichen Darstellung gilt Percy Ernst Schramm: Hamburg, Deutschland und die Welt. Leistung und Grenzen hanseatischen Bürgertums in der Zeit zwischen Napoleon I. und Bismarck. Ein Kapitel deutscher Geschichte, Hamburg, zuerst München 1943, neu aufgelegt Hamburg 1952. Eng an das Selbstverständnis des Hamburger Kaffee-Vereins angelehnt bleibt Ursula Becker : KaffeeKonzentration. Zur Entwicklung und Organisation des hanseatischen Kaffeehandels, Stuttgart 2002. 11 Z. B. Hans Roth: Die Übererzeugung in der Welthandelsware Kaffee im Zeitraum von 1790 bis 1929, Jena 1929.
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Einleitung
brachte 1988 eine große Gruppe von Sozialhistorikern zusammen, die vor allem am vergleichenden Studium der nationalen Erfahrungen interessiert war. Die daraus hervorgegangene Publikation zeigt, dass von hier aus eine weiterführende Diskussion der sozialen und politischen Folgen des Kaffees für Lateinamerika in Gang kommen konnte.12 Im Aufsatz von Verena Stolcke wurde an dieser Stelle auch erstmals die große Bedeutung der Frauen- und Familienarbeit im Kaffee herausgearbeitet.13 Die Einbeziehung der externen Einflüsse (Handel, Transport, Konsum in den Metropolen) kam hier schon in den Blick, wurde aber noch als ein Arbeitsgebiet der Zukunft und Forschungsdesiderat formuliert. Ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur globalgeschichtlichen Diskussion des Kaffees ist der 2003 entstandene Sammelband zur Global Coffee Economy.14 Die Autoren erweitern darin nicht nur ihre chronologische und geografische Perspektive, sondern widmen ihre Beiträge auch übergeordneten Themen wie dem Verhältnis von Kaffee und globaler Entwicklung, der Integration des Weltkaffeemarktes und den historischen Voraussetzungen der Warenketten des Kaffees. Auf der Basis der neusten Forschungsergebnisse zu einzelnen Regionen und Sachthemen gelingt es, ein Bild von den immensen Möglichkeiten einer kritischen Produktgeschichte und ihrem globalen Zusammenhang zu zeichnen. Der vorliegende Band zur neueren Geschichte der »Kaffee-Welten« versucht, einen eigenen Beitrag zur Kaffeegeschichte im 20. Jahrhundert zu leisten. Als eine besondere Aufgabe sahen wir es an, die soziale Realität der Kaffeeerzeugung mit dem Blick des Importhändlers auf den »Ursprung« des Produktes in Übersee zu verknüpfen, ohne sich auf jenen kommerziellen Tunnelblick zu beschränken, der das Interesse schnell auf die verfügbare Menge, die Qualität und den Preis der Ware reduziert. Das Verhältnis der Konsumenten zur Handelsware ist ein eigenes, konstitutives Thema des globalen Produktzusammenhangs. Die Notwendigkeit der Arbeit auf diesem Gebiet wird in den oben angeführten Sammelbänden zwar postuliert, aber der Konsum spielt darin doch eher eine marginale Rolle. Der Sozialanthropologe Sidney Mintz hat in seiner bahnbrechenden Studie über den Zucker erstmals vorgeführt, welche kulturellen, sozialen und politischen Dimensionen sich damit der historischen Forschung eröffnen: »Wenn wir das Verhältnis von Ware und Mensch begreifen, entdecken wir unsere 12 William Roseberry, Lowell Gudmundson, Mario Samper Kutschbach (Hg.): Coffee, Society, and Power in Latin America (Johns Hopkins studies in Atlantic history and culture). Baltimore 1995; vgl. bes. Introduction, S. 1 – 37, 385 – 410; Steven C. Topik: Coffee anyone? Recent research on Latin American coffee societies, in: Hispanic American Historical Review 80 (2000), S. 225 – 265. 13 Verena Stolcke, The Labors of Coffee in Latin America: The Hidden Charm of Family Labor and Self-Provisioning, in: Roseberry, Gudmundson, Samper (Anm. 12), S. 65 – 93. 14 William Gervase Clarence-Smith, Steven Topik (Hg.): The global coffee economy in Africa, Asia, and Latin America, 1500 – 1989, Cambridge 2003.
Einleitung
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Geschichte […] neu.«15 Das Auffälligste in seiner Arbeit ist die vorwärtstreibende Koexistenz der Sklavenproduktion auf der Zuckerplantage mit der Entwicklung einer modernen Arbeits- und Konsumlogik in der Metropole England. Wenn wir die »Warenkette« des Kaffees betrachten und seinen Weg über den Atlantik verfolgen, tun sich nicht minder widersprüchliche Wirklichkeiten auf.16 Das Bild des internationalen Zusammenhangs lässt sich dabei nicht einfach aus verschiedenen Elementen zu einem Ganzen zusammensetzen, sondern wird immer komplexer, je näher man hinschaut. Obwohl die ungleiche Macht- und Profitverteilung entlang des Weges vom Kleinbauern bis zum hanseatischen Importhändler offensichtlich ist, lässt sich der Zusammenhang der verschiedenen »Kaffeewelten« nur teilweise durch die kausale Logik des Kaffeegeschäftes herstellen. Viele Kaffeewelten existieren auch »nebeneinander« (dem Produkt werden beispielsweise je nach Kontext völlig unterschiedliche Bedeutungen zugesprochen) oder sogar »gegeneinander«, z. B. in der erbitterten Konkurrenz unterschiedlicher Produkte, Produktionssysteme und Anbauregionen.17 Manche Autoren, die den Weg von Produkten verfolgen, sprechen metaphorisch von der »Biografie« von Waren, Pflanzen oder auch Tieren. Diese Sichtweise hat den Vorteil, dynamische und individualisierende Phänomene in den Blick zu nehmen. Am häufigsten wird heute die Verknüpfung über Meere und Grenzen hinweg als »Warenkette« bezeichnet.18 Dieser Zugang konzentriert sich auf den meist zentralen Bereich der kommerziellen Verwertung. Andere Autoren analysieren die »Netzwerke«, die den Kontext von Produktion, Handel und Konsum über große Entfernungen begleiten und organisieren. Dieser Begriff bringt neben den kommerziellen Interessen auch die Aspekte der Kommunikation, der Verregelung und der sozialen Beziehungsarbeit ins Spiel. Netzwerke werden von Menschen gebildet. Sie stellen ein Kommunikationssystem dar, in das sowohl berufliches Handeln als auch persönliche Schicksale und Lebensentwürfe eingehen.19 Die Zeiten, zu denen zwischen den »harten« Fakten einer Handelsware
15 Sidney Mintz: Die süße Macht, Frankfurt/Main 1987, S. 250. 16 Zu diesem Thema und weiterführenden Überlegungen s. den Beitrag von Steven Topik in diesem Band. 17 Ein früher Versuch, die widersprüchlichen Kaffee-Welten in Übersee und Deutschland in ihrem Zusammenhang zu erfassen, ist: Volker Wünderich: Die Kolonialware Kaffee von der Erzeugung in Guatemala bis zum Verbrauch in Deutschland: Aus der transatlantischen Biographie eines »produktiven« Genußmittels, 1860 – 1895, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (1994), Bd. I, S. 37 – 60. 18 S. dazu den Beitrag von Steven Topik in diesem Band (mit Literaturangaben); grundlegend jetzt Steven C. Topik, Allen Wells: Warenketten in einer globalen Wirtschaft, in: Emily S. Rosenberg (Hg.): Geschichte der Welt, 1870 – 1945. Weltmärkte und Weltkriege, München 2012, S. 589 – 814. 19 Berthold Unfried, Jürgen Mittag, Marcel van der Linden (Hg.): Transnationale Netzwerke im 20. Jahrhundert. Historische Erkundungen zu Ideen und Praktiken, Individuen und Orga-
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Einleitung
(also ihrer ökonomischen Bedeutung) und den »weichen« Themen ihrer kulturellen und sozialgeschichtlichen Implikationen streng unterschieden wurde, sind jedenfalls vorbei. Produktstudien im weltweiten Zusammenhang sind heute ein etabliertes Arbeitsgebiet von Historikern, Anthropologen und Soziologen geworden. Die konkrete Untersuchung einer Ware erschließt neue Fragestellungen und Perspektiven auf die sozialen Welten und internationalen Verknüpfungen, in denen sie ihre Bedeutung gewinnt. Der vorliegende Band konzentriert sich beispielhaft auf Deutschland als Standort für Kaffeeveredelung und Konsum unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts. Andererseits geht es auch darum, mithilfe konkreter Zugriffe auf die Wirklichkeit die bloßen Synthesen und Abstraktionen der Globalgeschichte hinter sich zu lassen. Mit der Thematisierung verschiedener Kaffeewelten war darum auch der Anspruch verbunden, neue Personen und Gruppen hervortreten zu lassen und die Perspektiven ihres Handelns auf der Grundlage historisch-konkreter Situationen zu analysieren. Dabei ist das Spektrum der KaffeeAkteure, die im Fortgang der Untersuchungen ins Blickfeld geraten, zahlreicher und vielfältiger geworden. In diesem Band treten uns die indigenen Erntearbeiter in Mexiko und die kleinbäuerlichen Produzenten in Costa Rica als Akteure im Feld der Kaffeegeschichte entgegen. Auf der anderen Seite des Atlantiks werden nicht nur die Hamburger Importhändler mit ihren Geschäftspraktiken und ihrem spezifischen Standesbewusstsein untersucht. Wir können den Aufstieg der Röstkonzerne zu mächtigen Akteuren im deutschen Markt nach der Wende zum 20. Jahrhundert erleben. Die Aktivisten des Fair Trade und ihre Unterstützer haben sich die Umgestaltung des weltweiten Kaffeegeschäftes seit den 1980er-Jahren sogar ins Programm geschrieben. Eine andere Gruppe sind die Konsumenten mit ihren Bedürfnissen, ihren Träumen und ihren Enttäuschungen. Ihre Macht hat große politische Bedeutung, was aber unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts nur an der Bruchstelle von Mangelsituationen (z. B. im Dritten Reich und in der DDR) offen zutage tritt.20 Die im folgenden Überblick vorgestellten Einzelstudien zeichnen sich dadurch aus, dass sie in vielfältiger Weise aufeinander bezogen sind. Der einführende Text von Steven Topik stellt dabei den weiteren geografischen und längeren zeitlichen Kontext ebenso wie die wissenschaftlichen Zugänge dar, in die die empirischen Studien eingeordnet werden können. Er fragt zunächst nach den Ursachen für das enorm gestiegene Interesse an Produktbiografien und nisationen (ITH-Tagungsberichte 42), Leipzig 2008; Hartmut Berghoff (Hg.): Unternehmerische Netzwerke. Eine historische Organisationsform mit Zukunft? Stuttgart 2007. 20 Programmatisch zur Bedeutung der Konsumgeschichte für die Geschichte des Kaffees vergl. Volker Wünderich: Die Globalisierung in der Kaffeetasse. Vom Reiz der Kolonialwaren und der Konsumgeschichte, in: F. Grumblies, A.Weise (Hg.): Unterdrückung und Emanzipation in der Weltgeschichte, Hannover 2014, S. 9 – 25.
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stellt fest, dass gerade die neue Qualität in der Globalisierung des Warenverkehrs die Entfremdung des Konsumenten von den Ursprüngen seiner Nahrung bewusst macht und einen entsprechenden Aufklärungsbedarf nach sich zieht. Er betont, dass der Kaffee in der globalgeschichtlichen Dynamik als »Akteur« zentrale Bedeutung beanspruchen kann. Topik nimmt auch zur aktuellen Diskussion über die globalen Warenketten Stellung. Gerade die Geschichte des Kaffees zeigt seiner Meinung nach, dass der Weltmarkt keine festgefügte Instanz ist und dass die Definition des »Wertes« einer Ware nicht ökonomisch vorgegeben ist, sondern vom jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext beeinflusst wird. Die Geschichte des Kaffees folgt darum auch nicht einer reinen Fortschritts- und Wachstumslogik, sondern muss aus dem Zusammenwirken der historischen Kräfte erschlossen und als prinzipiell offen verstanden werden.
Neue Akteure und der Wandel des globalen Kaffeehandels Julia Laura Rischbieter argumentiert in ihrem Beitrag, die neue Gruppe der Röster habe mit der Einführung des maschinellen Röstens auf Veränderungen am globalen Kaffeemarkt reagiert. Der massenhafte Import brasilianischer Kaffees, die eine geringe Qualität und einen bis dahin ungewohnten Geschmack aufwiesen, stellte die Groß- und Kleinhändler vor Probleme. Die maschinelle Röstung ermöglichte standardisierte Kaffeemischungen und bot so einen Ausweg aus der Krise. Zusätzlich waren die neuen Mischungen durch Markennamen für die Konsumenten klar identifizierbar. Ende des 19. Jahrhunderts entstanden deshalb zahlreiche neue Firmen, die den Konsumenten eine vielfältige »Kaffeewarenwelt« boten. Auch die Beiträge von Dorothee Wierling und Christof Dejung beleuchten, wie der Wandel des globalen Kaffeehandels den Auf- und Abstieg zentraler Akteure, der Rohkaffee-Importeure, bewirkte. Dorothee Wierling interpretiert die Gruppe der Hamburger Kaffeehändler samt ihres exklusiven Vereins der am Caffeehandel betheiligten Firmen im Weber’schen Sinne als einen Stand. Dazu gehörte ein strenger Ehren- und Wertekodex, der das für den Kaffeehandel an der Terminbörse notwendige Vertrauen generierte. Weder Weltwirtschaftskrise noch Nationalsozialismus schafften es, dieses soziale Gefüge nachhaltig zu erschüttern. Der Auflösungsprozess setzte erst in den 1950er-Jahren ein, als eine neue Akteursgruppe ihren Aufstieg begann, die Christof Dejung am Beispiel der schweizerischen Firma Volkart genauer charakterisiert: die multinationalen Firmen. Er zeigt, wie die Firma Volkart zunächst in Brasilien in das Kaffeegeschäft einstieg und ihre Netzwerke über die Kooperation mit lokalen Kaffeefirmen nach Zentralamerika ausweitete. Seit 1962 regulierte das Internationale Kaffeeabkommen den Handel durch feste Exportquoten für die Produktions-
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länder. Trotzdem gelang es den multinationalen Firmen, Spielräume im Internationalen Kaffeeabkommen auszunutzen, was ihre wachsende ökonomische Bedeutung zeigt. In den 1980er-Jahren sorgte ein beispielloser Konzentrationsprozess dafür, dass sich die Zahl der Akteure im weltweiten Kaffeehandel auf nur noch sieben dominante Firmen reduzierte.
Kaffeeplantagen, Arbeit und Bilderwelten Im Laufe seiner Geschichte entstanden um das globale Produkt Kaffee vielfältige Deutungen, die häufig mit dem Kaffeeanbau verknüpft waren. Justus Fenner hinterfragt in seinem Beitrag das weitverbreitete Bild der gewaltsamen Ausbeutung von Wanderarbeitern auf den großen Plantagen im Süden Mexikos. Gestützt auf neue Quellenfunde in den Archiven chiapanekischer Kaffeefincas interpretiert er das System der Arbeiteranwerbung (enganche) neu, wobei er die Handlungsspielräume der Wanderarbeiter und ihre Motivation für die Arbeit auf den Fincas hervorhebt. Damit liefert er eine Erklärung für das lange Fortbestehen dieser Arbeitsform, die in Chiapas bis in die 1980er-Jahre existierte. Gleichzeitig erklärt er, welche politischen Begleitumstände dafür sorgten, dass das vereinfachte Bild eines auf bloßer Gewalt beruhenden Arbeitsmarktes so lange überlebte. Ganz andere Arbeitsverhältnisse und Bilderwelten existierten dagegen in Costa Rica, wie Volker Wünderich in seinem Aufsatz über die Weltwirtschaftskrise zeigt. Neben einigen großen Plantagen gab es in Costa Rica zahlreiche kleinere und mittelgroße fincas, die von Kleinbauern bewirtschaftet wurden. Die Macht der Kaffeeeliten gründete auf dem Besitz der Weiterverarbeitungsanlagen, der sogenannten beneficios. Die Weltwirtschaftskrise provozierte einen sozialen Konflikt zwischen Kleinbauern und Beneficio-Besitzern, der schließlich durch staatliche Intervention entschärft werden konnte. Wie Wünderich zeigt, stilisierten costaricanische Politiker den Kaffee dabei als Allheilmittel und »Rettungsanker«, dessen besondere Qualität dem Land aus der Krise verhelfen könne. In diesem Zuge erreichte die Folklorisierung des Kaffees und der Kleinbauern einen neuen Höhepunkt, was sich auch in den Bilderwelten der zeitgenössischen Kunst niederschlug. Der Kaffee und die Diskurse über nationale Identität sind deshalb in Costa Rica wie in keinem anderen zentralamerikanischen Land miteinander verschmolzen. Wieder anders stellte sich die Situation der Kleinbauern in Guatemala dar, die in den 1970er-Jahren ins Augenmerk der frühen Fair-Trade-Bewegung gerieten, wie Ruben Quaas in seinem Artikel nachweist. Kaffee eignete sich in besonderer Weise für ethische Wertzuschreibungen, da sich die Zusammenhänge zum Welthandel und den Lebensbedingungen der Kaffee produzierenden Bauern
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einfach herstellen ließen. Deshalb erwies sich die Einführung der ersten FairTrade-Kaffees als großer Erfolg für die noch junge Bewegung. Ende der 1970erJahre geriet der Aspekt der politischen Solidarität ins Zentrum, der Kaffeetrinken als Akt der Unterstützung für die nicaraguanische Revolution und andere Befreiungsbewegungen etablierte. Die einstmals ausgebeuteten Kleinbauern erschienen nun als politische Subjekte, die Kaffeeplantagen als Orte des antiimperialistischen Kampfes. Auch in der DDR spielte die politische Solidarität eine wichtige Rolle, blieb aber für die SED-Regierung »reine Rhetorik«, wie Anne Dietrich in ihrer Analyse der Handelsbeziehungen zwischen der DDR und Äthiopien schlussfolgert.
Kaffee als »Politikum ersten Ranges« – Konsum, Außenhandel und Geschmacksnerven Als ein »Politikum ersten Ranges« bezeichneten guatemaltekische Politiker 1955 die Auseinandersetzungen über den großen deutschen Landbesitz in Guatemala, ein Erbe der einst engen deutsch-guatemaltekischen Handelsbeziehungen. Deutsche Einwanderer hatten seit Mitte des 19. Jahrhunderts Kaffeeplantagen in Guatemala erworben, auf denen sie mehr als ein Drittel der guatemaltekischen Kaffeeernten produzierten. Wie Christiane Berth in ihrem Beitrag zeigt, provozierte die Enteignung der deutschen Vermögen im Zweiten Weltkrieg einen jahrelangen diplomatischen Konflikt, auf dessen Höhepunkt die Bundesrepublik ein Kaffeeembargo als politisches Druckmittel gegen Guatemala einsetzte. Die gewaschenen zentralamerikanischen Kaffees hatten für die Kaffeemischungen auf dem deutschen Markt eine hohe Bedeutung und wurden von den Konsumenten schmerzlich vermisst, wie damalige Berichte des Bundeswirtschaftsministeriums zeigen. Aufgrund des Devisenmangels zu Beginn der 1950er-Jahre blieb ihre Einfuhr jedoch bis 1955 strikt reglementiert. Auch nach der Liberalisierung schaffte es Guatemala wegen der politischen Auseinandersetzungen nicht, seine einstige Rolle auf dem deutschen Kaffeemarkt wiederzuerlangen. In einem Brief an das Zentralkomitee der SED bezeichnete ein Mitglied des Politbüros die Frage der Kaffeeversorgung 1977 ebenfalls als »Politikum ersten Ranges« und bezog sich dabei auf die Notwendigkeit, die Konsumversprechen gegenüber der DDR-Bevölkerung auch im Hinblick auf das »Volksgenussmittel« Kaffee zu gewährleisten. Dabei stand die DDR, wie Anne Dietrich schreibt, vor der besonderen Schwierigkeit, dass sie wenig Devisen zu bieten hatte und sich so mit Kaffees minderer Qualität begnügen musste. Die Strategie, Kaffee aus Äthiopien, Angola oder den Philippinen gegen DDR-Produkte einzutauschen,
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ging nur teilweise auf. Deshalb führte die Regierung 1977 eine neue Kaffeemischung ein, die zu fast 50 Prozent aus Surrogaten bestand. Die Bevölkerung reagierte empört, weshalb die Mischung als Ladenhüter in den Regalen liegen blieb. Wer konnte, deckte den eigenen Konsum immer stärker mit Westkaffees, was noch einmal die ostdeutsche Tendenz verstärkte, Misstrauen in die eigene Produktkultur zu zeigen.
»Echter Bohnenkaffee« und der Konsum von Ersatzkaffees Die Auseinandersetzungen über Kaffeequalität und verfügbare Mengen zogen sich durch weite Teile des 20. Jahrhunderts. Während und unmittelbar nach den beiden Weltkriegen konnten die deutschen Konsumenten nur auf Ersatzkaffees zurückgreifen, wobei der »echte Bohnenkaffee« jeweils schmerzlich vermisst wurde und seine Verfügbarkeit als Symbol für eine Rückkehr zur gesellschaftlicher Normalität und Wohlstand galt, wie Nicole Petrick-Felber in ihrem Aufsatz über die Kaffeeversorgung des Deutschen Reiches während des Zweiten Weltkrieges erläutert. Große Teile der Bevölkerung hatten keinen Zugang zu Bohnenkaffee, wobei das Regime nach besonderen Einschnitten oder feierlichen Anlässen jeweils größere Mengen aus seinen Depots freigab, um die Stimmung der Bevölkerung wieder zu heben. Der Beitrag von Bhaswati Bhattacharya wendet sich dem schnell wachsenden Kaffeemarkt in Indien zu, wobei sie sich ausdrücklich von der Dichotomie zwischen Kaffeeproduktionsländern einerseits und Kaffeekonsumländern andererseits löst. Sie zeigt, wie die indische Regierung seit den 1930er-Jahren bewusst auf den einheimischen Konsum des im Lande produzierten Kaffees setzte, um Krisen in der Preisentwicklung auf den Weltmärkten auffangen zu können. Dabei wird deutlich, wie der Kaffee in einem Land seinen Aufstieg nehmen konnte, das ansonsten ganz mit Tee assoziiert ist. Der Kaffeekonsum, anfangs nur ein Phänomen der Südstaaten, konnte durch die gezielte Förderung auch im Norden Fuß fassen, wobei die Kaffeehäuser als Orte der Sozialisation eine wichtige Rolle spielten. Ein interessanter Aspekt der indischen Konsumkultur ist es, dass Kaffeemischungen auch eine positive Konnotation erlangen konnten. Auf dem indischen Kaffeemarkt spielen Mischungen mit Zichorie bis heute eine wichtige Rolle und werden von den Konsumenten stark nachgefragt. Wir hoffen, dass die in diesem Band versammelten Einzelstudien als Anregungen dienen für weitere Forschung und für konzeptionelle Überlegungen, wie eine solche Produktgeschichte geschrieben werden kann. Die den Band abschließenden Kommentare von Jakob Vogel und Angelika Epple geben aus der Perspektive der Globalgeschichte beeziehungsweise der Wirtschaftsgeschichte wichtige Hinweise, wie die Geschichte des Kaffees durch ihre Einbindung in
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größere Fragestellungen weiterentwickelt werden kann. Dabei nimmt Jakob Vogel einen wissensgeschichtlichen Ansatz auf, der zeigt, wie in der Geschichte des Kaffees ebenso wie in anderen Produktgeschichten Fragen von Qualität ins Zentrum geraten. Qualitative Standards verbinden nicht nur alle Akteure entlang der Warenkette miteinander, sondern schaffen auch mit der sozialen Figur des Experten eine eigene Akteursgruppe. Angelika Epple stellt die Beiträge des Bandes in den Kontext aktueller globalgeschichtlicher Diskussionen. Dabei wird deutlich, dass sowohl die Trennung von Wirtschafts- und Kulturgeschichte, als auch die von strukurgeschichtlicher und akteurszentrierter Herangehensweise überwunden werden müssen (und können), um das volle Potenzial einer komplexen Globalgeschichte zu entfalten. Zum Schluss bleibt uns, den Personen und Institutionen zu danken, welche die Konferenz zur Geschichte des Kaffees und diesen Band ermöglicht haben. Monika Sigmund gab als Mitglied des Gesamtprojekts mit ihrer vergleichenden Arbeit über den Kaffeekonsum21 zahlreiche wichtige Anregungen, und wir bedauern sehr, dass sie aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage war, zur Konferenz selbst und zu diesem Band beizutragen. Ulrich Mücke, Jürgen Zimmerer (beide Universität Hamburg) und Peter Albrecht (Braunschweig) unterstützten uns als umsichtige Chairs, H¦ctor P¦rez Brignoli (Universidad de Costa Rica) und Roman Rossfeld (Universität Zürich) bereicherten die einzelnen Sektionen durch ausführliche und weiterführende Kommentare. Jakob Vogel (Centre d’histoire de Sciences Po, Paris) und Hannes Siegrist (Universität Leipzig) kommentierten die Tagung abschließend mit wichtigen Hinweisen zur Erweiterung der Kaffeegeschichte durch wirtschafts- und konsumgeschichtliche Fragestellungen. Der Fritz-Thyssen-Stiftung sind wir zu großem Dank für ihre großzügige Förderung unserer Konferenz verpflichtet. Der Forschungsstelle für Zeitgeschichte danken wir sehr für die finanzielle und organisatorische Unterstützung bei der Tagung und der Vorbereitung des vorliegenden Bandes sowie für die Übernahme des Druckkostenzuschusses. Das Buchmanuskript wurde umsichtig, zügig und zuverlässig von Isa Jacobi lektoriert, der wir abschließend ebenfalls unseren Dank aussprechen.22 Christiane Berth, Dorothee Wierling, Volker Wünderich
21 Vgl. Anm. 1. 22 Die Herausgeber haben sich bemüht, sämtliche Inhaber der Bildrechte ausfindig zu machen. Sollte dennoch eine Urheberrechtsverletzung bekannt werden, bitten wir um Mitteilung.
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Produktbiografien, Warenketten und Kaffeegeschichten
In den letzten Jahren ist die Zahl der Produktbiografien stark angestiegen.1 Sachbuchautoren, Historiker, Köche, Händler und Ärzte haben, unter anderem, über Bananen, Kakao, Sisal, Kohle, Kokain, Kabeljau, Mais, Baumwolle, Farbstoffe, Milch, Orangen, Opium, Kartoffeln, Reis, Gummi, Salz, Silber, Gewürze, Zucker, Tee und Tabak geschrieben. Woher stammt dieses Interesse an Produktals Lebensgeschichten? Dem neuen Trend verdanken wir zu einem guten Teil drei der wichtigsten und folgenreichsten Themen unserer Zeit: der zunehmenden Kommodifizierung, dem Wachstum multinationaler Konzerne und der Globalisierung. Je weiter entfernt der Ursprung unserer Konsumgüter liegt, desto mehr verlieren wir den Bezug zum nahe gelegenen Garten, zum Feld, zum Bauern und zum Bergmann. Wenn die Vorgänge des Anbaus, der Kultivierung, des Transports und der Vermarktung immer komplexer und unüberschaubarer werden, wenn wenige Großkonzerne den Markt weltweit bestimmen, dann entsteht der Wunsch nach Klarheit und Nähe: nach direkter Kommunikation, slow food und gesunden Lebensmitteln, lokalen Produkten, natürlicher Herstellung. Wir möchten hinter der anonymen und entfremdeten Beziehung zu den Gütern, die wir konsumieren, eine Vorstellung entwickeln von der natürlichen Umgebung, in der sie entstehen und den Menschen, die sie produzieren. Uns fasziniert die Herkunft, auch die abenteuerliche Geschichte der Dinge, die wir verzehren, die uns kleiden oder die uns erfreuen, und die dadurch Träger sozialer Bedeutung sind; wir sind besorgt um unsere eigene Gesundheit, wenn wir Lebensmittel vom anderen Ende der Welt verzehren, aber auch um die Gesundheit der Produzenten aus den ärmsten Ländern der Welt. Produktbiografien verdanken ihre Entstehung auch der erhöhten Bedeutung des Konsumenten, durch die Individuen als Käufer und weniger als Produzenten definiert werden. Viele Wissenschaftler gehen davon aus, dass wir auch durch 1 Bruce Robbins: Commodity Histories, in: Proceedings of the Modern Language Association (März 2005), S. 454 – 463.
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unsere Konsumakte der Wertschöpfungskette weiteren Wert zufügen und beziehen sich damit kritisch auf die Werttheorie von Karl Marx und David Ricardo, die Arbeit als wichtigste Quelle der Wertschöpfung ansah. Die Werbebranche, Konsumenten und sogar Sozialwissenschaftler gehen davon aus, dass unsere soziale Position oder unser politisches Bewusstsein weniger auf unserem Bezug zu Produktionsmitteln beruht, sondern dass wir sind, was wir kaufen.2 Demnach wären unser gesellschaftlicher Status, unser Geschlecht, unsere ethnische Zugehörigkeit und unser soziales Ansehen ausschließlich durch unseren Lebensstil repräsentiert, durch die Dinge die wir besitzen oder konsumieren.3 Bei dieser Annahme handelt es sich um eine Abwandlung des Feuerbach’schen Diktums: »der Mensch ist, was er isst«, indem er sich selbst die Bestandteile seines Körpers zuführt. Die neuere Verwendung dieser Aussage verweist dagegen auf die Bedeutung von Kaufhandlungen und Konsum als Grundlage und Zeichen für individuelle und kollektive Identität. Für viele ergibt sich daraus der Wunsch, mehr über den Ursprung der Waren zu wissen, deren soziale Bedeutung so immens zugenommen hat. Das neue Interesse an Waren-Geschichten ist auch aus dem Wunsch entstanden, die riesige Maschinerie des Welthandels, der Marktkräfte von Angebot und Nachfrage, globalem Transport und Produktentwicklungen zu verstehen, auf der unsere weltweite, sich ständig verändernde Wirtschaft gründet. Die eher materialistischen Analysen der Warenökonomie und der mit ihnen verbundenen, vielfältigen Institutionen sind aufgrund ihres gewinnbringenden Nutzens von Interesse. Solche Studien untersuchen allgemeinere nationale und internationale Systeme und unterstellen, dass »Wert« gleich Tauschwert ist, also den Preis bezeichnet, für den eine Ware gehandelt werden kann, im Gegensatz zu dem Gebrauchswert des Produkts. Dabei werden Märkte oft als die entscheidenden Vermittler zwischen Preis und Wert gesehen, die fast unabhängig vom individuellen Akteur in idealer Weise funktionieren. Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftshistoriker unterstellen dabei einen Homo oeconomicus als dominanten Typus, der, fast unabhängig von kulturellen, geschlechtsspezifischen, ethnischen oder nationalen Unterschieden, allein vom Bedürfnis nach materiellem Gewinn und Profitmaximierung angetrieben wird. Aber eine ge2 Naomi Klein: No Logo, New York 2002; Peter Gibbon, Stefano Ponte: Trading Down. Africa, Value Chains, and the Global Economy, Philadelphia 2005. 3 Beispiele für diese Sicht finden sich bei John Brewer, Roy Porter (Hg.): Consumption and the World of Goods, London 1992; Lizabeth Cohen: A Consumer’s Republic. The Politics of Mass consumption in Postwar America, New York 2003; Victoria Grazia: Irresistible Empire. America’s Advance through Twentieth-Century Europe, Cambridge (Mass.) 2005; Kristin L. Hoganson: Consumers’ imperium. The Global Production of American Domesticity, 1865 – 1920, Chapel Hill 2007; Lawrence Glickman (Hg.): Consumer Society in American History : A Reader, Ithaca 1999; John Brewer, Frank Trentmann (Hg.): Consuming cultures, Global Perspectives. Historical Trajectories, Transnational Exchanges, Oxford 2006.
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nauere Betrachtung und sorgfältige Analyse, wie sie auch in diesem Band vorgenommen werden, erweisen Märkte als formbare, instabile Institutionen, die von Akteuren geprägt werden, die in ihrem Handeln ökonomische, soziale, politische und manchmal auch religiöse Ziele zugleich verfolgen. In den vergangenen 500 Jahren sind viele der begehrtesten Waren zunehmend über die Meere zwischen tropischen und gemäßigten Klimagebieten »gereist«, weil sie in den kalten Regionen der Erde nicht gedeihen können. Revolutionäre Umwälzungen im Bereich von Transport und Kommunikation haben diese verschiedenen Ökosysteme miteinander vernetzt und dadurch einerseits eine zunehmende geografische Spezialisierung, andererseits ein immer dichteres Netz von Austauschbeziehungen über riesige Distanzen hinweg geschaffen. Die Ausbreitung und Intensivierung des internationalen Handels verstehen heißt zugleich, die Dynamik der Globalisierung erklären zu können. Diese verschiedenen Beweggründe für das Interesse an Waren und ihrer Geschichte haben eines gemeinsam: alle sind anthropozentrisch. Sie nehmen die biblische Offenbarung ernst, dass der existentielle Sinn aller Dinge, tot oder lebendig, darin besteht, menschliche Bedürfnisse zu erfüllen, Menschen zu nutzen oder zu erfreuen. Einige Waren-Geschichten haben diese Voraussetzung allerdings infrage gestellt. Wie Michael Pollan in seinem Buch: The Botany of Desire. A Plant’s-Eye View of the World4 herausgestellt hat, verfügen Pflanzen durchaus über eine eigene Logik, Taktik und Agenda, die sich nicht nur menschlicher Kontrolle entziehen, sondern selbst menschliches Handeln beeinflussen. Die Beweggründe für das Interesse an und die Beschäftigung mit WarenBiografien sind, so scheint es, so vielfältig wie die Autoren, die sie verfassen, die Leser, die sie konsumieren und die Waren, die in ihrem Mittelpunkt stehen, selbst. Es gibt keine einzige, monolithische Antwort auf die Frage nach dem wachsenden Interesse am tieferen Verständnis der Dinge, die wir anbauen, verkaufen, kaufen und verbrauchen. Mein eigenes Interesse am Studienobjekt Kaffee kann ich aus sehr persönlichen Umständen erklären: Meine Eltern, in Deutschland beziehungsweise Österreich geboren, tranken ständig Kaffee. Schon morgens wachte ich vom Kaffeegeruch auf. Aber ich begann erst, selbst Kaffee zu trinken, als ich zwölf Jahre alt war und meine Mutter mich und meinen Bruder nach Wien zu ihrer Mutter (meiner Großmutter) brachte, wo wir die nächsten sechs Monate in den Hinterzimmern ihres Caf¦s verbrachten. Obwohl ich immer noch keinen Kaffee trank, wurde ich mit der Welt, die um ihn kreiste, vertraut: wenn die Kunden am Kaffee nippten, eine Semmel dazu aßen, Canasta oder Billard spielten. Die Meisten stammten aus dem Dritten Bezirk in der Nähe des Stadtparks und waren 4 Michael Pollan: The Botany of Desire: A Plant’s-Eye View of the World, New York 2001.
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Stammkunden. Das Caf¦ Mozart war ihr Treffpunkt, das, was Howard Schultz, der Entwickler der Starbucks-Kette, später den »dritten« Ort neben Wohnung und Arbeitsplatz nennen würde. Als ich dann studierte, wurde Kaffee eine absolute Notwendigkeit, um morgens aufzuwachen und mich abends wachzuhalten. Er war meine Stimulanz, meine unverzichtbare, legale Droge. Nach meinem Studienabschluss entschied ich mich schließlich für eine Spezialisierung auf die Geschichte Brasiliens – das Land, das seit über 150 Jahre der größte Produzent von Rohkaffee ist. Seine Wirtschaft, Gesellschaft und sein Staatswesen beruhten auf den Einkünften aus dem Export von Kaffee. So war ich, unbewusst, dem Kaffee in seinen vier wichtigsten Erscheinungsformen begegnet: als häusliches Konsumgut, als Kommunikationsmittel, als Droge und als gewinnbringende Ware. Und ich hatte ihn in den drei wichtigsten Kaffeeregionen der Welt genossen: in den Vereinigten Staaten von Amerika, die seit anderthalb Jahrhunderten das führende Importland für Kaffee sind, in Westeuropa, das im 18. und 19. Jahrhundert den Kaffeekolonialismus geprägt hat und heute die größte Import- und Verarbeitungsregion für Kaffee darstellt, und schließlich in Brasilien, aus dem noch immer ein Drittel der Weltkaffeeproduktion stammt und das darüber hinaus als Konsumentenland an zweiter Stelle steht. Offensichtlich war ich dafür bestimmt, über Kaffee zu forschen und zu schreiben. Dabei stellt sich heraus, dass Kaffee die interessanteste Lebensgeschichte unter den Kolonialprodukten aufweist. Seine Reiseroute vom äthiopischen Hochland nach Jemen und in den Mittleren Osten hin zu seiner globalen Dominanz steht in enger Verbindung mit anderen Phänomen, die unsere Welt verändert haben. Kaffee ist das perfekte Produkt, um die vielfältigen Aspekte der Globalisierung über einen Zeitraum von 500 Jahren zu verstehen, eben weil es eine so zentrale internationale Rolle bei der Schaffung der Weltwirtschaft eingenommen hat. Jahrzehntelang war Kaffee – wertmäßig – das zweitwichtigste internationale Handelsgut; bis heute ist es das wichtigste agrarische Exportgut des globalen Südens. Da es nur in den Tropen angebaut werden kann und überwiegend in den Ländern der gemäßigten Klimazone konsumiert wird, verbindet Kaffee zwei komplementäre, wenn auch zutiefst verschiedene Welten miteinander. Deshalb hat auch die Konferenz, auf der der vorliegende Band beruht, beschlossen, Kaffee in unterschiedlichen historischen Phasen, an unterschiedlichen Orten der Welt und in unterschiedlichen Kontexten zu untersuchen. Kaffee ist auch ein besonders produktiver Untersuchungsgegenstand für die Frage nach der Sozialgeschichte von Objekten, weil er in so vielen unterschiedlichen Formen vorkommt.5 Um diese angemessen wahrzunehmen, bedarf 5 Arjun Appadurai (Hg.): The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986.
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es allerdings einiger Anstrengung und Expertise. Wenn ich die Studierenden meines Kurses »Weltgeschichte des Kaffees«6 nach ihrer Definition von Kaffee frage, bekomme ich ein Dutzend unterschiedlicher Antworten. Für die meisten ist die Antwort ganz einfach: Kaffee ist ein heißes, koffeinhaltiges Getränk. Vielen fehlt die Neugier über die Wege, die der Kaffee genommen hat, bevor er durch ihre Kehle fließt. Selbst Akteure der Kaffeewirtschaft haben gelegentlich eine eindimensionale Vorstellung von dem Produkt, das sie verkaufen. Vor einigen Jahren verbrachte ich eine aufschlussreiche Woche in Heredia, Costa Rica, bei einer Konferenz, die Pflanzer, Arbeiter, Vertreter von Kooperativen, Exporteure, Caf¦betreiber und einige Wissenschaftler versammelte. Wir waren zusammengekommen, um einen Weg aus der Kaffeekrise zu finden, die die Branche zu Beginn des 21. Jahrhunderts erschütterte. Wie kann man, angesichts der extrem niedrigen Kaffeepreise auf dem Weltmarkt, dennoch gewinnbringend vorgehen? Es bestand Einigkeit darüber, dass die Pflanzer die Qualität ihrer Ernten verbessern müssten und dafür auf den Weltkaffeemärkten in Hamburg, New York und London belohnt werden würden. Man ging davon aus, dass die ausländischen Kaffeekonsumenten sich der Herkunft des Kaffees, den sie tranken, bewusst wären und dass dies dem hart arbeitenden, fleißigen, Qualitätskaffee produzierenden Kaffeebauern zu Gute kommen würde. Auf dem Rückflug nach Los Angeles musste ich in Chicagos O’Hare-Flughafen umsteigen. Da kam ich an einem Stand von Dunkin’ Donuts vorbei, deren Kaffee zu den beliebtesten in den USA zählt. Also fragte ich den Barista: »Wo kommt der Kaffee her?« Er schaute mich erstaunt an: »Häh?« »Wo kommt Euer Kaffee her?« Schließlich glaubte er, meine Frage verstanden zu haben, und antwortete indigniert: »Natürlich von Dunkin’ Donuts!« Für den Angestellten der US-amerikanischen Kette kam der Kaffee, mit dem er seinen Lebensunterhalt verdiente, einfach von seiner Firma. Im Herbst 2012 machte ich in Hong Kong die gleiche Erfahrung. In einer der wenigen Caf¦s, der Toast Box in Kowloon, fragte ich den Barista, der sein Handwerk offensichtlich verstand, nach dem Ursprung seines Kaffees. »Singapur«, antwortete er ohne Zögern, weil sich dort die Zentrale der Firma befindet, der die Toast-Box-Kette gehört. Er reagierte erstaunt, als ich ihm sagte, dass in Singapur kein Kaffee angebaut wird. Die Welt des Kaffees besteht aus so vielen Spezialgebieten und Orten, dass die verschiedenen Akteure, vor allem bevor Spezialitätenhändler und Fairtrade-Aktivisten den Ursprung ihrer Kaffeebohnen in den Mittelpunkt stellten, keine Vorstellung von den größeren Zusammenhängen hatten. Für sie ist Kaffee nur das Produkt, mit dem sie ihr Geld verdienen. In Wirklichkeit, das zeigt auch der vorliegende Band, umfasst die Welt des 6 Gehalten an der University of California, Irvine.
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Kaffees eine große Zahl sehr unterschiedlicher Akteure, und Kaffee spielt dabei nicht nur die Rolle einer Ware. Kaffee ist eine Pflanze (ein Baum oder Strauch), eine Frucht, ein Samen, ein Getränk, eine Droge, Nahrungsmittel, Genussmittel – und eine Ware. Kaffee eröffnet uns das Verständnis der Natur ebenso wie der Landwirtschaft, er lässt uns Arbeits- und Geschlechterbeziehungen besser verstehen, ebenso wie ethnische und andere kollektive Identitäten, und nicht zuletzt den Lauf der Weltgeschichte. Philosophen, Dichter und Revolutionäre ebenso wie ganz normale Menschen haben den Kaffee mit den dynamischsten Transformationen des letzten Jahrtausends verknüpft: der Geburt des Kapitalismus, der Modernisierung, der wissenschaftlichen Revolution und zugleich dem Kolonialismus, der Sklaverei, sozialen Revolutionen und Kriegen – eine eindrucksvolle Liste, wenn man bedenkt, dass Bananen normalerweise nur mit Diktaturen oder Babynahrung, Schokolade mit Süßigkeiten und vielleicht Ausbeutung afrikanischer Arbeiter, Zucker mit kolonialer Sklaverei (und erst seit einem Jahrhundert mit einem Industrieprodukt und Additiv der Nahrungsmittelindustrie) verbunden wird, während Tee mit fernöstlicher Küche, Kolonialismus und bürgerlicher Behaglichkeit in Zusammenhang gebracht wird. In den 500 Jahren, in denen Coffea arabica seinen Ursprung im afrikanischen Hochland von Äthiopien verlassen hat und sich über den Mittleren Osten, den Indischen Ozean, Europa, Amerika und schließlich Asien ausbreitete, erwies sich der Beitrag des Kaffees zur Globalisierung und zur Modernisierung als durchaus unterschiedlich und manchmal widersprüchlich. Die Geschichte des Kaffees weist eine enorme Bandbreite von Bedeutungen, Nutzungen, Widerständen und Symbolen auf. Nicht jeder Akteur in der Kaffeewelt verhält sich in derselben Weise zu diesem Produkt, wie manche Propheten der Globalisierung uns glauben machen wollen. Auch die Kaffeewelt ist kein monolithischer Block.7 Teilweise beruht diese scheinbare Unübersichtlichkeit auf den verschiedenen Zugängen, Methoden, politischen Zielen, geografischen Perspektiven und historischen Epochen, welche die verschiedenen Forscher zu ihrem Fokus machten. Kaufleute, Röster, Caf¦hausbetreiber, Schriftsteller, Politiker, Historiker, Ökonomen, Anthropologen und Politikwissenschaftler haben den Kaffee durch ihre jeweiligen Linsen für ihre jeweiligen Zwecke betrachtet. Das gesamte Spektrum der Kaffeeliteratur erinnert an die sechs blinden Inder aus John Godfrey Saxe’s Gedicht: »Die Blinden und der Elefant«, die alle den Elefanten ganz unterschiedlich beschreiben, je nachdem ob sie den Rüssel, den Stoßzahn oder ein Bein ertasten. »Sechs Blinde fern in Industan, nun stritten lang und laut/ob dem, 7 Thomas L. Friedman: The World is Flat. A Brief History of the Twenty-First Century, New York 2005; Nayan Chanda: Bound Together. How Traders, Preachers, Adventurers, and Warriors Shaped Globalization, New Haven 2007.
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was jeder nur für sich als Elefant geschaut – /doch hatten, wiewohl teils im Recht, sie alle nur auf Sand gebaut.«8 Die Geschichte passt gut, nicht weil Kaffeespezialisten tatsächlich aus Blindheit zu Fehlurteilen kommen, sondern weil sie allzu oft aneinander vorbeireden oder die größeren Kontexte und Beweggründe dessen, was sie erforschen, außer Acht lassen. Es fördert aber die Erkenntnis, wenn man sich klar macht, dass ein Fuß, ein Stoßzahn oder der Rüssel nur Teil eines Elefanten sind; denn die einzelnen Teile gewinnen ihre eigentliche Bedeutung und Funktion nur im Rahmen ihres Zusammenwirkens. Und dazu brauchen wir, so mein Argument, die Perspektive auf die ganze, die weltgeschichtliche Dimension der gesamten Warenkette des Kaffees. Wir müssen den Zoom ausfahren und auf einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit auf einen bestimmten Aspekt richten, wir müssen den Zoom aber auch wieder zurückfahren und die größere Welt und die weiteren Kontexte der Kaffeegeschichte betrachten. Kaffee war eine Pflanze, eine Droge, ein Sakrament, eine Ware, ein Mittel gegen Armut und Unterentwicklung ebenso wie ein Katalysator für einen neuen sozialen Raum, das Caf¦. Deshalb ist er zu Recht unter Verwendung verschiedener methodischer Instrumente betrachtet worden, mit Ansätzen der Kultur-, Sozial-, Wirtschaftsund Geistesgeschichte ebenso wie mit ökologischen, geografischen, demografischen Fragestellungen und unter Gesichtspunkten von Vermarktung und Profit. Dabei hat das Produkt Kaffee bei mehreren zentralen historiografischen Debatten eine Rolle gespielt – Imperialismus, Nationalstaatsbildung, Entwicklung, Aufklärung, Sozialrevolutionen und Entstehung einer Weltwirtschaft –, weil bei deren Interpretationen Kaffee einen wichtigen Aspekt darstellte. Er war keineswegs ein unschuldiger Beobachter, kein bloßes Requisit auf der historischen Bühne, wie die Figur des Zelig bei Woody Allen oder des Forrest Gump in den gleichnamigen Spielfilmen. In beiden Fällen wurden die jeweiligen Protagonisten lediglich in historische Szenen eingefügt, an denen sie tatsächlich beteiligt gewesen waren. Die Filme verschaffen ihnen eine Präsenz ohne eigentliche Rolle. Kaffee dagegen war sehr viel mehr als ein zufälliges Requisit. Er hat die Dynamik der Weltgeschichte mit angetrieben, als Stimulanz für Industriearbeiter und Bildungsbürger, als koloniales und neokoloniales Produkt des globalen Südens, als Symbol nationaler Identität (man denke an den irish coffee, italienischen cappuccino, Wiener kleinen Braunen, brasilianischen cafezinho oder kolumbianischen tinto) und er spielt heute eine zentrale Rolle in der 8 Übersetzung ins Deutsche von Kurt Bangert: www.kurtbangert.de. Im Original: »And so these men of Hindustan dispute loud and long//each in his own opinion exceeding stiff and strong// though each was partly in the right – and all were in the wrong.« Das Gedicht beruht auf einer Geschichte, die sowohl im Jainismus, Sufismus, Buddhismus und Hinduismus als Gleichnis benutzt wird. Ihre genaue Herkunft ist unbekannt.
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Auseinandersetzung zwischen einigen der großen Firmen wie Nestl¦ und Neumann,9 die Freihandel und Profite gegen NGO’s behaupten, die ihrerseits bäuerliche Genossenschaften und Fairtrade unterstützen. Die oft gegensätzlichen Bewertungen durch Studien über die sozialen, medizinischen und historischen Eigenschaften von Coffea arabica, und seine Bedeutung für Umwelt und Entwicklung ähneln gelegentlich Janus, dem römischen Gott der Tore und Türen, der auch für Anfang und Ende zuständig war, da er nach vorn und zurück schaute. Seine Statue war an der Grenze zwischen der Stadt Rom und ihrem Umland errichtet worden und repräsentierte somit zugleich den Übergang zwischen Zivilisation und Barbarei, zwischen Stadt und Land; und weil sein Abbild auch an einem Tor zum Forum Romanum stand, durch das die römischen Legionäre in den Krieg zogen und aus ihm zurückkehrten, verwies es auch auf den Dualismus von Krieg und Frieden. Diese vielfältigen Gegensätzlichkeiten lassen Janus auch als ein passendes Bild für den Kaffee erscheinen und für die zahlreichen Debatten, die sich an seinen Gegensätzen und Widersprüchen entzünden. Das Zentrum des Kaffeekonsums, die westeuropäischen Kaffeehäuser, bilden dabei den dialektischen Gegensatz zu den Kaffeeplantagen Lateinamerikas. In den Londoner, Hamburger und Pariser Caf¦s, in denen Kaufleute, Intellektuelle und Studenten ihren Kaffee tranken, repräsentierte das Getränk Modernität, Exotik und Internationalität. Das Koffein machte nüchtern und ermöglichte so den rationalen Diskurs. Heinrich Eduard Jacob nannte Kaffee deshalb den »Anti-Bacchus« und Wolfgang Schivelbusch sprach vom »großen Ernüchterer«. Das Kaffeehaus war die Gegenwelt zur lauten und wilden Kneipe.10 Brian Cowan hat das Kaffeehaus als Ort des »virtuosen« Intellektuellen der Aufklärung charakterisiert. Einige Caf¦s waren zugleich Museen, Theater und Zirkusarenen.11 Das europäische Kaffeehaus gilt als penny university, wo Politik, Wissenschaft und Welthandel diskutiert wurden. Hier entstanden die ersten Zeitungen und die ersten Börsen. Das Caf¦ stellte den wichtigsten Ort bürgerlicher Öffentlichkeit dar, woraus in England und Frankreich politische Parteien und Fraktionen entstanden. Die Caf¦s im Pariser Quartier Latin waren Katalysatoren der Französischen Revolution und ihrer Forderung nach Bürgerrechten und dem Ende des Feudalismus. Kaffee spielte auch eine bedeutende Rolle am Beginn der Konsumgesellschaft und, wie Werner Sombart betonte, für die Ausbreitung des Kapitalismus. Nicht 9 Neumann-Kaffee-Gruppe (NKG), Hamburg. 10 Wolfgang Schivelbusch: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft: eine Geschichte der Genußmittel, München 1980; Heinrich Eduard Jacob: Sage und Siegeszug des Kaffees: die Biographie eines weltwirtschaftlichen Stoffes, Hamburg 1934; Ulla Heise: Kaffee und Kaffeehaus. Eine Kulturgeschichte, Leipzig, Hildesheim 1987. 11 Brian Cowan: The Social Life of Coffee. The Emergence of the British Coffeehouse, New Haven 2005.
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zuletzt war Kaffee auch zentral für die Zurschaustellung bürgerlicher Respektabilität.12 Sein Genuss war nicht nur verbunden mit Erholung, Selbstdarstellung und Besinnung, sondern Kaffee bildete auch den Kraftstoff für das, was Jan de Vries die industrious, die »fleißige« Revolution genannt hat, den Beginn einer bürgerlichen Geschäftigkeit, die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts mit der Einführung von Kaffee, Tee und Schokolade nach Westeuropa verbunden war. Auf den Punkt gebracht: Kaffee bedeutete in Westeuropa Innovation, Weltzugewandtheit, Vernunft, Tüchtigkeit, Kapitalismus und Modernisierung. Schauen wir uns aber die andere Seite des Janusgesichts an, wo der Kaffee südlich von Jemen, in der Karibik oder in Brasilien wächst, dann erscheinen die sozialen Konsequenzen als gegensätzlich zu denen in den europäischen Konsumländern. Im agrarischen globalen Süden ist der Kaffee nicht so sehr das Ergebnis menschlicher Erfindungsgabe und internationalen Abenteuergeistes, sondern vielmehr das Geschenk einer großzügigen Natur. Reichhaltiger Boden, strahlende Sonne und eine Fülle von Regen waren die Grundlage für das »Rohmaterial« des Kaffees. Wie der Agrarwissenschaftler Franz Dafert im Jahre 1890 abschließend über die Fazendas des brasilianischen Kaffeestaats S¼o Paulo urteilte, wo er mehrere Jahre Pflanzer beraten hatte: »Die Natur macht alles selbst, während der Mensch ruht.«13 Angesichts der Tatsache, dass auf den brasilianischen Kaffeeplantagen afrikanische Sklaven extrem ausgebeutet wurden, entlarvt Daferts Erklärung nicht nur seine Überzeugung von dem scharfen geografischen Gegensatz zwischen Preußen und Brasilien, sondern auch seine Verachtung für die Sklaven, deren Arbeit der Rede nicht wert zu sein schien. Bedauerlicherweise waren Daferts Ansichten typisch für den europäischen Rassismus, der mit der Beschleunigung der Industriellen Revolution im Verlaufe des 19. Jahrhunderts stärker wurde. Die Kaffeebauern im globalen Süden galten in diesem Kontext als ländlich-rückständige, traditionsverhaftete, hinterwäldlerische Arbeiter, die von feudalistischen Großgrundbesitzern beherrscht wurden, während die Konsumenten in Nordamerika und Europa den Typus des modernen, tüchtigen Unternehmers und des innovativen, demokratisch gesinnten Großstadtbürgers repräsentierten. Die Geschichtsschreibung des Kaffees hatte immer eine eurozentristische 12 Woodruff D. Smith: Consumption and the Making of Respectability ; 1600 – 1800, New York 2002; Steve Pincus: »Coffee Polititians does Create«: Coffee Houses and Restoration Political Culture, in: Journal of Modern History 67 (Dez. 1995) S. 807 – 834; Jan de Vries: The Industrious Revolution. Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present, Cambridge 2008; William Gervase Clarence-Smith: Cocoa and Chocolate 1765 – 1914, London 2000; Marcy Norton: Sacred Gifts, Profane Pleasures. A History of Tobacco and Chocolate in the Atlantic World, Ithaca, NY, 2008; Roy Moxham: Tea: Addiction, Exploitation and Empire, New York 2002. 13 Franz Dafert: Über die gegenwärtige Lage des Kaffeebaus in Brasilien, Amsterdam 1898.
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Tendenz, bei der davon ausgegangen wurde, dass der Wert des »Roh«-Produkts in seiner Veredelung bestand, die allein in Europa stattfand. Dabei war allerdings nie ganz Europa gemeint. Den Caf¦s und Kolonien Englands und Frankreichs wurde immer mehr Aufmerksamkeit gewidmet als Deutschland und Österreich als ebenfalls sehr wichtigen Zentren der Kaffeekultur. Zum Teil hängt das damit zusammen, dass die Briten und Franzosen durch ihre überseeischen Kolonien früher an den Kaffee herankamen als andere Europäer. Aber dieser Fokus ist auch das Ergebnis eines historiografischen Trends. Die Deutschen und Österreicher haben sich weit weniger für den historischen Ort des Kaffees interessiert. Die Tatsache, dass die im vorliegenden Band versammelten Aufsätze sich auf die deutsche Kaffeeindustrie oder auf deren Beziehungen zu den überseeischen Gebieten des Kaffeeanbaus konzentrieren, verweist auf das erst kürzlich gestiegene Interesse am Ort Deutschland in der Geschichte des Kaffees. Nicht zuletzt zeigen diese Forschungen die wachsende Bedeutung der Geschichte der Globalisierung, die unser Verständnis der unterschiedlichen weltweiten Interaktionen fördert. Und sie gehen nicht von der Annahme aus, dass Innovationen immer in Europa begannen. Einen guten Zugriff auf die Analyse komplementärer Teilgeschichten des Kaffees und den historischen Wandel dieser Bezüge stellt das Konzept der historischen commodity chain, der Geschichte der Warenkette dar. Die Anwendung des commodity-chain-Ansatzes auf die 500 Jahre alte Geschichte des Kaffees erfordert allerdings erhebliche Veränderungen des ursprünglich von den Soziologen Terence K. Hopkins und Immanuel Wallerstein entwickelten Konzepts.14 Die soziologische Literatur hat sich überwiegend auf die Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere auf die der letzten 30 Jahre konzentriert, in denen die entsprechenden Institutionen des Weltmarkts, Marken, Regierungskontrollmechanismen und Unternehmenskulturen schon voll ausgebildet waren. Aber viele Aufsätze in dem vorliegenden Band untersuchen Prozesse der Herausbildung von Märkten in der Vergangenheit. Wir müssen deshalb Konzepte wie »Produktion«, »Konsum« und »Werbung« problematisieren, indem wir davon ausgehen, dass sie sich historisch veränderten und geografische und kulturelle Unterschiede aufwiesen. Wir müssen uns auch mit den Unklarheiten des Warenbegriffs auseinandersetzen. Die Definitionen von Ricardo oder Marx, wonach eine Ware ein Produkt ist, das zum Zweck des Gewinns getauscht wird, sind inzwischen von Überlegungen überholt worden, denen zufolge Waren Rohmaterial darstellen, 14 Terence K. Hopkins, Immanuel Wallerstein: Commodity Cains: Construct and Research, in Gary Gereffi, Miguel Korzeniewicz (Hg.): Commodity Chains and Global Capitalism, Westport, CT, 1994; Jennifer Bair : Frontiers of Commodity Chain Research, Stanford 2009, bietet einen sehr guten Überblick über den Stand der Debatte und die daran beteiligten Akteure der Weltwirtschaft an.
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unspezifische Produktmengen. Der jüngst von Gary Gereffi gemachte Definitionsvorschlag der value chains versucht Waren eher als eine dynamische und ihre Form verändernde Kategorie zu verstehen, im Gegensatz zu einer festen, permanent identischen Kategorie, wobei er agrarische Erzeugnisse überwiegend vernachlässigt. Wir sollten auch nicht länger eine teleologische Entwicklung hin zum »Gesetz des einheitlichen Preises« unterstellen, während doch tatsächlich die Aufteilung des Marktes, Ausbreitung, Aufwertung und Differenzierung, insbesondere durch verschiedene Handelsmarken, die wichtigsten Quellen für Profit und Dynamik in der Weltwirtschaft waren und sind. In der Kaffeeforschung wird deshalb inzwischen ein Begriff von Wert-Kette verwendet, der zwischen der materiellen Qualität, der symbolischen Qualität und der in-person service quality, also der mit dem Konsum einer Ware, hier Kaffee, verbundenen Servicequalität, zum Beispiel die Zubereitung und persönliche Bedienung, unterscheiden.15 Obwohl es auf der Hand zu liegen scheint: Um die Geschichte der Warenkette angemessen zu analysieren, müssen wir zunächst genau untersuchen, in welchem Ausmaß Kaffee den Charakter einer (oder mehrerer) Waren annahm und wie sich dieser Prozess vollzog. Das Wesen der Kaffee-Warenkette kann nur im Kontext von Produktionsmethoden, Transportwesen und Verarbeitungstechniken sowie Werbung und Konsumpräferenzen verstanden werden, so wie auch die Kommunikationswege entlang der Warenkette, die Zuverlässigkeit von verfügbaren Informationen und die Qualitätsstandards und ihre Überprüfung entscheidend sind. Die Funktionen, die dabei von Kaufleuten, staatlichen Stellen und der jeweiligen Information selbst eingenommen wurden, entwickelten sich dabei in Reaktion auf die Entwicklung des Handels selbst. Im Zuge dieses Wandels wurde die Kaffee-Warenkette mit der Zeit immer komplexer und unübersichtlicher. Ursprünglich – als der Kaffee erstmals vermarktet wurde – war die für den Handel notwendige Information lokal vorhanden und wurde von den an den jeweiligen Stellen der Warenkette ihre spezifische Arbeit ausführenden Akteuren – Bauern, Aufkäufer, Transporteure, Verarbeiter, Fernkaufleute, Großund Einzelhändler in Caf¦s oder Kolonialwarenläden – kontrolliert. Im weiteren Verlauf waren solche Informationen dezentraler vorhanden, wurden standardisiert und homogenisiert; aber gegenläufige Entwicklungen, insbesondere der zunehmende Trend hin zu Handelsmarken und geschützten Warenzeichen führten zu Abgrenzungen zwischen den verschiedenen Akteuren, einer steigenden Unübersichtlichkeit des Marktes und ließen gleichzeitig sowohl die Preise als auch die Profite steigen. Die 500 Jahre alte Geschichte des Kaffees weist viele allgemeine Elemente 15 Benoit Daviron, Stefano Ponte: The Coffee Paradox. Global Markets, Commodity Trade and the elusive Promise of Development, London 2005, S. xvii, 43 ff.
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Steven Topik
tropischer Warenketten auf,16 unterscheidet sich andererseits aber auch von ihnen: Beim Kaffee geht es zum Beispiel um die Unterscheidung und Bewertung unterschiedlicher Geschmacksrichtungen; Kaffee ist weniger leicht verderblich als manche andere tropische Frucht; sein Koffeingehalt gibt ihm den Charakter einer Stimulanz; und nicht zuletzt existiert eine schon lang anhaltende »Partnerschaft« zwischen Kaffee und dem ihn konsumierenden Menschen. In vielen Gesellschaften ist der Kaffee eine wichtige Komponente ethnischer, religiöser oder nationaler Identitäten geworden, ein Tatbestand, der seinen symbolischen Wert erhöht. Insofern ist der Kaffee eine »Sache«, durch die hindurch soziales Leben fließt und in die dadurch weit mehr eingeschrieben wird als bloßer Tauschwert.17 Bei unseren Kaffeestudien müssen wir uns auch vor dem Tunnelblick hüten, durch den wir die Akteure ausschließlich in Kaffeekontexten wahrnehmen. Denn die Teilnehmer an den verschiedenen Gliedern der Kaffeewarenkette sind zugleich in größeren Produktionssystemen involviert, in sozialen Netzwerken, Handelskreisläufe und Märkten. Viele Kaffeebauern ernten auch andere Früchte und halten gelegentlich Vieh; viele verteilen ihre Zeit auf andere ökonomische Aktivitäten auch außerhalb der Landwirtschaft. Kaffee nimmt also unterschiedliche Rollen in ihren Überlebensstrategien ein. Kaffeepflanzer, -verarbeiter und -händler handeln ihre jeweiligen Interessen miteinander und mit anderen sozioökonomischen und politischen Akteuren aus, sowohl lokal als auch in einem größeren Kontext. Wir müssen also, wenn wir den Kaffee verstehen wollen, die Gesamtheit dessen, was Mario Samper den »Kaffee-Komplex« nennt, berücksichtigen.18 Schließlich sollte das Konzept der commodity chain auch in Betracht ziehen, was Albert O. Hirschman linkages genannt hat, Multiplikationseffekte für das Wirtschaftssystem und Nationenbildung im Allgemeinen.19 Die Gestalt, die die Weltkaffeewirtschaft heute angenommen hat, war weder unausweichlich noch vorhersehbar, als vor über 500 Jahren der Kaffee aus Äthiopien den Jemen erreichte und dabei erstmals zur Ware wurde – auch nicht 200 Jahre später, als die Europäer in die Welt des Kaffees eintraten. Die ersten Kaffeebauern und Kaffeetrinker konnten nicht ahnen, dass der Samen des 16 John Talbot: The Comparative Advantages of Tropical Commodity Chain Analysis, in: Jennifer Bair (Hg.): Frontiers of Commodity Chain Research, Stanford 2009. 17 Arjun Appadurai: Introduction: Commodities and the Politics of Value, in ders.: The Social Life of Things, Cambridge 1986. 18 Mario Samper : The Historical Construction of Quality and Competitiveness: A Preliminary Discussion of Coffee Commodity Chains, in: William Clarence-Smith, Steven Topik (Hg.): The Global Coffee Economy in Africa, Asia and Latin America, 1500 – 1989, New York 2003, S. 120 – 153, Zitat S. 122. 19 Albert O. Hirschman: Essays in Trespassing. Economics to Politics and Beyond, New York 1981.
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Coffea-arabica-Baums einmal eine der wertvollsten, weltweit gehandelten Waren der Geschichte sein, und für Bauern und/oder Konsumenten auf jedem Kontinent der Erde Bedeutung erlangen würde. Mithilfe der WarenkettenAnalyse können wir die Beziehungen aufdecken, die zwischen Menschen entstehen, die einander sowohl geografisch als sozial fern sind. Sie ermöglicht uns ein tiefes Verständnis der Verbindungen zwischen diesen Menschen, die nicht nur auf verschiedenen Kontinenten in unterschiedlichen Lebensumständen und Kulturen leben, sondern auch in gegensätzlichen Wirtschaftssystemen. Die Analyse der Warenketten ermöglicht uns, die verschiedenen Teile des KaffeeElefanten als Zusammenhang zu begreifen, ebenso wie der doppelköpfige Janus eine Einheit bildet. Und auch in Zukunft wird die Geschichte des Kaffees unvorhersehbar, und damit faszinierend bleiben.
Julia Laura Rischbieter
Röster: die Geburt eines neuen Wirtschaftszweiges. Globaler Wettbewerb und lokale Konsumentenwünsche im * Deutschen Kaiserreich
Wollte man im rheinischen Viersen in den Jahren um 1870 einen Bohnenkaffee trinken, benötigte man als Konsument nicht nur eine Reihe von Haushaltsgeräten, sondern auch Wissen über das Produkt und seine spezielle Zubereitung. Nach dem Kauf von ein paar grünen Kernen, der Kaffeekirsche, im Krämerladen oder beim Hausierer musste man die Bohnen in der Pfanne selbst rösten. Dies erforderte großes Fingerspitzengefühl. Zum einen verbrannten die feuchten Kerne sehr schnell, was zu einem unangenehmen Geruch und einem bitteren Geschmack des Getränks führte. Zum anderen blieben bei zu schwacher Röstung die Bohnen hingegen innen roh, ließen sich kaum mahlen und hatten kein Aroma. Nachdem die Viersener Hausfrau das aufwendige und komplizierte Röstverfahren bewältigt hatte, stand das Mahlen der Bohnen noch aus. Damals war der Besitz einer Kaffeemühle keineswegs selbstverständlich.1 Nur 20 Jahre später konnte dieselbe Hausfrau ihren bereits gerösteten und gemahlenen Kaffee in einem Kaffeespezialgeschäft am Ort kaufen oder ihn per Katalog anfordern. Um 1890 existierten reichsweit ganz auf das Produkt Kaffee konzentrierte Unternehmen, die ihren Kunden Mischungen von gebrannten und gemahlenen Bohnen in unterschiedlichsten Geschmacksrichtungen und Preislagen anboten. Mittels technischer und betriebswirtschaftlicher Innovationen schufen diese Unternehmen aus dem Rohstoff grüne Kaffeebohne ein breites Warenangebot, das durch verschiedene Verkaufs- und Vertriebsformen differenzielle Käuferschichten anlocken konnte. Binnen weniger Jahre war in Deutschland eine neue Branche entstanden, die sich im Vergleich zu anderen Zweigen der Ernährungsindustrie durch ihre überdurchschnittlichen Wachstumszahlen auszeichnete. * Der Aufsatz beruht in Teilen auf umfassend überarbeiteten Abschnitten meines Buches, ergänzt um neu erschienene Literatur sowie bisher nicht verwendete Archivalien. Vgl. Julia Laura Rischbieter : Mikro-Ökonomie der Globalisierung. Kaffee, Kaufleute und Konsumenten im Kaiserreich 1870 – 1914, Köln, Weimar, Wien 2011. 1 Vgl. Bernd Wedemeyer : Coffee de Martinique und Kayser Thee. Archäologisch-volkskundliche Untersuchungen am Hausrat Göttinger Bürger im 18. Jahrhundert, Göttingen 1989.
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Der kometenhafte Aufstieg der Kaffeebranche im Deutschen Kaiserreich wird in der Literatur immer wieder en passant erwähnt. Studien, die diese Entwicklung genauer untersuchen, liegen bislang nicht vor. Dies mag einerseits daran liegen, dass sich die Wirtschaftsgeschichte vor allem mit Industrieunternehmen beschäftigt hat. Historikerinnen und Historiker untersuchten in den vergangenen Jahrzehnten insbesondere die Geschichte des Konsums. Dass die Geschichte von Unternehmen eng mit veränderten Verhaltensweisen der Konsumenten des ausgehenden 19. Jahrhunderts verknüpft war und vice versa, wird dabei häufig übersehen, wie auch unterschätzt wird, dass dieses Wechselverhältnis keineswegs an nationalstaatlichen Grenzen haltmachte. Marktbeziehungen verbanden die Unternehmen und ihre Angestellten eng mit den Produzenten von Rohstoffen sowie mit den Käufern ihrer Produkte – seien es Zwischenhändler, Ladeninhaber oder Konsumenten. Der neue Wirtschaftszweig Bohnenkaffeebranche steht damit beispielhaft für die gesamtgesellschaftliche Tendenz, alltägliche Handlungen zunehmend auf marktwirtschaftliche Prinzipien auszurichten. Zugleich orientierten sich die Verhaltensweisen der Marktakteure vermehrt an weltwirtschaftlichen Prozessen, die nun ebenso in ihre Entscheidungen einflossen wie lokale, regionale und nationale Entwicklungen.2 Die Motive und Strategien des Groß- und Kleinhandels der Kaffeebranche als Aktivitäten, mit denen die Akteure versuchten, ihre Position in der globalen Wertschöpfungskette zu sichern und auszubauen, werden im Folgenden untersucht. Die Summe dieser Aktivitäten und ihre Resultate trugen zur Entstehung einer modernen Marktgesellschaft als Teil einer integrierten Weltwirtschaft bei.3
Die Vogelperspektive: Zahlen zur Kaffeebranche im Kaiserreich Im Deutschen Kaiserreich waren die Unternehmen, die Bohnenkaffee verarbeiteten und verkauften, sehr unterschiedlich organisiert. Einige von ihnen konzentrierten sich auf die Veredelung der grünen Bohnen (Verlesen, Mischen, Reinigen, Rösten und Glasieren) andere auf den Vertrieb des Endprodukts 2 Damit ist nicht gemeint, dass Akteure rational handeln oder über alle Informationen verfügen, wenn sie ihre Entscheidungen treffen. Nimmt man differenzielle sozioökonomische Positionen sowie die Kontingenz und den Kontext historischer Entwicklungen ernst, wird es unmöglich, von anthropologischen Konstanten auszugehen, wenn Marktbeziehungen im historischen Wandel analysiert werden. 3 Marktwirtschaft wird hier im Sinne Polanyis als eine Gesellschaft verstanden, »deren Institutionen den Erfordernissen des Marktmechanismus unterworfen sind«. Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/Main 1978, S. 244.
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(Business-to-Business oder an die Konsumenten). Gleichzeitig integrierten viele Kleinhändler4 Geschäftsfelder des Großhandels in ihre Unternehmen. Aus diesem Grund kann die Kaffeebranche nicht idealtypisch in produzierende und handelnde Unternehmen unterteilt werden. Weil sie dasselbe Herstellungsverfahren und den gleichen Ausgangsstoff (Rohkaffee) verwendeten sowie ähnliche Produkte (Röstkaffees) herstellten, erscheint die Bezeichnung Branche angemessen, auch wenn sich die Vertriebsweisen im Einzelnen stark unterschieden. Einen Überblick über die Entwicklung der Kaffeebranche als Wirtschaftszweig geben die Gewerbezählungen des Kaiserlichen Statistischen Amtes. Diese zeitgenössischen Daten sind, wie jede Statistik, durch einige Mängel gekennzeichnet.5 Dennoch ermöglichen sie tendenzielle Aussagen darüber, wie sich die Unternehmen entwickelten, die Bohnenkaffee rösteten. Erfasste die Gewerbestatistik des Deutschen Reiches für das Jahr 1875 noch keine BohnenkaffeeRöstbetriebe, so führte sie für das Jahr 1882 schon 161 Firmen mit 435 Beschäftigten auf. Die Anzahl der Betriebe erhöhte sich bis 1895 um 57 Prozent und bis 1907 um weitere 175 Prozent. Die Zahl der Beschäftigten verzwölffachte sich im Zeitraum zwischen 1882 und 1907. Gleichzeitig stieg die Menge des produzierten Röstkaffees pro eingesetzte Röstmaschine aufgrund technischer Innovationen und höherer Motorenleistung kontinuierlich an (vgl. Abb. 1).6 Die enorme Wachstumsdynamik in der Röstindustrie wird besonders deutlich, wenn man berücksichtigt, dass zwischen 1875 und 1907 die Beschäftigtenzahl in anderen Zweigen der Ernährungsindustrie (Müllerei, Zucker, Teigwaren, Schokolade, Margarine, Konserven, Mineralwasser, Brauerei, Sekt und Tabak) im Durchschnitt lediglich um 36 Prozent anstieg.7 Die Beschäftigtenzahl des gesamten Warenhandels vervierfachte sich im selben Zeitraum.8 Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts arbeiteten zwar immer 4 Die Begriffe Kleinhandel und Einzelhandel werden in diesem Beitrag synonym verwendet. Sie werden demgegenüber vom Großhandel unterschieden, der Waren von Unternehmen an Unternehmen vermittelt. Zum Kleinhandel vgl. Uwe Spiekermann: Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850 – 1914, München 1999, S. 134. 5 Zu den Mängeln vgl. Julia Laura Rischbieter : Mikro-Ökonomie der Globalisierung. Kaffee, Kaufleute und Konsumenten im Kaiserreich 1870 – 1914, Köln, Weimar, Wien 2011, S. 186 ff.; Spiekermann (Anm. 4), S. 78 – 84. 6 Quellen zur Darstellung Abb. 1: Kaiserlich Statistisches Amt (Hg.): Statistik des Deutschen Reiches, Alte Folge, Bde. 34 und 35: Ergebnisse der deutschen Gewerbezählung, Berlin 1875; ebd., N. F., Bde. 6 und 7: Gewerbestatistik, Berlin 1882; ebd., Bde. 102 – 119: Berufs- und Gewerbezählung vom 14. Juni 1895, Berlin 1895; ebd., Bde. 202 – 211, 213 und 215 – 222: Berufs- und Betriebszählung vom 12. Juni 1907, Berlin 1907; ebd., Bd. 214: Gewerbliche Betriebsstatistik, Berlin 1907; ebd., Bde. 413 – 418: Gewerbliche Betriebszählung, Berlin 1925. 7 Vgl. Karl-Peter Ellerbrock: Geschichte der deutschen Nahrungs- und Genussmittelindustrie 1750 – 1914, Stuttgart 1993, S. 244. Leider führt Ellerbrock keine absoluten Zahlen an. 8 Vgl. Spiekermann (Anm. 4), S. 84.
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Abb. 1: Entwicklung der Kaffeeröstindustrie 1882 – 1925 (Quelle: eigene Darstellung auf Grundlage Kaiserliches Statistisches Amt, s. Anm. 6)
mehr Personen in der Röstindustrie, doch hatten die Betriebe selten eine Größe von mehr als zehn Mitarbeitern (nur eine leichte Zunahme von Unternehmen mit bis zu 50 Angestellten von 0,5 Prozent im Jahr 1895 auf 2,5 Prozent im Jahr 1907 ist ersichtlich). Doch ist der Aussagewert der absoluten Betriebsziffern im Hinblick auf Röstbetriebe mit mehr als 100 Mitarbeitern äußerst begrenzt.9 Vermutlich unterschied die statistische Zuordnung diejenigen Beschäftigten, die vor und nach dem Röstvorgang die notwendigen Verlesearbeiten verrichteten, von den Arbeitern an den Rösttrommeln, sodass lediglich die Rösttrommelarbeiter zur »Röstindustrie« gezählt wurden. Unklar bleibt auch, in welcher Branche das Statistische Amt das beschäftigungsintensivste Tätigkeitsfeld der Röstunternehmen – das Verlesen der Bohnen – verzeichnete. Das Wachstum der Beschäftigtenzahlen resultierte, den vorliegenden Daten zufolge, anscheinend eher aus Neugründungen von kleineren Röstereien als aufgrund von innerbetrieblicher Expansion. Im Gegensatz zu anderen Branchen in der Ernährungsindustrie (wie zum Beispiel der Schokoladenindustrie) vollzog sich hier zwischen 1875 und 1907 anscheinend kein Konzentrationsprozess.10 Daher glich die Kaffeebranche im Hinblick auf die Dominanz der Kleinbetriebe eher dem Warenhandel. Auch dort arbeiteten von 1882 bis 1907 über 90 Prozent der Beschäftigten in Unternehmen mit einer Größe von einer bis fünf Personen.11 Befragt man die vorliegenden statistischen Daten nach relativen Entwicklungstrends, so ist festzuhalten, dass die Befunde eher weitere Fragen aufwerfen, als dass sie Antworten geben: Die Branche entstand relativ plötzlich, entwickelte sich außerordentlich dynamisch und expandierte mithilfe sehr heterogener Vertriebsweisen. Zudem folgte sie anscheinend nicht dem allgemeinen Trend, 9 Der Grund dafür liegt in der Praxis, »technische Einheiten« eines Unternehmens einzeln zu erfassen. Vgl. die Kommentare zu den Gewerbezählungen. 10 Zum Konzentrationsprozess vgl. Ellerbrock (Anm. 7), S. 244 – 258. 11 Auch im Warenhandel reduzierte sich der Anteil der Kleinbetriebe nur leicht von 96 % 1882 auf 95 % 1895 und 93,9 % 1907, vgl. Spiekermann (Anm. 4), S. 90 – 92.
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nach dem Großbetriebe mit überregionalem Absatz entstehen und es zur vertikalen Integration eines Großteils der Wertschöpfungskette in ein Unternehmen hätte kommen müssen.
Motive: die Geburt einer Branche als Reaktion auf globale Marktintegration 1913 legte der Betriebswirt Julius Hirsch die erste Studie zu Filialbetrieben als neue Vertriebsorganisation im Kleinhandel vor. In seiner Schrift weist Hirsch auf einen möglichen Auslöser hin, der die Entstehung eines eigenen Wirtschaftszweiges um das Produkt Kaffee herum erklären könnte: »Die Kaffeebranche als Spezialgeschäft [ist] von den Filialbetrieben eigentlich erst geschaffen worden.«12 Mit dieser Einordnung benennt er allerdings weniger die Ursachen für diese Entwicklung, als dass er die Leistung der Pioniere des neuen Wirtschaftszweigs hervorhebt. Zugleich spricht Hirsch einen Trend an, der als Erklärung für die Herausbildung der Branche durchaus relevant ist: die Tendenz im Lebensmittelkleinhandel, sich auf bestimmte Produktgruppen zu spezialisieren.13 In der Literatur findet sich der oft vage Verweis auf den Aufstieg der Kaffeebranche im Zusammenhang mit dem Industrialisierungsprozess. Industrialisierung und Urbanisierung ließen demzufolge den Bedarf an »Nahrung nach Norm« (Vera Hierholzer), insbesondere nach konsumfertigen Lebensmitteln, schnell ansteigen. Mehr Menschen verbrachten mehr Zeit am Arbeitsplatz, der räumlich oft weit entfernt vom Wohnort lag.14 In diese Entwicklung lässt sich auch die »Ausgliederung des Röstprozesses aus den privaten Haushalten«15 einordnen, erscheint es doch auf den ersten Blick naheliegend, dass die Produzenten auf die steigende Nachfrage nach konsumfertigem Röstkaffee reagierten. Diese Beobachtung hebt die Motivlagen aufseiten der Konsumenten hervor, den vom Einzelhandel bereits gerösteten Kaffee zu bevorzugen. Doch 12 Julius Hirsch: Die Filialbetriebe im Detailhandel unter besonderer Berücksichtigung der kapitalistischen Massenfilialbetriebe in Deutschland und Belgien, Bonn 1913, S. 27. 13 Vgl. ebd., S. 14; Spiekermann (Anm. 4), S. 165, 504 – 506. 14 Vera Hierholzer : Nahrung nach Norm. Regulierung von Lebensmittelqualität in der Industrialisierung 1870 – 1914, Göttingen 2009; Jakob Tanner: Modern Times. Industrialisierung und Ernährung in Europa und den USA im 19. und 20. Jahrhundert, in: Felix Escher, Claus Buddeberg (Hg.): Essen und Trinken zwischen Ernährung, Kult und Kultur, Zürich 2003, S. 27 – 52. 15 Roman Rossfeld: »Echt nur in dieser Packung«. Zum Verhältnis von Industrialisierung, Ernährung und Werbung am Beispiel des Kaffees, in: Gabrielle Obrist, Roger Fayet (Hg.): Mein Aroma! … wunderbar. Motive und Parolen in der Kaffeewerbung, Zürich 1995, S. 34 – 43, hier 34.
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erscheint es nicht besonders plausibel, davon auszugehen, dass sich die Konsumentenpräferenzen ohne ein entsprechendes Angebot innerhalb weniger Jahre derart massiv verschoben. Die Beweggründe der Produzenten, das Produkt auf neue Art und Weise anzubieten und so überhaupt die Nachfrage zu stimulieren, sind mit dem Verweis auf die Konsumentenbedürfnisse nicht zu erklären. Hier bieten Veränderungen im globalen Kaffeehandel und ihre Folgen für die Unternehmen, deren Geschäftsfeld im Zwischenhandel und Einzelhandel mit Rohkaffeebohnen lag, zusätzliche und präzisierende Erklärungsansätze. Traditionell hatte der rheinländische Großhandel Bohnenkaffee von den Amsterdamer Händlern bezogen, die Frankfurter Händler erhielten ihn von französischen Kollegen, die Münchner von Importeuren aus Triest. Diese lokalen Großhändler vermittelten die Ware an den Einzelhändler in ihrer Region weiter. Doch in den 1880er-Jahren wandte sich der Kleinhandel von den früheren Kaffeegroßhandelszentren Berlin, Magdeburg, Leipzig, Frankfurt/Main, München und Köln und den dort ansässigen Binnengroßhändlern ab und den Hamburger Importeuren zu.16 Hintergrund waren Veränderungen im globalen Kaffeegroßhandel: In den 1860er- und 1870er-Jahren hatte sich die Praxis des Kaffeegroßhandels, Angebot und effektive Nachfrage durch Kaffeeauktionen und Zwischenlagerung des Rohkaffees ost- und westindischer Provenienzen in Amsterdam und London zu verknüpfen, verschoben. Nun begann der Direktimport von Kaffee aus Lateinamerika in die drei Welthandelsplätze New York, Le Havre und Hamburg zu dominieren.17 An diesen Orten richteten die Kaffeegroßkaufleute Terminbörsen ein. Unter anderem auch deshalb stiegen sie schnell zu den weltweit wichtigsten Umschlagplätzen auf. Daneben führte der Terminhandel dazu, dass Großhändler im globalen Geschäft brasilianische Kaffeebohnen bei ihren Platzgeschäften bevorzugten.18 Zu dieser Entwicklung trug nicht nur der (aufgrund des exponentiellen Anwachsens der dortigen Anbauflächen) steigende Anteil von südamerikanischen Provenienzen am Welthandel bei, sondern auch der gleichzeitige Einbruch des Kaffeeanbaus durch die Ausbreitung einer Kaffeepilzerkrankung in den bisher bevorzugten südostasiatischen Pflanzgebieten.19 Die Dominanz Hamburgs als Kaffeeimporthafen für Mitteleuropa zeigt sich 16 Vgl. Karl Schönfeld: Der Kaffee-Engroshandel Hamburgs, Heidelberg 1903, S. 73; Franz Findeisen: Der Kaffeehandel, Halle/Saale 1917, S. 84. 17 Vgl. Rischbieter : Mikroökonomie (Anm. 5), S. 32 – 51. 18 Ausführlich: Staatsarchiv Hamburg, Bestand 371 – 8 II, Signatur S XIX C 5.4 a. Zum Terminhandel als Mittel der Marktgestaltung vgl. Julia Laura Rischbieter : Wer nicht wagt, der nicht gewinnt? Kaffeegroßhändler als Spekulanten im Kaiserreich, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (2013) 2, S. 71 – 94. 19 Vgl. Stuart McCook: Global Rust Belt: Hemileia Vastatrix and the Ecological Integration of World Coffee Production Since 1850, in: Journal of Global History 1 (2006) 2, S. 177 – 195.
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einerseits am verringerten Anteil der Bohnenkaffeeimporte aus den Niederlanden in das Deutsche Reich. Diese Importe fielen von knapp 31 Prozent im Jahr 1885 auf 0,1 Prozent im Jahr 1913.20 Nicht nur das Rheinland und das Ruhrgebiet, sondern auch die Groß- und Kleinhändler in Süddeutschland, Österreich-Ungarn, vor allem aber in Nord- und Ostdeutschland orderten ihren Kaffee nunmehr in der Hansestadt. Die Abhängigkeit des Binnenhandels von den Hamburger Großhändlern und ihren Lieferungen hatte einschneidende Konsequenzen. Diese betrafen erstens die gelieferten Kaffeesorten, zweitens deren Qualität und drittens die Geschmackspräferenzen der Konsumenten: Brasilkaffees gelangten zunehmend in den deutschen Handel. Die Bohnen aus Lateinamerika gewannen mit einem Anteil von bis zu 78 Prozent an der Gesamteinfuhr in das Deutsche Reich marktbeherrschende Dominanz.21 Doch die Qualität der Brasil-Lieferungen ließ zu wünschen übrig. In den Kaffeesäcken, die aus Brasilien über den Hamburger Hafen in den Handel gelangten, fanden sich neben den Bohnen oft auch Steine, Laub und Gestrüpp. Hieraus machten die Hamburger Großhändler dabei keinen Hehl: »In Folge dessen sind in Hamburg großartige Verlesungsanstalten entstanden, die jetzt schon 1500 Arbeiterinnen beschäftigen, […] weil eben der Kaffee, von Brasilien hauptsächlich, […] so schmutzig ist, daß es schon ein großer Schaden ist, allein den Zoll darauf zu bezahlen. Die Anstalten sind natürlich im Freihafen.«22
Die Bohnen im Freihafen zu verlesen und dort die Mischungen herzustellen, erwies sich als eine gewinnbringende Strategie des Hamburger Großhandels. Sie begegnete den Qualitätsproblemen der Brasilkaffee-Lieferungen und erlaubte es den Kaufleuten gleichzeitig, den Binnengroßhandel aus seiner angestammten Vermittlungsposition zu verdrängen. Die Hamburger begannen, ihre verlesenen, nach Käuferwunsch individuell gemischten Kaffeelieferungen eigenständig an den Kleinhandel zu verkaufen: »Der binnenländische Engroshandel wird durch Handelsreisende ersetzt, die den Verkehr zwischen den Hamburger Importeuren und Kaffeekleinhändlern in ständig zunehmender Weise direkt vermitteln. Der Profit des Zwischenhandels fällt so an die Importeure.«23
Eine durch Telegraf und Telefon erleichterte Kommunikation und der unkomplizierte Transport der Ware mit der Eisenbahn ersetzten die zuvor notwendige 20 Vgl. Grafik 15 in Rischbieter : Mikroökonomie (Anm. 5). 21 Vgl. Grafik 32 in Rischbieter : Mikroökonomie (Anm. 5). 22 Embden, in: Börsen-Enquete-Kommission, Stenographische Protokolle, 1893, S. 2079 [BEK, St. Pr.]. Eine Verleseanstalt beschreibt Ludwig Deutschmann: Der Kaffee-Großhandel, Berlin 1918, S. 37. 23 Findeisen (Anm. 16), S. 88. Vgl. auch Schönfeld (Anm. 16), S. 72; Edgar Müller : Kaffee und Rösten, Hamburg 1929, S. 390.
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Vermittlung und den Vertrieb der Ware durch den Binnengroßhandel. Neben den immer wieder auftretenden Preisschwankungen, denen empfindliche Naturprodukte wie Kaffee unterworfen sind, und den sich daraus ergebenden Asymmetrien zwischen Angebot und Nachfrage, führten Terminhandelsspekulationen seit den 1880er-Jahren außerdem zu kurzfristigen und massiven Preisverfällen und Preisanstiegen auf dem Weltmarkt. Allein die massiven Preissteigerungen im Rohkaffeegroßhandel, wie sie zum Beispiel ab 1886 einsetzten, sowie die nach 1887 durch den Terminhandel für Binnenhändler stark eingeschränkten Möglichkeiten zur Lagerhaltung führten zur massenhaften Insolvenz von Binnengroßhändlern.24 Für Binnengroßhändler lohnte es sich nun nicht mehr, nur die grünen Bohnen zwischen Importeuren und Einzelhandel zu vermitteln. Ebenso geriet der Kleinhandel durch die Marktdominanz der Brasilkaffees unter Druck. Um die unterschiedlichen regionalen Konsumpräferenzen zu befriedigen, hatte der Kleinhandel bisher Mischungen aus verschiedenen Provenienzen angefertigt.25 Durch geschicktes Mischen, beispielsweise von ostindischen und arabischen Bohnen, konnte der Kleinhändler erstens die Qualität gleichmäßig halten. Auf der Basis billigerer ostindischer Kaffeesorten konnte er zweitens, indem er einen geringen Anteil milder Kaffeesorten hinzugab, erhebliche Veränderungen im Geschmacksprofil erreichen. Mit den so entstandenen preiswerten Mischungen konnte drittens der Umsatz angehoben werden. Doch diese Strategie ließ sich nicht mehr in ausreichendem Maße anwenden, weil auf dem Markt vor allem Brasilkaffees verfügbar waren. Gerade die von den Kleinhändlern favorisierten Basissorten aus Java gelangten nur noch in geringen Mengen – und zu exorbitanten Preisen – in den deutschen Handel.26 Zwar schmecken auch Bohnen aus demselben Land und derselben Ernteperiode aufgrund unterschiedlicher Böden, Witterungsverhältnissen und Anbauverfahren durchaus verschieden. Die Fachleute klassifizierten die Brasilkaffees in zwei Sorten, Santoskaffees und Riokaffees, mit sechs beziehungsweise acht Untersorten. Doch die aus Brasilien importierten Bohnen galten hierzulande als »ausgesprochen hart, karbolartig-scharf schmeckend« oder »stets unangenehm scharf, oft dumpfig erdig […] oder [mit] muffigem Geschmack«.27 Im Gegensatz zum Geschmacksprofil der Brasilkaffees forderten die Konsumenten im Kaiserreich »weiche« Kaffeesorten aus anderen Anbauregionen der Welt. Ein im süddeutschen Raum agierender Kaffeegroßhändler brachte dieses Problem 1892 vor der Börsen-Enquete-Kommission wie folgt auf den Punkt: »Wir können in 24 25 26 27
Vgl. Rischbieter : Wer nicht wagt (Anm. 18). Deutschmann (Anm. 22), S. 9. Vgl. auch Müller (Anm. 23), S. 384 f. Vgl. Embden BEK, St. Pr. (Anm. 22), S. 2079 – 2082. Müller (Anm. 23), S. 77. Vgl. auch Paul Ciupka: Taschenbuch des Kaffeefachmanns, Hamburg 1931.
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München keinen harten Kaffee gebrauchen, die ordinären Sachen gehen nicht mehr.«28 Einen Ausweg aus diesem Dilemma bot das maschinelle Rösten. Der Einzelhändler konnte durch Rösten und Mahlen dem Endkunden ein konsumfertiges Produkt anbieten. Wichtiger war jedoch, dass ein je nach Hersteller standardisiertes Endprodukt erreicht wurde, das dennoch ein individuelles Geschmacksprofil besaß. Die Verarbeitung des Rohkaffees veränderte nicht die Grundqualität der verwendeten Bohnen, schuf aber ein für die Konsumenten in Geschmack und Aussehen wiedererkennbares Konsumgut. Das Nachfärben der Bohne, das Polieren und das Glacieren mit Zucker waren typische Schritte, um das Aussehen und den Geschmack der Bohnen zusätzlich zu verändern und damit zu vereinheitlichen. Wurde der so veredelte Röstkaffee zudem gemahlen, waren die äußeren Qualitätsmerkmale der einzelnen Bohnen für den Konsumenten nicht mehr ohne weiteres zu erkennen. Die Veredelung des Rohkaffees bewirkte somit eine gewisse Unabhängigkeit von den Lieferungen der Importeure. Um in das Geschäft mit dem Röstkaffee einzusteigen, musste der Kaufmann zwar zunächst einmal in neue Maschinen investieren. Gleichzeitig integrierte er aber auch ein neues Geschäftsfeld in sein Unternehmen, das ihn hoffen lassen konnte, seine Existenz zu sichern: »Er kann sich nur helfen, indem er vielleicht eine Rösterei anlegt, selbst an den Konsum absetzt; mit einem Wort, den Detailhandel auszuschalten versucht. Doch auch hierbei stößt er auf einen Gegner. Viele Hamburger […] dringen in gleicher Weise vor und [gehen] nicht nur in engere Fühlung mit dem Detaillisten […], indem sie ihm selbstgeröstete Ware verkaufen, sondern [schieben] auch den alten Detailhandel beiseite.«29
Wollte ein Binnengroßhändler in seinem angestammten Geschäftszweig verbleiben, wurde er also durch die veränderten Mechanismen im globalen Kaffeehandel gezwungen, die Veredelung des Rohkaffees in sein Unternehmen zu integrieren. In der Wertschöpfungskette entstand damit eine neue Gewinnstufe – und durch vertikale Integration eine neue Existenzmöglichkeit für den Binnengroßhandel. Tatsächlich zeigt die regionale Verteilung, dass vor allem Unternehmen in Regionen, die zuvor im Zwischenhandel stark gewesen waren (wie etwa das Rheinland), nun in die Kaffeeveredelung einstiegen.30 Ebenso investierten Kleinhändler in Maschinen und Know-how, um die Kaffeeröstung in ihr Ge-
28 Magenau, BEK, St. Pr. (Anm. 22), S. 2258. 29 Schönfeld (Anm. 16), S. 74. Ähnlich Findeisen (Anm. 16), S. 84. 30 Vgl. Rischbieter: Mikroökonomie (Anm. 5), Grafik 33; Schönfeld (Anm. 16); Findeisen (Anm. 16), S. 95.
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schäftsfeld aufzunehmen. Aus Handelsunternehmen entstand eine Kaffeeverarbeitungsbranche, aus einer Handelsware wurde ein konsumfertiges Produkt.31
Strategien: Vielfalt als Wettbewerbsstrategie im Umgang mit lokalen Konsumentenwünschen Hatten bisher entweder die Konsumenten oder die Kleinhändler die grünen Kaffeebohnen gemischt und geröstet, hoben die technischen Innovationen in der Kaffeeverarbeitung (wie Sortier- und Poliermaschinen und die maschinelle Röstung) die vorherrschende Trennung von Rohkaffeegroßhandel einerseits und Kaffeeverarbeitung andererseits auf. Die technischen Innovationen beschleunigten den Herstellungsprozess von konsumfertigen Bohnenkaffees und ermöglichten, oder erzwangen, neue Vertriebswege. Für den Absatz ihrer Kaffeeprodukte entwickelten die ehemaligen Handelsfirmen seit Ende der 1880erJahre mindestens sieben klar unterscheidbare Vertriebs- und Verkaufsstrategien (vgl. Abb. 2). Die in Abbildung 2 dargestellten Vertriebs- und Verkaufsstrategien haben gemeinsam, dass sie das Bestreben aufwiesen, Röstkaffee statt Rohkaffeebohnen abzusetzen. Wie die wenigen überlieferten Geschäftsbücher zeigen, nahm der Anteil des an die Endkonsumenten abgesetzten Röstkaffees gegenüber den grünen Bohnen stetig zu. So verkaufte zum Beispiel 1891 der Spar- und Konsumverein Stuttgart 15.524 Kilogramm rohen Kaffee gegenüber 29.955 Kilogramm Röstkaffee; 1913 setzte er nur noch 464 Kilogramm Rohkaffee gegenüber 73.560 Kilogramm Röstkaffee ab.32 Die annähernd gleiche Beschaffenheit des Röstkaffees, sein einheitliches Aussehen und die Zeitersparnis bei der Zubereitung führten trotz des höheren Preises dazu, dass die Konsumenten »kaum mehr auf den Gedanken kommen, solchen [rohen Kaffee] zu kaufen und im Haushalt zu rösten«.33 Der Kaffeebranche ermöglichte das Mischen und Rösten des Rohstoffs, ein diversifiziertes Warenangebot herzustellen, mit dem sie in der Lage war, auf unterschiedliche geschmackliche Präferenzen und finanzielle Möglichkeiten der Kunden einzugehen.
31 Vgl. ebd., S. 78. Hirsch nennt als häufigste Ursache für die »Angliederung der Handelsfunktion an den Produzenten« die »Eroberung der Industrie durch den Kaufmann«, vgl. Hirsch (Anm. 12), S. 17. 32 Vgl. Spiekermann (Anm. 4), S. 751. 33 Müller (Anm. 23), S. 127.
Vertrieb Regional Business to Business
Überregional Business to Business
Regional Zentrale Verwaltung und Röstung
Überregional Zentrale Verwaltung und Röstung
Überregional Zentrale Verwaltung und Röstung
Überregional Zentrale Verwaltung und Röstung
Überregional Versand per Post
Veredlung Mischen und Rösten je nach AuGrag des Einzelhandel
Mischen und Rösten Herstellung eines Markenkaffeeprodukts
Mischen und Rösten verschiedene Röstkaffeeprodukte
Mischen und Rösten verschiedene Röstkaffeeprodukte
Mischen und Rösten Herstellung eines Markenkaffeeprodukts
Mischen und Rösten verschiedene Röstkaffeeprodukte Mischen und Rösten verschiedene Röst- und Rohkaffee produkte
Lohnrösterein
Markengroßröster
Ortsfilialisten
Massenfilialisten
Kolonialwaren -haus
Großröster
Versandhandel
Katalogwerbung indirekter Kundenkontakt
Filialen mit Möglichkeit des Kaffeekonsums .
Filialen breites WarensorIment aus den deutschen Kolonien
Mind. zehn Filialen KaffeespezialgeschäGe
Bis zu zehn Filialen KaffeespezialgeschäGe
Verkauf
Verkauf an Einzelhandel mit AusschlussgaranIe nicht Kaffeeprodukten anderer Hersteller zu verkaufen
Einzelhandel
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Abb. 2: Idealtypische Darstellung der Vertriebs- und Verkaufsstrategien in der Bohnenkaffeebranche, 1880er- bis 1920er-Jahre (Quelle: eigene Darstellung)
Die Vertriebs- und Verkaufsstrategien unterschieden sich abhängig davon, ob sie im städtischen oder im ländlichen Raum angewendet wurden. Der städtische Einzelhandel mit kleiner Laden- und Lagerfläche ließ oft den in Hamburg erworbenen Rohkaffee gegen eine (von der Auftragsmenge abhängige) Gebühr in
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Lohnröstereien veredeln.34 Dafür gab es mehrere Motive. Einerseits war der Service der Lohnröstereien kostengünstiger als das eigene Rösten, weil die kleinen Handröstmaschinen einen größeren Gewichtsverlust verursachten als die Großröstmaschinen. Die Großmaschinen und das geschulte Personal in den Röstereien erzeugten ein in Geschmack und Aussehen qualitativ besseres, äußerlich ansprechenderes und einheitlicheres Röstprodukt.35 Andererseits blieb es weiterhin dem Kleinhandel überlassen, die Bohnen unterschiedlicher Provenienzen nach den Wünschen des Kundenkreises individuell zu mischen. Ohne besonderen Kapitalaufwand konnte der städtische Kleinhandel durch die Dienstleistungen der Lohnröstereien Qualitätsvorteile erzielen, die sonst nur eine eigene Großrösterei geboten hätte. Die kleinen Einzelhändler außerhalb der Städte bezogen den konsumfertigen Röstkaffee hingegen mehrheitlich zu festen Konditionen von Großröstereien, Markengroßröstern oder Massenfilialisten. Zu diesen Konditionen gehörte oft die Ausschlussgarantie, Produkte anderer Lieferanten zu verkaufen. Die Geschäftsabwicklung zwischen den Röstunternehmen und den Ladenbesitzern lag in den Händen von Vertretern im Auftrag der Zulieferer oder von Handlungsreisenden, die als Angestellte der Großröster arbeiteten.36 Die Großröster übernahmen also die Vermittlung zwischen Import- und Kleinhandel. Gleichzeitig entstand mit den Handlungsreisenden und Vertretern eine neue Akteursgruppe in der Wertschöpfungskette.37 Der Massenfilialist Kaiser’s Kaffeegeschäft verkaufte beispielsweise sein Sortiment nach diesem Prinzip auch in über 400 Kolonialwarenläden.38 Eines der ersten Großhandelsunternehmen, das die Röstung zu seinem neuen
34 Vgl. Paul Uferman: Kaffee und Kaffeesurrogate in der deutschen Wirtschaft. Darstellungen und Untersuchungen einzelner Zweige der Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie, Berlin 1933, S. 23 f. 35 Vgl. Heinrich Trillich: Das Rösten und die Röstwaren, 2. Bde., Hamburg o. J. [1920]. Findeisen (Anm. 16) berechnet einen Röstverlust von 16 bis 18 % bei modernen Großröstmaschinen. Hingegen würden die älteren Handröster »der Krämer sogar einen […] Verlust von 25 %« verursachen, ebd., S. 14. 36 Vgl. Deutschmann (Anm. 22), S. 35 f.; Otto Jöhlinger: Die Technik des Deutschen Kaffeehandels, in: Zeitschrift für Handelswissenschaft und Handelspraxis 2 (1910) 11, S. 397 – 403, hier S. 402. 37 Dies stellte keine Besonderheit der deutschen Kaffeebranche dar, vgl. Angelika Epple: Das Unternehmen Stollwerck. Eine Mikrogeschichte der Globalisierung, Frankfurt/Main, New York 2010; Roman Rossfeld: »Au service de Mercure«. R¦flexions sur une histoire ¦conomique et culturelle des commis voyageurs en Suisse, de 1890 1980, in: Entreprises et histoire, 66 (2012) 1, S. 194 – 211. 38 Vgl. [o. Verf.]: Massenfilialunternehmen im Einzelhandel mit Lebensmitteln und Kolonialwaren. Verhandlungen und Berichte des Unterausschusses für Gewerbe: Industrie, Handel und Handwerk (III. Unterausschuß), 9. Arbeitsgruppe (Handel), Bd. 2, Berlin 1929, S. 115.
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Geschäftsfeld machte, war die Firma Hanssen & Studt.39 Im Hamburger Freihafenbezirk baute die Firma die erste systematisch geplante Kaffeeverarbeitungsfabrik in Deutschland. Im Fabrikgebäude befanden sich auf den ersten sechs Geschossen Speicherböden mit einem Fassungsvermögen von knapp 3000 Tonnen Rohkaffee. In der siebten und achten Etage lagen die Verwaltungsräume. Im neunten Stock standen zahlreiche Maschinen zum Sortieren, Schälen, Waschen, Reinigen und Glätten der Bohnen. Im zehnten Stock befanden sich die Röstmaschinen. Nachdem der Kaffee in den Maschinen industriell veredelt worden war, wurde im obersten Stockwerk das Ergebnis per Hand nachkontrolliert. »[A]uf den höchsten durch Oberlicht erhellten Böden sitzen an geteilten Arbeitstischen, unter Aufsicht von Meistern und Meisterinnen, eine große Anzahl Arbeiterinnen und entfernen mit der Hand alle mangelhaften Bohnen aus dem Kaffee und ebenso alle Beimischungen, die die Maschinen darin gelassen haben.«40
Der Nachfrage nach den hier produzierten Röstkaffees konnte das Unternehmen kaum nachkommen und in der Folge errichtete es weitere Fabriken im Hamburger Umland. Hanssen & Studt vertrieb seine Röstkaffeemischungen unter der Handelsmarke Anker Kaffee mithilfe von Handlungsreisenden und Vertretern an den Kleinhandel im Inland und im Ausland.41 Hanssen & Studt ist ein Beispiel für Firmen in der deutschen Kaffeebranche, deren traditionelles Geschäftsfeld zuerst allein der Großhandel gewesen war. Sie integrierten in einem zweiten Schritt die Kaffeeröstung in ihr Unternehmen. In einem dritten Schritt gingen sie dazu über, Röstkaffeemischungen unter eigenen Marken- oder Firmennamen an den Kleinhandel zu vertreiben. Im vierten Schritt verkauften sie dann ihre Produktpalette über rechtlich selbstständige Verkaufsstellen an die Endkunden. Der beschriebene vierte Schritt ist oft wenig offensichtlich. Dies führte bisher dazu, dass Unternehmenshistoriker die vertikale Integration in Wirtschaftszweigen wie der Kaffeebranche übersehen haben. Die Firma Hanssen & Studt war Eigentümerin des Hamburger Kolonialwarenladens A. W. Schmidt, Teilhaberin an den Kaffeeimportfirmen Otto Embden & Co. und Joh. Borrs & Co., an der Kaffeemaklerfirma J. Studt sowie an der – auf den Kaffeehandel mit Haiti spezialisierten – Länderfirma Hartmann, Goldemberg & Co. Weil alle genannten Firmen rechtlich selbstständig waren, 39 Vgl. Julius Eckstein (Hg.): Historisch Biographische Blätter. Der Staat Hamburg, Bd. 7, Berlin, Hamburg, Wien, o. J. [1905/06], o. P. 40 Ebd. 41 Zu den Markenstrategien vgl. Julia Laura Rischbieter: Coffee as a Colonial Product in the German Kaiserreich, in: Ulrike Lindner u. a. (Hg.): Hybrid Cultures, Nervous States. Insecurity and Anxiety in Britain and Germany in a (Post-) Colonial World, Amsterdam, New York 2010, S. 107 – 126.
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wird erst bei genauerem Hinsehen deutlich, dass das Unternehmen an allen Wertschöpfungsstufen beteiligt war und somit ein Paradebeispiel für die enge Kooperation im globalen Handel darstellte. Dies korrigiert die in der Literatur häufig vertretene These, Handelsunternehmen im Deutschen Kaiserreich seien der allgemeinen Tendenz der vertikalen Integration nicht gefolgt. Vergleichbar mit den weitverzweigten und heterogenen Geschäftsfeldern von Handelsunternehmen der Gegenwart operierten schon die Kaufleute im 19. Jahrhundert mittels Töchterunternehmen und Unternehmensbeteiligungen.42 Neben den bisher beschriebenen, im Business-to-Business-Geschäft operierenden Lohn- und Großröstereien entwickelten sich noch weitere Betriebsformen in der Kaffeebranche. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich aus kleinen Anfängen im Kolonialwarenhandel entwickelten. Ab den späten 1880er-Jahren spezialisierten sich die Unternehmen auf den Absatz von Röstkaffee. Mit einem diversifizierten Angebot und dessen Verkauf in unternehmenseigenen Läden konnten die Firmen – trotz einer nur mäßig steigenden Nachfrage43 – relativ flexibel auf die periodisch (in einem Rhythmus von fünf bis sieben Jahren) stark schwankenden Kaffeeweltpreise reagieren sowie die durch den Terminhandel verursachten kurzfristigen Preisschwankungen abfedern. Doch Röstkaffee anzubieten, führte zu weiteren betriebswirtschaftlichen Folgen: Da »eine so empfindliche Ware […] nicht mit Heringen, Seife und ähnlichen Artikeln in demselben Raume aufbewahrt werden [darf]«,44 mussten sich die Unternehmer auf dieses eine Produkt, ergänzt um weitere kaffeenahe Waren beschränken. Bis zu hundert Röstkaffees in unterschiedlichsten Qualitäten, Geschmacksrichtungen und Preislagen, zahlreiche Zugaben und Gebrauchsartikel ließen in den Spezialgeschäften eine ganze Kaffeewarenwelt entstehen. Auch die Besonderheit der Branche, im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen überproportional Filialsysteme aufzubauen, resultierte aus den Anforderungen, die das Produkt an die Unternehmen stellte. Weil Röstkaffee schon nach wenigen Tagen sein Aroma verliert, verlangte er (bis zur Erfindung der Vakuumverpackung) als »schnell verderbliche Ware [einen] absolut sicheren Absatz«.45 Die Lösung für dieses produktspezifische Problem bot der schnelle Verkauf von größeren
42 Vgl. Rischbieter: Mikroökonomie (Anm. 5), Kapitel 3.2.2 und 5.1; Geoffrey Jones: Multinationals and Global Capitalism. From the Nineteenth to the Twenty-first Century, Oxford 2005. Am Beispiel eines Unternehmens: Christof Dejung: Die Fäden des globalen Marktes. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des Welthandels am Beispiel der Handelsfirma Volkert 1851 – 1999, Köln, Weimar, Wien 2013. 43 Zur Entwicklung des Kaffeekonsums in Europa und Deutschland vgl. Rischbieter : Mikroökonomie (Anm. 5), S. 51 – 59, 252 – 264. 44 Hirsch (Anm. 12), S. 27 f. 45 Schönfeld (Anm. 16), S. 77.
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Mengen über Zweiggeschäfte, mit dem sich Transaktionskosten senken und Skalenerträge realisieren ließen. Anzunehmen ist, dass der erfolgreiche Detaillist, bevor er sich für die maschinelle Veredelung im großen Maßstab entschied, schon mit kleineren Handmaschinen Kaffee geröstet hatte. Er verzeichnete gute Umsatzzahlen, sodass das erwirtschaftete Eigenkapital ausreichte, um die zur Veredelung benötigte maschinelle Grundausstattung zu finanzieren. Weil quantitative Daten über diese Entwicklung nicht vorliegen, lassen sich diese Annahmen nur exemplarisch anhand von Firmenfestschriften verifizieren – eine mit Vorsicht zu genießende Quellengattung. Denn die in den Festschriften beschriebenen Unternehmensgeschichten unterschlagen häufig Rückschläge, machen selten Angaben zu den Kapitalgebern, vermeiden das Thema Misswirtschaft und verschweigen genauere Angaben zum Umgang mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Zugleich schildern die Festschriften ökonomische Erfolge als natürliches Ergebnis unternehmerischer Brillanz und nicht etwa als mögliche Folge von günstigen Konjunkturen oder erhöhter Konsumentennachfrage.46 So entstehen Geschichten von Unternehmen, die von einer Gründergeneration ausgehen, die aus kleinen sozialen Verhältnissen stammt. Sie beschreiben die bescheidenen Anfangsjahre der Firma detailreich und gipfeln nicht selten in der Darstellung der gigantischen Leistungen der Jubilare in späteren Jahren. Das Leipziger Unternehmen Richard Poetzsch kann als illustratives Beispiel für die Entwicklung einer Firma vom Kleinhändler zum Kaffeespezialgeschäft ebenso dienen wie für die hagiografische Überhöhung der Unternehmensgeschichte in einer Firmenfestschrift: Als es der Bauernsohn Richard Poetzsch nach seiner Ausbildung im Kolonialwarenhandel »am 1. Oktober 1888 […] wagte, […] ein Kolonialwarengeschäft zu eröffnen, da standen ihm reiche Geldmittel nicht zur Verfügung«.47 Doch erwiesen sich Poetzsch’ besondere Charaktereigenschaften, so liest man weiter, als »unerlässliche Bedingung des Erfolgs«. Dies waren sein »unverdrossen schaffender Fleiß, klarer zielsicherer Verstand und ein mutiges, fröhliches Herz«. Der Bauernsohn war clever. Er entdeckte als Pionier das Potenzial der Kaffeeveredelung, denn »hatte man bis vor kurzem im allgemeinen [nur] die Handröstung gekannt, so fanden die maschinell und daher gleichmäßig gerösteten Kaffees bald guten Anklang. Die Umsätze stiegen und verlangten Erweiterung des Geschäftes«. Zwischen 1894 und 1899 eröffnete Richard Poetzsch weitere Filialen in Leipzig sowie eine zweite Rösterei und eine Verleserei. Doch erst 1910 gelang der Sprung nach Hamburg, 46 Eine Ausnahme findet sich in: Bibliothek des Johann-Jacobs-Museums, Zürich, Signatur JSM-C 40 Bro, 10. Januar 1880 – 10. Januar 1930, Ferdinand Eichhorn und Carl Heimbs. 47 50 Jahre Richard Poetzsch. Kaffee-Grossrösterei. Kaffee – Tee – Kolonialwaren im Gross- und Einzelhandel, Leipzig 1938, dieses und folgende Zitate S. 7, 8 und 10.
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wo das Unternehmen eine Großrösterei und eine Versandabteilung einrichtete, und nach Berlin, wo ein Ladengeschäft eröffnet wurde. Eine wichtige Säule des Erfolgs seien, folgt man den Angaben der Firmenfestschrift, die vom Gründer eingeführten Innovationen gewesen: eine große Auswahl an Röstkaffees, eine eigene Handelsmarke und die besondere Verpackung der Ware mit Pergaminfütterung. Die von den Chronisten der Firma Poetzsch beschriebene Unternehmensgeschichte steht jedoch exemplarisch für die Entwicklung von Filialisten der Kaffeebranche. Die genannten Erklärungsmuster für den Firmenerfolg finden sich in allen 72 ermittelten Festschriften zu Unternehmen, die zwischen 1870 und 1910 gegründet wurden und sich selbst als Kaffeegroßrösterei oder Kaffeespezialgeschäft bezeichneten.48 Unabhängig davon, wie sehr die Chronisten die private Situation der Gründer beschreiben, skizzieren alle Festschriften die gleichen Erfolg versprechenden Strategien, wenn auch die zeitlichen Abläufe von Unternehmen zu Unternehmen leicht divergieren. Sowohl die betriebswirtschaftliche Organisation als auch die in den Festschriften als besondere Leistung des Gründers hervorgehobenen »Innovationen« entpuppen sich im Vergleich als durchaus üblich. Nur wenige Unternehmen entwickelten ungewöhnliche Konzepte. Ein Beispiel hierfür ist A. Zuntz sel. Witwe, gegründet 1837 in Bonn und seit den 1880er-Jahren im Kaffeespezialgeschäft und -großhandel tätig. Dieses Unternehmen integrierte den Ausschank von frisch zubereitetem Kaffee in sein Geschäftsfeld und richtete ab 1898 in einigen seiner Filialen Kaffeestuben ein.49 Die Mehrheit der Unternehmen in der Kaffeebranche konzentrierte sich aus guten Gründen auf regional präsente Ladengeschäfte, von denen sie in der Regel nicht mehr als 20 besaßen. Denn nur so vermochten sie es, »sich den örtlichen Geschmacksrichtungen besonders gut anzupassen«.50 Ihr kleiner, aber stabiler, Umsatz war ihr Vorteil gegenüber den auf Skalenerträge angewiesenen Großröstern wie Hanssen & Studt. In den 1890er-Jahren begannen einige Filialisten 48 Nahezu identisch sind: Ferdinand Eichhorn (Anm 46); Hinz & Küster : Kaffee, Berlin 1926; 50 Jahre Adolph Schürmann. Lebensmittelfilialgeschäfte und Kaffeerösterei, Remscheid 1931; 75 Jahre Dienst am Kunden: 1881 – 1956. 75 Jahre Adolph Schürmann Remscheid, Darmstadt 1956; J. J. Darboven (Hg.): Ein Jahrhundert im Zauber einer Kaffeestunde. Aus Anlass des einhundertjährigen Firmenjubiläums im Jahre 1966, Darmstadt 1966; Gebrüder Jürgens, Braunschweig, 1726 – 1956. Skizze zu einer Geschichte der Kolonialwaren- und Zuckerwaren-Grosshandlung und Kaffee-Grossrösterei von Gebrüder Jürgens, Braunschweig 1956; Jacobs Suchard Kraft (Hg.): 100 Jahre Jacobs Caf¦, Bremen 1994; Joh. Jos. Sterck & Zoon Köln, Köln 1956; Kaiser’s Kaffee-Geschäft (Hg.): 1880 – 1980. 100 Jahre Kaiser’s, Viersen 1980; Alex Waldmann: 50 Jahre Adolph Schürmann. Lebensmittelfilialgeschäfte und Kaffeerösterei, Remscheid 1931; Ernst Weinhold: Kolonialwaren-Grosshandel, Kaffee-Grossrösterei, Zuckerwarenfabrik, Düsseldorf 1934. 49 Vgl. Schönfeld (Anm. 16), S. 77; Hirsch (Anm. 12), S. 27; Wilhelm Ewald, Bruno Kuske (Hg.): Katalog der Jahrtausend-Ausstellung der Rheinlande, Köln 1925, S. 637. 50 Findeisen (Anm. 16), S. 99.
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dann, den selbst produzierten Röstkaffee über eine Vielzahl von regionalen, überregionalen und nationalen Ladengeschäften zu verkaufen und wurden damit zu Massenfilialisten.51 Hierbei entwickelten sie hochgradig standardisierte Verkaufsstrategien, die sich im gleichartigen Aussehen und der identischen Produktauswahl im Filialsystem niederschlugen. Ähnlich den Bekleidungs- und Supermarktketten unserer Gegenwart prägten im Jahr 1910 die zehn auf Kaffee spezialisierten Massenfilialisten mit ihren zusammen 2401 Verkaufsorten überall in Deutschland das Straßenbild.52 Das Paradebeispiel für die vertikale Integration aller Wertschöpfungsketten in einem einzigen Unternehmen in Deutschland ist Kaiser’s Kaffeegeschäft. Vor Beginn des Ersten Weltkriegs war Kaiser’s das größte Einzelunternehmen im Lebensmittelhandel. Die Firma konnte zudem auf eine äußerst erfolgreiche Expansionsgeschichte zurückblicken: Sie wuchs von weniger als 5 Angestellten im Jahr 1882 auf 4904 Angestellte im Jahr 1914. Am Vorabend des Weltkriegs vertrieb das Unternehmen seine Produkte in 1369 Filialen in Deutschland, in 51 Filialen in der Schweiz sowie an rund 400 Einzelhändler. Damit stiegen die Möglichkeiten des Unternehmens, Transaktionskosten zu senken und Skaleneffekte zu realisieren.53 Auch Kaiser’s hatte sich vom Kolonialwarenladen in Viersen zum regional präsenten Filialisten mit eigener Großrösterei und dann zum deutschlandweit agierenden Massenfilialisten entwickelt. Seit seiner Gründung vertrieb das Unternehmen neben Kaffee auch Tee. 1913/14 machten diese beiden Waren und ihre Ersatzstoffe 58,5 Prozent des Umsatzes aus.54 Kaiser’s produzierte auch Malzkaffee, Schokoladen und Süßwaren in eigenen Fabriken. Eine Abteilung entwarf das jeweilige Aussehen der unterschiedlichen Produktverpackungen, die immer mit dem markanten Logo einer lachenden Kaffeekanne versehen waren. Eine unternehmensangehörige Papierfabrik druckte diese Entwürfe. Zudem besaß Kaiser’s mit fünf eigenen Fabrikstandorten den größten Kaffeerösterei-Verbund in Europa. Die Firmenfestschrift, die Unternehmensunterlagen und Josef Kaisers Biografie betonen stets, das »ungewöhnliche Erfolgsrezept« des Gründers habe darin bestanden, durch Mischung und Röstung eine gleichbleibende Qualität zu garantieren und diese zu festen Preisen anzubieten. Angesichts der Verkaufs51 Für eine Übersicht vgl. Hirsch (Anm. 12), S. 29. Ergänzend siehe Findeisen (Anm. 16). 52 Zum Vergleich: Das Unternehmen Tchibo verkaufte seine Waren im Jahr 2008 in 900 Filialen, die Bekleidungskette H& M verfügte 2012 über 346 Geschäfte in Deutschland. Vgl. Tchibo Holding: Geschäftsbericht 2008; H& M. Hennes und Mauritz AG: Geschäftsbericht 2012. 53 Das Unternehmen Kaiser’s gewährt keine Einsicht in sein Archiv. Unternehmenshistorisch relevante Unterlagen finden sich jedoch auch im Archiv der Max-Planck-Gesellschaft (im Folgenden MPG-Archiv), Abt. IX, Rep. 1, Josef Kaiser. Zur Geschichte des Unternehmens vgl. Kaiser’s Kaffee-Geschäft (1980); Werner Peiner, Josef Kaiser, o. O. [Viersen] o. J. [1937].; Hirsch (Anm. 12), S. 27 – 64; Spiekermann (Anm. 4), S. 325 – 330. 54 Vgl. Massenfilialunternehmen (Anm. 38), S. 143.
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und Vertriebskonzepte anderer Firmen waren dies jedoch keine besonders originellen Strategien. Das rasche Wachstum des Unternehmens erklärt sich eher durch seine straffe Organisation, die ganz auf den Absatz von Röstkaffee in großen Mengen konzentriert war. Bei Kaiser’s traf die Unternehmensleitung in Viersen alle grundsätzlichen Entscheidungen. Technisch oder betriebswirtschaftlich geschulte männliche Angestellte am Hauptsitz führten die anspruchsvolleren Tätigkeiten aus. Die kleineren kaufmännischen Aufgaben erledigten regional verantwortliche Oberrevisoren. Im Verkauf griff Kaiser’s auf die billigsten verfügbaren Arbeitskräfte zurück: ungelernte weibliche Angestellte ohne spezielle Warenkenntnis.55 Diese Organisation ermöglichte eine Arbeitsteilung, bei der die Verkäuferinnen »völlig durch die Geschäftsleitung dirigiert«56 wurden. Die Mehrheit der Angestellten des Unternehmens erhielt also nicht nur die niedrigsten Löhne, sondern war auch leicht ersetzbar. Während der typische Detailhandelsladen im 19. Jahrhundert an einem Ort (und oft in einer Person) alle notwenigen Tätigkeiten – wie Einkauf, Verwaltungs- und Verkaufsstelle sowie Kreditinstitut – in sich vereinte, so hatten die Filialen von Kaiser’s nur noch eine Funktion: den Verkauf von Röstkaffee. Kaiser’s Filialen lagen nach Möglichkeit an den Hauptstraßen der Innenstädte und wurden in der Regel in gemieteten Läden eingerichtet. Dies bot den Vorteil, den Geschäftsstandort bei Bedarf schnell wechseln zu können. Die Regeln gingen weit ins Detail. So sollte ein Geschäft immer auf der »Laufseite« einer Straße, der Schattenseite, angesiedelt werden. Die Einrichtung war standardisiert und für die schnellstmögliche Einrichtung neuer Filialen in drei verschiedenen Größen vorrätig.57 Als sichtbares Erkennungszeichen hingen an den Außenwänden aller Verkaufsstellen großflächige Emaille-Schilder, die den Unternehmensnamen in einheitlichem Schriftzug und die lachende Kaffeekanne als Firmensymbol zeigten. Auch die Schaufenster, die wöchentlich mit den aktuellen Angeboten und Preisangaben erneuert wurden, gestaltete das Unternehmen im Firmendesign.58 Mit dieser Verkaufsstrategie verzichtete Kaiser’s bewusst auf ein persönliches Verhältnis zwischen Verkäufern und Konsumenten. Die wichtigste Strategie zur Kundenbindung bestand vielmehr in der einheitlichen Angebotspalette, deren gleichbleibender Qualität und den festgesetzten Preisen. Mit dem omnipräsenten Firmensymbol und der uniformen Präsentation der Waren im Laden setzte das Unternehmen zudem auf Kundenbindung durch Wiedererkennung und Gewohnheit. Zusätzliche finanzielle Anreize für die Kunden 55 Vgl. Hirsch (Anm. 12), S. 57 – 60, 88 f.; Massenfilialunternehmen (Anm. 38), S. 113 f. 56 Massenfilialunternehmen (Anm. 38), S. 125. Vgl. MPG-Archiv, Abt. IX, Rep. 1, Josef Kaiser. 57 Vgl. Hirsch (Anm. 12), S. 33 – 38; Massenfilialunternehmen (Anm. 38), S. 113. Kaiser’s wird hier als KA aufgeführt. 58 Zwei Abbildungen finden sich in: Kaiser’s Kaffee-Geschäft (Hg.), 1880 – 1980. 100 Jahre Kaiser’s, Viersen 1980.
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boten niedrige Preise, das 1904 eingeführte Rabattmarkensystem und die Lockartikel, die zum Einkaufspreis abgegeben wurden.59 Insgesamt erklären drei Faktoren die überdurchschnittliche Tendenz der Kaffeebranche zum Filialbetrieb: Mit einem diversifizierten BohnenröstkaffeeSortiment versuchte sie erstens, neue Kunden zu gewinnen. Zweitens bedurfte die (mit speziellen Maschinen und geschultem Personal produzierte) breite Produktpalette einer wachsenden Zahl von Kunden, damit die kapitalintensiven Investitionen refinanziert werden konnten. Drittens musste ein kontinuierlicher Absatz gewährleistet werden, da Röstkaffee aufgrund seines schnellen Aromaverlustes nicht lange haltbar ist. Diese Faktoren bedingten eine gewisse Konzentration auf das Produkt und seinen schnellstmöglichen Absatz in den Kaffeespezialgeschäften.
Schluss Der Wandel des deutschen Kaffeemarktes ist eines der prägnantesten Beispiele für Globalisierungsprozesse und ihre sozialen und ökonomischen Folgen im Zuge der Integration von Märkten. Die Interaktion von Akteuren und die Interdependenz ihrer Handlungen schuf im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einen global integrierten Rohkaffeemarkt, auf dem das Produkt standardisiert gehandelt wurde und sich die Preise, vermittelt durch Arbitragegeschäfte an den Terminbörsen, anglichen. Die wachsende Dominanz der beiden Sorten Santoskaffee und Riokaffee auf dem Weltmarkt reduzierte im deutschen Kleinhandel die Gewinnmargen und führte zu Absatzschwierigkeiten, weil die Brasilkaffees dem Geschmack des durchschnittlichen deutschen Konsumenten nicht entsprachen. Damit geriet der Groß- und Kleinhandel in eine Lage, in der sich der einfache Weiterverkauf der grünen Bohnen an den Endkunden nicht mehr rentierte. Sowohl Binnengroßhändler als auch Einzelhändler begegneten der zunehmenden Abhängigkeit vom Hamburger Kaffeegroßhandel und dessen Versuchen, die Ware im globalen Handel zu standardisieren, mit der Einführung einer neuen Gewinnstufe in die Wertschöpfungskette: Sie integrierten das Verlesen, Mischen und maschinelle Rösten in ihre Unternehmen. Wenn man die Konsequenzen der globalen Entwicklungen für den Binnengroß- und Einzelhandel berücksichtigt und die Integration des Röstens als die Antwort auf diese Entwicklungen interpretiert, so erscheint es verkürzt, die Entstehung der Kaffeebranche allein als Reaktion auf veränderte Konsumentenbedürfnisse zu bewerten. 59 Vgl. MPG-Archiv, Abt. IX, Rep. Josef Kaiser; Hirsch (Anm. 12), S. 45.
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Die international agierenden Großkaufleute drängten auf die Homogenisierung des Rohprodukts und die Standardisierung der Handelsformen. Dem begegneten die Groß- und Kleinhändler im Binnenhandel mit entgegengesetzten Strategien bei der Weiterverarbeitung des Rohstoffs. Indem sie unter Verwendung spezieller Verfahren und neuer Zusätze Röstkaffeeprodukte in unterscheidbaren Qualitäten herstellten, entwickelten sie ein differenziertes und sozial segmentiertes Warenangebot. So wurden aus Handelsunternehmen nun auch produzierende Unternehmen. Viele Firmen, die Kaffee verarbeiteten, produzierten weiterhin für einen kleinen Abnehmerkreis, auf dessen Vorlieben sie sich genau einstellten. Kunden und Ladeninhaber kannten sich; Hilfe im Geschäft kam nicht selten aus dem familiären Umfeld. Gleichzeitig erreichte demgegenüber eine kleine Gruppe von Unternehmen deutschlandweit einen großen Kreis von Kunden. Hierfür stehen Großröster wie Hanssen & Studt, die ihre Produkte über selbstständige Kolonialwarenläden vertrieben oder Massenfilialisten wie Kaiser’s Kaffeegeschäft, die alle Wertschöpfungsschritte in ihr Unternehmen integrierten. Die Skaleneffekte der Großröster und des Filialhandels führten nicht nur zu Kosteneinsparungen. Sie schufen auch neue Berufsbilder, wie das der Reisenden und Vertreter, und erhöhten den Bedarf an technisch geschultem und kaufmännisch versiertem Fachpersonal. Vor allem basierten die positiven Skaleneffekte auf ungelernten und kostengünstigen weiblichen Arbeitskräften, wie den Verleserinnen im Produktionsprozess und den Tresenverkäuferinnen in den Filialen. Die Arbeitsbeziehungen waren nun ebenso über den Markt geregelt, wie es die alltägliche Bedarfsbefriedigung der Konsumenten war. Dieser Teil der Branche vermochte es, das Verkäufer-Kunden-Verhältnis völlig auf das maschinell produzierte und standardisierte Endprodukt auszurichten. Dabei sind die abhängigen Beschäftigten in der Kaffeebranche – ebenso wie Büroangestellte oder Stahlarbeiter – ein gutes Beispiel für differenzielle Konsumentengruppen im Kaiserreich, die das konsumfertige Produkt Röstkaffee dem Kauf grüner Bohnen vorzogen. Dementsprechend lässt sich die Kommerzialisierung der Kaffeekirschen in konsumfertige Röstkaffeeprodukte als Teil der Entwicklung hin zu industrialisierten und urbanisierten Marktgesellschaften interpretieren. Blickt man auf die Entstehungsgeschichte der Kaffeebranche im Deutschen Kaiserreich und ihre Evolution bis zum Ersten Weltkrieg, wird offensichtlich, dass moderne Marktgesellschaften im Zuge sich global integrierender Märkte entstanden. Folglich liegt es auf der Hand, die Integration der Weltwirtschaft und die Entstehung moderner Marktgesellschaften im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als relationale Prozesse zu begreifen. Die Rationalität dieser Prozesse lässt sich schwerlich anhand von Teilbereichen des Marktgeschehens untersuchen, wenn nur mehr ausgewählte technische Innovationen, singuläre Unternehmensstrategien oder partielle Konsummuster analysiert werden.
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Vielmehr sind es die gesellschaftlichen Denk- und Verhaltensmuster gemäß tauschwirtschaftlicher Rationalität, die ihren Ausdruck in der marktwirtschaftlichen Organisation auch der alltäglichsten Handlungen fanden. So gesehen eröffnet die Untersuchung des Zusammenspiels von interessengeleiteten Verhaltensweisen der Akteure auf Märkten mit den von diesen Akteuren hierfür eigens geschaffenen Institutionen den Blick auf die gesamtgesellschaftlichen Dynamiken kapitalistischer Wirtschaftsweisen.
Justus Fenner
Arbeiteranwerbung und Wanderarbeit auf den Kaffee-Fincas in Chiapas (Mexiko). Eine Neuinterpretation des Enganchesystems
»Die Kaffeeplantagenbesitzer, diese Herren über Leben und Tod, Besitzer des gesamten reichen Soconusco […] machen aus dem Indianer nicht einen Arbeiter, sondern ein Lasttier ; machen aus ihm nicht einen Mann, sondern einen Sklaven.« (David Marina an den Präsidenten Plutarco Elias Calles, 5. Juli 1925) »Was das Arbeiterproblem anbetrifft, so existiert es einfach deshalb nicht, weil diese unglücklichen Indianer keine Arbeiter sind, sondern Parias; […] es gibt Personen unter den Finqueros die, wenn die besagten Indianer sich weigern für die traditionellen Niedriglöhne zu arbeiten, es vorziehen ihre Ernte zu verlieren, bevor sie auch nur im Geringsten Zugeständnisse zur Veränderung der bestehenden Verhältnisse machen und so die Landarbeiter schließlich zwingen, aus Hunger nachzugeben.« (Informe del Departamento de Industrias al Inspector de Trabajo Silverio Caballero sobre la situaciûn laboral en el Soconusco, 19. 2. 1925, AGN/Depto. de Trabajo, C. 845, Exp. s. n.)
Diese und ähnliche Klagen haben das Geschichtsbild des Landarbeitersystems im südlichsten mexikanischen Bundesstaat Chiapas geprägt. Sie beziehen sich auf die Anwerbung (enganche), den Transport und die Beschäftigung von Tausenden indianischer Wanderarbeiter aus dem Hochland von Chiapas zur Arbeit auf den küstennahen Kaffeeplantagen in der Anbauregion Soconusco. Als enganche ist im engeren Sinne die Anwerbung durch Werber (enganchadores) mittels eines Vorschusses (enganche) zu verstehen. In der Forschungsliteratur wird enganche aber in einen größeren Zusammenhang gestellt, der jenseits der eigentlichen Anwerbung auch den Transport und mehrmonatigen Aufenthalt der Arbeiter auf den Kaffeeplantagen mit einbezieht. Auf diese Weise umfasst enganche sowohl Folgen als auch Verantwortlichkeiten für die Aufrechterhaltung eines Arbeiteranwerbungssystems, das allgemein als System der Gewalt und Ausbeutung beschrieben wird. Die sozialen Mechanismen, die zu dieser Einschätzung beigetragen haben, werden gemeinhin unter peonaje und enganche zusammengefasst. Bei peonaje handelt es sich um eine Art Schuldknechtschaft, die in der Praxis der Leibeigenschaft ähnelte. Dabei verbrachten die Arbeiter und deren Familien ihr Leben im weitgehend geschlossenen Kosmos eines rancho oder
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einer hacienda, wo der Landbesitzer die absolute Verfügungsgewalt über Leben und Eigentum der Arbeiter besaß. Schließlich vererbten die Arbeiter ihre Schulden auf ihre Kinder weiter. Das enganche ist dagegen durch periodische Wanderarbeit charakterisiert. Auch hier ist der auslösende Faktor eine eingegangene »Schuld«; ein Vorschuss, der den Arbeiter verpflichtete, bis zur Ableistung für längere Zeiträume auf die Plantage zu gehen. Die Einhaltung der Arbeitsverpflichtung wurde von lokalen Autoritäten und Anwerbern überwacht, die dafür ein zusätzliches Entgelt von der Plantage erhielten. Im Falle der chiapanekischen Kaffeeproduktion wird der Analyse des enganche oft ein weiterer Aspekt hinzugefügt: der Hinweis darauf, dass sich viele der Kaffeeplantagen in deutschem Besitz befanden. Dieser Umstand verweist nicht nur auf individuelle oder kulturelle Verantwortlichkeiten, sondern führt zu den internationalen Zusammenhängen der Kaffeeproduktion. Hier spielen die Abhängigkeit von den europäischen Exportmärkten und die Preisgestaltung eine große Rolle ebenso wie Mentalitäten und persönliche Erfahrungen der deutschen Plantagenbesitzer mit polnisch-russischen Wanderarbeitern auf den ostelbischen Gütern.1 Ich werde im Folgenden anhand bisher weitgehend ungenutzter Archivalien das Enganchesystem für den Soconusco neu interpretieren. Auslöser für die Beschäftigung mit dem Thema waren zwei Beobachtungen: erstens, dass das Bild einer fortgesetzten Gewaltkette zur Erhaltung des enganche und damit der Kaffeeproduktion nicht überzeugt. Zweitens, dass politische Interessen dieses Bild schufen und wachhielten, was die öffentliche Debatte prägt. Doch zunächst ein kurzer Blick auf die Vorgeschichte.
Der Soconusco und die Expansion der Kaffeeproduktion Die Rede ist von einer Region, die geschichtlich und kulturell eigentlich eher zu Mittelamerika gehört und heute den südöstlichsten Punkt Mexikos darstellt; von einer Zone, die bis 1908 relativ abgeschlossen war und leichter über Guatemala erreicht werden konnte als über die rudimentären mexikanischen Verkehrswege; von einer Region, die historisch gesehen eher dünn von Mam-Indianern besiedelt war, die an den steilen Hängen der Sierra Madre sporadische 1 Den Zusammenhang zwischen privatwirtschaftlichen und staatlichen Bemühungen zur Regelung der polnisch-russischen Wanderarbeiterfrage in Preußen und den fast zeit- und inhaltsgleichen Reglementierungsvorschlägen der deutschen Fincabesitzer im Chiapas analysierte ich in meinem Vortrag »La influencia alemana en la configuraciûn del sistema laboral chiapaneco, 1896 – 1936« im Rahmen des 54. International Congress of Americanists in Wien 2012.
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Abb. 1: Indianische Wanderarbeiter aus dem Hochland auf einer Finca im Soconusco, circa 1910 (Quelle: Foto Otto Suchardt, Archivo Fotogrfico del Patronato para el Patrimonio Cultural de la Ciudad de San Cristûbal de Las Casas, A.C.)
milpas2 anlegten, sowie von einer Region, deren Berge von einem dichten tropischen Regenwald überzogen waren und deren kleine Küstenorte überwiegend von Rinderzucht, Kakao- sowie Zuckerrohranbau, inklusive der unvermeidlichen Alkoholproduktion, lebten. Diese drei Produktionsbereiche waren in der Hand einer kleinen Mestizoschicht, die verteilt über diverse Ortschaften lebte, wobei die Stadt Tapachula das administrative Zentrum darstellte. 1910 erreichte die Gesamtbevölkerung dieser Region knapp 22.000 Personen, die sich auf 16 Ortschaften verteilten. 1873 begann der kommerzielle Anbau von Kaffee. Bis 1910 wurden im Soconusco über 100 Kaffeeplantagen gegründet, viele davon mit hanseatischem Kapital, was auch mit einer gesteigerten Nachfrage nach Qualitätskaffees im Deutschen Reich zusammenhing. Rund 40 der Plantagen waren technisch voll ausgestattete Großbetriebe; der Rest kleinere und vergleichsweise unproduktive Fincas mit rudimentärer Technik und geringem Arbeiterbedarf. Wurden anfänglich lokale Arbeitskräfte und guatemaltekische Auswanderer angeworben, reichte dies Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr aus: Die Plantagenbesitzer (finqueros) gingen dazu über, Arbeiter aus weiter entfernten Regionen in 2 Milpa bezeichnet eine Form der kleinbäuerlichen Produktion im mesoamerikanischen Raum. Dabei werden Bohnen, Mais und Kürbisse mit dem Grabstock gepflanzt und gleichzeitig angebaut.
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Chiapas und in Guatemala anzuwerben. Für 1920 liegen die Schätzungen bei 20.000 bis 30.000 jährlichen Wanderarbeitern. Dies unterstreicht nicht nur die Spitzenposition des Soconuscos als Arbeitgeber in Chiapas, sondern auch seine Bedeutung als wichtigster Kaffeeproduzent und damit Devisenbringer Mexikos. Seit dem Beginn der kommerziellen Kaffeeproduktion litt der Soconusco unter chronischem Arbeitermangel. Matas Romero, Vorkämpfer der Kaffeekultur in Mexiko und selbst Plantagenbesitzer im Soconusco, hob diesen Aspekt in seinem Bericht aus dem Jahr 1875 hervor: Der Soconusco sei fruchtbar und habe ein enormes wirtschaftliches Potenzial, aber der Region fehlten die Arbeitskräfte, um es auszuschöpfen,3 eine Einschätzung, die seither unzählige Male wiederholt wurde. Andere Analysen sahen den Grund für den Arbeitskräftemangel in der fehlenden Bereitschaft, angemessene Löhne zu zahlen.4 Die Arbeiterknappheit führte schon in den 1880er-Jahren dazu, dass die Fincas von guatemaltekischen Arbeitern abhängig wurden.5 Seitdem weiteten die Fincas die Arbeiteranwerbung zunächst auf die chiapanekische Region Motozintla aus, die von ehemaligen Guatemalteken besiedelt war. Als auch das nicht ausreichte, folgte Anfang des 20. Jahrhunderts die Anwerbung bis hinauf in das zentrale Hochland um San Cristûbal (s. Abb. 2). Einige versuchten sogar, Arbeiter im Nachbarstaat Oaxaca anzuwerben; andere machten Verträge mit den blackbirders,6 die Südseeinsulaner als temporäre Arbeitskräfte nach Mittelamerika und in den Soconusco verkauften. Doch die im chiapanekischen Hochland angeworbenen Arbeiter kehrten nach getaner Arbeit in ihre Heimatdörfer zurück und mussten nicht von der Finca unterhalten werden. Allerdings bestand die Notwendigkeit, die Arbeiter jedes Jahr neu anzuwerben und auf die Fincas zu bringen, wodurch die Möglichkeiten zur Flucht enorm stiegen. Dies rief jedes Jahr erneut die Befürchtung hervor, trotz gezahlter hoher Vorschüsse die Ernte nicht einbringen und damit die finanziellen Verpflichtungen gegenüber den meist hanseatischen Kaffeeaufkäufern nicht erfüllen zu können. Die finanziellen Risiken zeigten sich in der Kaffeekrise von 1897, als Hamburger Gläubiger mehrere der großen Kaffeefincas übernahmen. 3 Matas Romero: Cultivo del caf¦ en la costa meridional de Chiapas, 4. Aufl., Mexiko D.F. 1893 [1875], S. 17; Karl Kaerger: Landwirtschaft und Kolonisation im spanischen Amerika. Bd. 2: Die südamerikanischen Weststaaten und Mexiko, Leipzig 1901, S. 544 f.; Miguel Ponce de Leûn: Cultivo del caf¦ en Soconusco, in Romero (s. o., Anm. 3), S. 138 – 141; Juan H. Ludewig: Zwanzig Jahre deutscher Kolonisationsarbeit und die Kaffeekultur im Soconusco, in: Tropenpflanzer. Zeitschrift für tropische Landwirtschaft, XVI (1912) S. 146, 239; Paul Furbach: Die Arbeiterverhältnisse in den Kaffee-Plantagen Süd-Mexikos, Berlin 1912, S. 7. 4 Rafael Pimentel: Informe del Ciudadano Gobernador del Estado a la XXIII Legislatura del mismo, 16. 9. 1904, Imprenta del Gobierno del Estado, Tuxtla Guti¦rrez 1904. 5 Deutsches Handelsarchiv, Bd. 2, 1902, S. 449. 6 Der Begriff blackbirding bezeichnete in Australien und im Südpazifik die Arbeitsverpflichtung von Insulanern (als sog. indentured labourers) für die Arbeit auf Plantagen in verschiedenen Weltregionen.
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Abb. 2: Karte nach Favre (Quelle: Henri Favre: Le travail saisonier des Chamula, in: Cahiers de l’Institut des Hautes Etudes de l’Amerique Latn, 7, Paris 1965, S. 119)
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Wir haben es also mit einer paradoxen Situation zu tun, in der Plantagenbesitzer unter angeblich chronischem Arbeitermangel litten, aber gleichzeitig traurige Berühmtheit als skrupellose Ausbeuter erlangten. Der Widerspruch zwischen politischem Diskurs und gelebter Realität spricht dafür, dass es andere, vorrangige Motivationen für die indianische Wanderarbeit gegeben haben muss. Diese Widersprüche sind bisher nicht untersucht worden, weshalb ich sie hier in den Mittelpunkt stellen werde. Dabei gehe ich zunächst auf die gängige Interpretation des Enganchesystems ein und analysiere die Bedeutung von Informationen aus den Gerichts- und Verwaltungsarchiven. Anschließend hinterfrage ich die drei traditionellen Haupterklärungen für Wanderarbeit: erstens den Verlust der kommunalen Ländereien, zweitens die hohe Steuerlast und drittens den Schuldenmechanismus. Schließlich lege ich dar, wie die Arbeiterknappheit den Wanderarbeitern gewisse Spielräume verschaffte, ihre Lebensund Arbeitsbedingungen zu verbessern, und erörtere, ob es auch freiwillige Wanderarbeit gab. In einem Ausblick auf einen Streik indianischer Wanderarbeiter im Jahr 1922 zeige ich, dass diese die Wanderarbeit nicht infrage stellten, sondern ihre kollektiven Interessen bezüglich Arbeitsbedingungen und Lohnzahlung durchsetzen wollten.
Die Ursachen für das negative Bild des enganche in der mexikanischen Historiografie Das allgemeine Bild der Arbeiteranwerbung lässt sich wie folgt resümieren: Indianische Arbeiter schufen den Erfolg der Kaffeeplantagen, die vielfach von hanseatischem Kapital dominiert wurden und sich durch ausbeuterische Arbeitspraktiken auszeichneten. Nur wenige dieser Arbeiter waren fest angestellt, während die meisten mehrmals jährlich als Wanderarbeiter in die Kaffeeanbauregionen importiert wurden. Die Anwerbung glich einem Arbeiterankauf, der durch betrügerische Mittel mithilfe der lokalen Autoritäten vollzogen wurde. Bewaffnete Aufseher begleiteten die Arbeiter bei ihrem achttägigen Gewaltmarsch auf die Fincas; dort angelangt mussten sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf steilen Hängen Kaffee ernten oder die Plantagen säubern. Der Lohn reichte nicht aus, um den erhaltenen Vorschuss abzuzahlen oder gar die überteuerten Waren im fincaeigenen Laden zu erwerben. Der gesamte Arbeitsprozess war mit unüberwindbaren Hindernissen gespickt, die den Arbeiter in ewiger finanzieller Abhängigkeit beließen, was häufige Vergleiche zur Feudalherrschaft und Sklaverei nahelegte. Der Profit floss in die Taschen einer kleinen exklusiven Gruppe ausländischer Kapitalisten, die sich damit ein Leben in Saus und Braus zwischen Amerika und Europa ermöglichte.
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Derartige Berichte über die brutalen Ausbeutungsmechanismen sind häufig, wobei die Forschung in der Regel von einer gleichförmigen Arbeits- und Ausbeutungslage ausgeht. Die mexikanische Presse brandmarkte Chiapas schon seit Beginn der kommerziellen Agrarproduktion in den 1870er-Jahren als Sklavenstaat.7 Es gibt in der mexikanischen Historiografie des 20. Jahrhunderts eine notorische Vermischung von Kenntnissen über die traditionelle chiapanekische hacienda und die Kaffeeplantagen. Die Haciendas werden dabei als Betriebe mit lebenslanger Schuldknechtschaft und eingeschränkter Mobilität charakterisiert; als ein System, das der Sklaverei geähnelt habe (peonaje). Dagegen beruhten die Plantagen vermehrt auf kapitalistischen Prinzipien der Lohnarbeit. Trotzdem fand und findet eine unkritische Gleichstellung zwischen Peonaje-Sklaverei und kapitalistischer Ausbeutung statt, die die Unterschiede beider Systeme ignoriert und daher die Bestrebungen der Plantagenwirtschaft hin zu einem »freien« Arbeitsmarkt sowie Veränderungen auf »Arbeitnehmerseite« nicht in ihre Analyse einbezieht. Es wird Kontinuität und Einheitlichkeit suggeriert, wo Wandel und Vielfalt existierten. Das Bild eines allumfassenden repressiven Systems der Arbeiteranwerbung, Kontrolle und Ausbeutung überzeugte, weil es den kapitalistischen Produktionsmechanismen und der damit einhergehenden Mentalität zu entsprechen scheint. Deshalb fand es seinen Weg in die Geschichtsschreibung, wo es als Beispiel für menschenverachtende Ausbeutung in der tropischen kommerziellen Landwirtschaft steht. Verstärkt wurde dieses Bild durch die Tatsache, dass es sich bei den Plantagenbesitzern meist um europäische (vielfach deutsche) oder nordamerikanische Einwanderer handelte, die in dieser Interpretation, geschützt durch abhängige lateinamerikanische Regierungen in quasi kolonialherrschaftlicher Weise ein Luxusprodukt für die imperialen Industriemächte produzierten. Dieses Bild formierte sich also im Spannungsfeld zwischen imperialen Ansprüchen einerseits und antikolonialen, nationalen Gefühlen und Bestrebungen andererseits. Dabei sind folgende historische Rahmenbedingungen prägend gewesen: Vor und um 1900 drohte eine Neuausrichtung der staatlichen Wirtschaftspolitik hin zum Export tropischer Agrarprodukte, die alte Landoligarchie im Hochland von Chiapas in den politischen Hintergrund zu verdrängen, was dort allergische Reaktionen und Anklagen gegen die Modernisierer, unter ihnen die Kaffeefinqueros, provozierte. Deren Beschreibung der traditionellen chiapanekischen Hacienda, als weitgehend für den Eigenkonsum und den lokalen Markt produzierendes Unternehmen mit feudalistischen Kontrollstrukturen und absoluter Verfügungsgewalt des patrûn, hatte ihren Höhepunkt in den 1880er-und 7 Artculos de Ýngel Pola, in: Gastûn Garca Cantffl (Hg.): El Socialismo en M¦xico, Siglo XIX, Mexico D. F. 1969, S. 378 – 402.
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1890er-Jahren: Unter anderen berichteten deutsche Reisende wiederholt über Sklaverei im Chiapas, und auch der chiapanekische Journalist Ýngel Pola veröffentlichte 1885 eine Artikelserie über Sklaverei in Pichucalco, Nordchiapas.8 Elf Jahre später berief die chiapanekische Regierung einen Congreso Agrcola ein, um über die Abschaffung des Peonaje-Systems zu debattieren. Obwohl der Kongress keinen Wandel brachte, forderten damals erste Stimmen einen freien Arbeitsmarkt. Die Diskussionsbeiträge der auf dem Kongress nur schwach vertretenen Plantagenbesitzer sind nicht überliefert.9 Auch die Versuche der zumeist deutschen Finqueros nach 1900, das chiapanekische Peonaje-System in einen freien Arbeitsmarkt zu transformieren und so den ungehinderten Zufluss von Arbeitskräften zu gewährleisten, kamen nur langsam voran. Deshalb bedienten sie sich notgedrungen weiter der Vorschusszahlungen auf zukünftige Arbeitsleistungen oder verkauften Landrechte gegen Finca-Arbeit an Wanderarbeiter. Diese Maßnahmen bewerteten Kritiker als Belege für eine Kontinuität der absoluten Abhängigkeit der Arbeiter vom Patron, die sie in das ideologisch geprägte Bild vom ausländischen Ausbeuter und dem heimischen ausgebeuteten Arbeiter integrierten. Bis in die Gegenwart wurde dieses Bild weitgehend kritiklos übernommen, allerdings mit dem Unterschied, dass die chiapanekische Hacienda durch den Großgrundbesitz ausländischer Kaffee- und Holzbarone ersetzt wurde.10 Nach der Mexikanischen Revolution fand diese Interpretation ihre Fortsetzung, wenn auch aus anderen Gründen: Nach 1914 versuchte die carranzistische Militärregierung,11 die revolutionären Ideale umzusetzen, weshalb sie jegliche Restbestände realer oder scheinbarer feudaler Ausbeutung anprangerte und auszumerzen versuchte.12 Auch die späten 1920er- und 1930er-Jahre standen unter dem Vorzeichen der politischen Organisierung des ländlichen Arbeitersektors als Stützpfeiler der Regierungspartei PNR (Partido Nacional Revolucionario), die das langsam entstehende Klassenbewusstsein fördern wollte.
8 Die im El Socialista 1885 abgedruckten Artikel sind wiedergegeben in Gastûn Garca Cantffl (Hg.): El socialismo en M¦xico, Siglo XIX, 4. Aufl., Mexiko D. F., 1984, S. 381 – 403. 9 Datos del Congreso Agrcola reunido en Tuxtla Gutie´rrez (Chiapas) el an˜o de 1896, Tuxtla Guti¦rrez 1896. 10 Erasto Urbina: El despertar de un pueblo, Memorias relativas a la Evoluciûn Indgena en el Estado de Chiapas, San Cristûbal de Las Casas, Chiapas 1944; Armando Bartra: El M¦xico brbaro: plantaciones y monteras del sureste durante el Porfiriato, Mexiko D. F. 1996. 11 Venustiano Carranza war einer der mexikanischen Revolutionsführer und ab 1917 Präsident des Landes. Sein Einmarsch in Chiapas im Jahr 1914 stellte eine wichtige Zäsur für die politische Entwicklung im Bundesstaat Chiapas dar. 12 Documentos relativos al Congreso Agrcola de Chiapas, Tuxtla Guti¦rrez 1896, 1915; Gobierno del Estado de Chiapas: Boletn de Informaciûn. rgano a cargo de la oficina del teniente Alfonso Mara Martnez, Tuxtla Guti¦rrez 1915.
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Dafür bedurfte es klarer Frontlinien zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, in unserem Fall den Fincabesitzern und den indianischen Wanderarbeitern.13 Während des Zweiten Weltkriegs, in der Nachkriegszeit und besonders in den 1970er- und 1980er-Jahren wurden diese Bilder unter einer neuen Prämisse wachgehalten: Deutschstämmig wurde nun gleichgesetzt mit nationalsozialistischem, rassistischem Gedankengut und anachronistischem, germanischem Imperialismus. Dieses vereinfachende Bild erhielten Presseberichterstattung und Buchpublikationen bis in die jüngste Gegenwart aufrecht.14 Allerdings hat diese klischeehafte Interpretation schon vor Jahren kritische Stimmen hervorgerufen, die abweichende Daten publizierten und so den festgefügten Mythos eines auf reiner Gewalt basierenden Arbeitsmarktes infrage stellten.15 Wenn ich hier eine Reihe von Punkten vorstelle, die mit der klassischen Interpretation andauernder Gewalt nicht konform gehen, setze ich Argumentationen fort, die Arnold J. Bauer und Friederike Baumann schon in den 1980erJahren geäußert haben.16 Dabei versuche ich eine differenziertere Interpretation der Finca als Arbeitsplatz und soziokulturellem Kontaktfeld zwischen zwei beziehungsweise drei verschiedenen Welten zu entwickeln. Deshalb erhält meine Arbeit notgedrungen einen stark revisionistischen Einschlag. Trotzdem ist es nicht meine Absicht, die der klassischen Gewaltthese zugrundeliegenden Fakten 13 Informe del Jefe Interino de la Secciûn de Conciliaciûn de la Secretara de Industria, Comercio y Trabajo al Jefe del Depto. de Trabajo, sobre la situaciûn despu¦s del paro de los trabajadores temporales en el Soconusco, 18. 11. 1922, Archivo General de la Naciûn, M¦xico D. F. [AGN] /Departamento de Trabajo, Caja 453, Exp. 11; Urbina (Anm. 10). 14 Ricardo Pozas A.: El trabajo en las plantaciones de caf¦ y el cambio sociocultural del indio, in: Revista Mexicana de Estudios Antropolûgicos, Vol. 13, (1952) M¦xico D. F., S. 31 – 48; G. Aguirre Beltrn, Alfonso Villa Rojas, A. Romano Delgado: El indigenismo en accio´n: XXV aniversario del Centro Coordinador Indigenista Tzeltal-Tzotzil, Chiapas. Me´xico, Instituto Nacional Indigenista. SEP/INI, No. 44, Mexiko 1976, S. 14 ff.; Friedrich Katz: La servidumbre agraria en M¦xico en la ¦poca porfiriana, Mexiko D. F. 1980; Mois¦s Gonzlez Navarro: Kaerger: Peonaje, esclavitud y cuasiesclavitud en M¦xico, in: Historia de M¦xico, Vol. XXXVI, No. 3, (1987) Mexiko D. F., S. 527 – 551; »Acaparan 7 familias las mejores tierras cafetaleras de Chiapas«, in: Uno ms uno, 27. 5. 1980; Guillermo Correa: »125,000 caficultores esclavos del estado, por medio del Inmecaf¦«, in: Proceso No. 333, 19. 3. 1983, S. 24 – 27; Armando Cruz Snchez: »Gran imperio econûmico de polticos y extranjeros frente a la miseria indgena«, in: El Da, 7. 7. 1983; Armando Bartra: El M¦xico Brbaro. Plantaciones y Monteras del Sureste durante el Porfiriato, Mexiko D. F. 1996; Boris Kanzleiter, Dirk Pesara: Die Rebellion der Habenichtse. Der Kampf für Land und Freiheit gegen deutsche Kaffeebarone in Chiapas, Berlin 1997. 15 Robert Wasserstrom: Clase y sociedad en el centro de Chiapas, Mexiko D. F. 1992; Friederike Baumann: Terratenientes, campesinos y la expansiûn de la agricultura capitalista en Chiapas, 1896 – 1916, Mesoam¦rica, 5, (1983), S. 8 – 63. Baumann greift hierin die provokativen Thesen zur Reinterpretation der Landarbeiterfrage in Lateinamerika von Arnold J. Bauer auf: Arnold J. Bauer : Rural Workers in Spanish America: Problems of Peonage and Oppression, in Hispanic American Historical Review, Vol. 59, (1979) No.1, S. 34 – 63. 16 S. Anm. 15.
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zu leugnen oder die Schwere der individuellen Erfahrung zu relativieren. Stattdessen möchte ich Denkanstöße geben, die hoffentlich zu einer umfassenderen Erklärung für die Dauerhaftigkeit der Wanderarbeit führen. Dabei möchte ich versuchen, ein differenzierteres Bild der Arbeits- und Lebenssituation auf den Kaffeeplantagen des Soconusco zu zeichnen; ein Bild, das die Schwarz-Weiß-Ebene verlässt und die diversen Grautöne zwischen den Extremen sondiert; ein Bild, das auch farbige Aspekte hervorhebt, um so dem vielschichtigen Bild der Kaffeeplantage im mittelamerikanischen Kontext gerecht zu werden. Ich beziehe mich hierbei weitgehend auf die Finca und ihr Umfeld, wobei die Hypothesen zu den Anziehungskräften der Wanderarbeit aber auch auf die Situation in den indianischen Siedlungsgebieten eingehen. Bei meiner Interpretation habe ich das Enganche-System in seiner Gesamtheit vor Augen. Es erlebte seine Blütezeit am Anfang des 20. Jahrhunderts. Trotz einiger Modifikationen durch die Ankunft der Revolution im Jahre 1914 (vgl. den Streik von 1922) bestand das System bis in die 1980er-Jahre fort.
Information aus Gerichts- und Verwaltungsarchiven In den Verwaltungs- und Gerichtsarchiven finden sich zahlreiche Klagen über Ausbeutung, Missbrauch und Betrug durch die Finqueros und ihre Angestellten. Einige davon fanden ihren Weg in die Presse und prägten so die öffentliche Meinung. Bei der Nutzung dieser Archivmaterialien muss berücksichtigt werden, dass Verwaltungen und ihre Archive die Funktion haben, außergewöhnliche Vorkommnisse zu registrieren; Vorkommnisse, die einen Verstoß gegen verschiedene Regeln des gesellschaftlichen Miteinanders darstellen. Ihre Funktion ist es dagegen nicht so sehr, alltägliche Vorkommnisse zu dokumentieren, die das »normale« Leben der Gemeinschaft prägen. Das administrative oder juristische Interesse an diesen Fällen ist die Erfassung von Regelverstößen sowie gegebenenfalls deren Ahndung und die Wiederherstellung der Ordnung. Deshalb sollte die Interpretation dieser Fälle ihrem »außergewöhnlichen Charakter« Rechnung tragen. Die Häufigkeit der Vergehen muss in einen größeren sozialen Kontext gestellt werden, was in unserem Fall bedeutet, die Fälle in Zusammenhang mit der alljährlichen Wanderbewegung auf die Fincas zu stellen. Auf diese Art und Weise können wir uns dem Gewaltphänomen bei der Arbeiteranwerbung nähern, wobei es nicht darum geht, dieses Phänomen zu leugnen, sondern seine Dimension zu überprüfen. Es gibt bisher keine quantitative Auswertung aller Klagen und Beschwerden, die im Zusammenhang mit der enganche jährlich bei den Verwaltungen oder Gerichten eingingen. Meine Forschungen in den Archiven der Anwerberegionen (San Cristûbal, Comitn, Motozintla) sowie in der Plantagenregion (Tapachula,
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Soconusco) haben Folgendes ergeben: Im Ausnahmefall wurden zwischen 50 bis 100 Verfahren pro Jahr eingeleitet, wobei diese Zahl im Regelfall weitaus niedriger lag. Deshalb stellt sich die Frage, ob die Dokumentenlage in den Archiven die tatsächlichen Verhältnisse reflektiert. Hier existiert eine große Ungewissheit, die den Informationswert der Fälle schmälert, denn es ist anzunehmen, dass die sozialen Machtverhältnisse vielfach verhinderten, dass Klagen überhaupt einem Richter vorgetragen wurden. Erschwert wurde dies außerdem durch Unkenntnis der spanischen Amtssprache und der geografischen Entfernung zwischen indianischen Siedlungsgebieten und Gerichtssitz. Es besteht daher die Möglichkeit, dass Konflikte in den indianischen Gemeinden nur zum Gesprächsstoff wurden, aber keine juristischen Konsequenzen nach sich zogen. Gehen wir also davon aus, dass die Zahl der Gesetzesverstöße im Rahmen des enganche und der Finca-Arbeit weitaus höher liegt, als die Anzahl nachweisbarer Verfahren in den Archiven vermuten lässt. Spekulieren wir einmal, dass die Zahl der nichtangezeigten Fälle drei- bis viermal so hoch liegt wie die Zahl der gerichtsnotorischen Verstöße, so erreichen wir einen Jahresdurchschnitt von 150 bis 400 Fällen. Bei einer Gesamtzahl von bis zu 20.000 jährlichen Anwerbungen in Chiapas würde der Anteil der Verstöße zwischen 0,75 Prozent und 2 Prozent liegen. Selbst wenn dieser Prozentsatz wesentlich höher läge, wäre es problematisch davon auszugehen, dass der Regelverstoß den Regelfall darstellte. Anscheinend war die Wanderarbeit nicht derart von menschlicher Gewalt und Ausbeutung geprägt war, wie die Geschichtsschreibung suggeriert.
Der Verlust der kommunalen Ländereien Das Standardargument, um die Wanderarbeit der indianischen Kleinbauern zu erklären, beruft sich auf die staatlichen und föderalen Gesetze zur Enteignung und Privatisierung des kommunalen Landbesitzes zwischen 1824 und 1893. Der Landverlust an ladinos17 reduzierte die Fähigkeit einer autonomen Versorgung der indianischen Landkreise, denn die Möglichkeiten einer rotierenden Landwirtschaft waren nun begrenzt. Als Beleg wird häufig der Fall der Familie Larrinzar zitiert, die 1846 nicht nur weite Teile des municipio Chamula, sondern auch der municipios San Andr¦s, Mitontic, Chenalhû und Oxchuc in ihre Hand brachten. Dabei wird allerdings nie erwähnt, dass Chamula seine Ländereien 17 Das spanische Wort ladino bezeichnete ursprünglich Mauren und Juden, die die spanische Sprache erlernten und sich den spanischen Gewohnheiten anpassten. Nach der spanischen Eroberung Amerikas wurde der Begriff für indigene Bevölkerung und Mestizen verwandt, die dort Spanisch sprachen und spanische Gebräuche übernahmen. Am stärksten ist der Begriff in Guatemala verbreitet, wo er alle nicht-indigenen Guatemalteken einschließt und im 19. Jahrhundert auch in den Gesetzen verankert wurde.
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Abb. 3: Kolonne indianischer Wanderarbeiter mit zwei Anwerbern in San Cristûbal de Las Casas, 1930er-Jahre (Quelle: Foto: Jos¦ Antonio Crocker. Archivo Fotogrfico del Patronato para el Patrimonio Cultural de la Ciudad de San Cristûbal de Las Casas, A.C.)
bereits 1851 vollständig zurückerwarb. Dies ist von hoher Bedeutung, da Chamula der bevölkerungsreichste indianische Landkreis war und später mit 40 Prozent die größte Zahl der Wanderarbeiter stellte. Seither gab und gibt es keinen privaten Landbesitz innerhalb des Landkreises, genauso wenig in Mitontic, das mit 18 Prozent der Wanderarbeiter an dritter Stelle stand. Auch in den anderen der genannten Landkreise erwarben die Dorfgemeinschaften große Teile entweder zurück oder besetzten sie neu, nachdem die Familie Larrinzar 1855 aus dem Staat ausgewiesen worden war. Die Municipios mit den noch verbliebenen Haciendas stellten während des gesamten 20. Jahrhunderts wesentlich geringere Kontingente an Wanderarbeitern als Chamula.18 Wie erklärt sich also die hohe Zahl an Wanderarbeitern aus Chamula? Der Anthropologe Robert Wasserstrom argumentiert, die Bevölkerungszunahme im indianischen Hochland und die dadurch verschärfte Landknappheit habe bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine prinzipielle Bereitschaft zur Abwanderung hervorgerufen. In Chamula, aber auch in den anderen Landkreisen 18 Es handelte sich um folgende Municipios: Tenejapa, Chenalhû, Santa Marta, Santa Magdalena und Pantelhû. Henri Favre: Le travail saisonnier des Chamula (1962), Cahiers de l’Institut des Hautes Êtudes de l’Am¦rique latine, 7, 1965, S. 94 ff.; Justus Fenner : Lebens- und Arbeitssituation der indianischen Kaffeeplantagenarbeiter im Soconusco, Chiapas, Magisterarbeit Universität Hamburg, 1986, Anlage 5, Wanderarbeiter der Jahre 1937 – 1983.
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habe dies Zwangsmaßnahmen zur Anwerbung unnötig gemacht.19 Die Abwanderungen der Tzotzil-Indianer in die Gegend von Jitotol, Simojovel und die Gründung von Rincûn Chamula in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen die Behauptung Wasserstroms plausibel erscheinen, da sie aus denselben Gründen erfolgte. 1904 äußerte der jefe poltico von San Andr¦s Chamula seine Besorgnis über seit geraumer Zeit abwandernde Indianer, die bessere Lebensbedingungen auf den Fincas des Soconusco suchten. Seine Aussage bestätigt, dass es im Hochland extreme Engpässe in der ländlichen Produktion gegeben hat.20 Im Nachbarmunicipio von Chamula, San Felipe Ecatepec, klagte der Dorfpfarrer bereits 1892 über die große Armut, in deren Folge fast alle (männlichen) Einwohner auf die Plantagen gegangen seien.21 Daten zur Bevölkerungsdichte in den Heimatkreisen der Wanderarbeiter bestätigen die Angaben Wasserstroms. Die vier Landkreise, aus denen die meisten Wanderarbeiter stammten (Chamula, Tenejapa, Mitontic und Oxchuc), wiesen die höchste Bevölkerungsdichte in Chiapas auf.22
Steuererhebung und Fincaarbeit Während des 19. Jahrhunderts wurde diskutiert, wie die indianische Bevölkerung am besten in den nationalen Produktionsprozess einzugliedern sei. Einer der Standardvorschläge war eine erhöhte Besteuerung, die die Menschen dazu zwingen sollte, bezahlte Arbeit außerhalb ihrer Landkreise zu suchen. Tatsächlich waren die Haciendabesitzer verpflichtet, die Kopfsteuern für ihre Arbeiter direkt an den Fiskus abzuführen. Die Summe wurde dann auf dem Schuldenkonto des Arbeiters vermerkt. Ob die Einführung von Kopf- oder Schuldsteuern den gewünschten Effekt hatte, die indianischen Wanderarbeiter den Plantagenbesitzern in die Arme zu treiben, ist bis heute nicht untersucht. Es gibt aber Anzeichen dafür, dass die Steuerlast einen weit geringeren Einfluss auf die Entscheidung zur Wanderarbeit hatte, als gemeinhin angenommen. Als der jefe poltico von San Andr¦s Chamula 1904 über schlechte Ernten und fortgesetzte Abwanderung auf die Fincas informierte, war seine Besorgnis nicht die akute Lebensmittelknappheit, sondern die vierteljährliche Steuerrechnung, 19 Robert Wasserstrom: Clase y Sociedad en el Centro de Chiapas, Mexiko 1992, S. 141; s. a. Favre (Anm. 18), S. 88 f. 20 Archivo Municipal de San Cristûbal de las Casas [AMPAL/SC], 1904, Minutario de Correspondencia oficial del Partido de Chamula, Oficios 145 y 430. 21 Archivo Histûrico Diocesano de San Cristûbal de las Casas [AHDSC], Carta del padre Cristûbal Martnez al obispo, 24 de octubre de 1892. 22 Favre (Anm. 18), S. 70.
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die wegen der mehreren Hundert Abwesenden nicht aufging.23 Er schrieb seinen Bericht, damit die Steuerbehörde ihn nicht für den Ausfall verantwortlich mache. Die Steuererhebung war also schon weit in die indianischen Siedlungsbezirke vorgedrungen und so zu einer wichtigen staatlichen Einnahmequelle geworden. Zugleich aber enthält der Bericht die Information, dass die restlichen rund Zehntausend männlichen, indianischen Kleinbauern ihre Steuern bezahlten. Dies wiederum legt die Vermutung nahe, dass die Mehrheit der indianischen Bevölkerung nicht von der neuen Steuergesetzgebung auf die Fincas getrieben, sondern die Zahlungen auf andere Weise abdecken konnte.24
Die Schuldenspirale im Enganchesystem Ob hohe Schulden der Wanderarbeiter bei der Fincaverwaltung den Grad der Ausbeutung zeigen oder ob sie ein Zeichen für ihre Verhandlungsstärke sind, wurde schon vor geraumer Zeit diskutiert.25 Hätte die Schuld tatsächlich einen bindenden Charakter gehabt, stellt sich die Frage nach dem Sinn hoher Vorschüsse, wenn eine geringere Summe die gleiche Funktion erfüllt hätte. Zwar gab es tatsächlich Fälle, in denen lokale Richter die Nichtableistung der Arbeitsverpflichtung als Betrug oder Unterschlagung ansahen und dies mit Verhaftung, Zwangsarbeit sowie der Kostenübernahme für Festnahme und Rücktransport auf die Finca ahndeten, obwohl das in scharfem Widerspruch zur Zivilgesetzgebung von 1871 stand. Allerdings gibt es keine Belege dafür, wie häufig diese Praxis vorkam. Hätte sich aber eine größere Anzahl von Wanderarbeitern der Finca-Arbeit verweigert und hätten sich durch behördliches und privates Vor23 Es gibt Anzeichen dafür, dass klimatisch oder politisch bedingte Ernteausfälle, wie sie 1880, 1891 – 92, 1895, 1898, 1904 und 1914 – 16 auftraten, mehr Einfluss auf die Entscheidung zur Wanderarbeit hatten als die Steuererhebung. Die Attraktivität der Fincas erhöhte sich in dem Maße, wie es ihnen gelang, genügend Mais vorrätig zu haben. S. hierzu: AMPAL/SC, 1904, Minutario de Correspondencia oficial del Partido de Chamula, Oficios 145 y 430. Bereits 1880, 1891, 1892, 1895 und 1898 informierten die jefes polticos von San Cristûbal über schwerwiegende Missernten im Hochland; ebd.: 1880, Exp. 46, 6 Comunicaciones de la Secretara de Gobierno, 16. 1. 1880; ebd.: 1892, Exp. 58, Promociûn de varios consejales; ebd.:1895, Exp. 4, Comunicaciones de la Jefatura Poltica, Of. No. 138, 8. 5. 1895; ebd.: 1898/2 Correspondencia de la Jefatura Poltica, Exp. 12, Of. No. 628, 24. 5. 1898. Ebenso: Archiv des Auswärtigen Amtes [PAAA], Akten der Deutschen Gesandtschaft, Paket 29, AI3d Revolutionsakten. Unruhen im Chiapas, 1910 – 1913, oficio 680/15; s. a.: Archivo Histûrico de Chiapas, Tuxtla Guti¦rrez, Mexiko [AHCH], Sria Gral de Gobierno, Fomento, 1926, Tomo XII, Exp. Huistn. 24 AMPAL/SC, 1904, Minutario de Correspondencia oficial del Partido de Chamula, Oficios 145 y 430. 25 Arnold J. Bauer: Rural Workers in Spanish America: Problems of Peonage and Oppression, in: Latin American Historical Review, Vol 59, (1979) No. 1, S. 34 – 63; Baumann (Anm. 15).
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gehen erheblich erhöhte Schulden angehäuft, hätte dies die Atmosphäre im Hochland und auf den Fincas stark belastet. Dies wiederum hätte einen größeren Sicherheitsapparat nötig gemacht, den eine Finca aber nur schwer aufrechterhalten konnte. Eine Flucht war daher fast immer möglich. In diesem Licht betrachtet scheint es eher unwahrscheinlich, dass die finqueros regelmäßig versuchten, die Schuld mit Gewalt einzutreiben. Die deutschen Landwirtschaftsexperten Karl Kaerger und Hans Helmut Ludewig beschrieben Anfang des 20. Jahrhunderts, dass »der Pflanzer kein wirksames Mittel an der Hand hat, den mit dem Vorschuss flüchtig gewordenen Arbeiter auf die Finca zurückzuführen«, weil weder die regionalen Verwaltungschefs (jefes polticos) noch die Dorfpräsidenten geneigt seien, »von der großen Macht, die sie thatsächlich über die Einwohner ihrer Bezirke haben, in dieser Richtung hin Gebrauch zu machen«.26 1925 berichtete der deutsche Geograf Leo Waibel, die Fincas litten zwar unter dem Kontraktbruch, hätten aber trotzdem ausreichend Arbeiter, um »ihre Arbeiten sorgfältig durchzuführen«. Waibel wie Kaerger sahen die Pflanzer zur Selbsthilfe genötigt, um die Arbeiter auf ihren Fincas zu halten.27 Gegen einen Zwang zur Arbeit sprechen außerdem die individuellen Arbeitsverträge; Verträge, die sich um die Jahrhundertwende einbürgerten und von einem Bürgen mitunterzeichnet werden mussten.28 Betrügerisches Vorgehen bei der Anwerbung würde das Risiko eines Bürgen unkalkulierbar machen, da sie bei Flucht oder Nichterfüllung des Arbeitsvertrages mit der eigenen Arbeitskraft einstehen mussten. Diese Praxis lässt eine grundlegende Bereitschaft zur Arbeitsableistung vermuten und legt ein gewisses Vertrauensverhältnis nahe: sowohl zwischen Bürgen und dem sich verpflichtenden Arbeiter als auch zwischen enganchador und Bürgen. Natürlich konnte der enganchador auf einen Bürgen verzichten und stattdessen eine mit betrügerischen Mitteln angeworbene Arbeiterkolonne illegal, unter Bewachung und ohne diese Rückversicherung in den Soconusco schicken. Dabei lag allerdings das gesamte finanzielle und juristische Risiko auf seinen Schultern.29 Im Hinblick auf das oben genannte Vertrauensverhältnis habe ich 1986 bereits auf den Mechanismus der Risikound Gewaltverminderung durch das Eingehen von rituellen Verwandtschaftsverhältnissen (compadrazgo) zwischen enganchadores und Wanderarbeitern hingewiesen.30 26 Kaerger (Anm. 3), S. 547 f.; s. a. Ludewig (Anm. 3), S. 146. 27 Leo Waibel: La Sierra Madre de Chiapas, Sociedad Mexicana de Geografa y Estadstica, Mexiko 1946, S. 184 – 186; Kaerger (Anm. 3), S. 547 f. 28 AMPAL/SC, Jefatura Poltica, 1902, 1903, 1904. 29 Vgl. für ein Fallbeispiel: AMPAL/SC, Correspondencia del Jefe Poltico de San Andr¦s Chamula al Jefe Poltico de Chiapas, 16. 8. 1913, sin No. Of. Und ebd., al Jefe Poltico de Comitn, 25. 11. 1913. 30 Fenner: Lebens- und Arbeitssituation (Anm. 18), S. 151 ff.
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Statt der gewaltsamen Rückführung bürgerte sich ein anderes Prozedere ein. Die von den Fincas gezahlten und noch nicht abgeleisteten Vorschusssummen konnten im Lauf der Jahre, im Falle größerer Fincas, auf bis zu 60.000 Pesos anwachsen. Diese scheinbar enormen Schuldensummen der Arbeiter bei der Fincaverwaltung nutzten die finqueros dafür, Druck auf die politisch Verantwortlichen auszuüben, um Steuer- und Exporterleichterungen für den Kaffeesektor sowie die Schaffung eines freien Arbeitsmarktes einzufordern. Der deutsche Landwirtschaftsexperte Karl Kaerger dagegen, der um 1900 den Soconusco bereiste, stellte klar, dass es sich bei den ausstehenden Summen nicht um unwiederbringliche Verluste handelte. Stattdessen würden die Vorschüsse »im Laufe der Ernte abverdient«, um dann von Neuem zu entstehen, wenn der Plantagenbesitzer versuchte, sich die Arbeiter für die nächste Ernte durch Vorschusszahlungen zu sichern. Hierdurch entstanden jährliche Schuldenkonten von 100 bis 400 Pesos pro Arbeiter.31 Es handelte sich nicht um eine kontinuierlich steigende, sondern um eine zyklisch fluktuierende Summe. Deren jährliche Schwankungen hingen davon ab, wie hoch die Bereitschaft des Plantagenbesitzers war, Vorschüsse für Arbeiten im folgenden Jahr zu vergeben. Kaerger bestätigte weiterhin, dass die Wanderarbeiter das Vorschusssystem zu ihrem Vorteil nutzten konnten. Er betonte, dass »das Bewusstsein, ungestraft mit dem Vorschuss durchgehen und sich für das nächste Jahr unbemerkt auf einer anderen Finca unter Aufnahme eines neuen Vorschusses anwerben zu lassen […], den Anreiz zur Flucht sehr erhöht«.32 Dafür, dass Kaerger die Situation richtig einschätzte, sprechen die Vorschläge der Finqueros, wie die Ableistung der Schulden bei Flucht oder bei Mehrfach-Schuldnern geregelt werden sollte.33 Kaerger riet, diese Kosten nicht als Verlust zu rechnen, sondern sie als reguläre Arbeiterkosten in die Buchhaltung zu integrieren. Die scheinbar hohen Summen ausstehender Schulden relativieren sich auch durch Informationen des deutschen Landwirtschaftsexperten Hans Hermann Ludewig über die Finca El Retiro: Dort betrugen die noch ausstehenden Vorschüsse rund 46.000 Pesos. Ludewig präsentiert die Kostenabrechnung der Finca für das Erntejahr 1907/08, bei der Anwerbung und Vorschüsse nur 7,6 Prozent der Gesamtbetriebskosten ausmachten; ein Anteil, der weit unter den jährlichen Transportkosten des Kaffees zum Hafen (19,7 Prozent) lag und nur geringfügig über den Haushaltungskosten des Fincaeigentümers (5,8 Prozent).34 Seit den späten 1920er-Jahren gingen die Fincabesitzer dazu über, für An31 Kaerger (Anm. 3), S. 547. 32 Ebd. S. 548. 33 AHCH, Sria. Gral. de Gobierno, Secciûn Fomento, 1911, Tomo VIII, Rezagos de 1908, Exp. 40; ebd.: 1913, Tomo I, Exp. 5. El problema obrero y el sistema de habilitaciones en el departamento de Soconusco, Chiapas, presentado por Juan Ludewig el 3 de marzo 1909. 34 Ludewig (Anm. 3), S. 195 f.
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werbeaufträge finanzielle Sicherheiten in Form von Hypotheken auf Wohnhäuser und ländliche Besitztümer von den enganchadores zu fordern. Damit konnten sie das Risiko nicht eintreibbarer Vorschusssummen auf die Anwerber abwälzen.35 Den enganchadores blieb dann nur die Möglichkeit, die Summe bei den Wanderarbeitern einzutreiben oder geschmälerte Provisionen hinzunehmen. Dokumente im Archiv der Finca Perffl-Paris aus den 1920er-Jahren erlauben weitere Aussagen darüber, ob die Schulden für die Arbeiter bindend genug waren, um sie auf einer Finca zu halten.36 Wie alle Fincas litt auch Perffl-Paris häufig unter Nichterscheinen oder Flucht angeworbener Arbeiter. Dabei handelte es sich meist um Arbeiter, die von Perffl-Paris auf benachbarte Fincas wechselten, weil diese ihnen bessere Konditionen boten, sei es durch höhere Löhne, besseres Essen, leichtere Erntearbeit oder wöchentliche Lohnabrechnung. Wenn diese Fälle auf Perffl-Pars bekannt wurden, forderte und erhielt der Verwalter von der anderen Finca die ausstehende Vorschusssumme samt den Anwerbekosten zurückerstattet. Nicht die Existenz von Schulden bewog die Wanderarbeiter also zur Flucht, sondern ein klares Abschätzen der Vor- und Nachteile. Seinen Vorschuss arbeitete der Arbeiter nach der Flucht auf einer anderen Finca ab. Über Jahre hinweg schuf sich die Finca Perffl-Paris einen relativ festen Stamm von Wanderarbeitern, die jedes Jahr wieder auf die Finca kamen und ein gewisses Vertrauen genossen. Diese Kontinuität veranlasste die Finca, ihnen direkt bei Beendigung der Arbeit und in den folgenden Monaten weitere Vorschüsse auf die Arbeit des nächsten Jahres zu gewähren. Dies stabilisierte das Einkommen der Wanderarbeiterfamilien, stellte aber gleichzeitig eine Absicherung für die zukünftigen Ernten dar. Die Finca wurde in diesen Fällen wie eine Bank benutzt: Viele der Wanderarbeiter, die nicht mehr als einen Tag entfernt wohnten, erschienen monatlich auf der Finca oder beim enganchador in ihrem Bezirk, um neuen Vorschuss zu erbitten. Dieser wurde meist auch erteilt und wuchs im Laufe eines halben Jahres auf 50 bis 70 Pesos an, die in der Haupterntezeit vielfach in einem einzigen Monat abgearbeitet wurden.37 Andere ließen erarbeitete Summen bei der Fincaverwaltung stehen, obwohl sie zeitweilig nicht dort arbeiteten, um bei ihrer Rückkehr im nächsten Jahr oder bei Notfällen auf diese Gelder zurückgreifen zu können. Wurde dieses Vertrauensverhältnis aber durch Nichterscheinen oder Flucht erschüttert, so erhielt der Anwerber in den 35 Als Beispiel: Registro Pfflblico de la Propiedad y del Comercio, San Cristûbal, 1923, Secciûn 18, No 12, contrato entre Juan Pohlenz y el enganchador Francisco Franco, para la contrataciûn de peones. Escritura con hipoteca, 16. 7. 1923. Die Folgejahre des Registros belegen eine längerfristige und erfolgreiche Fortsetzung dieser Strategie. 36 Deudas de Mozos, 1919 – 1931, Archiv Finca Perffl-Paris. 37 Deudas de Mozos, 1919 – 1937, Archiv Finca Perffl-Paris.
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Abb. 4: Indianische Pflücker und Pflückerinnen während der Kaffeeernte auf der Finca Santo Domingo (Quelle: Sammlung Hildegard Keller, 1910. Archivo Fotografco del Patronato para el Patrimonio Cultural de la Ciudad de San Cristûbal de Las Casas, A.C.)
Hochlanddörfern die Anweisung, diese Leute von der Liste zu streichen und nicht wieder auf die Plantage zu senden. Es ist anzunehmen, dass der Verlust der Glaub- und damit der Kreditwürdigkeit für den Arbeiter schwerwiegender war als für die Finca.38 Eine Analyse der internen Schuldenkontrolle der Finca Perffl-Paris zwischen 1919 und 1937 zeigt, dass es durchaus möglich war, die Schulden im Rahmen des normalerweise dreimonatigen Arbeitsvertrages abzuarbeiten. 78 Prozent der angeworbenen Wanderarbeiter, viele davon mit hohen Schuldbeträgen, leisteten ihre Arbeitsverpflichtung in ein bis zwei Monaten ab. Auch in der fincainternen Korrespondenz gehörten die Anwerbung, die gezahlten Vorschüsse und die Kommentare über geleistete Arbeiten zu den häufigsten Themen. Regelmäßig erschienen hier Hinweise auf komplett und gelegentlich sogar vor der Zeit abgeleistete Arbeitsverträge der Wanderarbeiter, häufig versehen mit lobenden Anmerkungen.39 Für die Herkunftsdörfer im Hochland hielten Anthropologen in ihren Feldnotizen der 1940er-Jahre »negative« und »positive« Auswirkungen der FincaArbeit fest: Neben Berichten über Alkoholmissbrauch und Korruption der lokalen Autoritäten stehen Berichte über ein höheres Einkommen der Wander38 Ebd. 39 Als Beispiel: Korrespondenz der Finca Perffl-Pars zu einer im August 1928 angeheuerten Cuadrilla, 1928 – 29, folio 251 del 17.09.; folio 274 del 29.09, folio 314 del 10.12, folio 432 del 20. 3. 1929.
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arbeiter und sinnvolle Investition der Gelder.40 Calixta Guiteras Holmes berichtete 1946, dass viele junge Männer aus San Pedro Chenalhû auf die Fincas gingen und von dem verdienten Geld im Hochland Nutztiere sowie weitere Landparzellen erwarben.41
Arbeiterknappheit und neue Spielräume für Wanderarbeiter Berichte, die vor und um 1900 erschienen, bemerkten übereinstimmend, die Arbeiterfrage sei eine »Lebensfrage«42 für den Erfolg der Kaffeeplantagen. Um Arbeiter auf die Fincas zu holen und sie dort für die Zukunft zu halten, entwickelten die Finqueros verschiedene Mechanismen. Abgesehen von einer weitaus höheren Bezahlung als in anderen Regionen von Chiapas versuchten sie, die Lebens- und Arbeitsumstände auf der Plantage zu verbessern, um so unter den Arbeitern eine positive Grundstimmung zu schaffen. Dazu gehörten Arbeitserleichterungen sowie die Verbesserung des Verpflegungsangebots durch wöchentliche Schlachtung eines Rindes oder Ausgabe von mehr Tortillas, Bohnen und Kaffee. Wurde normalerweise der Kaffee nach der täglichen Ernte zum Beneficio getragen, führten einige Fincas die Annahme des Kaffees in speziellen, in der Pflanzung gelegenen Wasserbecken ein, von wo aus kilometerlange Wasserleitungen den Kaffee hinunter auf die Finca spülten. Auf anderen Fincas wurden Seilbahnen installiert, wenn der geerntete Kaffee bergauf transportiert werden musste.43 Diese Verbesserungen der Infrastruktur bedeuteten eine erhebliche Arbeitsentlastung für die Erntearbeiter bei gleichbleibender Bezahlung. Eine weitere Verbesserung bestand darin, dass die indianischen Wanderarbeiter ihre eigenen sprachkundigen Vorarbeiter benennen konnten. Diese vermittelten zwischen Arbeitern und Fincaverwaltung und lösten fincaansässige Vorarbeiter ab, die nicht unbedingt der indianischen Sprachen mächtig waren. Andere Fincas führten ausgeklügelte Tarifsysteme ein, die die Bezahlung auch bei zeitweilig schlechter Erntelage oder bei Akkordarbeiten für den Arbeiter lohnend machten. Einige überboten die umliegenden Fincas bei der Bezahlung
40 Cmara Barbachano: Diario etnogrfico, 1943/44, Manuskript, [Archivo Histûrico del Instituto Nacional Indigenista/Comisiûn Nacional para el Desarrollo de los Pueblos Indgenas, INI/CDI], o. P. 41 Holmes C. Guiteras: Informe de San Pedro Chenalhû, Microfilm Collection of Manuscripts, Middle American Cultural Antropology, No. 14, Chicago University, Ill., 1946, S. 220; A. Chapman: Diario etnogrfico, 1944, Manuskript, [Archivo Histûrico del INI/CDI] S. 60. 42 Ludewig (Anm. 3), S. 146. 43 Ebd.: S. 184.
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der täglichen Ernteleistung, um so Arbeitskräfte von dort auf die eigene Finca abzuziehen. Diese Konkurrenzbeziehung zwischen einzelnen Fincas schuf zahlreiche Möglichkeiten für die Wanderarbeiter, die »Notlage« der Finqueros zu ihrem Vorteil zu nutzen. Andere Fincas zahlten die Schulden der Arbeiter auf anderen Plantagen, wenn sich diese dort nicht mehr wohlfühlten und den Arbeitsplatz mit Zustimmung ihres alten Arbeitgebers wechseln wollten. Anfänglich offerierten die Fincas potenziellen Arbeitern Parzellen für den Anbau von Nahrungsmitteln, um sie samt ihren Familien auf der Plantage anzusiedeln. Als die Ländereien zunehmend für den Kaffeeanbau in Anspruch genommen wurden, begannen mehrere der größeren, finanziell stärkeren Fincas, Arbeiter durch Landangebote im Hochland für längere Zeiträume an die Plantage zu binden. Der Kaufpreis bestand aus einer zweimaligen, jährlichen Arbeitsverpflichtung über mehrere Jahre hinweg, wobei der Lohn nicht reduziert wurde. Daraus entwickelte sich eine Tradition, die im Falle der Hochland-Finca Los Chorros dazu führte, dass sich in den 1930er-Jahren fast die gesamte männliche Bevölkerung gemeinschaftlich organisierte, um jährlich auf die Kaffeefincas zu gehen.44
Wanderarbeit als eine bewusste Entscheidung In Interviews, die ich in den 1980er-Jahren führte, äußerten Wanderarbeiter eine ganze Reihe von Klagen, die sich aber mit einer Ausnahme auf die Rahmenbedingungen, nicht aber auf die Arbeitsverhältnisse auf der Finca bezogen. Dominierende Themen waren die lange Abwesenheit von der Familie, der anstrengende Marsch auf die Fincas, die Hitze sowie mögliche Erkrankungen und Gefahren (wie etwa durch Schlangenbisse, Verletzungen bei der Arbeit mit der Machete und Streitigkeiten nach Alkoholgenuss). Wenn sich die Klagen auf physische und verbale Misshandlungen sowie Betrug bezogen, lag der Schwerpunkt auf den Anwerbemechanismen der enganchadores im Hochland. Dabei ist die Liste der Vorwürfe lang: Misshandlungen, die falsche Listenführung der erhaltenen Vorschüsse, gefälschte Endabrechnungen, Vorenthaltung von Nahrungsmitteln, Verkauf von Gegenständen zu überhöhten Preisen, die Einbehaltung von Arbeitsgeräten sowie die Bestechung der lokalen Behörden, um durch deren Mithilfe Arbeitsleistungen zu erzwingen. In einigen Fällen kam es sogar zur Verschleppung von Kindern, um die Ar44 Entrevista de Jan Rus con Pedro Girûn, 26. 6. 1987, manuscrito, INAREMAC (Instituto de Asesora Antropolûgica para la regiûn Maya), San Cristûbal de las Casas, Mexiko.
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beitsableistung zu erzwingen. Diese Fälle sind aktenkundig und haben mitgeholfen das offizielle Bild des enganche zu prägen.45 Andererseits gibt es Hinweise von Zeitzeugen, dass sich seit Anbeginn der Wanderarbeit auf den Kaffeeplantagen freie Arbeiter meldeten. Die ersten freien Arbeiter stammten aus der Kaffeezone selbst oder waren aus Guatemala abgewandert. Allerdings reichte ihre Zahl nicht aus, sodass die Fincas auf ihre Anwerber angewiesen blieben.46 Die Frage, ob indianische Arbeiter freiwillig auf die Kaffeefincas gingen, ist bisher noch nicht explizit gestellt worden, weshalb es auch keine diesbezüglichen Untersuchungen in Chiapas gibt. Aber es gibt Hinweise, dass enganche nicht im Widerspruch zu einer freiwilligen Entscheidung stand. Interviews, die Gary Gossen mit indianischen Informanten aus Chamula führte, berichten von schlechten Ernten im Hochland bei gleichzeitig guter Bezahlung auf den Fincas.47 Wer willig war, auf die Finca zu gehen, hatte meist keine Mittel, allein dorthin zu gelangen, und war angewiesen auf den Enganche-Mechanismus. Wahrscheinlich gab es mehrere Gründe dafür, warum sich die Wanderarbeiter von enganchadores anwerben ließen, auch wenn sie sich dadurch dem oft rassistischen Verhalten der ladinos aussetzten. Zu den Gründen zählte die Entfernung zwischen Herkunftsorten im Hochland und den Kaffeefincas im Soconusco, wobei die Unkenntnis über die Wege sowie die Unfähigkeit, die Lebensunterhaltungskosten während des Acht-Tage-Marsches aufzubringen, erschwerend hinzukamen. Zweitens war die Reise nicht ungefährlich wegen Übergriffe der Behörden, Angriffe wilder Tiere oder Flussüberquerungen. Drittens hatte die Akzeptanz des Vorschusses den Vorteil, der Familie eine kleine Geldsumme hinterlassen zu können.48 Auf diese Weise nutzten auch potenziell freie Wanderarbeiter die taktischen Vorzüge einer Pro-forma-Anwerbung und wurden dementsprechend in den Statistiken unter die durch enganche angeworbenen und mit Vorschüssen versehenen Wanderarbeiter gezählt.49 Aber es gibt auch Belege dafür, dass indianische Wanderarbeiter ohne Vorschusszahlungen auf eigene Faust die Wanderung in den Soconusco antraten. So berichtet 45 Ein in San Cristûbal populärer Spruch über die Manipulationen seitens der Enganchadores ist folgender : »20 Pesos que te doy/20 pesos que te presto/20 pesos que me debes/20 pesos que te voy a apuntar/20 pesos me vas a devolver/hace 100 pesos« Deutsche Übersetzung: »20 Pesos, die ich dir gebe/20 Pesos, die ich dir leihe/20 Pesos, die du mir schuldest/20 Pesos, die ich dir anschreibe/20 Pesos, die du mir zurückzahlen musst/macht 100 Pesos«. 46 Romero (Anm. 3), S. 18 f.; Ludewig (Anm. 3), S. 139. 47 Gary H. Gossen: Los Chamulas en el mundo del sol, INI, Mexiko 1979, Anexos 53 y 55. 48 Jan Rus: Don Tacho, el enganchador. Una memoria de relaciones inter¦tnicas en los Altos de Chiapas, Anuario del Centro de Estudios Superiores de M¦xico y Centroam¦rica, 2000 CESMECA-UNICACH, Tuxtla Guti¦rrez, 2002, S. 477 – 490. 49 Finca Archiv Perffl-Paris. Die Enganchelisten belegen, dass sich einige Arbeiter nicht mit den üblichen 70 – 100 Pesos anwerben ließen, sondern mit 1 – 5 Pesos.
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der jefe poltico von San Andr¦s Chamula 1913, es befände sich eine beträchtliche Anzahl von Steuerzahlern auf dem Weg auf die Fincas, um dort Arbeit zu suchen.50 Eine Veränderung aus neuerer Zeit verdeutlicht das Gesagte: Nachdem in den 1970er-Jahren die Verkehrsverbindungen zwischen San Cristûbal und dem Soconusco ausgebaut wurden, brach die Zahl der Wanderarbeiter dramatisch ein, die sich von enganchadores auf die Fincas anwerben ließen. Stattdessen stieg die Zahl der freien Arbeiter (ganadores), die ohne Vorschuss auf die Fincas gingen. Ähnliches passierte zur gleichen Zeit in der schwer zugänglichen Kaffeeanbauregion Jaltenango: Als auch hier das Straßennetz ausgebaut worden war, änderte sich schlagartig der Anteil von enganchados und ganadores. Waren vor dem Straßenbau kaum ganadores auf die Fincas gekommen, machten sie 1983 rund 90 Prozent der Gesamtarbeiterzahl aus.
Wanderarbeit – angepasst an den Agrarzyklus im Hochland Die Fincaarbeit fiel in die Jahreszeiten, in denen die familiäre Mais- und Bohnenproduktion im Hochland geringere Arbeitsintensität aufwies. Es gibt einige Hinweise darauf, dass die Bevölkerung des Hochlandes die Wanderarbeit zunehmend als komplementäre Einkommensquelle einplante und durchführte.51 Arbeiter gingen für einen vertraglich bestimmten Zeitraum auf die Fincas oder, um eine bestimmte Vorschusssumme von 20 bis 100 Pesos abzuarbeiten, und kehrten dann in ihre Dörfer zurück. Die Hauptwanderungsbewegungen fanden jeweils in drei Phasen statt: nach der Maisaussaat von März bis Mai, nach der Feldreinigung von Juli bis August, wenn auf den Fincas hoher Arbeiterbedarf für die Reinigung der Cafetales bestand, sowie zur Hochzeit der Kaffeeernte im November und Dezember, also in der Zeit nach der Maisernte und Allerheiligen.52 Zwar versuchten die Fincas jedes Jahr über ihre enganchadores, die Termine für die indianische Abwanderung entsprechend des Pflege- und Ernterhythmus der Plantagen zu gestalten. Allerdings mussten sie feststellen, dass die Zahl der Arbeiter erst anstieg, wenn eine Ertrag versprechende Ernte absehbar war, sprich nach September. Um Ernteverluste zu verhindern, mussten die finqueros 50 AMPAL/SC, Correspondencia del Jefe Poltico de San Andr¦s Chamula al Tesorero General del Estado, Of. No. 24, 14. 5. 1913 y Of. No. 65, 20. 12. 1913. 51 Ricardo Pozas: El trabajo en la plantaciones de caf¦, in: Hermilo Lûpez Snchez: Apuntes histûricos de San Cristûbal de Las Casas, Chiapas, Mexiko, Bd. 2, S. 1219 – 1226; Ana Garca Silberman, G. Carrascal I. Eurosia: Los mames, sus problemas agroeconûmicos, Boletn del Instituto de Geografa, Vol. 5, UNAM, Mexiko (1974), S. 249; Favre (Anm. 18), S. 94 ff. 52 Favre (Anm. 18), S. 103.
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daher vor dieser Zeit höhere Akkordlöhne zahlen. Da die Wanderarbeiter wussten, dass sie während der Ernte auch höhere Schulden relativ schnell abarbeiten konnten, logen die enganchadores gelegentlich über den angeblichen Reifestand der Kaffeepflanzen. Allerdings führte dies zu ständigen Klagen seitens der Fincabesitzer, da die Arbeiter, als sie den Betrug erkannten, von den Fincas flohen. Die Mehrheit der Wanderarbeiter erschien erst auf den Fincas, wenn eine gleichförmige Reifung der Kaffeekirschen zu erwarten war, was meist zwischen September und November erfolgte. Im August und Dezember war zumeist nur ein selektives Ernten möglich, was bei genügend Arbeiterangebot mehr Arbeit und weniger Lohn bedeutet hätte.
Der Streik von 1922 In einem durch Gewalt aufrechterhaltenem Arbeitssystem ist davon auszugehen, dass ein Kräftemessen und Verhandeln von Arbeitsbedingungen zwischen Plantagenbesitzern und Zwangsarbeitern ausgeschlossen ist und die entsprechenden Bedingungen diktiert und durch staatliche oder fincainterne Kontrollmechanismen garantiert werden. Bei einem Arbeitsmarkt53 dagegen kann es zu Arbeitskämpfen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern kommen. Dies wäre kein »Sklavenaufstand«, dessen vorrangiges Ziel der Kampf um persönliche Freiheit ist, sondern, wie man heute sagen würde, der Versuch einer Tarifpartei durch Arbeitskampf, arbeitsrechtliche und finanzielle Bedingungen zu ihren Gunsten zu verbessern. Genau dies geschah 1922 im Soconusco: Unter der Führung der Sozialistischen Partei von Chiapas erklärten die indianischen Wanderarbeiter aus Mariscal den Generalstreik und publizierten einen Katalog mit ihren Forderungen.54 Streikende Wanderarbeiter kontrollierten alle Zugänge von Mariscal in den Soconusco und verhinderten nicht nur das heimliche Eindringen von streikunwilligen Arbeitern, sondern auch gewalttätige Reaktionen der enganchadores. Die Stadt Motozintla, normalerweise unter Kontrolle der enganchadores, fiel kurzfristig in Arbeiterhand. Bereits nach einer Woche erklärten die finqueros die Annahme des Forderungskatalogs, woraufhin die Wege wieder geöffnet wurden und alle Arbeiter rechtzeitig zur Ernte auf den Fincas erschienen. Hier setzten die Wanderarbeiter Streik als einen Mechanismus ein, um ihre 53 Hier gehe ich davon aus, dass erste Ansätze von Angebot und Nachfrage galten, die Arbeitnehmer ihre Arbeitsverhältnisse selbstbestimmt eingingen und über ein gewisses Bewusstsein ihrer wichtigen Rolle für die lokale Wirtschaft verfügten. 54 Zur Geschichte des ersten Kaffeearbeiterstreiks, s.: AHCH, Secretara General de Gobierno, Secciûn Fomento, 1923, Tomo XVI, Exp. Motozintla.
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kollektiven Interessen durchzusetzen, nicht aber, um die Wanderarbeit als solche zu beenden. Zugleich zeigte der Streik, dass der angeblich »repressive« Apparat nur eine geringe Effektivität aufwies und von den organisierten Arbeitern schnell außer Gefecht gesetzt werden konnte. Es stellt sich die Frage, ob enganchadores in Mariscal überhaupt auf diese Strukturen der privat-behördlichen Kooperation angewiesen waren. Möglicherweise hatte sich ihre Funktion bereits auf die Kommunikation von Arbeitsmöglichkeiten und den fincaexternen Geldverleih reduziert; ein Umstand, den die Wanderarbeiter wie ein Arbeitsvermittlungsbüro mit Kreditvergabe nutzten. Zumindest in Mariscal scheint sich die Funktion der enganchadores auf die Benachrichtigung der Wanderarbeiter, wann sie sich auf den Fincas einzufinden hatten, beschränkt zu haben. Die Funktion der enganchadores bestand darin, den relativ stabilen Arbeiterpool der Finca zu halten oder durch zeitgerechte Neuanwerbung aufzustocken, die Arbeiter rechtzeitig über den Erntebeginn zu informieren und ihre planmäßige Ankunft auf der Finca zu garantieren, um Ernteverlust zu verhindern. Dafür erhielten sie eine Provision pro Arbeiter entsprechend seiner Arbeitsleistung. Seit Mitte der 1920er-Jahre entstanden gewerkschaftliche Organisationen, die von den Finqueros bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie Lohnerhöhungen forderten. 1936 gründete sich das Sindicato de Trabajadores Indgenas auf der Finca Maravillas mit 25.000 indianischen Mitgliedern. Zwar war die Effektivität dieser Organisationen im Arbeitskampf meist nur dann gegeben, wenn es sich um regierungsnahe Gewerkschaften handelte. Außerdem sagt ihre Existenz nur bedingt etwas über eine Abwesenheit von Gewalt aus. Trotzdem ist ihre Gründung ein Beleg dafür, dass sich von Arbeiterseite aus bereits ein weitgehend eingespielter Arbeitsmarkt gebildet hatte, der nicht als illegal oder als erzwungen infrage gestellt wurde.
Schluss Die vorstehenden Belege aus der Arbeitswelt indianischer Wanderarbeiter auf den Kaffeefincas lassen erkennen, dass die These des ausschließlich auf Gewalt aufgebauten Enganche-Systems einer grundlegenden Überprüfung bedarf. Das gilt für die soziale Lage in den Heimatdörfern, die Beziehungen der Arbeiter zu den Anwerbern, den Einfluss von Verschuldung durch Steuern oder Vorschüsse auf die Arbeitsverpflichtungen sowie die Angaben über die Arbeitssituation auf den Plantagen. Im Licht neuer Dokumente muss eine Neubewertung des Attraktionspotenzials der Kaffeeplantagen für die indianischen Hochlandgemeinden vorgenommen werden, die durch Überbevölkerung und wiederholte Ernteausfälle zwischen 1880 und 1914 geschwächt waren. Auch sollte den Ein-
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Abb. 5: Eine Sektion des Sindicato de Trabajadores Indgenas, der Wanderarbeitergewerkschaft, ca. 1955, in San Cristûbal (Quelle: Archivo Fotogrfico del Patronato para el Patrimonio Cultural de la Ciudad de San Cristûbal de Las Casas, A.C.)
flüssen des internationalen Kaffee- und Arbeitsmarktes auf den chiapanekischen Arbeitsmarkt eine verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Berichte über Rassismus und alltägliche Gewalt auf den traditionellen Hochland-Haciendas während des 19. und 20. Jahrhunderts sollten uns veranlassen zu prüfen, ob die gerichtsnotorische Gewalt, statt als Kennzeichen des enganche, eher als Phänomen der alltäglichen interethnischen Gewalt zwischen ladinos (enganchadores) und Indianern (Wanderarbeitern) im Hochland anzusehen ist; einer Region, die seit Beginn der Kolonialzeit von Gewalt gekennzeichnet war. Antworten hierauf könnten erklären, wieso die Wanderarbeit nicht bei erster Gelegenheit aufhörte zu existieren, angenommen, dass es sich um ausschließlich erzwungene Wanderarbeit handelte. Diese Gelegenheit hätte sich mit dem Zusammenbruch der repressiven Strukturen in den 1930er-Jahren geboten, doch die Wanderarbeit existierte bis Ende der 1980er-Jahre. Und auch nach dem Ende der Wanderarbeit auf den Plantagen flossen weiterhin Wanderarbeiterströme aus dem chiapanekischen Hochland nach Cancffln, nach Mexiko-Stadt und in die USA.
Volker Wünderich
Kaffee, nationales Selbstverständnis und zeitgenössische Kunst in der Großen Depression: Costa Rica, 1932 – 1936
Wenn man über den Kaffee in der Weltwirtschaftskrise nach 1929 spricht, denkt man an die gewaltige Überproduktion Brasiliens und die Bilder von der Vernichtung eines großen Teils der Welternte. Die kreditgestützte Aufwertungspolitik des brasilianischen Staates brach 1929 spektakulär zusammen, und der Kaffeepreis erlebte eine Baisse, von der er sich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erholte. Mit dem Ausfall der Exporteinnahmen ging der entsprechende Rückgang der Importkapazität einher ; die Staatseinnahmen brachen ein, und der Kapitalmarkt der Metropolen war nicht mehr zugänglich. Brasilien und viele andere lateinamerikanische Länder wurden vom Weltmarkt vorgeführt, ja gewissermaßen vor die Tür gesetzt. Da der Export bisher die zentrale Achse der Ökonomie gewesen war, folgte dem wirtschaftlichen Einbruch die politische und soziale Krise auf dem Fuße.1 In den kaffeeproduzierenden Ländern Zentralamerikas zeigte die Lage im Hinblick auf das Außenverhältnis ein ebenso düsteres Bild wie in Brasilien.2 Die Wucht des plötzlichen Einbruchs bei den Exporteinnahmen, der Rückgang der Staatseinnahmen und die folgende Währungs- und Finanzkrise riefen auch in den kleinen Nationalökonomien Mittelamerikas dramatische Folgen hervor. Doch die Veränderungen in einem so global aufgestellten Marktgeschehen wie der Kaffee-Ökonomie wirken sich von Region zu Region und von Land zu Land unterschiedlich aus. Während die Krise in Brasilien die Abkehr vom liberalen Exportmodell hervorrief und den Prozess der importsubstitutierenden Industrialisierung beschleunigte,3 hielt Costa Rica geradezu stur am Kaffee-Export 1 Celso Furtado, Economic Development of Latin America, Cambridge 2. Aufl. 1976, S. 47 ff.; Hartmut Elsenhans, Die große Depression der dreißiger Jahre und die Dritte Welt, in: H.Bley (Hg.), Die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre in der Dritten Welt, Hannover 1990, S. 10 – 35. 2 Ein zuverlässiger Überblick bei Victor Bulmer-Thomas, The Political Economy of Central America since 1920, Cambridge 1987, S. 48 ff. 3 Ob dieser Anstoß von entscheidender Bedeutung war oder nur einen einzelnen Faktor im Kontext einer längfristigen Entwicklung darstellte, wird seit einiger Zeit kontrovers disku-
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fest und vertiefte die nationale Identifikation mit den braunen Bohnen in erstaunlicher Weise. *
Mit Costa Rica haben wir eine beispielhaft ausgeprägte Exportökonomie tropischer Agrarerzeugnisse vor uns. In den Jahren 1924 bis 1936 war der Rohkaffee bei weitem das wichtigste Ausfuhrgut und stellte jährlich zwischen 45 und 70 % des nationalen Exportes. Das zweitwichtigste Ausfuhrgut, die Banane, trug 1924 noch 41 % zum Export bei, fiel aber bis 1933 auf einen Wert von ca. 20 % zurück. Daneben wurden noch Kakao (um die 5 %) und einige andere Güter (Gold etc.) ausgeführt. In den Jahren 1928 und 1929 verzeichnete Costa Rica die besten Exporterlöse aus Kaffee in seiner Geschichte im Wert von 12,4 bzw. 12,2 Mio US$. Der Preisverfall setzte 1929 ein, die Erlöse aus den Jahren 1930 und 1931 konnten aber durch die Erhöhung der Exportmenge noch einigermaßen gehalten werden (10,4 und 10,1 Mio US$). Der eigentliche Absturz ereignete sich dann 1932 und brachte mit 5,4 Mio US$ beinahe eine Halbierung der Ausfuhrerlöse. Das niedrige Niveau von 4 – 5 Mio US$ pro Jahr setzte sich dann bis nach dem Zweiten Weltkrieg fort.4 Die Dominanz der Kaffeewirtschaft geht auch aus den Ergebnissen des Kaffeezensus von 1935 hervor. Bei einer Gesamteinwohnerzahl von 578.000 Einwohner lebten in Costa Rica nicht weniger als 25 % direkt von der Kaffeeproduktion. Hinzu kamen die Personen und ihre Familien, die in Zulieferbetrieben, Handel, Dienstleistungen etc. für den Kaffee arbeiteten.5 Angesichts der Tatsache, dass die Erzeugung des zweitwichtigsten Exportgutes Bananen in den Händen ausländischer Fruchtkonzerne lag und kaum in die nationale Wirtschaft integriert war, tritt die Bedeutung des Kaffeesektors noch um so deutlicher hervor. Costa Rica war nicht nur in extremer Weise von der Kaffee-Ausfuhr abhängig. Anders als Brasilien hatte es noch nicht einmal die Option, Importe durch den Aufbau eigener Industrien zu ersetzen. Die interne Nachfrage war sehr begrenzt, und die anspruchsvolle Kundschaft war an die hohe Qualität der Importe gewöhnt. Einheimische Produkte konnten auf lange Zeit weder technisch noch preislich konkurrenzfähig werden. Außerdem bestand akute Knappheit an Katiert; vgl.dazu Ronny Viales Hurtado, La Crisis de 1929 en Am¦rica Latina: Del viejo pardigma al nuevo pardigma explicativo. Alcances y Limitaciones,, in: Revista de Historia de Am¦rica No. 126 (2000), pp. 85 – 111. 4 Angaben nach H¦ctor P¦rez Brignoli und Priscilla Albarracn Gonzlez, Estadsticas del Comercio Exterior de Costa Rica. Importaciones y Exportaciones (1907 – 1946), Escuela de Historia UCR, San Jos¦ 1977, S. 27. 5 Carlos Merz, Coyuntura y crisis en Costa Rica de 1924 a 1936, in: Revista del Instituto de Defensa del Caf¦ de Costa Rica (im Folgenden zitiert als »R.I.D.C.«), No. 28 (marzo de 1937), S. 605 und 620.
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pital, so dass der Aufbau neuer Industrien und der Import von Maschinen, Ausrüstungen und Rohstoffen gar nicht zur Debatte stand. Nur auf dem Gebiet der Nahrungsmittel für den internen Verbrauch gelang es, bisher notwendige Einfuhren in größerem Umfang zu ersetzen.6 So konnten die Importe von Reis, Bohnen und Weizenmehl, die in den Boomjahren seit 1925 stark angestiegen waren, um mehr als die Hälfte zurückgeführt werden. Die Regierung unterstützte diesen Prozess mit protektionistischen Maßnahmen.7 Er war nur möglich, weil einerseits für die Nahrungsmittelproduktion ausreichend Landreserven und Arbeitskräfte zur Verfügung standen und andererseits große Teile der Bevölkerung der Not gehorchten und den Anteil der Selbstversorgung erhöhten. Die Möglichkeiten des costaricanischen Staates, planend und regulierend in das Wirtschaftsgeschehen einzugreifen, waren äußerst begrenzt. Er hatte bis dahin weitgehend ungefragt (von einigen Turbulenzen während des Ersten Weltkriegs abgesehen) die Rahmenbedingungen der Exportökonomie sichergestellt und die Interessen der Kaffeeoligarchie vertreten. Diese Rolle konnte er mit einer gewissen Zurückhaltung ausüben, und H.P¦rez Brignoli bezeichnet den »Paternalismus« als die typische Herrschaftsform für die costaricanische Gesellschaft.8 Institutionen der Wirtschafts- und Finanzpolitik waren so gut wie nicht vorhanden; es gab noch nicht einmal eine Zentralbank. Die Krise legte jedoch die extreme Abhängigkeit des Staates vom Kaffeegeschäft offen zutage. Allein die Einnahmen aus der Exportsteuer für Kaffee und den Importzöllen machten 60 % der gesamten Staatsbudgets aus. Der Rest waren Einkünfte aus Verbrauchssteuern und Staatsmonopolen.9 Einkommen- und Gewerbesteuern gab es nicht. 1932 schmolz sowohl die Ausfuhr als auch die damit finanzierte Einfuhr auf ca. die Hälfte des Wertes von 1929 zusammen. Ein Ausgleich der Einnahmeausfälle durch Kreditaufnahme war bei der allgemeinen Kapitalknappheit nicht mehr möglich. So sah sich der Staat schier unlösbaren Problemen gegenüber. Auf einem Gebiet hatte Costa Rica allerdings einen Vorteil gegenüber Brasilien: Es produzierte die milden Arabica-Sorten im oberen Preissegment des Weltmarktes. Für gewaschenen Kaffee dieser Sorte werden üblicherweise 20 – 30 % mehr gezahlt als für die brasilianische Standardsorte Santos. In der Krise fielen die Preise für Santos schneller als die für gewaschenen Arabica-Kaffee, womit sich die Schere im Hinblick auf den erzielten Preis weiter öffnete. Damit 6 Bulmer-Thomas, S. 80. 7 Carlos Merz, Coyuntura y crisis en Costa Rica de 1924 a 1936, aaO. (Anm. 5), S. 609. 8 H¦ctor P¦rez Brignoli, Economa Poltica del Caf¦ en Costa Rica (1850 – 1950), in: H.P¦rez Brignoli und M.Samper (Hg.), Tierra, caf¦ y sociedad. Ensayos sobre la historia agraria centroamericana, San Jos¦ 1994, S. 110. 9 Carlos Merz, Coyuntura y Crisis en Costa Rica 1924 – 1935. Serie de datos importantes, in: R.I.D.C., No. 19 (mayo de 1936), S. 446.
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waren die zentralamerikanischen Produzenten im Vorteil, auch wenn sie die Halbierung der Exportpreise hinnehmen mussten. Während ein großer Teil des brasilianischen Kaffees schlicht unverkäuflich wurde, konnte Costa Rica all die Krisenjahre hindurch seine Ernte absetzen. Die Krise war also für das Land gar keine Absatzkrise, sondern eine anhaltende Depression des Preisniveaus.10 Zur Erklärung müssen wir nach Europa sehen, wohin 80 – 90 % des Kaffees und die beste Qualität verkauft wurden, davon der grösste Teil nach Deutschland. Die USA kauften nur die minderen Sorten im Umfang von 10 – 20 % der Gesamtausfuhr.11 Ein Bericht des Auswärtigen Amtes stellte 1931 fest: »Wie aus vorstehender Statistik ersichtlich ist, hat seit 1928 die deutsche Einfuhr von Kaffee aus Brasilien um 12 % abgenommen, während sie aus den übrigen mittel- und südamerikanischen Ländern um 42 % zugenommen hat. Nach Ansicht hiesiger…Stellen erklärt sich diese Erscheinung nicht nur durch veränderte Geschmacksrichtung, sondern ist wohl noch mehr auf den bedeutenden Preisrückgang aller Kaffeesorten zurückzuführen. Bei den verhältnismäßig hohen Einfuhrzöllen auf der einen und den niedrigen Preisen auch für die besten Qualitäten auf der anderen Seite hat sich die Einfuhr der sogenannten milden Sorten immer mehr als lohnend erwiesen.«12
Die Erklärung dafür ist teilweise im Verhalten der qualitätsbewussten Verbraucher zu suchen. Sie nutzten die Verbilligung des Kaffees nicht zu Einsparungen, sondern ergriffen die Gelegenheit, von mittleren zu hochwertigen Sorten umzusteigen. In Deutschland kam die Bedeutung des Einfuhrzolles hinzu, der gerade von 1,30 auf 1,60 RM pro kg Rohkaffee erhöht worden war. Er wurde nach Gewicht, nicht nach Kaufpreis erhoben und war damit für die hochwertigen Sorten relativ geringer als für die mittleren und minderwertigen Kaffees. Das nutzten die Röster, um den Aufkauf milder Sorten für die Herstellung ihrer populären Mischungen zu erhöhen.13 Der Schock der Wirtschaftskrise leitete in Zentralamerika eine Zeit ein, die allgemein die »finsteren dreißiger Jahre« genannt werden.14 Die Demokratisierung der zwanziger Jahre mit ihrer vorsichtigen Öffnung zu neuen Ideen fand ein abruptes Ende. In allen Ländern mit Ausnahme von Costa Rica übernahmen 10 Merz, Coyuntura y Crisis en Costa Rica de 1924 a 1936, aaO., S. 619 f (Anm. 5). 11 Deutschland war in diesen Jahren schon der größte Abnehmer, wobei der größte Teil aber noch auf dem Umweg über England nach Deutschland gelangte; s. Bericht zum Außenhandel Costa Ricas, Kuhlmann an Auswärtiges Amt, Guatemala 30. 12. 1932, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, R90951 (Costa Rica/Handelsstatistik, 1921 – 35). Die Akten des Auswärtigen Amtes, Länderabteilung III, werden im Folgenden mit der Abkürzung »PA« und ihrer Signatur zitiert. 12 Auswärtiges Amt an deutsche Gesandtschaften in Mittel- und Südamerika, Berlin 28. 10. 1931, PA, R90969 (Costa Rica/Kaffee, 1928 – 36). 13 Brasiliens Kaffee-Deutscher Zoll, Anlage zum Schreiben Auswärtiges Amt an Deutsche Gesandtschaften vom 28. 10. 1931, s. Anm. 12. 14 Bulmer-Thomas, S. 61 ff.
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Militärdiktatoren die Macht. Es folgte eine Zeit sozialer und wirtschaftlicher Stagnation, die bis nach dem Zweiten Weltkrieg anhielt und in manchen Ländern bis heute nachwirkt. Je dramatischer die oligarchische Ordnung des Kaffees von außen (durch die Krise) und von innen (durch soziale Proteste) in Frage gestellt wurde, um so heftiger wurde sie verteidigt. In Guatemala wurde die Kaffeewirtschaft wieder militarisiert, in El Salvador wurde der Volksaufstand von 1932 sehr blutig unterdrückt.15 Der Kaffee, so schien es allen Regierungen einschließlich derjenigen in Costa Rica, war als Exportprodukt und Grundlage der nationalen Wirtschaft ohne Alternative. Die Krise wurde ausgesessen: »Durchhalten« war die Devise, auch wenn es noch lange durch ein Tal der Tränen gehen sollte. Am Beispiel Costa Ricas und seiner politischen Entwicklung zur Zeit des Präsidenten Ricardo Jim¦nez (im Amt 1932 – 1936) lässt sich aber zeigen, dass es auch in der großen Krise durchaus signifikante Alternativen im politischen Handeln gab. *
Costa Rica war das erste Land in Zentralamerika, das nach der Unabhängigkeit 1821 den Kaffeeanbau einführte.16 Durch die konsequente Ausrichtung auf die Produktion und den Export dieses Produktes gelangte die ärmste Kolonie der Region in ihrem »Jahrhundert des Kaffees« (1830 – 1939) zu relativem Wohlstand. Bei der Zucht der Kaffeepflanzen, bei der Einführung des nassen Verfahrens in der Aufbereitung und beim Ausbau der Verkehrswege, insbesondere durch den Bau der ersten Eisenbahn Zentralamerikas an die Atlantikküste (fertig 1890), waren die Costaricaner ihren Nachbarn und Konkurrenten immer eine Nasenlänge voraus. Und noch eine Besonderheit machte einen Unterschied zu den Nachbarländern: Die kleinen Produzenten behaupteten einen wesentlichen Anteil an der Kaffeeproduktion. Der kleine Kaffeeproduzent war ein Kleinbauer, der sozial zwischen dem Farmer und dem Landarbeiter stand. Er war alphabetisiert und richtete seinen Betrieb auf das kommerzielle Produkt aus, kombinierte das aber mit einem signifikanten Anteil an Selbstversorgung. Er bewältigte die kritische Zeit der Ernte nur mit der Arbeit seiner Familienangehörigen.17 Während die wohlhabenden Kaffeebauern in der 1.Hälfte des 15 Zur politischen Geschichte Zentralamerikas s. Ralph Lee Woodward Jr., Central America. A Nation Divided, New York 1976. 16 Zum Folgenden s. Lowell Gudmundson, Costa Rica before Coffee, Baton Rouge 1986; Ivn Molina Jim¦nez und Victor Hugo AcuÇa Ortega, Historia econûmica y social de Costa Rica (1750 – 1950), San Jos¦, 1991; P¦rez Brignoli, Economa Poltica del Caf¦ en Costa Rica, aaO. (Anm. 8). 17 Zur wesentlichen, immer wieder übersehenen Rolle der Frauen- und Familienarbeit im Kaffee s. Verena Stolcke, The Labors of Coffee in Latin America. The Hidden Charm of Family Labor and Self-Provisioning, in: W.Roseberry/L.Gudmundson/M.Samper (Hg.), Coffee, Society and Power in Latin America, Baltimore and London 1995, S. 65 – 93.
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20.Jahrhunderts begannen, in der Erntesaison Lohnarbeiter zu beschäftigen, musste der landarme, zahlenmäßig überwiegende Teil der Kleinbauern seine Geldeinkünfte selbst durch Lohnarbeit auf den Plantagen aufbessern, war also eher als Halbproletarier zu bezeichnen.18
Abb. 1: La Carreta
Auf dem Foto ist ein typischer Ochsenkarren zu sehen.19 Es ist das Gefährt, das bis zur Asphaltierung der Straßen und zum Einsatz von Kraftwagen in den 1950er Jahren den Transport des Kaffees von der Finca zur Aufbereitungsanlage (Beneficio, s. u.) besorgte. Der Karren ist seit der Weltwirtschaftskrise zum bevorzugten Symbol der Kaffee-Folklore avanciert. Noch heute, wo die Wirtschaft nur noch zu einem geringen Teil vom Kaffee abhängt, kann man diesen Karren in Costa Rica überall sehen: als Denkmal, als Andenken, gerne auch als Barwagen auf Cocktailparties. Die Karriere von Identitätselementen verläuft eben häufig umgekehrt proportional zu ihrer realen Bedeutung. Die Kaffeebauern hatten ihre Fincas in der Meseta Central, also im Herzen des Landes und direkt vor den Toren der vier wichtigen Städte San Jos¦, Heredia, Alajuela und Cartago. Sie waren ein sichtbarer Teil der nationalen Gesellschaft und konnten nicht so leicht enteignet und von ihrem Land verjagt werden wie 18 Jeffrey M. Paige (Coffee and Power. Revolution and the Rise of Democracy in Central America, Cambridge and London 1998, S. 60 – 62) wendet sich gegen den Mythos von der Existenz einer »egalitären« Bauernschaft und teilt die Kaffeebetriebe in die Kategorien SubFamily, Family und Small Employer ein. 19 Aufnahme aus dem Nationalmuseum in San Jos¦; Foto: Jörg Smotlacha.
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z. B. die Bewohner der entlegenen Indianerdörfer Guatemalas. Die führenden Familien der Kaffee-Oligarchie besaßen zwar selbst große Plantagen, verzichteten aber darauf, immer mehr Kaffeeland in die eigene Hand zu bekommen. Sie konzentrierten ihre Energie eher auf die Weiterverarbeitung in den sogenannten Beneficios20 und den Exporthandel.21 Im Zensus von 1935 wurde ermittelt, dass es in Costa Rica 25.000 kaffeeproduzierende Betriebe gab. Die Hälfte der KaffeeFincas verfügte über nicht mehr als ca. 1000 Kaffeebäume auf einer Manzana (0,7 ha); man würde diese Felder besser Gärten als Plantagen nennen. Nur 8,6 % der Betriebe hatte mehr als 5000 Bäume in Produktion. Wenn auch von einer gleichmäßigen Verteilung des Landbesitzes nicht die Rede sein konnte, zeigen diese Zahlen doch deutlich, dass die Klein- und Mittelbetriebe einen wesentlichen Anteil der nationalen Produktion erbrachten.22 Ein zentraler Aspekt in der ökonomischen Existenz dieser Kaffeebauern war ihre Abhängigkeit von den Besitzern der Beneficios. Da sie –wie alle Kleinbauern- über wenig Bargeld verfügten, nahmen sie im Halbjahr vor der Ernte Vorschüsse von den Beneficios an. Bei der Ernte lieferten sie die frisch gepflückten Kirschen bei den Aufbereitungsanlagen ab und wurden gleich ausbezahlt. In ihrer Zwangslage brauchten sie das Geld dringend, und meistens waren sie schon verschuldet. Es gab zwar viele Beneficios im Land, aber die Bauern konnten (bei dem Transport mit Ochsenkarren auf schlechten Wegen) nur die nächstliegenden beliefern, und sie mussten ihre verderblichen Kirschen innerhalb von 24 Stunden loswerden. Eine Lagerung, eine eigene Verarbeitung oder gar Lieferung an Exporthändler war nicht möglich. Aus den genannten Gründen war der niedrige Aufkaufpreis der Ernte Gegenstand endloser Klagen. Die Beneficiobesitzer verteidigten sich ihrerseits mit den hohen Kosten der Aufbereitung und den unsicheren Aussichten am Weltmarkt, denn sie übernahmen auch den anschließenden Export.23 Man kann sagen, dass die abhängigen Kaffeeproduzenten für das Handelskapital die Rolle von Lohnarbeitern spielten; ihre Bezahlung für die abgelieferte Ernte stellte demnach eine Form des Stücklohns dar.24 Bauern haben immer viele Sorgen und Klagen vorzubringen, aber sie sind 20 Beneficio wird die Kaffeeaufbereitungsanlage genannt, in der die geernteten Kaffeekirschen vom Fruchtfleisch befreit, gewaschen, getrocknet, geschält, sortiert und verpackt werden. Die Technik und Kontrolle dieser Prozedur ist entscheidend für die Qualität des Exportkaffees. 21 Paige, Coffee and Power, aaO., S. 81. 22 Carolyn Hall, El Caf¦ y el Desarrollo Histûrico-Geogrfico de Costa Rica, San Jos¦ 1991, S. 87 f., 102 ff. und 170. 23 Darstellung der gängigen Praxis bei Hall, S. 47; vgl. auch Gudmundson: Peasant, Farmer, Proletarian. Class Formation in a Smallholder Coffee Economy, 1850– 1950, in: Gudmundson/ Roseberry/Samper (Hg.), Coffee, Society and Power in Latin America (s. Anm. 17), S. 120. 24 So P¦rez Brignoli, Economa Poltica del Caf¦ en Costa Rica, aaO., S. 108.
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sehr schwer zu organisieren. In der Nachkriegskrise 1919/20 hatte es einen ersten Versuch gegeben, einen Verband der Produzenten zu gründen. Die Bauern der Region Alajuela, einer im Bewertungssystem der Qualitätskategorien eher benachteiligten Region, taten sich zusammen und erhoben öffentlich Anklagen gegen die Beneficiobesitzer. Sie forderten bessere Aufkaufpreise und nannten die ca. 200 Familien, die die Anlagen kontrollierten, mit einem aus den USA entlehnten Ausdruck einen schmutzigen »Trust«. Sie protestierten dagegen, dass sich für sie die »Goldbohne« (grano de oro) in eine »Kupferbohne« (grano de cobre) verwandelte.25 Das Programm eines nationalen Produzentenverbandes war schon entworfen und wurde 1922 veröffentlicht.26 Die Gründung kam aber nicht zustande, und in den folgenden Jahren der guten Kaffeepreise beruhigten sich die Gemüter wieder. In den Jahren ab 1930 erfuhren die genannten Widersprüche eine dramatische Zuspitzung. Aufgrund des geschilderten Systems mussten die internen Aufkaufpreise noch schneller als die Exportpreise fallen. Eine zeitgenössische Analyse verglich den Fall der Exportpreise mit der Entwicklung der internen Aufkaufpreise und kam zu dem Ergebnis, dass letztere um ein Drittel schneller gesunken waren.27 Die Beneficiobesitzer wollten die Kosten der Krise auf die Produzenten abwälzen. Sie standen selbst nicht nur wegen der schlechten Exportpreise unter Druck. Sie erhielten von den europäischen, meist englischen Importeuren keine Vorschüsse mehr, und sie hatten Mühe, eigene Schulden bei den Banken zu bedienen. Die Lage der Kaffeebauern war bald regelrecht verzweifelt. Mit dem Wegfall eines großen Teils der Geldeinkünfte drohte vielen Familien der Hunger, ja sogar die Pfändung von Haus und Hof, da sie ausstehende Schulden nicht bezahlen konnten. In dieser dramatischen Lage wurde Ende 1930 ein nationaler Verband der kleinen und mittleren Kaffeeproduzenten (Asociaciûn Nacional de Productores de Caf¦, ANPC) gegründet. Die neue Organisation wurde durch lokale Initiativen quer durch das Land unterstützt und stark gemacht. Zentrale Forderungen waren die Regulierung der Aufkaufpreise für Kaffee durch die Regierung und der Schutz vor Pfändungen. Die Verbandsgründung fiel in eine Zeit gesteigerter politischer Aktivität. Im Juli 1931 wurde die Kommunistische Partei Costa Ricas gegründet und sogleich verboten. Sie bemühte sich dennoch mit erstaunlichem Erfolg, den sozialen Protest der Arbeiter und Handwerker in der Stadt und der Bananenarbeiter in der Atlantikregion zu organisieren. Gewerkschaftliche Initiativen erhielten 25 Hall, S. 47. 26 Ivn Molina Jim¦nez, El Programa de la Asociaciûn Nacional de Productores de Caf¦ (1922), in: Revista del Archivo Nacional, 2006, Bd. 70, S. 189 – 199. 27 Victor Hugo AcuÇa Ortega, Clases Sociales y Conflicto Social en la Economa Cafetalera Costarricense: Productores contra Beneficiadores; 1932 – 36, in: Revista de Historia, Nfflmero Especial 1985, S. 190.
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überall großen Zulauf. Präsident Cleto Gonzlez Vquez (im Amt 1928 – 1932) wurde vom geballten Ansturm der Staats-, Finanz- und Wirtschaftskrise regelrecht überrollt. In einem Bericht der Deutschen Gesandtschaft vom Januar 1931 heißt es: »Man wirft dem alten Präsidenten Gonzalez Viquez vielfach Schwäche vor und mangelnde Energie, um das Land durch die gegenwärtige Zeit schwerer wirtschaftlicher und finanzieller Krise hindurchzusteuern. Von einem großen Kreise wird für die nächste Präsidentschaftsperiode wieder der bejahrte Lic. Ricardo Jim¦nez herbeigesehnt, der bereits zweimal Präsident war und als Orakel für alle Nöte des Landes angesehen wird.«28
In seiner Abschiedsbotschaft am 1. Mai 1932 sprach Gonzlez Vquez selbst mit ungewöhnlicher Offenheit über den Ernst der Lage und sein eigenes Scheitern: »Ich verlasse den Posten, den der Volkswille mir anvertraut hat, voller Bitterkeit. Das ist […] besonders deswegen der Fall, weil ich nicht ausreichend Geschick gehabt habe, die Übel einer Krise zu bannen, die uns wegen ihres weltweiten Charakters in ihre Netze verstrickt hat […]. Einige Konsequenzen dieser Krise konnte man vorhersehen, aber am Anfang verloren wir nicht die Hoffnung, dass sie vorübergehender Natur sei; aber die Hoffnung hat uns getrogen. Plötzlich war die Krise nicht mehr aufzuhalten; sie überrollte uns […]. Schließlich konnten wir nur noch ihre Auswirkungen ein wenig mildern.«29 *
Sein Nachfolger Ricardo Jim¦nez trat im Frühjahr 1932 sein Amt an. Es war schon seine dritte Amtszeit, und er hatte sich im Alter von 73 Jahren sehr bitten lassen, die Regierungsverantwortung noch einmal zu übernehmen. Als sich die Wirtschafts- und Staatskrise in den Jahren 1932 und 1933 noch einmal deutlich zuspitzte, zeigte es sich, dass er seinem Vorgänger an Geschick und Entschlossenheit wirklich überlegen war. Schon ein Jahr nach seinem Amtsantritt war ein Gesetzeswerk fertig und in der praktischen Umsetzung begriffen, das wohl als zentrales Projekt seiner Präsidentschaft bezeichnet werden kann: das sogenannte Kaffeegesetz, »la ley del caf¦«.30 Kernpunkt dieses Gesetzes war die Regelung des Verhältnisses zwischen den Beneficios und den Produzenten.31 Da28 Kuhlmann an Auswärtiges Amt, Politischer Bericht, Guatemala 13. 1. 1931, PA, R79271 (Costa Rica/Staatsoberhäupter und deren Familien, 1924 – 32). 29 Mensaje presidencial del 1o de mayo 1932, abgedruckt in: Carlos Mel¦ndez, Mensajes presidenciales, tomo VI, San Jos¦ 1987, S. 106; Übersetzung dieses und weiterer Zitate: V. Wünderich. 30 Text in: R.I.D.C., No.1 (noviembre de 1934). S. 88 ff. 31 Zur Entstehung und zum Charakter der neuen Regelung s. AcuÇa, Clases Sociales y Conflicto Social, aaO., S. 188 ff.; Jorge Leûn, Las Polticas Econûmicas en Costa Rica 1890 – 1950: La Primera Mitad del siglo XX, San Jos¦ o. J., S. 20 f.; vgl. auch Carlos Merz, Ricardo Jim¦nez el economista, San Jos¦ 1946, S. 19 ff.
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nach erhielten die Bauern bei der Ablieferung der Ernte zunächst nur einen Abschlag und einen Nachweis über die abgelieferte Menge. Es wurde eine Schiedsstelle eingerichtet, die Junta de Liquidaciones, der je ein Vertreter des Staates, der Beneficios und der Bauern angehörte. Die Beneficios wurden verpflichtet, ihre Bücher zu öffnen und die Erlöse beim Export genau anzugeben, so dass die Junta nach Abschluss der Erntekampagne die Gesamtrechnung ermitteln konnte. Dann wurde der endgültige Aufkaufpreis in den Zeitungen veröffentlicht, und die Abrechnung der Beneficios mit den Bauern konnte erfolgen. Diese Form der staatlichen Regulierung war ohne Zweifel ein scharfer, bisher unbekannter Eingriff des Staates in die Gewohnheitsrechte der Kaffee-Oligarchie. Jim¦nez musste dieses Projekt denn auch gegen erbitterte Kritik aus deren Reihen verteidigen. Seine Argumente waren dabei ausgesprochen konservativer Art: Er machte die nationalen Interessen geltend, stellte die Gefahr einer breiten Verelendung der Bauern dar und konnte, meistens unausgesprochen, mit der kommunistischen Gefahr drohen. Außerdem verband er mit der einschneidenden Regulierung eine moderne Beratungs- und Marketingidee, nämlich die Gründung des »Kaffee-Instituts«. Das Institut, das schließlich 1934 die Arbeit aufnahm wurde, sollte die Förderung des Kaffeeanbaus und seine Orientierung auf die sich verändernden Erfordernisse des Weltmarktes übernehmen. Diese Argumente reichten aus, um die Gesetze durch das Parlament zu bringen. Der Streit mit den intransingenten Mitgliedern der Kaffee-Oligarchie zog sich zwar noch jahrelang hin, aber schließlich lenkten auch sie ein. Das beschriebene System der Abrechnung und Festlegung der Aufkaufpreise ist seitdem mehrfach modifiziert worden, wird in vergleichbarer Form aber bis heute fortgeführt.32 Der wirtschaftliche Nutzen für die Bauern war zunächst eher gering, da die führenden Kaffeeinteressen die neue Form der Rechnungslegung blockieren konnten und weiterhin zäh für ihre Verdienstspanne kämpften. Dann stellten sich die Beneficio-Besitzer aber auf die neuen Verhältnisse ein.33 Allein die Tatsache, dass die Festlegung der Aufkaufpreise von nun an der undurchsichtigen Willkür entzogen und einer öffentlichen Kontrolle ausgesetzt war, verfehlte ihre Wirkung nicht. Für das Überleben der meisten Bauern sorgten auch noch andere Maßnahmen, die hier nur am Rande erwähnt werden können: Die Regierung Jim¦nez erließ ein Schuldenmoratorium und schützte die zahlungsunfähigen Bauern vor einer Pfändung. Unter dem Druck einer ständig radikaleren Agitation unter den unzufriedenen Bauern ermächtigte sie die Banco Internacional sogar zum Weiterbetrieb von Beneficios, die in Konkurs gegangen waren. 32 Vgl. die heutige Darstellung des Verfahrens auf der Webseite des Kaffee-Instituts ICAFE: www.icafe.go.cr. 33 AcuÇa, Clases Sociales y Conflicto Social, aaO., S. 192.
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Das kam einer Verstaatlichung der Betriebe gleich, war aber nur als vorübergehende Krisenintervention konzipiert.34 Die Existenz des neu gegründeten Bauernverbandes kam Jim¦nez’ Politik dabei zugute. Der Verband konnte einen Vertreter in die Junta de Liquidaciones entsenden und damit die Interessen der Produzenten für alle sichtbar vertreten. Jim¦nez hatte genau den richtigen Zeitpunkt für sein Projekt getroffen, denn ohne diese Organisation und ihre große Legitimität hätte die Idee des staatlich vermittelten Interessenausgleichs nicht funktioniert. Durch die Einbindung der Organisation konnte die Regierung gleichzeitig der drohenden Radikalisierung der Bauern entgegenwirken. Die geschilderte Verständigungspolitik der Regierung Jim¦nez kann aus heutiger Sicht leicht als Schritt zu einem Interventions- und Sozialstaat missverstanden werden. Die gesamte Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung, für die Costa Rica später bekannt wurde, lag aber weit außerhalb des Horizontes von Ricardo Jim¦nez. Er war strikt gegen die Ausweitung des staatlichen Apparates und trat am liebsten als wohlwollender Landesvater auf. In allen Berichten wird immer wieder seine »patriarchalische« Grundhaltung hervorgehoben.35 Die Bedeutung lag auf einer anderen, eher grundlegenden Ebene der Staatspolitik. Angesichts der Krise wollte Jim¦nez die Vorstellung der Nation als einer Gemeinschaft und Familie beleben. Er drückte es in seiner Regierungserklärung zum Amtsantritt am 8. Mai 1932 schlicht, aber eindringlich aus: »Ob freiwillig oder unfreiwillig, wir befinden uns alle an Bord desselben Schiffes. Es kann nicht für einige untergehen und für andere nicht. Wenn wir untergehen, gehen wir alle unter.«36 Daran schloss Jim¦nez einen patriotischen Appell zur gemeinsamen Bewältigung der Krise jenseits parteipolitischer Streitereien an. Die geschilderte Kaffeegesetzgebung zeigt, dass es hier um mehr ging als um die üblichen Sprechblasen. Sie verlangte der herrschenden Klasse von Costa Rica tatsächlich ein gewisses Maß von Verständnis und Verständigung ab. Die Beneficiobesitzer mussten die Organisation der Bauern akzeptieren, mit ihr kommunizieren und verhandeln. Victor Hugo AcuÇa hat herausgearbeitet, dass sich in der geschilderten Auseinandersetzung zwei soziale Klassen im Bewusstsein ihrer Interessenwidersprüche gegenüberstanden, aber sich entschlossen, miteinander zu sprechen und zu Lösungen zu gelangen.37 An dieser Stelle und in diesem Land zeigte also auch die herrschende Klasse ein gewisses 34 Zur Wirtschaftspolitik ab 1932 s. Leûn, Las Polticas Econûmicas en Costa Rica 1890 – 1950, aaO., S. 18 ff. 35 Z.B. Kuhlmann an Auswärtiges Amt, Jahresbericht für 1933, Guatemala 26. 1. 1934, R90874 (Mittelamerika/Jahresberichte der deutschen Auslandsvertretungen, 1929 – 35) und Bericht von Kuhlmann an Auswärtiges Amt, Panama 5. 3. 1934, PA, R79276 (Costa Rica/Sozialismus, Bolschewismus, Kommunismus usw., 1933 – 34). 36 Mensaje Inaugural del 8 de mayo, 1932, in: Mel¦ndez, Mensajes Presidenciales, aaO., S. 109. 37 AcuÇa, Clases Sociales y Conflicto Social, aaO., S. 198.
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Maß an Dialogbereitschaft. Diese Haltung zählt nicht wenig, wenn man in den Blick nimmt, was H¦ctor P¦rez Brignoli über den Liberalismus in Zentralamerika im allgemeinen schreibt: Die tiefgreifenden sozialen Ungleichheiten »übersetzten sich in ein politisches Leben der Exklusionen. In der Praxis erwies sich die Geltung der liberalen Gesetze und Institutionen vor allem als ein immenser Monolog der herrschenden Klassen mit sich selbst.«38 In Costa Rica festigte sich hingegen die Praxis der Klassenzusammenarbeit. Sie fand selbstverständlich auf der Grundlage der bestehenden Ungleichheit statt, aber sie forderte der herrschenden Oligarchie zumindest ansatzweise die Wahrnehmung der realen Lage der Bauern und Arbeiter und die Akzeptanz einer gegenseitigen Abhängigkeit ab. Der Weg der Verständigung, den Costa Rica ging, ist um so mehr hervorzuheben, als das Nachbarland El Salvador gerade einen Aufstandsversuch erlebt hatte, den die Armee zum Anlass nahm, ein völkermordähnliches Massaker an Landarbeitern und Indianern zu begehen.39 Im besetzten Nicaragua tobte noch der Guerillakrieg, und in Guatemala und Honduras hatten gerade Diktatoren im Stile der Caudillos des 19.Jahrhunderts die Macht übernommen. Die regionale Sonderstellung Costa Ricas war auch den Zeitgenossen bewusst und wurde gerade von Präsident Jim¦nez als nationale Selbstdarstellung gepflegt, in die die scharfe Abgrenzung von den »barbarischen« Zuständen in den Nachbarländern eingebaut war. Aus denselben Gründen war Jim¦nez übrigens auch ein erklärter Gegner der zentralamerikanischen Einigungsbestrebungen.40 Es ist unbestreitbar, dass Costa Rica das einzige Land dieser Region war, das bis zum Zweiten Weltkrieg seine formale Demokratie behielt. Ricardo Jim¦nez hatte sich im Wahlkampf 1931/32 auch gegen ein Verbot der Kommunistischen Partei ausgesprochen und sein Land als Hort der politischen Freiheit dargestellt. Das propagierte Selbstbild konnte seine Überzeugungskraft auf reale und sichtbare Unterschiede zu den Nachbarländern aufbauen. Aber gleichzeitig handelte es sich dabei um eine Harmonisierung, welche die Wirklichkeit des Landes zu einem ein bukolischen Arkadien stilisierte. Die zentrale Ressource für dieses Selbstbild waren der Kaffee und der Kaffeebauer. Mit der Regulierung des Aufkaufpreises von Kaffee wurde Ende 1933 auch das schon erwähnte »Institut zur Verteidigung des Kaffees von Costa Rica« (Instituto de Defensa del Caf¦ de Costa Rica/ICAFE) ins Leben gerufen.41 Als sein »Kampfprogramm« gibt das Institut das Ziel an, »dass unsere Pflanzungen mehr produzieren und dass die Bohnen mit immer perfekterer Qualität aufbereitet 38 H¦ctor P¦rez Brignoli, Breve Historia de Centroam¦rica, Madrid, 2. Aufl. 1990, S. 113. 39 Jeffrey L.Gould and Aldo Laura-Santiago, To Rise in Darkness. Revolution, Repression, and Memory in El Salvador, 1920 – 1932, Durham and London 2008. 40 Vertrauliche Aufzeichnung des Auswärtigen Amtes, Berlin 26. 1. 1932, PA (Akte s. Anm. 28). 41 Gesetzestext in: R.I.D.C. No. 3 (enero de 1935), S. 285 ff.
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werden.«42 Sein vornehmlicher Zweck war die Beratung der Produzenten mit dem Ziel, den Kaffeeanbau zu intensivieren, die Erträge vor allem durch Düngereinsatz zu steigern und die hohe Qualität der Produktion auf dem Weltmarkt zu verteidigen. Warum das ICAFE mitten in der größten Überproduktionskrise die Steigerung der Erträge propagierte, bedarf einer Erklärung. Es war schon die Rede davon, dass Costa Rica seine Ernten auch in der Krise komplett absetzen konnte, da die Nachfrage nach den milden Sorten fortbestand. Entsprechend hohen Anteil in der Zeitschrift des Instituts hatte die Propagierung der angeblichen Spitzenqualität.43 Die Hoffnung baute darauf, die Weltmarktanteile zu halten und später wieder in den Genuss lukrativer Preise zu kommen. Jim¦nez: »Die gute Qualität der Bohne wird zu unserem Rettungsanker.«44 Im Übrigen verhielt sich das Institut betriebswirtschaftlich korrekt: Die Krise ist Zeit für technische Innovation. In den Jahren guter Preise waren Arbeitsproduktivität und Erträge stagniert.45 Die »Revista« des Kaffee-Instituts beschränkte sich nicht auf die Rolle eines nüchternen Fachorgans, sondern warf sich mit patriotischer Emphase der Krise entgegen und erklärte es zu einem »heiligen Krieg«, »durch und für Costa Rica zu triumphieren.«46 Deutlich erkennbar ist das Bestreben, die breite Masse der kleinen Produzenten zu erreichen. Für Leser, die wahrscheinlich Mühe hatten, die anspruchsvollen Artikel zu lesen, finden sich kurze, propagandamäßig formulierte Aufrufe und Anweisungen. So heißt es z. B. »Die möglicherweise niedrigen Preise für Kaffee müssen durch eine höhere Produktion ausgeglichen werden. Darum muss sich jeder Produzent mit Sorgfalt um seine Pflanzung kümmern und Dünger verwenden.« »Düngen, düngen, dies muss der Kampfruf des costaricanischen Landwirts sein.« »Jeder Morgen Kaffeeland muss eine Fanega (=1/2 Hektoliter) mehr Kaffee produzieren als bisher.«47 usw. Die Vermittlung der politischen Botschaft wird in folgendem Absatz schon deutlicher : »Das Institut zur Verteidigung des Kaffees von Costa Rica strebt an, die vermittelnde und ausgleichende Instanz zwischen Produzent und Verarbeiter des Kaffees zu sein, mit der Folge, dass diese beiden Kräfte für einen Zweck zu-
42 R.I.D.C. No. 1 (noviembre de 1934), S. 7. 43 S.z.B. Charles W. Cohen, Cuales son los factores que determinan la condiciûn de los »caf¦s suaves«? La experiencia de Costa Rica, productor de los mejores extra-milds del mundo, in: R.I.D.C., No. 8 (junio de 1935), pp. 89 – 93. Ausführlicher zum Thema: Ronny J. Viales Hurtado und Andrea M. Montero Mora, La construcciûn sociohistûrica de la calidad del caf¦ y del banano de Costa Rica. Un anlisis comparado 1890 – 1950, San Jos¦ 2010. 44 Mensaje de Don Ricardo Jim¦nez al Congreso Constitucional 1o de mayo, 1933, San Jos¦ 1933, S. 14. 45 P¦rez Brignoli, Economa Poltica del Caf¦ en Costa Rica, aaO., S. 20. 46 R.I.D.C., No. 1 (noviembre de 1934), S. 7. 47 aaO, S. 116; 19; 38.
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sammenwirken: für den Reichtum der Nation.«48 Über die fachliche Information hinaus beabsichtigte die Regierung offensichtlich, mit den Kampagnen des Instituts dem Alltag der Produzenten wieder Richtung und Sinn zu geben. Die Propagierung neuer Ziele sollte auch ein psychologischer Beitrag zur Krisenbewältigung sein. Gleichzeitig wurde der Kaffee zum Symbol der costaricanischen Nation überhaupt erhoben. In der 1933 erschienenen »Monografa del Caf¦« von Jorge Carranza hieß es: »Der Kaffee als Wirtschaftsfaktor hat die diversen kulturellen Aktivitäten bestimmt und die Achse gebildet, um die sich das gesamte Leben der Nation in den vergangenen 100 Jahren… gedreht hat.«49 Die zentrale Verbindung von Kaffee und Nationalkultur war schon lange ein Standardthema. Aber jetzt, im Augenblick der Krise, wurde diese Sinngebungsressource aufgegriffen, bekräftigt und in ihren politischen Bedeutungen weiterentwickelt. Das neu gegründete Institut sollte nicht umsonst zur »Verteidigung« des Kaffees dienen. Der Kaffee war nicht mehr selbstverständlicher Bezugspunkt der nationalen Erfolgsgeschichte. Er musste jetzt »verteidigt« werden, d. h. seine Sonderstellung musste mehr und mehr durch eine bewusste und organisierte Anstrengung aufrechterhalten werden. Dazu wurde der Kaffee aufgewertet, wurde seine Bilderwelt gepflegt und wurden besondere Anstrengungen unternommen, um ihn tiefer in der nationalen Vorstellungswelt zu verankern. So machte die »Revista« z. B. ausführliche Vorschläge für die Behandlung des Themas Kaffee im Grundschulunterricht.50 Die Bekräftigung des Kaffees als nationale Bestimmung fand auch Eingang in die Malerei dieser Zeit.51 Das abgebildete Ölgemälde (Abb. 2) wurde von Jos¦ Solera Oreamuno gemalt und heißt »Caf¦ de Costa Rica«. Die Szene ist seit Theodor de Brys Kupferstich von der »Landung des Kolumbus« (1594) ein jahrhundertealter Topos, der die Ankunft der Europäer per Schiff zeigt, in diesem Fall vertreten durch den englischen Gentleman im weißen Anzug. Am Strand treffen die Eroberer auf ein tropisches und phantasievolles Ambiente, und es treten ihnen die Eingeborenen, manchmal auch die Personifizierung des Kontinents »Amerika« entgegen. Auf diesem Bild soll die Frau mit der Jakobinermütze, eingehüllt in eine Nationalfahne, das Land Costa Rica verkörpern. Entsprechend dem nationalen Selbstbild wird sie als »weiße« Frau dargestellt und zeigt europäische Gesichtszüge. Sie bietet dem fremden Herrn das typische Landesprodukt, nämlich eine Tasse Kaffee an. Bei diesem Gemälde handelt es sich um ein Werk akademischer Programmkunst am Rande des Kitsches, und es 48 49 50 51
R.I.D.C., No. 21/22 (1936), S. 48. Jorge Carranza Sols, Monografa del Caf¦, San Jos¦ 1933. R.I.D.C., No. 3 (1935), S. 255 – 262. Quelle: Volker Wünderich, Das Bild Caf¦ de Costa Rica, in: Katalog der Ausstellung »caf¦ mundo« im Johann-Jacobs-Museum, hg. Gabrielle Obrist und Jörg Smotlacha, Zürich 2000.
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Abb. 2: Caf¦ de Costa Rica von Julio Solera Oreamuno, um 1932
könnte von einer kritischen Durchdringung seiner Gegenwart nicht weiter entfernt sein. Es bekräftigt vielmehr in geradezu regressiver Weise die traditionelle Rolle des Landes und seine Abhängigkeit vom Kaffee. Überdeutlich wird die Kaffeeproduktion wird als die eigentliche Bestimmung der Nation dargestellt, nicht nur in Form der Kaffeetasse. Es liegt auch ein Zweig mit reifen Kirschen im Schoß der Frau. Das Bild stammt aus dem Jahre 1932 oder 1933 und illustriert in jeder Hinsicht die geschilderten Intentionen von Präsident Ricardo Jim¦nez. Der Maler, ein Kunsterzieher aus Alajuela, wollte mit seinem Bild of-
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fensichtlich die erwähnte Popularisierung des Symbols Kaffee unterstützen und mit künstlerischen Mitteln überhöhen. Auf der gleichen Linie liegt das Gedicht »El Caf¦« von Guillermo Gonzlez, abgedruckt in der »Revista« 1936:52 Oh Herrscher, dich besinge ich! Ich singe im Reich deines Überflusses. […] Wenn sich der Winter verabschiedet, machen sich die Pflückerinnen bereit. […] Sie kommen mit gewaltigen Körben voller Spaß zu den Kaffeesträuchern, und in einem Goldregen fallen die Kirschen, rot wie die Brombeeren, hinein, oder auf den Boden oder in die Schürzen dieser hübschen Mädchen, die so wacker und emsig sind. […] Lob sei denen, die diese wohltätige Pflanze anbauen, die Silberader von Costa Rica in höchst poetischer Gestalt. Es ist der Kaffee der Reichtum dieses bezaubernden Landes, der Motor unserer Kultur seit ewigen Zeiten.
In diesem Gedicht wird deutlich, dass die Arbeits- und Lebenswelt auf dem Lande stilisiert und zu einem in die Natur eingebetteten, friedlichen Arkadien idealisiert wurde. Das alte europäische Bild vom paradiesischen Überfluss der tropischen Natur wurde aufgegriffen, mit dem Kaffee verbunden und in das nationale Selbstbild eingefügt. Die sozialen Ereignisse wie z. B. Erntefeste und die bäuerlichen Gebrauchsgegenstände, allen voran der bekannte Ochsenkarren, durchliefen einen Prozess der Folklorisierung. Im Zentrum des Gesellschaftsbildes stand der kleine Kaffeebauer. Er galt als Symbol für konservative Werte wie Rechtschaffenheit, Familienverbundenheit, Staatstreue usw. Ricardo Jim¦nez hegte eine Vorstellung von den Grundlagen des Staates, die an Jeffersons ländliche Demokratie der kleinen Grundbesitzer erinnert. Es handelte sich um das aufgeklärte Ideal einer Siedlergesellschaft, in dem die Werte der Individualität, der Gleichheit und des größtmöglichen ökonomischen Nutzens jedes Staatsbürgers vorherrschend waren.53 In diesem Sinne sagte Jim¦nez, dass »ein Volk ohne Grund und Boden zum Tode verurteilt« sei; das Ziel 52 R.I.D.C., No. 21/22 (1936), S. 48. 53 Ein mit viel Sympathie gezeichnetes, aber glaubwürdiges Bild von Jim¦nez’ politischem Denken findet sich bei Eugenio Rodrguez Vega, Los das de Don Ricardo, San Jos¦ 1981.
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der »Gesundheit des Volkes und des Staates« sah er als einen »ewigen Wert«54. Diese Überzeugung konnte eine gewisse Plausibilität angesichts der Landesgeschichte für sich in Anspruch nehmen, denn die Siedler und Einwanderer hatten hier (im Gegensatz zur seigneuralen Kolonisation in Form ethnischer Überschichtung, dem Grundschema der spanischen Kolonialisierung) eine bäuerliche Tradition begründet und ihr schließlich –dank des wertvollen Exportproduktes Kaffee- zu einem erstaunlichen Erfolg verholfen.55 Die Pioniergeschichte der costaricanischen Siedler war in den 1930er Jahren übrigens noch nicht vorbei. Die Siedlungsgrenze schob sich noch unaufhaltsam voran, und in eben jenen Jahren wurde das Tal von San Isidro kolonisiert, das zu einer neuen Kaffeezone aufstieg. Viele dieser Elemente hatten ihre Entsprechung in der sozialen Entwicklung Costa Ricas. Aber jetzt wurden sie ideologisiert, verallgemeinert und für die Rekonstruktion der nationalen Identität in die Pflicht genommen.
Abb. 3: Los vecinos # 2, von Fausto Pacheco, ohne Datum
54 Carlos F. Merz, Ricardo Jim¦nez el Economista, aaO., S. 27 und 30. 55 Zum Bild der ländlichen Demokratie und zur »weißen Legende« in Costa Rica s. Jeffrey M.Paige, Coffee and Power (Anm. 18), S. 219 ff.
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Das abgebildete Aquarell von Fausto Pacheco (Abb. 3) heißt »Die Nachbarn Nr. 2« (ohne Datum).56 Es unterstreicht das geschilderte Selbstbild der Nation, und scheint es gleichzeitig in Frage zu stellen. Pacheco ist ein moderner Vertreter der Landschaftsmalerei.57 Er hat in den dreißiger Jahren viele solche Aquarelle gemalt. Das Bild zeigt zwei Bauernhäuser in traditioneller Adobe-Bauweise inmitten der Bergwelt von Costa Rica. Es stellt die ländliche Welt in schönen Formen und angenehmen Farben dar. Doch bei näherem Hinsehen werden Sprünge, werden unheimliche und bedrohliche Elemente sichtbar : »Die Nachbarn« sind gar nicht zu sehen. Die Häuser scheinen verlassen, wie von einer Friedhofsruhe befallen. Es fehlen die Menschen und Tiere, die zu einem Bauernhof gehören, und die Fenster zeigen nur schwarze Löcher. Es ist, als wenn der Traum leicht in einen Albtraum umschlagen könnte. Auch dieses Bild passt in die Zeit der großen Krise. Die ländliche Idylle wird dargestellt, aber im Hintergrund lauert eine Bedrohung, die um so unheimlicher ist, als sie sich nicht zu erkennen gibt. Der Soziologe Manuel Sols erkennt an den Bauernhäusern von Pacheco einen scharfen Gegensatz zwischen Innen und Außen. Die Außenfassade zeigt sich fest gefügt; aber das Innere bleibt unsichtbar und scheint die Kehrseite und die Abgründe der Gesellschaft zu verbergen.58 Anfang der 1930er Jahre war die Vorstellung von der Gesellschaft als Verbund kleiner Grundbesitzer noch weit verbreitet, aber es gab andere soziale Lebenswelten und die dazugehörigen Konflikte, die davon schon längst nicht mehr abgedeckt wurden. In den zwanziger Jahren hatte sich der Prozess der Urbanisierung und Differenzierung der Gesellschaft erheblich beschleunigt. Neben der bäuerlich geprägten Gesellschaft im Hochland hatte sich seit der Jahrhundertwende eine andere Realität in der Atlantikregion entwickelt, wo die ausländische Bananenkonzerne das Feld beherrschten und den karibischen Arbeitern krasse Formen der Ausbeutung aufzwangen. Ein Proletariat war auch in den Städten im Hochland entstanden. Christlich-soziale und sozialistische Ideen breiteten sich aus, und Parteien neuen Typus’ wie die Partido Reformista von Jorge Volio und die Kommunistische Partei machten den alten liberalen Wahlvereinen das Feld streitig. Die große Krise mit ihren sozialen Folgen führte zu hitzigen Formen sozialer Agitation, die gar nicht zum paternalistischen Ideal des Präsidenten und zur Romantisierung der ländlichen Demokratie passen wollten. An dieser Stelle ist auch darauf hinzuweisen, dass das zweitwichtigste Ex56 Originalgröße: 25,5x32,5 cm. Das Original befindet sich im Besitz der »Caja Costarricense de Seguro Social«, San Jos¦. 57 Zum »paisajismo« s. Eugenia Zavaleta Ochoa, Haciendo patria con el paisaje costarricense. La consolidaciûn de un arte nacional en la d¦cada de 1930, San Jos¦ 2003. 58 Manuel A.Sols Avendano, Memoria descartada y sufrimiento invisibilizado. La violencia de los aÇos 40 vista desde el Hospital Psicitrico, San Jos¦ 2013, captulo IX: Detrs de la fachada, S. 498 ff.
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portprodukt, die Banane, damals nicht in die nationale Bilderwelt aufgenommen wurde. Das Ideal des Kaffees war mit der »weißen« Legende der spanischstämmigen Pioniere verbunden, die sich von der »grünen Hölle« des karibischen Tieflandes und den afroamerikanischen Arbeitern scharf abgrenzte.59 Im Gegensatz dieser beiden Bilder drückte sich die Verschärfung der regionalen Widersprüche innerhalb Costa Ricas aus. Während es Ricardo Jim¦nez gelang, die zentrale Gruppe der Kaffeebauern erst einmal zu befrieden, blieb die soziale Frage an der Atlantikküste ungelöst. Die explosive Lage der Bananenarbeiter kulminierte im großen Streik von 1934, dem der kommunistische Literat Carlos Luis Fallas mit seinem Buch »Mamita Yunai (=United Fruit Co.)« ein besonderes Denkmal gesetzt hat. Präsident Jim¦nez verfolgte auch hier seine Linie und versuchte zunächst, eine vermittelnde Rolle zwischen den amerikanischen Fruchtkonzernen und den kommunistischen Streikführern spielen. Die Intransingenz der Konzerne und die Wucht der Mobilisierung zwang ihn dann aber doch, den Streik mit staatlichen Gewaltmaßnahmen hart zu unterdrücken. Der Holzschnitt mit dem Titel »Krankes Kind« von Manuel de Jesffls Gonzlez60 (Abb. 4) möchte ein Bild der Wirklichkeit jenseits von offiziellen Harmonisierungen zeigen. Er stellt das Leiden und die soziale Not dar, um politisch anzuklagen. In dieser Zeit waren vor allem Landarbeiter ohne eigenen Grundbesitz, die städtischen Handwerker und die Arbeiter auf den Bananenplantagen schweren Belastungen ausgesetzt. Es war eine Zeit ohne soziale Sicherungssysteme jenseits der Familie. Es war ganz normal, Hunger zu leiden und an Infektionskrankheiten ohne ärztliche Versorgung zu sterben. Im herrschenden und gerade erneuerten Bild von der nationalen Gemeinschaft waren diese Schicksale nicht sichtbar. Die Kommunistische Partei übernahm es, diese Seite der Krise zum Thema zu machen. Sie veröffentlichte diesen Holzschnitt 1934 in ihrer Zeitschrift »Trabajo«. Die Darstellungsweise orientiert sich offensichtlich an expressionistischen Vorbildern. 1932 wurde in San Jos¦ eine Ausstellung mit Werken deutscher expressionistischer Künstler gezeigt.61 Darin waren auch einige Grafiken von Käthe Kollwitz zu sehen, die bei den jungen Künstlern im Land einen tiefen Eindruck hinterließen. Mit dem Bild »In der Cafetera« von Francisco Amighetti aus dem Jahre 1935 (Abb. 5) sind wir in der gebrochenen Wirklichkeit der klassischen Moderne
59 vgl. dazu Victor Hugo AcuÇa Ortega, Der Kaffee in der Volkskultur Costa Ricas, Katalog der Ausstellung »caf¦ mundo« im Johann-Jacobs-Museum, Zürich 2000. Diesem Aufsatz verdanke ich wichtige Anregungen. 60 Aus der Zeitschrift »Trabajo«, 11. November 1934, abgedruckt in: Ivn Molina Jim¦nez, Anticomunismo Reformista, San Jos¦ 2007. 61 Norbert Nobis (Hg.), Kunst aus Costa Rica. Die expressionistischen Tendenzen, Katalog Hannover 1992, S. 7.
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Abb. 4: NiÇo enfermo von Manuel Jesffls Gonzlez (1934)
angelangt.62 Die abgebildeten Personen sind aus der Sicherheit traditioneller Lebensführung längst herauskatapultiert worden. Aber sie finden ihre Identität ebenso wenig in der kämpferischen Haltung revolutionärer Vorbilder. In expressionistischer Weise wird dargestellt, wie sie ihre Lebendigkeit unter Bezug auf die zufällig enstandene Gruppe im Caf¦ zu realisieren versuchen. Einige konzentrieren sich ganz auf ihr Getränk oder ihr Essen, während andere versuchen, Kontakt aufzunehmen und ihre Gefühle zu zeigen. Dieses Bild zeigt uns ein ganz anderes Costa Rica als die vorangegangenen, aber es ist ebenfalls als Ergebnis der großen Krise zu verstehen. So wie die deutschen Expressionisten das Erlebnis des Ersten Weltkriegs verarbeiten mussten, so entstand die moderne Kunst in Costa Rica vor dem Hintergrund der großen Wirtschaftskrise. Im Hinblick auf die weitere Entwicklung Costa Ricas muss man feststellen, dass die ökonomische Rationalität der geschilderten Krisenbewältigung sehr begrenzt war. Es wurden zwar erste Schritte zu einer wirtschaftlichen Krisen62 Quelle: Garielle Obrist, Kunst und Künstlerpersönlichkeiten in Costa Rica, in: Katalog der Ausstellung »caf¦ mundo« im Johann-Jacobs-Museum, Zürich 2000. Erläuterungen zum Werk von Amighetti in: Nobis, Kunst aus Costa Rica, aaO.
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Abb. 5: Cafetera von Francisco Amighetti, 1935
bewältigung getan, die sich auf die Qualitätssicherung und die Steigerung der Produktivität der Fincas konzentrierten. Die überfällige Produktivitätssteigerung im Kaffeesektor setzte aber viel grundlegendere Interventionen des Staates voraus, als in den paternalistischen Ideen des Präsidenten und in der Propaganda des Kaffee-Instituts ICAFE vorgezeichnet war. Sie gelang erst in den 1950er Jahren. Zudem wurde die Vorzugsstellung des costaricanischen Kaffees auf dem Weltmarkt überschätzt. Das Marktsegment der gewaschenen Hochlandkaffees füllte sich in den dreißiger Jahren mit neuen Konkurrenten, z. B. durch den Aufstieg Kolumbiens. Wirtschaftlich gesehen, waren die dreißiger Jahre auch für Costa Rica ein verlorenes Jahrzehnt. Ausgerechnet die große Krise wurde in Costa Rica aber zum Ausgangspunkt eines intensivierten Kaffee-Nationalismus. Die Exportware Rohkaffee und die Figur des Kaffeebauern wurde in den Mittelpunkt des nationalen Selbstbildes gerückt. Präsident Ricardo Jim¦nez erzwang auf gesetzlichem Wege, dass die Kaffee-Oligarchie für den Aufkauf des Kaffees von den Produzenten bessere, »gerechte« Preise bezahlte. Er erklärte die Kaffeebauern zum Fundament des
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Staates und machte seine Politik mit der Absicht, ihre Verelendung und Radikalisierung zu verhindern. Das Selbstbild der kaffeeproduzierenden Nation wurde ausgebaut und entfaltete neue kulturelle Dimensionen. Die Idee der Klassenzusammenarbeit blieb erhalten und wurde (über scharfe politische Gegensätze hinweg) in den Sozialreformen des christlich-sozialen Katholiken Calderûn Guardia (Präsident 1940 – 44) und in der sozialdemokratischen Ära nach 1949 weiter ausgestaltet. Das meinte Jos¦ Figueres, die prägende Gestalt des modernen Costa Rica, als er einmal sagte: »Der Kaffee ist bei uns keine Wirtschaftsform, sondern eine Kultur.« Über der Wirklichkeit dieses Grundzugs der politischen Kultur erhob sich die Ideologisierung des nationalen Selbstbildes. Alles, was mit dem Kaffee zusammenhing, vom wackeren Kaffeebauern und seiner Finca über die Erntefeste bis hin zu den alltäglichen Gebrauchsgegenständen, durchlief einen Prozess der Stilisierung und Folklorisierung. Die Folge ist u. a., dass Costa Rica seitdem das Land in Zentralamerika ist, in dem der Kaffee den bedeutendsten Platz in der nationalen Identität und auch in der Volkskultur einnimmt.63 Die beschriebenen Entwicklungen haben ihre Spuren in der zeitgenössischen Kunst hinterlassen. In den dreißiger Jahren sind Bilder anzutreffen, die sich als Unterstützung der Politik von Präsident Jim¦nez mit künstlerischen Mitteln verstanden. Andere Kunstwerke entstanden im Umkreis der kommunistischen Partei und stellten sich in den Dienst der sozialen Anklage. Die Weltwirtschaftskrise ist gleichzeitig die Geburtsstunde der modernen Kunst in Costa Rica, die über die Widersprüche und Abgründe der Gesellschaft Rechenschaft ablegt und sich weigert, das Bild vom tropischen Kaffeegarten lediglich zu reproduzieren.
63 Vgl. Acuna Ortega, Der Kaffee in der Volkskultur Costa Ricas (Anm. 59).
Dorothee Wierling
Mit Rohkaffee handeln. Hamburger Importeure im 20. Jahrhundert
Im Mittelpunkt des folgenden Textes steht die Geschichte einer Gruppe, die in der Warenkette des Kaffees ein entscheidendes Glied darstellt: die Überseekaufleute, die als Importeure, Agenten und Makler mit dafür sorgten, dass der Kaffee aus den Produktionsländern den Konsumenten erreichte. In Deutschland war Hamburg seit dem späten 19. Jahrhundert der wichtigste europäische Importhafen für Kaffee, und hier ließen sich die meisten deutschen Importeure nieder, um Rohkaffee insbesondere aus den lateinamerikanischen Ländern Brasilien, Kolumbien, Guatemala, Mexiko und Costa Rica einzukaufen. Mit dem Bau der Speicherstadt im Freihafenbezirk der Stadt in den späten 1880er-Jahren hatte sich diese Gruppe räumlich und sozial als ein ständischer Zusammenhang und als erfolgreiche Teilgruppe »hanseatischer« Kaufmannschaft etabliert. Bis heute wird von Hamburg aus ein großer Teil West-, Zentral- und Osteuropas mit Rohkaffee versorgt, wenn inzwischen auch nur noch eine kleine Zahl von multinationalen Firmen das Geschäft betreibt. Bei dem hier vorgestellten Projekt zur Geschichte der Hamburger Rohkaffeehändler im 20. Jahrhundert1 wird eine Sozial- und Mentalitätsgeschichte angestrebt, bei der die sozialen Formen, ökonomischen Praktiken und normativen Orientierungen untersucht werden, die das Selbstverständnis und das Handeln – im doppelten Sinne – dieser Akteure bestimmten. Zunächst geht es also um Phänomene und Strukturen langer Dauer, dann aber auch darum, wie diese sich zu dem dramatischen historischen Wandel im 20. Jahrhundert verhalten, in dem Kriege, Krisen und Veränderungen der globalen Märkte immer wieder Anpassungen und Neuanfänge erfor-
1 Das – in der Niederschrift befindliche – Projekt war Teil eines größeren Forschungszusammenhangs an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, der von der DFG und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert wurde, und zu dem auch das Projekt von Christiane Berth: Biografien und Netzwerke im Kaffeehandel zwischen Deutschland und Zentralamerika 1920 – 1959, Hamburg 2014, und Monika Sigmund: Genuss als Politikum. Kaffeekonsum in beiden deutschen Staaten, München 2014, gehören.
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derten – und damit auch das individuelle und kollektive Selbstverständnis der »hanseatischen« Kaffeekaufleute herausforderten.2 Angesichts der Tatsache, dass die Akteure des Überseehandels – zu denen neben den Importeuren auch Bankiers, Reeder und Versicherer gehörten – eine zentrale Position beim Übergang des Rohkaffees von den Produktionsländern des Südens in die Konsumländer des Nordens einnahmen, ist es erstaunlich, wie wenig Aufmerksamkeit ihnen bis vor Kurzem von Historikern geschenkt wurde. Schließlich gestalteten sie durch ihre Kommunikation und Interaktion jenen realen und imaginären Handlungsraum, in dem kontinuierlich Informationen und Spekulationen ausgetauscht und Transaktionen vollzogen wurden, von denen viele zwar unsichtbar blieben, die aber dennoch eine große Zahl von Menschen, Währungen, Verträgen, sozialen Klassen, Nationalstaaten, Kulturen und Bildern betrafen.3 Handel und Händler geraten dann genauer in den Blick, wenn die Ebene abstrakter Modelle und Makrogeschichten verlassen wird und Forschungsfragen sich stärker konkreten Orten, Akteuren und Interaktionen widmen. Dazu gehören einerseits Arbeiten, die den Zugang über commodity chains gewählt haben; zum anderen solche, die die Geschichte global agierender Unternehmen zum Ausgangspunkt nehmen.4 Die Arbeit von Christof Dejung über die Schweizer Firma Gebrüder Volkart und ihr frühes Engagement im Baumwolle – und später auch Kaffeehandel – kann als Pionierstudie für die Kombination beider Zugänge gelten.5
2 Zum aktuellen Forschungsstand über die Geschichte des »Hanseatentums« vgl. Lu Seegers: Hanseaten und »Hanseatisches« im 20. Jahrhundert. Konturen eines Forschungsprojekts, unveröff. Ms. Hamburg 2014. 3 Schon der »Klassiker« der Kaffeegeschichte, William H. Ukers: All About Coffee, New York 1922, widmete nur 10 % seines umfangreichen Werkes dem »buying and selling« des Rohkaffees; und eine deutsche Literaturdatenbank listet 955 Titel unter dem Schlagwort »Kaffee« auf, darunter 76 unter »Kaffeehandel«, von denen 27 sich auf den internationalen Handel beziehen. Die meisten dieser Titel entpuppen sich allerdings als gedruckte Quellen; z. B. zu den internationalen Kaffeeabkommen; online-Katalog econis der Deutschen Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften am Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft, Kiel. Es handelt sich laut Selbstaussage um die weltweit größte Literatur-Datenbank für Wirtschaft. 4 Für Geschichten von commodity chains z. B. Sidney Mintz: Die süße Macht. Kulturgeschichte des Zuckers, Frankfurt/Main, New York 1987, sowie die für Ende 2014 angekündigte Arbeit von Sven Beckert: The Empire of Cotton, New York. Vgl. auch den Text von Steven Topik in diesem Band. Beispielhaft für globale Unternehmensgeschichten Hartmut Berghoff: Zwischen Kleinstadt und Weltmarkt. Hohner und die Harmonika, Unternehmensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Paderborn u. a. 1997; Angelika Epple: Das Unternehmen Stollwerck. Eine Mikrogeschichte der Globalisierung, Frankfurt/Main, New York 2010. 5 Christof Dejung: Die Fäden des globalen Marktes. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des Welthandels am Beispiel der Handelsfirma Gebrüder Volkart 1851 – 1999, Köln 2013. Vgl. auch Dejungs Beitrag in diesem Band.
Mit Rohkaffee handeln. Hamburger Importeure im 20. Jahrhundert
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Lokale und soziale Kontexte Händler als globale Akteure müssen an den Orten aufgesucht werden, von denen aus sie ihre Waren, in diesem Fall den Kaffee, ebenso wie Zahlungsmittel und Personal über die ganze Welt bewegten. Überseehändler waren im gesamten 20. Jahrhundert in lokalen Kontexten verankert, und im Fall der deutschen Kaffeehändler war das vor allem die Hafenstadt Hamburg. Seitdem die Stadt Ende des 19. Jahrhunderts der Zollunion des Deutschen Reiches beigetreten war und sich diesen Schritt mit der Errichtung einer Freihandelszone hatte vergüten lassen, war die Bedeutung Hamburgs als einer der wichtigsten europäischen Importhäfen unbestritten. Mitte der 1920er-Jahre betrug der Warenwert der Importe im Hamburger Freihafen circa 6 Milliarden Reichsmark, wovon Kaffee mit 238 Millionen Reichsmark zwar nur einen kleinen Prozentsatz ausmachte, zugleich aber das wertmäßig bedeutendste Importgut darstellte.6 Die meisten Importeure, Makler und Agenten für Kaffee hatten sich Ende des 19. Jahrhunderts in der neu erbauten Speicherstadt in der Freihandelszone des Hafens eingerichtet und bezogen am stadtnahen Sandtorkai7 gemeinsam Quartier. Die sogenannten Kaifirmen machten etwa die Hälfte der bis in die 1950er-Jahre durchgängig circa 200 Mitglieder dieser Gruppe aus, wobei die sogenannten Stadtfirmen sich meist in der Innenstadt niederließen. Sowohl der Sandtorkai, der zum international bekannten Markenzeichen der Branche wurde, als auch die Händler in der Stadt befanden sich damit in fußläufiger Entfernung zum Hamburger politischen und ökonomischen Zentrum: dem ebenfalls neu erbauten Rathaus und den baulich damit verbundenen Institutionen der Handelskammer und der Börse. Am Sandtorkai bildeten die Kontore, die Speicher und die Kaffeebörse einen engen räumlichen Zusammenhang, in dem man sich gegenseitig besuchte, beobachtete und besprach. Das so gebildete Cluster ermöglichte engste Kooperation ebenso wie schärfste Konkurrenz. Diesem physischen entsprach der soziale Ort, den die Kaffeehändler in Hamburg einnahmen. Sie waren, im Sinne Max Webers, ein Stand. Indem Weber diesen dem »modernen« Konzept einer sozialen »Klasse« gegenüberstellte, charakterisierte er Stände als »Gemeinschaften« und die »ständische Lage« als »typische Komponente des Lebensschicksals von Menschen, welche durch eine spezifische […] soziale Einschätzung der Ehre bedingt ist, die sich an irgendeine
6 Zahlen nach Handelsstatistik Hamburg 1925. 7 Die Schreibweise änderte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts. Zu Beginn der »Sandthorquai«, modernisierte man in der Zwischenkriegszeit die Schreibweise des Sandtorkais. Erst mit der Musealisierung und Sentimentalisierung der eigenen Geschichte wurde daraus wieder der Sandthorquai. In diesem Text wird die Schreibweise vereinheitlicht.
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Abb. 1: Hamburgs Innenstadt Ende der 1920er-Jahre. Oben im Bild Sandtorhafen und Sandtorkai, darunter (im Kreis) das Stadtzentrum mit dem Gebäudekomplex von Rathaus und Börse (Quelle: Der Hafen von Hamburg, hg. von freie Hansestadt Hamburg, Hamburg 1927)
gemeinsame Eigenschaft vieler knüpft«.8 Ihren Ausdruck fände die Standeszugehörigkeit »normalerweise in der Zumutung einer spezifisch gearteten Lebensführung an jeden, der dem Kreise angehören will. Damit in der Beschränkung des ›gesellschaftlichen‹ […] Verkehrs […] auf den ständischen Kreis bis zu völliger endogener Abschließung. Sobald eine nicht bloß individuelle Nachahmung fremder Lebensführung, sondern ein einverständliches Gemeinschaftshandeln dieses Charakters vorliegt, ist die ›ständische‹ Entwicklung im Gang«.9
Zwar konnte ein Stand mit einer Klassenposition verbunden sein beziehungsweise auf ihr beruhen, doch sei, so Weber, der Stand zugleich mehr und weniger als die Klasse. Denn weder Geld noch die Position des Unternehmers allein reichten für die Zugehörigkeit zu einem Stand und die damit verbundene soziale Anerkennung aus; andererseits erschien Weber das Konzept des Standes als unvereinbar mit einer modernen Marktwirtschaft, da die ständische Organisation sich als Monopolisierung, etwa bestimmter Güter, auswirke und dadurch, dass »die Macht des nackten Besitzes […] welche der ›Klassenbildung‹ den 8 Max Weber : Wirtschaft und Gesellschaft, Max-Weber-Gesamtausgabe I, 22/1, Tübingen 2001, S. 259. 9 Ebd., S. 260.
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Stempel aufdrückt, zurückgedrängt« werde.10 Das Konzept von Gemeinschaft bezog sich also nicht nur auf Gemeinsamkeiten des Stils, sondern auch auf gemeinsame Interessen, die als mit den persönlichen Interessen identisch gedacht wurden und die es gegenüber Außenstehenden zu verteidigen galt. Obwohl Webers Charakterisierung das Ständische im Widerspruch zum kapitalistischen Marktprinzip sieht, erfüllte die Gruppe der Hamburger Kaffeeimporteure in vieler Hinsicht die Kriterien eines solchen Standes bis weit in die 1950er-Jahre hinein. In den 1880er-Jahren hatten sie den »Verein der am Caffeehandel betheiligten Firmen« gegründet, der den Fernhandel regulierte, insbesondere seit der Einführung des Terminhandels in der neu gegründeten Kaffeeterminbörse, die sich ebenfalls am Sandtorkai befand.11 Der Verein nahm eine Monopolstellung insofern ein, als nur Mitgliedsfirmen Zugang zur Börse und damit auch Zugang zum Effektivhandel mit Kaffee hatten, da der Terminhandel überwiegend als Sicherungsgeschäft für letzteren praktiziert wurde. Die Mitgliedschaft im Verein verschaffte der einzelnen Firma darüber hinaus Zugang zu wichtigen Informationen über Ernten, Vorräte und Preise. Nur Hamburger Importfirmen waren als Mitglieder zugelassen, und alle machten davon Gebrauch, während Nicht-Hamburgern und Röstern, die am direkten Import gehindert werden sollten, die Mitgliedschaft verweigert wurde. Ein System von Bürgen und das Recht auf Widerspruch gegenüber Neuaufnahmen sollten die Exklusivität des Vereins sicherstellen.12 Der Verein bildete die institutionelle Basis einer exklusiven Gemeinschaft von Individuen, die sich einander und der gemeinsamen Sache des Kaffeehandels verpflichtet fühlten, die sich an denselben Normen orientierten und denselben Lebensstil pflegten. Ihr Sinn für Distinktion lässt sich zusätzlich durch das Konzept des »Habitus« (Bourdieu) erfassen. Dieser machte sie als Teil des größeren, hanseatischen »Kaufmannsstands« kenntlich. Habitus verweist auf internalisierte, »eingefleischte« Muster im Denken, Fühlen, Urteilen und Handeln, wie sie von und in einer Gruppe Zugehöriger erworben werden. Bourdieu, dem Fragen des Habituserwerbs sehr wichtig waren, verknüpfte deshalb Habitus mit dem Konzept des persönlichen Kapitals. Dabei unterschied er vier Formen solchen Kapitals, die dem Individuum Zugehörigkeit zu einer Gruppe erlauben und im Rahmen dieser Gruppe auch seine Position bestimmen – je nachdem, über welche Formen von Kapital es verfügt und welchen Stellenwert diese in der Gruppe beziehungsweise in bestimmten historischen Konstellationen einnehmen. Für den Stand der Kaffeeimporteure spielte sowohl das ökonomische 10 Ebd., S. 267 f. 11 Für das Folgende vgl. Julia Laura Rischbieter : Mikro-Ökonomie der Globalisierung. Kaffee, Kaufleute und Konsumenten im Kaiserreich 1870 – 1914, Köln u. a. 2011, S. 61 ff. 12 Vgl. Vereinsstatuten des Vereins der am Caffeehandel betheiligten Firmen, Staatsarchiv Hamburg [StAHH], Verein der am Caffeehandel betheiligten Firmen, 612 – 5/8, Sign. 1.
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Abb. 2: Hamburger Kaffeemakler 1928. Die Makler hatten einen eigenen Verein gebildet, waren aber zugleich Mitglieder im Gesamtverein (Quelle: mit freundlicher Genehmigung des Vereins der am Caffeehandel betheiligten Firmen)
Kapital als auch das kulturelle, soziale und symbolische Kapital und ihre Verknüpfung eine bedeutende Rolle.13 Für das »Erlernen« des Habitus und den Erwerb persönlichen Kapitals war nicht nur die Gruppe der Händler, ihre ständische Gemeinschaft von Bedeutung, sondern auch die Tatsache, dass der Kaffeeimport überwiegend in persönlich überschaubaren und emotional engen Familienfirmen praktiziert wurde. Die Familienfirma verfügte über das ökonomische Kapital, das es zu sichern und zu mehren galt; innerhalb der Familienfirma, aber auch im Austausch mit anderen Familien, erwarb die jüngere Generation soziales und kulturelles Kapital, etwa durch gemeinsame Lehrzeiten und Auslandsreisen. Und nicht zuletzt war die Familienfirma die Einheit, auf die sich das Prestige – also das symbolische Kapital – innerhalb der Gruppe gründete, sodass das Ansehen des Einzelnen von ihr abhing und umgekehrt.14 Seinen in-
13 Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.): Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183 – 198; ders.: Principles of Economic Anthropology, in: Neil S. Smelser, Richard Swedberg (Hg.): The Handbook of Economic Sociology, Princeton, Oxford 2000, S. 75 – 89. 14 Vgl. Business History vol. 55 (2013) 6: Special Issue on Longterm Perspectives on Family Business.
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stitutionellen Ausdruck fand diese Wechselbeziehung in der Tatsache, dass nicht Individuen, sondern nur Firmen dem Verein als Mitglieder beitreten konnten.
Werte und Normen Im Mittelpunkt der normativen Orientierung der Kaffeekaufleute stand ein spezifischer Begriff von Ehre, durch den die Gruppe – als Gemeinschaft – mit dem »Stand« des Kaufmanns überhaupt, und insbesondere mit dem – angeblich besonderen – Typus des »hanseatischen« Überseekaufmanns in Hamburg verbunden war. Als »ehrbarer Kaufmann« beanspruchte man Anerkennung wegen seiner Ehrlichkeit in Worten und Taten, seiner Glaubwürdigkeit und seiner Fairness gegenüber Geschäftspartnern und Konkurrenten. Die Geschäfte sollten solide, die Verfahren transparent, die Preise angemessen sein, die Ware den Vereinbarungen entsprechen, Konflikte sollten sachlich und gütlich gelöst werden. Wer so handelte, konnte persönlichen Kredit und Vertrauen erwarten, so wie er auch selbst diese Haltung gegenüber jedem einnehmen sollte, der dies verdiente. Wer sich ehrenhaft verhielt, machte dem Stand als Ganzem Ehre.15 Ehre war somit nicht nur ein Element individuellen moralischen Handelns, sondern wechselseitiger sozialer Anerkennung. Die äußere und innere Zugehörigkeit zum Kaufmannsstand beruhte auf der Voraussetzung ehrenhaften Verhaltens aller Mitglieder. Wer dagegen ehrlos handelte oder anderen leichtfertig die Ehre absprach, der verletzte den Ehrenkodex der (Kaffee-)Gemeinschaft und des Kaufmannstandes überhaupt und musste sich rechtfertigen, seine Ehre verteidigen oder sich im Extremfall einem Ehrengericht stellen. Ehre bildet mit den Kategorien Vertrauen16 und Würde eine enge Verbindung. Während ehrenhaftes Verhalten die eigene Würde – das Ich-Ideal – absicherte und als Respekt und Prestige symbolisches Kapital darstellte, verwies Vertrauen auf die Beziehungen innerhalb des Kollektivs, dem man sich zugehörig fühlte; beide waren Grundvoraussetzung für die soziale Existenz und nicht zuletzt den ökonomischen Erfolg. Denn Vertrauen in die Ehre von Geschäftspartnern bildete eine Grundvoraussetzung des Handels, insbesondere unter den Bedingungen globaler Handelsketten wie bei dem Handelsgut Kaffee, das ausschließlich in Übersee angebaut und von dort exportiert wurde; im Kaffeehandel mussten also Geschäftsbeziehungen über Kontinente hinweg angebahnt 15 Friedrich Zunkel: Ehre, Reputation, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe Bd. II, Stuttgart 1975, S. 1 – 64. 16 Hartmut Berghoff: Vertrauen als ökonomische Schlüsselvariable. Zur Theorie des Vertrauens und der Geschichte seiner privatwirtschaftlichen Produktion, in: Karl-Peter Ellerbrock, Clemens Wischermann: Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics, Münster 2004, S. 58 – 71.
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und aufrechterhalten werden: überwiegend durch Vertrauenspersonen in den Produktionsländern, bei denen es sich sowohl um Delegierte der eigenen oder einer anderen Hamburger Firma handeln konnte, oder aber durch eine langfristige und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Produzenten, Exporteuren oder politischen Eliten in der jeweiligen Produktionsregion. Vertrauen war auch erforderlich im Kontext der Vorfinanzierung des Handels durch internationale Handelsbanken, mit Reedereien und Versicherern, von deren Ehrlichkeit, Umsicht und Zuverlässigkeit man abhing. Wer mit Rohkaffee handelte, brauchte angesichts der Unwägbarkeiten von Ernten, Wechselkursen und politischen Krisen verlässliche Partner in Hamburg und im »Ursprung«, wie die Produktionsländer genannt wurden. Und er musste sich selbst als ein solcher Partner erweisen, wollte er im Geschäft bleiben und gute Geschäfte machen. Der soziale Ort in der lokalen Gemeinschaft und im internationalen Handelsgeflecht war auch außerhalb Hamburgs an physischen Orten sichtbar : Das spiegelt sich in dem für den designierten Nachfolger in einer Handelsfirma typischen biografischen Muster wider. In jungen Jahren unternahm er eine Reise an einen der Finanz- oder Börsenplätze – London oder New York – und zusätzlich sollte er einen längeren Aufenthalt im »Ursprung« absolvieren, bei dem bestehende Kontakte gepflegt und erneuert, neue Bekanntschaften angebahnt und die gesellige Verbindung zu den einheimischen Eliten gesucht wurde.17 Bei aller Weltläufigkeit verstand man sich aber vor allem als Teil Hamburgs, während die nationale Zugehörigkeit eine untergeordnete Rolle spielte – man sprach distanzierend vom »Inland«, wenn es um das Deutsche Reich oder die Bundesrepublik Deutschland ging und war auf die eigene Unabhängigkeit und die städtischen Interessen bedacht – in parteiübergreifender Übereinstimmung mit der jeweiligen politischen Führung der Hafenstadt. Gegen Konkurrenzstädte wie Bremen oder politische Fremdbestimmung durch die zentralstaatliche Ebene galt es gemeinsam zu kämpfen. Die dabei angewandten Mittel unterlagen anderen Kriterien als denen der Ehre, deren Bezug vor allem die eigene Gruppe und die Interessen Hamburgs als »Seeplatz« darstellte. Nur von sich selbst – den am (Roh-)Kaffeehandel beteiligten Firmen – sprach man als »Gemeinschaft« oder sogar »Familie«, auch in Abgrenzung zu anderen Segmenten des Handels, wie zum Beispiel den Röstern. Offensichtlich verlieh die Beteiligung am Überseehandel an sich den Akteuren ein besonders hohes symbolisches Kapital. Deshalb waren die Bemühungen des Vereins um Exklusivität nicht nur dem Bedürfnis geschuldet, die Zahl der Konkurrenten zu begrenzen, sondern auch dem Wunsch, den besonderen Status als Importeur nicht mit Unwürdigen zu teilen. Entgegen der harmonisierenden Rede von der »Gemeinschaft« gab es aller17 Ein frühes, gut dokumentiertes Beispiel ist der umfangreiche Reisebericht von Alfons B. Hanssen: Wanderungen durch die Kaffeeländer der Erde, Hamburg 1902.
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dings auch eine innere Differenzierung, die aber keinen ausschließenden Charakter hatte. Es waren die im Freihafen, »am Kai«, ansässigen Importeure, die gegenüber den Agenten, Maklern, aber vor allem gegenüber den in der Stadt ansässigen Länderfirmen, die häufig auch mit anderen Waren handelten oder zusätzlich im Export tätig waren, eine Führungsrolle beanspruchten.18 Diese internen Abstufungen innerhalb des Kaffeehandels und Abgrenzungen gegenüber seinem städtischen und nationalen Umfeld bildeten die Grundlage für zahlreiche Statuskämpfe und konflikthafte Aushandlungen, deren ökonomischer Sinn nicht immer offensichtlich war. Es ist jedenfalls nicht davon auszugehen, dass das hier beschriebene Wertesystem das tägliche Handeln wie selbstverständlich bestimmte. Schon die Tatsache, dass seit der Formierung als »Gemeinschaft« im späten 19. Jahrhundert die »Usancen« des Handels schriftlich festgehalten wurden, um Verstöße zu verhindern oder zu ahnden, verweist auf die innere Widersprüchlichkeit des ständischen Selbstverständnisses im internationalen Kaffeehandel.19 Ausgehend vom ständischen Konzept der Gemeinschaft im Rahmen der hamburgischen Kaufmannschaft und dem damit verbundenen Konzept der Ehre als Voraussetzung für Würde und Vertrauen soll im Folgenden gefragt werden, in welchem Verhältnis normative Orientierung und soziale Praxis unter den wechselnden Bedingungen der dramatischen und krisenhaften Geschichte des 20. Jahrhunderts standen. Wie beeinflussten die historischen Rahmenbedingungen die ökonomischen, institutionellen und mentalen Strukturen, die hier beschrieben wurden und deren Ursprung im späten 19. Jahrhundert lag? Dabei gehe ich von einem Spannungsverhältnis aus zwischen den selbst geschaffenen Orientierungen und Regeln einerseits, die ihre normative Kraft nie ganz verloren, und den tatsächlichen Praktiken andererseits, die unter den Bedingungen der dramatischen Geschichte des 20. Jahrhunderts das Kaffeegeschäft prägten. Im Mittelpunkt stehen Fragen nach dem Verhältnis von Gemeinschaft, Geschäft und Ehre. Einen Schwerpunkt wird die Zeit des Nationalsozialismus darstellen.
Normen und Praktiken im 20. Jahrhundert Als der Verein der am Caffeehandel betheiligten Firmen im Jahre 1911 sein 25jähriges Bestehen feierte, zeugte die opulente Feier im kürzlich eröffneten Hotel Atlantic vom wirtschaftlichen Erfolg des Handels und dem überbordenden 18 Das kann sowohl aus den Selbstbeschreibungen der Importeure abgelesen werden, als auch aus ihrer Stellung im Verein bzw. dessen Vorstand. Die Akten des Vereins bis in die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts bilden die zentrale Quelle für die Studie: StAHH 612 – 5/8. 19 Usancen betreffen Kodifizierungen unterhalb juristischer Regelungen. Günter Freytag: Die Usancen im Hamburger Kaffeehandel, Erlangen 1929.
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Selbstbewusstsein der Händler.20 Drei Jahre später jedoch hatte sich die Welt radikal verändert. Während des Krieges wurde Kaffee nicht mehr länger als ein lebensnotwendiges Konsumgut gewertet und der Handel kam 1917 vollständig zum Erliegen. Zum ersten Mal intervenierte der Staat direkt in den Kaffeehandel, sowohl auf der internationalen wie auf der nationalen Ebene. Das Deutsche Reich übernahm 1916 durch den »Kriegsausschuss für Kaffee« die Kontrolle über den Import ebenso wie über den Groß- und Einzelhandel, wobei die Importeure sich als Experten in den Dienst der zuständigen Behörden stellten, um nicht vollständig die Kontrolle über den Handel zu verlieren.21 Die im Ersten Weltkrieg erworbenen Erfahrungen der Kooperation mit dem Staat sollten von langfristiger Bedeutung für die folgende Epoche der stark eingeschränkten Handelsfreiheit sein. Unter den Bedingungen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs und nicht zuletzt der Wirtschaftskrisen in der Zeit von Zwischenkrieg und Nachkriegen, wurde der Verein Partner eines interventionistischen Staates, mit dem Devisenregulierungen und Importquoten für Rohkaffee ausgehandelt wurden. Während unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg die Bestimmungen des Versailler Vertrages, die hohen Reparationsverpflichtungen und die daraus folgende Devisenknappheit den Kaffeeimport stark beeinträchtigten, konnte 1925 die Hamburger Kaffeebörse wieder eröffnet werden, und die Importzahlen stiegen – auch dank der parteiübergreifenden Bemühungen der Politik, nicht nur die Importeure, sondern auch die deutschen Konsumenten zufriedenzustellen.22 Entsprechend gelassen sahen die Hamburger Kaffeehändler der Übernahme der politischen Macht durch die NSDAP Anfang 1933 entgegen. Obwohl diese eine Wirtschaftspolitik propagierte, die sich am Prinzip der weitgehenden Autarkie zu orientieren versprach, entwickelten sich die Kaffeeimporte ebenso wie der Kaffeekonsum auch nach der Machtübertragung an die NSDAP und bis 1939 weiter positiv. Zwar unterstanden Kaffeeeinfuhren seit 1934 einem verschärften Genehmigungsverfahren, aber die im selben Jahr für den Import von Kaffee zur Verfügung gestellte Devisensumme von 130 Millionen Reichsmark stimmte zuversichtlich. Auch wurde die stark reglementierte Einfuhr durch bilaterale Handelsverträge, Clearingstellen und die Einführung einer besonderen Verrechnungseinheit, der sogenannten »Ausländersonderkonten für Inlandszahlung« (ASKI-Mark), erleichtert.23 Die Nationalsozialisten 20 StAHH 612 – 5/8: Verein der am Caffeehandel betheiligen Firmen, Sign. 8. 21 Über diesen umständlichen und von Rückschlägen und Fehlern geprägten Lernprozess geben die Vereinsakten Auskunft (s. Anm. 18), insbesondere Sign. 3, welche die vollständigen Protokolle der Vorstandssitzungen bis zu Beginn der 1960er-Jahre enthält. 22 Vgl. Tabelle 1: Rohkaffee-Ankünfte im Hamburger Hafen 1913 und in der Zwischenkriegszeit. 23 Michael Ebi: Export um jeden Preis. Die deutsche Exportförderung von 1932 – 1938, Stuttgart 2004, S. 189 ff.
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wussten, dass die Verfügbarkeit von Bohnenkaffee von der Bevölkerung als ein Indikator dafür gesehen wurde, inwieweit ihr Leben sich nach den Krisen der Weimarer Republik verbessert und dauerhaft normalisiert hatte; ob man also wieder da angekommen war, wo der Erste Weltkrieg das gute Leben unterbrochen hatte. Außerdem bildete der hohe Kaffeezoll eine bedeutende staatliche Einnahmequelle, während angesichts sinkender Weltmarktpreise in den Dreißigerjahren die für die erhöhten Einfuhrmengen von Kaffee benötigten Devisenausgaben sanken. Aus all diesen Gründen blieben die ideologischen Stimmen, die den Konsum von »deutschem« Kaffee statt der »orientalischen Bohnen« forderten, marginal.24 Der Import von Kaffee konnte umso leichter gefördert werden, als er sich mit Exportförderung verbinden ließ. Und deshalb machten die Kaffeehändler bis zum September 1939 sehr gute Geschäfte. Jahr 1913
Empfang von Rohkaffee in Hamburg (seewärts, in Doppelzentner) 2.115.956
1924 1925
931.609 967.567
1926 1927
1.029.835 1.324.721
1928 1929
1.500.860 1.383.486
1930 1931
1.563.579 1.608.141
1932 1933
1.433.472 1.564.359
1934 1935
1.984.921 1.627.436
1936 1937
2.138.497 1.908.033
1938 1.994.433 Tab. 1: Rohkaffee-Ankünfte im Hamburger Hafen 1913 und in der Zwischenkriegszeit25
24 Entsprechende Befürchtungen wurden nur bis 1934 in der Fachpresse geäußert. Von »orientalischen Bohnen« sprach 1936 ein anonymer Autor der SS-Zeitschrift Das Schwarze Korps aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums des Kaffee-Vereins (Artikel vom 9. April 1936, Archiv des Deutschen Kaffeeverbandes (DKV), 50-jähriges Jubiläum Verein der am Caffeehandel betheiligten Firmen). 25 Zahlen nach den Jahresberichten des Handelsstatistischen Amtes Hamburg, Hamburg 1925 ff.
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Während also die Jahre bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von erfreulichem Aufschwung des Rohkaffeehandels geprägt waren, stellte sich bald heraus, dass die Nationalsozialisten, anders als alle politischen Machthaber zuvor, entschlossen waren, direkt in die Selbstorganisation des Handels einzugreifen. So stellten sie die langjährigen Bemühungen des Vereins, die Zahl der zum Import zugelassenen Händler zu begrenzen und Hamburgs privilegierte Stellung im Kaffeeimporthandel zu schützen und nach Möglichkeit auszubauen, infrage. Außerdem waren sie gewillt, den überwiegend liberal gesinnten, international ausgerichteten und selbstverwalteten hamburgischen Kaufmannsstand ideologisch in ihrem Sinne auszurichten und politisch weitgehend zu unterwerfen. Von den Folgen für den Kaffeehandel und seinen Abwehrstrategien möchte ich drei Aspekte näher untersuchen: den Kampf des Vereins gegen die »Gleichschaltung«, den Umgang der Kaffeehändler mit den »nichtarischen Herren« und die Kompensationen des Kaffeehandels im Rahmen der nationalsozialistischen Eroberungs- und Besatzungspolitik. Alle drei Felder sind mit Fragen von Geschäft und Ehre, Vertrauen und Würde fest verknüpft. Die politischen Ansprüche an den Kaffeehandel waren zunächst überwiegend symbolischer Natur. Regelmäßig erreichten den Verein Bitten um Geld- und Kaffeespenden, die in der Regel nur zögerlich behandelt wurden. Die Anschaffung und Aufstellung einer Rundfunkanlage im Börsensaal zwecks gemeinsamer Anhörung von Führerreden wurde abgelehnt. Die Aufforderung zu einer Selbstverpflichtung aller Mitglieder, nur Kaffeesäcke aus deutscher Produktion zu verwenden, wurde zurückgewiesen. Und die anscheinend für unumgänglich gehaltene Anschaffung eines Führerporträts für den Börsensaal wurde dadurch erleichtert, dass man bei dem Maler des Hitlergemäldes für die Handelskammer eine Kopie des Bildes für den halben Preis in Auftrag gab. So versuchte der Kaffeehandel, die aufdringlichen und den Kaufleuten oft peinlichen Anforderungen der Nazis an ihre demonstrative Loyalität in Grenzen zu halten beziehungsweise – gelegentlich mit deutlichem Schalk – zu umgehen.26 Doch von den Nationalsozialisten drohten auch ernstere Gefahren, insbesondere durch ihren Angriff auf die Selbstverwaltung des Handels im Verein, die sich sowohl auf dessen demokratische Satzung, als auch auf dessen Ein- und Unterordnung unter eine ständische Reorganisation des Wirtschaftslebens im Zuge der Anfang 1934 gesetzlich geregelten »Vorbereitung des organischen Aufbaus der Wirtschaft« bezog. Es gelang schließlich, in der Wirtschaftsgruppe Groß-, Ein- und Ausfuhrhandel eine Fachgruppe Kaffee zu bilden, und zusammen mit den in der Wirtschaftsgruppe Vermittlergewerbe eingegliederten 26 Z. B. StAHH 612 – 5/8, Sign. 3 (Vorstandssitzungen), Bd. 6, 10. 11. 33, 23. 11. 33, 18. 1. 34, Bd. 7, 25. 5. 34, 11. 10. 35, 21. 3. 36.
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Maklern und Agenten die Arbeitsgemeinschaft Kaffee zu gründen, in der sich dann alle mit dem Import Beschäftigten wieder zusammenfanden. Doch diese Arbeitsgemeinschaft bot keine effektive Interessenvertretung ihrer Mitglieder. Deshalb sollte der Verein unbedingt bestehen und seine Rechte sollten so weit wie möglich erhalten bleiben. Der Verein wollte nicht in der Arbeitsgemeinschaft Kaffee aufgehen, in der er gezwungen war, mit den Bremer Konkurrenten und mit inländischen Importeuren zu kooperieren; er wollte sich das Recht bewahren, den Import gegen Großhandelsorganisationen wie die Edeka oder Großröster abzuschließen; und er wollte allen am Import Beteiligten weiterhin ermöglichen, sich auf dessen unterschiedlichen Stufen, insbesondere durch die gelegentliche Personalunion von Agent, Makler und Importeur, gewinnbringend zu betätigen. Schließlich konnte nur der Verein dafür sorgen, dass die entscheidenden Instanzen staatlicher Handelskontrolle, vor allem die KaffeeVorprüfstelle (seit 1937: Überwachungsstelle für Kaffee) von Hamburg aus und mit Hamburgern agierte.27 Tatsächlich gelang es, den Verein formal bis zum Ende des NS-Regimes und des Zweiten Weltkrieges zu erhalten. Die Nazis konzentrierten sich darauf, durch eine neue Satzung und die Einführung des »Führerprinzips« die Selbstorganisation des Kaffeehandels faktisch auszuschalten. Was genau unter der »Durchsetzung des Führerprinzips« zu verstehen sei, bemühte sich die NSDAP so zu bestimmen: »Verantwortungsbewusste, tüchtige, das Reich Adolf Hitlers bejahende Männer [müssten] die Führung übernehmen und damit in den Stand gesetzt werden, die Entscheidungen zu treffen, die sie im Interesse des Ganzen für richtig halten.«28 Einmal abgesehen von der »Bejahung« des Dritten Reiches waren dies vertraute und angemessene Prinzipien, denen sich auch frühere Vorstände verpflichtet gefühlt hatten. Das undemokratische »Führerprinzip« nutzten die von der NSDAP eingesetzten »Führer« deshalb auch gelegentlich, um vorlaute junge Nazis in ihre Schranken zu weisen.29 Zwar gelang es den Vorständen ab Mitte der Dreißigerjahre auf diese Weise, wieder Ordnung im Verein zu etablieren – allerdings eine Ordnung, deren Gestaltungsraum sich stark eingeschränkt hatte. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erübrigte weitere Verhandlungen um die Vereinssatzung. Das anfängliche Unverständnis gegenüber den Zielen der NSDAP, die Illusion, sich deren Ansprüchen entziehen zu können, und schließlich die Zähigkeit, mit der man die formelle Unterwerfung des Vereins hinauszögerte, verweisen auf 27 So wurde dem Reichsbeauftragten für Kaffee und Leiter der »Überwachungsstelle« vom Kaffeehandel der Bereitschaft des Handels versichert, ihn »bei der Neueinrichtung der Überwachungsstelle sowie späterhin bei der praktischen Arbeit« tatkräftig zu unterstützen. (Vorstandssitzung vom 26. 4. 37, StAHH, 612 – 5/8, Sign. 3, Bd. 7). 28 Fachzeitschrift Kaffee-Tee-Kakao (KATEKA), Jg. 1939, S. 147. 29 StAHH 612 – 5/8, Bd. 6, Sitzung vom 9. 12. 33.
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den hohen Stellenwert, den dieser für das Selbstbild und das Selbstbewusstsein der Kaffeehändler hatte. Im Verein waren sie ihre eigenen Herren gewesen, weitgehend autonom in ihren Entscheidungen, einflussreich im Hinblick auf Stadt und Staat. Der Verein repräsentierte ihren sozialen Stand und die Kraft ihrer Gemeinschaft. Damit gab er dem Ganzen hohes Ansehen nach außen und dem Einzelnen persönliche Würde. Am Ende aber hatten die Nazis doch gewonnen, indem sie die Vereinsmitglieder demütigenden Ritualen unterwarfen und sie damit zwangen, ihre Schwäche und Abhängigkeit zumindest intern einzugestehen. Die damit verbundene Beschämung war der Preis, den sie dafür zahlten, weiter gute Geschäfte zu machen. Nur mühsam konnten sie nach außen die Fassung bewahren. Aber sie hatten an Würde eingebüßt. Von Beginn an hatten Firmen in jüdischem Besitz im Verein eine zahlenmäßig kleine, aber anerkannte Rolle gespielt. Mit Robinow & Söhne war eine jüdische Firma 1886 unter den Gründungsmitgliedern gewesen; in den Vereinsakten gibt es bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten keinerlei Hinweise darauf, dass Juden diskriminiert gewesen wären. Schon im Februar 1933 gab es allerdings erste Reaktionen auf die veränderten Verhältnisse. Die jüdischen Mitglieder traten von ihren Ehrenämtern zurück oder verzichteten auf die Wiederwahl. Der Vereinsvorstand insistierte zwar noch 1934 gegenüber der NSDAP auf seinem Recht, jüdische Mitglieder zu Schiedsrichtern zu ernennen, und wehrte sich gegen deren zunehmende Diskriminierung, jedoch mit defensiven Argumenten, die offenließen, ob man sich stärkerem Druck später doch beugen würde. Jenseits der Schiedsrichterfrage gab es bald einige interne Beschwerden gegen jüdische Mitglieder : zum Beispiel über Joseph Königsberger, den Hausmakler der Firma Rudolf Petersen, die entscheidend an dem in der Weimarer Republik eingefädelten und von den Nationalsozialisten weiter durchgeführten Kompensationsgeschäft »Kohle gegen Kaffee« mit Brasilien beteiligt war. Königsberger habe, so die Beschuldigung, diesen Kaffee vor allem an nichtarische Händler vermittelt.30 In Kaffeehändlerkreisen begann man, von arischen und nichtarischen Kaffees zu sprechen.31 Zunächst gingen die jüdischen Kaffeehändler aber weitgehend unbehindert ihren Geschäften nach. Das änderte sich schlagartig 1937. Ein Erlass des Reichswirtschaftsministeriums (RWM) vom 27. November bestimmte, dass »arischen« Antragstellern bei der Bewilligung von Importgeschäften der Vorzug gegeben werden müsse und die von jüdischen Händlern beanspruchten Devisenkontingente zu kürzen seien. Anscheinend war es aber bei der Hamburger 30 Ebd., Sitzung vom 18. 1. 36. 31 50-jähriges Vereinsjubiläum, DKV-Archiv.
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Überwachungsstelle für Kaffee schon Monate vorher gängige Praxis gewesen, Anträge jüdischer Kaffeehändler überhaupt abzulehnen. Damit war ihnen die Existenzgrundlage entzogen. Diejenigen, die in Hamburg noch aktiv gewesen waren, ließen sich jetzt »arisieren«. Dabei wurde in keinem Fall das Äquivalent für den tatsächlichen Wert des Unternehmens bezahlt. Denn erstens hatten die Verkäufer kaum eine Verhandlungsposition, von der aus sie darauf hätten bestehen können. Zweitens behielt sich ab 1937 der Gauwirtschaftsberater Carlo Otte32 vor, jeden dieser Kaufverträge zu genehmigen, und diese Genehmigung wurde unter anderem davon abhängig gemacht, dass der Käufer politisch zuverlässig und der Preis, den der jüdische Besitzer erhielt, möglichst niedrig angesetzt war. Um dies zu erreichen, wurden nur der Wert des Warenlagers und das Firmeninventar zur Grundlage des Kaufpreises gemacht, nicht aber der sogenannte Goodwill, also der Wert, der sich aus dem guten Ruf und der Qualität der Geschäftsbeziehungen ergab – was aber im Fall des Kaffeehandels den eigentlichen Wert einer Firma ausmachte. Die Arisierer waren entweder Firmenangehörige, in der Regel Prokuristen oder Teilhaber, oder aber es handelte sich um befreundete Hamburger Firmen. Ihre Notlage zwang die jüdischen Besitzer zum Verkauf, sie wandten sich an Vertraute. Eine offen bösartige Ausnutzung dieser Notlage durch die Arisierer ist in den Akten zwar nicht nachweisbar, jedoch übten die Begünstigten gelegentlich Druck aus, um die Ausschaltung der früheren Besitzer zu beschleunigen – was nicht nur auf ihre Bereitschaft verweist, eine günstige Bereicherungschance zu ergreifen, sondern auch auf einen Mangel an Respekt und Achtung gegenüber den bedrängten Verkäufern. Andererseits wurden einige, zu wohlwollende, Verträge von der NSDAP nachträglich zu Ungunsten der Verkäufer geändert. Die in allen Verträgen vorhandene Klausel, nach der die früheren Besitzer noch für einige Jahre prozentual am Gewinn der Firma beteiligt werden sollten, wurde nach 1938 nicht mehr beachtet, da alle Betroffenen mittlerweile Deutschland verlassen hatten oder verstorben waren – zuletzt im Sommer 1939 der 85-jährige Eduard Lassally, der sich in der Alster ertränkte. Nach Kriegsende kam es in allen Fällen zu einer gütlichen Einigung, wenn auch gelegentlich auf Umwegen. Andererseits konnten die »jüdischen« Firmen, die 1945 nach Hamburg zurückkehrten, auf keinerlei Vorzugsbehandlung hoffen, wenn es etwa um die Zuweisung der wieder knappen Devisen ging. Lediglich auf eine erneute Beitrittsgebühr zum Verein wurde verzichtet. Obwohl die Arisierungsvorgänge von Seiten der nichtjüdischen Kaffeehändler relativ wenig aggressive Eigeninitiativen aufweisen – der »arische« 32 Karolus Otto Wilhlem Max Friedrich (Carlo) Otte (Jg. 1908) gehörte wie sein Vorgänger Gustav Schlotterer zur jüngeren, radikalen Generation im Gau Hamburg. Vgl. Frank Bajohr : »Arisierung« in Hamburg, Hamburg 1997, S. 176 f.
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Kaffeehandel hatte, wenn auch unter dem politischen Druck der Nazis, die Prinzipien der Kaufmannsehre gegenüber den jüdischen Kollegen in extremer Weise verletzt. Dabei ging es nicht nur um die persönliche Bereicherung, die im Zuge der Arisierung selbstverständlich stattgefunden hat; es ging für alle um die Verletzung zentraler Normen und Regeln: der Achtung vor dem Kollegen und Konkurrenten, des ehrbaren und ehrlichen Verhaltens, der Loyalität unter Gleichen, der Fairness im Handel. Es dauerte zwar einige Jahre, bis die jüdischen Mitglieder des Kaffeehandels ihre Zugehörigkeit zum »Stand« in den Augen der nichtjüdischen Mehrheit eingebüßt hatten: Solange sie präsent waren, blieben sie »Herren«, wenn auch »nichtarische«. Aber seit sie 1939 aus dem Handel »verschwunden« waren, wurden sie beschwiegen. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs setzte dem Boom der Kaffeegeschäfte ein plötzliches Ende. Der Handel in Hamburg kam fast sofort zum Erliegen. Die Börse wurde geschlossen, die Vorräte für die Wehrmacht beschlagnahmt. Die zwölf leistungsfähigsten Importfirmen erhielten das Zertifikat einer »W-Firma«, die mit der Vermarktung des noch vorhandenen, noch importierten beziehungsweise im Zuge des Blitzkrieges eroberten Kaffees an die Wehrmacht betraut wurden. Bis 1940 kam gelegentlich noch Kaffee über Holland in das Deutsche Reich. Im besetzten Westeuropa fielen mehrere Millionen Sack Kaffee in deutsche Hände, doch diese – angesichts des früher üblichen Verbrauchs geringe – Beute kam den zivilen Konsumenten kaum zugute.33 Etwas über 100 jüngere Männer der Branche, Angestellte und Söhne der Inhaber, wurden in den ersten Kriegswochen eingezogen. Die älteren oder nichtverwendungsfähigen Angestellten der Handelsfirmen verloren ihre Arbeit, die Inhaber ihr Einkommen, wenn sie nicht auf andere Importprodukte wechseln oder bei verschiedenen Behörden der Stadt ihre Kompetenzen in eine bezahlte Arbeit einbringen konnten. Da ein Vereinsleben in nennenswertem Maße nicht mehr stattfand, ist die hektografierte Zeitung des Kaffeehandels, durch die der Kontakt der verstreuten Händler aufrechterhalten werden sollte, die wichtigste Quelle für die Kriegszeit in Hamburg. Sie trug den vertraulichen Titel: Die Kaffeebohne. Familienblatt des Sandthorquais und Umgegend.34 Nach Kriegsbeginn gelang es Hamburger Politikern und Kaufleuten, die Nazis von der Notwendigkeit kompensatorischer Maßnahmen für das »Notstandsgebiet« Hamburg zu überzeugen. Sie wurden überdurchschnittlich be33 In Le Havre wurden zwar im »Blitzkrieg« 2,5 Mio. Sack Kaffee beschlagnahmt. 1939 waren demgegenüber im Deutschen Reich bis Kriegsbeginn aber 1.199.290 dz, das entspricht fast 2 Millionen Sack, Kaffee verbraucht worden. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Jg. 59, 1941/42, Berlin 1942, S. 447. 34 Die Zeitung erschien vom 21. 11. 39 bis 10. 12. 44, anfangs in ca. zweiwöchigem Rhythmus. StAHH 612 – 5/8, Sign. 15.
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rücksichtigt, wenn es um die Organisation der ökonomischen Ausbeutung der von der Wehrmacht besetzten Gebiete, insbesondere in Mittel- und Osteuropa ging.35 Auch die Kaffeeimporteure und Makler beteiligten sich an den neuen Möglichkeiten. Schon mit dem »Anschluss« Österreichs im März 1938 und der Besetzung der »Tschechei« zwischen September 1938 und März 1939 begann man in Kaffeekreisen, sich für die Chancen zu interessieren, die sich etwa durch die dortige Arisierung von branchenverwandten Betrieben ergaben. Die Industrie- und Handelskammer Hamburg erhielt vom Sonderbeauftragten für Wirtschaftsförderung und Vierjahresplan, Senatsdirektor Essen, eine Liste von »diversen arischen und nichtarischen Firmen«, die im Außenhandel engagiert seien. Diese wurde an den Verein weitergeleitet mit der Empfehlung, sich bei Interesse mit den für dieses Gebiet zuständigen Banken in Verbindung zu setzen.36 Im Frühjahr 1939 reiste eine Delegation von »Hamburger Herren« unter Leitung des Handelskammerpräses und unter Beteiligung von Dr. Kramer, dem Syndikus des Vereins, nach Prag. Jedoch warnte die Protektoratsführung, in Hamburger Kaufmannskreisen dürfe man »nicht erwarten, ›eine fertig gebratene Taube‹ vom Hamburger Schreibtisch aus zu verzehren«.37 Das Interesse von Seiten der Kaffeebranche blieb zunächst verhalten. Noch war Frieden.38 Die Möglichkeiten – und das Interesse der Hamburger – verstärkten sich deutlich mit Kriegsbeginn, dem Überfall auf Polen und der Etablierung des Besatzungsregimes. Mit Walter Emmerich stand ein Mitglied der Hamburger Wirtschaftsbehörde an der Spitze der Wirtschaftsverwaltung des Generalgouvernements. Im März 1940 berichtete Die Kaffeebohne über einige Kollegen, die in Polen überwiegend als »Treuhänder«, also Leiter ehemals jüdischer Firmen »tätig« waren, aber auch in Bukarest, Norwegen und Prag.39 Richtig in Schwung kam der »Osteinsatz« von Hamburger Kaffeehändlern allerdings erst mit dem Überfall auf die Sowjetunion und der Gründung der staatlichen Zentralen Handelsgesellschaft Ost (ZHO) im neugegründeten Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete. Vor allem als Angestellte der ZHO ging eine Reihe von Kaffeeimporteuren aus Hamburg in die Ukraine.40 Die Kaufleute, die gerade aus dem noch recht friedlichen Hamburg angereist waren, befanden sich also plötzlich als Zeugen und Mitwisser mitten in der ersten Phase des Vernich35 Die Rolle der Hamburger Kaufmannschaft im besetzten Osteuropa ist erst in Ansätzen erforscht. Zuerst Karl-Heinz Roth: Ökonomie und politische Macht. Die »Firma Hamburg«1930 – 1945, in: Angelika Ebbinghaus, Karsten Linne (Hg.): Kein abgeschlossenes Kapitel. Hamburg im »Dritten Reich«, Hamburg 1997, S. 15 – 176. 36 Archiv der Handelskammer HH 78.A.15, 21. 4. 39, Bl. 2. H H. 37 Ebd., Aktennotiz »Besuch der Hamburger Herren«, undatiert, vermutlich Juli 1939, Bl. 11 – 15. 38 StAHH, 612 – 5/8, Sign. 3, Bd. 7, 21. 7. 39. 39 Ebd., Sign. 15, 7. 3. 40. 40 Ebd., 2. 10. 41.
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tungskriegs gegen die jüdische Bevölkerung, zum Beispiel in der westukrainischen Stadt Rowno, wo sie schon kurz nach ihrer Ankunft Zeugen eines Massakers wurden, bei dem zunächst 17.000, später weitere 5000 Juden – die Hälfte der städtischen Bewohner – vor Ort ermordet wurden.41 Der von der ZHO erteilte Auftrag lautete, die von der einheimischen Bevölkerung zu festgesetzt niedrigen Preisen beschlagnahmten landwirtschaftlichen Güter durch Verkauf an die Wehrmacht und den »Export« der erheblichen Überschüsse in das Deutsche Reich zu vermarkten.42 Über die Arbeit der Hamburger Kaffeehändler und ihren Alltag wissen wir allerdings kaum Konkretes. Wenige Briefe aus der ukrainischen »Kornkammer« verweisen auf den Stolz, den einige angesichts der erfolgreichen Requirierung von Agrarerzeugnissen und der selbstständigen Leitung von beschlagnahmten Betrieben der Nahrungsmittelbranche empfanden. Über die Geselligkeit unter den deutschen Besatzern erfahren wir ebenfalls wenig, außer dass diese mit erheblichem Alkoholkonsum verknüpft war.43 Doch mögen solche Erzählungen vor allem dazu gedient haben, in lockerem Siegerton über eine Erfahrung hinwegzuschreiben, die für einige zutiefst beschämend und verstörend gewesen sein muss. Als die Front 1944 näher rückte, wurden die Geschäftsstellen der ZHO eilig evakuiert. Die »Ostpioniere« fanden sich bis auf wenige Ausnahmen im Sommer 1945 wieder am Sandtorkai ein. Insgesamt können 30 Personen des Kaffeehandels mit der Besatzung in Osteuropa in Verbindung gebracht werden. Wenn in den Entnazifizierungsformularen Auslandsaufenthalte und deren Gründe angegeben wurden, dann hieß es bei den Reisezielen in den Osten Europas zur Erklärung lapidar : »rein geschäftlich«. Dies hatte zwar offensichtliche Gründe der Verschleierung; jedoch mag es sein, dass sich die beteiligten Firmenangehörigen mit dieser Formulie41 Ebd., 18. 11. 41. Zwar werden die Ereignisse in den Briefen der Hamburger Kaffeehändler nicht erwähnt, doch wurden die Briefe einen Tag nach dem Massaker geschrieben. Die Umstände der Morde lassen es als sicher erscheinen, dass die Hamburger wussten, was geschah, teilweise zu Zeugen wurden und von den Folgen profitierten, da sich die anwesenden Deutschen vermutlich am hinterlassenen Besitz bereicherten. Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt/Main 1990, Bd. 3, S. 1292. Hilberg stützt sich auf die »Ereignismeldung Nr. 143« vom 8. Dezember 1941 (Reichssicherheitshauptamt, RSHA A-1, Nr. 2827), wonach das Massaker am 7. und 8. 11. 41 durchgeführt wurde. Vgl. auch Klaus-Michael Mallmann u. a. (Hg.): Die »Ereignismeldungen UdSSR« 1941. Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion, Darmstadt 2011, S. 858 – 862, zu den Ereignissen in Rowno S. 860 f. Das Rownoer Getto wurde im Sommer 1942 endgültig »liquidiert«. Vgl.: Der Prozess gegen die Hauptverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg, Amtlicher Wortlaut in deutscher Sprache, Nürnberg 1947, online unter http:// zeno.org/Geschichte. 42 Tätigkeitsbericht der ZHO vom Frühjahr 1942, Bundesarchiv [BArch] Berlin R 33 I, Mikrofilm 734, EAP 99/26. 43 Vgl. entspr. Beschreibungen in: Kaffeebohne (Anm. 34), vom 21. 7. 42, S. 9.
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rung auch selbst von der Legitimität ihres Einsatzes überzeugen wollten. Aber anders als im Fall der Ausschaltung jüdischer Kollegen aus dem Hamburger Kaffeehandel, bei denen das Bewusstsein der Normverletzung vorhanden war, sahen sich die Hamburger Importeure im besetzten Osteuropa in eine Lage versetzt, in der sie die Position von »Herrenmenschen« in einer Welt von Unterworfenen und Verachteten einnahmen. Ein Merkblatt des »Ostministeriums« belehrte die Besatzer ausdrücklich, dass die beherrschten Völker aufgrund ihrer Genügsamkeit und Leidensfähigkeit geringere Ansprüche an Versorgung und Behandlung stellen und deshalb weder Mitleid noch Verständnis verdienen würden.44 Hier ging es also um weit mehr als eine Verletzung von traditionellen Ehrvorstellungen, vielmehr um einen radikalen Zivilisationsbruch. Umso erstaunlicher, dass nach 1945 scheinbar unmittelbar an die Vorstellungen des »ehrbaren« Kaufmanns wieder angeknüpft wurde, auch gegenüber den nun im Exil lebenden Handelspartnern, denen man nach 1933 die Zugehörigkeit und die Ansprüche auf Gleichbehandlung abgesprochen hatte. Unter den Bedingungen der Nachkriegszeit standen Ehre, Vertrauen und Würde plötzlich wieder in engem Zusammenhang mit symbolischer Kapitalbildung, das heißt, sie dienten wieder der kulturellen und sozialen Unterfütterung sowie der langfristigen Absicherung guter Geschäfte. Der Nationalsozialismus erschien als bloße Unterbrechung dieser traditionellen Verbindung von Geschäft und Ehre. Mit derselben Arglosigkeit und scheinbar ungebrochenem Vertrauen in die Kooperationsbereitschaft der neuen politischen Machthaber erwarteten die Hamburger Kaffeekaufleute die britischen Besatzer, die allerdings wenig Bereitschaft zeigten, sich mit der Hamburger Kaufmannselite – trotz deren ungebrochener Anglophilie – anzufreunden. Bis 1952 kontrollierten die Westalliierten über die Joint Export-Import Agency (JEIA) den Außenhandel, wenn auch seit 1948 in Zusammenarbeit mit deutschen Behörden. In diesem Jahr kam es auch zur Gründung der Fachstelle Kaffee, die später ins Wirtschaftsministerium eingegliedert wurde und in engstem Kontakt mit dem Hamburger Kaffeehandel die ersten Ausschreibungen für den Import von Rohkaffee organisierte.45 Die Hamburger befanden sich wieder auf dem seit 1916 vertrauten Terrain einer Handelspartnerschaft mit dem Staat, wenn sie auch wie zuvor die schnelle Freigabe des Handels forderten – schon bevor dies 1955 geschah, blühte in Hamburg das Geschäft, und man zeigte wieder stolz das so schnell Erreichte.46 Aus der Sicht des Handels hatten sich allerdings inzwischen zwei entschei44 BArch Berlin R 33 I, Film 734, EAP 22. 45 BArch Koblenz, Z8, 21265, 21266. 46 Zu sehen in Fotoalben aus den 1950er-Jahren, die Bilder von Treffen mit Bundespolitikern und von opulenter Geselligkeit zeigen (Privatbesitz Frau Ursula Ihnen).
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dende Rahmenbedingungen verändert. Das betraf einmal die Tatsache, dass Hamburg durch den Kalten Krieg von seinem traditionellen Hinterland, dem östlichen Deutschland sowie Mittel- und Osteuropa abgeschnitten war ; die andere Veränderung betraf die endgültige Verschiebung des internationalen Finanz- und Handelszentrums in die USA, wo die New Yorker Kaffeebörse und der US-Dollar die Weltmarktpreise für Kaffee bestimmten. Schließlich hatte die von den USA durchgesetzte Öffnung des Handels für alle Interessenten und die daraus entstehende Übersetzung des Handels die Konkurrenzsituation verschärft und den Zusammenhalt untereinander erschwert. Wer sich auf diesem Markt durchsetzen wollte, musste selbst multinational agieren und die alte »Gemeinschaft« des lokalen Kaufmannsnetzwerkes hinter sich lassen. Die gute Nachkriegskonjunktur in der Bundesrepublik Deutschland und die damit einhergehende rasante Entwicklung des Kaffeekonsums bildeten die Gelegenheitsstruktur, in der einige wenige Firmen mit Durchsetzungskraft, Geschick und Glück handelten und so in die internationale Spitze des Kaffeehandels aufstiegen.47 Es waren also nicht Kriege und Krisen, sondern im Gegenteil der Wiedereintritt in den Freihandel unter den Bedingungen eines dynamischen kapitalistischen Weltmarkts, der das Ende der ständischen Gemeinschaft der Hamburger Kaffeehändler markierte und damit die Mechanismen außer Kraft setzte, die unter den Bedingungen staatlicher Intervention der kapitalistischen Konkurrenz die »Macht des nackten Besitzes […] welche der ›Klassenbildung‹ den Stempel aufdrückt, zurückgedrängt« hatten.48
Schluss Der Handels- und Handlungszusammenhang der Hamburger Rohkaffeekaufleute lässt sich im Sinne Bourdieus als ein konkretes »Kräftefeld« beschreiben, in dem die Akteure unter historisch sich verändernden Bedingungen ihre Position zu verteidigen oder zu verändern suchen. Auslöser für solche Veränderungen sind nicht nur feldinterne, sondern mehr noch externe Faktoren, wobei Bour47 Seit die 1934 in Hamburg gegründete Importfirma Hanns R. Neumann unter der Führung des Sohnes Michael Neumann im Jahre 1988 den Hamburger Konkurrenten, die Bernhard Rothfos AG übernahm, stieg die Neumann-Gruppe Mitte der 2000er-Jahre vorübergehend zum Importeur mit dem weltweit größten Anteil am Rohkaffeehandel, vor der Schweizer Firma Volcafe, auf. Delf Bucher : Volcaf¦: Markt der Kaffeehändler wird neu aufgemischt, in Handelszeitung 18. 2. 2004. Nach eigenen Angaben hat die Neumann-Kaffee-Gruppe heute einen globalen Marktanteil von 10 %, beschäftigt über 2000 Angestellte in 28 Ländern und machte im Jahr 2012 einen Umsatz von 3,1 Mrd. US$. Quelle: http://www.nkg.net/aboutus/ factsandfigures. 48 Weber (Anm. 10).
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dieu für das ökonomische Feld besonders den Staat als Faktor hervorhebt.49 Abschließend soll deshalb die Bedeutung staatlicher Intervention für den Rohkaffeehandel, insbesondere unter den Bedingungen der NS-Herrschaft, noch einmal zusammenfassend charakterisiert und bewertet werden. Dabei gilt es zunächst zu begründen, warum der Staat überhaupt, das heißt jenseits der völligen Freigabe oder des völligen Importverbotes, in den Kaffeehandel eingriff. Seit dem Ersten Weltkrieg sind die staatlichen Bemühungen offensichtlich, den Import von Kaffee auch unter den schwierigsten Bedingungen zu ermöglichen – und damit den Konsum von »echtem« Bohnenkaffee. Die von allen Regimen im Deutschland des 20. Jahrhunderts anerkannte Tatsache, dass es sich bei Kaffee um ein »Volksgenußmittel«50 handelte, von dessen Verfügbarkeit die »gefühlte« Legitimität der Regierung mit abhing, erforderte die demonstrative staatliche Unterstützung des Imports, zumindest aber symbolische Akte der Versorgung, wie Nicole Petrick-Felber für den Zweiten Weltkrieg zeigen kann.51 Für den Importhandel, dessen ständische Selbstorganisation seit dem späten 19. Jahrhundert das Handeln auf dem Weltmarkt durch globale wie lokale »Netzwerke des Vertrauens«52 und der Ehre so ausgestaltet hatte, dass ein Maximum an Kooperation zugleich beste Geschäfte ermöglichte, bedeutete die Intervention des Staates zunächst vor allem Einschränkung des »freien« Handels und damit auch der Freiheit, die etablierten Geschäftsbeziehungen zu bewahren und auszubauen. Als Lösung bot sich die Integration des am Import interessierten Staates in die Logik kaufmännischen Handelns an: der Staat als Teil des »Feldes« agierte darin überwiegend als stabilisierende Kraft. Diese Politik bewährte sich insbesondere bis 1933, als mit den Nazis eine politische Bewegung an die Macht kam, welche neben dem pragmatischen Interesse am Kaffee auch ideologische Ziele verfolgte, die mit den Geschäftsinteressen des Hamburger Kaffeeimporthandels nur bedingt vereinbar waren. So konnte man zwar wechselseitig an das Konzept von »Gemeinschaft« anknüpfen, jedoch hatten die Hamburger darunter vor allem eine lokale Branchengemeinschaft verstanden, in der sie exklusiv gegen andere Segmente der Kaffee-Warenkette, vor allem aber gegen konkurrierende Hafenstädte und insbesondere das »Inland« abgeschottet waren. Für die Nationalsozialisten aber repräsentierte das »Inland« die Nation, und die »Gemeinschaft« eine Volksgemeinschaft, welche sich aus dem Kriterium 49 Bourdieu (Anm. 13). 50 Hier übernehme ich die treffende Formulierung Albert Nordens, vgl. den Beitrag von Anne Dietrich in diesem Band. 51 Vgl. den Beitrag in diesem Band. 52 Martin Fiedler : Netzwerke des Vertrauens. Zwei Fallbeispiele aus der deutschen Wirtschaftselite, in: Dieter Ziegler (Hg.): Großbürger und Unternehmer. Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 93 – 115.
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der »Rasse« her definierte. Die Anpassung an dieses Konzept von Volksgemeinschaft bedeutete für die Kaufleute daher die teilweise Aufgabe dessen, was ihre ständische Gemeinschaft ausgemacht hatte, insbesondere auch das Prinzip des ehrbaren, das heißt des ehrlichen und fairen Kaufmanns. Insofern sie als Teil der Volksgemeinschaft Geschäfte machten, waren dadurch die früheren, lokalen wie globalen Geschäftsbeziehungen gefährdet, die sich jetzt nicht nur an den Exportinteressen des NS-Regimes orientierten, sondern auch an deren antisemitischen Grundsätzen. Dennoch zeigt sich ein Anpassungsprozess an die vom NS-Regime festgelegten Rahmenbedingungen, der sich in steigenden Importzahlen und Gewinnen niederschlug.53 Der Zweite Weltkrieg machte zwar den Kaffeehandel faktisch unmöglich, aber die Kaffeehändler versuchten umso mehr, am Gemeinschaftsgedanken festzuhalten. Tatsächlich aber fehlte mit dem Kaffee auch der verbindende Stoff für das gemeinsame Handeln und unter den Bedingungen des Vernichtungskrieges im Osten Europas und des totalen Krieges an der Heimatfront waren die Erfahrungen der Einzelnen untereinander kaum mehr kommunizierbar. Dieses Schweigen über den begangenen und erlebten Zivilisationsbruch setzte sich nach dem Krieg fort, als man, wieder in Hamburg zusammen, nichts anderes besprach als einen Neuanfang im Einklang mit den Normen, die man selbst verletzt hatte und die nun wieder galten, durchgesetzt von Besatzern und dem von ihnen eingesetzten demokratischen System. Da aber auch dieser neue Staat Kaffee brauchte, um seine Bürger zufriedenzustellen, begann das alte Spiel von Neuem. Es begann auch, weil der Handel sich wieder mit der – wenn auch veränderten – Welt verband und weil die in den Produktionsländern und an den Finanzplätzen des Kaffeehandels Aktiven selbst ein Interesse daran hatten, mit den Hamburgern wieder ins Geschäft zu kommen. Die Frage, inwieweit die Missachtung der selbst gesetzten Normen im »Dritten Reich« die Kaffeehändler und ihre »Gemeinschaft« langfristig verändert hat, ist deshalb schwer zu beantworten, weil sie nicht zu trennen ist von anderen Folgen, die der Zweite Weltkrieg hervorbrachte: die zuerst von den Besatzern erzwungene Liberalisierung des Imports im Sinne einer Öffnung für andere Teilnehmer, die Schließung des südosteuropäischen Hinterlands durch den Kalten Krieg und die unbestrittene Dominanz der USA in den südamerikanischen Produktionsländern. Unter diesen mehrfach bedingten Veränderungen der Weltmarktposition wurden auch die Positionen im »Feld« des Hamburger Kaffeehandels verschoben. Dabei scheinen einige »alte« Firmen ihren Einfluss und ihre Stellung bewahrt zu haben, immerhin gehörte der von 53 Zur Gewinnsteigerung vgl. die Entnazifizierungsakten, in denen entsprechende Angaben gemacht werden mussten. StAHH, 221 – 11 (Staatskommissar für die Entnazifizierung und Kategorisierung).
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den Nazis ernannte Vereinsvorsitzende Rothfos zu den Gewinnern des Nachkriegsbooms. Aber der Versuch, die traditionelle Gemeinschaft wieder aufleben zu lassen, scheiterte. Die alten Rituale hatten ihre Substanz verloren und der Verein der am Caffeehandel betheiligten Firmen verlor zuerst seine ökonomische, schließlich auch seine soziale Funktion. Ende der 1960er-Jahre ging er im Deutschen Kaffee-Verband auf, der weder ständische noch lokale Interessen vertritt.
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Zwischen Mangel und Gefälligkeit – Die Versorgung mit Kaffee im »Dritten Reich«, 1938 – 1945
Am 9. Januar 1939 saß Propagandaminister Joseph Goebbels »mittags beim Führer« und trank mit ihm ein »Tässchen Kaffee«, als sich Adolf Hitler plötzlich empörte, dass »England nach Belieben einem 100 Millionenvolk […] die Kaffeezufuhr abstoppen« könne. Seinen Bohnenkaffee hatte »ihm der Imam von Jemen geschickt«. »Diese Tyrannei und Piraterie« der Engländer, so notierte Goebbels in sein Tagebuch, müsse »nun gebrochen werden, und zwar mit Gewalt«.1 So grotesk die Szenerie anmutet, so sinnbildlich ist sie für die Widersprüchlichkeit nationalsozialistischer Konsumpolitik im Allgemeinen. Deren Betrachtung führt direkt in das Spannungsfeld aus rüstungspolitischen Zielen und stimmungspolitischen Kalkülen – ein »Balanceakt zwischen innenpolitischer Stabilität und einer Außenpolitik der Stärke«2. Das gilt auch für die Versorgung mit Kaffee. Denn das NS-Regime war sich durchaus der materiellen Grenzen bewusst, die es zur Sicherung von »Massenzustimmung und Loyalität« einzuhalten galt.3 Im Versuch, sich dem Konsum im »Staat Hitlers« anzunähern, erscheint das »Dritte Reich« somit einerseits als »Tyrannei des Mangels«4, bei der in der »Kanonen statt Butter«-produzierenden Volkswirtschaft von der
1 Eintrag vom 9. Januar 1939, in Elke Fröhlich (Hg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente (= Teil I: Aufzeichnungen 1923 – 1941), Bd. I/7, München 1998, S. 263 – 264, hier 264. 2 Werner Abelshauser : Kriegswirtschaft und Wirtschaftswunder. Deutschlands wirtschaftliche Mobilisierung für den Zweiten Weltkrieg und die Folgen für die Nachkriegszeit, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 47/4 (1999), S. 503 – 538, hier 525. 3 Hans-Ulrich Thamer : Verführung und Gewalt. Deutschland 1933 – 1945, vollst. Taschenbuchausg. der durchges. und aktual. Ausg. 1994, Berlin 1998. S. 469. Dazu auch u. a. Timothy W. Mason: Sozialpolitik im Dritten Reich. Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, Opladen 1977. 4 Berghoff verwendet den Begriff »Tyrannei des Mangels« in seiner Gegenüberstellung des Forschungsstandes zur NS-Konsumgeschichte. Vgl. Hartmut Berghoff: Gefälligkeitsdiktatur oder Tyrannei des Mangels? Neue Kontroversen zur Konsumgeschichte des Nationalsozialismus, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58/9 (2007), S. 502 – 518.
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Bevölkerung »Austerität unter dem Primat der Rüstungspolitik«5 abverlangt wurde. Andererseits scheint sich in Zugeständnissen an die Bevölkerung jedoch eine »Gefälligkeitsdiktatur«6 zu offenbaren. Die Konsumenten im »Dritten Reich« lebten zumindest in einer »gespaltenen Lebenswelt«, die dadurch geprägt war, dass das NS-Regime mit »heterogenen Lenkungsimpulsen« sowohl gewisse Konsumgüter zu unterdrücken versuchte, als auch andere Konsumgüter forcierte und wieder andere nur als Verheißung an einen ferneren Zeithorizont projizierte.7 Ob die nationalsozialistische Konsumpolitik eher von Mangel oder Gefälligkeiten zeugt, ist demnach auch von dem jeweiligen Konsumgut abhängig. Bohnenkaffee, ein importabhängiges Verbrauchsgut und Genussmittel, ist rein physiologisch gesehen nicht lebensnotwendig. Gleichwohl führt die pharmakologische Wirkung des enthaltenen Alkaloids Koffein in die seelisch-körperliche Abhängigkeit. Neben dem »Genusswert« und dem Suchtfaktor besaß Bohnenkaffee aufgrund seiner Herkunft als »Kolonialware« aber auch noch eine gewisse Exklusivität. Der Konsum war daher auch Ausdruck sozialer Distinktion, bedeutete noch immer auch zu einem gewissen Grad Luxus. Entsprechend wurde Bohnenkaffee, dessen Nachfrage relativ preisunelastisch ist, besteuert. Dagegen waren »Kaffeeprodukte« aus heimischen Rohstoffen vor allem eines: Ersatz für das Original, wenn dieses nicht verfügbar oder zu teuer war. Der Konsum von Kaffee tangiert somit wirtschafts-, finanz- und außenpolitische Interessen. Da überrascht es, dass Kaffee für die Zeit des Nationalsozialismus sowohl als Handelsware als auch als Konsumgut bisher wenig erforscht ist. In allen Untersuchungen zum Konsum und zur Ernährung, selbst in der bisher umfassendsten Studie zur NS-Ernährungswirtschaft,8 fand Kaffee keine Erwähnung. Der amerikanische Autor Mark Pendergrast hat die bislang umfangreichste Geschichte des Bohnenkaffees als Welthandelsprodukt und Konsumgut im 20. Jahrhundert vorgelegt.9 Trotz seines Fokus auf die USA streift er 5 Ebd., S. 504. 6 Den Begriff »Gefälligkeitsdiktatur« verwendet Götz Aly für die Zeit 1933 bis Kriegsbeginn, vgl. Götz Aly : Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, durchges. und erw. Ausg., Frankfurt/Main 2006, S. 49 ff. 7 Berghoff (Anm. 4), S. 283. 8 Gustavo Corni, Horst Gies: Brot, Butter, Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997. 9 Mark Pendergrast: Kaffee. Wie eine Bohne die Welt veränderte, übers. v. Stephan-Alexander Ditze, 2. Aufl., Bremen 2001. Den gleichen Ansatz verfolgt Julia Laura Rischbieter für ihre Untersuchung aus deutscher Perspektive, wobei sie sich zeitlich auf das Kaiserreich bezieht. Julia Laura Rischbieter : Mikro-Ökonomie der Globalisierung. Kaffee, Kaufleute und Konsumenten im Kaiserreich 1870 – 1914, Köln u. a. 2011. Dazu auch dies.: Globalisierungsprozesse vor Ort. Die Interdependenz von Produktion, Handel und Konsum am Beispiel »Kaffee« zur Zeit des Kaiserreichs, in: Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung 17/3 (2007), S. 28 – 45; dies.: Coffee as a Colonial Product in the
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auch den deutschen Kaffeemarkt und -konsum immer wieder, wenngleich zwangsläufig nur peripher. Unzureichend bleiben auch die Unternehmensgeschichten deutscher Kaffeeröster.10 Die Entwicklung und Organisation des hanseatischen Kaffeehandels, die auch die Zeit des »Dritten Reichs« beinhaltet, ist bisher zudem nur kursorisch untersucht worden.11 Neueste Arbeiten versuchen diese Lücke nun zu schließen.12 Als Importware bargen die außenhandelspolitischen Dimensionen des Genussmittels Kaffee jedenfalls konkretes Konfliktpotenzial mit der auf Rüstung und Autarkie ausgerichteten NS-Wirtschaftspolitik. Dagegen finden sich arbeitsmarktpolitische Dimensionen in der inländischen Weiterverarbeitung und im Fachhandel wieder, ganz zu schweigen von der finanzpolitischen Dimension eines Genussmittels, auf das auch der Reichsfinanzminister des »Dritten Reichs« Zölle und Steuern erhob und somit durch den Import, die Verarbeitung und den Konsum Einnahmen für den defizitären Reichshaushalt generierte. Unter all diesen Aspekten war der Konsum des Genussmittels Kaffee nie nur privater Genuss, sondern stets auch von öffentlichem Interesse. Doch wie gestaltete sich der Konsum von Kaffee im »Dritten Reich« konkret? Wie veränderte er sich im Zeitverlauf ? Zur genaueren Beantwortung dieser Fragen konzentriert sich dieser Aufsatz auf die konkrete Versorgung, vor allem auf das Bewirtschaftungs- und Rationierungssystem.
German Kaiserreich, in: Ulrike Lindner u. a. (Hg.): Hybrid Cultures – Nervous States. Britain and Germany in a (Post)Colonial World (= Cross/Cultures 129), Amsterdam, New York 2010, S. 107 – 126. 10 Vgl. a. Svenja Kunze, Alexander Schug: Jacobs Kaffee wunderbar. Eine Bremer Kaffeegeschichte, Bremen 2012; Alexander Schug: 100 Jahre Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft. Das Unternehmen hinter der Marke, in: Kraft Foods Deutschland GmbH & Co. KG (Hg.): 100 Jahre Kaffee HAG. Die Geschichte einer Marke, 1. Aufl., Bremen 2006, S. 32 – 61; Svenja Kunze: »Kaffee HAG schont Ihr Herz«. Zur Entstehung und Entwicklung eines klassischen Markenartikels in der deutschen Kaffeebranche 1906 – 1939, in: Hamburger WirtschaftsChronik N. F. 4 (2004), S. 85 – 120. 11 Vgl. Ursula Becker : Kaffee-Konzentration. Entwicklung und Organisation des hanseatischen Kaffeehandels (= Beiträge zur Unternehmensgeschichte), Bd. 12, Stuttgart 2002. Auch der Aufsatz von Kloskowska, Kim, der sich »Kaffee in der Kriegsgesellschaft« widmet und Becker als Sekundärquelle nutzt, enttäuscht, s. Katarzyrna Kloskowska, So Yeon Kim: Der notwendige Luxus. Kaffee in der Kriegsgesellschaft, in: Malte Zierenberg (Hg.): Schiebern auf der Spur. Eine Berliner Gerichtsakte von 1941, Berlin 2011, S. 85 – 91. 12 Vgl. den Beitrag von Dorothee Wierling in diesem Band. Dazu auch Christiane Berth: Biografien und Netzwerke im Kaffeehandel zwischen Deutschland und Zentralamerika 1920 – 1959, Hamburg 2014.
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Früher Mangel – Die Versorgung mit Kaffee vor Kriegsbeginn Am 27. März 1937 ließ Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht die Überwachungsstelle für Kaffee13 errichten, mit der gemäß der »Verordnung über den Warenverkehr«14 und der »Verordnung über die Errichtung von Überwachungsstellen«15 der Warenverkehr mit Kaffeebohnen entlang der gesamten Wertschöpfungskette überwacht werden sollte. Zuvor war Bohnenkaffee bereits rein organisatorisch über die Überwachungsstelle für Waren verschiedener Art bewirtschaftet worden, ohne dass sie je Anordnungen bezüglich Kaffee erlassen hatte.16 Der Import von Kaffeebohnen wurde stattdessen über die Hamburger Kaffee-Einfuhr-Vorprüfstelle kontrolliert. Sie war selbst bereits im Juni 1934 vom Reichskommissar für die Aus- und Einfuhrbewilligung gegründet worden, um den Import von Bohnenkaffee entsprechend den Richtlinien des »Neuen Plans« und unter der Einschränkung stets knapper Devisen vor allem hinsichtlich der Preise zu überprüfen.17 Am 1. Mai 1937 gingen die Aufgaben dieser Institution auf die nun ebenfalls in Hamburg sitzende Überwachungsstelle für Kaffee über, die ab August 1939 als Reichsstelle firmierte.18 Heinrich Reichelt, bis dahin Reichsbeauftragter für Waren verschiedener Art, wurde als Reichsbeauftragter für Kaffee ihr Leiter – bis zur Zusammenlegung mit der Reichsstelle für Tabak im Januar 1943. Bis zur ersten Anordnung der Überwachungsstelle für Kaffee im März 1938 wurde Bohnenkaffee nur über die Ausgabe von Einfuhrgenehmigungen bewirtschaftet.19 Die Importe erfolgten durch Kompensations- oder Verrechnungsgeschäfte über Ausländersonderkonten für den Inlandszahlungsverkehr (ASKI) mit mittel- und lateinamerikanischen Ländern. Noch 1938 stammten 45 Prozent aller Kaffeeimporte aus Brasilien, 17 Prozent aus Kolumbien und auch die restlichen Rohkaffeeeinfuhren kamen ausschließlich aus Übersee.20 Mit 13 Verordnung der Reichsregierung vom 25. März 1927, vgl. Becker (Anm. 11), S. 260 f., 263. 14 Verordnung über den Warenverkehr vom 4. September 1934, in Reichsgesetzblatt (RGBl.) I (1934), S. 816. 15 Verordnung über die Errichtung von Überwachungsstellen vom 4. September 1934, in Bundesarchiv [BArch] R 2/24289/2/7/-. 16 Siehe Überwachungsstelle (Reichsstelle) für Waren verschiedener Art, Anordnung. 17 Dazu, zumindest in der Auflistung der Fakten detailreich, Becker (Anm. 11), S. 258 – 282. 18 Vgl. ebd., S. 263. Die Umbenennung aller Überwachungsstellen in Reichsstellen erfolgte per Bekanntmachung über die Reichsstellen zur Ueberwachung und Regelung des Warenverkehrs vom 18. August 1939, veröffentlicht im Dt. RAnz Nr. 192 (21. August 1939). Dazu auch die Verordnung über den Warenverkehr in der Fassung vom 18. August 1939, in RGBl. I (1939), S. 1431. 19 Vgl. Anordnung 1 der Überwachungsstelle für Kaffee betr. »Verbot von Vorverkäufen« vom 23. März 1938, in: Reichsstelle für Tabak und Kaffee: Anordnung der Überwachungsstelle für Kaffee, Berlin 1938. 20 Vgl. Statistisches Reichsamt, Monatliche Nachweise 1938.
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Kolumbien war erst im Mai 1937 ein neues Abkommen geschlossen worden. Vor allem mit Brasilien sollte es aber immer wieder zu Handelsschwierigkeiten kommen, die sich auch auf die Versorgungslage im Reichsgebiet auswirkten.21 So brachte Brasilien 1937, als der Bohnenkaffeekonsum im Reich mit einem Anstieg von rund 14 Prozent im Vergleich zum Vorjahr stark zunahm, nur rund 30 Prozent seiner Ernte auf den Weltmarkt und verbrannte stattdessen mit 17,2 Millionen Sack Kaffee zwei Drittel des weltweiten Gesamtverbrauchs im Rahmen seiner Valorisationspolitik.22 Zwar war der Importüberschuss an Rohkaffee trotz Devisenbewirtschaftung und Preisüberwachung von 1933 bis 1938 mit jährlich 9 Prozent kontinuierlich angestiegen, dennoch schmolzen die Bestände in den Rohkaffeelagern des Handels von 1934 bis 1938 beständig um jährlich 8 Prozent.23 Dies war auch Ausdruck des steigenden Kaffeekonsums der Deutschen, die 1938 erstmalig mehr Bohnen- als Ersatzkaffee konsumierten.24 Selbst als im selben Jahr mit 197.000 Tonnen Rohkaffee eine langjährige Höchstmenge importiert wurde, lagerten im September des Jahres in den Beständen von Großhandel, Warenhäusern und Lebensmittelfilialen nur noch 67.000 Tonnen Rohkaffee. Als die Überwachungsstelle für Kaffee, seit Mitte August 1938 durch regelmäßige Bestandserhebungen bei allen mit Kaffee handelnden oder verarbeitenden Betrieben in guter Kenntnis dieser Lage, Höchstmengen für die ab dem 1. Januar 1939 quartalsmäßig festzusetzenden Röstmengen festlegte, machte sich diese Kontingentierung – wie bei fixierten Angebotsmengen, fixen Preisen und steigender Nachfrage auch nicht anders zu erwarten – im Handel als Mangel bemerkbar.25 So war bereits im November 1938 ein Werbeverbot für Kaffee ausgesprochen worden.26 Als im Januar 1939 die Kaffeeeinfuhren um 36 Prozent27 21 Vgl. Die Bremer Kaffee- und Tee-Branche im Jahre 1937, in: Fachzeitschrift Kaffee-TeeKakao (KATEKA), Jg. 1938, Nr. 3 (18. Januar 1938), S. 24 f. 22 Valorisation beschreibt alle Maßnahmen, die zu einer künstlichen Verknappung des Warenangebots führen (wie z. B. Produktionsbeschränkung, Einlagerung, Aufkäufe, Vernichtung). Ziel ist es, einen gewissen Mindestpreis für eine Ware zu halten und somit eine entsprechende Gewinnspanne zu garantieren. Vgl. Pendergrast (Anm. 9), S. 205. 23 Eigene Berechnung basierend auf monatlichen Importzahlen in Statistisches Reichsamt, Monatliche Nachweise, Bde. Jan. 1933-Dez. 1938 und »Lagervorräte an Kaffee, Tee, Kakao, Reis, Gewürzen und Hülsenfrüchten. Ultimo«, in BArch R 3102/3510/-/1. 24 Vgl. Statistisches Reichsamt, Statistisches Jahrbuch 1939/40, S. 400 f. 25 Vgl. bezüglich Bestandsmeldungen Anordnung 2 der Überwachungsstelle für Kaffee (Bestandsmeldungen und Lagerbuchführung für Rohkaffee) vom 17. August 1938 u. bzgl. Röstmengen Anordnung 4 der Überwachungsstelle für Kaffee (Regelung des Inlandsverkehrs mit Kaffee) vom 31. Dezember 1938, in: Reichsstelle für Tabak und Kaffee, (Anm. 19). Die Röstmengen bezogen sich anteilig auf den Vergleichszeitraum 1. Januar 1937 bis 30. Juni 1938. Bzgl. Preisregulierung im Kaffeeimport und -handel, vgl. Becker (Anm. 11), S. 269 ff. 26 Vgl. Kraft Jacobs Suchard (Hg.): 100 Jahre Jacobs Caf¦, 1. Aufl., Bremen 1994, S. 34 f. Dazu auch« Zur Kaffeewerbung«, in: Kaffee und Tee 2, Nr. 23 (10. Dezember 1940), S. 8 ff. 27 Verglichen mit Dezember 1938 bzw. um 20 % verglichen mit Januar 1938.
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einbrachen – eine Tatsache, über die sich Hitler gegenüber Goebbels verärgert gezeigt hatte –, sodass mit diesem Importniveau die Nachfrage nur noch zu zwei Dritteln gedeckt werden konnte, wurde die »Regelung des Inlandsverkehrs mit Kaffee« von der Kontrolle der Bestände und der Verarbeitung von Rohkaffee auch auf den Absatz von Röstkaffee ausgedehnt.28 Bereits zum Jahresbeginn 1939 gab es in vielen Geschäften keinen Bohnenkaffee mehr und in den damit noch handelnden Geschäften, die diesen aber nicht mehr sichtbar im Laden ausstellten, erhielten die Kunden höchstens 100 Gramm pro Kopf.29 Sämtliche Röster und Großhändler belieferten die Einzelhändler, Gaststätten und sonstigen Abnehmer von Röstkaffee nur noch entsprechend der Mengen, die sie im Dreimonatsdurchschnitt des Jahres 1938 bezogen hatten.30 Das bedeutete fixierte Produzenten-Händler-Beziehungen und strenge anteilsmäßige Belieferung anhand der nach wie vor quartalsweise festgelegten Röstmengen, die ab März 1939 ein Drittel unter dem Vergleichszeitraum 1937/38 lagen.31 Der einzelne Händler hatte gemäß den Richtlinien der Arbeitsgemeinschaft des Kaffeehandels in der Reichsgruppe Handel unter der Regie des Leiters der Reichsgruppe Franz Hayler die »Aufgabe und die Pflicht […], zuerst die anteilige Versorgung der bisherigen Kaffeebezieher, also ihrer sogen[annten] 28 Es gibt verschiedene Erklärungen für das Absinken der Importe im Januar : Pendergrast verweist unspezifisch auf ein »Programm« Hitlers, s. Pendergrast (Anm. 9), S. 236. In der Zeitschrift Kaffee und Tee werden jedoch Devisenschwierigkeiten und ein teilweiser »Zusammenbruch« des Handelsverkehrs mit Brasilien erwähnt, da Brasilien die Waren, die vom Deutschen Reich als Kompensation angeboten wurden, wohl nicht akzeptierte. Vgl. »Lob der deutschen Kaffee-Ersatz-Industrie«, in: Kaffee und Tee 2, Nr. 9 (10. Mai 1940), S. 5; »Streifzug durch die Auslandspresse«, in: Kaffee und Tee 1, Nr. 2 (10. April 1939), S. 9 f. Hitler schien sich vor Goebbels jedoch auf eine Blockade der Engländer zu beziehen. Vgl. Fußnote 1. Zu den Importzahlen: eigene Berechnung basierend auf den monatlichen Importzahlen in Statistisches Reichsamt, Monatliche Nachweise, Bde. Jan. 1933–Dez. 1938; Statistisches Reichsamt, Monatliche Nachweise Jan.–Jul. 1939; Statistisches Reichsamt, Außenhandel Deutschlands Aug.–Dez. 1939. Zur Deckung des Verbrauchs »Anmerkungen und Erläuterungen zur Absatzregelung für Kaffee«, in: Kaffee und Tee 1, Nr. 1 (25. März 1939), S. 36. 29 Eine solche Regelung über die Höchstabgabemengen trat bereits am 1. Januar 1939 in Kraft, vgl. »Streifzug durch die Auslandspresse«, in: Kaffee und Tee 1, Nr. 1 (25. März 1939), S. 31. Eine offizielle Anordnung der Überwachungsstelle, die den Absatz von Röstkaffee offiziell regelte, jedoch keine Informationen über Höchstabgabemengen enthielt, folgte erst für das zweite Quartal 1939; vgl. Anm. 30. Bzgl. der Diskussion, dass Mangelware nicht mehr sichtbar ausgestellt werden solle, da dies die Nachfrage anrege, vgl. »Verbrauchslenkung und Kopplung«, in: Kaffee und Tee 1, Nr. 6 (10. Juni 1939), S. 33 f. 30 Vgl. Anordnung 6 der Überwachungsstelle für Kaffee (Regelung des Inlandsverkehrs mit Kaffee) vom 18. März 1939 in Reichsstelle für Tabak und Kaffee (Anm. 19); auch in: Kaffee und Tee 1, Nr. 1 (25. März 1939), S. 5 ff. 31 Die sogenannte Röstziffer lag im 2. u. 3. Quartal 1939 bei 70 %. Vgl. »Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft des Kaffeehandels«, in: Kaffee und Tee 1, Nr. 7 (25. Juni 1939), S. 8.
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Kaffee-Stammkunden sicherzustellen«.32 Die Ware und ihr Mangel wurden somit anteilig verteilt – das Vorrecht auf Belieferung hatte, wer schon immer Bohnenkaffee verkauft, das Vorrecht auf Versorgung hatte, wer schon immer Bohnenkaffee gekauft hatte. Dahinter verbarg sich zum Teil die naive Annahme, dass im Fall einer Verknappung die Versorgung allein dadurch gesichert werden könne, dass die Ware den exakt gleichen Weg wie bisher zurücklege.33 Doch zur gleichen Zeit, da das Versorgungssystem auf starre Kontingente ausgerichtet wurde, wurde der Bevölkerung durch Dienstverpflichtungen, Wehrübungen und schließlich den Einzug zur Wehrmacht immer mehr Mobilität abverlangt, wodurch vor allem punktuelle Versorgungsschwierigkeiten vorprogrammiert waren. Aus Konsumentensicht zahlte es sich daher aus, zu einem Händler eine gute Beziehung zu pflegen, denn dieser bediente seine im »Kaffee-Stammkunden-Verzeichnis« stehenden Kunden bevorzugt.34 Im Gegensatz dazu fielen die Laufkunden zwar nicht gänzlich aus der Versorgung, sie erhielten aber geringere Mengen (25 bis 40 Gramm) und dies auch nur, »solange hierfür bei täglicher oder wöchentlicher Einteilung Kaffee verfügbar« war oder keine »Kundenansammlungen zu befürchten« waren.35 Das Regime bemühte sich, den Mangel an Kaffee und die damit verbundenen Zwangsmaßnahmen zu verschleiern, besonders Kundenansammlungen vor den Geschäften zu verhindern.36 Als die Kaffeeimporte im Januar rapide gesunken waren und sich erste Warteschlangen vor allem vor den größeren Einzelhandelsgeschäften Berlins bildeten, missfiel dies vor allem dem Propagandaminister.37 Die »Kaffeefrage« sollte sogleich in der Presse diskutiert werden, doch dagegen hatte Reichswirtschaftsminister Walther Funk handelspolitische Bedenken geäußert.38 Zudem konnte der Import im Februar wieder um 20 Prozent 32 »Richtlinien der Arbeitsgemeinschaft des Kaffeehandels in der Reichsgruppe Handel über die Regelung des Inlandsverkehrs vom 24. März 1939«, in: Kaffee und Tee 1, Nr. 1 (25. März 1939), S. 8 f. Hervorhebung im Original. 33 Vgl. bzgl. der Annahme »Anmerkungen und Erläuterungen zur Absatzregelung für Kaffee«, in: Kaffee und Tee 1, Nr. 1 (25. März 1939), S. 36. 34 Vgl. »Richtlinien der Arbeitsgemeinschaft des Kaffeehandels in der Reichsgruppe Handel über die Regelung des Inlandsverkehrs«, in: Kaffee und Tee 1, Nr. 1 (25. März 1939), S. 8 f., hier 8. 35 Ebd. 36 Vgl. ebd. 37 Vgl. Presseanweisung Nr. 397 (Zeitgeschichtliche Sammlung des BArch 101/12/39/Nr. 137 u. 102/14/124/24 (3) vom 6. Februar 1939), veröffentlicht in Hans Bohrmann, Gabriele ToepserZiegert, Institut für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund (Hg.): NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit, Bd. 7/I: 1939, München 2001, S. 123. 38 Vgl. Presseanweisung Nr. 506 (Zeitgeschichtliche Sammlung des BArch 101/12/49/Nr. 184 vom 17. Februar 1939), veröffentlicht in ebd., S. 159. Bedenken Funks lt. Elke Fröhlich (Hg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente (= Teil I: Aufzeichnungen 1923 – 1941), Bd. I/6, München 1998, S. 248 ff., hier 250.
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erhöht werden.39 Stattdessen wurden »[z]ur Behebung der unerfreulichen Erscheinungen im Kaffeehandel« zusätzlich 1000 Tonnen gerösteter Bohnenkaffee an die Händler der Reichshauptstadt geliefert und zugleich bei ungefähr einem Fünftel des Einzelhandels »inoffiziell[e] Kundenlisten« eingeführt.40 Doch bereits im März, als der Import wieder zurückging und es bis zum endgültigen Einbruch im September 1939 auch keine Aussicht auf Erholung mehr gab, bildeten sich neue Warteschlangen.41 Propagandaminister Goebbels verfasste daher höchstpersönlich einen den Kaffeekonsum herabsetzenden Artikel, mit dem er an die »Disziplin im [K]leinen« zu appellieren gedachte.42 Für Goebbels war Kaffee kein lebensnotwendiges Nahrungsmittel, sondern ein Luxusgut und somit verzichtbar. Mangelerscheinungen begründete er, nicht zu Unrecht, mit einem steigenden Verbrauch und der knappen Devisenlage, somit auch anhand der Priorisierung des Imports für die Aufrüstung. Er wetterte daher vor allem abfällig gegen »Kaffeetanten« und »ein bequemes und damit angenehmes Leben« und schimpfte, es sei »entwürdigend«, dass »über diese Frage [der Kaffeeknappheit, N.P.-F.] in der Öffentlichkeit überhaupt auch nur ein Wort verl[o]ren« werden müsse.43 Die »Pflicht eines nationaldenkenden [sic!] Menschen« sei es stattdessen, »in einer solchen Situation von sich aus schon auf ein derartiges Genu[ss]mittel zu verzichten«.44 Was der Propagandaminister freilich verschwieg, war, dass die »Zwangssituation« nicht nur durch Devisenmangel und damit einhergehende Beschränkungen für den Außenhandel hervorgerufen, sondern noch dadurch verschärft wurde, dass von der Einfuhr des Bohnenkaffees bereits nicht unwesentliche Mengen für das Militär abgezweigt wurden – ein Umstand, der dem europäischem Ausland nicht entgangen war. Der Pariser Bulletin Quotidien sah sich schon am 11. Januar 1939 an die dem 39 Eigene Berechnung. Vgl. Anm. 41. 40 Presseanweisung Nr. 499 (Zeitgeschichtliche Sammlung des BArch 102/14/159/28 (2) u. 110/ 11/180 vom 16. Februar 1939), veröffentlicht in Bohrmann, Toepser-Ziegert, Institut für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund (Anm. 37), S. 157. 41 Im September brachen die Importe um 46 % im Vergleich zum bereits niedrigen Monat August ein, was weniger als der Hälfte des Imports verglichen mit dem Vorjahr bedeutete. Eigene Berechnung, basierend auf den monatlichen Importzahlen in: Statistisches Reichsamt, Monatliche Nachweise, Bde. Jan. 1933–Dez. 1938; Statistisches Reichsamt, Monatliche Nachweise Jan.–Jul. 1939; Statistisches Reichsamt, Außenhandel Deutschlands Aug.–Dez. 1939. 42 Einträge vom 10. März 1939 u. 12. März, in Fröhlich (Anm. 38), S. 277 ff., hier 278, 281 f.; Presseanweisung Nr. 742 (Zeitgeschichtliche Sammlung des BArch 101/12/70/Nr. 290 u. 102/ 15/223/52 (8) vom 10. März 1939), veröffentlicht in: Bohrmann, Toepser-Ziegert, Institut für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund (Anm. 37), S. 231. 43 »Kaffeetanten«, in: Fritz Blaich: Wirtschaft und Rüstung im »Dritten Reich« (= Historisches Seminar), Bd. 1, 1. Aufl., Düsseldorf 1987, S. 96 f. 44 Ebd.
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Ersten Weltkrieg vorausgehenden Monate des Jahres 1914 erinnert, in denen das Kaiserreich angeblich Kaffeevorräte in Hamburg aufgebaut hatte, und schlussfolgerte vor dem Hintergrund hoher Importe: »Wenn heute in Deutschland ein Mangel an Kaffee besteht, so ist dies nicht darauf zurückzuführen, da[ss] keiner vorhanden ist, sondern weil die militärischen Behörden alles, was verfügbar ist, ankaufen, um es auf Lager zu nehmen.«45 Für diese Behauptung lassen sich durchaus Beweise in der Statistik finden.46 Bis 1938 wurden jährlich mindestens rund 10 bis 13 Prozent des Importes an Bohnenkaffee in militärische Vorratskammern abgezweigt.47 Das Reich bereitete den »Krieg im Frieden« vor, wie Hitler in seiner Denkschrift zum Vierjahresplan48 im Sommer 1936 gefordert hatte, und diese Forderung machte sich auch in der Verfügbarkeit von Bohnenkaffee bemerkbar. Bei einem Import, der mit 132.000 Tonnen auf das Jahr 1939 gerechnet zwar noch auf dem Niveau von 1933 lag, mit Kriegsbeginn ab September aber kaum noch der Rede wert war, lässt sich der Kaffeekonsum der Zivilbevölkerung vor allem anhand des massiven Verbrauchssprunges von Ersatzkaffee ablesen.49 1939 konsumierten die Deutschen plötzlich 40 Prozent mehr Ersatzkaffee als noch ein Jahr zuvor.50 Für den Bohnenkaffeekonsum zeichnete sich nicht nur eine Trendwende, sondern ein jähes Ende ab.
45 Auszug aus dem Bulletin Quotidien vom 11. Januar 1939, übersetzt ins Deutsche in: Kaffee und Tee 1, Nr. 1 (25. März 1939), S. 31. 46 Dazu ausführlicher in Nicole Petrick-Felber: Kriegswichtiger Genuss. Die Konsumgeschichte von Tabak und Kaffee im »Dritten Reich«, unv. Dissertation Friedrich-SchillerUniversität Jena 2014. Die Arbeit erscheint im Frühjahr 2015 unter folgendem Titel: Kriegswichtiger Genuss. Tabak und Kaffee im »Dritten Reich« (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 17). 47 Das entsprach jeweils rund 15.000 – 27.000 t Rohkaffee bzw. 12.000 – 21.000 t Röstkaffee. Eigene Berechnung basierend auf Importzahlen: Statistisches Reichsamt, Monatliche Nachweise 1933 – 1938; Verbrauchszahlen: Länderrat des Amerikanischen Besatzungsgebiets (Hg.): Statistisches Handbuch von Deutschland, München 1949, S. 489; Statistisches Reichsamt (Hg.): Statistisches Jahrbuch 1939/40, Berlin 1940, S. 400 f.; Lagerbestände: »Lagervorräte an Kaffee, Tee, Kakao, Reis, Gewürzen und Hülsenfrüchten. Ultimo [September 1934 bis September 1938]« in BArch R 3102/3510/-/1. 48 Vgl. W. Treue: Hitlers Denkschrift zum Vierjahresplan 1936, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3/2 (1955), S. 184 – 210, hier 207. 49 Vgl. Statistisches Reichsamt (Hg.): Monatliche Nachweise über den auswärtigen Handel Deutschlands. Dezember- und Jahresergebnisse (= Januar 1938 – Dezember 1938), Bd. 12, Berlin 1938.; Statistisches Reichsamt (Hg.): Der Außenhandel Deutschlands. Zusammenfassende Übersichten. Sondernachweis (= August 1939 – Dezember 1939 231), Berlin 1939. 50 Vgl. Statistisches Reichsamt, Statistisches Jahrbuch 1939/40 (Anm. 47), S. 400 f.
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Rationierung – Die Bewirtschaftung von Kaffee mit Kriegsbeginn Am 27. August 1939 trat die Verordnung zur vorläufigen Sicherstellung des lebenswichtigen Bedarfs des deutschen Volkes51 in Kraft. Nach außen kommuniziert als »Vorbeugungsmaßnahmen«52, beinhaltete sie im Kontext ihrer zeitgleich erlassenen vier Durchführungsverordnungen die Beschränkung, dass nunmehr Lebensmittel wie Fleischwaren, Milcherzeugnisse, Öle und Fette, Zucker, Marmelade, Mehl, Nährmittel und eben auch Genussmittel wie Tee, Kaffee und Kaffeeersatzmittel nur noch gegen behördliche Genehmigung an den Verbraucher ausgehändigt werden durften.53 Doch was bedeutete dies für den Konsum von Kaffee? Seit geraumer Zeit war im halbjährlichen Turnus im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln für den Kriegsfall berechnet worden. Im »Kriegs-Ernährungsplan« vom 1. April 1939 hieß es, dass die Versorgung mit Kolonialwaren, wie Kaffee, Tee und Kakao, nicht nur durch die bei Kriegsbeginn vorhandenen Bestände begrenzt sei, sondern dass nach Deckung des militärischen Bedarfs für die Zivilbevölkerung der Kaffee nur für drei Monate reichen würde.54 Mit einer »Streckung der Vorräte durch […] Rationierung«55 könnten die Bestände jedoch auf 16 Monate verteilt werden. So wurde eine Rationierung vorgeschlagen, welche, wäre der Krieg am 1. April 1939 begonnen worden, eine wöchentliche Zuteilung von 7 Gramm Bohnenkaffee und 56 Gramm Kaffeeersatzmittel vorsah.56 Zusammen 63 Gramm Kaffee war schließlich auch die Menge, die der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, Walther Darr¦, in seiner Ersten Durchführungsverordnung zur Verordnung zur vorläufigen Sicherstellung des lebenswichtigen Bedarfs des deutschen Volkes vom 27. August 1939 als wöchentliche Höchstmenge für Kaffee und Kaffeeersatzmittel festlegte.57 Maximal 20 Gramm Bohnenkaffee und 43 Gramm Kaffeeersatzstoffe erhielt schließlich jeder Verbraucher in den ersten zwei Wochen der ersten Zutei51 RGBl. I (1939), S. 1498. 52 Deutschland-Berichte der Sopade vom Januar 1940, zit. n. Hans Dieter Schäfer : Berlin im Zweiten Weltkrieg. Der Untergang der Reichshauptstadt in Augenzeugenberichten, 2. Aufl., München 1991, S. 86. 53 Mit der Ersten Durchführungsverordnung zur Verordnung zur vorläufigen Sicherstellung des lebenswichtigen Bedarfs des deutschen Volkes vom 27. August 1939, s. RGBl. I (1939), S. 1502, wurden Brot, Weizen- und Roggenmehl, Kartoffeln, Hülsenfrüchte, Eier und Kakao vorläufig wieder von der bezugsscheinpflichtigen Bewirtschaftung ausgenommen. Vgl. allgemein zur Ernährungswirtschaft Corni, Gies (Anm. 8). 54 Vgl. Kriegs-Ernährungsplan vom 1. April 1939, in BArch R 3601/3261/1/1 – 89/-. 55 Ebd. 56 Vgl. ebd. Der Kriegsernährungsplan vom 1. Oktober 1938 hatte noch 11,4 Gramm vorgesehen, im Kriegsernährungsplan vom 1. April 1938 war Kaffee nicht berücksichtigt. 57 Vgl. RGBl. (Anm. 53).
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lungsperiode vom 28. August 1939 an – das war fast dreimal so viel Bohnenkaffee, wie ursprünglich im Kriegsernährungsplan berechnet.58 Schon am 8. September 1939 wurde die Zuteilungsmenge jedoch für die zweite Hälfte der Zuteilungsperiode geändert: Es wurden nun 100 Gramm Ersatzkaffee ausgegeben und kein Gramm Bohnenkaffee.59 Die Entscheidung in der »Kaffeefrage« zuungunsten des zivilen Konsums fiel mit der Beschlagnahme aller Rohkaffeebestände und einem damit einhergehenden allgemeinen Röstverbot vom 9. September zusammen.60 Der Reichsbeauftragte für Kaffee, Heinrich Reichelt, bestimmte, dass sämtliche Vorräte an Bohnenkaffee ausschließlich der Versorgung von Frontgliederungen der Wehrmacht dienen sollten, zu denen weder die Soldaten des im Reichsgebiet befindlichen Ersatzheeres noch die Angehörigen sonstiger Polizei-, Grenz- und Schutzgliederungen außerhalb der Wehrmacht, inklusive der Waffen-SS und der KZ-Bewachungsmannschaften, zählten.61 Der Einzelhändler durfte seine Bestände an Bohnenkaffee, über die er aufgrund der vor dem 9. September erfolgten Zulieferung noch verfügte, nun nur noch in Kaffeeersatz-Mischungen mit nicht mehr als 20 Gramm Bohnenkaffee verkaufen.62 Dies geschah unter der Prämisse, dass sämtliche Restbestände binnen 8 bis 14 Tagen, also bis zum Ablauf der ersten Zuteilungsperiode, restlos ausverkauft sein würden. Als jedoch in einzelnen Regionen des Reiches, vor allem in Filialbetrieben von Großröstern, auch vier Wochen später noch Bohnenkaffee verkauft wurde, erging zum 10. Oktober 1939 ein endgültiges Verkaufsverbot für 58 Die Zuteilung der ersten Zuteilungsperiode gemäß der Ersten Durchführungsverordnung zur Verordnung zur vorläufigen Sicherstellung des lebenswichtigen Bedarfs des deutschen Volkes vom 27. August 1939 vgl. RGBl (Anm. 53). Die Aufteilung in Bohnenkaffee und Kaffee-Ersatz s. »Man muß sich zu helfen wissen! Vorschläge für geringprozentige Kaffeeersatz-Mischungen«, in: Kaffee und Tee 1, Nr. 12 (10. September 1939), S. 18 f. 59 Vgl. »Unsere gemeinsame Aufgabe. Umstellung auf die Kriegsverhältnisse – Wir helfen mit!«, in: Kaffee und Tee 1, Nr. 13 (25. September 1939), S. 5. Damit wurden in der ersten Zuteilungsperiode insgesamt 326 g Kaffee und Kaffeeersatz zugeteilt, was der Zahl bei Schmitz entspricht, vgl. Hubert Schmitz: Die Bewirtschaftung der Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter 1939 – 1950. Dargestellt an dem Beispiel der Stadt Essen, hg. v. Stadtverwaltung Essen, Essen 1956, S. 390. 60 Vgl. Anordnung 8 der Reichsstelle für Kaffee betr. »Beschlagnahme der Kaffeebestände und allgemeines Röstverbot« vom 9. September 1939, in: Reichsstelle für Tabak und Kaffee (Anm. 19) u. vgl. Becker (Anm. 11), S. 288 ff. 61 Vgl. Rundschreiben Nr. 320 des Landesernährungsamtes (LEA) Bayern in München betr. »Verwendung der Kaffeebestände« vom 30. September 1939, in Staatsarchiv Nürnberg, Regierung von Mittelfranken, Abg. 1978, Nr. 3653 [-/1]. Zu sonstigen Schutzgliederungen zählten die Waffen-SS, der verstärkte Polizeischutz (Polizeibataillone, -ausbildungsbataillone u. -Einsatzhundertschaften), der Sicherheits- und Hilfsdienst im zivilen Luftschutz, der verstärkte Post-, Bahn- und Wasserstraßenschutz, der verstärkte Grenzaufsichtsdienst und die KZ-Bewachungsmannschaften. 62 Hier wie im Folgenden, vgl. Reichsstelle für Kaffee an LEÄ und Bezirksfachgruppen der WGE betr. »Abgabe von Röstkaffee in den Einzelhandelsgeschäften« vom 6. Oktober 1939, in Staatsarchiv Nürnberg, Regierung von Mittelfranken, Abg. 1978, Nr. 3653 [-/2].
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den Einzelhandel. Sämtliche Restbestände wurden an Gaststätten und Hotelgewerbe in Mischungen zu maximal 50 Prozent Bohnenkaffeeanteil abgeliefert. Die Bevölkerung war zu diesem Zeitpunkt bereits dazu übergegangen, für einen Kaffeeaufguss immer weniger Kaffeepulver zu verwenden und den Bohnenkaffee, auf Kosten des Geschmacks, weitgehend selbst zu strecken.63 Beliebt war der Ersatzkaffee hingegen mitnichten, wie sich ein Zeitzeuge erinnerte: »Ich weiß noch, wie meine Mutter die rosafarbene Kaffeemarke nahm, sie auf den Boden warf, unter ihren ausgetretenen braunen Schuhen zertrampelte und schimpfte: ›Ich hasse Ersatzkaffee! Ich hasse ihn! Ich will echten Kaffee!‹«64 Kaffee war fortan ein Synonym für (schlechten) Kaffeeersatz. Die Existenz von Bohnenkaffee wurde so selten, dass es schon der Spezifizierung »echter Bohnenkaffee« bedurfte, damit die Konsumenten dem Produkt noch Glauben schenkten. Er blieb dem »Normalverbraucher« wie auch allen anderen zivilen Verbrauchern auf regulärem Wege fortan vorenthalten – mit Ausnahme von Bohnenkaffeezuteilungen auf ärztliches Attest für Schwerkranke, Schweroperierte und Schwerverletzte in Krankenhäusern.65 Damit die Nährmittelkarten bezüglich des erhältlichen Kaffees keine falschen Hoffnungen weckten, änderte sich selbst die Beschriftung der Kartenabschnitte. Das alleinige Wort »Kaffee« fiel zunächst weg, »Kaffee-Ersatz und -Zusatzmittel« verkürzte sich später wiederum auf »Kaffeeersatz«.66 Dennoch blieb Bohnenkaffee nicht gänzlich verschwunden, sondern tauchte auf verschiedensten Wegen, so auch in FeldpostPaketen deutscher Soldaten aus Frankreich und ab September 1940 durch regelmäßig durchgeführte Sonderzuteilungen, wieder an der »Heimatfront« auf.
63 Vgl. »Steigerung der Ergiebigkeit des Röstkaffees«, in: Kaffee und Tee 1, Nr. 10 (10. August 1939), S. 27. 64 Zitiert nach und Hervorhebungen wie Pendergrast (Anm. 9) S. 248 f. 65 Vgl. bzgl. Abgabe von Bohnenkaffee auf ärztliches Attest: Rundschreiben Nr. 39 des HEA Berlin vom 20. Oktober 1939, in BArch R 36/2616/359/-; vgl. bzgl. Krankenhausverpflegung: LEA Bayern in München an EÄ betr. »Kaffee-Abgabe an Krankenhäuser und Sanatorien zu Arzneizwecken« vom Oktober und November 1939 (mehrere Dokumente), in Staatsarchiv Nürnberg, Regierung von Mittelfranken, Abg. 1978, Nr. 3653 [-/3]; vgl. bzgl. ärztliches Attest und Krankenhausverpflegung: RMEL an LEÄ betr. »Schwer- und Langarbeiter; Kranke und gebrechliche Personen, Mütter usw.« vom 4. März 1940, in BArch R 3601/3100b/2/67 – 70/-; vgl. bzgl. markenfreie Abgabe von Bohnenkaffee in Hotels und Gaststätten: Rundschreiben Nr. 66 des HEA Berlin betr. »Zuteilung von Kaffee-Ersatz an Betriebe«, in BArch R 36/2616/ 361/-. 66 Vgl. Reichsstelle für Kaffee an L(/P)EÄ betr. »Verwendung der Kaffeebestände« vom 22. September 1939, in LHASA, MD, C 20 I,Ib Nr. 1609 Band 1, Bl. 49 – 50 u. FG KaffeeErsatz-Industrie der WG Lebensmittelindustrie an RMEL betr. »Ausgestaltung der Nährmittelkarten für Kaffeemittel« vom 29. Juli 1942, in BArch R 3601/3133/1/33/-.
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Gefälligkeiten – Die Versorgung mit Kaffee in der Zeit militärischer Erfolge Im Sommer 1940 hatten sich die Machtverhältnisse in Europa eindeutig zugunsten des »Dritten Reichs« verschoben. Mit dem Sieg über halb Europa war das NS-Regime nun in der Lage, Rohstoffe, Arbeitskräfte und Nahrungsmittel aus einem riesigen Wirtschaftsgebiet abzuziehen.67 So weist auch der monatliche Import an Bohnenkaffee, seit September 1939 quasi nicht existent, für die Zeit des Frankreichfeldzugs leicht nach oben. Zwar ist der Anstieg, zumindest den offiziellen Statistiken nach, mengenmäßig fast vernachlässigbar. Jedoch sind vor allem »Plünderungen […] keine Handlungen, die sich exakten statistischen Messungen öffnen, nicht einmal, wenn sie von Deutschen verübt wurden«.68 Ob von Reichsinstanzen legitimierte Aufkäufe, die Beschlagnahme von Warenbeständen, illegaler oder legaler Warentransport im Reise- und Postverkehr oder die Versorgung der Wehrmacht direkt aus den besetzten Gebieten heraus – es ist schwer, die Wege, auf denen das Reich oder ein Teil seiner Konsumenten sich Waren einzuverleiben vermochten, im Einzelnen zu erfassen, und es ist unmöglich, diese Mengen korrekt zu beziffern. Dennoch war der grenzübergreifende Warenverkehr nicht unkontrolliert und von den Finanzbehörden des Reichs nicht unbeobachtet geblieben. Mit Kriegsbeginn war die Schmuggelaktivität an allen Grenzen des Deutschen Reiches zunächst zurückgegangen, weil nicht nur der Verkehr im Allgemeinen, sondern auch der Reise- und Grenzverkehr im Besonderen eingeschränkt wurde und die Grenzkontrollen, auch an den grünen Grenzen, verschärft worden waren.69 So stiegen die illegalen Beschaffungsaktivitäten vor allem dort an, wo mit Kriegsbeginn Wehrmachtseinheiten in Bewegung waren. In Lübeck fielen Seeleute durch »Gelegenheitsschmuggel« mit Tabakwaren, Kaffee und anderen Lebensmitteln auf, wohingegen an der Grenze zu Belgien Wehrmachtsangehörige und Westwallarbeiter beim »gelegentlichen Kleinschmuggel« von Kaffee, Tee, Schokolade und Tabakerzeugnissen erfasst wurden.70 Bis zum Sommer 1940 hatte dieser Gelegenheitsschmuggel an allen Grenzen des Reiches vor allem
67 Vgl. Alan S. Milward: Die deutsche Kriegswirtschaft 1939 – 1945 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 12), Stuttgart 1966, S. 33. 68 J. Adam Tooze: Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, übers. v. Yvonne Badal, 1. Aufl., München 2008, S. 445. 69 Vgl. hier wie im Folgenden Zusammenstellungen aus den Berichten der Oberfinanzpräsidenten über den Stand des Schmuggels 1939 – 1943 in BArch R 2/56084a/4/185 – 186/-, BArch R 2/56084a/5/214 – 216/-, BArch R 2/56084a/5/242 – 244/-, BArch R 2/56084a/5/269 – 269/-, BArch R 2/56084a/6/271 – 273/-, BArch R 2/56084a/6/330 – 332/-, BArch R 2/56084/1/25 – 27/u. BArch R 2/56084/1/48 – 51/-. 70 Ebd.
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durch Angehörige der Wehrmacht, des Reichsarbeitsdienstes, der Organisation Todt, der Reichsbahn und der Reichspost zugenommen, blieb aber mengenmäßig gering. Bis Ende 1940 ging die Zahl der erfassten Delikte, mit einer kurzen Belebung vor Weihnachten, im Allgemeinen leicht zurück. Der Rückgang im Westen des Reichs sowie auch im Osten sagt jedoch über den tatsächlichen Warenfluss nichts mehr aus, denn mit dem Wegfall der Zollgrenzen zu den Niederlanden und zum Protektorat Böhmen und Mähren wurde der grenzübergreifende Warenverkehr legalisiert, der Schmuggel somit qua Definition beendet. Besonders stark war der illegale Warenverkehr demnach über die Grenzen zum Generalgouvernement und zu Frankreich. Doch selbst dort, wo Schmuggel nicht mehr erfasst wurde, galten noch Bewirtschaftungsvorschriften. So bestanden für Bohnenkaffee die Beschlagnahme und das Röstverbot der Reichsstelle für Kaffee fort, die sich explizit auch auf sämtlichen Kaffee, »der künftig in das Gebiet des Deutschen Reiches […] verbracht wird«,71 bezogen. Davon ausgenommen waren nur Mengen unter fünf Kilogramm, die im Personenverkehr oder »nachweislich als Geschenk« im Post- oder Frachtverkehr eingeführt wurden, und deren Zweck der private Verbrauch war.72 Ende Juli 1940 lockerte die Reichsstelle jedoch aufgrund »zahlreicher […] Liebesgabensendungen« von Wehrmachtsangehörigen aus den besetzten Westgebieten an ihre Familien die Bestimmung und erteilte selbst beim Überschreiten der Höchstmenge grundsätzlich ihre Zustimmung, wenn der Versender im beiliegenden Anschreiben einen größeren Personenkreis mit dem Kaffee bedacht hatte.73 Ab Dezember 1942 war die unbeschränkte Einfuhr von Bohnenkaffee im Personenverkehr generell erlaubt und ließ so der teilweisen »hemmungslose[n] Kaufwut«74 mancher »Volksgenossen« in zunehmend legalisierten Bahnen ihren freien Lauf.75 Vor allem Götz Aly hat dabei das Bild des voll bepackten Landsers gezeichnet, der auf »privaten Feldzügen« den »Ausverkauf« Europas vorantrieb.76 Mit Kaufkraft über Reichskreditkassen-Scheine versehen und im weiteren Verlauf des Krieges durch den »Schlepperlass« Görings regelrecht animiert, habe selbst der einfache Soldat dafür gesorgt, dass der Krieg »den Deutschen« zunächst 71 Anordnung 10 der Reichsstelle für Kaffee (Ergänzung der Anordnung 8) vom 27. Februar 1940 in: Reichsstelle für Tabak und Kaffee (Anm. 19). 72 Ebd. 73 HEA Berlin an EÄ betr. »Geschenksendungen von Bohnenkaffee aus dem Ausland« vom 27. September 1940, in BArch R 36/2616/368/-. 74 Aly (Anm. 6), S. 117. 75 Vgl. RMEL-Erlass betr. »Einfuhr von öffentlich bewirtschafteten Lebensmitteln im Personenverkehr ; Freistellung von der Beschlagnahme« vom 1. Dezember 1942, in BArch R 3601/ 3100d/7/310/-. 76 Aly (Anm. 6), S. 114 – 132, hier v. a. 115, 120, 121.
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einmal einen Vorgeschmack darauf gab, wie »angenehm das Leben danach« sein und welche »Genüsse« es bieten würde.77 Mit dem, was der Soldat eben tragen konnte – ein selbst unter den Reichsbehörden streitbarer Begriff – und mit Millionen täglich eintreffender, versandkostenfreier Feldpostpäckchen soll die »habituelle Raffsucht« der deutschen Soldaten den weiblichen Empfängerinnen in der Heimat noch Jahrzehnte später »leuchtende Augen« bereitet haben.78 Aber so lebhaft die Einkäufe einzelner Soldaten auch gewesen sein mögen, sie dürften auf die gesamte Bevölkerung gesehen den Konsumstandard im Reich nicht wesentlich verbessert haben, auch weil es nach wie vor Beschränkungen für den Feldpostversand gab.79 Auffälliger ist vielmehr, dass im September 1940 plötzlich wieder Zuteilungen von »echtem Bohnenkaffee« an die deutsche Zivilbevölkerung einsetzten. Der Zeitpunkt war wohl gewählt. Die euphorische Stimmung des Sommers 1940 verdunkelte sich mit dem Herbst zunehmend. Während die Bevölkerung den Krieg erstmalig auch direkt in der Heimat zu spüren bekam, als ab Mai britische Luftangriffe gezielt deutsche Städte trafen, hatte Hitler Ende Juli den Befehl an die Wehrmacht erteilt, sich auf den Einmarsch in die Sowjetunion vorzubereiten – entgegen den Hoffnungen der Bevölkerung auf einen baldigen Frieden. Zu diesem Zeitpunkt lassen sich in Goebbels’ Ministerium, dem seismografischen Zentrum für die Stimmung im Volk, bereits Hinweise auf geplante Zuteilungen von Bohnenkaffee finden.80 Am 21. Oktober 1940 schließlich setzte eine allgemeine Versorgung mit Bohnenkaffee ein.81 77 Ebd., S. 114 – 132, 358 – 362, hier v. a. 125, 126, 361. 78 Ebd., S. 114 – 132, hier v. a. 117, 124. 79 Bzgl. des Effekts auf den Lebensstandard vgl. Christoph Buchheim: Der Mythos vom »Wohlleben«. Der Lebensstandard der deutschen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3 (2010), S. 299 – 328, hier 314 f. Bzgl. der verbleibenden Einschränkungen im Feldpostpäckchenversand je nach Ursprungsland vgl. RMEL-Erlass betr. »Versand und Mitnahme von Waren durch Wehrmachtangehörige und ihnen gleichgestellte Personen aus besetzten und befreundeten Gebieten« vom 18. Juni 1942 u. die dazugehörigen OKW-Erlasse betr. »Regelung über Versand von Waren aus den besetzten Ostgebieten durch Wehrmachtangehörige und ihnen gleichgestellte Personen« vom 18. Oktober 1941, betr. »Regelung über Versand und Mitnahme von Waren aus den besetzten französischen, belgischen und niederländischen Gebieten durch Wehrmachtangehörige usw.« vom 21. Januar 1942, in BArch R 3601/3100d/4 – 5/190 – 193/- sowie den nur die Einschränkungen in der Mitnahme noch einmal aufweichenden OKW-Erlass betr. »Mitnahme von Waren durch Wehrmachtangehörige und gleichgestellte Personen aus besetzten und befreundeten Gebieten« vom 16. August 1942 innerhalb des gleichnamigen RMEL-Runderlasses vom 24. September 1942, in BArch R 3601/3100d/6/250/-. 80 Vgl. Ministerkonferenz im RMVP, Protokoll vom 20. August 1940, in: Willi A. Boelcke (Hg.): Kriegspropaganda 1939 – 1941. Geheime Ministerkonferenzen im Reichspropagandaministerium, Stuttgart 1966, S. 468 ff. 81 Vgl. »Erlaß des Reichsernährungs-Ministers. Betrifft: Abgabe von Bohnenkaffee«, in: Kaffee und Tee 2, Nr. 17 (10. September 1940), S. 5 f. Sowie RMEL-Erlass betr. »Durchführung des
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Mit der an diesem Tag beginnenden 16. Zuteilungsperiode bekamen die meisten über-18-jährigen Verbraucher die Wahlmöglichkeit, einmalig statt 125 Gramm Kaffeeersatz, 50 Gramm reinen, unvermischten Bohnenkaffee zu beziehen.82 Selbst der Handel zeigte sich überrascht, war ihm doch bewusst, wie gering die Vorräte noch vor Kriegsbeginn gewesen waren. Diese waren jedoch im Verlauf des Krieges durch »unerwartete Zugänge« aufgefüllt worden – den offiziellen Zahlen folgend weiterhin hauptsächlich aus Brasilien und im Juni 1940 durch die Beschlagnahme aller Rohkaffeebestände in den eingegliederten Ostgebieten.83 Die Bevölkerung nahm dieses Angebot allgemein »freudig« auf, hatte sie doch das Fehlen von Bohnenkaffee mehr als nur »bedauert«.84 Doch die Absicht, mit Sonderzuteilungen gute Stimmung im Volk zu erzeugen, war nur erfolgversprechend, wenn sich niemand benachteiligt glaubte. So registrierte der Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS (SD) zwar keinerlei Beschwerden darüber, dass Juden und Polen der Bohnenkaffee verwehrt wurde und dass »selbstverständlich« Zivil- und Kriegsgefangene oder die eingegliederten Ostgebiete komplett ausgeschlossen wurden, aber dass die Bevölkerung luftgefährdeter Gebiete höhere Zuteilungen als die restliche Bevölkerung des Reichs erhielt, stieß auf Unmut.85 Die Bevölkerung derjenigen Städte, die von Luftangriffen und Fliegeralarmen stark betroffen waren, hatte noch während der laufenden 15. Zuteilungsperiode zwischen dem 30. September und 20. Oktober 1940 zusätzlich zur regulären Versorgung mit Ersatzkaffee 75 Gramm Bohnenkaffee als einmalige Sonderzu-
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Kartensystems für Lebensmittel für die Zuteilungsperiode vom 21. Oktober bis 17. November 1940« vom 18. September 1940, in BArch R 3601/3100b/7/324 – 331/-; RMEL an LEÄ betr. »Abgabe von Bohnenkaffee« vom 23. August 1940, in BArch R 3601/3100b/7/306/- u. RMEL an LEÄ betr. »Abgabe von Bohnenkaffee« vom 18. September 1940, in BArch R 3601/ 3100b/8/332/-. Wie Anm. 80 u. vgl. »Die neue Kaffeezuteilung«, in: Kaffee und Tee 2, Nr. 17 (10. September 1940), S. 5. »Die Kaffeezuteilung vorläufig unterbrochen«, in: Kaffee und Tee 3, Nr. 2 (25. Januar 1941), S. 5, u. vgl. Anordnung 12 der Reichsstelle für Kaffee (Beschlagnahme der Rohkaffeebestände und allgemeines Röstverbot in den in das Deutsche Reich eingegliederten Ostgebieten) vom 26. Juni 1940, in: Reichsstelle für Tabak und Kaffee (Anm. 19). Meldungen aus dem Reich (Nr. 128) vom 30. September 1940, in: Heinz Boberach (Hg.): Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938 – 1945, Bd. 1 – 17, Herrsching 1984, S. 1619 – 1632, 1632; »Die Kaffeezuteilung vorläufig unterbrochen«, in: Kaffee und Tee 3, Nr. 2 (25. Januar 1941), S. 5. Zitat u. bzgl. Ausschluss von Zivil- und Kriegsgefangenen s. »Abgabe von Kaffee in der 16. Zuteilungsperiode. Erla[ss] des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft«, in: Kaffee und Tee 2, Nr. 19 (1940), S. 6 f. Bzgl. Ausschluss von Juden vgl. BArch R 3601/3100b/7/ 306/- (wie Anm. 80), abgedruckt auch in: »Erla[ss] des Reichsernährungs-Ministers. Betrifft: Abgabe von Bohnenkaffee«, in: Kaffee und Tee 2, Nr. 17 (10. September 1940), S. 5 f. Bzgl. Ausschluss der Polen vgl. RMEL-Erlass betr. »Durchführung des Kartensystems für Lebensmittel für die Zuteilungsperiode vom 18. November bis 15. Dezember 1940« vom 17. Oktober 1940, in: BArch R 3601/3100b/8/367 – 374/-. Bgzl. SD vgl. Anm. 84.
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teilung erhalten.86 Mit der 16. Zuteilungsperiode erhielten die Bewohner der ausgewählten Ernährungsamtsbezirke zwar nur noch alternativ 75 Gramm »Zitterkaffee«, aber damit dennoch 25 Gramm mehr als im übrigen Reichsgebiet.87 Die Bevölkerung Heilbronns und der an Baden angrenzenden Gebiete wollte daher ebenso wenig einsehen, warum die Badener, Mannheimer, Heidelberger und Sinsheimer ihnen gegenüber »bevorzugt« werden sollten, wie es einigen Thüringern Kopfzerbrechen bereitete, warum verschiedene Kreise »bevorzugt« mit Kaffee versorgt würden.88 Auch Pendler, die im Umland wohnten, aber in den Städten arbeiteten und ihre Einkäufe dort über eine erweiterte Gültigkeit ihrer Nährmittelkarten tätigten, waren zu ihrem Unverständnis auf die niedrigere Zuteilungsmenge ihres Umlandes verwiesen worden.89 Doch mit Beginn der 18. Zuteilungsperiode, am 16. Dezember 1940, wurde diese Unterscheidung zugunsten eines reichsweit einheitlichen, nach wie vor die eingegliederten Ostgebiete ausschließenden, wahlweisen Bezugs von 60 Gramm Bohnenkaffee abgelöst.90 Nur die Bevölkerung der Reichshauptstadt Berlin, deren Stimmung ihr Gauleiter und Propagandaminister Goebbels als für das gesamte Reich maßgeblich empfand, durfte sich weiter über eine »Bevorzugung« in Form von 100 Gramm Bohnenkaffee freuen.91 Doch so freigiebig die Zuteilung auch erscheinen mag, sie war nicht nur in ihren Mengen gering, sondern in ihrer Umsetzung äußerst kleinlich. Mit bürokratischer Akribie hatten die Ernährungsämter darauf geachtet, dass bei der 86 Vgl. »Sonderzuteilung von Bohnenkaffee«, in: Kaffee und Tee 2, Nr. 17 (10. September 1940), S. 7 f. 87 Vgl. »Erla[ss] des Reichsernährungs-Ministers. Betrifft: Abgabe von Bohnenkaffee«, in: Kaffee und Tee 2, Nr. 17 (10. September 1940), S. 5 f. Der Begriff »Zitterkaffee« bei Schmitz (Anm. 59), S. 149. 88 Meldungen aus dem Reich (Nr. 128) vom 30. September 1940, in Boberach (Anm. 84), S. 1632. 89 Erweiterte Gültigkeit per RMEL-Erlass (II C 1 – 1900) vom 17. November 1939 und expliziter Ausschluss vom Bezug der erhöhten Bohnenkaffeemengen vgl. »Erla[ss] des Reichsernährungs-Ministers. Betrifft: Abgabe von Bohnenkaffee«, in: Kaffee und Tee 2, Nr. 17 (10. September 1940), S. 5 f., hier 6. 90 Vgl. RMEL-Erlass betr. »Durchführung des Kartensystems für Lebensmittel für die Zuteilungsperiode vom 16. Dezember 1940 bis 12. Januar 1941« vom 11. November 1940, in BArch R 3601/3100b/9/414 – 416/-, teilweise abgedruckt auch in: »Einheitlich 60 g Kaffee im ganzen Reich«, in: Kaffee und Tee 2, Nr. 21 (10. November 1940), S. 5. 91 Vgl. Ministerkonferenz im RMVP, Protokoll vom 21. November 1940, in Boelcke (Anm 80), S. 569 f. Dies galt ggf. für alle luftgefährdeten Gebiete, vgl. Statistisches Reichsamt, Der Kriegs- und Friedensverbrauch von Nahrungsmitteln nach den Ergebnissen der Wirtschaftsrechnungen von 350 Arbeiterhaushaltungen. 9. Bericht. Das 3. Kriegshalbjahr (23. September 1940 bis 9. März 1941) vom April 1941, in: BArch R 3102/10137/89 – 98/-. Zur besonderen Bedeutung der Reichshauptstadt Berlin für das NS-Regime, vgl. Rüdiger Hachtmann, Thomas Schaarschmidt, Winfried Süß: »Einleitung. Berlin im Nationalsozialismus«, in: dies. (Hg.): Berlin im Nationalsozialismus. Politik und Gesellschaft 1933 – 1945 (= Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 27), Göttingen 2011, S. 9 – 18, S. 14 ff.
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Zuteilung von Bohnenkaffee niemand durch das Raster fiel, der nicht durchfallen sollte, aber vor den Konsum den Verbrauchern und Einzelhändlern zugleich einen bürokratischen Hürdenlauf gestellt. So konnte Bohnenkaffee nur nach Vorbestellung gekauft werden.92 Wer ihn ab dem 20. Oktober 1940 beziehen wollte, der musste den mit dem Aufdruck »Kaffeebestellung für die 16. Zuteilungsperiode« versehenen Abschnitt der Nährmittelkarte der 15. Zuteilungsperiode nach einem gesonderten Aufruf durch das zuständige Ernährungsamt bis zum 28. September bei einem Einzelhändler seines Ernährungsamtsbezirks abgeben und bekam dafür zunächst nur einen Stempel des Händlers auf die Rückseite des abschnittsfreien Teils (Stammabschnitt) der Nährmittelkarte. Der Verkauf des Bohnenkaffees erfolgte dann in der 16. Zuteilungsperiode nur in Kombination des gestempelten Stammabschnitts der alten Nährmittelkarte mit den Abschnitten N24 und N25 der aktuellen Nährmittelkarte, die auf der Trennlinie mit einem »K« versehen worden waren. Um Warteschlangen vor den Geschäften zu vermeiden, führten die Einzelhändler sowohl die Bestellung als auch den Verkauf von Bohnenkaffee zudem in alphabetischer Reihenfolge durch. Ihren Bohnenkaffee erhielten die wartenden Kunden also nur an dem Tag, an dem ihre jeweiligen Einzelhändler auch den Anfangsbuchstaben ihres Familiennamens aufriefen. Hatten sich die Verbraucher dann mit ihren beiden Nährmittelkarten zur rechten Zeit im rechten Geschäft eingefunden, war ihnen noch nicht einmal die Auswahl des in drei Güteklassen produzierten Bohnenkaffees möglich. Die Arbeitsgemeinschaft des Kaffeehandels hatte sich mit dem Grundsatz »Kaffee gleich Kaffee«93 durchgesetzt und dem Verbraucher das Recht abgesprochen, auf einer besonderen Qualitäts- und Preislage zu bestehen. Immerhin variierte der Höchstpreis für ein Pfund Bohnenkaffee von der niedrigsten zur höchsten Qualität zwischen 2,40 bis 3,60 Reichsmark. Zum Vergleich: ein Pfund Malzkaffee kostete höchstens 0,28 bis 0,30 Reichsmark, Gersten- und Roggenkornkaffee nur 0,25 bis 0,27 Reichsmark.94 Fast ein halbes Jahr lang wurde der wahlweise Bezug von Bohnenkaffee auf diese Weise aufrechterhalten, und jedes Mal stand vor dem Genuss der gleiche Vorbestell- und Verkaufsprozess aus Karten stempeln, Abschnitt abgeben, zur rechten Zeit mit beiden Nährmittelkarten im Geschäft erscheinen und hoffen, vielleicht doch noch die Qualität wählen zu können. Mit dem Ende der 20. Zuteilungsperiode am 9. März 1941 endete diese Episode des wieder vorhan92 Vgl. hier wie im Folgenden »Richtlinien der Arbeitsgemeinschaft des Kaffeehandels über die Kaffeeversorgung«, in: Kaffee und Tee 2, Nr. 17 (10. September 1940), S. 6 f. 93 Ebd. 94 Loser Verkauf und je nach Preisgebiet, wovon es vier gab. Malzkaffee in Verpackungen kostete höchstens 0,43 RM. Vgl. »Preise für Getreidekaffee und Kaffee-Ersatz-Mischungen«, in: Kaffee und Tee 2, Nr. 13 (10. Juli 1940), S. 8 f.
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denen Bohnenkaffees – »zunächst«, wie es in dem Erlass des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft hieß.95 Die bei den Einzelhändlern, Großhändlern und Röstereien verbliebenen Restbestände an Bohnenkaffee wurden erfasst und der Reichsstelle gemeldet.96 Der Kaffeehandel und die Röstereien zeigten sich den »zuständigen Stellen aufrichtig dankbar« und lasen viel in das kleine Wort »zunächst« hinein.97 Sie verbanden damit die »Hoffnung«, dass auch im kommenden Herbst eine Versorgung mit Bohnenkaffee stattfinden würde, die sogar die »Überleitung in die Friedenswirtschaft« markieren könne, wenn »dieser Sommer den endgültigen Sieg der deutschen Waffen und damit eine Befriedigung der Welt bringen« würde.98 Sie sollten Recht behalten, zumindest was die erneute Zuteilung von Bohnenkaffee zu Weihnachten 1941 betraf.
Mangel und Gefälligkeiten – Die Versorgung mit Kaffee bis zum Kriegsende Seit Januar 1942 wurde in der Lebensmittelversorgung der »Sollverbrauch« im Nährwertaufkommen für den Normalverbraucher nicht mehr erreicht und erfuhr zum April einen weiteren Einschnitt, mit dem städtische Normalverbraucher auf 65 Prozent ihres Sollverbrauches fielen.99 Selbst bei dem sonst fast im Überfluss vorhandenen Ersatzkaffee gab es zunehmende Verknappungen, weil die Getreidevorräte seit Mitte 1941 abgenommen hatten und Anfang 1942 äußerst gering waren.100 Auch die erneute Sonderzuteilung von 60 Gramm Boh95 RMEL-Erlass betr. »Durchführung des Kartensystems für Lebensmittel für die 20. Zuteilungsperiode vom 10. Februar bis 9. März 1941« vom 6. Januar 1941, in BArch R 3601/ 3100c/1/1 – 7/-; teilweise veröffentlicht auch in »Die Kaffeezuteilung vorläufig unterbrochen«, in: Kaffee und Tee 3, Nr. 2 (25. Januar 1941), S. 5. 96 Vgl. Anordnung 16 der Reichsstelle für Kaffee (Abrechnung und Sicherstellung der Restbestände an Röstkaffee) vom 17. März 1941, in: Reichsstelle für Tabak und Kaffee (Anm. 19). 97 »Die Kaffeezuteilung vorläufig unterbrochen«, in: Kaffee und Tee 3, Nr. 2 (25. Januar 1941), S. 5. 98 Ebd. 99 Dieser Richtwert in Höhe von 2750 Kalorien hatte sich im Durchschnitt der Wirtschaftsrechnungen von 350 Arbeiterfamilien für 1937 ergeben und sollte über markenpflichtige, zuteilungsgebundene sowie freie Lebensmittel erreicht werden. Vgl. Statistisches Reichsamt, Nährmitteltabelle für Kaffeesorten, in: BArch R 3102/10136/66/-; Statistisches Reichsamt, Anmerkungen zu dem Bericht über den Kriegs- und Friedensverbrauch von Nahrungsmitteln (13. Bericht) für die 32. bis 35. Kartenlaufzeit, in: BArch R 3102/10167/-/8 u. Statistisches Reichsamt, Der Kriegs- und Friedensverbrauch von Nahrungsmitteln nach den Ergebnissen der Wirtschaftsrechnungen. 13. Bericht für die 32. bis 35. Kartenlaufzeit (12. Januar – 3. Mai 1942), in: BArch R 3102/10139/1 – 16/-. Dazu auch Corni, Gies (Anm. 8), S. 556. 100 Vgl. Meldungen aus dem Reich (Nr. 252) vom 19. Januar 1942, in Boberach (Anm. 84),
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nenkaffee je berechtigter Verbraucher vom 9. Februar bis 8. März 1942 (33. Zuteilungsperiode), die »im Hinblick auf das Osterfest gewährt« worden war,101 konnte kaum darüber hinwegtäuschen, dass die Versorgungslage schlecht aussah. Im Zuge der recht umfassenden Rationskürzungen für Fleisch und Fett wurden Anfang April 1942 auch die Zuteilungen aller mit Getreide hergestellten Nahrungsmittel gekürzt.102 Als schließlich die Ernteergebnisse des Jahres überblickt werden konnten, wurde die Brotration zwar wieder auf den Stand vor den Kürzungen vom April heraufgesetzt, die Ersatzkaffee-Zuteilung, die von 100 auf 62,5 Gramm je Kopf und Woche reduziert worden war, jedoch nicht mehr angehoben.103 Dafür verkündete Hermann Göring Anfang Oktober in seiner »Erntedankrede« Zulagen zum bevorstehenden Weihnachtsfest und sicherte sich dafür erwartungsgemäß Beifall.104 Als »erste der Weihnachtsüberraschungen im Versorgungssektor, die von Reichsmarschall Göring in seiner großen Rede angekündigt worden sind«,105 jubelte die Fachzeitschrift des Kaffeehandels, wurde somit auch Weihnachten 1942 wieder Bohnenkaffee ausgegeben. Vom 14. Dezember 1942 bis 10. Januar
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S. 3178 – 3193, hier 3188. Dazu auch DIWan RWK betr. »Wirtschaftliche Lageberichte« vom 23. April 1942, in BArch R 11/78/113 – 121/-. Bzgl. der deutschen Getreidebestände, vgl. Tooze (Anm. 68), S. 918 f. BArch R 3102/10139/1 – 16/- (wie Anm. 98). Entsprechende Durchführungsanordnung des RMEL in RMEL-Anordnung betr. »Durchführung des Kartensystems für Lebensmittel für die 33. Zuteilungsperiode vom 9. Februar bis 8. März 1942« vom 2. Januar 1942, in BArch R 3601/3100d/1/1 – 4/- sowie die Anordnung 17a zur Änderung der Anordnung 17 der Reichsstelle für Kaffee (Regelung der Röstkaffee-Herstellung und der Röstkaffeepreise) u. Bekanntmachung 1 zur Anordnung 17/17a der Reichsstelle für Kaffee (Rücklieferung der Röstkaffee-Restbestände) vom 4. März 1942, in: Reichsstelle für Tabak und Kaffee (Anm. 19). Vgl. Corni, Gies (Anm. 8), S. 562 f.; Buchheim (Anm. 79), S. 309. Ursprünglich war die Rationskürzung für Getreideprodukte bereits für Anfang März vorgesehen, aber auf persönlichen Wunsch Hitlers auf April verschoben, da, wie Backe Ende Januar nach seinem Vortrag bei Hitler notierte, »einmal der März noch kalt sei, und zweitens propagandistisch eine einmalige Senkung auf allen Gebieten zweckmäßiger erscheine«. (Vermerk von Backe an Darr¦ vom 30. Januar 1942 in BArch R 3601/3429/-/-/1). Vgl. »Die neue Kaffee-Ersatz- und -Zusatzmittel-Ration«, in: Kaffee und Tee 4, Nr. 6 (25. März 1942), S. 5; »Kürzung der Kaffee-Ersatz-Ration«, in: Kaffee und Tee 4, Nr. 17 (10. September 1942), S. 5. Gemeint ist hier nicht nur der tatsächliche Applaus während der Rede, sondern auch die freudige Aufnahme der Bekanntgabe der Weihnachtssonderzuteilungen in »in allen Kreisen der Bevölkerung«. Vgl. Görings Erntedankrede vom 4. Oktober 1942, abgedruckt in Aly (Anm. 6), S. 146 – 194, hier 158; vgl. »Stimmen über die Sonderzuteilung zum Weihnachtsfest« in den Meldungen aus dem Reich (Nr. 337) vom 23. November 1942, in: Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933 – 1945. Online-Datenbank, De Gruyter, http://db.saur.de/DGO/basicFullCitationView.jsf ?documentId=MAR-0344 (abgerufen am 7. 7. 2011). »Eine Weihnachtsüberraschung«, in: Kaffee und Tee 4, Nr. 21 (10. November 1942), S. 5.
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1943 (44. Zuteilungsperiode) erhielten alle Versorgungsberechtigten über 18 Jahren auf Wunsch anstelle von Kaffeeersatz diesmal nur noch 50 Gramm unvermischten Bohnenkaffee.106 Ausgegrenzt blieben nach wie vor alle explizit aus der »Volksgemeinschaft« Ausgeschlossenen, somit Juden, Polen und andere ausländische Arbeiter, Kriegsgefangene sowie Patienten von psychiatrischen Kliniken und Gefangene in Justizgefängnissen, Arbeits- und Konzentrationslagern. Die weihnachtlichen Sonderzuteilungen fungierten als stimmungspolitisch gut funktionierendes Trost-»Pflaster«107 – der Propagandaminister freute sich über »dicke Mappen von Dankesbriefen«.108 Weihnachten 1942 sollten die Sonderzuteilungen vorübergehend vergessen machen, wie schlecht die Versorgungslage aussah und dass auch die militärische Lage – die Bevölkerung blickte gebannt nach Stalingrad – keinen Grund zum Jubel mehr bot. Auch Weihnachten 1943 erhielt die Bevölkerung noch einmal wahlweise 50 Gramm Bohnenkaffee. Im Juli 1944 hielt Martin Bormann in einem Rundschreiben an alle Reichsund Gauleiter die Absichten des NS-Regimes hinsichtlich der Sonderzuteilungen von Lebens- und Genussmitteln, besonders nach Luftangriffen, schließlich explizit fest: Sie sollten »einen Ausgleich für den miterlebten Luftangriff und die damit verbundenen Folgen« bieten.109 Herbert Backe, kommissarischer Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, war sich längst bewusst, dass »eine möglichst reibungslose Versorgung auch psychologisch besonders wichtig« war.110 Die im Übrigen wohl direkt durch Hitler angeregten Ausgaben von Bohnenkaffee nach Luftangriffen sollten daher jeweils »sofort« bekannt gegeben und »so schnell wie möglich« ausgegeben werden.111 Allerdings waren die Be106 Vgl. die Anordnung 19 der Reichsstelle für Kaffee (Herstellung und Verkauf von Röstkaffee) vom 6. November 1942, Erläuterungen sowie den RMEL-Erlass vom 26. Oktober 1942 betreffs »Abgabe von Bohnenkaffee«, in: Kaffee und Tee 4, Nr. 21 (1942), S. 5 – 8. Dazu auch RMEL-Erlass vom 2. November 1942 betr. »Weihnachts-Sonderzuteilungen«, in: BArch R 3601/3100d/7/293/-. 107 Görings Erntedankrede vom 4. Oktober 1942, abgedruckt in Aly (Anm. 6), S. 146 – 194, hier 161. 108 Eintrag vom 4. Januar 1943, in Fröhlich, Tagebücher von Joseph Goebbels, Bd. II/7, S. 41 – 45, hier 45. Vgl. Einträge vom 25. Dezember 1942 u. 3. Januar 1943, in Elke Fröhlich (Hg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente (= Teil II: Diktate 1941 – 1945), Bd. II/6, München 1996, S. 501 – 506, v. a. 505; dies. (Hg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente (= Teil II: Diktate 1941 – 1945), Bd. II/7, München 1993, S. 35 – 41, v. a. 39 f. 109 Rundschreiben Nr. 169/44 der NSDAP Partei-Kanzlei an alle Reichsleiter und Gauleiter betr. »Sonderzuteilungen von Lebens- und Genußmitteln nach folgenschweren Luftangriffen« vom 26. Juli 1944, in: BArch R 3601/3181/3/125/- u. BArch R 3101/11888/34/-. 110 Vgl. RMEL an LEÄ betr. »Richtlinien für Maßnahmen anläßlich folgenschwerer Luftangriffe« vom 2. September 1943, in: BArch R 3601/3181/2/66 – 72/-. 111 Ebd. u. vgl. Eintrag vom 20. August 1942, in Elke Fröhlich (Hg.): Die Tagebücher von Joseph
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stände schon im September 1942 derart »gelichtet«, wie sich Propagandaminister Goebbels notiert hatte, dass »außerordentlich vorsichtig operier[t]« werden musste, um »nicht plötzlich vis--vis de rien« zu stehen.112 Zwei Jahre später war dies der Fall: Die Sonderzuteilungen nach Luftangriffen hatten die Bestände des Reichs weitgehend aufgebraucht. So blieb die Weihnachtssonderzuteilung von Kaffee 1944 schließlich aus. Die Schwarzmarktpreise für Bohnenkaffee von 1000 Reichsmark je Pfund im März 1945, die für einige Zeit im April/Mai noch auf über 2000 Reichsmark anstiegen,113 zeigten hingegen, wie groß das Begehren nach »echtem« Kaffee stets geblieben war.
Schluss Auch die Frage nach der Konsumpolitik der Nationalsozialisten folgt letztlich der großen Frage nach dem »Warum« des Nationalsozialismus, konkret nach dessen sozialen oder besser : materiellen Bindekräften. Nicht erst seit Götz Aly ist die These von der »Gefälligkeitsdiktatur« virulent. Amerikanische Ökonomen hatten unmittelbar nach Kriegsende die deutschen Rüstungsanstrengungen infrage gestellt und vermutet, dass das NS-Regime nicht gewillt gewesen sei, von der Bevölkerung Einschränkungen im Konsum zu verlangen.114 Andererseits zeugte selbst die für Hitler wichtige zweite Säule der »Wehrhaftmachung«, die Sicherung der »Friedensernährung«,115 eher vom frühen Mangel.116 Was lässt sich aber aus der Versorgung mit Kaffee hinsichtlich dieses Widerspruches ableiten? Ein Mangel an Bohnenkaffee war weit vor Kriegsbeginn längst spürbar und in den Geschäften sichtbar, sein Verkauf über Stammkundenlisten bereits reglementiert. Dem NS-Regime war spätestens mit Kriegsbeginn kaum eine andere Wahl verblieben, als den Bohnenkaffeeverbrauch zurückzudrängen. Es gab rein logistisch keine Möglichkeit, den vollständig überseeischen Kaffeeimport, der zu 95 Prozent aus Mittel- und Südamerika stammte und dessen Zufuhr durch den von England mit Frankreich geführten »Wirtschaftskrieg« und später durch die von der Royal Navy durchgesetzte Seeblockade unmöglich gemacht wurde,
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Goebbels. Sämtliche Fragmente (= Teil II: Diktate 1941 – 1945), Bd. II/5, München 1995, S. 344 – 373, hier 358. Eintrag vom 12. September 1942, in: ebd., S. 482 – 487, hier 485 f. Diese Preise galten in Berlin und Hamburg. Vgl. Willi A. Boelcke: Der Schwarzmarkt 1945 – 1948. Vom Überleben nach dem Kriege, 1. Aufl., Braunschweig 1986, S. 109. Vgl. Burton Klein: Germany’s Economic Preparations for War, Cambridge, Mass. 1959, S. 78 – 82. Hitler : Denkschrift über die Aufgaben eines Vierjahresplans, in: Treue (Anm. 48), S. 208. Dazu zuletzt Buchheim (Anm. 79).
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anderweitig zu ersetzen. Insofern beeinflusste die Importlage maßgeblich die Konsummöglichkeit mit Kaffee. Dennoch war der Wegfall des Bohnenkaffees vor dem Hintergrund seiner bisherigen Verbrauchsentwicklung, vor allem seines Status als verfügbares Luxusprodukt, mehr Anpassung als Verzicht und für das Regime auch aus diesem Grund ein mit vergleichsweise geringerem Widerstand gangbarer Weg. Wichtig erschien den Nationalsozialisten vielmehr, dass mit der Zuteilung von Ersatzkaffee überhaupt ein warmes Getränk verfügbar blieb. Weder Kakao noch Tee, letzterer in durchgehend vernachlässigbaren Importmengen, waren mengenmäßig und qualitativ zufriedenstellend verfügbar. Neben der Importmöglichkeit war somit die Substitutionsmöglichkeit und deren hinreichende Akzeptanz für die vom NS-Regime angebotenen Konsummöglichkeiten entscheidend – bis militärische Eroberungen den Zugriff auf Bohnenkaffee wieder ermöglichen sollten. Während des Frankreichfeldzuges stiegen die Bohnenkaffeeimporte ins Reich und ermöglichten im Herbst 1940 erstmalig Sonderzuteilungen. Sie setzten zuerst nach Luftangriffen ein und erreichten spätestens zu Weihnachten fast jeden erwachsenen »Volksgenossen«. Ausgeschlossen blieben chronisch Kranke ebenso wie Geistes-, Sucht- oder Geschlechtskranke, Zivil- und Kriegsgefangene, sowie alle Juden, Polen und Ostarbeiter ; und die Grenzen der Zuteilung orientierten sich räumlich an den Grenzen des Reichsgebiets, exklusive der eingegliederten Ostgebiete. Der »Zitterkaffee« sollte entschädigen, denn Bohnenkaffee gab es vor allem für Opferbereitschaft, genauer für die mehr oder minder freiwillige Bereitschaft der kämpfenden Soldaten, Leib und Leben zu verlieren. Gleiches galt für die zu »Soldaten der Heimatfront« stilisierten vom Luftkrieg Betroffenen, an denen die alliierten Luftangriffe freilich nicht spurlos vorübergingen. Fern dieser vom NS-Regime mit Kalkül bedachten Gefälligkeit war Bohnenkaffee ansonsten nur über Feldpostpäckchen und soldatisches Reisegepäck sowie durch Schmuggel und Schwarzmarkt erhältlich. Gegen Ende des Krieges drohte schließlich selbst Kaffeeersatz knapp zu werden. Über den gravierenden Mangel ließ sich auch mit Gefälligkeiten wie weihnachtlichen Sonderzuteilungen nicht mehr hinwegtäuschen, die 1944 schließlich ganz ausbleiben mussten. Dabei verraten die Schwarzmarktpreise, wie begehrt Bohnenkaffee selbst gegen Ende des Krieges noch war. Der Genuss von gerösteten Kaffeebohnen ließ sich nie vollends auf den utilitaristischen Konsum eines x-beliebigen Heißgetränkes reduzieren, wie es das NS-Regime wohl erhofft, aber letztlich auch eingesehen hatte. Was die nationalsozialistische Konsumpolitik somit »erratisch« und »inkohärent« erscheinen lässt, sind die tatsächlich »heterogenen Lenkungsimpul-
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se«117. Doch nur weil sie gegensätzlich waren, müssen sie nicht widersprüchlich sein, vor allem dann nicht, wenn sie produktspezifisch sind. Nationalsozialistische Konsumpolitik berücksichtigte die Importlage, die Verfügbarkeit von Substituten und die Bedeutung des Konsums für die Bevölkerung vor dem Hintergrund der Anforderungen des Krieges und versuchte, diese verschiedenartigen Ansprüche zu balancieren. Damit veränderten sich die Lenkungsimpulse ebenso im Zeitverlauf. Zudem muss stärker hinterfragt werden, ob und inwiefern staatliche Regulierungsabsicht und tatsächliches Konsumniveau divergierten – ohne vorschnell auf die Formel von der chaotischen Polykratie und ihren Kompetenzstreitigkeiten zurückzugreifen.118 Der Widerspruch zwischen Mangel und Gefälligkeit scheint daher konstruiert. Für die Versorgung mit Kaffee galt zumindest: Es war der Mangel, der Gefälligkeiten bedingte, und es waren Gefälligkeiten, welche den Mangel beförderten.
117 Berghoff (Anm. 4), S. 516. 118 Hierzu ausführlich in Petrick-Felber (Anm. 46).
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Kaffee als politisches Druckmittel? Der schwierige Wiederaufbau der Handelsnetzwerke zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Guatemala in den 1950er-Jahren
»Kaffeekrieg mit Guatemala?«, fragte die Zeitschrift Der Volkswirt im Mai 1956 und informierte ihre Leser darüber, dass Guatemala kürzlich ein Einfuhrverbot für deutsche Waren erlassen habe. Diese Maßnahme sei eine Reaktion auf das deutsche Einfuhrverbot für guatemaltekischen Kaffee gewesen, das die Bundesregierung wegen des Konflikts über das enteignete deutsche Eigentum in Guatemala verfügt hatte. Es gehe »also nicht so sehr um den Kaffee wie um die deutschen Kaffeeplantagen«, schlussfolgerte der Autor.1 In der Tat gab es in kaum einem anderen Land der Welt so viele Kaffeeplantagen im Besitz deutscher Einwanderer wie in Guatemala. Dabei waren ihre Investitionen in der Kaffeeproduktion ein Ausnahmefall in der globalen Plantagenwirtschaft, denn normalerweise drangen sie nicht bis in den Anbau vor. In Zentralamerika erwarben sie die Plantagen wegen der hohen Qualität der gewaschenen Kaffees, die diese zu einem begehrten Handelsgut auf dem deutschen Kaffeemarkt machten. Durch den Besitz von Plantagen gelang es den Handelsfirmen, Kaffees einer gleichbleibenden Qualität zu garantieren und eine Abhängigkeit von externen Lieferanten zu vermeiden. Ende des 19. Jahrhunderts stellten die deutschen Plantagen einen Anteil von einem Drittel an den Kaffeeernten Guatemalas. Ihr erheblicher Wert von über 64 Millionen Reichsmark sowie ihre gute technische Ausstattung machten die Plantagen begehrt. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wuchs die Kritik an der ausländischen Dominanz in der Kaffeeproduktion. Die beiden Weltkriege boten eine Chance, diese Situation zu verändern: Nach Ende des Ersten Weltkriegs versuchte Präsident Manuel Estrada Cabrera (1898 – 1920) zum ersten Mal, die deutschen Fincas zu enteignen. Doch deren Eigentümer mobilisierten Einfluss und Geld, sodass es ihnen binnen zwei Jahren gelang, ihre Besitztümer zurückzuerhalten. Guatemala konnte seine hohen Anteile von bis zu 20 Prozent auf dem deutschen Kaffeemarkt bis Beginn der 1930er-Jahre halten. Anders sah die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg aus: Die Enteignungen waren massiver, 1 Der Volkswirt, Nr. 21, 26. 5. 1956.
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der Einschnitt tiefer. Diesmal intervenierten die USA in den Konflikt und setzten eine Internierung zahlreicher deutscher Einwanderer auf ihrem Territorium durch. Deshalb befanden sich die Plantagenbesitzer oft über Jahre außer Landes; sie verbrachten den Krieg entweder in US-amerikanischen Internierungslagern oder in Deutschland. Danach kehrten sie zwischen 1946 und 1948 nach Guatemala zurück, wo der politische Wind inzwischen radikal gedreht hatte: Statt des Diktators Jorge Ubico waren Reformregierungen an der Macht, die eine Umgestaltung der sozialen Verhältnisse und eine gleichmäßigere Landverteilung anstrebten. Diese »Dekade des Frühlings« war nur von kurzer Dauer, denn im Juni 1954 unterstützten die USA einen Putsch gegen die Regierung von Präsident Jacobo Arbenz. Alles sprach dafür, dass die Uhr unter der Herrschaft der Militärs auf die Zeit vor 1944 zurückgedreht würde. Enteignete Deutsche, Kaffeehandelsfirmen und deutsche Diplomaten waren nach dem Putsch voller Hoffnungen, doch die erwartete Zeitumstellung blieb aus: Stattdessen entstand eine langwierige, erbitterte Auseinandersetzung um die enteigneten deutschen Vermögen, weshalb Guatemala und die Bundesrepublik Deutschland erst 1959 die diplomatischen Beziehungen wieder aufnahmen, 14 Jahre nach Kriegsende. Ähnliche Konflikte behinderten die Wiederaufnahme des Kaffeehandels auch mit anderen lateinamerikanischen Staaten, die deutsche Vermögen während des Krieges beschlagnahmt hatten.2 Da die Kaffeepreise von 1949 bis 1954 sehr hoch lagen, war das Interesse an den ehemals deutschen Plantagen umso größer. Der Wert der enteigneten Fincas wurde je nach Quelle auf 4 bis 6 Millionen US-Dollar geschätzt, der Wert des gesamten enteigneten landwirtschaftlichen Besitzes auf insgesamt 15 Millionen US-Dollar.3 Auf dem Höhepunkt des Konflikts setzte die Bundesrepublik Kaffee als Druckmittel ein, um die guatemaltekischen Regierungen zum Einlenken zu bewegen: Sie verhängte zwischen 1953 und 1956 ein Kaffeeembargo. Der Konflikt fiel in die Phase des Wiederaufbaus der Handelsbeziehungen im Kaffeehandel der 1950er-Jahre: Die unterbrochenen Handelsnetzwerke mussten langsam über Auslandsreisen von Vertretern der Kaffeebranche und neue Handelsabkommen in Gang gebracht werden. Gleichzeitig drängten die Nachfrage der Verbraucher und das Interesse der Kaffeefirmen zum Handeln. Doch 2 Dieser Themenkomplex ist bisher nur unzureichend erforscht. Es existiert eine historische Studie über den Fall Argentiniens, wobei Kaffeehandel für den deutsch-argentinischen Handel keine Rolle spielte. Vgl. Silvia Kroyer: Deutsche Vermögen in Argentinien 1945 – 1965. Ein Beitrag über deutsche Direktinvestitionen im Ausland (= Berliner Lateinamerika-Forschungen, Bd. 15), Frankfurt/Main 2005. Zu den anderen Kaffee produzierenden Staaten, die deutsche Vermögen enteigneten, zählten u. a. Kolumbien, Costa Rica und Nicaragua. 3 Memorandum of Discussions by Francis H. Russell: Division of World Trade Intelligence, State Department with Officers of the Embassy at Guatemala City, o. D.; Boaz Long an Secretary of State, 5. 8. 1944. Guatemala, General Records 1944, Box 105, 711.3, RG 84 NA; Gesandtschaft der BRD in San Salvador an AA, 11. 8. 1953. BArch B 126/9128.
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der Kaffeehandel blieb noch bis Mitte der 1950er-Jahre staatlich reguliert. Das größte Hindernis für die zentralamerikanischen Qualitätskaffees war der Devisenmangel der Bundesrepublik. Aufgrund des niedrigeren Preises importierte die Bundesrepublik zu Beginn vor allem brasilianische Kaffees. Bis zur Liberalisierung der Kaffeeeinfuhr verliefen die Importe über die Zuteilung von Quoten und Kontingenten, was für zahlreiche Konflikte unter den Importfirmen sorgte. Ich werde in meinem Aufsatz darlegen, warum der Konflikt über die deutschen Vermögen in Guatemala derartig eskalierte. Dabei analysiere ich, in welchen Situationen Kaffee ein effektives politisches Druckmittel darstellte und warum dies im Falle Deutschlands und Guatemalas nicht funktionierte. Meine erste These dazu lautet, dass die deutschen Akteure noch in alten Denkmustern verhaftet waren, die die Verhandlungen ausbremsten. Zweitens konnte ein Embargo nur dann erfolgreich sein, wenn mehrere große Kaffeeimportländer an einem Strang zogen. Im Folgenden werde ich zuerst die Rolle der deutschen Einwanderer in der Kaffeebranche Guatemalas erläutern und danach die Ereignisse beleuchten, die zu den Enteignungen führten. Anschließend gebe ich einen kurzen Überblick über die wichtigsten Konflikte bei der Wiederaufnahme der deutschen Kaffeeimporte. Dabei zeigt sich, dass der Zweite Weltkrieg eine Zäsur für die einst engen Handelsnetzwerke zwischen Deutschland und Guatemala darstellt. Außerdem wird deutlich, wie sich die Machtverhältnisse und Verhandlungsspielräume veränderten: Nach Ende des Ersten Weltkrieges war die Einflussnahme Hamburger Akteure in Guatemala ein entscheidendes Element zur Beilegung des Konflikts gewesen. Zwar waren sie auch nach dem Zweiten Weltkrieg in Guatemala aktiv, doch zeigte ihr Auftreten nicht mehr dieselbe Wirkung, weil die deutschen Einwanderer durch die Konflikte aus den 1930er- und 1940er-Jahren gespalten waren.
Deutsche Einwanderung und Kaffeeproduktion in Guatemala »Man kann ohne Übertreibung behaupten, daß in keinem außerdeutschen Gebiete, unsere eigenen Kolonien nicht ausgenommen, ein, wenn nicht absolut, so doch relativ so umfangreicher und örtlich so konzentrierter ländlicher Grundbesitz in deutschen Händen ist wie in Guatemala.«4
Mit dieser Aussage begann der deutsche Gesandte Friedrich von Erckert seinen Bericht über die deutschen wirtschaftlichen Interessen in Guatemala zu Beginn 4 Friedrich Karl von Erckert: Die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands in Guatemala, in: Beiträge zur Kolonialpolitik und Kolonialwirtschaft III (1901 – 1902), S. 225 – 284, hier 227 – 228.
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des 20. Jahrhunderts. Der Großteil des ländlichen Grundbesitzes von Deutschen bestand aus Kaffeeplantagen. Kaffee entwickelte sich seit den 1860er-Jahren sehr schnell zum wichtigsten Exportprodukt Guatemalas und stellte 1890 einen Anteil von über 50 Prozent an den Ausfuhren Guatemalas.5 Auf dem deutschen Kaffeemarkt nahmen die gewaschenen Kaffees aus Zentralamerika einen kleinen, aber wichtigen Anteil im Segment der Qualitätskaffees ein. Ende des 19. Jahrhunderts importierte Hamburg 20 Prozent seines Kaffees aus Zentralamerika und Mexiko, Ende der 1920er-Jahre waren es reichsweit bereits über 40 Prozent.6 In Guatemala spielten deutsche Einwanderer in Kaffeeproduktion, -aufbereitung und -handel eine zentrale Rolle. 1913 produzierten sie mehr als ein Drittel der jährlichen Kaffeeernten.7 Die engen Verbindungen der Einwanderer in die norddeutschen Städte Hamburg und Bremen verschafften ihnen zahlreiche Vorteile vor der Konkurrenz, sei es durch den finanziellen Rückhalt oder die Kenntnisse der Konsumgewohnheiten auf dem deutschen Kaffeemarkt. Trotz einiger Krisen und Rückschläge behielten die deutschen Kaffee-Akteure ihre dominante Stellung in Guatemala bis in die 1930er-Jahre. Noch bei der Kaffeeernte von 1937/38 lag der Anteil deutscher Firmen an den Exporten bei 65 Prozent.8 Die Anteile Guatemalas auf dem deutschen Kaffeemarkt gingen jedoch wegen der NS-Handelspolitik seit 1933 stark zurück. Von Mitte der 1920er-Jahre bis 1930 hatte der Anteil des Landes noch bei über 20 Prozent gelegen, während er nach 1933 schnell von über 17 Prozent auf 7 Prozent im Jahr 1937 absank.9 Die neue Handelspolitik begünstigte Staaten, mit denen Deutschland eine aktive Handelsbilanz hatte, was bei keinem der zentralamerikanischen Länder der Fall war. Der guatemaltekische Markt war für deutsche Produkte kaum aufnahmefähig, weshalb das Reichswirtschaftsministerium immer wieder darauf drang, mit Guatemala eine ausgeglichene Handelsbilanz zu etablieren. Daraufhin gingen die guatemaltekischen Exporte nach Deutschland von 1932 bis 1938 um über 50 Prozent zurück.10 Von den reduzierten Anteilen der zentralamerikanischen Staaten auf dem deutschen Kaffeemarkt profitierte vor allem Kolumbien, das ebenfalls gewaschene Kaffees
5 Regina Wagner : Historia del caf¦ de Guatemala, Bogot 2001, S. 51. 6 Eigene Berechnungen auf der Basis von: Handelsstatistisches Bureau Hamburg (Hg.): Tabellarische Übersichten des hamburgischen Handels, Hamburg 1845 – 1900; Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1913 – 1930. 7 Wagner : Historia del caf¦ (Anm. 5), S. 144 – 146. 8 Revista Agrcola, Mai 1939, S. 71 – 76. 9 Eigene Berechnungen auf der Basis folgender Quellen: Statistisches Reichsamt (Hg.): Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Berlin 1900 – 1939. 10 Der Reichs- und Preußische Wirtschaftsminister an Legationsrat Kroll, AA, 18. 10. 1935. R 91067, PAAA; eigene Berechnungen auf der Basis der Angaben im Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1932 – 1938.
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produzierte. Bis 1935 stieg der Anteil des Landes auf dem deutschen Kaffeemarkt auf über 23 Prozent (s. Abb. 1).11 Die guatemaltekische Regierung begann ab 1941, die deutschen Kaffeefincas unter staatliche Kontrolle zu stellen und enteignete sie schließlich auf starken US-amerikanischem Druck hin im Jahr 1944. Währenddessen legte der Krieg den Kaffeehandel in Hamburg nahezu vollständig lahm, sodass die Kaffee-Akteure nach Kriegsende vor einer schwierigen Ausgangslage standen. Durch die jahrelange Abschottung von den internationalen Kaffeemärkten waren viele Handelsverbindungen nach Übersee abgerissen. Zudem unterlag der internationale Handel in den ersten Nachkriegsjahren starken Restriktionen durch die Besatzungsmächte.12
Abb. 1: Anteile verschiedener lateinamerikanischer Regionen und Staaten auf dem deutschen Kaffeemarkt, 1930 – 1939 (basiert auf: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1930 – 1939)
11 Vgl. Luis Bosemberg: Alemania y Colombia, 1933 – 1939, in: Ib¦roamericana 6 (2006), S. 25 – 44; Wie sich 1936 die Einfuhr der verschiedenen Kaffeesorten änderte. KTK, 1937, S. 74 f. 12 Vgl. Luis Bosemberg: Alemania y Colombia, 1933 – 1939, in: Ib¦roamericana 6 (2006), S. 25 – 44; Wie sich 1936 die Einfuhr der verschiedenen Kaffeesorten änderte. KTK, 1937, S. 74 f.
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Die Wiederaufnahme der Kaffeeimporte nach dem Zweiten Weltkrieg Die ersten offiziellen Kaffeeimporte gab es in den Jahren 1948 und 1949. Dazu wurde im November 1948 unter alliierter Aufsicht die Fachstelle Kaffee gegründet und ab Februar 1950 dem neuen Bundeswirtschaftsministerium (BWM) unterstellt. Aufgrund des großen Devisenmangels genehmigte die Fachstelle zuerst nur wenige Importe großer Firmen. Ihr Leiter, Regierungsrat Pheiffer, hatte bereits die Vorgängerinstitution in der NS-Zeit geleitet, weshalb die Firmen an ihre alten Netzwerke anknüpfen konnten. Die alliierten Vertreter kritisierten dies und bemerkten, Pheiffer stünde unter dem Einfluss der mächtigen Firmen.13 1949 erteilte die Fachstelle insgesamt 40 Firmen eine Einfuhrberechtigung, davon 30 aus Hamburg und 10 aus Bremen.14 Im selben Jahr importierte die neu gegründete Bundesrepublik offiziell 26.000 Tonnen Kaffee.15 Parallel dazu gelangten jedoch große Mengen Kaffee auf illegalem Weg ins Land, um die Kaffeesteuer zu umgehen, die 1948 als Verbrauchssteuer eingeführt worden war und im internationalen Vergleich sehr hoch lag. Außerdem reichten die offiziell eingeführten Mengen nicht aus, um die hohe Nachfrage nach dem lange entbehrten Genussmittel zu decken. Anfang der 1950er-Jahre experimentierte die Fachstelle mit verschiedenen Einfuhrverfahren, um die Verteilung der Importe auf die Firmen zu regeln. Diese Entscheidungen über Einfuhrbewilligungen und Anteile provozierten heftige Konflikte, da sie das Kräfteverhältnis unter den Importfirmen verschoben. Zahlreiche Firmen beschwerten sich bei der Fachstelle und forderten höhere Kontingente.16 Neben den Firmen-Kontingenten gab es auch Importregelungen für die einzelnen Länder : Die Fachstelle Kaffee veröffentlichte jeweils Ausschreibungen mit einer mengenmäßigen Begrenzung, auf die sich die Importfirmen bewerben konnten. Zu Beginn der 1950er-Jahre konzentrierte sich die Einfuhr wegen des Devisenmangels auf den billigeren brasilianischen Kaffee, dessen Marktanteil 1949 bei über 80 Prozent lag und sich danach bei 35 bis 13 Niederschrift über die Besprechung mit Mr. Barshey und einem anderen Herren von der Decartellisierungsabteilung der Bico in Frankfurt, bei der Fachstelle Kaffee. BArch Z8/21265. Vgl. zur Frühphase des Kaffeehandels auch Ursula Becker : Kaffee-Konzentration. Zur Entwicklung und Organisation des hanseatischen Kaffeehandels. Stuttgart 2002, S. 316 – 319. 14 Niederschrift über die außerordentliche Gesellschafter-Versammlung, 21. 1. 1949; Niederschrift über die Sitzung des Fachausschusses Kaffee bei der Fachstelle Kaffee, 12. 4. 1949. BArch Z8/21265. 15 Statistisches Bundesamt (Hg.): Der Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland. Teil 2. Der Spezialhandel nach Waren, Wiesbaden 1949 – 1950. 16 Vgl. z. B. Geerders & Co., Kaffeeimport an den Gemischten Einfuhrausschuss, 12. 7. 1951; Alfred Linzen, Kaffee-Import und Grosshandel, Hamburg an BWM, 7. 2. 1952; Wilhelm Jarchow, Kaffeeimport an BWM, 15. 9. 1951. BArch B 102/73545.
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50 Prozent einpendelte. Dagegen erreichten die zentralamerikanischen Staaten und Mexiko bis 1952 nur einen Anteil von 4 bis 6 Prozent. Die Kaffeefirmen forderten immer wieder, den Markt für die gewaschenen Kaffees weiter zu öffnen, und verwiesen auf die große Nachfrage. Dagegen kritisierte das BWM die Haltung der Konsumenten, und zwar besonders die der deutschen Hausfrauen, wie zum Beispiel in folgendem Memorandum: »In den Schaufenstern der Fachgeschäfte wird vielfach ›Reiner Costa Rica‹, ›Feinster Guatemala‹ usw. angeboten, um die Kunden anzulocken. Schuld sind natürlich die Hausfrauen, die diese feinen Kaffees immer wieder fordern.«17
In der Kaffeewerbung war also der Verweis auf die zentralamerikanischen Qualitätskaffees weiterhin wichtig, wobei die Beamten des BWM den Hausfrauen mangelnde Einsicht in die gesamtwirtschaftliche Situation unterstellten. Ähnliche Debatten hatte es bereits in den Jahren der Weltwirtschaftskrise gegeben, als die Devisenbewirtschaftung den Kaffeehandel reglementierte. Schließlich reformierte das BWM die Kaffeeeinfuhr im Oktober 1953 und schuf eine Quotenregelung für das Verhältnis zwischen zentralamerikanischen, kolumbianischen und brasilianischen Kaffees.18 Für kontroverse Diskussionen unter den Firmen sorgte dabei die Tatsache, dass sie ihre Einfuhren auf alle beteiligten Länder verteilen mussten. Die ausschließliche Einfuhr von Kaffee einer bestimmten Herkunftsregion war damit nicht mehr möglich.19 Dies traf besonders die sogenannten Länderfirmen, die sich auf Importe aus einigen Kaffee produzierenden Staaten spezialisiert hatten. Im Juli 1954 reformierte das BWM das System erneut und führte für alle drei Regionen gleiche Anteile ein, um der steigenden Nachfrage nach zentralamerikanischen Kaffees gerecht zu werden.20 Daraufhin stieg ihr Anteil auf dem deutschen Kaffeemarkt erneut auf über 20 Prozent an. Im selben Jahr überschritten die Gesamt-Importe der Bundesrepublik erstmals wieder die 100.000-Tonnen-Grenze.21 Am 1. Oktober 1955 liberalisierte das Ministerium die Kaffeeimporte schließlich vollständig, woraufhin der Anteil der zentralamerikanischen Kaffees erstmals die 30-ProzentMarke überschritt. 1958 erreichte ihr Anteil mit 58 Prozent den vorläufigen Höchststand.22 Guatemala hingegen erlangte seine hohe Bedeutung für den 17 Memorandum über die Ausschreibung von Rohkaffee aus Columbien, zentralamerikanischen Raum, Venezuela und Peru, o. D., BArch B 102/58725. 18 Vermerk Woratz. Betr : Guatemala-Kaffee, 7. 10. 1955. BArch B 102/58725. 19 Dauelsberg & Schneidt an BWM, 22. 1. 1954. BArch B 102/73548; Grosse an Woratz, 30. 1. 1954. BArch B 102/73548. 20 Protokoll über die Sitzung vom 21. Juli betr. Exportsteigerung Zentralamerika, BWM V B 2, 27. 7. 1954. BArch B 102/57981. 21 Statistisches Bundesamt (Hg.): Der Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland. Teil 2. Der Spezialhandel nach Waren, Wiesbaden 1949 – 1955. 22 Eigene Berechnungen auf der Basis folgender Daten: Statistisches Bundesamt (Hg.): Der
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deutschen Markt nicht wieder, was auf die Auseinandersetzung über die deutschen Vermögen zurückzuführen ist. Der Anteil guatemaltekischen Kaffees fiel von 20 Prozent um 1930 auf 8,3 Prozent im Jahr 1958.23 Um die Vorgeschichte des Konflikts zu verstehen, ist ein Rückblick auf die 1930er-Jahre notwendig.
Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Enteignungen Seit 1931 war in Guatemala der Diktator Jorge Ubico an der Macht, der gute Beziehungen zu den deutschen Fincabesitzern pflegte. Ein Jahr später gründete der Pfarrer Otto Langmann in Guatemala eine Gruppe der NSDAP-AO, die insgesamt 274 Mitglieder hatte. Die Partei fand in erster Linie unter den nach 1900 geborenen Neueinwanderern Anhänger, die die Krisenjahre nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland miterlebt hatten. Mit Händlern und Angestellten dominierten soziale Gruppen, die in der Krise vom sozialen Abstieg bedroht waren. Seit Mitte der 1930er-Jahre sorgten die Aktivitäten der Gruppe für einige Konflikte: Zwar lehnten auch die etablierten deutschen Einwanderer die Weimarer Republik ab, doch das radikale Auftreten der Parteigruppe erschien ihnen unangemessen. Die Konflikte polarisierten in den folgenden Jahren die deutsche Gemeinschaft, belasteten aber auch die Netzwerke in die politischen und wirtschaftlichen Eliten Guatemalas. Ubicos Haltung blieb dabei ambivalent: Einerseits verfügte er über enge Verbindungen zu deutschen Elitefamilien, und es wurden ihm politische Sympathien für den Faschismus nachgesagt. Andererseits verbot er 1939 die NSDAP-AO-Gruppe und gab einigen US-amerikanischen Forderungen zur Kontrolle der Deutschen nach.24 Bereits 1938 hatte es einen Eklat wegen eines Aufmarsches gegeben, der von Ubico nicht genehmigt worden war. Anlässlich eines Besuches der beiden Hapag-Schiffe Cordillera und Patricia organisierte die NSDAP-AO-Gruppe Paraden und regelte den Verkehr in voller SA-Uniform. Doch damit nicht genug: Gegen den ausdrücklichen Willen Jorge Ubicos fand eine Kundgebung vor dem Präsidentenpalast statt, bei der Parteivertreter öffentlich verkündeten, Guatemala würde im Falle eines deutschen Sieges zu einer Kolonie werden.25 Nicht nur auf politischer Ebene polarisierte das Auftreten der Partei; ihre Aktivitäten Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland. Teil 2. Der Spezialhandel nach Waren, Wiesbaden 1949 – 1960. 23 Eigene Berechnungen auf der Basis folgender Quellen: Statistisches Reichsamt (Hg.): Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Berlin 1900 – 1939; Statistisches Bundesamt (Hg.): Der Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 1949 – 1960. 24 Max Paul Friedman: Nazis and Good Neighbours. The United States Campaign against the Germans of Latin America in World War II., Cambridge 2003, S. 82 ff. 25 Botschaft in Guatemala an AA, 5. 4. 1961, B 33/237, PAAA.
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belasteten außerdem die Geschäftsnetzwerke zu den Familien der guatemaltekischen Eliten. Im Jahr 1938 gab es einen weiteren Skandal, als Parteivertreter einem guatemaltekischen Regierungsfunktionär auf einer Feier verboten, mit einer deutschen Frau zu tanzen. Der Vorfall sorgte noch Wochen später für Aufmerksamkeit in der guatemaltekischen Presse.26 Die Gruppe der deutschen Einwanderer war sozial und kulturell heterogen, und dementsprechend variierten auch ihre Reaktionen auf den Nationalsozialismus. Einige näherten sich dem Regime offensiv an und versuchten, ihre Kontakte zu nationalsozialistischen Funktionären für die geschäftlichen Beziehungen zu nutzen. Andere taten dies ebenfalls, suchten aber parallel nach neuen Exportmärkten, da die Kaffeeexporte nach Deutschland sich aufgrund der neuen Handelspolitik des Regimes rückläufig entwickelten. Wieder andere stellten sich offen gegen das Regime, wie zum Beispiel Willi Dieseldorff,27 der alle nationalsozialistischen Angestellten entließ und sich öffentlich zu seiner jüdischen Herkunft bekannte, die auf den Urgroßvater zurückging.28 Die Aktivitäten der NSDAP-AO auf dem lateinamerikanischen Kontinent beunruhigten auch die USA, die deren Einfluss jedoch stark überschätzte. Nach Kriegsbeginn fürchtete die US-Regierung, die NSDAP-Anhänger könnten im Falle eines deutschen Angriffes eine »Fünfte Kolonne« bilden. Deshalb übte sie starken Druck auf die lateinamerikanischen Staaten aus, die deutschen Einwanderer zu überwachen und ihre Vermögen zu erfassen. Dabei spielten auch wirtschaftliche Motive eine Rolle, denn der steigende deutsche Einfluss im lateinamerikanischen Außenhandel sollte aus US-amerikanischer Sicht begrenzt werden. Deshalb beobachteten amerikanische Diplomaten seit den 1930erJahren intensiv den Außenhandel zwischen Deutschland und Lateinamerika, wobei sie den deutschen Einwanderern eine Schlüsselrolle für den wirtschaftlichen Erfolg zuschrieben.29 Nach Kriegseintritt der USA entwickelte sich daraus eine Aktion zur Internierung und Enteignung deutscher Einwanderer in Lateinamerika, an der sich 15 lateinamerikanische Staaten beteiligten. Der erste Schritt bestand in der Aufstellung »Schwarzer Listen«, wobei der Handel mit den aufgeführten Personen und Firmen untersagt wurde. Auch Jorge Ubico nahm 26 Fay Allen des Portes an Secretary of State, 27. 9. 1938. Guatemala, Classified Records, 1938, Box 2. RG 84, National Archives. 27 Die Hamburger Kaufmannsfamilie Dieseldorff baute einen sehr großen Landbesitz in Guatemala auf. 1888 wanderte Erwin Paul Dieseldorff ein. Der 1913 geborene Willi Dieseldorff war sein Sohn und übernahm 1936 die Leitung des Familienunternehmens in Guatemala. 28 Guillermo NaÇez Falcûn: Erwin Paul Dieseldorff, German entrepreneur in the Alta Verapaz of Guatemala, 1889 – 1937. Ms. Dissertation. Tulane University, Department of History. New Orleans 1970, S. 429 – 430. 29 Livingston Satterthwaite, Vice-Consul: Development of German Economic Penetration in Costa Rica, 2. 4. 1937. Costa Rica, General Records, Box 12, RG 84 NA.
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nach anfänglichem Widerstand an dieser Aktion teil. In Zentralamerika setzte die US-Regierung Kaffee gezielt als Druckmittel ein: Sie drohte, keinen auf deutschen Fincas produzierten Kaffee mehr abzunehmen, bis eine Enteignung durchgesetzt werde. Da zu diesem Zeitpunkt die europäischen Kaffeemärkte bereits abgeschnitten waren, gab es für die zentralamerikanischen Staaten keinen alternativen Markt mehr, weshalb sie schließlich einlenken mussten. Insgesamt internierten die USA während des Zweiten Weltkriegs über 6000 Deutsche aus Lateinamerika auf ihrem Staatsgebiet, darunter 588 aus Guatemala. Einige von ihnen wurden gegen US-amerikanische Kriegsgefangene ausgetauscht und kurz vor Kriegsende nach Deutschland repatriiert.30 Die Internierten konnten erst zwischen 1946 und 1949 nach Guatemala zurückkehren. Mittlerweile hatte dort ein Regierungswechsel stattgefunden, weshalb die Deutschen vor einer völlig veränderten politischen Situation standen: Reformregierungen hatten die Diktatur Jorge Ubicos abgelöst. Die »Dekade des Frühlings« war eine Zeit des Aufbruchs, die die etablierten gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Bewegung brachte. Die neue Regierung unter Juan Jos¦ Ar¦valo (1945 – 51) setzte auf Demokratisierung und soziale Reformen, wie beispielsweise das 1947 erlassene Arbeitsgesetz. Bei der Landbevölkerung löste der Regierungswechsel große Hoffnungen auf eine gerechtere Landverteilung aus. Die seit Jahrzehnten existierenden sozialen Spannungen äußerten sich in einer Reihe von Arbeitskonflikten, die die Kaffeewirtschaft betrafen. Ein großer Teil der ehemals deutschen Fincas gehörte nun zum Komplex der Fincas Nacionales, die mit über 50.000 Angestellten und 150.000 Erntearbeitern eines der größten Wirtschaftsunternehmen Zentralamerikas darstellten. Sie produzierten ein Viertel der guatemaltekischen Kaffeeernten.31 Bei den guatemaltekischen Eliten wuchs die Angst vor der organisierten Landarbeiterschaft: Sie befürchteten Aufstände der indigenen Bevölkerung, die sie außerdem mit einer kommunistischen Bedrohung assoziierten. Bei den Wahlen 1950 siegte erneut ein Kandidat der Reformer, Jacobo Arbenz, der die sozialen Reformen ausweitete. Besonders die Agrarreform von 1952 erhitzte die Gemüter, wobei Eliten und zurückgekehrte Deutsche die Arbenz-Regierung als kommunistisch beeinflusstes Schreckensregime darstellten.32 Die US-Regierung sah Guatemala im Kontext des Kalten Krieges als Gefährdung für die gesamte Region an, zumal die United Fruit Company empfindlich von der Agrarreform getroffen worden war. Deshalb unterstützte die CIA 1954 die sogenannte Operation Success, mit der Präsident Arbenz im Juni 1954 ge30 Friedman: Nazis and Good Neighbours (Anm. 23). 31 Jim Handy : Revolution in the Countryside: Rural Conflict and Agrarian Reform in Guatemala, 1944 – 1954, Chapel Hill (NC) 1994, S. 69; Piero Gleijeses: Shattered Hope. The Guatemalan Revolution and the United States, 1944 – 1954, Princeton (NJ) 1991, S. 43 – 44. 32 Vgl. z. B. C. H. Ockelmann an Konrad Adenauer, 7. 5. 1952. B 11/833 PAAA.
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stürzt wurde. Die Macht übernahm General Carlos Castillo Armas, der von den Eliten sehnsüchtig als Retter erwartete wurde. Er verbot alle Gewerkschaften und revolutionären Organisationen, ließ zahlreiche politische Aktivisten verhaften und machte in den folgenden Jahren die Agrarreform rückgängig.33 Die zurückkehrenden Deutschen erhofften sich deshalb eine schnelle Rückgabe ihres Besitzes, aber dieses Thema entwickelte sich zu einer langwierigen und konfliktträchtigen Angelegenheit, weshalb die Bundesregierung versuchte, Kaffee als politisches Druckmittel einzusetzen.
Kaffee und der Konflikt um die enteigneten Vermögen in Guatemala »Ich habe mich auch davon überzeugen können, dass die Frage der Rückgabe von Vermögenswerten in ihren Einzelfällen außerordentlich kompliziert und sehr verschieden gelagert ist. Es gibt Fälle, in denen ein großes Unrecht begangen worden ist; es gibt aber auch Fälle, in denen sowohl selbst von Seiten ausgesprochen deutschfreundlich eingestellter Kreise innerhalb der Regierung, wie auch von der alten, sehr einflussreichen jüdischen Kolonie starke Bedenken gegen eine Entschädigung erhoben werden, weil entweder von den Geschädigten äußerst verwerfliche Methoden der Bereicherung beim Erwerb von Kaffeefincas angewandt wurden, oder weil, sofern es sich um ehemalige Parteigenossen handelt, ihr Verhalten in Guatemala noch heute in denkbar schlechter Erinnerung ist.«34
Mit diesen Worten beschrieb der deutsche Botschafter in Guatemala, Karl Heinrich Panhorst, die Situation 1961, immerhin 16 Jahre nach Kriegsende. Panhorst nannte zwei Faktoren, die die Situation belasteten und ein Erbe der deutschen Präsenz in Guatemala darstellten: die Bereicherung beim Erwerb der Kaffeeplantagen und die Aktivitäten der NSDAP-AO-Gruppe. Die Brisanz der Angelegenheit wird deutlich, wenn man sich die Werte der enteigneten Vermögen vor Augen führt: Die deutsche Botschaft in San Salvador35 schätzte ihren Wert 1953 auf 20 Millionen US-Dollar. Davon entfielen 15 Millionen US-Dollar auf landwirtschaftlichen Besitz, weitere 5 Millionen USDollar auf städtischen Besitz, Aktien, Kredite und Bankguthaben.36 Ein Teil der 33 Handy : Revolution in the Countryside (Anm. 30), S. 193 – 201; Stephen M. Streeter : Managing the counterrevolution. The United States and Guatemala, 1954 – 1961, Athens (Ohio) 2000. 34 Botschaft in Guatemala an AA, 13. 2. 1961, BArch B 126/38026. 35 Vor der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen vertrat die Botschaft in El Salvador die deutschen Interessen in Guatemala. Dazu verfügte sie über einen Gewährsmann in Guatemala-Stadt. 36 Gesandtschaft der BRD in San Salvador an AA, 11. 8. 1953. BArch B 126/9128. Spätere Schätzungen der Betroffenen gingen von höheren Werten um 30 Mio. US$ aus. Nach Angaben der Deutschen Botschaft in San Salvador war es sehr schwierig, verlässliche Daten zu
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zurückgekehrten Deutschen trat bei der Ankunft in Guatemala ihren Besitz an den guatemaltekischen Staat ab. Andere akzeptierten die Enteignungen nicht und versuchten auf verschiedenen Wegen, ihr Eigentum zurückzuerhalten, zum Beispiel, indem sie vor Gericht zogen.37 Großes Aufsehen erregte der Prozess um die Enteignung der Familie Nottebohm vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Die Nottebohms waren eine Hamburger Kaufmanns- und Bankiersfamilie, die seit dem 19. Jahrhundert in den Kaffeehandel mit Guatemala investiert hatte. Mehrere Familienmitglieder wanderten nach Guatemala aus, erwarben dort Kaffeeplantagen und gründeten eine Bank. In den 1930er-Jahren produzierten die Fincas der Familie über 34.000 Quintales Kaffee, womit die Familie an der Spitze der deutschen Kaffeeexporteure in Guatemala stand.38 1946 verweigerte die guatemaltekische Regierung Friedrich Nottebohm die Wiedereinreise nach Guatemala. Da er im Oktober 1939 die liechtensteinische Staatsangehörigkeit angenommen hatte, versuchte er von dort aus, sein Eigentum zurückzuerhalten. Im Jahr 1951 wandte sich die liechtensteinische Regierung mit einer Note an Guatemala, in der sie erklärte, Friedrich Nottebohm sei zu Unrecht enteignet worden. Als von Seiten Guatemalas keine Reaktion erfolgte, klagte Liechtenstein im Dezember 1951 vor dem Internationalen Gerichtshof. Der Wert von Nottebohms Besitz wurde mit über 1,5 Millionen US-Dollar angegeben.39 Zuerst musste die Entscheidung gefällt werden, ob das Gericht überhaupt für diesen Fall zuständig sei. Dabei entstand eine langwierige Auseinandersetzung, weshalb Guatemala erst im April 1954 auf die Klage antwortete. Durch den Sturz der Regierung Arbenz verzögerte sich der Prozessbeginn bis Februar 1955.40 Für die Verhandlungen über die enteigneten Vermögen erwies sich der Fall als eine große Belastung. Andere Geschädigte wandten sich mit der Bitte um Unterstützung an die diplomatischen Vertreter der Bundesrepublik. Ihr »Sein oder Nichtsein« hinge von einem Friedensschluss mit Guatemala ab, betonte eine Gruppe von Deutschen aus Guatemala in einer Petition an das Auswärtige Amt (AA) im Jahr
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erhalten, da viele Dokumente in den Händen der guatemaltekischen Regierung seien. Vgl. Botschaft in San Salvador an AA, 30. 3. 1955. B 11/1322 PAAA. Vgl. z. B. Ulrike Preuss-Hoffmeyer, Corinna Aguirre: Gedanken und Erinnerungen von Waltraut Sterkel geb. Ruffing, Guatemala-Stadt 2006, S. 81. Christiane Berth: Aus Hamburg in die Kaffee-Welten Zentralamerikas. Die Nottebohm Hermanos in Guatemala, in: Jörn Arfs, Ulrich Mücke (Hg.): Händler, Pioniere, Wissenschaftler. Hamburger in Lateinamerika, Münster 2010, S. 67 – 88. International Court of Justice (Hg.): Pleadings, Nottebohm Case (Liechtenstein v. Guatemala) Vol I., The Hague 1955, S. 13 – 14. Kurt Lipstein, Erwin H. Loewenfeld: Liechtenstein gegen Guatemala. Der Nottebohm-Fall, in: Adulf Peter Goop (Hg.): Gedächtnisschrift Ludwig Marxer, Zürich 1963, S. 275 – 325, hier 281 – 286.
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1951.41 Die Vertreter des Auswärtigen Amtes reagierten jedoch ablehnend, da sich die beiden Länder formal noch im Kriegszustand befanden. Im Hintergrund fanden zahlreiche Diskussionen im AA und im Bundeswirtschaftsministerium (BWM) über die Frage statt, wie mit den Enteignungen deutschen Vermögens umzugehen sei. Vertreter der Wirtschaft und des BWM forderten, die Handelsbeziehungen schnell wieder aufzubauen, während die Vertreter des AA und der Botschaft in San Salvador vorher die Vermögensfrage lösen wollten.42 Die deutsche Botschaft in San Salvador übernahm eine wichtige Rolle bei den Verhandlungen mit der guatemaltekischen Regierung. Sie verfügte über einen Gewährsmann in Guatemala-Stadt, der erste Sondierungen durchführte. Weitere wichtige Akteure waren die Studiengesellschaft für privatrechtliche Auslandsinteressen e. V. und der Hamburger Ibero-Amerika Verein e. V. Die Studiengesellschaft für privatrechtliche Auslandsinteressen war im Sommer 1948 als Interessenvertretung der enteigneten Deutschen aus verschiedenen Staaten gegründet worden. Zu den Gründern zählten mehrere wichtige Bankiers und Industrielle sowie einige Bundestagsabgeordnete. Dadurch verfügte die Organisation über enge Verbindungen zu Konrad Adenauer und den Bonner Ministerien. Zu Beginn sammelte sie Informationen über das beschlagnahmte Vermögen im Ausland und intervenierte dann in den Verhandlungen.43 Einer der informellen Vermittler in Guatemala war Hermann Töpke. Er war 1896 in Quetzaltenango geboren worden und besaß dort die Finca El Faro.44 Die aus Braunschweig stammende Familie Töpke hatte im 19. Jahrhundert ein großes Maschinen-Importgeschäft aufgebaut. Hermann Töpke trat 1930 der NSDAP-AO bei und fungierte als Gebietsleiter für den Westen Guatemalas und Adjutant des Landesvertrauensmannes.45 Doch Töpke distanzierte sich später vom Nationalsozialismus und stellte sich auf die Seite der Alliierten. Wahrscheinlich stand die Finca El Faro deshalb nicht auf der Schwarzen Liste. Trotzdem enteignete die guatemaltekische Regierung 1954 ein Bankguthaben 41 Niederschrift der Deutschen in Guatemala, 23. 10. 1951 vom Hilfswerk der Evangelischen Kirche ans AA übersandt. B 11/1321, PAAA. 42 Niederschrift über die Ressortbesprechung Guatemala im Auswärtigen Amt, 14. 4. 1955; Bericht zur Frage der Wiederanknüpfung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Guatemala sowie Rückgabe des ehemaligen deutschen Vermögens, 8. 5. 1956. BArch B 102/57981. 43 Hans-Dieter Kreikamp: Deutsches Vermögen in den Vereinigten Staaten. Die Auseinandersetzung um seine Rückführung als Aspekt der deutsch-amerikanischen Beziehungen 1952 – 1962 (= Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialpolitik in Deutschland nach 1945, Bd. 2), Stuttgart 1979, S. 44 – 46. 44 Passbuch. Deutsche Botschaft, Guatemala-Stadt. 45 Landesgruppe Guatemala der NSDAP. BArch R 57 Neu/1187. Vgl. auch Nazi Party Membership Records Guatemala, May 1946. Guatemala Classified 1946, 820.02, RG 84, National Archives.
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Töpkes von über 18.000 Quetzales.46 Hermann Töpke wandte sich im August 1952 an das BWM, um seine Dienste als Vermittler anzubieten. Seiner Meinung nach sollte das Thema der enteigneten Vermögen bei der Wiederaufnahme der Beziehungen mit Guatemala zunächst ausgeklammert werden.47 Im Gegensatz zur Mehrheit der deutschen Nachfahren hielt er eine Rückgabe des deutschen Eigentums für unmöglich und kritisierte das Verhalten seiner Landsleute heftig. Er charakterisierte die Deutschen in Guatemala als eine verbitterte, verängstigte und verschlossene Gruppe: »Leider sind die meisten hier noch lebenden u. arbeitenden Deutschen durch die Enteignungen und durch das Anhalten des Kriegszustandes so kopfscheu und ängstlich geworden, dass keiner es wagt, etwas Positives zu tun, um diesen unhaltbaren Zuständen ein Ende zu bereiten. Dazu liegt noch gar kein Grund vorhanden, wenn man sich auf den Boden der Tatsachen stellt und mit dem Gewesenen abschließt und neu anfängt. Natürlich sind große Kreise ehemaliger Besitzer verbittert und kommen nicht davon frei das Verlorene wieder ersetzt zu haben. Das ist verständlich, entspricht aber nicht den Interessen beider Länder. Diese Kreise wollen nicht begreifen, dass wir nun einmal den Krieg verloren haben, dass es kein mächtiges Reich mehr gibt, sondern zwei gänzlich verschiedene deutsche Staaten […].«48
Obwohl er selbst Mitglied der NSDAP gewesen war, übte Töpke in einem weiteren Brief Kritik an der »wahnsinnigen Politik Hitlers«. Außerdem sei es vermessen, die guatemaltekische Regierung für Verluste verantwortlich zu machen, die eine Folge der deutschen Niederlage seien: »Für die Schäden und Verluste, die wir Deutsche durch den verlorenen Krieg hier erlitten, nun allein Guatemala verantwortlich zu machen, ist ungerecht, besonders wenn wir Deutsche oder Deutschblütige mit Guatemala Nationalität unseren Besitz den glücklichen und vorteilhaften Umständen hier im Lande verdanken, durch die unsere Arbeit so nützlich für uns sich hat entwickeln können.«49
Hier zeigt sich deutlich, dass ein Großteil der Deutschen noch alten Denkmustern verhaftet war : In ihren Köpfen existierte immer noch das Bild eines mächtigen Deutschen Reiches, das ihre Interessen vertreten könne. Die Schuld an der schwierigen Situation schoben sie allein der guatemaltekischen Regierung zu. In ihrer Vorstellungswelt mussten nur die beiden Hebel diplomatischer und wirtschaftlicher Einfluss aktiviert werden und schon würde sich die Lage zu ihren Gunsten verändern. 46 Oficina Central del Caf¦: Lista de Propietarios de Fincas de Caf¦ incluidas en las Listas Proclamadas. Agricultura Leg. 1874, Archivo General de Centro Am¦rica, Guatemala-Stadt; Hermann Töpke an Theodor Stelzer, 18. 12. 1954. BArch B 102/57981. 47 Hermann Töpke an Grosse, BWM, 18. 8. 1952. BArch B 102/57981. 48 Hermann Töpke an Heinz Justus, Riensch & Held, Hamburg, 26. 10. 1952. BArch B 102/ 57981. 49 Hermann Töpke junior an Theodor Stelzer, 18. 12. 1954, BArch B 102/57981.
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Töpkes Ansicht nach war es für die guatemaltekische Regierung fast unmöglich, alle deutschen Vermögen zurückzugeben, da es sich nicht nur um Kaffeefincas, sondern um Firmen, Privathäuser, Aktien, Bankguthaben und Versicherungen handeln würde. In diesem Zusammenhang kritisierte er das Verhalten der großen deutschen Firmen, die nur daran interessiert seien, ihre eigene Position zu stärken. Deren Vaterland »sei ja doch nur ihr Geldsack«, warf er ihnen in einem Brief aus dem Jahr 1954 vor.50 Töpkes Einstellung kann nicht als repräsentativ für die Haltung der Deutschen in Guatemala gelten, wie er selbst in einem Brief an das BWM einräumte.51 Obwohl er weiter an der Realisierbarkeit der Rückgabe des deutschen Eigentums zweifelte, rief er 1954 dazu auf, gegenüber der neuen Regierung unter Castillo Armas »den besten Willen« zu zeigen.52 Seine Äußerungen geben Aufschluss über das hohe Ausmaß der Verbitterung unter den deutschen Rückkehrern, aber auch über den Unwillen, die veränderte politische Situation der Nachkriegszeit zu akzeptieren. Ein wichtiges Mittel, mit dem die Bundesregierung die guatemaltekische Regierung zum Einlenken bewegen wollte, war der im Dezember 1953 verhängte Import-Stopp für Kaffee aus Guatemala.53 Über die genauen Motive für den Boykott ließen sich in den staatlichen Archiven nur wenige Dokumente finden. Im Verlauf des Jahres 1953 diskutierten die Vertreter des BWM, ob es möglich wäre, die Kaffeeimporte aus Honduras und Guatemala zu begrenzen, da die Frage der deutschen Vermögen noch nicht gelöst sei. Außerdem wollten sie eine ausgeglichene Verteilung der Kaffeeeinfuhr aus den zentralamerikanischen Ländern erreichen.54 Im Dezember 1953 teilte das Ministerium den Stopp der Kaffeeeinfuhr aus Guatemala mit, wies aber explizit darauf hin, eine Veröffentlichung dieser Maßnahme sei weder notwendig noch erwünscht.55 Gerhard Woratz, der Leiter des Referats Nahrungs- und Genussmittel, nannte als einzigen Grund, die für Guatemala zur Verfügung stehende Devisenmenge sei bereits erschöpft.56 Im Kontext des Kalten Krieges und des antikommunistischen Klimas ließe sich auch eine politische, gegen die Regierung von Jacobo Arbenz gerichtete Motivation vermuten, die aber in den Dokumenten aus dem BWM und dem Auswärtigen Amt nicht nachgewiesen werden konnte. Ab Mitte 1954
Ebd.; Bericht von Hermann Töpke junior aus Guatemala, 5. 3. 1955. BArch B 102/57981. Ebd. Hermann Töpke junior an Theodor Stelzer, 18. 12. 1954, BArch B 102/57981. Die Sperre wurde im Handelspolitischen Ausschluss beschlossen und war ab dem 4. 12. 1953 wirksam. 54 Woratz an das Referat V B 2, z. Hd. Herrn Grosse, 25. 11. 1953. BArch B 102/58725. 55 Ebd. 56 Woratz an die Bundesstelle für den Warenverkehr der gewerblichen Wirtschaft, 2. 12. 1953. BArch B 102/73547. 50 51 52 53
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brachten Vertreter des AA und des BWM das Thema des Kaffeeboykotts direkt mit der Frage der deutschen Vermögen in Verbindung.57 Auch in den USA wurde die Möglichkeit eines Kaffeeembargos erörtert: Wie einige freigegebene Dokumente aus US-amerikanischen Archiven zeigen, dachten CIA und State Department über diese Option nach. Das State Department lud im November 1953 sogar wichtige Vertreter der Kaffeebranche ein, um deren Standpunkt zu sondieren. Die fünf eingeladenen Vertreter lehnten ein Embargo einhellig ab und argumentierten, es werde sich als wenig wirksam erweisen, da der guatemaltekische Kaffee auf Schleichwegen weiter ins Land kommen werde. Einerseits könne der guatemaltekische Kaffee als mexikanisch oder salvadorianisch deklariert werden, andererseits gebe es die Möglichkeit eines Re-Imports über den europäischen Kaffeemarkt. Außerdem seien erhebliche finanzielle Verluste für US-amerikanische Investoren zu befürchten, die bereits Kredite an guatemaltekische Produzenten zur Vorfinanzierung der Ernten gezahlt hätten.58 Ähnliche Überlegungen hatte die CIA ebenfalls angestellt. Sie ging davon aus, guatemaltekischer Kaffee würde problemlos weiter auf den europäischen Märkten Aufnahme finden. Außerdem seien erhebliche Probleme für die interamerikanischen Beziehungen zu befürchten.59 Eine Einflussnahme auf die europäischen Regierungen, um ein Kaffeeembargo gegen Guatemala durchzusetzen, strebten die USA nicht an, denn zu diesem Zeitpunkt war bereits die Entscheidung für die gewaltsame Intervention gefallen. Als die Senatorin Margaret Chase Smith im Februar 1954 eine Resolution in den Kongress einbrachte, um ein Kaffeeembargo zu etablieren, riet das State Department den Abgeordneten zur Ablehnung der Vorlage. Trotzdem rief der Vorschlag in Guatemala eine heftige öffentliche Debatte hervor; auch im restlichen Lateinamerika wuchs daraufhin die Angst vor wirtschaftlichen Sanktionen der USA. Kurz darauf veröffentlichte das Kaffeekomitee der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) eine Resolution gegen ein Kaffeeembargo, die von allen Mitgliedsstaaten außer den USA angenommen wurde.60 Die deutschen Diplomaten beobachteten die Debatten in den USA, wobei sich der Gesandte in El Salvador, Eugen Klee, 1954 gegen ein deutsches Embargo aussprach. Dieses wäre nur sinnvoll, wenn die USA gleichzeitig einen derartigen Schritt be57 Vgl. z. B. Entwurf Wiederaufnahme diplomatischer und konsularischer Beziehungen mit Guatemala März 1955. B 11/1321 PAAA. 58 Memorandum of Conversation, by the Director of the Office of Regional American Affairs, 25. 11. 1953, https://history.state.gov/historicaldocuments/frus1952 – 54v04/d426 (abgerufen 4. 4. 2014). 59 Memorandum: The Coffee Industry in Guatemala, 31. 7. 1953, http://www.foia.cia.gov/sites/ default/files/document_conversions/89801/DOC_0000914853.pdf (abgerufen 4. 4. 2014). 60 Piero Gleijeses, Shattered Hope (Anm. 30), S. 263 – 265; Nick Cullather: Secret History. The CIA’s Classified Account of its Operations in Guatemala 1952 – 1954, Stanford 1999, S. 41, 52.
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schlössen, womit er im April 1954 nicht mehr rechnete. Außerdem stärke die hohe Nachfrage und die hohen Kaffeepreise die Position der guatemaltekischen Regierung.61 Nach Arbenz’ Sturz im Juni 1954 waren sowohl die deutschen Nachfahren als auch die deutschen Diplomaten voller Hoffnung, mit dem Regierungswechsel würde sich der Konflikt über die enteigneten Vermögen schnell lösen lassen.62 Doch schon Ende des Jahres sanken die Erwartungen stark ab. Castillo Armas erklärte in einer Pressekonferenz, die Frage der deutschen Vermögen müsse gelöst werden, aber guatemaltekisches Land solle den Guatemalteken gehören. Sein einziges Angebot an die deutsche Seite war eine begrenzte Entschädigung der ehemaligen Eigentümer.63 Die deutsche Botschaft hob in einem Bericht das große Ausmaß der Korruption hervor : »Das härteste Problem für die Innenpolitik der Regierung sind aber die eigenen Leute. Einmal sind es jene Kapitalisten alten Schlages, die in der Castillo Armas Regierung nur eine Restauration früherer feudaler Vorrechte erwarteten, ohne bereit zu sein, irgendwelche sozialen Verpflichtungen zu übernehmen. […] Neben dieser Gruppe handelt es sich um die sogenannten Freunde des Präsidenten oder Parteigänger, die zu ihm Zugang haben. Im guatemaltekischen Volksmund werden sie auch ›Haifische‹ genannt. Meistens sind es Anwälte, die sich dank ihres Berufes leicht in die Geschäfte oder Belange verschiedenster Art einzuschalten vermögen. Ihnen gleichzustellen ist ein großer Teil der Beamtenschaft, auf die bereits in dem Absatz ›Staatsapparat‹ eingegangen wurde. Die Korruption geht so weit, dass es heute in Guatemala zur stehenden Redensart geworden ist: ›Ohne mordida‹, d. h. ohne Bestechungsgeld ist nichts zu erreichen.«64
Im Zuge der Rücknahme der Agrarreform hatte Castillo Armas seine Anhänger mit mehreren Kaffeefincas aus deutschem Besitz begünstigt. Dies war einer der Gründe, warum die Regierung vor einer Rückgabe zurückschreckte. Eugen Klee nannte als weiteren Grund finanzielle Probleme der Regierung.65 Seiner Einschätzung nach war die Frage der deutschen Vermögen in Guatemala »ein Politikum ersten Ranges«; für die guatemaltekischen Politiker stelle das Vermögen »einen Staat im Staate« dar. Laut Klee hielten große Teile der guatemaltekischen Öffentlichkeit die Enteignung der Deutschen für notwendig.66 Hier zeigt sich erneut, welch hohe Bedeutung die Auseinandersetzung Mitte der 1950er-Jahre in Guatemala hatte. Die Studiengesellschaft für privatrechtliche Auslandsinteres61 Gesandtschaft der BRD San Salvador an AA, 18. 2. 1954, BArch B 102/57981; Deutsche Gesandtschaft San Salvador an AA, 2. 4. 1954, B 11/337, PAAA. 62 Botschaft der BRD in San Salvador an AA, 6. 5. 1955. B 11/1321, PAAA. 63 Gesandtschaft der BRD in San Salvador an AA, 30. 11. 1954, BArch B 126/9128. 64 Botschaft San Salvador an AA, 20. 9. 1955. BArch B 102/57981. 65 Botschaft der BRD in San Salvador an AA, 25. 10. 1954. BArch B 102/57981. 66 Botschaft der BRD in San Salvador an AA, 20. 9. 1955, BArch B 102/57981.
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sen kam 1956 zu dem Schluss, die Situation unter der Regierung Castillo Armas sei schlimmer als unter der Regierung Arbenz.67 Trotzdem hegten die bundesdeutschen Diplomaten weiter Illusionen über ihre Verhandlungsmacht und fielen dabei ebenfalls immer wieder in alte Denkmuster zurück. Sobald ihnen das Regime auch nur einen kleinen Finger reichte, begannen sie erneut voller Hoffnung Verhandlungen, die jedoch ins Leere verliefen. Dieses Muster wiederholte sich regelmäßig bis 1959 und ist auf den hohen Grad an personeller Kontinuität im Auswärtigen Amt zurückzuführen. Viele der deutschen Diplomaten waren nach wie vor von der Notwendigkeit nationaler Machtpolitik auf bilateraler Ebene überzeugt.68 Der Fall Nottebohm wurde in den Verhandlungen wegen des Prozesses vor dem Internationalen Gerichtshof immer wieder zitiert. Hermann Töpke glaubte, der Prozess wirke sich für die anderen enteigneten Deutschen negativ aus. Auch ein Vertreter der deutschen Botschaft in San Salvador bemerkte, der Fall Nottebohm sei die »schwerste Belastung der Verhandlungen«69. Dies ist wenig verwunderlich, entfielen doch auf das Eigentum 40 Prozent der Gesamtschadenssumme der Enteignungen.70 Im April 1955 erging das Urteil: Der Internationale Gerichtshof kam zu dem Ergebnis, Liechtenstein sei nicht für den diplomatischen Schutz von Friedrich Nottebohm zuständig. Dieser habe viel engere Anbindungen an Deutschland und Guatemala gehabt, während nach Liechtenstein nur wenige Bezüge beständen. Der Prozess gilt im internationalen Völkerrecht als Präzedenzfall für die Wirksamkeit von Einbürgerungen.71 Der guatemaltekische Präsident Castillo Armas wertete das Urteil als Beweis für die Rechtmäßigkeit der Enteignung der deutschen Einwanderer. Deutsche Nachfahren sollten in Zukunft in Guatemala Land besitzen können, allerdings dürfe deren Besitz nicht mehr so groß werden, dass er als »Beleidigung landloser Guatemalteken« angesehen werden könne.72 Die Mitglieder der guatemaltekischen Delegation in Den Haag übten später einen wesentlichen Einfluss bei den Verhandlungen mit der Bundesrepublik aus. Adolfo Molina Orantes war seit 1957 Außenminister, 67 Vermerk betr. Das deutsche Vermögen in Guatemala, 28. 5. 1956. BArch B 102/57981. 68 Vgl. dazu Eckart Conze: Das Auswärtige Amt. Vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, München 2013; Eckart Conze u. a.: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, 2. Auflage, München 2010. 69 Botschaft San Salvador an AA, 22. 6. 1955. B 11/1322 PAAA. 70 Botschaft der BRD, San Salvador an AA, 7. 2. 1955. BArch B 102/57981. 71 Florian Becker, IGH v. 6. 4. 1955 – Nottebohm. Zu den minimalen Standards völkerrechtlich relevanter Staatsangehörigkeit, in: Jörg Menzel (Hg): Völkerrechtsprechung. Ausgewählte Entscheidungen zum Völkerrecht in Retrospektive, Tübingen 2005, S. 147 – 153; International Court of Justice (Hg.): Pleadings, Nottebohm Case (Liechtenstein v. Guatemala) Vol. I (= I), The Hague 1955; Kurt Lipstein, Erwin H. Loewenfeld: Liechtenstein gegen Guatemala. Der Nottebohm-Fall, in: Adulf Peter Goop (Hg): Gedächtnisschrift Ludwig Marxer, Zürich 1963, S. 275 – 325. 72 Botschaft der BRD San Salvador an AA, 30. 4. 1955. BArch B 126/9128.
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Oberst Victor Salomûn Pinto Jurez leitete das Referat für deutsche Angelegenheiten im Außenministerium.73 Die Bundesregierung erhielt das Kaffeeembargo bis 1956 aufrecht, obwohl es sich als wenig effizient erwies und von verschiedenen Seiten kritisiert wurde.74 Wie sich an den Importstatistiken ablesen lässt, gelangte trotz des Boykotts weiterhin guatemaltekischer Kaffee ins Land (s. Abb. 2). Die Kaffeehändler importierten einen Teil des Kaffees über die Niederlande oder verkauften guatemaltekischen Kaffee in Säcken für mexikanischen Kaffee, was kaum zu kontrollieren war.75 Bereits im Oktober 1955 musste das BWM zugeben, dass der Boykott praktisch wirkungslos war. Vertreter der Wirtschaft, darunter die Firmen Siemens, Krupp und Bayer setzten sich beim BWM für eine Normalisierung der Beziehungen zu Guatemala und die Aufhebung des Boykotts ein.76 1955 vergab die guatemaltekische Regierung einen großen Auftrag für eine Telefonanlage an Siemens – ein Entgegenkommen, das erneut für Diskussionen über die Importsperre sorgte. Insgesamt hatte der Auftrag ein Volumen von 13 Millionen DM, doch die guatemaltekische Regierung zögerte die Unterzeichnung des Vertrages hinaus und verwies dabei auf den noch existierenden Kriegszustand. Anwesend bei den Verhandlungen war ein Vertreter der Firma Nottebohm, die ein großes Interesse am Zustandekommen des Geschäfts hatte, weil die im Besitz der Nottebohm-Familie befindliche Firma Agro Comercial77 Siemens in Guatemala repräsentierte.78 Als die Vorbereitungen für eine Liberalisierung der Kaffeeimporte begannen, konnten die Verantwortlichen im BWM die Blockade gegen den guatemaltekischen Kaffee nur noch unter Schwierigkeiten aufrechterhalten. Deshalb schlugen die Diplomaten vor, die Aufhebung des Boykotts als ein Zugeständnis in den Verhandlungen über die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu
73 Abschrift eines Berichts aus San Salvador an das AA, 22. 6. 1955; Eilbrief des AA an den Bundesminister für Wirtschaft, 31. 1. 1956. BArch B 102/57981. Deutsche Delegation für Guatemala, Bericht Nr. 1, 20. 6. 1956. BArch B 102/57982. 74 Walter de Wit, Hamburg an BWM, 18. 11. 1954, BArch B 102/73548; Verein der am Caffeehandel betheiligten Firmen an BWM, 26. 1. 1955, BArch B 102/73549. 75 Vgl. z. B. Protokoll einer Besprechung der Mittelamerika-Obleute mit Herrn Rolf Grosse vom BWM, 11. 7. 1955, BArch B 102/57981; Niederschrift über Ressortbesprechung betreffend Guatemala und Honduras, 18. 10. 1956, BArch B 102/57981. 76 Niederschrift über Ressortbesprechung betreffend Guatemala und Honduras, 18. 10. 1956, BArch B 102/57981. 77 Die Firma war 1952 von Karl Heinz Nottebohm in Guatemala gegründet worden. 78 Siemens & Halske Aktiengesellschaft, Außenstelle Bonn an Ministerialdirektor Dr. Reinhardt, BWM, 4. 1. 1956, BArch B 102/57981; Botschaft San Salvador an AA, 11. 6. 1956. BArch B 102/57982; Ergebnisprotokoll über die Ressortbesprechung betr. Guatemala am 20. Januar 1956. B 11/1322, PAAA.
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Abb. 2: Kaffeeimporte aus Guatemala, 1949 – 1960 (basiert auf: Statistisches Bundesamt, Hg.: Der Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland. Teil 2. Der Spezialhandel nach Waren, Wiesbaden 1949 – 1960)
präsentieren, um so eine bessere Verhandlungsposition zu erreichen.79 Im Verlauf des Jahres 1956 verstärkten die Kaffeefirmen und die Deutsche Botschaft in San Salvador ihren Druck, das Embargo aufzuheben. Der Handelspolitische Ausschuss entschied, die Einfuhrsperre im Juni 1956 zu beenden.80
Die Eskalation des Konflikts im Jahr 1956 Doch bevor die Entscheidung umgesetzt werden konnte, eskalierte der Konflikt: Die guatemaltekische Regierung verhängte als Antwort auf den Kaffeeboykott einen generellen Einfuhrstopp für deutsche Waren.81 In einem offiziellen Dokument begründete sie diese Maßnahme mit dem »diskriminierenden Charakter« des deutschen Boykotts. Nach zwei Jahren sehe sie sich gezwungen, den
79 Dr. Thieme, Referat IV A 6 an die Rechtsabteilung des AA, 25. 7. 1955, BArch B 102/57981; Botschaft der BRD in San Salvador an AA, 5. 8. 1955. BArch B 126/9128. 80 Bericht zur Frage der Wiederanknüpfung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Guatemala sowie zur Rückgabe des ehemaligen deutschen Vermögen, 8. 5. 1956; Botschaft der BRD in San Salvador an AA, 24. 5. 1956. BArch B 102/57981; BWM an den Interministeriellen Einfuhrausschuss, 29. 5. 1956. BArch B 102/57981. 81 Telegramm der Botschaft in San Salvador an AA, 19. 5. 1956, BArch B 102/57981.
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»Kriegszustand in begrenzter Form wiederherzustellen«.82 Außerdem gab es im Juni 1956 eine neue Welle an Enteignungen. Betroffen waren unter anderem Matilde de Quirin, die Familie Sapper, Arnoldo Daetz und Mercedes Escamilla Hegel.83 Die Bundesregierung entsandte eine Delegation nach Guatemala, um erneut über den enteigneten Besitz und den Wiederaufbau der diplomatischen Beziehungen zu verhandeln. Es sollte ein »Modus vivendi« in der deutschen Vermögensfrage gefunden werden, um den Weg für die Aufnahme offizieller Beziehungen freizumachen.84 Während die Delegation nach der Ankunft sehr positive Berichte schickte und voller Hoffnungen war, eine Lösung zu erreichen, wandelte sich die Situation im Juli 1956. Plötzlich verlangte die guatemaltekische Seite erneut einen Verzicht auf den enteigneten Besitz. Nach Angaben des Leiters der Delegation übten Militärkreise, die direkt von den Enteignungen profitiert hatten, großen Druck auf den Präsidenten aus. Da er keine Perspektiven mehr für Verhandlungen sah, bat Karl Panhorst um die Erlaubnis zur Rückkehr.85 In einem anschließend verfassten Bericht beschrieb er Guatemala als einen in Lateinamerika einzigartigen Fall. Das Land sei ein »Indianerland«, das bis vor wenigen Jahrzehnten von einer kleinen weißen Schicht beherrscht wurde.86 Während die diplomatischen Berichte normalerweise einen formellen Stil aufweisen, änderte sich hier der Tonfall: Es trat eine abfällige und diskriminierende Sicht auf Guatemala zutage. Auch die deutsche Presse berichtete ausführlicher über den Konflikt: »Trotziges Guatemala« und »Guatemala auf dem Kriegspfad« betitelte Die Zeit ihre Artikel zu dem Thema.87 Den deutschen Beobachtern war es nur schwer begreiflich, wieso ein kleines Kaffee produzierendes Land dem Druck der deutschen Regierung nicht nachgab. Nach der Abreise der Delegation formierte sich in Guatemala Opposition gegen die Regierungspolitik. In einer von 160 Kaufleuten unterzeichneten Petition an den Präsidenten hieß es, das Embargo gegen deutsche Waren schädige die guatemaltekischen Interessen.88 Die guatemaltekische Regierung blieb trotzdem bei ihrem harten Kurs und verkündete, die Enteignungsgesetze seien 82 Übersetzung der Zusammenstellung des guatemaltekischen Standpunktes (Überreicht am 7. Juli 1956), 7. 7. 1956, BArch B 102/57982. 83 Kurt Lindener an Legationsrat Dr. Moltmann, AA, 8. 11. 1956. Die Handelskammer wandte sich deshalb ebenfalls an das BWM, Vgl. HK Hamburg und BWM, 23. 10. 1956, BArch B 102/ 57983. 84 Protokoll über die Ressortbesprechung am 4. 6. 1956 über Guatemala, 4. 6. 1956, BArch B 102/ 57981. 85 Deutsche Delegation für Guatemala, Bericht Nr. 4, 7. 7. 1956, BArch B 102/57982. 86 Abschrift, Notizen von Dr. Panhorst, 30. 7. 1956, BArch B 102/57982. 87 Trotziges Guatemala. Die Zeit, 21. 6. 1956; Guatemala auf dem Kriegspfad. Die Zeit, 6. 12. 1956. 88 Botschaft der BRD in San Salvador an AA, 14. 8. 1956, BArch B 102/57982.
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definitiv, was auf deutscher Seite für große Unruhe sorgte. Erst am 7. Dezember 1956 hob die guatemaltekische Regierung das Embargo auf.89 1957 und 1958 gab es nicht mehr viel Bewegung in den Verhandlungen. Dies änderte sich erst, als der neue Präsident Miguel Ydgoras Fuentes sein Amt antrat, ebenfalls ein Militär. Seine Regierung zeichnete sich durch Inkompetenz und ein hohes Maß an Korruption aus.90 Zuvor hatte der Übergangspräsident noch schnell die Gelegenheit genutzt, Teile des beschlagnahmten Eigentums zu »Schleuderpreisen« an seine Freunde und Parteianhänger zu verteilen.91 Wie auch beim Amtsantritt von Castillo Armas waren die deutschen Nachfahren und Diplomaten voller Erwartungen.92 Der Präsident hatte den Ruf, »deutschfreundlich« zu sein, und versprach, sich der Frage der deutschen Vermögen anzunehmen.93 Im Laufe seiner politischen Karriere hatte er enge Netzwerke zu deutschen Einwanderern aufgebaut: Er war jefe poltico in den Kaffeeanbauregionen Retalhuleu und San Marcos. Dazu berichtete die deutsche Gesandtschaft in San Salvador : »Das Departement San Marcos ist das, in dem die meisten deutschen Kaffeeplantagen lagen. Dort hatte er die Gelegenheit zu einem engeren Kontakt mit deutschen Plantagenbesitzern, die er mit Vorliebe für Ehrenposten wie Bürgermeister, Präsidenten für Kommissionen für den Wegebau etc. auswählte.«94
In den 1940er-Jahren war Ydgoras Fuentes guatemaltekischer Botschafter in London und setzte sich für die Rückkehr der repatriierten Deutschen nach Guatemala ein. Doch wieder wurden die Hoffnungen der deutschen Nachfahren enttäuscht, weil Ydgoras Fuentes in den ersten Monaten seiner Präsidentschaft keine Entscheidungen in ihrem Sinne traf. Seine Versuche, das Problem der deutschen Vermögen zu lösen, trafen auf Widerstand im guatemaltekischen Kongress.95 Schließlich gab Ydgoras Fuentes dem Druck nach und verkündete einen Plan, die Fincas Nacionales an guatemaltekische Staatsbürger zu versteigern. Davon erhoffte er sich Einnahmen von 150 Millionen US-Dollar. In diesem Zusammenhang äußerte er sich sehr kritisch über die Rolle der Deutschen in Guatemala, die das Land nur ausgebeutet und nicht zu seiner Entwicklung
89 Jahresbericht der Wirtschaftsabteilung über Guatemala zum 31. 12. 1956, gez. von Mumm, 21. 3. 1957, BArch B 102/57983. 90 Roland H. Ebel: Misunderstood caudillo. Miguel Ydgoras Fuentes and the failure of democracy in Guatemala, Lanham (MD) 1998; Jim Handy : Gift of the Devil: A History of Guatemala. Boston (Mass.) 1984, S. 152 f. 91 Botschaft der BRD, Salvador, Noebel an AA, 14. 3. 1958, BArch B 126/9128. 92 Botschaft San Salvador an AA, 27. 2. 1958, BArch B 126/9128. 93 Anlage zum Bericht der Botschaft der BRD in San Salvador, 29. 9. 1955, B 11/1321, PAAA. 94 Ebd. 95 Botschaft San Salvador, von Mumm an AA, 21. 8. 1958, BArch B 126/9128.
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beigetragen hätten.96 Andererseits erkannte der Präsident die Entschädigungsansprüche von Carmen Nottebohm97 und Erika von der Goltz98 an, die sich auf über zwei Millionen Quetzales beliefen.99 Diese Summe wurde nie ausbezahlt, sondern stattdessen wurden die Privathäuser der Familie und vier wertvolle Fincas zurückgegeben. Für diese Regelung musste die Familie allerdings erhebliche Bestechungsgelder zahlen; ein »öffentliches Geheimnis«, schrieb der Botschafter in San Salvador in seinem Bericht.100 Gleichzeitig wurden Gerüchte laut, die guatemaltekische Regierung strebe eine informelle Lösung an und wolle Vereinbarungen in den Einzelfällen treffen.101 In der Praxis bedeutete dies, dass die deutschen Nachfahren Bestechungssummen an die Regierung zahlten, um ihre Fincas zurückkaufen zu können. Pablo Brose, der im Auftrag der Hamburger Conrad Hinrich Donner Bank über die Rückgabe bestimmter Eigentümer verhandelte, bemerkte dazu, Ydgoras Fuentes sei deshalb der Spitzname Mr. Ten Percent verliehen worden.102 Während seiner Amtszeit war ein weiterer informeller Vermittler in Guatemala tätig: Es handelte sich um Claudio Riedel Telge, der für die Hamburger Reederei Laeisz arbeitete. Zusammen mit dem Hamburger Abgeordneten der CDU, Willi Ganssauge, intervenierte er in den Verhandlungen mit der guatemaltekischen Regierung. Ydgoras Fuentes sagte daraufhin zu, das Eigentum der Firma Laeisz zurückzugeben.103 Nachdem immer mehr Fälle durch individuelle Verhandlungen beigelegt wurden, nahmen Guatemala und die Bundesrepublik Deutschland die diplomatischen Beziehungen schließlich 1959 wieder auf. Erster deutscher Botschafter wurde der Leiter der Delegation aus dem Jahr 1956, Karl Panhorst. Im Gegensatz zu vorherigen Verhandlungsführern war er erst nach dem Krieg in den diplomatischen Dienst gewechselt und scheute nicht davor zurück, Probleme wie Konflikte aus der NS-Zeit und die Bereicherung beim Erwerb der Kaffeefincas zu thematisieren. Die Diskussionen um den enteigneten Besitz gingen bis Anfang der 1960er-Jahre weiter. In einem Bericht aus dem Jahr 1961 nannte Panhorst die Angelegenheit ein zentrales Element seiner Arbeit. Aufgrund der vielfältigen Einzelfälle hielt er eine einheitliche Lösung für unmöglich. 96 Botschaft San Salvador an AA, 14. 11. 1958, B 33/121, PAAA. 97 Carmen Nottebohm (*1920) war die Tochter Arthur Nottebohms und eine Nichte Friedrich Nottebohms. 98 Erika von der Goltz (*1916), geb. Nottebohm war ebenfalls eine Tochter Arthur Nottebohms. Sie heiratete 1936 Rüdiger von der Goltz, der danach ebenfalls für die Firma Nottebohm in Guatemala arbeitete. 99 Botschaft der BRD, Salvador, von Mumm an AA, 13. 9. 1958. BArch B 126/9128. 100 Botschaft der BRD, San Salvador an AA, 26. 10. 1959. BArch B 126/38026. 101 Botschaft San Salvador an AA, 21. 8. 1958, BArch B 126/9128. 102 Transkript Interview mit Pablo Brose, S. 1 f. und 31. 103 Botschaft San Salvador an AA, 15. 2. 1959, B 33/122 PAAA.
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Vielmehr sollten individuelle Verhandlungen geführt werden. Nach langwierigen Auseinandersetzungen vereinbarten beide Seiten schließlich eine Fall-zuFall-Lösung. Um die Einzelfälle zu beurteilen, baute Panhorst einen Kreis aus Vertrauensleuten auf, zu dem drei Guatemalteken zählten, darunter der persönliche Ratgeber des Präsidenten, Jos¦ Guirola. Des Weiteren waren zwei deutsche Nachfahren, David Sapper und Ernesto Schaeffer,104 vertreten sowie mit Enrique Engel ein Mitglied der jüdischen Gemeinschaft.105 Im Juli 1962 schätzte Panhorst, es sei zwischen einem Drittel und der Hälfte des enteigneten Besitzes zurückgegeben worden.106 Die Aufhebung der Enteignungsgesetze zog sich noch bis März 1963 hin und wurde von Panhorst als »Schlussstrich« bewertet.107 Guatemalas Anteile auf dem deutschen Kaffeemarkt stiegen zwar nach der Beendigung des Embargos von 1,2 Prozent (1956) auf 8,3 Prozent (1959) an; die einstmals hohen Anteile von 20 Prozent wurden jedoch nicht wieder erreicht.
Schluss In der Nachkriegszeit gab es ein explosives Gemisch aus unterschiedlichen Interessen an den deutschen Vermögen, insbesondere an den großen Kaffeefincas. Die Intervention von korrupten Militärangehörigen, enteigneten Deutschen, Kaffeefirmen sowie die außen- und wirtschaftspolitischen Interessen beider Regierungen verhinderten eine schnelle Einigung. Die Kaffee-Akteure reaktivierten im Verhandlungsprozess alte Handels- und Kommunikationsnetze aus der Zeit vor Kriegsbeginn, doch die alten Rezepte zur Krisenbewältigung funktionierten nicht mehr. Während sich einige der Geschädigten an den deutschen Staat wandten, suchten andere individuelle Wege, um ihre Vermögen zurückzuerhalten. Hohe Anwaltshonorare und Bestechungssummen konnten sich nur diejenigen leisten, die einen Teil ihres Vermögens über den Krieg gerettet hatten. Die politischen Konflikte über den Nationalsozialismus waren dabei noch bis Anfang der 1960er-Jahre präsent und spalteten die die Gemeinde der Deutschen in Guatemala. Kaffee war sowohl im Krieg als auch danach ein zentrales Element des Konflikts: Während die USA Kaffee als Druckmittel benutzten, um die Enteignung der Deutschen durchzusetzen, versuchte die Bundesregierung später, mit einem Kaffeeboykott die Regierung Arbenz unter 104 Ernesto Schaeffer (1884 – 1962) war ein sehr erfolgreicher Unternehmer, der zahlreiche repräsentative Funktionen ausübte. U.a. war er Leiter der Empresa Guatemalteca de Electricidad (1923– 1939) und Präsident der Industrie- und Handelskammer (1934 – 37). Vgl. Flavio Rojas Lima (Hg.): Diccionario histûrico biogrfico de Guatemala. Guatemala 2004, S. 834. 105 Botschaft in Guatemala, Karl Panhorst an AA, 5. 4. 1961. B 33/237, PAAA. 106 Botschaft in Guatemala an AA, 4. 7. 1962. BArch B 126/38026. 107 Botschaft in Guatemala an AA, 20. 3. 1963, BArch B 126/38026.
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Druck zu setzen und die Rückgabe des deutschen Eigentums zu erreichen. Der Boykott erwies sich jedoch als nicht sehr effizient, da trotzdem weiter guatemaltekischer Kaffee auf den deutschen Markt gelangte. Ein Embargo konnte nur Erfolg haben, wenn alternative Märkte blockiert waren, wie während des Zweiten Weltkrieges, als die USA mit der Androhung, keinen zentralamerikanischen Kaffee mehr abzunehmen, die Enteignungspolitik durchsetzten. Der Konflikt um die enteigneten Vermögen verhinderte, dass Guatemala seine Position auf dem deutschen Kaffeemarkt wiederherstellen konnte. Die Nachfrage nach den zentralamerikanischen Qualitätskaffees wurde in der Phase des Embargos vor allem mit Importen aus El Salvador und Costa Rica gedeckt. Der Konflikt zeigt, wie sich das Verhältnis zwischen Deutschland und den Kaffee produzierenden Ländern Zentralamerikas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewandelt hatte. Bereits im Ersten Weltkrieg waren die deutschen Einwanderer in Guatemala enteignet worden, konnten jedoch innerhalb von zwei Jahren eine Rückgabe ihres Besitzes erreichen. Trotzdem teilten deutsche Diplomaten und Kaffee-Akteure in dieser Zeit eine Erfahrung: Sie konnten ihre Interessen nicht mehr so uneingeschränkt durchsetzen, wie dies noch im 19. Jahrhundert der Fall war. Im Hintergrund stand nicht mehr das wirtschaftlich einflussreiche Deutsche Kaiserreich mit seinen Kolonien, sondern die neu gegründete, politisch und wirtschaftlich instabile Weimarer Republik. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Ausgangslage anders: Die Diplomaten der frühen Bundesrepublik verhielten sich gegenüber den Unterstützungsanfragen aus Guatemala zunächst zurückhaltend. Von den Qualitätskaffees abgesehen besaß Zentralamerika für den Außenhandel der Bundesrepublik keine hohe Priorität. Anders sah dies in Mexiko aus, wo ein großer Markt für deutsche Produkte gesehen wurde. Dementsprechend konnte der Konflikt hier schneller behoben und ein neuer Handelsvertrag abgeschlossen werden. In Guatemala trugen zwei ganz unterschiedliche soziale Gruppen den Widerstand gegen die dominante Position der deutschen Einwanderer in der Kaffeebranche: Die Eliten fürchteten die Konkurrenz und den wachsenden Einfluss, während die Landarbeiter gegen schlechte Arbeitsbedingungen und die Konzentration des Landbesitzes protestierten. Nach dem Sturz von Jacobo Arbenz hofften deutsche Einwanderer und Diplomaten auf eine schnelle Rückgabe des deutschen Besitzes, ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg. Doch auch die guatemaltekischen Militärs schlugen in den 1950er-Jahren nationalistische Töne an, um die Enteignungen zu rechtfertigen. Damit knüpften sie an die gesellschaftliche Stimmung in Guatemala an, vertuschten aber gleichzeitig ihre Selbstbereicherung. In dieser Situation gab es für die offiziellen Verhandlungen nur wenige Spielräume, weshalb viele der Fälle individuell und mittels von Bestechungszahlungen beigelegt wurden.
Bhaswati Bhattacharya
Kaffeekonsum in Indien: ein Blick auf die Vermarktung von Kaffee in Indien, 1935 – 20101
Die historische Forschung über Welthandelsgüter ist bisher (mit wenigen Ausnahmen) von der räumlichen Trennung von Produktion und Konsum ausgegangen, weshalb es so aussieht, als produzierten die Länder des globalen Südens die klassischen Handelswaren ausschließlich für den Verbrauch auf der nördlichen Halbkugel. Diese Sichtweise wird zum Beispiel deutlich in den Arbeiten von Sidney Mintz, wo die Sphären der Produktion und des Konsums klar voneinander getrennt werden.2 Treffende Beispiele dafür kann man in der Art und Weise finden, wie in populären Produktstudien Konsumgeschichte erzählt wird: Hier wird die unkritische, romantische Biografie von Produkten erzählt, die angeblich eine lokale und obskure Herkunft haben und erst durch den Kontakt mit den Europäern den Status einer Handelsware und ihre weltweite Bedeutung erlangen. Erst indem sie die Restriktionen des privilegierten Konsums, moralisch-medizinische Bedenken, gesetzliche Verbote und europäische Produktionsbeschränkungen überwinden, können sie massenhaft konsumiert werden und dann »die Welt verändern«. Es ist eine Folge dieser Sichtweise, dass sich die Untersuchungen zum Thema Konsum nur um den Westen drehen.3 Eine kritische Überprüfung zeigt jedoch, dass ein erheblicher Teil dieser Handelswaren in den Ländern verbraucht wird, wo sie erzeugt werden. Indien hat zum Beispiel nicht nur die größte Teeproduktion der Welt, sondern auch den höchsten Verbrauch. Brasilien, das die größte Kaffeeausfuhr der Welt verzeichnet, verbraucht auch gut 40 Prozent seiner Produktion und ist das zweitwichtigste Konsumland. 1 Diese Studie ist im Rahmen eines laufenden Forschungsprojektes zur Konsumgeschichte des Kaffees in Indien am Zentrum für moderne Indienstudien der Georg-August-Universität Göttingen entstanden. Die Übersetzung aus dem Englischen hat Volker Wünderich vorgenommen. 2 Sidney Mintz: Sweetness and power : the place of sugar in modern history, New York 1985. 3 S. z. B. Alan Macfarlane, Iris Macfarlane: Green gold: the empire of tea, London 2003; Roy Moxham: Tea: addiction, exploitation and empire, New York 2003; Laura C. Martin: Tea: the drink that changed the world, Tokyo 2007; Mark Pendergrast: Uncommon grounds: the history of coffee and how it changed our world, New York 1999.
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Bhaswati Bhattacharya
Indien behält 30 bis 35 Prozent seiner Kaffeeproduktion für den internen Verbrauch im Land.4 Tee ist zwar das beliebteste Getränk in Nordindien, aber Südindien trinkt Kaffee. Dieser Essay beschäftigt sich mit der Konsumgeschichte des Kaffees in Indien im 20. Jahrhundert, und er möchte eine deutliche Lücke in der Geschichtsschreibung über Heißgetränke im globalen Süden füllen. Nach Indien kam der Kaffee im 16. Jahrhundert durch die Kontakte von Händlern, Diplomaten und religiösen Gruppen im Gebiet des Indischen Ozeans. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts scheint sich die Gewohnheit des Kaffeegenusses aber auf die Mogul-Elite beschränkt zu haben. Der Kaffee wurde in den Bergregionen des heutigen Staates Karnataka angebaut und blieb ein kleinbäuerliches Erzeugnis, das lokal vermarktet wurde.5 Obwohl die kommerzielle Produktion um die Mitte des 19. Jahrhunderts begann, war der indische Beitrag zum Weltmarkt bis in die 1940er-Jahre relativ unbedeutend. In der Weltkaffeestatistik fiel Indien unter die Kategorie »andere«, was bedeutete, dass das Land nicht mehr als ein Prozent zur Weltproduktion beisteuerte.6 Der Kaffee spielte trotzdem eine wichtige Rolle für die indische Volkswirtschaft, insbesondere für die Bundesstaaten Karnataka und Tamil Nadu, wo Kaffee angebaut und exportiert wurde. Aus diesem Grund haben die Trends auf dem Weltmarkt das Schicksal der Kaffeeindustrie in Indien unmittelbar mitbestimmt. Das betraf nicht nur den Umfang der Exportproduktion, sondern auch die Verfügbarkeit der Ware und ihren Preis auf dem Binnenmarkt.7 Bis in die 1930er-Jahre ging der größte Teil der indischen Kaffeeproduktion ins Ausland. Aber die Weltwirtschaftskrise mit ihrem Überangebot ab 1929 und der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs veränderten die Lage. Als Frankreich zusammenbrach und Hitlers Armeen Norwegen und die Niederlande besetzten, verlor die indische Kaffeeindustrie einen großen Teil ihrer Exportmärkte und geriet in eine Krise. Die Kaffeeproduktion in Indien liegt weitgehend in der Hand von Kleinbetrieben. 98 Prozent der Betriebe haben nur 10 Hektar Land oder weniger ; sie verfügen zusammen über 65 Prozent der Anbaufläche und tragen mehr als 60 Prozent zur nationalen Produktion bei.8 Die gesamte mit Kaffee bepflanzte Fläche nahm von 9000 Hektar (1951) auf 300.000 Hektar (Mitte 1990er-Jahre) zu. Aus Tabelle 1 geht hervor, dass das Produktionsvolumen im selben Zeitraum von 19.000 Tonnen auf 200.000 Tonnen wuchs. Die Produktionszahlen pro Dekade 4 Antony Wild: Black gold: a dark history of coffee, London u. a. 2005. 5 In den Steuerakten der Regionalstaaten finden sich bis in die 1820er-Jahre keine Hinweise auf Kaffee. 6 M. P. Pai: Coffee and I, in: Indian Coffee, Mai 1966, S. 5 – 6. 7 Coffee Board of India: Coffee Statistics, 1952 – 53, S. v. 8 Zur älteren Geschichte der Kaffeeproduktion in Indien s. Bhaswati Bhattacharya: Local history of a global commodity : production of coffee in Mysore and Coorg in the nineteenth century, in: Indian historical review, 41 (2014), S. 1, 67 – 86.
Kaffeekonsum in Indien
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bis zum Jahr 2000 zeigen die langfristige Entwicklung, während die anschließenden, jährlichen Zahlen die Tendenzen nach der Liberalisierung zeigen, als den globalen Investoren erlaubt wurde, Anteile in diesem Wirtschaftsbereich zu erwerben. Die starke Zunahme des Anteils von Robustasorten geht auf besondere Umstände zurück. Robusta gedeiht im heißen Tropenklima besser und kann auch in Höhenlagen unter 900 Meter angebaut werden. Robustasorten erzielen zwar am Weltmarkt einen niedrigeren Preis, aber sie herrschen im Binnenmarkt vor und werden als Zutat zu Kaffeepulver und Mischkaffees diverser Marken auch in Europa nachgefragt. Der relative Rückgang des Anteils der Arabicaproduktion hat damit zu tun, dass die Pflanze in großer Höhe angebaut werden muss, weshalb sie anfällig für Schäden durch Dürre und Frost ist und das Angebot von Jahr zu Jahr fluktuiert.9 Es ist wenig bekannt, dass hochwertiger indischer Arabicakaffee in Europa wegen seiner Qualität zwar sehr geschätzt, aber für Espressomischungen wie Illycaf¦ benutzt und nicht als Kaffee mit Herkunftsbezeichnung verkauft wird.10 In der ganzen Zeit wurden 62 bis 65 Prozent der Gesamtproduktion exportiert, während der interne Verbrauch auf einer Höhe von 35 Prozent stagnierte.11 Diese Aufteilung des Kaffees in Export- und Binnenmarktanteile ist langfristig unverändert geblieben. Die Konsumgeschichte des Kaffees seit 1935 kann in drei Perioden eingeteilt werden, wenn man von der staatlichen Politik und der Infrastruktur ausgeht, die zuerst vom Coffee Cess Committee12 und dann von seinem Nachfolger, dem Coffee Board of India, geschaffen wurde. Diese Behörde regulierte die Vermarktung des Kaffees in Indien bis zur wirtschaftlichen Liberalisierung des Landes Anfang der 1990er-Jahre.
9 K. Srinivasan: Coffee: retrospect and prospect, in: Indian coffee, (January), S. 4 – 10; (February), S. 59 – 64. 10 Kenneth Davids: Something for everyone: India coffees 2009, in: http://www.coffeereview.com/article.cfm?ID=164 (abgerufen 14. 5. 2014). Nach Brasilien und Vietnam ist Indien der drittgrößte Lieferant Italiens, wo dieser Kaffee weiterverarbeitet wird, C. J. Punnathara: Italy plans buying more coffee from India, in: The Hindu business line, September 28, 2007, http://www.thehindubusinessline.com/todays-paper/italy-plans-buying-more-coffeefrom-india/article1670538.ece (abgerufen 14. 5. 2014). 11 Dipak Chatterjee, Additional Secretary Ministry of Commerce, Presidential address, Indian coffee, May 1997, 4. Obwohl traditionell in Indien die »trockene« Aufbereitung verbreitet war (Qualität cherry), ist jetzt die »nasse« Aufbereitung auf dem Vormarsch (Qualität plantation), Velmourougane: Effects of wet processing method and subsequent soaking of coffee under different organic acids on cup quality, in: World Journal of Science and Technology, 7 (2011), S. 1, 32 – 38. 12 »Cess« ist eine Steuer. Das Gesetz, das am 2. 11. 1935 in Kraft trat, sah die Erhebung einer Ausfuhrsteuer bis zu einer Höhe von 1 Rupie pro Tonne vor, The Hindu, August 12, 1936.
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Bhaswati Bhattacharya
Jahr 1950/51
Arabica
%
Robusta
%
Total
15.511
82
3.382
18
18.893
1960/61 1970/71
39.526 58.348
58 53
28.643 51.883
42 47
68.169 110.231
1980/81 1990/91
61.262 78.311
52 46
57.384 91.415
48 54
118.646 169.726
1991/92 1992/93
88.320 73.120
49 43
91.680 96.275
51 57
180.000 169.395
1993/94 1994/95
98.300 79.000
46 44
113.700 101.100
54 56
212.000 180.100
1995/96 1996/97
103.250 90.450
46 44
119.750 114.550
54 56
223.000 205.000
1997/98 1998/99
99.300 97.000
43 37
129.000 168.000
57 63
228.300 265.000
1999/2000 2000/01
119.000 104.400
41 35
173.000 196.800
59 65
292.000 301.200
2001/02 2002/03
121.050 102.125
40 37
179.550 173.150
60 63
300.600 275.275
2003/04 2004/05
101.950 103.400
38 38
168.550 172.100
62 62
270.500 275.500
2005/06 2006/07
94.000 99.700
34 35
180.000 188.300
66 65
274.000 288.000
2007/08 2008/09
92.500 79.500
35 30
169.500 182.800
65 70
262.000 262.300
2009/10 94.600 33 195.000 67 289.600 Tabelle 1: Kaffeeproduktion nach Kaffeesorten in Indien von 1950/51 bis 2009/10 (in Tonnen)13
In der 1. Periode (1935 – 1957) unternahmen erst das Coffee Cess Committee und dann das Coffee Board die ersten Versuche, aktiv in den indischen Kaffeemarkt einzugreifen. Das Ergebnis war das Monopol des Coffee Board über den gesamten Kaffee, der in Indien produziert wurde. In der 2. Periode (1957 – 1995) gab es keine größeren Änderungen im Hinblick auf die Politik und die Struktur des Marktes. Die Vermarktung in der Hand des Coffee Board begünstigte massiv den Export. In der 3. Periode (1996 – 2005) verlor das Coffee Board im Zuge der wirtschaftlichen Liberalisierung die Kontrolle über das Kaffeegeschäft, und private Firmen drangen auf dem Markt vor. Dieser Aufsatz beginnt mit einer Skizze der Situation vor der Schaffung des Coffee Cess Committee im Jahr 1935. 13 Coffee Board of India: Database on coffee: June 2011, Bangalore June 2011, S. 3.
Kaffeekonsum in Indien
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Kaffeeverbrauch und Vermarktung in Indien bis 1935 Bis 1935 war der Kaffeesektor in Indien sehr heterogen strukturiert. Wie bereits erwähnt wurde der Kaffee überwiegend von Kleinbauern in Betrieben mit weniger als 10 Hektar Land angebaut, und die meisten Kaffeeproduzenten hatten keine Anlagen für die Weiterverarbeitung.14 Darum beherrschte eine kleine Zahl von kapitalistischen Weiterverarbeitern und Zwischenhändlern die Kaffeeszene. Mehr als 40 Prozent der Ernte wurde von Weiterverarbeitern übernommen, 20 Prozent von Kommissionsagenten, 15 bis 20 Prozent von ambulanten Händlern, 10 Prozent von Großhändlern und 4 bis 5 Prozent von Maklern. 2 bis 3 Prozent der Ernte vermarkteten die Produzenten selbst. Weiterverarbeiter und Kommissionsagenten machten die Geschäfte im eigenen Namen und fungierten als Geldgeber, Weiterverarbeiter, Vermittler und Aufkäufer für den Großhandel. Diese Geschäftsleute nahmen zu 4 Prozent Zinsen Geld bei den Banken auf und gaben dies als Vorschuss mit erheblichem Aufschlag an die Pflanzer weiter. Die Praxis, sich die Ernte von den Produzenten durch Terminkontrakte im Voraus zu sichern, war verbreitet. Die größte Konzentration von Weiterverarbeitern gab es in Mangalore, dem Hafen an der Konkanküste, der fast 75 Prozent der gesamten Ausfuhren abwickelte. Es gab noch ein paar Weiterverarbeiter in anderen Häfen wie Tellicherry und Calicut in Kerala und im Inland wie Mysore, aber das zweitwichtigste Zentrum nach Mangalore war Coimbatore in der Provinz Madras.15 Großhändler kauften Kaffee von den Pflanzern, Weiterverarbeitern und Kommissionsagenten und vertrieben ihn durch Einzelhändler oder Großhändler in anderen Regionen. Einige Großhändler beschäftigten reisende Agenten, die Bestellungen von regionalen Großhändlern, coffee clubs und Einzelhändlern entgegennahmen. Der größte Teil des indischen Kaffees wurde nach London gebracht, um dort verkauft oder re-exportiert zu werden, und ein Teil des Kapitals, zu dem Kaffeepflanzer in Indien Zugang hatten, stammte von multinationalen Konzernen wie Brooke Bond oder Lipton mit Sitz in London. Trotz der Tatsache, dass der Kaffeeabsatz auf dem Binnenmarkt nicht gezielt gefördert wurde, war Kaffee eine wichtige soziale Institution, besonders in den Anbaustaaten von Südindien. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde Kaffee ein kulturelles Merkmal der Mittelklasse in Tamil Nadu. Nicht nur die Elite – die Tamil-Brahmanen – war dem dunklen Getränk verfallen, sondern der Kaffee sickerte bis zu den Unterschichten auf dem Lande durch.16 Unter den
14 Heute gibt es 78 lizenzierte Weiterverarbeitungsbetriebe im ganzen Land, 57 davon in Karnataka. 15 Alle Angaben in: Report on the Marketing of Coffee in India and Burma, Agricultural Marketing Series No. 21, Government of India Press, New Delhi, 1940. 16 A. R. Venkatachalapathy : In those days there was no coffee: coffee-drinking and middle-class
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Bhaswati Bhattacharya
ersten Unternehmen, die versuchten, einen Inlandsmarkt für Kaffee zu schaffen, war die Firma T.Stanes & Co. aus Coimbatore in Tamil Nadu, die vorwiegend reinen Kaffee verkaufte. Andere, multinationale Firmen wie Brooke Bond (heute Hindustan Unilever), Nestl¦ und Consolidated Coffee Estates (heute Tata Coffee) sind wichtige Unternehmen im Kaffeegeschäft gewesen, aber in dieser frühen Zeit waren alle diese Konzerne meist nachfrageorientiert. Welche Kaffeesorten auf dem indischen Markt zu dieser Zeit verfügbar waren und inwieweit die Verbraucher unterschiedliche Varianten der Bohne kannten, ist aus der vorliegenden Literatur nicht zu erschließen. Man kann aber vom Beginn des 20. Jahrhunderts an zwei gleichstarke, unterschiedliche Positionen erkennen: Die eine verteidigte die Reinheit des Kaffees in seiner »unverfälschten« Form, die andere wollte die Mischung des Kaffees mit Zichorie, um den original »französischen Geschmack« zu erzielen.17 Eine Schwäche des damaligen Systems war der Mangel an Standardisierung im Hinblick auf die Qualität und den Preis der Kaffeebohnen. Typ, Sorte, Größe und Aussehen der Bohne sollten die Grundlage der Qualitätseinstufung bilden, aber die Ernte derselben Plantage konnte von unterschiedlichen Weiterverarbeitern am selben Ort auch unterschiedlich eingestuft werden, von den Weiterverarbeitern an anderen Orten ganz zu schweigen. Hinzu kam, dass die Händler an der Bewertung beteiligt waren, und auch hier taten sich erhebliche Unterschiede zwischen den Beteiligten auf. Die Kaffeepreise richteten sich nach Angebot und Nachfrage auf dem Weltmarkt, aber die Preise auf dem Binnenmarkt lagen im Allgemeinen weit unter denen auf dem Weltmarkt.
1935 – 1957: Das Coffee Board und seine Marktkontrolle War der Kaffeemarkt bis hierhin vollkommen fragmentiert, so war die nun folgende Periode gekennzeichnet durch die langsame Konsolidierung der Kontrolle des Coffee Board über den gesamten Kaffee, der in Indien erzeugt und auf dem nationalen und internationalen Markt verkauft wurde. Die Infrastruktur, die nun geschaffen wurde, blieb bis zum Beginn der 1990er-Jahre mehr oder weniger intakt, und deshalb wollen wir die Maßnahmen im einzelnen verfolgen, die zur Ausweitung des nationalen Marktes ergriffen wurden. Der erste systematische Versuch, »den Verkauf und den Verbrauch von Kaffee culture in colonial Tamilnadu, in: Indian Economic and Social History Research, 39 (2002), S. 2 – 3, 301 – 16. 17 Das napoleonische Kontinentalsystem führte zu Sanktionen des Handels mit Frankreich, und eine Kaffeeknappheit war die Folge. Man begegnete dieser Knappheit durch die Mischung des Kaffees mit Zichorie. In früheren französischen Kolonien wie New Orleans ist der Zichorienkaffee immer noch unter der Bezeichnung »French Coffee« bekannt.
Kaffeekonsum in Indien
185
in Indien zu fördern«, wurde vom Coffee Cess Committee unternommen, also von der ersten gesamtindischen Organisation der Kaffeeindustrie, die durch den Indian Coffee Cess Act von 1935 geschaffen wurde.18 Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und besonders mit der deutschen Besetzung von Belgien, Norwegen und Frankreich ging ein großer Teil des Exportmarktes verloren. Das verursachte eine Krise der Kaffeeindustrie, die das Cess Committee lösen konnte. Es wollte einen fairen Preis für die Erzeuger sichern und Märkte für den Kaffeeüberschuss finden. Dazu entwarfen die Vertreter aller Kaffee-Akteure in Indien einen Plan zur Kontrolle des gesamten Kaffeegeschäftes. Gleichzeitig arbeiteten sie an einem Werbefeldzug auf dem heimischen Markt und beauftragten die bekannte Werbeagentur J. Walter Thompson & Co. mit einer Studie über die Möglichkeiten des Inlandsabsatzes. Im Anschluss an die Entwicklung während der Großen Depression von 1929 vollzog sich im Zweiten Weltkrieg eine Fragmentierung des Weltkaffeemarktes. Um eine gleichbleibende Versorgung sicherzustellen, entwickelten die Kolonialmächte eine Politik der Produktionsanreize in ihren jeweiligen Besitzungen und belegten die Produkte von außerhalb mit Steuern und Quotenbeschränkungen.19 Die Blockade des europäischen Marktes führte zu einem empfindlichen Verfall des Weltkaffeepreises, und dann folgte die Unterzeichnung des Interamerican Coffee Agreement von 1940, mit dem die Einfuhr in die USA quotiert und die Produktion in Lateinamerika heruntergefahren wurde.20 Dieser Prozess brachte den Aufbau zentralisierter, staatlicher Organisationen für die Regulierung der Produktion, der internen Preise und der Ausfuhr in vielen Kaffee produzierenden Ländern in Lateinamerika und Asien mit sich.21 Eine ähnliche Tendenz zeigte sich in Indien, als die exportorientierte Kaffeeindustrie abstürzte und die Pflanzer die Unterstützung des Staates für den Verkauf ihres Kaffees suchten. Die indische Regierung berief im September eine Coffee Control Conference ein, und diese Konferenz empfahl einstimmig den Erlass der Coffee Market Expansion Ordinance. Ivor Bull, der Besitzer der größten Kaffeeplantage des Landes (Consolidated Coffee Estates), spielte eine entscheidende Rolle bei der Ausarbeitung dieses Instruments, das den indischen Markt für lange Zeit regulieren sollte. Der Erlass sollte zunächst nur ein Jahr gelten, wurde 18 Anonymous: Indian Coffee Board: a historical retrospect, Indian Coffee, Republic Day no. January 1950, S. 16 – 18. 19 Benoit Daviron, Stefano Ponte: The coffee paradox: global market, commodity trade and the illusive promise, London 2005, S. 85. 20 »Inter-American coffee agreement«, The American Journal of International Law, 35.3, suppl. (July 1941), S. 160 – 171. 21 S. David Morris Magee: The 1962 International Coffee Agreement: Past, Present and Future, Open access dissertations and theses, Paper no. 5512, http://digitalcommons.mcmaster.ca/ opendissertations/5512; Daviron, Ponte: The coffee paradox (Anm. 19), S. 86.
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1941 aber um ein weiteres Jahr verlängert. Die Kontrolle dieses Mechanismus hatte das Indian Coffee Market Expansion Board, das 1940 durch oben genannten Erlass eingerichtet wurde. Ein eigens dafür ernannter Regierungsbeamter wurde der Vorsitzende dieser Behörde.22 Mit dem Kaffeegesetz von 1942 wurde diese Behörde zum Coffee Board und damit zum direkten Nachfolger des Coffee Cess Committee.23 Dieses Gesetz sollte zunächst nur bis ein Jahr nach Kriegsende gelten, aber im März 1947 erklärte es die Regierung für unbefristet gültig.24 Die 33 Mitglieder des Coffee Board umfassten neben dem Vorsitzenden 3 Parlamentsabgeordnete und 29 andere Mitglieder aus den Regierungen der Kaffee produzierenden Bundesstaaten, aus der Kaffeeindustrie, dem Kaffeehandel, den Weiterverarbeitungsbetrieben und den Arbeiter- und Verbrauchervertretern.25 Unter der Kontrolle des Handels- und Industrieministeriums wurde das Coffee Board zuständig für die Vermarktung des Kaffees und die Festlegung der Mengen für die Belieferung des Auslands- und Inlandsmarktes durch Auktionen und andere Kanäle. Im ersten Jahr der Kaffeekontrolle (1940/41) mussten sich nur Betriebe mit 25 acres und mehr Land beim Board registrieren lassen und nur 60 Prozent der Ernte für den Überschusspool abliefern, während sie 40 Prozent für den Verkauf auf dem Inlandsmarkt behalten konnten. Die Pflanzer durften über weiterverarbeiteten Kaffee aus der Quotenmenge auf dem Inlandsmarkt verfügen, brauchten aber eine Genehmigung für den Verkauf von unbehandeltem Rohkaffee. Ab 1943/44 musste sich jedoch jeder Kaffeebetrieb beim Board registrieren lassen, und Quoten für den Inlandsmarkt waren nicht mehr erlaubt. Der Überschusspool umfasste damit praktisch die Gesamtmenge des in Indien produzierten Kaffees, außer den Mengen für den Eigenverbrauch der Pflanzer
22 Indian Coffee Statistics, 1939 – 40, Calcutta: Government of India Press, 1941. 23 Ebd.: Appendix. The Coffee Act (7 von 1942), http://commerce.nic.in/Coffee%20Act.pdf ; 1947 wurde das Coffee Market Expansion (Amendment) Act IV in Kraft gesetzt. Die Gültigkeit des Gesetzes wurde unbefristet verlängert, und die Zusammensetzung der Behörde wurde durch die Aufnahme von Gewerkschaftsvertretern verändert. 1955 wurde das Coffee Market Expansion (Amendment) Act in Kraft gesetzt. Das Ziel, das bis dahin »Unterstützung der Kaffeeindustrie durch die Regulierung des Kaffeeverkaufs in Indien und durch andere Maßnahmen« gelautet hatte, wurde verändert in »Entwicklung der Kaffeeindustrie unter der Kontrolle der nationalen Regierung«. 24 Anonymous: Indian Coffee Board (Anm. 18), S. 16 – 18. 25 Ein Arbeitermitglied des Coffee Board in den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren berichtet, dass ursprünglich nur 23 Mitglieder ernannt wurden, davon 13 Besitzer von Kaffeeplantagen. Als Indien 1947 unabhängig wurde, änderte sich diese Zusammensetzung. Jetzt waren von 32 Mitgliedern nur noch 12 Plantagenbesitzer ; die anderen waren 4 Arbeitervertreter, 5 Verbrauchervertreter, 3 Parlamentsabgeordnete, 4 Vertreter der Bundesstaaten und 3 Mitglieder aus anderen Bereichen; N. Parameswaran Pillai: Coffeehousinte katha (The story of the coffeehouse), Thrissur 1972.
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und die Aussaat. Das Coffee Board kontrollierte das Aufkommen und die Vermarktung der gesamten Kaffeeernte im In- und Ausland.26 Sowohl weiterverarbeiteter als auch unbehandelter Kaffee konnten beim Pool abgeliefert werden. Alle Weiterverarbeitungsbetriebe mussten sich registrieren lassen und sich Genehmigungen für die Annahme der Ernte, ihre Verarbeitung und Lagerung für das Coffee Board erteilen lassen. Während größere Betriebe ihre Ernte direkt bei den Weiterverarbeitern ablieferten, wurden Annahmestellen in den Anbauregionen eingerichtet, um den Kleinproduzenten einen Zugang zum Markt zu verschaffen. Bei der Ablieferung der Ernte erhielten die Produzenten einen Vorschuss. Nach dem Verkauf der Ernte zog das Board seine Kosten ab und verteilte den verbleibenden Erlös an die Produzenten, wobei eine Preisskala unter Berücksichtigung der Qualität und des Marktwertes der jeweiligen Sorte zugrunde gelegt wurde.27 Vor der Liberalisierung des indischen Kaffeemarktes war die Schätzung der Erntemengen ziemlich genau. Sie beruhte auf den obligatorischen Meldungen der Erzeuger und auf regelmäßigen Informationen von Weiterverarbeitern, Poolagenten und anderen Quellen.28 Vom 1. März 1944 bis zum 18. Februar 1948 übernahm die Zentralregierung in Abstimmung mit dem Coffee Board die Kontrolle der Großhandelspreise für Kaffee. Danach nahm das Coffee Board den Verkauf des Poolkaffees über öffentliche Auktionen wieder auf. Unterdessen stieg der Weltmarktpreis in der Nachkriegszeit wieder deutlich an.29 Die gestiegene Inlandsnachfrage, eine mäßige Ernte 1947/48 und der Wegfall der Preiskontrollen trieben dann die Inlandspreise steil in die Höhe. Das Board wollte diesen Trend unter Kontrolle behalten. Es setzte den Verkauf über begrenzte Auktionen an Kommissionshändler fort, betrieb aber gleichzeitig den Vertrieb begrenzter Kaffeemengen zu günstigen Preisen durch Kooperativen und die eigene Werbeabteilung. Darüber hinaus veranstaltete das Board lokale Auktionen zugunsten von kleinen Röstern und Händlern an einzelnen Orten im Staat Madras und Mysore. Dieses Zuteilungssystem wurde 1949 beendet, und das Board kehrte zur Politik der offenen Auktionen zurück, obwohl die direkten Verkäufe an die Genossenschaften weitergingen.30 Außerdem errichtete das Board im Laufe der Jahre 1940 bis 1965 insgesamt 33 Kaffeelager im ganzen Land. Die Lager hatten aber nur eine be26 Indian Coffee Statistics (Anm. 22), appendix. 27 Obwohl es auch noch Behörden zur Regulierung anderer Agrarprodukte gab, konnte doch keine andere Behörde eine so vollständige Kontrolle über ihr Produkt ausüben. M. Indira: Economic analysis of coffee marketing in India, unveröff. Ph. D. thesis an der University of Mysore, 1988, S. 25 – 26. 28 http://www.indiacoffee.org/planter/agronomic.htm. 29 Gavin Fridell: Fair trade coffee: the prospects and pitfalls of market driven social justice, Toronto 2007, S. 139. 30 Indian Coffee Statistics, 1948 – 49 und 1949 – 50, Calcutta, 1951, S. ii.
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grenzte Bedeutung, da sie nicht mehr als 10 Prozent der Gesamtmenge für den indischen Markt aufnehmen konnten. Die Aufgaben des Coffee Board wurden von fünf Abteilungen wahrgenommen: Verwaltung, Entwicklung, Vermarktung, Werbung und Forschung. Es war die Aufgabe der Vermarktungsabteilung, Quoten für den In- und Auslandsmarkt festzusetzen. Der Kaffee gelangte durch unterschiedliche Kanäle auf den nationalen Markt. Davon waren die Poolauktionen am wichtigsten, denn 80 Prozent des heimischen Angebots gelangten auf diesem Weg zu den Kommissionshändlern. Wer an den Auktionen teilnehmen wollte, musste sich eine Zulassung vom Board besorgen und eine Summe von 500 Rupien hinterlegen. Größere Auktionen wurden in den Poolzentren einer Reihe von Städten an der Küste und im Inland durchgeführt.31 Die Preise, die auf diesen Auktionen erzielt wurden, lagen höher als der Mindestpreis, den die indische Regierung zuvor auf der Basis der Produktionskosten festgesetzt hatte. Das Kaffeegesetz hatte die Regierung ermächtigt, den Groß- und Einzelhandelspreis von Kaffee festzulegen. Tatsächlich endete die staatliche Intervention aber auf der Ebene der Auktionen. Die Zahl der Groß- und Einzelhändler war so groß, dass die Kontrolle des Board von Anfang an alles andere als absolut war. Schon die Berichte aus den 1940erund 1950er-Jahren zeigen, dass das Board keine exakten Zahlen zum Inlandsverbrauch liefern konnte.32 Ein weiterer Kanal für die Versorgung des Inlandsmarktes war die Zuteilung von Rohkaffee an Konsumgenossenschaften zu günstigen Preisen. Die Regierung wollte die Genossenschaftsbewegung unterstützen und begünstigte deren Gründung besonders dort, wo viele Kleinproduzenten konzentriert waren, sodass Kredit, Erzeugung und Vermarktung von diesen Genossenschaften an der Basis übernommen werden konnten. Die Kooperativen wurden ermuntert, in die Weiterverarbeitung zu gehen und Poolagenten des Coffee Board zu werden. Sie erhielten den Kaffee zum Konzessionsabgabepreis, mindestens 2,5 Prozent unter dem Auktionspreis, 5 Prozent in den nicht-traditionellen Gegenden des Nordens. Die Genossenschaften waren jedoch oft nicht in der Lage, den ganzen Kaffee abzunehmen, der für sie vorgesehen war.33 Ende der 1980er-Jahre gab es 40 Genossenschaften in Tamil Nadu, 19 in Karnataka, 4 in Kerala, je 2 in Andhra Pradesh und Maharashtra und 1 in Delhi. Alle bezogen Kaffee vom Coffee Board auf dieser Geschäftsgrundlage.34 Die lokalen Verkäufe in der Nähe der Produktionszentren stellten zusätzlich 31 Die wichtigsten Poolzentren waren: Bangalore, Mysore, Coimbatore, Mangalore, Chikmagalur, Hunsur, Tellicherry, Trichinopoly, Madras, Trichur, Travancore, Bellary, Bezawada; Indian Coffee statistics, div. Bände, von 1935 – 36 bis 1952 – 53. 32 Ebd. 33 Coffee in India, 1956 – 57, S. vii. 34 M. Indira: An economic analysis (Anm. 21), S. 44.
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nützliche Kanäle für den Vertrieb des Kaffees zum Abgabepreis dar. Die registrierten Händler wurden zu diesen Konditionen direkt vom Board beliefert. Der Preis bei der letzten Auktion galt für die Händler in Karnataka, die Auktion in Coimbatore für die Händler in Tamil Nadu und die Vijayawada-Auktion für die Händler in Andhra Pradesh. Die Durchschnittspreise der letzten Auktion an diesen drei Plätzen bildete die Basis der Händlerpreise in Delhi, Calcutta, Maharashtra und Kerala. Ein Aufschlag von 10 Rupien pro Kilogramm musste für den Transport bezahlt werden. Es gab Ende der 1980er-Jahre 598 Händler im Geschäft der lokalen Verkäufe. Diese Verkäufe kamen vor allem den Kleinhändlern, Röstern, Hotelbesitzern und Kantinen zugute.35 Die Zuteilungen der Werbeabteilung, die flüssigen sowie gerösteten und gemahlenen Kaffee zu einem Vorzugspreis verkaufte, stellten den vierten Zugang zum Inlandsmarkt dar. Die Werbeabteilung bestand aus Kaffeehäusern, Bars, Depots, Ständen und mobilen Lieferwagen, die sowohl aufgebrühten als auch gemahlenen Kaffee zum Konzessionspreis anboten. Das Coffee Board betrieb auch sonst noch Kampagnen zur Verkaufsförderung, darunter die Präsenz auf Vorführungsveranstaltungen, Messen, Festivals und Seminaren. Die Effektivität der ständig wachsenden Werbeaktivitäten sollte kontrolliert werden. Dazu wurden dem leitenden Beamten für die Werbung vier Assistenten zur Seite gestellt, je einer für die vier Bezirke, in die das Land eingeteilt war. Schon 1935 hatte das Cess Committee die Firma J. Walter Thompson & Co. aus Bombay mit der Werbekampagne für die Ausweitung des Kaffeemarktes in Indien beauftragt. Diese Agentur führte eine Marketingstudie in den beiden Großstädten Bombay und Hyderabad durch, und ihre Ergebnisse zeigten, dass Tee das am meisten verbreitete Getränk war und dass es einen Mangel an Allgemeinwissen über Kaffee gab. Da die Restaurantbesitzer nicht bereit waren, außer Tee auch Kaffee anzubieten, empfahl die Agentur die Eröffnung von Kaffeehäusern, in denen Kaffee zu subventionierten Preisen ausgeschenkt werden sollte. Die Idee war, dass sich das urbane Publikum in den Filialen treffen und an den bitteren Geschmack und die Gewohnheit des Kaffeetrinkens gewöhnen würde. Die Initiative zielte auf die Einrichtung eines India Coffee House und weiterer Caf¦s.36 Daraufhin wurde am 28. September 1936 das erste India Coffee House in Bombay eröffnet. Dieser Plan scheint sehr erfolgreich gewesen zu sein, denn 1948 gab es 49 Einrichtungen der Werbeabteilung in allen Ecken des Subkontinents: 43 Niederlassungen des India Coffee House, zwei Kaffeebars, einen
35 Ihre Rolle beim Kaffeevertrieb wurde von der Plantation Commission (1954) anerkannt, die jedoch empfahl, den Preis bei diesen Verkäufen anzuheben, damit er den Preis bei den Poolauktionen überstieg. Die Zentralregierung lehnte diesen Vorschlag ab; Coffee in India (Anm. 33). 36 Indian Coffee House: Propaganda Campaign, in: Times of India, 26 June 1936.
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Kaffeelieferwagen und drei Kaffeedepots.37 Gegen Ende der Zeit des Vermarktungsmonopols des Coffee Board gab es in ganz Indien 49 Kaffeedepots: zehn in Tamil Nadu, neun in Karnataka, sieben in Andhra Pradesh und sechs in Kerala; außerdem existierten zwölf Kaffeehäuser und vier Kaffeelieferwagen. Die Maßnahmen des Coffee Board führten dazu, dass sich der Kaffeeverbrauch in Indien zwischen 1940 und 1960 mehr als vervierfachte. Unter den Werbemaßnahmen des Board muss die Eröffnung der »India Coffee Houses« hervorgehoben werden, denn dieses Konzept war damals ziemlich einmalig. In Südindien, wo der Kaffee angebaut wird, war besonders die Stadtbevölkerung an das Getränk gewöhnt. In ländlichen Gebieten war es auch üblich, seinem Besuch Kaffee anzubieten. In Nordindien war Kaffee dagegen lange nur in exklusiven Klubs und Hotels erhältlich gewesen, zu denen lediglich Ausländer und wenige privilegierte Einheimische Zutritt hatten. Dort leistete nun das Coffee House einen Beitrag zur Popularisierung des Kaffees und führte ihn an sozialen Orten ein, wo er weitgehend unbekannt war. In seinen Filialen probierten viele konventionelle Teetrinker im ganzen Land den Kaffee zum ersten Mal in ihrem Leben. Die Kaffeehäuser wurden an zentralen Orten eröffnet. Sie waren der erste öffentliche Raum im modernen Indien, an dem sich eine große Zahl von Menschen aus den unterschiedlichen Gruppen der städtischen Mittelklasse traf. Die langen, wechselnden Diskussionen über alle möglichen Themen, wie Philosophie, Literatur und Politik, sowie auch Klatsch wurden das Markenzeichen dieser Kaffeehäuser. In der Nachbarschaft von Bildungseinrichtungen wie den Universitäten von Calcutta und Delhi dienten sie als Erweiterung der Klassenräume, wo die Studenten und Lehrer ungezwungen aufeinandertrafen. Viele meiner Interviewpartner (Studenten, junge und alte Dichter, Schriftsteller, Hochschullehrer und Menschen anderer Berufe) haben von diesen Kontakten profitiert und betonen immer noch die Notwendigkeit eines solchen öffentlichen Raumes, der wie eine offene Universität funktionieren kann. Der Kaffee, der in den Kaffeehäusern getrunken wurde, war ursprünglich subventionierter Arabica von der Werbeabteilung des Board. Ab 1945 wurde besonders in einigen Kaffeehäusern in Kerala Robusta eingeführt, um das Angebot durch andere Kaffeesorten zu erweitern.38 In einer traditionellen nordindischen Stadt wie Allahabad standen südindische Snacks auf der Speisekarte, und die Kaffeehausbesucher machten damit zum ersten Mal in ihrem Leben Bekanntschaft.39
37 8th Annual Report of the Coffee Board, 1947 – 48, Bangalore, S. 15. 38 Ebd., S. 16 – 17. Die Fachkenntnisse der normalen Verbraucher vor der wirtschaftlichen Liberalisierung Ende der 1980er-Jahre kann man jedoch vernachlässigen. 39 Bhaswati Bhattacharya: New public spaces of sociability : the Tea- and Coffee Houses in Calcutta and Delhi, 1900 – 1958, unveröff. Referat auf dem International Workshop on Politics, Spaces and Social Relations: Urban India in the 20th Century, Centre for Modern
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Zusätzlich zum Ausschank von Kaffee und dem Verkauf von Röstkaffee informierten sich die Manager der Kaffeehäuser auch über die Kaffeehändler in ihrer Region und versorgten auf Geheiß des Coffee Marketing Manager die registrierten Händler mit Kaffee.40 Der Kaffeeverkauf auf Messen sowie zu offiziellen Anlässen und privaten Partys gehörte auch zu den regelmäßigen Aktivitäten der indischen Kaffeehäuser.41 In den ersten zehn Jahren ihres Bestehens führte die staatliche Kontrolle des Kaffeegeschäfts zu einem Zuwachs an Anbaufläche und Produktion, zur Erholung der Preise und zu einer erhöhten Nachfrage im Inland.42 Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde der jährliche Kaffeeverbrauch in Indien auf 18 bis 20 Millionen Pfund geschätzt. Die Kontrolle des Geschäfts durch das Coffee Board führte zwar zu einer Produktionssteigerung, aber die interne Nachfrage stieg schneller ; der exportfähige Überschuss wurde deshalb immer knapper. Da die Inlandsnachfrage stieg, schien es eine Weile so, als wenn die indische Produktion gerade ausreichend für die nationale Nachfrage sei.43 1952/53 hatte sich die Menge für den nationalen Konsum auf 45,3 Millionen Pfund erhöht, aber man ging davon aus, dass der Markt noch unerschlossene Reserven hatte und der interne Verbrauch weiter steigen würde. Da sich aber gleichzeitig die Nachfrage von Dollarin Nichtdollarländer verlagerte und die Preise auf dem Weltmarkt hoch blieben, glaubte man, dass es noch genug Raum für eine kräftige Erhöhung der Kaffeeproduktion gab.44 Andererseits stieg die weltweite Nachfrage zwischen 1949 und 1954 enorm an, weshalb die Preise ebenfalls anstiegen und zwar besonders in den USA.45 Angesichts dieser Entwicklung wurde im April 1954 eine Untersuchungskommission eingerichtet, die die Möglichkeiten einer weiteren Expansion der Kaffeeindustrie in Indien herausfinden sollte. Zur Steigerung des na-
40 41
42 43 44 45
Indian Studies, Göttingen, 13 – 14 July, 2012; vgl. a. die Monografie von Bhaswati Bhattacharya: The Indian Coffee House: a social history, 1935 – 2010, (in Vorbereitung). 8th Annual Report (Anm. 37), S. 17. Das Indian Coffee House übernahm z. B. das Catering für den Empfang zum Unabhängigkeitstag bei Jawaharlal Nehru, dem ersten Premierminister Indiens (ebd. 17 – 18); das Kaffeehaus in New Delhi servierte dem indonesischen Präsidenten Sukarno Kaffee auf einem Empfang des Indian Council of World Affairs am Tag der Republik im Januar 1950, und die Filiale in der University von Delhi bot Kaffee und leichte Erfrischungen auf einer Versammlung an; s. Monthly Report of the Coffee Board, February 1950, S. 51 – 52; Kaffee und Erfrischungen wurden vom Kaffeehaus auf der jährlichen Sitzung des Indian National Congress im Dezember 1948 angeboten; s. Monthly Report of the Coffee Board, January 1949, S. 14; die Filiale in Allahabad hatte einen Stand im Muir College auf dem Indian Science Congress im Januar 1949. Ähnliche Aktivitäten fanden in Lahore, New Delhi and Patna statt; s. Monthly Report of the Coffee Board, February 1949, S. 43. Coffee in India, 1952 – 53, S. i. Monthly Bulletin, January 1949, S. 2. Coffee in India (Anm. 42), S iii–vi. R. B. Bilder: The International Coffee Agreement: a case history in negotiation, in: Law and contemporary problems, 28 (Spring, 1963), S. 334.
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tionalen Kaffeeverbrauchs empfahl die Kommission, lieber auf Werbekampagnen und Propaganda durch herumreisende Ausstellungswagen und Kinofilme zu setzen als auf die Einrichtung permanenter Kaffeehäuser.46 Schon 1952 hatte das Coffee Board begonnen, die Kaffeehäuser an Privatunternehmer abzugeben, weil sie nicht genügend Profit machten. Am 26. Juni 1955 beschloss das Board, diejenigen Filialen zu schließen, die nicht profitabel arbeiteten. Über Tausend ungelernte Arbeitskräfte mussten befürchten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Diese Arbeiter reichten bei der Regierung eine Petition ein, traten in Streik und bildeten (mit Unterstützung ihrer Chefs) die Indian Coffee Workers’ Cooperative Societies (ICWCS). Sie übernahmen den Betrieb derjenigen Filialen, die vom Coffee Board geschlossen worden waren. Seit 1958 wird die Kette unter dem Namen Indian Coffee House von den Genossenschaften weiterbetrieben.
Die Entwicklung nach 1957 Obwohl der Kaffeeverbrauch 1958/59 auf 66,4 Millionen Pfund (ca. 33.000 t) angestiegen war, lag der Pro-Kopf-Verbrauch mit 0,17 Pfund. in Indien immer noch sehr niedrig, verglichen mit 15,32 Pfund in den USA, 18,68 Pfund in Dänemark und 1,90 Pfund in Großbritannien.47 Sogar die Repräsentanten des Coffee Board mussten zugeben, dass sich der Kaffeemarkt nur in Teilen von Südindien wirklich entwickelt hatte. Die Kaffeehäuser hatten bis zu einem gewissen Grad die Gewohnheit des Kaffeetrinkens in Nordindien verbreitet, aber die Gewohnheit blieb auf die Caf¦s beschränkt und wurde nicht mit nach Hause genommen. Der Verkauf von Kaffee für den Hausgebrauch blieb auf Personen aus Südindien beschränkt, die im Norden lebten.48 Sogar auf dem traditionellen Markt in Südindien war der Kaffee zwar ein gewohntes Getränk, hatte aber keineswegs eine beherrschende Stellung. Bei einer repräsentativen Studie, die im Auftrag des Tea Board in Kerala, einem »Kaffeetrinker-Staat«, durchgeführt wurde, zeigte sich, dass von 413 befragten Familien nur 140 ausschließlich Kaffee tranken; der durchschnittliche Verbrauch der Kaffee trinkenden Familien lag zwar bei 21,43 Pfund, der Durchschnitt aller Familien in der Studie erreichte aber nur 7,60 Pfund.49 46 Summary of the main conclusions and recommendations of the Plantation Inquiry Commission in respect of the coffee industry, Coffee in India, 1955 – 56, Delhi: Ministry of food and agriculture, government of India, S. ix; s. für die weiteren Empfehlungen der Kommission zum Inlandsverbrauch: Coffee in India 1956 – 57, S. vii. 47 Coffee in India, 1958 – 59, S. vi. 48 Bimal Bose: Coffee propaganda: new phase, in: Indian Coffee, April 1959, S. 162 – 64. 49 Coffee in India, 1956 – 57, S. iii.
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Unterdessen war auch der Export ins Ausland in Schwung gekommen. Die dafür vorgesehene Menge stieg von 17,8 Millionen Pfund 1955/56 auf 34 Millionen Pfund 1956/57, und das Coffee Board verlagerte seine Aufmerksamkeit zunehmend vom nationalen auf den internationalen Markt.50 Indien trat 1959 dem Internationalen Kaffeeabkommen (International Coffee Agreement, ICA) bei51 und nahm an den Gesprächen zur Regulierung von Angebot und Nachfrage auf globaler Ebene teil. Zusammen mit vielen anderen Produktions- und Konsumländern unterzeichnete Indien das erste Internationale Kaffeeabkommen 1962 und unterwarf sich seinen Regeln bis 1989, als das ICA zusammenbrach. Es nahm an der Arbeitsgruppe des International Coffee Council seit 1965 teil, das die Erhöhung der Exportquoten durch die Exportländer überprüfen und die Produktionsziele sowohl weltweit als auch in einzelnen Mitgliedsländern festlegen sollte. Das Coffee Board vertrat den Standpunkt, dass einerseits der Export zu wettbewerbsfähigen Preisen, andererseits die Sicherung der Deviseneinkünfte im nationalen Interesse wichtig sei. Die Voraussetzung dafür war aber, die Kaffeeproduktion zu steigern. Darum richtete das Coffee Board seine Aufmerksamkeit immer mehr auf die Forschung, die die Erreichung dieses Ziels möglich machen sollte. Der indische Konsument bezahlte zu wenig für seinen Röstkaffee; und wenn die Produktion zu knapp ausfiel, würde der Export vorrangig bedient werden, und der Verbraucher würde warten müssen, bis er mehr bezahlen konnte, als der Weltmarkt zu bieten hatte. Das Coffee Board fuhr dennoch fort, die Kaffeeversorgung durch seine Kaffeedepots und seine Lieferwagen zu erleichtern. Im Jahre 1962 führte die Firma Brooke Bond India mit der Marke Deluxe Green Label den ersten gerösteten und gemahlenen Kaffee auf dem indischen Markt ein. 1968 kam dann der erste Instantkaffee (gemischt mit Zichorie) unter dem Namen Bru auf den Markt. Die Einführung des löslichen Kaffees Bru trug dazu bei, das Getränk unter den Nicht-Kaffeetrinkern beliebter zu machen; eine Steigerung des Kaffeeverbrauchs in Nordindien war die Folge. Später führte auch die Firma Nestl¦ ihre löslichen Kaffeeprodukte auf dem indischen Markt ein. Kaffee wurde auch von verschiedenen Roasting-and-Grinding-Unternehmen (R& G) vertrieben; sie belieferten Hotels, Klubs, in Indien lebende Europäer und auch eine kleine Gruppe der einheimischen Elite. Ein wagemutige Unternehmer, der Parsi Pestonji Edulji Dalal (1875 – 1962), auch bekannt unter dem Namen Polson, hatte sein Geschäft um die Wende zum 20. Jahrhundert in Bombay begonnen. Er verkaufte Kaffee von Tür zu Tür und röstete und verpackte die Bohnen dafür selbst. Er führte auch eine Zichorienkaffeemischung ein, die er als 50 Coffee in India, 1958 – 59, S. ix. 51 Coffee in India, 1959 – 60 und 1960 – 61, S. 9.
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Polson’s French Coffee (»gemischt nach französischem Originalrezept«) verkaufte. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts lief auch eine interessante Kampagne in den Zeitungen für »reinen« (im Gegensatz zum »französischen«) Kaffee, aber die richtete sich klar an den europäischen Teil der Gesellschaft. Eine weitere alteingesessene Kaffeefirma aus Tamil Nadu ist Nasaru’s Coffee Company (gegründet 1926) mit Hauptquartier in Salem. Diese Firma hat ihren Vertrieb hauptsächlich in Tamil Nadu mit über 70 Filialen. P. R. K. Baskaran, Erbe von Kaffeepflanzungen in den Pulaney Hügeln bei Kodaikanal (Tamil Nadu), entwickelte die Marke Leo Coffee in Madras, indem er seine erste R& GFiliale in Mylapore eröffnete. Jetzt hat Leo Coffee 40 R& G-Filialen in Chennai und 60 Kioske in Supermärkten, wo der Kaffee für die Kunden frisch gemahlen wird. Ihr abgepackter Kaffee wird auch an viele Supermärkte in Tamil Nadu und Karnataka durch 100 Zwischenhändler vertrieben. Sie verkaufen jedes Jahr circa 700 Tonnen Kaffee. Bayar’s Coffee (Bangalore) entstand, als sein Gründer Ramachandra Rao 1956 mit dem Kaffeeverkauf in einem bescheidenen Lebensmittelgeschäft begann. Heute gilt er als einer der großen Röster von GourmetKaffee in der Region. Seite an Seite mit den Riesen des Business gibt es zahlreiche kleine Röster wie die Rajah Coffee Company in Bangalore oder die Sanker’s Coffee and Tea in Trivandrum, die den lokalen Markt bedienen. Ähnliches gilt für Devan’s Coffee and Tea in Süd-Delhi, gegründet 1962 von D. Vasudevan aus Kerala, das erfolgreich den individuellen Geschmack seiner Kundschaft bedient und spezielle Kaffeemischungen von den Plantagen in Karnataka anbietet.52
1995 – 2010: Nach der wirtschaftlichen Liberalisierung Die Exportquoten des Internationalen Kaffeeabkommens wurden im Juli 1989 ausgesetzt, als eine Einigung auf die Verteilung der Quoten nicht mehr zustande kam. Die wichtigste Entwicklung im indischen Kaffeegeschäft ereignete sich parallel dazu und bedeutete, dass die Kaffeevermarktung vom zentralisierten Pool auf ein offenes Vermarktungssystem umgestellt wurde. Ab Anfang der 1990er-Jahre wurden die multinationalen Kaffeemarken auf dem Inlandsmarkt zugelassen, gleichzeitig wuchs die Nachfrage nach Exportkaffee. Das Ziel des Siebten Fünfjahresplans der indischen Regierung (1985 – 1990) war es, die Exportquote von 150.000 Tonnen zu erfüllen. Der Neunte Fünfjahresplan (1997 – 2002) sah bereits die Steigerung der Jahresproduktion auf 300.000 Tonnen vor, zwei Drittel davon für die Ausfuhr. Die Kaffeeproduktion stieg im Laufe der 1990er-Jahre um 30 Prozent, und im Erntejahr 1995/96 exportierte Indien 52 Ich bedanke mich bei Dilip Simeon für seinen Hinweis auf Devan’s Coffee.
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170.000 Tonnen im Wert von 450 Millionen US-Dollar.53 Der Jahresverbrauch im Inland stagnierte bis dahin jedoch bei einer Höhe von 55.000 Tonnen. Als die wirtschaftliche Liberalisierung Indiens ausgehandelt wurde, setzte die Vereinigung der Kaffeeproduzenten erfolgreich die Befreiung vom Joch des Coffee Board durch.54 Das Poolsystem mit seiner monopolistischen Verfügung über allen Kaffee, der im Land produziert und verkauft wurde, geriet ins Wanken. Ab 1992 verlief die Liberalisierung des Kaffeemarktes in mehreren Phasen. Die erste private Kaffeeauktion fand 1993 statt, und schließlich erfolgte die Aufhebung des Poolsystems 1996.55 Das Board verlor die Kontrolle über Produktion und Verkauf, und bis 2000/01 konnte das Board den Umfang der Ernte noch über seine Außenbeamten erheben. Seit 2001/02 wird die Vorausberechnung der Ernte nur noch mithilfe von Stichproben vorgenommen.56 Seit das Coffee Board seine anderen Aufgaben verloren hat, konzentriert es sich auf die wissenschaftliche Erforschung und die Technologie von Kaffeeanbau und -verarbeitung. Gegenwärtig hat es die Rolle eines »Freundes, Philosophen und Führers« der Kaffeeindustrie übernommen.57 Auch die Landschaft des Einzelhandels wandelte sich mit der Deregulierung in den 1990er-Jahren erheblich. Unter den Pionieren, die die neuen Geschäftsmöglichkeiten im Zeichen der Liberalisierung und des Freihandels nutzen konnten, war V. G. Siddhartha, Gründer von Caf¦ Coffee Day (CCD). Diese Firma hat ihre Zentrale in Bangalore und ist Teil eines voll integrierten Kaffeeunternehmens (Amalgamated Bean Coffee Trading Co.), mit beinahe 3000 Hektar Anbaufläche, Weiterverarbeitungsanlagen, dem R& G-Netzwerk French’n Ground und einer Abteilung für abgepackten Kaffee. Siddhartha ist ein ausgebildeter Investmentbanker aus einer Pflanzerfamilie und macht sein Vermögen an der Börse. Er landete über den Rohstoffhandel im Kaffeegeschäft. Siddhartha sah die Möglichkeiten auf dem kaum genutzten indischen Markt und eröffnete ein Kaffeegeschäft in Bangalore, wo man eine Tasse Cappuccino für 20 Rupien bekam. Jetzt gibt es 1240 Filialen in 180 indischen Städten mit mehr als einer Million Kunden am Tag. 15.000 Kaffeeautomaten bieten in U-Bahnstationen, Flughäfen und anderen Orten heißen Kaffee zum Mitnehmen unter den Namen Coffee Xpress und Coffee Day Take Away an. Darüber hinaus wird der Kaffee-
53 Dipak Chatterjee, Additional Secretary Ministry of Commerce, Presidential address, Indian coffee, May 1997, 4. 54 Pai: Coffee and I (Anm. 6) bezieht sich auf die Debatte unter den Pflanzern, die ihre Unzufriedenheit mit der Kontrolle des Board bereits seit den 1960er-Jahren geäußert hatten. 55 Coffee Board, United Planters’ Association of Southern India (UPASI): The connoisseurs’ book of Indian coffee, Bangalore 2002, S. 183. 56 http://www.indiacoffee.org/planter/agronomic.htm. 57 http://www.indiacoffee.org/about-us.html.
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kenner damit verwöhnt, unvermischten Kaffee mit Herkunftsangabe zu erleben.58 Das Kaffeegeschäft in Indien ist 10 Milliarden Rupien (167 Millionen USDollar) wert und wächst schätzungsweise um 40 Prozent im Jahr. Nach Angaben der Industrie ist der Kaffeeverbrauch seit der Liberalisierung des Marktes 1991 von 55.000 Tonnen auf 80.000 Tonnen angewachsen.59 Der Zuwachs passiert zum großen Teil im nicht-traditionellen Bereich des Kaffeegeschäfts und unter der aufstiegsorientierten, gutverdienenden neuen Mittelklasse der Zeit nach der Marktöffnung. Die über 250 Millionen Inder der Mittelklasse sind der Motor einer Volkswirtschaft, die bis 2050 den dritten Platz in der Welt erreichen möchte. 65 Millionen gehören davon zur Altersgruppe von 20 bis 35 Jahren. Entweder beide Elternteile oder beide Partner haben Arbeit, und die städtischen Haushalte mit doppeltem Einkommen können sich einen Lebensstil leisten, der noch vor 15 Jahren undenkbar gewesen wäre. In den letzten zehn Jahren ist der Kaffee das Lifestyle-Attribut dieser jungen Generation geworden. Kaffee ist für sie zu einem unverzichtbaren Bestandteil ihres Alltags geworden. Mit Ausrichtung auf diesen Sektor sind ungefähr 1400 Markenkaffeefilialen entstanden, allen voran Caf¦ Coffee Day, Barista Coffee und Costa Coffee.60 Barista, das zu 65 Prozent der Turner Morrison Co. gehört, eröffnete sein erstes indisches Geschäft in Delhi 2000 (bis heute 230 Filialen). Innerhalb von einem Jahr gelang es, alle zehn Tage eine neue Filiale zu eröffnen.61 Die Firma Costa Coffee wurde 2005 ins Leben gerufen und hat 70 Filialen, während Gloria Jean’s Coffee seit ihrem Einstieg 2008 in ganz Indien 20 Filialen betreibt. Herkömmlicherweise wurde in Indien nur Filterkaffee getrunken, oft versetzt mit Zichorie. Seit den 1960er-Jahren bot außerdem der Instantkaffee eine bequeme Variante für die neuen Kaffeetrinker. Jetzt wird aber von den neuen Caf¦s auch ein neues Kaffeeerlebnis vermittelt, und die indischen Konsumenten lernen die vielen Möglichkeiten kennen, wie Kaffee zubereitet werden kann. Die neuen Caf¦s machen ihre Kundschaft mit Cappuccino, Espresso oder Latte macchiato 58 Nach dem Beispiel von CCD haben auch andere Pflanzer angefangen, ihre eigenen Caf¦s aufzumachen. Bei Berries and Barrels (Classic Coffee Ltd.) in Bangalore können die Gäste ihren eigenen Kaffee zubereiten, verschiedene Sorten von kaltem Kaffeesud auswählen oder mit Weinen, Cocktails, Mocktails usw experimentieren. 59 Persönliches Interview mit V. G. Siddhartha, Caf¦ Coffee Day, Bangalore,1. Dezember, 2011; das Coffee Board spricht sogar von 100.000 t. 60 Sohini Mitter : Costa Coffee brews growth plan, menu churn, in: The Financial Express, January 27, 2011. 61 Sanjeev Srivastava: India’s coffee bar revolution. Seitdem hat die Marke einige Veränderungen bei den Besitzern und dem Management erlebt. Turner and Morrison verkauften ihre Anteile 2004 an die Sterling Infotech Group in Chennai. Im März 2007 verschaffte sich Lavazza einen strategischen Zugang zum indischen Markt durch die Übernahme der Firma, die unter dem Markennamen Barista weiterläuft: http://news.bbc.co.uk/2/hi/business/ 2284944.stm.
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bekannt und bieten außerdem eine Auswahl an süßen und leckeren Kleinigkeiten an, die man zusammen mit dem Kaffee verzehrt. Ein wachsender Anteil der jungen Bevölkerung gewöhnt sich jetzt an das Getränk. Meistens ziehen die neuen Verbraucher jedoch den Instantkaffee der mühevollen Zubereitung mit dem Filter vor.62 Das Vordringen der multinationalen Konzerne auf dem Einzelhandelssektor hat für den indischen Kaffee neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnet. So ist CCD entlang der Wertschöpfungskette der Ware groß geworden. Die Amalgamated Bean Company war der größte Rohkaffeeexporteur von Indien und entwickelte sich zu einem vertikal integrierten Konzern weiter, der der indischen Kundschaft Kaffee von der eigenen Plantage anbieten kann. Das Unternehmen bietet gleichzeitig gemahlenen Röstkaffee in Päckchen und Dosen an sowie auch Accessoires.63 Starbucks hat mit Tata Coffee eine Vereinbarung, ihren Kaffee en d¦tail zu verkaufen. Ähnliche Abmachungen bestehen zwischen Costa Coffee und Bayar’s Coffee sowie Gloria Jean’s und Cothas Coffee. Diese Wertschöpfung entlang der Kette kann neue Arbeitsplätze schaffen. Die Caf¦s brauchen immer mehr Baristas mit genauen Kenntnissen der Ware und der Zubereitungstechniken. Auch die Röst- und Verpackungsfirmen werden mehr qualifiziertes Personal brauchen. Der indische Markt für Pulverkaffee wird von den beiden großen Marken Bru und Nestl¦ dominiert, die 50,2 Prozent beziehungsweise 49,2 Prozent des Verkaufs in der Hand haben. Im Laufe der letzten fünf Jahre hat Bru die Mischungen Hot Coffee, Choco-Coffee und Cappuccino eingeführt, die in Lipton-Kaffeeautomaten aufgebrüht und verkauft werden. Es gibt jetzt Kaffeebeutel zum einmaligen Gebrauch und Fertigmischungen zum Preis von 5 oder 6 Rupien (0,11 – 0,13 US$). Der Verkauf von aufgebrühtem Kaffee hat sich in den letzten Jahren vervielfacht, denn er versorgt die Kunden zu einem erschwinglichen Preis, wenn sie unterwegs sind. Die wichtigsten Unternehmen in diesem Segment sind Nestl¦, Fresh and Honest Caf¦ Ltd., Georgia (Coca Cola in Zusammenarbeit mit McDonald’s), Hindustan Lever und Tata Coffee. Tata Coffee wollte den indischen Markt nach der Liberalisierung ausprobieren und nahm gleich fünf Produkte in Form von Röst-, Fertig- und Instantkaffee ins Angebot. Tata Kaapi, eine lösliche Kaffee-Zichorienmischung, wurde 1997 eingeführt und soll im Wettbewerb mit Levers Bru und Nestl¦s Nescaf¦ Sunrise Marktanteile für Instantmischungen erobern. Die Firma LakshmiBrooke Coffee Hosts Ltd. ver62 Caf¦ Coffee Day hat jedoch Filterkaffeebeutel eingeführt. So ähnlich wie mit Teebeuteln muss der Verbraucher nur den Beutel in die Kaffeetasse legen und mit heißem Wasser übergießen. 63 Obwohl die Continental Coffee Ltd ganz auf den Export ausgerichtet ist, hat sich Asiens größter Hersteller von Instantkaffee ganz ähnlich entwickelt. Sie verarbeitet Rohkaffee zu löslichem Kaffee zu wenigstens 20 % günstigeren Kosten als die Konkurrenz im Ausland: s. India’s coffee barons, in: Business Today, April 6, 2008.
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kauft komplette Kaffeezubereitungssysteme und hat gegenwärtig 4000 Einrichtungen in ganz Indien bei 2500 Firmenkunden (besonders im IT-Sektor). Jahr 1981
Menge (Tonnen) 50.796
Jahr 1996
Menge (Tonnen) 50.000
1982 1983
53.990 56.079
1997 1998
50.000 50.000
1984 1985
53.544 54.874
1999 2000
55.000 60.000
1986 1987
54.421 58.636
2001 2002
64.000 68.000
1988 1989
55.560 63.328
2003 2004
70.000 75.000
1990 1991
54.152 55.000
2005 2006
80.200 85.000
1992 1993
55.000 50.000
2007 2008
90.000 94.400
1994 1995
50.000 50.000
2009 2010 (vorläufig)
102.000 108.000
Tabelle 2: Kaffeeverbrauch in Indien 1981 – 201064
Schluss In der Vergangenheit ist die indische Kaffeeindustrie immer auf den Export in fremde Länder ausgerichtet gewesen. Das steht ganz im Gegensatz zur Geschichte des Tees in Indien. Sobald Teefabriken in der Kolonialzeit ihre Produktion aufgenommen hatten (um 1860), wurde der Tee als das Getränk der Arbeiter empfohlen und gefördert. In den 1930er-Jahren diskutierte das Coffee Cess Committee zum ersten Mal die Möglichkeit, für den Kaffee, der auf dem Exportmarkt nicht mehr verkauft werden konnte, den nationalen Markt zu entwickeln. Das Tea Cess Committee existierte schon seit 1904 und brauchte seine Kampagnen zur Förderung des Teeverbrauchs nur zu erneuern. Das Tea 64 Inlandsverbrauch: alle Kaffeelieferungen aus dem Pool auf den nationalen Markt 1981 – 1990 und der geschätzte Inlandsverbrauch 1991 – 2010, Database on coffee: June 2011, Bangalore: Coffee Board of India, June 2011, S. 75; s. a. »Estimated domestic production 1995 – 2010«auf der Webseite des Board (abgerufen 28. 9. 2012). In den Jahrzehnten, als die Vermarktung des Kaffees ein Monopol des Board war, stellten seine Monthly Bulletins und Annual Reports bemerkenswerterweise immer wieder fest, dass für den nationalen Verbrauch keine verlässlichen Zahlen verfügbar seien; sie übernahmen stattdessen die Zahlen des Pools.
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Board entfaltete einen aggressiven Werbefeldzug und schaltete große Anzeigen in den führenden Tageszeitungen. Die Anzeigen wandten sich an die Hausfrauen, klärten sie über die Vorzüge des Tees auf und zeigten ihnen gleichzeitig, wie man den Tee einfach zubereiten kann. Das Coffee Board beauftragte zwar auch die Firma J. Walter Thompson & Co. mit einer Werbekampagne für Kaffee auf dem indischen Markt. Aber so umfassende Maßnahmen wie für den Tee waren hier nicht möglich, und mit der Einrichtung der Kaffeehäuser entschied man sich, den Schwerpunkt auf die städtische Mittelklasse zu legen. Die Maßnahmen des Coffee Board waren trotzdem ein großer Erfolg, denn der Inlandsverbrauch stieg von 1940 bis 1960 auf das Vierfache, nachdem das Board seine Politik der Exportförderung auf Kosten des nationalen Konsums eingestellt hatte. Erst ab 1990 kam es zu einer erneuten Wende im Gefolge der wirtschaftlichen Liberalisierung von Indien, denn die Verfügung des Coffee Board über den Kaffee wurde abgeschafft. Aber 1991 wollte das Handelsministerium immer noch den Kaffeeexport aus Indien steigern, damit der indische Kaffee als Handelsmarke bekannt würde und seinen Weg auf die Supermarktregale des Westens fände.65 Im Erntejahr 2011/12 geht immer noch 70 Prozent der indischen Kaffeeernte in den Export. Die traditionellen Abnahmeländer liegen in der EU, aber die indischen Kaffeeexporte werden auch in Hochpreismärkte wie USA, Canada, Japan, Australien, Neuseeland, Skandinavien und den Neuling Korea geliefert und sind dort sehr geschätzt.66 Die lange Bevorzugung des Exports hat dazu geführt, dass das Getränk in der Gesellschaft nur zu einem geringen Prozentsatz verbreitet ist. Während die Präsenz des Tees bei 96 Prozent liegt, erreicht der Kaffee nur 16 Prozent. Seit nationale und internationale Konzerne den indischen Markt ins Auge gefasst haben, gibt es jedoch für Investoren reichlich Gelegenheit, sich auf dem heimischen Markt zu tummeln.
65 Das Treffen des Handelsministers P. Chidambaram mit dem Vorsitzenden, Mitgliedern und Beamten des Coffee Board am 25. August 1991; Bericht in: Indian Coffee, September 1991, S. 3. 66 Interview mit Jawaid Akhtar, dem Vorsitzenden des Coffee Board of India, in: Business Standard January 27, 2012.
Christof Dejung
Staatliche Interventionen und multinationale Handelsfirmen. Der globale Kaffeehandel nach 1945
Als der amerikanische Kaufmann Francis B. Thurber Ende des 19. Jahrhunderts die Geschichte des Kaffees »from plantation to cup« beschrieb, war ihm sehr wohl bewusst, dass private Handelshäuser eine unerlässliche Funktion innehatten, um die Kaffeewelten der Kleinbauern und Plantagenarbeiter in den Anbaugebieten mit denjenigen der Röster und Kaffeekonsumenten in den Verbraucherländern zu verbinden.1 Dennoch hat sich bisher weder die Unternehmens- noch die Globalgeschichte übermäßig stark für diese weltweit tätigen Unternehmen interessiert,2 die vor allem nach 1945 einen großen Einfluss auf die Ausgestaltung des globalen Kaffeemarktes hatten. Im Folgenden soll deshalb exemplarisch das Schweizer Handelshaus Gebrüder Volkart vorgestellt werden, welches sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer der bedeutendsten Kaffeehandelsfirmen der Welt entwickelte.3 Anhand der Geschichte eines solchen Unternehmens lässt sich zum einen zeigen, wie der weltweite Rohstoffhandel ab dem späten 19. Jahrhundert mehr und mehr durch Handelshäuser aus den Industrieländern dominiert wurde. Kaufleute aus den Anbauländern – die bis dahin eine erstaunlich große Rolle bei der Ausfuhr der Waren in die Industrieländer gespielt hatten – wurden zunehmend aus dem Exportgeschäft verdrängt. Ihnen fehlten die nötigen Geschäftsbeziehungen, um bei den westlichen Banken günstige Kredite zu erhalten oder um ihre Transaktionen an den Börsen durch Termingeschäfte abzusichern, und 1 Francis Beatty Thurber : Coffee: From plantation to cup. A brief history of coffee production and consumption, New York 1881, S. 183. 2 Ausnahmen für die Analyse der Geschichte moderner Handelshäuser sind u. a. Philippe Chalmin: N¦gociants et chargeurs. La saga du n¦goce international des matiÀres premiÀres, Paris 1985; Shin’ichi Yonekawa, Hideki Yoshihara (Hg.): Business History of General Trading Companies, Tokyo 1987; Geoffrey Jones (Hg.): The Multinational Traders, London, New York 1998; ders.: Merchants to Multinationals. British Trading Companies in the Nineteenth and Twentieth Centuries, Oxford, New York 2000. 3 Vgl. für die Geschichte der Firma Christof Dejung: Die Fäden des globalen Marktes. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des Welthandels am Beispiel der Handelsfirma Gebrüder Volkart, 1851 – 1999, Köln 2013.
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sie waren auch nicht in der Lage, in den Industrieländern eine effiziente Verkaufsorganisation aufzuziehen.4 Trotz dieser Verschiebung der Kräfteverhältnisse waren aber auch multinationale Handelshäuser wie Volkart auf eine Zusammenarbeit mit vor Ort tätigen Partnern angewiesen; seien dies nun Kaffeeverarbeiter und Exportkaufleute in den Anbauländern oder Bankenvertreter, Besitzer von Röstereien und Mitarbeiter von politischen Gremien in den Verbraucherländern. Die globalisierte Welt des Kaffees war damit keineswegs »flach«,5 wie Thomas Friedman postulierte, sondern stets durch lokale Strukturen geprägt. Dies bestätigt die Beobachtung von Roland Robertson und Arjun Appadurai, wonach Globalisierungsprozesse in der Regel das Lokale nicht eliminieren, sondern eine »Glokalisierung« zur Folge haben, bei der sich lokale und globalen Strukturen ineinander verschränken.6 Zum anderen kann die Geschichte von Welthandelsfirmen interessant sein, um dem Verhältnis von Kapitalismus und Territorialität nachzugehen. Grenzüberschreitende Waren- und Finanztransaktionen standen in einem potenziellen Spannungsverhältnis zum Bemühen von staatlichen Regierungen, ihre Grenzen zu kontrollieren und ihre nationale Souveränität aufrechtzuerhalten. Wie in der Forschung seit Längerem bekannt ist, erfolgte ab den 1880er-Jahren eine zunehmende Politisierung des internationalen Handels. Diese verschärfte sich in der Zwischenkriegszeit und kulminierte in der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre.7 Zum Schutz der einheimischen Wirtschaft regulierten die meisten Staaten in der Folge den transnationalen Waren- und Kapitalverkehr. Dieser Trend verstärkte sich nach 1945 mit dem aufkommenden Kalten Krieg und vor 4 Vgl. u. a. Marika Vicziany : Bombay merchants and structural changes in the export community 1850 to 1880, in: Kirti N. Chaudhuri, Clive J. Dewey (Hg.): Economy and society. Essays in Indian Economy and Social History, Delhi 1979, S. 163 – 196; Volker Wünderich: Die Kolonialware Kaffee von der Erzeugung in Guatemala bis zum Verbrauch in Deutschland. Aus der transatlantischen Biographie eines »produktiven« Genußmittels (1860 – 1895), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1994/1, S. 37 – 60, hier : 45; Julia Laura Rischbieter : Globalisierungsprozesse vor Ort. Die Interdependenz von Produktion, Handel und Konsum am Beispiel »Kaffee« zur Zeit des Kaiserreichs, in: Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung, Heft 3 (2007), S. 28 – 45. 5 Laut Thomas L. Friedman werden im Zuge von Globalisierungsprozessen Kommunikationsund Handlungsstrukturen geschaffen, durch welche soziale Akteure unabhängig von ihrem geografischen Standort direkt miteinander verbunden werden: Thomas L. Friedman: The World Is Flat. The Globalized World in the Twenty-first Century, London 2006. 6 Roland Robertson: Glocalization. Time-Space and Homogeneity-Heterogeneity, in: Mike Featherstone, Scott Lash, Roland Robertson (Hg.): Global Modernities, London 1995, S. 25 – 44; Arjun Appadurai: Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 2000. 7 Harold James: The End of Globalization. Lessons from the Great Depression. Cambridge (Mass.), London 2001, S. 10 – 25; Christof Dejung, Niels P. Petersson (Hg.): Foundations of World-Wide Economic Integration. Power, Institutions and Global Markets, 1850 – 1930, Cambridge 2013.
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allem der Entkolonialisierungsbewegung, die in vielen Rohstoff produzierenden Ländern zu einer Nationalisierung von Unternehmen und einer Kontrolle des Außenhandels führten.8 Parallel zur wechselhaften Entwicklung der politischen Steuerung des Welthandels sahen die Jahrzehnte nach 1945 mit den multinationalen Unternehmen die Entstehung eines neuen Firmentyps. Vor allem ab den 1970er-Jahren wurden sie immer mehr zu den dominanten Organisationen in der internationalen Wirtschaft.9 Diese Entwicklung lässt sich nicht bloß bei produzierenden Unternehmen beobachten, sondern auch im Rohstoffhandel, in dem mit dem Durchbruch der industriellen Produktionsweise Skalenerträge immer wichtiger wurden. Während bis Mitte des 19. Jahrhunderts der Rohstoffhandel durch eine Vielzahl kleiner und mittlerer Handelshäuser bestritten wurde, kontrollierten Ende des 20. Jahrhunderts rund 50 international tätige Handelshäuser den globalen Handel von Produkten wie Baumwolle, Kaffee, Zucker oder Getreide. Zu diesen zählten Firmen wie Cargill, Bunge & Born, Ralli, Louis Dreyfus oder Volkart. Diese Handelshäuser konzentrierten sich nicht mehr auf bestimmte geografische Regionen, wie sie dies noch im 19. Jahrhundert getan hatten, sondern begannen mehr und mehr eine globale Unternehmensstruktur aufzubauen, weshalb sie in der Literatur auch als multinational traders bezeichnet werden. In der Regel spezialisierten sie sich jeweils auf den Handel mit einigen wenigen Rohstoffen, bei denen sie einen Weltmarktanteil von bis zu 10 Prozent aufwiesen. So waren etwa in den 1980er-Jahren sieben multinationale Handelshäuser für 40 Prozent aller Verschiffungen von grünem, das heißt nicht geröstetem Kaffee zuständig.10 Durch ihre Marktmacht, aber mehr noch durch ihre transnationale Organisationsstruktur, entwickelten sich diese Firmen zu modernen Leviathanen – so zumindest werden sie von Alfred Chandler und Bruce Mazlish bezeichnet –, die sich erfolgreich gegen politische Einmischungen in ihre Geschäfte zur Wehr setzen konnten.11 Das Verhältnis zwischen Territorialität und Kapitalismus war somit weit spannungsreicher, als es etwa die Weltsystemtheorie Immanuel Wallersteins oder die marxistische Geschichtsforschung postulierte, die von einer weitge-
8 Alice H. Amsden: The Rise of »the Rest«. Challenges to the West from Late-Industrializing Economies, New York 2001, S. 119. 9 Brian Roach: A Primer on Multinational Corporations, in: Alfred D. Chandler, Bruce Mazlish (Hg.): Leviathans. Multinational Corporations and the New Global History, Cambridge (Mass.) 2005, S. 19 – 44. 10 Gerencia Comercial – Unidad de Informaciûn Comercial: La Industria Cafetera Internacional y su Grado de Concentraciûn, in: Ensayos sobre Economa Cafetera (ed. Federaciûn Nacional de Cafeteros de Colombia), 1, (1988), S. 12 – 26; Revista de Comercio do Caf¦, AÇo 66, Julio 1987, S. 26 – 27. 11 Chandler, Mazlish (Anm. 9).
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henden Identität von politischer und ökonomischer Macht ausgeht.12 Giovanni Arrighi vertritt dagegen die Ansicht, dass Kapitalismus und staatliche Territorialität zwei unterschiedliche Herrschaftsmodi seien. Territorialität strebe nach einer Kontrolle von Land und der darauf ansässigen Bevölkerung; die Kontrolle des Kapitals sei bloß ein Mittel zum Zweck. Dem Kapitalismus dagegen gehe es primär um größtmögliche Mobilität des Kapitals; die Kontrolle von Territorien und Menschen stelle für Kapitaleigner lediglich ein Mittel zur Steigerung ihrer Renditen dar.13 Dies trifft auch für international tätige Handelsunternehmen zu. Solange sie nicht umfangreiche Ländereien oder größere Industrieanlagen besaßen – und viele Handelsfirmen verzichteten bewusst auf eine solche Rückwärts- oder Vorwärtsintegration – und sich auf das zwischenstaatliche Handelsgeschäft konzentrierten, war ihr Interesse an territorialen Fragen relativ beschränkt. Wie in diesem Beitrag gezeigt werden soll, nutzten Handelshäuser wie Volkart im Gegenteil die transnationale Struktur ihres Geschäftes, um sich gegebenenfalls nationalen oder internationalen Kontrollbemühungen entziehen zu können. Der weltweite Handel mit Kaffee – in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der zweitwichtigste Rohstoff im Welthandel nach Erdöl –14 eignet sich hervorragend, um die Bedeutung von multinationalen Handelshäusern für den globalen Rohstoffhandel sowie das Verhältnis zwischen wirtschaftlichen Akteuren und politischen Instanzen zu untersuchen. Der vorliegende Aufsatz ist in fünf inhaltliche Teilkapitel gegliedert. In den Abschnitten eins und drei wird gezeigt, wie es der Firma Volkart gelang, durch Kooperation mit lokalen Exportfirmen in Brasilien und Zentralamerika eine eigene Kaffeeorganisation aufzubauen. Dies unterstreicht die Bedeutung von unternehmerischen Netzwerken für den Eintritt in fremde Märkte15 und ist ein Beleg dafür, dass globalhistorische Prozesse häufig lokal eingebettet waren. Im dazwischen liegenden zweiten Abschnitt werden die Konkurrenzvorteile von Handelshäusern aus den Industrieländern dargelegt. Diesen war es aufgrund ihrer Finanzkraft und ihrer engen Verbin12 Vgl. u. a. Immanuel Wallerstein: Der historische Kapitalismus, Berlin 1984, S. 26; William I. Robinson: A Theory of Global Capitalism. Production, Class, and State in a Transnational World, Baltimore, London 2004, S. 97. 13 Giovanni Arrighi: The long twentieth century : money, power, and the origins of our times. London, New York 1994, S. 34. 14 Mitte der 1980er-Jahre war Kaffee in sieben lateinamerikanischen Staaten das wichtigste natürliche Rohstoffexportprodukt und alles in allem der zweitwichtigste Rohstoff im Welthandel hinter Öl: William Gervase Clarence-Smith, Steven Topik: Introduction: Coffee and Global Development, in: William Gervase Clarence-Smith, Steven Topik (Hg.): The Global Coffee Economy in Africa, Asia, and Latin America, 1500 – 1989, Cambridge 2003, S. 1 – 17, hier 3. 15 Vgl. hierzu Jan Johanson, Finn Wiedersheim-Paul: The Internationalization of the Firm – Four Swedish Cases, in: Journal of Management Studies 12 (1975), S. 305 – 322.
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dungen mit Röstereien und Banken möglich, einen immer größeren Anteil am globalen Kaffeehandel zu erreichen. Diese Verbindungen hatten zwar durchaus globale Auswirkungen, wurden jedoch nicht selten durch persönliche Kontakte auf lokaler Ebene stabilisiert. In Abschnitt vier wird am Beispiel des Internationalen Kaffeeabkommens das Verhältnis zwischen multinationalen Firmen und den territorialen Interessen nationaler Regierungen analysiert. Es ist dabei wenig erstaunlich, dass es immer wieder zu Interessenkonflikten zwischen politischen und ökonomischen Akteuren kam. Wesentlich überraschender mag die Tatsache sein, dass die Politisierung des Kaffeehandels für global tätige Handelshäuser auch Vorteile bringen konnte, da sie so in den Genuss staatlicher Großaufträge kamen.16 Durch das Auslaufen des Kaffeeabkommens und die Rückkehr zum freien Markt verloren die Anbauländer beträchtlich an Einfluss auf die Ausgestaltung der Kaffeehandelskette, wie im abschließenden Abschnitt fünf dargelegt wird. Aufseiten der Röstereien und Handelshäuser intensivierte sich gleichzeitig der Konkurrenzkampf, sodass auch große Firmen zum Rückzug aus dem Geschäft gezwungen wurden. Volkart etwa schrieb trotz hoher Umsätze rote Zahlen und musste die Kaffeeabteilung 1989 verkaufen.
Die Firma Volkart und ihr Einstieg ins brasilianische Kaffeegeschäft Das Handelshaus Volkart wurde 1851 in Winterthur, einer Kleinstadt nördlich von Zürich, und in Bombay gegründet und entwickelte sich bis Ende des 19. Jahrhunderts zu einem der größten Baumwollexporteure Indiens. Im 20. Jahrhundert expandierte die Firma nach Ostasien sowie Nord- und Südamerika und wurde zu einem der bedeutendsten Akteure im globalen Baumwollhandel. Der Einstieg in den lateinamerikanischen Kaffeehandel war denn auch im Wesentlichen eine Folge der Aktivitäten im Baumwollgeschäft. Volkart war erstmals in den 1920er-Jahren mit Lateinamerika in Berührung gekommen. Damals hatte die Firma eine Einkaufsagentur in S¼o Paulo eröffnet, um brasilianische Baumwolle nach Deutschland, Japan und China auszuführen.17 Sie kooperierte für den Baumwollexport ab Mitte der 1930er-Jahre mit der brasilianischen Handelsfirma Prado Chaves, die gleichzeitig eine der wichtigsten Kaffeeex16 Dies bestätigt die von Forschern wie Ian Clark oder Sebastian Conrad gemachte Beobachtung, dass Territorialisierung und wirtschaftliche Globalisierung nicht als absolute Gegensätze, sondern als dialektisch ineinander verflochtene Prozesse angesehen werden sollten: Ian Clark: Globalization and Fragmentation. International Relations in the Twentieth Century, Oxford 1997; Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006. 17 Walter H. Rambousek, Armin Vogt, Hans R. Volkart: Volkart. Die Geschichte einer Welthandelsfirma. Frankfurt/Main 1990, S. 161.
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portfirmen Brasiliens war.18 Volkart begann aus diesem Grund während des Zweiten Weltkrieges mit der Ausfuhr von brasilianischem Kaffee, den man bei Prado Chaves einkaufte. Nach Kriegsende weitete Volkart das Geschäft aus, sodass die Firma in direkte Konkurrenz zu Prado Chaves trat. Prado Chaves löste deshalb im Frühjahr 1951 die Vertretungsvereinbarung, womit die Verbindung zwischen den beiden Firmen endete.19 Es war naheliegend, dass sich ein in Brasilien etabliertes Handelshaus früher oder später mit dem Export von Kaffee zu beschäftigen begann. Brasilien war im 19. Jahrhundert zum weltweit größten Kaffeeproduzenten geworden.20 Da sich Kaffee im 19. Jahrhundert von einem Luxusgetränk zu einem Massenkonsumgut wandelte, bestanden starke Anreize, die Anbauflächen in den Produktionsländern auszuweiten. Dies sollte sich bald schon als großes Problem erweisen – und war der Hauptgrund dafür, dass die Kaffeehandelskette mehr und mehr durch staatliche Interventionen beeinflusst wurde.21 Weil sich die brasilianische Kaffeeproduktion zwischen 1891 und 1902 auf 16,3 Millionen Sack22 verdreifacht hatte, brachen die Weltmarktpreise regelrecht ein. Um einen Ruin der Pflanzer zu verhindern, kaufte die brasilianische Regierung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts regelmäßig große Teile der Ernte auf. Aufgrund der künstlich hoch gehaltenen Preise produzierten in der Folge nicht nur die brasilianischen Pflanzer weit mehr als sie auf dem Weltmarkt absetzen konnten, auch andere lateinamerikanische Staaten, wie Kolumbien, begannen nun den Kaffeeanbau und -export zu fördern. In den 1930er-Jahren erfolgten die ersten Versuche, das Problem der Überproduktion durch ein internationales Abkommen zu lösen. Eine Einigung kam jedoch erst zustande, als die Militärdiktatur des brasilianischen Präsidenten Getffllio Vargas sich dem nationalsozialistischen Deutschland 18 William H. Ukers: A Trip to Brazil, New York 1935, S. 34; Robert Greenhill: E. Johnston: 150 Years of Coffee, in: Edmar Bacha, Robert Greenhill: Marcellino Martins & E. Johnston. 150 Years of Coffee, o. O. 1992, S. 131 – 266, hier S. 184. 19 Volkart-Archiv, Winterthur [VA], Konferenz-Protokolle vom 1. Juli 1949 – 19. Dezember 1952: Konferenz vom 3. März 1951; Dossier 16: USA, Brazil, Mexico, Guatemala/Costa Rica, Turkey, III. Brazil: Volkart Irm¼os Limitada, S¼o Paolo & Santos, 2. Addl. Information. 20 Die folgenden Abschnitte stützen sich, wenn nicht anders vermerkt, auf William H. Ukers: All About Coffee, New York 1935, S. 153 ff., 323 – 327; Greenhill: E. Johnston (Anm. 18), S. 133, 179 – 184, 201; Hildete Pereira de Melo: Coffee and Development of the Rio de Janeiro Economy, 1888 – 1920, in: Clarence-Smith, Topik (Hg.): The Global Coffee Economy (Anm. 14), S. 360 – 384; Steven Topik, Mario Samper : The Latin America Coffee Commodity Chain: Brazil and Costa Rica, in: Steven Topik, Carlos Marichal, Zephyr Frank (Hg.): From Silver to Cocaine. Latin American Commodity Chains and the Building of the World Economy, 1500 – 2000, Durham, London 2006, S. 118 – 146. 21 E. Bradford Burns: A History of Brazil, New York 1980, S. 300 – 311, 352, 401; John M. Talbot: Grounds for Agreement. The Political Economy of the Coffee Commodity Chain, Lanham 2004, S. 47 – 55. 22 Jeder Sack hatte ein Standardgewicht von 60 kg.
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anzunähern begann. Nun ergriffen die Vereinigten Staaten die Initiative und setzten 1940 das Inter-American Coffee Agreement (IACA) durch, welches bis 1945 in Kraft blieb. Diese Vereinbarung setzte Importquoten für den US-Markt fest, begrenzte den Anbau und garantierte den lateinamerikanischen Produzenten höhere Preise als noch in den 1930er-Jahren. Nach Kriegsende stieg die Nachfrage nach Kaffee wieder stark an. Da die Produktion gegenüber den 1930er-Jahren zurückgegangen war, kam es zu einem großen Preisanstieg und einem erneuten Ausbau der Anbaufläche. Der Einstieg ins Kaffeegeschäft erfolgte für Volkart somit zu einem günstigen Zeitpunkt. Wie genau die Firma dieses Geschäft jedoch aufziehen sollte, war anfänglich unklar. Noch im September 1950 wurde in der Geschäftsleitung die Ansicht vertreten, dass es sinnvoll sei, sowohl in Europa wie in den USA als bloßer Vertreter von süd- und zentralamerikanischen Exporthandelshäusern aufzutreten.23 Nachdem Prado Chaves die Zusammenarbeit aufgekündigt hatte, wurde aber deutlich, dass Volkart von nun als eigenständiger Verschiffer in Brasilien tätig werden musste, da man sonst kaum über eine Randexistenz im Kaffeegeschäft herauskommen würde.24 Bis 1953 hatte die Firma deshalb in New York und Winterthur je eine eigene Kaffeeabteilung eingerichtet. 1954 wurde in Santos ein Büro für den Einkauf von Kaffee eröffnet, welches als Filiale der Volkart Irm¼os in S¼o Paulo unterstellt war.25 1958 begann Volkart mit dem Kaffeeeinkauf im Landesinnern und erwarb die ersten Aufbereitungsanlagen für die Verarbeitung der Kaffeekirschen in den Anbaugebieten.26 Eine solche Rückwärtsintegration war für eine Handelsfirma unumgänglich, wenn sie eine größere Bedeutung im Exportgeschäft erlangen wollte – eine Erfahrung, die Volkart bereits früher im indischen Baumwollgeschäft gemacht hatte. Mit dem Aufbau einer eigenen Einkaufsorganisation unternahm Volkart in den späten 1950er-Jahren einen ähnlichen Schritt wie – praktisch zur gleichen Zeit – die amerikanische Handelsfirma Anderson Clayton. Diese hatte sich ab 1932 im brasilianischen Baumwollmarkt betätigt und diversifizierte 1950 ins Kaffeegeschäft. Anderson Clayton wurde schon bald zum bedeutendsten Kaffeeexporteur Brasiliens und führte in den frühen 1950er-Jahren jeden Monat 23 VA, Konferenz-Protokolle vom 1. Juli 1949 – 19. Dezember 1952: PR, Protokoll der PartnersKonferenz vom 16. September 1950, Aufnahme des Kaffeegeschäftes in New York, 15. September 1950. 24 VA, Konferenz-Protokolle vom 1. Juli 1949 – 19. Dezember 1952: Konferenz vom 3. März 1951; Dossier 16: USA, Brazil, Mexico, Guatemala/Costa Rica, Turkey, III. Brazil: Volkart Irm¼os Limitada, S¼o Paolo & Santos, 2. Addl. Information. 25 VA, Konferenz-Protokolle vom 16. Januar 1953 – 6. Januar 1959: Konferenzen vom 13. Januar 1954 und vom 7. September 1954. 26 VA, Bilanzen, Bilanz 1957/58; Konferenz-Protokolle vom 16. Januar 1953 – 6. Januar 1959: Konferenz vom 7. Januar 1958 und vom 9. April 1958; Konferenz-Protokolle vom 15. Januar 1959 – 30. März 1965: JH, Zu Protokoll, 29. Juni 1960.
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mehr als 300.000 Sack Kaffee aus.27 Die Firma umging den Zwischenhandel im Landesinnern, indem sie direkt bei den Kaffeebauern kaufte und diesen auf Kredit Insektizide und Dünger lieferte. In Santos wurden die Kaffeeeinkäufe aus dem Landesinnern durch das Unternehmen nochmals selektiert und zu standardisierten Firmentypen gemischt. In einer Firmenbroschüre aus den späten 1950er-Jahren hieß es hierzu: »ACCO [Anderson, Clayton & Co, C. D.] carefully selects and supervises the blending of all shipments to conform to the particular need of individual buyers in each market throughout the world. The basic principles motivating ACCO’s activities are the satisfying of its customer’s requirements of uniformity and reliability, and the maintenance of a constant market for the farmer’s production among the world’s roasters.«28
Auch Volkart konnte mit dem Aufbau einer eigenen Einkaufsorganisation den Umsatz im Kaffeegeschäft innert weniger Jahre steigern. Zentral dafür war jedoch, dass Volkart – wie zuvor bereits Anderson Clayton – als multinationales Handelshaus von Beginn weg Skalenerträge erzielen und durch die Niederlassung in New York mit den wichtigsten Kaffeeröstern in den USA in Verbindung treten konnte. Dabei war es nicht zuletzt die interventionistische Haltung des brasilianischen Staates, die der Firma zu einem ersten Großauftrag verhalf. So gelang es Volkart im Juli 1959, von der staatlichen brasilianischen Kaffeebehörde 250.000 Sack Kaffee zu erwerben, der als Überschuss aus früheren Ernten eingelagert worden war und deshalb an Qualität eingebüßt hatte. Dieser Lagerkaffee konnte zu einem außerordentlich niedrigen Preis an Fabrikanten von löslichem Kaffee verkauft werden, wobei sich Volkart verpflichten musste, innerhalb der folgenden Monate nochmals 250.000 Sack mit normaler Qualität zu den üblichen Konditionen zu exportieren. Volkart konnte die Verkäufe der ersten 250.000 Sack aufgrund des tiefen Preises an die Bedingung knüpfen, dass die Röstereien bereit sein mussten, später nochmals eine größere Menge normalen Kaffees einzukaufen. Dadurch konnte Volkart nicht nur den Umsatz stark erhöhen, die Operation 250/250 – wie sie firmenintern genannt wurde – erlaubte auch die Anknüpfung von Geschäftsbeziehungen zu einer Reihe von Großkunden, insbesondere zu Nestl¦.29 In der Saison 1961/62 konnte die Kaffeeabteilung von Volkart erstmals substanzielle Gewinne erzielen, nachdem man insbesondere in Skandinavien die Verkaufsorganisation ausbauen und in den USA die Absätze durch die Eröffnung eines Verkaufsbüros in San Francisco steigern konnte.30 Die Umsätze in den USA 27 28 29 30
Greenhill: E. Johnston (Anm. 18), S. 244. Anderson, Clayton & Ca., Ltda. Brazil: Brazilian Coffee. Rio de Janeiro o. J. [1957], S. 18. VA, Bilanzen, Bilanz 1959/60. VA, Bilanzen, Bilanz 1961/62; Konferenz-Protokolle vom 15. Januar 1959 – 30. März 1965: Konferenz vom 27. Juni 1961.
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waren von relativ bescheidenen 315.000 Sack in der Saison 1955/56 auf über 2 Millionen Sack in der Saison 1961/62 gestiegen.31 »Besonders erfolgreich«, hieß es in der Firmenbilanz 1961/62 zum Geschäft in den USA, sei »die ausgezeichnete Zusammenarbeit mit General Foods, wo wir bis zu einem gewissen Grad die Vorzugsstellung von Anderson Clayton verdrängen«.32 Doch schon kurz darauf erfolgte ein herber Rückschlag. Im Sommer 1964 brachen die Kaffeepreise auf dem Weltmarkt ein, wodurch eine Reihe von Firmen zahlungsunfähig wurde. Das Gerücht kam auf, Volkart sei zahlungsunfähig, der Leiter der Kaffeeabteilung in New York befinde sich auf der Flucht und die brasilianische Regierung habe die Firma auf 24 Millionen US-Dollar verklagt. Volkart informierte daraufhin die Mitarbeiter und Tochterfirmen in einem Zirkular und betonte, dass diese Gerüchte haltlos seien und dass es der Firma gelungen sei, die Verluste im Kaffeehandel durch andere Einkünfte auszugleichen.33 »Dass bei den schädlichen Gerüchten auch ›wishful thinking‹ mitgespielt hat, ist anzunehmen«, hieß es dazu lakonisch in der Bilanz 1963/64. »Unsere riesigen Kaffeegeschäfte in Amerika haben uns nicht nur Freundschaften gebracht!«34
Die Konkurrenzvorteile von multinationalen Handelsfirmen Alles in allem ist es bemerkenswert, wie rasch sich Firmen wie Volkart und Anderson Clayton im brasilianischen Kaffeegeschäft etablieren konnten. Dies hatte mehrere Ursachen. Ein Vorteil dieser multinationalen Handelshäuser lag in ihrer finanziellen Potenz und in einer generellen Veränderung des globalen Handels in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Handelsfirmen gingen in dieser Periode zunehmend dazu über, Vorschüsse an Zwischenhändler und Pflanzer zu zahlen. Volkart hatte sich noch bis in die Zwischenkriegszeit strikt geweigert, Geschäfte auf Kreditbasis zu tätigen. Dadurch wurde das Geschäft für Volkart zwar immer riskanter – gleichzeitig konnte die Firma aber ihren Umsatz beträchtlich steigern, da viele Konkurrenten nicht fähig oder nicht bereit waren, ähnliche Kapitalrisiken einzugehen. Volkart war in dieser Beziehung kein Einzelfall. Auch andere multinationale Handelsfirmen wie Ralli, Bunge & Born oder Anderson Clayton betätigten sich nach 1945 immer mehr als Finanziers und übernahmen damit Funktionen, die 31 VA, Bilanzen, Bilanz 1959/60 und 1960/61. 32 VA, Bilanzen, Bilanz 1961/62. 33 VA, Konferenz-Protokolle vom 15. Januar 1959 – 30. März 1965: Konferenz vom 7. September 1964; Zirkular, Winterthur an die Tochterfirmen, 8. September 1964. 34 VA, Bilanzen, Bilanz 1963/64.
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bis in die Zwischenkriegszeit von Handelsbanken übernommen worden waren.35 So finanzierte Volkart in den frühen 1950er-Jahren Kaffeeexporte aus Brasilien, indem die Firma bei westlichen Banken Kredite aufnahm und diese wiederum an brasilianische Exportfirmen weiterleitete.36 Gegenüber den Exportfirmen aus den Rohstoff produzierenden Ländern hatten multinationale Firmen wie Volkart oder Anderson Clayton den Vorteil, dass sie über langjährige Beziehungen zu den Banken verfügten und diesen darüber hinaus ihre Warenlager als Sicherheit anbieten konnten.37 Volkart begann in den 1950er-Jahren mit der Einrichtung sogenannter working stocks, die der Firma eine rasche Lieferung von gängigen Qualitätssorten ermöglichten. Darüber hinaus hatten diese Lager den Vorteil, dass die Firma besser gegen Preisschwankungen gewappnet war, da man die Einkäufe dann durchführen konnte, wenn die Preise niedrig waren.38 Multinationale Handelshäuser wie Volkart oder Anderson Clayton konnten bei ihrem Einstieg ins Kaffeegeschäft wesentlich davon profitieren, dass sie durch die vertikale Integration von Einkauf, Verarbeitung, Import und Export sowohl Transaktionskosten als durch ihr weltweites Filialnetz und die Nähe zu den Röstern in den Industrieländern auch Informationskosten senken konnten. Dies war ein wichtiger Wettbewerbsvorteil. Noch in den 1960er-Jahren dauerte es etwa trotz Telegrafie mehrere Tage, bis man in Guatemala – mit Umweg via Europa – von einem Frost in Brasilien erfuhr, welcher den Kaffeepreis weltweit in die Höhe trieb.39 Handelsfirmen wie Volkart oder Anderson Clayton widmeten deshalb der Aufbereitung von Informationen über die Entwicklung der Ernten stets größte Aufmerksamkeit.40 Den multinationalen Handelsfirmen kam zudem entgegen, dass im Kaffeegeschäft – wie im Welthandel generell – die Zuverlässigkeit der Vertragspartner zentral war. Die Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit eines Vertragspartners wurde nicht zuletzt dadurch erleichtert, dass die Zahl der beteiligten Parteien im Kaffeehandel stets überschaubar war. Auch auf dem globalen Markt wurde der Zugang zum inneren Kreis der Kaffeehändler genau kontrolliert. Die New Yorker Kaffeebörse etwa wies maximal 312 Mitglieder auf. Die Aufnahme eines neuen Mitgliedes musste jeweils von einem bestehenden Mitglied beantragt und vom Vorstand der Börse genehmigt wer35 Ralli Brothers Limited, London 1951, S. 13. 36 VA, Konferenz-Protokolle vom 16. Januar 1953 – 6. Januar 1959: Konferenz vom 8. November 1954. 37 VA, Dossier 26: Finance/Exchange 1887 – 1977, 4 general information about finance by HO and SDCHARD 1937 – 1941: Aktennotiz, 28. 8. 1958; Dossier 48: Artikel/Abhandlungen/ Gedichte/Briefe etc. von ehemaligen Mitarbeitern: O. Kappeler, Ueberseehandel, 23. 11. 1965; Greenhill: E. Johnston (Anm. 18), S. 245. 38 VA, Dossier 44, VBH Guidelines 1970 – 1983 (verfasst von Peter Reinhart): Circular letter No. 108, 1st October 1955; Winterthur an Volanka, Colombo, 19. Februar 1970. 39 Interview mit Thomas Nottebohm, Ciudad de Guatemala, 18. März 2008. 40 Revista do Com¦rcio de Caf¦, Vol. 59, No. 645, MarÅo 1979, S. 20 – 21.
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den.41 Indem größere Firmen immer wieder mit denselben Geschäftspartnern zu tun hatten, kannten sie sowohl deren finanzielle Situation wie auch deren Reputation relativ genau. Verträge erhielten deshalb in der Regel bloß wenige Garantieklauseln. Im Streitfall wirkte die jeweilige Kaffeebörse, auf die der Vertrag abgeschlossen wurde, als Schiedsgericht. Handelshäuser waren jedoch darum bemüht, es wenn möglich nicht zu Konflikten kommen zu lassen. Firmen wie Volkart strebten danach, die Vertragsbedingungen unter allen Umständen zu erfüllen oder sich andernfalls mit den Käufern gütlich zu einigen.42 Dies begründete William H. Ukers, der langjährige Redaktor des New Yorker Tea and Coffee Trade Journal im Jahr 1935 folgendermaßen: »As the quality of most of the coffee sold is a question of good faith on the part of the seller, it is obvious that these shippings inferior grades or qualities, or refusing adjustment in some mutually satisfactory manner, are soon eliminated by discriminating buyers.«43
Markteintritt in Zentralamerika durch Kooperation mit lokalen Kaffeefirmen Schon kurz nachdem die Firma Volkart den Aufbau einer eigenen Kaffeeorganisation beschlossen hatte, führte sie eine geografische Diversifizierung durch. Neben dem Export von brasilianischem Kaffee kaufte die Firma alsbald auch kolumbianischen Kaffee über dort niedergelassene Exportfirmen und setzte ihn in den USA ab.44 Weiter begann Volkart mit dem Kaffeeeinkauf in Mexiko und hatte ab den frühen 1960er-Jahren Mitarbeiter in afrikanischen Produktionsländern wie Uganda oder dem Kongo stationiert, die dort für Volkart New York Kaffee aufkauften.45 Bereits in den frühen 1950er-Jahren hatte die Firma zudem mit dem Verkauf von zentralamerikanischem Kaffee an Hamburger Importfirmen begonnen.46 41 Ukers, All About Coffee (Anm. 20), S. 364. 42 Library of the International Coffee Organization, London, SG. 12: Peter Zurschmiede. World Coffee Situation now – and an Outlook for the next 3 years. Lecture given at the Santos Coffee Seminar on June 1, 1977 in Guaruj; Interview mit Thomas Nottebohm (Anm. 39). 43 Ukers, All About Coffee (Anm. 20), S. 362. 44 Eine Beteiligung an Kaffeefirmen in Kolumbien, dem weltweit zweitgrößten Kaffeeproduzenten nach Brasilien, war für ausländische Handelshäuser aus rechtlichen Gründen lange Zeit nicht möglich; Volkart konnte sich erst in den 1980er-Jahren an einer kolumbianischen Exportfirma beteiligen: Interview mit Peter Zurschmiede, Zürich, 8. Februar 2008. 45 VA, Konferenz-Protokolle vom 15. Januar 1959– 30. März 1965: Zu Protokoll, 10. Januar 1962; Konferenz-Protokolle vom 15. Januar 1959– 30. März 1965: Zu Protokoll, 10. Januar 1962. 46 VA, Konferenz-Protokolle vom 16. Januar 1953 – 6. Januar 1959: Konferenz vom 23. Januar 1954.
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In den 1960er-Jahren intensivierte Volkart die Geschäfte mit Exportfirmen aus Costa Rica und Guatemala. Den Einstieg in die neuen Kaffeemärkte bewerkstelligte das Handelshaus durch die Kooperation mit zentralamerikanischen Kaffeefirmen, welche von deutschen Auswanderern betrieben wurden, sowie durch Zusammenarbeit mit einem Unternehmen, welches von einem Deutschschweizer Kaufmann gegründet worden war.47 Die gemeinsame Sprache und der gemeinsame kulturelle Hintergrund schufen dabei eine Grundlage für das im Fernhandel so wichtige Vertrauen. Wie zentral dies nach Ansicht der damaligen Kaufleute war, lässt sich etwa daran ablesen, dass die Verantwortlichen des Bremer Vereins der am Kaffeehandel beteiligten Firmen in einer Publikation von 1950 festhielten: »Käufe von Erzeugnissen einer bestimmten Pflanzung oder eines Bezirks sind Vertrauenssache. Man kann solche Geschäfte nur mit bekannten, zuverlässigen Abladern im Ursprungsland machen.«48 Einer der ersten zentralamerikanischen Lieferanten von Volkart war die Firma des Schweizer Kaufmanns Hans Waelti in Guatemala.49 Ab 1962 hatte Volkart zwei eigene Mitarbeiter bei Waelti einquartiert, um die Einkäufe in Guatemala besser überwachen zu können.50 Wenig später begann Volkart in Costa Rica eine Zusammenarbeit mit Caf¦ Capris, einem Unternehmen, das in den 1950er-Jahren unter dem Namen Capris für den Import von europäischen Werkzeugen und Eisenwaren nach Costa Rica gegründet worden war. In den frühen 1960er-Jahren stieg einer der Teilhaber, der deutsche Kaufmann Karl Schnell, in den Kaffeeexport ein, indem er einige Kaffeemuster an den Onkel seines Geschäftspartners schickte. Dieser Onkel saß im Vorstand des deutschen Lebensmittelproduzenten Edeka – was ein weiterer Beleg dafür ist, welch großen Stellenwert soziale und familiäre Beziehungen auch noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für den Welthandel hatten. Da Edeka von den Mustern angetan war, gründete Schnell die Firma Caf¦ Capris und begann mit dem Kaffeeexport nach Westeuropa und in die USA.51 Volkart war eine der Firmen, die die Lieferungen von Caf¦ Capris in Europa vertrieben. 1967 reiste der Volkart-Teilhaber Peter Reinhart nach Zentralamerika, um abzuklären, ob es sich lohnen würde, in dieser Region eigene beneficios (Verarbeitungsanlagen) zu betreiben und eine eigene Einkaufsorganisation zu gründen. Dies wäre jedoch äußerst riskant gewesen, da die Geschäfte in der Region sehr oft über die Ge47 Interview mit Paul Moeller, Winterthur, 26. November 2007. 48 Verein der am Kaffeehandel beteiligten Firmen in Bremen e. V.: Kaffee. Handel – Pflanzung – Wirtschaftspolitische Bedeutung – Geschichte, Bremen, Bielefeld, Frankfurt/Main 1950, S. 25. 49 Interview mit Paul Moeller (Anm. 47). 50 VA, Bilanzen, Bilanz 1962/63; Konferenz-Protokolle vom 15. Januar 1959 – 30. März 1965: Konferenz vom 21. Februar 1964. 51 Interview mit Jörg von Saalfeld, Heredia (Costa Rica), 27. März 2008.
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währung von Krediten liefen. Wenn die Bauern nach der Ernte nicht die vereinbarte Kaffeemenge beziehungsweise nicht die vereinbarte Qualität ablieferten, mussten sie sich verpflichten, diese Differenz in der nächsten Saison auszugleichen. In gewissen Fällen waren die Bauern gar gezwungen, den Exporteuren oder den Betreibern der beneficios ihr Land abzutreten. Viele deutsche Kaufleute waren in Zentralamerika auf diese Weise im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu beträchtlichem Grundbesitz gekommen. Für Volkart als Welthandelsfirma war das Betreiben von eigenen Kaffeeplantagen jedoch nicht interessant. Auch wäre die Durchsetzung der Verträge für eine ausländische Firma aufgrund der fehlenden Ortskenntnisse schwierig gewesen. Aus diesem Grund beschloss Volkart, sich an den Exportfirmen zu beteiligen, mit denen man bis dahin erfolgreich zusammengearbeitet hatte. 1967 übernahm Volkart eine Minderheitsbeteiligung von 35,3 Prozent an Peter Schoenfeld S.A., die seit den frühen 1960er-Jahren Kaffee aus Guatemala exportierte und eng mit Juan Waelti Sucs. S.A. verbunden war.52 1969 beteiligte sich Volkart mit 35,2 Prozent bei Juan Waelti und übernahm 50 Prozent der Anteile von Caf¦ Capris.53 Diese Kooperation hatte für beide Seiten Vorteile, da sie ihnen half, Informations- und Transaktionskosten zu senken. Die zentralamerikanischen Exporteure kamen durch eine solche Zusammenarbeit zu Krediten, aus denen sie wiederum Vorschüsse an die beneficios bezahlten. Für Exportfirmen aus Zentralamerika war es nur schwer möglich, von europäischen oder amerikanischen Banken Kredite zu erhalten, da sie keine größeren Aktiven als Sicherheiten besaßen und da die ausländischen Banken die lokalen Verhältnisse zu wenig genau kannten, um die Vertrauenswürdigkeit der dort niedergelassenen Exporteure einschätzen zu können. Kapitalstarke Handelsfirmen wie Volkart dagegen hatten keine Mühe, Bankkredite zu erhalten. Um sicherzustellen, dass ihre Vorschüsse wieder zurückbezahlt würden, bestanden sie jedoch darauf, sich an den lokalen Exportfirmen beteiligen zu können.54 Eine besondere Bedeutung hatten dabei die Kaffeeaufbereitungsanlagen. Die Aufbereitungsanlagen in Costa Rica wurden entweder von den Besitzern größerer Plantagen betrieben, die neben dem eigenen Kaffee auch noch den von benachbarten Kleinbauern verarbeiteten, oder sie gehörten Unternehmern, die sich nur dem Betrieb ihrer beneficios widmeten und ihrerseits oft mit bestimmten Exportfirmen kooperierten, an denen wiederum europäische und amerikanische Firmen beteiligt waren. Die beneficios wurden damit faktisch zu Relaisstationen zwischen ausländischem Kapital und lokaler Landwirtschaft. Größere beneficios verarbeiteten dabei den Kaffee von Hunderten, wenn nicht 52 Kaffee-Büro (Hg.): Guatemala: Fincas Productoras y Exportadores de Caf¦, Hamburg 1962. 53 Jakob Anderegg: Volkart Brothers 1851 – 1976. A Chronicle, Winterthur 1976, S. 719 ff. 54 Interview mit Paul Moeller (Anm. 47).
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Tausenden von kleinen Plantagen. Da die beneficadores auf diese Weise die Qualität ihres Rohkaffees genau überwachen konnten, hatten sie die Möglichkeit, ihren Kaffee unter einer eigenen Marke zu verkaufen. In den 1950er-Jahren existierten in Costa Rica über Hundert Kaffeeplantagen-Marken. Diese waren nicht nur im lokalen Markt etabliert, sondern wurden auch im globalen Kaffeehandel als Qualitätsstandard akzeptiert.55 Durch die Beteiligung an einheimischen Exportfirmen konnte Volkart ab den späten 1960er-Jahren für Kaffee aus Costa Rica bestimmte firmeneigene Marken, wie Pastores, Gloria, Coral, Jade Azul oder Miralinda, im Welthandel etablieren – Marken, die wiederum auf eigenen Mischungen von Kaffee von zwei oder drei Plantagen beruhten. Indem Volkart somit einen Rohstoff in ein firmeneigenes Produkt mit standardisierten Geschmackseigenschaften verwandelte, erleichterte die Firma den Röstereien die Bestellungen.56 Volkart konnte sich durch die Etablierung dieser firmeneigenen Typen mit der Zeit von der europäischen Konkurrenz abheben, die ihren Kaffee damals bloß durch die Beschreibung der Geschmackseigenschaften der jeweiligen Lieferungen vertrieb.57 Sowohl in Guatemala wie in Costa Rica gerieten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer weitere Glieder der commodity chain unter die Kontrolle von multinationalen Firmen. Diese Rückwärtsintegration hatte wesentlich mit dem großen Konkurrenzkampf zwischen den Exportfirmen und der Finanzkraft von ausländischen Unternehmen zu tun. Letztere wurde nicht zuletzt deshalb wichtig, weil die Exporte aus Zentralamerika stetig anstiegen. Costa Rica etwa hatte 1949/50 noch 392.000 Sack Kaffee exportiert, in der Saison 1960/61 waren es bereits 1,3 Millionen und 1979/80 fast 2,4 Millionen Sack Kaffee, die ausgeführt wurden.58 Der Kapitalbedarf der Verarbeiter wuchs ab den 1960er-Jahren zunehmend, da die Selektion der Bohnen in den Verarbeitungswerken immer häufiger maschinell erfolgte, wodurch viele kleinere beneficios aus dem Geschäft gedrängt wurden. Im Falle von plötzlichen Preisschwankungen gerieten die lokalen Exporteure jedoch in einen Liquiditätsengpass, der nur durch zusätzliches Kapital der ausländischen Partner behoben werden konnte. Bis in die 1980er55 Tea and Coffee Trade Journal, Vol. 57, Nr. 8, (1957), S.16, 54; Gertrud Peters Solûrzano: Empresarios e Historia del Caf¦ en Costa Rica 1930 – 1950. Trabajo final de Investigaciûn, Universidad Nacional, Facultad de Ciencias Sociales, Escuela de Historia, Heredia (Costa Rica) 1989; Jeffery M. Paige: Coffee and Power. Revolution and the Rise of Democracy in Central America, Cambridge (Mass.), London 1997, S. 237 f. 56 Gertrud Peters Solûrzano: Formaciûn y Desarrollo del Grupo Cafetalero en la Comunidad Empresarial Costarricense. Trabajo final de Investigaciûn, Universidad Nacional, Heredia (Costa Rica) 1984, S. 167; Interviews mit William Hempstead, Ciudad de Guatemala, 17. März 2008; Ronald Peters, San Jos¦ (Costa Rica), 1. April 2008; Thomas Nottebohm (Anm. 39); Jörg von Saalfeld (Anm. 51). 57 Interview mit Paul Moeller (Anm. 47). 58 C. A. Krug und R. A. de Poerck: World Coffee Survey, Rom 1968, S. 226.
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Jahre gelangten so die meisten zentralamerikanischen Exportfirmen und Verarbeitungswerke unter die Kontrolle von multinationalen Kaffeehandelsfirmen. Volkart etwa hatte bis zu dieser Zeit sowohl die Mehrheiten von Caf¦ Capris in Costa Rica sowie Juan Waelti S.A. und Peter Schoenfeld S.A. in Guatemala übernommen und kontrollierte mehrere beneficios.59 Diese Rückwärtsintegration war Ausdruck des Konzentrationsprozesses im globalen Kaffeegeschäft, der in den 1970er-Jahren einsetzte und der im letzten Abschnitt dieses Beitrags noch detaillierter geschildert wird. Als Folge dieser Entwicklung wurden Ende der 1990er-Jahre etwa 65 Prozent aller Exporte aus Costa Rica durch bloß vier Firmen vorgenommen. Das bedeutendste Unternehmen war dabei die Firma Caf¦ Capris, die etwa ein Viertel aller Kaffeeexporte aus Costa Rica durchführte.60
Das Internationale Kaffeeabkommen und die Handlungsmacht multinationaler Firmen Der Weltkaffeehandel wurde nach 1945 nicht nur durch die Finanzkraft multinationaler Firmen beeinflusst, sondern auch durch die politischen Entscheide von nationalstaatlichen Regierungen.61 Nachdem die weltweite Nachfrage nach Kaffee in den späten 1940er-Jahren stark angestiegen war, wurde in allen Anbauländern die Produktion forciert. Dies führte zu einem globalen Überangebot und stark fallenden Preisen. 1957/58 schlossen die lateinamerikanischen Kaffeeexporteure ein Abkommen, um ihre Exporte zu beschränken. Da die westeuropäischen Staaten und die USA jedoch nicht gewillt waren, für ihre Einfuhren auf diese Exportquoten Rücksicht zu nehmen, entfaltete das Abkommen nicht die gewünschte Wirkung. Nach der kubanischen Revolution wuchs in den USA die Furcht vor weiteren kommunistischen Umstürzen in Lateinamerika. Aus geostrategischen Gründen erschien es nun wichtig, den lateinamerikanischen Kaffeebauern ein stabiles Einkommen zu sichern. Dies führte 1962 zum Abschluss des International Coffee Agreement. Dieses Abkommen sah für jedes Anbauland Exportquoten vor, die von den importierenden Ländern beachtet und durch die International 59 Paige: Coffee and Power (Anm. 55), S. 114, 265 ff.; Interviews mit Paul Moeller (Anm. 47) und Jörg von Saalfeld (Anm. 51). 60 Johanna Chaves Murillo: Competitividad Internacional de la Industria Cafetalera Costarricense. Tesis de la Universidad Nacional Heredia, Heredia (Costa Rica) 2001, S. 64 f. 61 Die folgenden Ausführungen zum Kaffeeabkommen beruhen, wenn nicht anders vermerkt, auf C. F. Marshall: The World Coffee Trade. A Guide to the Production, Trading and Consumption of Coffee, Cambridge 1983, S. 106 – 121, 170 f.; Robert H. Bates: Open-Economy Politics. The Political Economy of the World Coffee Trade, Princeton 1997; Talbot: Grounds for Agreement (Anm. 21), S. 55 – 63, 108.
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Coffee Organisation (ICO) in London überwacht werden sollten. Dadurch wurde der Kaffeehandel zu einem der wenigen Bereiche des internationalen Warentausches, der durch eine politische Übereinkunft über eine längere Periode hinweg wirksam reguliert werden konnte. In der ICO hatten Anbauländer und Kaffeeverbraucherländer je 1000 Stimmen, wobei die USA und Brasilien als wichtigstes Konsumenten- beziehungsweise Produzentenland bereits je 400 Stimmen innehatten. Da Beschlüsse stets mit einer Zweidrittelmehrheit gutgeheißen werden mussten, besaßen diese beiden Länder faktisch eine Vetomacht. Der freie Weltkaffeemarkt wurde damit durch ein Kartellabkommen ersetzt, das wesentlich auf die Initiative der Anbauländer zurückging. Eine wichtige Mittlerrolle übten dabei die nationalen Kaffeeinstitute wie das Instituto Brasileiro do Caf¦ oder die kolumbianische Federaciûn Nacional de Cafeteros aus. Sie zweigten von den Exporten jeweils einen bestimmten Prozentsatz des Verkaufspreises ab und finanzierten damit unter anderem Forschung und technische Innovationen im Kaffeeanbau, vergaben billige Kredite an Pflanzer und fingen Preisschwankungen ab, indem sie bei tiefen Weltmarktpreisen die Zahlungen an die Pflanzer erhöhten. Steven Topik und Mario Samper kommen deshalb zum Schluss, dass die Dependenztheorie – eine der der wohl einflussreichsten Beiträge aus Lateinamerika zur Sozialtheorie – gerade bei der Beschreibung des wichtigsten Exportgutes dieser Region zu kurz greift. Gemäß diesem Ansatz wurde die in der Landwirtschaft tätige Bevölkerung Lateinamerikas im 19. und 20. Jahrhundert zum Opfer eines von Ausländern kontrollierten Weltmarktes. Im Kaffeehandel konnten die Produktionsländer jedoch wesentlich mehr Einfluss auf die globale Warenkette ausüben, als laut der Dependenztheorie zu erwarten wäre.62 Allerdings muss hierzu einschränkend bemerkt werden, dass die Gewinne der multinationalen Handelshäuser mehrheitlich in den Industrieländern anfielen und dass im Bereich der Kaffee verarbeitenden Industrie der Einfluss von Akteuren aus den nördlichen Industriestaaten durchaus zu einem Problem für lateinamerikanische Unternehmen werden konnte. Auf diesen Punkt soll im nächsten Abschnitt noch detaillierter eingegangen werden. Das internationale Kaffeeabkommen stabilisierte die Weltmarktpreise auf einem höheren Niveau. Dennoch standen anfänglich auch die großen Kaffeefirmen hinter dieser Übereinkunft. Insbesondere die Kaffeeröster fürchteten Preisschwankungen sowie politische oder ökonomische Krisen in den Produzentenländern, da diese in der Regel zu Versorgungsschwierigkeiten führten. Indem durch das Abkommen eine größere Preisstabilität entstand, verlor das Absichern der Transaktionen durch Termingeschäfte an Bedeutung. Die Kaf-
62 Samper, Topik: The Latin America Coffee Commodity Chain (Anm. 20), S. 120.
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feeterminbörse in New York musste deshalb in den späten 1960er-Jahren vorübergehend geschlossen werden. Das Abkommen, welches 1968, 1976 und 1983 erneuert wurde, wies jedoch verschiedene Schwachstellen auf: Erstens sah es keine Sanktionen vor, um die Überproduktion in einzelnen Ländern zu verhindern. Die Anbauländer produzierten deshalb häufig mehr Kaffee, als ihrer Exportquote entsprochen hätte und versuchten dann, bei der ICO Druck auszuüben, um eine höhere Quote zugesprochen zu erhalten. Da zudem Organisationen wie die Weltbank oder die amerikanische Entwicklungshilfebehörde großzügige Kredite vergaben, um den Kaffeeanbau anzukurbeln, wurde weltweit stets mehr Kaffee produziert, als konsumiert wurde. Zweitens ging das Abkommen stillschweigend davon aus, dass die wichtigsten Akteure der globalen Kaffeekette nationale Regierungen seien. Es vernachlässigte dabei insbesondere die Rolle der multinationalen Firmen, die eigene Strukturen aufgebaut hatten, welche von der Politik nur schwer kontrolliert werden konnten. Drittens umfasste das Abkommen nicht alle Konsumländer. Während 1962 noch 94 Prozent des Weltkaffees in Staaten konsumiert wurde, die dem Abkommen beigetreten waren, sank dieser Anteil bis Ende der 1980er-Jahre auf 80 Prozent. Viele asiatische Länder sowie verschiedene Ostblockstaaten waren keine Mitgliedsländer. Dies eröffnete den Anbauländern die Möglichkeit, einen Teil ihrer Ernte in Nicht-Mitgliedsländern abzusetzen. Dort wurden oft höhere Preise bezahlt als in den Staaten, die dem Abkommen beigetreten waren. Zudem hatten multinationale Firmen die Möglichkeit, die Quoten zu umgehen, indem Importe nach Asien oder Osteuropa durchgeführt wurden und die Kaffeelieferungen anschließend mit gefälschten Dokumenten als sogenannter tourist coffee nach Westeuropa oder in die USA reexportiert wurde. Solche Operationen wurden beispielsweise bewerkstelligt, indem in großen Verschiffungshäfen wie Singapur oder Hamburg hochwertiger Kaffee, der angeblich für ein Nicht-Mitgliedsland bestimmt war, gegen die Lieferung von minderwertigen Sorten umgetauscht wurde, welche angeblich in ein Mitgliedsland geschickt werden sollten. Dadurch konnten die Händler die Preisdifferenz einstreichen. Eine andere Möglichkeit bestand darin, Kaffee, der angeblich für ein Nicht-Mitgliedsland bestimmt war, in einer Rösterei in einem Mitgliedsland zu verarbeiten. Wenn der geröstete Kaffee einmal im Land war, konnte man seine Spur nur noch schwer verfolgen. Obwohl der tourist coffee nie mehr als 3,5 Prozent aller Kaffeelieferungen umfasste, unterminierte er doch das Abkommen – und zeigte vor allem die wirtschaftliche Potenz multinationaler Firmen.63 Volkart hatte zu Beginn der 1960er-Jahre äußerst positiv auf die Einführung 63 Marshall: The World Coffee Trade (Anm. 61), S. 122 – 133; Talbot: Grounds for Agreement (Anm. 21), S. 65 – 80.
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der Exportquoten reagiert. Man hoffte, dass durch das Abkommen die Preise stabilisiert würden und die Kaffeeproduktion der weltweiten Nachfrage angepasst werden könnten.64 Doch schon bald begann auch Volkart, die Schlupflöcher des Abkommens zu nutzen. In der Saison 1965/66 hatte sich die Firma erstmals im Handel mit tourist coffee engagiert. In der internen Firmenbilanz wurde jedoch ausdrücklich vermerkt, dass sich die Konkurrenz schon viel früher und viel unverfrorener in diesem Bereich betätigt habe.65 Ein Jahr später wurde die erfolgreiche Entwicklung des Kaffeegeschäfts mit den Worten kommentiert: »Entscheidend für den Erfolg ist der Touristenkaffee, d. h. das Entdecken und Ausnützen von Löchern im System. Dabei gilt es, die Grenzen des Legitimen nicht zu strapazieren. Abt. 10 hat sich dieses Jahr erfolgreich an diesem Spiel beteiligt, nachdem sie früher etwas Hemmung hatte.«66
Derartige Geschäfte waren nicht ohne Risiko. 1968 flog ein Geschäft auf, bei dem Volkart für die Einfuhr von mindestens 1600 Tonnen Kaffee gefälschte schweizerische Importzertifikate verwendet hatte.67 Ob dies zu einer Strategieänderung führte oder ob die Firma derartige Praktiken auch in den 1970er- und 1980erJahren durchführte, kann mit den noch vorhandenen Quellen nicht mehr festgestellt werden. Die Betätigung im Export von tourist coffee ist jedoch nicht das einzige Beispiel dafür, wie sich Volkart aufgrund der globalen Firmenstruktur der politischen Kontrolle von staatlichen Regierungen und internationalen Verbänden entziehen konnte. Eine weitere Möglichkeit zur Optimierung der Gewinne bot sich der Firma, indem sie Gelder am Fiskus vorbeischleuste. Bereits während der Zusammenarbeit mit Prado Chaves hatten die beiden Firmen die Verkaufssteuer umgehen können, indem man die Kaffeeexporte von Prado Chaves im Namen von Volkart durchführte. Diese Praxis wurde in einem internen Protokoll als sehr riskant bezeichnet: »It is, however, not only the danger of being found out by the Fiscalisation and of having to pay terrific penalties but also a question of prestige.«68 In der Nachkriegszeit wurden zudem regelmäßig Gewinne aus Ländern wie Indien, Pakistan, Ceylon oder Brasilien in die Schweiz transferiert, indem man die Verkaufspreise der jeweiligen Tochterfirmen künstlich tief hielt, wodurch sämtliche Gewinne in Winterthur anfielen. Dabei war der Firma be-
64 65 66 67
VA, Bilanzen, Bilanz 1959/60. VA, Bilanzen, Bilanz 1965/66. VA, Bilanzen, Bilanz 1966/67. Schweizerisches Bundesarchiv, Bern: E 7110, Akz. 1979/14, Behältnis 35, Lu 730: Telefonnotiz, Bern, 2. Dezember 1968. 68 VA, Konferenz-Protokolle vom 5. Januar 1945 – 27. Juni 1947: PR, Trip to Brazil 13th September to 5th October 1946, 27. November 1946.
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wusst, dass sie gegen die Steuergesetze der jeweiligen Ausfuhrländer verstieß.69 Bei solchen Geschäften bestand stets die Gefahr, dass einzelne Mitarbeiter die Firma im Falle eines Konfliktes bei den Behörden anschwärzen könnten. Dies geschah zum Beispiel 1965, nachdem Volkart den Finanzchef der mexikanischen Tochterfirma Volkart Hermanos wegen der Veruntreuung von Geldern in der Höhe von 133.000 US-Dollar verklagt hatte. Der Beschuldigte tauchte daraufhin unter, nicht ohne die Firma zuvor bei der mexikanischen Steuerbehörde denunziert zu haben: »Ein völlig sauberes Gewissen haben wir nicht«, hieß es daraufhin in einem Protokoll der Geschäftsführung. Es wurde jedoch noch angemerkt, dass es sich beim betreffenden Vergehen nicht um eine Steuerhinterziehung im engeren Sinne handle. Aufgrund der firmeninternen Buchhaltung war aber »das Geschäft so aufgezogen […], dass Mexiko tatsächlich zu wenig verdiente« (wobei mit Mexiko hier selbstverständlich die mexikanische Tochterfirma von Volkart gemeint war).70 Die Möglichkeiten zur Steuerhinterziehung vergrößerten sich noch, wenn zwei multinationale Firmen kollaborierten. 1971 schlug Volkart in Brasilien der Firma Nestl¦ ein Geschäft vor, bei dem Volkart Nestl¦ 100.000 Sack Kaffee zu leicht überhöhten Preisen verkaufen sollte. Der Einkauf des Kaffees sollte durch ein zinsloses Darlehen von Nestl¦ an Volkart Irm¼os finanziert werden. Einen Teil des anfallenden Gewinns sollte Volkart daraufhin in der Schweiz an Nestl¦ überweisen. Bei diesem Geschäft hätten beide Firmen einen Profit von mehreren Hunderttausend Franken gemacht – die Firma Volkart, weil sie für die Finanzierung der Einkäufe keine Bankzinsen bezahlt und für den Verkauf des Kaffees einen höheren Preis erhalten hätte; die Firma Nestl¦, weil sie durch den Transfer der Gelder in die Schweiz einen kleineren Gewinn in Brasilien ausgewiesen hätte, was ihr ermöglicht hätte, in Brasilien Steuern zu sparen.71 Das Geschäft kam schließlich nicht zustande, da Nestl¦ fürchtete, der brasilianischen Preisaufsicht könnte auffallen, dass die Preise von Volkart höher seien als die der Konkurrenz. Zudem verstieß die Gewährung eines zinslosen Kredites an andere Unternehmen gegen die brasilianischen Finanzgesetze.72 Das Beispiel zeigt jedoch die Möglichkeiten von multinationalen Firmen wie Volkart und Nestl¦ – deren Zusammenarbeit noch dadurch erleichtert wurde, dass Peter Reinhart ab 1963 69 VA, Konferenz-Protokolle vom 15. Januar 1959 – 30. März 1965: PR, Office note vom 22. Februar 1965. 70 VA, Bilanzen, Bilanz 1965/66. 71 Historisches Archiv Nestl¦, Vevey [HAN], 400 – 86: Br¦sil – MatiÀres premiÀres (1970 – 1979): A. Fürer an O. Ballarin, Cia. Industrial e Comercial Brasileira de Produtos Alimentares, S¼o Paulo, 11 Janvier 1971; Proposal for discussion with Nestl¦, Winterthur, 27. Januar 1971. 72 HAN, 400 – 86: Br¦sil – MatiÀres premiÀres (1970 – 1979): Confidenatial Note, Mr. A. Fürer, Financial and Accounting Control, 3.2.71; Arthur Fürer, Generaldirektor Nestl¦ Alimenta AG, Vevey an Peter Reinhart, Gebr. Volkart AG, Winterthur, 25. Februar 1971.
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im Verwaltungsrat von Nestl¦ saß –, die Steuerbehörde eines Staates zu umgehen. Die Marktmacht von Firmen wie Nestl¦ oder Volkart beeinflusste ein Stück weit auch die Entwicklung einer eigenständigen Kaffeeindustrie in den Anbauländern. 1967 teilte Hans Bühler, der Chef der Kaffee-Abteilung von Volkart New York, Nestl¦ im Vertrauen mit, dass die brasilianische Kaffeefirma Dominium Volkart angefragt habe, den von ihr produzierten Pulverkaffee in den USA zu vertreiben.73 Nestl¦ war alles andere als erbaut von der Vorstellung, dass Volkart einer brasilianischen Firma helfen könnte, den von Nestl¦ entwickelten Nescaf¦ in den USA zu konkurrenzieren. Man teilte Bühler deshalb mit, »that we would consider it an unfriendly act were they to give the proposal by Dominium serious consideration«. Volkart lehnte daraufhin das Angebot zur Vertretung von Dominium ab, was wohl nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass Nestl¦ in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre etwa ein Drittel ihres Kaffees bei Volkart einkaufte.74 Die Röster der nördlichen Hemisphäre setzten aber nicht nur bei Handelsfirmen Druck auf, um die Konkurrenz aus Brasilien abzuwehren, sondern sie machten auch bei der amerikanischen Regierung ihren Einfluss geltend. Als 1968 das Internationale Kaffeeabkommen neu verhandelt wurde, setzte die amerikanische Delegation durch, dass Brasilien die staatliche Unterstützung der einheimischen Produzenten von löslichem Kaffee einstellte – dies ungeachtet der Tatsache, dass die USA zur selben Zeit den Export von amerikanischen Rohstoffen wie etwa Weizen ebenfalls staatlich unterstützten.75 Auch wenn also die Anbauländer im Bereich des Kaffeehandels einen beträchtlichen Einfluss gewinnen konnten, wurden sie im Bereich der Kaffeeverarbeitung aufgrund der weltwirtschaftlichen Kräfteverhältnisse klar benachteiligt. Diese Beobachtung steht durchaus in Einklang mit der dependenztheoretischen Annahme, wonach die Länder des industrialisierten Nordens danach trachteten, dass die Länder der südlichen Peripherie einzig und allein als Rohstoffproduzenten in den globalen Kapitalismus eingebunden würden, sich aber nicht zu Industrieländern entwickeln konnten.76
73 HAN, 1100 – 76: J. J. Scheu, Nestl¦ (o. O.), an Afico SA, Purchasing Department, Lausanne, January 18, 1967. 74 HAN, 1100 – 76: The Nestl¦ Company, Inc., White Plains, NY, an J. C. Corth¦sy, Nestl¦ Alimenta S.A., Vevey, January 20, 1967. 75 Talbot: Grounds for Agreement (Anm. 21), S. 62. 76 Andr¦ Gunder Frank: Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika, Frankfurt/ Main 1975.
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Das Ende der Exportquoten und zunehmender Konkurrenzkampf All diese Beispiele zeigen, dass multinationale Firmen wie Volkart in der Nachkriegszeit einen beträchtlichen Einfluss auf die Kaffeehandelskette ausüben konnten. Diesen nutzten sie in den 1980er-Jahren, um sich für die Abschaffung des Internationalen Kaffee-Abkommens einzusetzen. Spätestens nach dem großen Frost in Brasilien 1975 hatte sich gezeigt, dass die Quotenregelung ihre Hauptziele, den Anbau zu beschränken und das Preisniveau stabil zu halten, nur ungenügend erfüllen konnte. Zudem sorgte das Kaffeeabkommen für einigen Papierkrieg, da die Handelsfirmen stets zahlreiche Dokumente ausfüllen und abstempeln lassen mussten, sich bei den oft äußerst gemächlich arbeitenden Behörden in den Anbauländern um Exportgenehmigungen zu bemühen und Kopien der Importzertifikate nach London zu schicken hatten, wo sie durch die ICO kontrolliert wurden.77 Dazu kam, dass Firmen wie Volkart, die neu in den Markt eintreten wollten, in vielen Anbauländern keine Exportgenehmigung erhielten. Paul Moeller, ab 1985 Leiter der Volkart-Kaffee-Abteilung, vertrat zusammen mit einem Angehörigen der Schweizer Botschaft die Schweiz bei der ICO in London und nutzte seinen Einfluss, um das Kaffeeabkommen zu bekämpfen. Hierzu setzte er nach eigenen Angaben einerseits bei der Regierung in Bern und andererseits in der europäischen Kontinentalgruppe der ICO in London Druck auf. Damit vertrat er eine dezidiert andere Haltung als Emil Sulger, der in den frühen 1960er-Jahren die Volkart-Kaffee-Abteilung geleitet und sich als Delegierter der Schweizer Kaffeefachleute zusammen mit der Schweizer Regierung für die Einführung des Kaffeeabkommens stark gemacht hatte.78 Volkart verfügte in der ICO zusätzlich dadurch über Einfluss, dass immer wieder Teilhaber oder Geschäftsführer der zentralamerikanischen Tochtergesellschaften als Delegierte ihrer Länder nach London geschickt wurden.79 Letztendlich waren es aber weniger die Aktivitäten der multinationalen Firmen als vielmehr die Entscheide von nationalen Regierungen, die zum Ende der Exportquoten führten. Zum einen wurde die gemeinsame Front der Anbauländer in den 1980er-Jahren aufgeweicht. Gemäß einer Studie der Weltbank bevorteilten die Quoten vor allem Brasilien und Kolumbien, die beiden größten Kaffeeproduzenten, sowie verschiedene afrikanische Staaten. Verlierer waren dagegen die Produzenten von hochklassigem Arabica-Kaffee wie Mexiko, Costa Rica, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Ecuador, Peru, Indien und Papua 77 Marshall: The World Coffee Trade (Anm. 61), S. 170. 78 Kilian Künzi: »… womit die Schweiz ihrer Politik zugunsten der Entwicklungsländer treu bleiben wird«. Die Schweiz und das Kaffeeabkommen von 1962, in: Studien und Quellen. Zeitschrift des Schweizerischen Bundesarchivs 19 (1993), S. 305 – 317, hier 310; Interview mit Paul Moeller (Anm. 47). 79 La Naciûn (San Jos¦), 25 de Julio 1972.
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Neuguinea. Diese Länder hätten nach Ansicht der Weltbank in einem freien Markt größere Mengen absetzen können. Costa Rica etwa verkaufte 1989 mehr als 40 Prozent der Ernte in Länder, die sich nicht dem Kaffeeabkommen angeschlossen hatten. Zum anderen wuchs in den USA als wichtigstem Kaffeekonsumland ab den 1980er-Jahren die Kritik an der Regulierung des globalen Kaffeemarktes. Da sich der Kalte Krieg seinem Ende zuneigte, sahen die USA auch keine geostrategischen Gründe mehr, um weiter am Kaffeeabkommen festzuhalten. Die kombinierte Opposition der unterschiedlichen Interessengruppen brachte das Abkommen schließlich 1989 zu Fall. Durch das Ende des Abkommens verloren die Kaffeeproduktionsländer stark an Einfluss. Dies betraf insbesondere die nationalen Kaffeeinstitute, deren Aktivitäten den USA schon lange ein Dorn im Auge gewesen waren. Viele Kaffeepflanzer begrüßten anfänglich den Machtverlust der Kaffee-Institute, da diese oft korrupt waren und den Pflanzern Gelder, die ihnen als Anteil der Kaffeeexporte zustanden, vorenthielten oder mit großer Verspätung überwiesen. Indem die staatlichen Stellen geschwächt wurden, erhöhte sich der Handlungsspielraum der multinationalen Firmen in den Produktionsländern. Sie konnten nun direkt mit den Pflanzern Geschäfte machen und gingen dabei oft wenig zimperlich vor. Als Folge dieser Entwicklung begann der Anteil des Verkaufspreises, der den Kaffeepflanzern zuteil wurde, immer mehr zu schwanken – und tendenziell zu sinken. Während bis Mitte der 1980er-Jahre stets über 20 Prozent des Verkaufspreises an die Kaffeebauern gegangen war, sank dieser Anteil bis Anfang der 1990er-Jahre auf 4 Prozent, stieg dann bis 1997/98 auf knapp 19 Prozent und lag zur Jahrtausendwende bei etwas über 10 Prozent.80 Doch der globale Kaffeemarkt veränderte sich in den 1980er-Jahren nicht nur, weil das Quotensystem aufgehoben war, sondern auch aufgrund des immer ausgeprägteren Konzentrationsprozesses sowohl unter den Röstern wie auch unter den Handelsfirmen.81 Dieser begann bei den Kaffeeröstern bereits im frühen 20. Jahrhundert. Durch die Erfindung der Vakuumverpackung wurde es möglich, Kaffee über längere Zeit zu lagern, ohne dass er an Geschmack verlor. Dadurch konnten sich vor allem in den USA bedeutende Röster wie Arbuckels oder Woolson Spice mit eigenen Kaffeemarken etablieren. Da durch die Industrialisierung des Röstens Skalenerträge möglich wurden, erfolgte ein starker Verdrängungswettbewerb. 1950 rösteten die fünf größten Firmen in den USA über die Hälfte allen Kaffees und hielten 78 Prozent aller Lagerbestände.82 80 Paige: Coffee and Power (Anm. 55), S. 259 ff.; Talbot: Grounds for Agreement (Anm. 21), S. 80 – 97, 108 f., 166 ff. 81 William Roseberry : Introduction, in: William Roseberry, Lowell W. Gudmundson, Mario Samper (Hg.): Coffee, Society, and Power in Latin America, Baltimore 1995, S. 1 – 37, hier 10. 82 Steven Topik: The Integration of the World Coffee Market, in: Clarence-Smith, Topik (Hg.): The Global Coffee Economy (Anm. 14), S 21 – 49, hier S. 42 – 46.
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Die Konkurrenz unter den Röstern nahm vor allem in den 1980er-Jahren nochmals zu, sodass zu Ende dieses Jahrzehntes vier Firmen – Nestl¦, Philip Morris, Sara Lee und Procter & Gamble – über 60 Prozent des Weltkaffees verkauften.83 Diese Unternehmen hatten ab den späten 1970er-Jahren zudem ihre Einkaufspolitik geändert, indem sie immer mehr dazu tendierten, den Kaffeeimport aus ihrer Organisation auszugliedern und an Handelshäuser zu übertragen.84 Für Großröstereien war es wesentlich lukrativer, große Volumen mit einer standardisierten Qualität zu ordern, als kleinere Kaffeemengen von diversen Zulieferern zu verarbeiten. Die Röster übertrugen damit auch die Sicherstellung der Kaffeequalität an die Handelsfirmen. Diese Verschiebung war nur möglich geworden, weil die Handelsfirmen – wie weiter oben geschildert – ab den 1960er-Jahren dazu übergegangen waren, eigene standardisierte Kaffeetypen zu entwickeln, und durch die Einrichtung einer leistungsfähigen Einkaufsorganisation in den Anbaugebieten eine gleich bleibende Qualität der Lieferungen garantieren konnten. Dies führte schließlich auch bei den Importund Exportfirmen zu einem harten Verdrängungswettbewerb. Ab den 1950erJahren wurden viele der alteingesessenen Kaffeeimporteure, die in Hafenstädten wie Hamburg, Bremen, London, Amsterdam, Marseille, Triest, New York oder San Francisco angesiedelt waren, durch multinationale Handelsfirmen aus dem Markt gedrängt. Volkart konnte sich in dieser Zeit als eine der führenden Kaffeehandelsfirmen der Welt etablieren. Zwischen 1965/66 und 1969/70 steigerte die Firma den Kaffeeumsatz von 2,1 auf 4,3 Millionen Sack. Der Kaffeehandel wurde dadurch für die Firma – sowohl was die Gewinne als auch was die Umsätze betraf – bedeutender als der Handel mit Baumwolle, der bis in die 1960er-Jahre unangefochten das Kerngeschäft der Firma gewesen war.85 In den späten 1970erund frühen 1980er-Jahren beteiligte sich Volkart an Kaffeeexportfirmen in Papua Neuguinea, Kenia und Honduras und konnte 1983 in Kolumbien, dem weltweit zweitwichtigsten Anbauland nach Brasilien, mit einem lokalen Partner ein Joint Venture eingehen und gemeinsam die Firma Carcaf¦ S.A. in Cartago gründen.86 Der globale Kaffeehandel wurde Mitte der 1980er-Jahre durch bloß sieben Firmen dominiert, die weltweit etwa 40 Prozent aller Verkäufe an die Röstereien durchführten. Volkart war die zweitwichtigste Firma in diesem Geschäft und erreichte 1986/87 einen Umsatz von 5,5 Millionen Sack, was einem Marktanteil 83 Talbot: Grounds for Agreement (Anm. 21), S. 103 f. 84 Vgl. für die folgenden Ausführungen, wenn nicht anders vermerkt: Marshall: The World Coffee Trade (Anm. 61), S. 20 – 22; Talbot: Grounds for Agreement (Anm. 21), S. 105. 85 Anderegg: Chronicle (Anm. 53), S. 659. 86 VA, Dossier 45: Betriebsmitteilungen 1965 – 1986, Volkart Brothers Ltd. Betriebsmitteilungen 1978 – 1986: Betriebsmitteilung, 6. April 1983; Betriebsmitteilung, 6. Mai 1985; Rambousek, Vogt, Volkart, Volkart, 1990, S. 249.
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Christof Dejung
von 8 Prozent entsprach. Marktführer war die Hamburger Firma Rothfos mit einem Umsatz von 7 Millionen Sack. Auf den Plätzen drei bis fünf folgten die USFirma Cargill mit einem Umsatz von 4,5 Millionen Sack sowie die beiden britischen Firmen Rayner und ED& F Man, die je 3,5 Millionen Sack verkauft hatten.87 Ein Jahr später setzte Volkart bereits 6,5 Millionen Sack Kaffee im Wert von 1,7 Milliarden Schweizer Franken um. Das Kaffeegeschäft der Firma umfasste zu diesem Zeitpunkt zehn Tochtergesellschaften in mehreren Anbauländern, einen kleinen Stab Festangestellter nebst mehreren Tausend Teilzeitangestellten und dazu vier Importfirmen in Winterthur, Bremen, Madrid und Osaka.88 Insbesondere ab Mitte der 1980er-Jahre schlug Volkart einen massiven Expansionskurs ein. Zwar wurde der Kaffeeumsatz stark gesteigert, die Resultate waren aber gemischt. Nachdem sich der Kaffeepreis aufgrund einer Dürre in Brasilien zwischen November 1985 und Januar 1986 verdoppelt hatte, erlitt Volkart große Verluste.89 Durch einen erneuten Preisabfall 1986/87 und den Börsencrash 1987 verschärfte sich die Situation der Zwischenhändler weiter. 1988 musste sich mit der deutschen Firma Rothfos, der größte Kaffeeimporteur der Welt, vom Markt zurückziehen und das Geschäft an die deutsche Neumann-Gruppe verkaufen.90 Kurz darauf stieg auch Volkart aus dem Kaffeegeschäft aus. Im Frühling 1989 verkaufte die Firma die Kaffee-Abteilung an die Erb-Gruppe, eine Investmentgruppe aus Winterthur.91 Die Volkart-Kaffee-Abteilung expandierte unter dem Namen Volcafe weiter und übernahm in den verschiedenen Tochterfirmen sämtliche Minderheitenanteile, die noch von fremden Partnern gehalten wurden. Nachdem die Erb-Gruppe in Konkurs gegangen war,92 wurde Volcafe 2004 an das britische Handelshaus ED& F Man verkauft. Die Firma entwickelte sich weiter sehr erfolgreich und wurde zu Beginn des 21. Jahrhunderts zum umsatzstärksten Unternehmen im globalen Kaffeehandel.93
87 Gerencia Comercial. La Industria Cafetera Internacional (Anm. 10), S. 25; Revista de Com¦rcio de Caf¦, AÇo 66, Julio 1987, S. 26 – 27. 88 Tages-Anzeiger, 9. Mai 1989. 89 Schweizerische Handelszeitung, 10. April 1986. 90 Talbot: Grounds for Agreement (Anm. 21), S. 105 f. 91 Neue Zürcher Zeitung, 15. März 1989; Weltwoche, 29. April 1989; Tages-Anzeiger, 9. Mai 1989; Coffee & Cocoa International, Vol. 16, Number 4 (1989), S. 4. 92 La Naciûn (San Jos¦, Costa Rica), 13 de Diciembre 2003; Basler Zeitung: 14. Mai 2004. 93 2005 hatte Volcafe einen Marktanteil von 14 % am globalen Rohkaffeehandel und lag damit vor Neumann mit einem Anteil von 12,5 %, Esteve mit einem solchen von 9 % und Dreyfus mit einem Weltmarktanteil von 7 %: Volcafe – ED& F Coffee Division: Your partner from tree to roasting plant, Winterthur 2005, S. 9.
Anne Dietrich
Kaffee in der DDR – »Ein Politikum ersten Ranges«1
Am 28. Juni 1977 erreichte den Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED ein Brief von Politbüromitglied Albert Norden, in welchem dieser seine Bedenken zur Umsetzung einer Sparmaßnahme nationaler Tragweite äußerte: »Lieber Erich, bei der Behandlung der Vorlage über Kaffee und Kakao habe ich mich sehr über Deinen Einwand gefreut, hier nichts zu übereilen. Hier geht es ja nicht um irgendeine Versorgungsposition, sondern um ein Volksgenußmittel im besten Sinne des Wortes. […] Ich befürchte, die Durchführung der […] Maßnahmen wird auf kein Verständnis stoßen, große Unzufriedenheit auslösen. Natürlich sind wir gezwungen, aus der außenwirtschaftlichen Lage Schlußfolgerungen zu ziehen. Ohne drastische Deviseneinsparungen wird es nicht gehen. Und das muß wohl auch den Versorgungssektor einschließen. Welche Positionen gestrichen oder eingeschränkt werden, ist meines Erachtens ein Politikum ersten Ranges. Ich glaube, daß unsere Fachleute nach nochmaliger Prüfung sicher andere Rohstoffe oder Fertigerzeugnisse des Versorgungssektors finden, […] nur Dinge des ausgesprochenen Massenbedarfs sollten es nicht sein.«2
Was war geschehen? In der Politbürositzung vom 28. Juni 1977 war die künftige Versorgung der DDR-Bevölkerung mit Kaffee diskutiert worden. Aufgrund steigender Weltmarktpreise sollten die Kaffeeimporte der DDR in der Zukunft eingeschränkt werden, um so Devisenaufwendungen zu minimieren. Die unterbreiteten Vorschläge stießen dabei auf teils heftigen Widerstand innerhalb des Politbüros. Skeptiker befürchteten, dass ein bevorstehender Kaffeeengpass zu Unruhen in der Republik führen würde. Sie sollten Recht behalten. Als den DDR-Bürgern der Kaffee entzogen wurde, sollte das weitreichende Folgen für die Legitimierung der SED-Herrschaft haben. Doch wieso war es ausgerechnet Kaffee, der eine dermaßen große Empörung auslöste? Ziel dieses Aufsatzes ist es, die Bedeutung und Entwicklung des Kaffeekon1 Hierbei handelt es sich um ein Zitat aus Albert Nordens Brief an Erich Honecker vom 28. 6. 1977, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv [SAPMO-BArch], DY 3023/1218, Bl. 112. 2 SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 111 – 112.
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sums in der DDR entlang der Güterkette darzustellen. Neben der Ebene der Konsumtion finden dabei vor allem die Ebenen der Produktion und Distribution Berücksichtigung. Besonders die Ebene der Produktion ist in diesem Kontext entscheidend, denn die Kaffeekonsumgeschichte der DDR muss immer auch als Verflechtungsgeschichte zwischen Anbau- und Konsumland verstanden werden. Dies soll am Beispiel des Kaffeehandels mit Äthiopien und anderen sozialistisch orientierten Ländern des globalen Südens verdeutlicht werden. Die Darstellung eines für die DDR vorteilhaften Tauschhandels, bei dem Kaffee nicht etwa mittels Devisen zu Weltmarktpreisen gekauft, sondern gegen Waren aus eigener Produktion eingetauscht wurde, steht hierbei im Zentrum. Der zeitliche Schwerpunkt meiner Ausführungen liegt auf den 1970er-Jahren, da diese richtungweisend sowohl für die Entwicklung der internationalen Kaffeemärkte als auch für die Wende im Kaffeekonsum innerhalb der DDR waren. Allgemeine Aussagen zum Kaffeeangebot und Kaffeekonsum in der DDR beziehen sich deswegen auf die Situation ab der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre. Dies schließt einen Rückblick auf die vorherigen Jahrzehnte allerdings nicht aus, denn die Ausnahmesituation, mit der Staatsführung und Konsumenten der DDR 1977 konfrontiert wurden, ist nur durch ihre Einbettung in eine Gesamtentwicklung zu verstehen. In diesem Jahr zeigte sich, dass ein akuter Versorgungsengpass mit Kaffee zu einer Legitimationskrise nationalen Ausmaßes führen konnte. Im Kontext der sogenannten »Kaffeekrise« von 19773 wurde Kritik an der Versorgungspolitik der Zentralverwaltungswirtschaft der DDR von Seiten der Konsumenten in aller Klarheit geäußert. Die Schwierigkeit der Staatsführung, ihr Konsumversprechen gegenüber der Bevölkerung weiterhin aufrechtzuerhalten, trat offen zutage, ebenso wie ein spezifisch ostdeutsches Misstrauen in die eigene Produktkultur und Geschmackspräferenzen für die bundesdeutschen Konkurrenzprodukte. Der erste Abschnitt des Aufsatzes widmet sich dem spezifischen Stellenwert von Kaffee in der DDR. Welche besonderen Bedeutungen wurden dem Kaffeekonsum zugeschrieben, welche soziokulturellen Deutungsprozesse standen dahinter? Diese Überlegungen dienen einer Einführung in die Problematik der Kaffeeknappheit und dem spannungsgeladenen Verhältnis zwischen paternalistischer Versorgungspolitik und Konsumentenbedürfnis. Die daran anschließenden Abschnitte behandeln die Thematik des Kaffees in der DDR entlang seiner Güterkette. Abschnitt zwei und drei widmen sich den Ebenen der Pro3 Zur »Kaffeekrise« von 1977 s. a.: Jochen Staadt: Eingaben. Die institutionalisierte Meckerkultur in der DDR. Goldbrokat, Kaffee-Mix, Büttenreden und andere Schwierigkeiten mit den Untertanen, Berlin 1996, S. 40 – 50; Stefan Wolle: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971 – 1989, Bonn 1999, S. 199 – 201; Volker Wünderich: Die »Kaffeekrise« von 1977. Genussmittel und Verbraucherprotest in der DDR, in: Historische Anthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag, 11 (2003), S. 240 – 261.
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duktion und Distribution. Beginnend mit der Produktion wird im zweiten Abschnitt nach den für die DDR relevanten Kaffeeexportländern gefragt. Die Frage, für welche Produkte und Sorten der importierte Rohkaffee schließlich verwendet wurde und welche Betriebe für die Röstkaffeeherstellung in der DDR verantwortlich waren, wird im dritten Abschnitt behandelt. Abschnitt vier und fünf widmen sich der Ebene der Konsumtion. Im Mittelpunkt des vierten Abschnitts stehen die Reaktionen der Konsumenten auf die 1977 von der Regierung vorgenommene Umstrukturierung des Kaffeeangebots. Am Beispiel der Einführung des Kaffee-Mix wird verdeutlicht, auf welch direkte Art und Weise Konsumenten in der DDR ihren Missmut über die in ihren Augen unzureichende Produktkultur ihres Landes äußerten. Der letzte Abschnitt behandelt die aus dieser Unzufriedenheit resultierende Hinwendung der DDR-Konsumenten zum Westkaffee, dessen Bedeutung für die Volkswirtschaft der DDR nicht unterschätzt werden darf. Um die besondere Bedeutung des Kaffees in der DDR nachvollziehen zu können, ist es zunächst notwendig, sich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Konsumbedingungen in der DDR und in anderen Verbrauchsländern gewahr zu werden. Aufgrund der gemeinsamen Konsumtradition ist es hierbei sinnvoll, als Vergleichsfolie die Bundesrepublik – und nicht etwa die Sowjetunion oder eines der osteuropäischen Länder – heranzuziehen.4 Am konkreten Vergleich mit der bundesdeutschen Konsumsituation wird sichtbar, dass vor allem die Abweichung vom westlichen Konsumniveau dazu führte, dass Kaffee in der DDR zu einem ambivalenten Genussmittel mit hohem Symbolwert avancierte. Ein weiterer Unterschied zur Bundesrepublik, der diese Entwicklung begünstigte, war der Umstand, dass die Bereitstellung von Konsumgütern, zu denen auch Kaffee gehörte, in der DDR in den Verantwortungsbereich der Politik fiel. Problematisch war in diesem Zusammenhang, dass Kaffee für die devisenarme DDR ein teures Importgut darstellte. Er wurde deswegen zu einem künstlich hohen Preis5 verkauft und wiederholt kam es auch zu Versorgungsengpässen.
4 Eine umfangreiche vergleichende Analyse zum Kaffeekonsum in der DDR und der Bundesrepublik legt Monika Sigmund vor: Kaffee – Die Bedeutung des Genussmittels in den beiden deutschen Staaten. Dissertation an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Universität Hamburg 2012 (erscheint Dez. 2014). 5 Bei der Preisfestlegung in der DDR spielten auch eine intendierte Konsumentenerziehung und die Unterscheidung in Waren des Grundbedarfs, deren Preis künstlich niedrig gehalten wurde, und in teure Luxusgüter des gehobenen Bedarfs eine wesentliche Rolle. Der Verkaufspreis von Kaffee wurde deswegen auch künstlich in die Höhe getrieben, um die hohen Staatsausgaben für staatlich subventionierte Güter des Grundbedarfs auszugleichen. Zu den Grundsätzen der DDR-Preispolitik siehe: Ina Merkel: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 44 – 65.
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Kaffee war in der DDR demzufolge ein knappes Gut,6 und das sowohl in einem ökonomischen als auch in einem psychologischen Sinne. Dies bedarf einer kurzen Erklärung: Ein sporadisch auftretender tatsächlicher Mangel kann zu einem permanenten Gefühl der Knappheit führen.7 Die daraus resultierenden Konsumpraktiken können dann wiederum eine reale Mangelsituation auslösen. Das Phänomen der »Hamsterkäufe« dient in diesem Zusammenhang als gutes Beispiel zur Veranschaulichung: Schon das Gerücht eines Lieferausfalls oder einer bevorstehenden Preiserhöhung veranlasst Kunden zu Vorratskäufen, wodurch das noch vorhandene Angebot drastisch reduziert wird. Als die DDRFührung 1977 den Verkauf der kostengünstigen Kaffeesorte Kosta kurzfristig einstellte, befürchteten die Kaffeekonsumenten in der DDR weitere Angebotsreduzierungen und reagierten mit einem erhöhten Abkauf der nächstpreiswerten Sorte Rondo, um sich so ihre private Bedarfsdeckung im Voraus zu sichern.8 Die wiederholte Erfahrung von Kaffeeknappheit hatte in der DDR ein spezifisches Krisenbewusstsein geschaffen.9 Einerseits wuchs also die symbolische Bedeutung des Kaffees durch seinen hohen Preis und die nicht kontinuierliche Verfügbarkeit. Anderseits war aber auch in der DDR die Versorgung mit »echtem Bohnenkaffee« ein Indikator für Wohlstand und Normalität. War diese nicht mehr gewährleistet, wurden Erinnerungen an die entbehrungsreiche Zeit der Kriegs- und Nachkriegsjahre reaktiviert und führten zu reichlich Verstimmung innerhalb der kaffeetrinkenden Gesellschaft. Eine lückenhafte Kaffeeversorgung trug deswegen eine hohe gesellschaftliche Sprengkraft in sich, auch weil dem geselligen Kaffeekränzchen in der Familie oder im Büro eine identitätsstiftende und systemstabilisierende Wirkung beigemessen wurde.10 Beim Kaffeeklatsch konnte »getratscht […] und gemeckert« werden. Hier konnte der einzelne DDRBürger auch mal »eine spitze Bemerkung über die schlechte Versorgung riskieren oder einen politischen Witz erzählen«.11 Neben Symbolwert und sozialem
6 Ich gehe hierbei von einem relationalen und nicht von einem absoluten Mangel aus. Vgl. Merkel (Anm. 5), S. 11. 7 Mit den psychischen Auswirkungen von Knappheit haben sich der Verhaltensökonom Sendhil Mullainathan und der Psychologe Eldar Shafir in ihrer jüngst erschienenen Publikation ausführlich befasst. Vgl. Sendhil Mullainathan, Eldar Shafir : Knappheit. Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben, Frankfurt/Main, New York 2013. 8 Vgl. SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 318. 9 Vgl. Volker Wünderich: Zum globalen Kontext von Konsumgesellschaft und Konsumgeschichte. Kritische und weiterführende Überlegungen, in: Hannes Siegrist, Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka: Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt/Main 1997, S. 798. 10 Vgl. Wolle: Die heile Welt (Anm. 3), S. 200 – 201. 11 Stefan Wolle: Politische Instrumentalisierung des Mangels und Privilegienwirtschaft, in: Materialien der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit« (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages). Band V:
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Verbrauchskontext spielten aber auch andere Faktoren eine Rolle. Im Zusammenhang mit dem Konsumverhalten in Massenkonsumgesellschaften westlicher Prägung werden oft Phänomene der Distinktion, des demonstrativen Konsums und der Warenfetischisierung hervorgehoben.12 Diese waren als Randerscheinungen auch in der DDR zu beobachten. Eine Abgrenzung durch Konsumpräferenzen im Sinne der »feinen Unterschiede« war zwar für eine Gesellschaft, die sich selbst als homogene Konsumkultur verstand, kaum vorstellbar, aber innerhalb von Nischen war ein individualisiertes Konsumverhalten durchaus ausgeprägt. Eine herausragende Rolle spielte hier selbstverständlich der Konsum von Westkaffee, hob man sich dadurch in seinen Verbrauchsgewohnheiten doch von all jenen ab, die weder über das entsprechende ökonomische (Deutsche Mark) noch soziale Kapital (Verwandtschaft bzw. Bekanntschaft in der Bundesrepublik) verfügten, das ihnen einen entsprechenden Produktzugang ermöglichte. Auf den Konsum von Westkaffee werde ich im letzten Abschnitt meines Aufsatzes zurückkommen. Zunächst möchte ich mit der Frage einsteigen, aus welchen Anbauländern und zu welchen Bedingungen die DDR-Führung Kaffee für ihre Volkswirtschaft bezog. Nach den entbehrungsreichen Jahren der Nachkriegszeit, in denen sich die Bewohner der sowjetischen Besatzungszone mit Kaffeeersatz abfinden mussten oder, sofern sie über die entsprechenden Mittel verfügten, auf Schwarzmarktkaffee zurückgriffen, war ab Ende der 1940er-Jahre Bohnenkaffee wieder frei erhältlich.13 Da die DDR kaum über Devisen verfügte, konnte sie nur wenig Kaffee importieren. Dementsprechend teuer war der Kaffee in den 1950er-Jahren, und es gab ihn oft nur an Sonn- und Feiertagen. In den 1960er-Jahren stabilisierte sich die Versorgung. Die Staatsführung importierte Rohkaffee nun vorrangig aus Brasilien und Kolumbien, verhandelte aber auch mit den sozialistischen Ländern Vietnam und Kuba, die allerdings nur sehr geringe Mengen liefern konnten.14 In den 1970er-Jahren kam es zu einem gravierenden Engpass bei der Bereitstellung von Kaffee. Aufgrund diverser Missernten in Brasilien war der Weltmarktpreis so angestiegen, dass die schwarzen Bohnen nahezu unerschwinglich für die devisenschwache DDR wurden. Die bereits oben erwähnte Alltagsleben in der DDR und in den neuen Ländern, hg. vom Deutschen Bundestag, BadenBaden 1999, S. 91. 12 Zu Bourdieus Konzept der »Distinktion« bzw. der »feinen Unterschiede« s.: Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/Main 2013 [1982]; zu Veblens Konzept der »conspicuous consumption« bzw. des »demonstrativen Konsums« s.: Thorstein Veblen: The Theory of the Leisure Class, New York 1975 [1899]. Und zu Marx‹ Konzept des »Warenfetisch« s.: Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Band I: Der Produktionsprozess des Kapitals, Hildesheim 1980 [1867]. 13 Wünderich: Die »Kaffeekrise« (Anm. 3), S. 242. 14 Vgl. Hundert Jahre röstfeiner Geschmack, hg. von Röstfein Kaffee GmbH, Magdeburg 2008, S. 18.
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Kaffeekrise von 1977 stellte deren Volkswirtschaft vor eine ernst zu nehmende Herausforderung. Einen Ausweg aus der Versorgungskrise sah das Politbüro in dem Bezug von Rohkaffee aus Äthiopien, Angola, und den Philippinen auf Basis von Tauschgeschäften mit Fertigprodukten. Die resultierenden Bartergeschäfte erfolgten auf Grundlage des sogenannten Clearing-Systems, das heißt, ausgewählte Waren wurden in festgelegten Mengen zu fixen Preisen »ausgetauscht«. Zuvor waren diese mittels beidseitiger Warenlisten verschriftlicht worden. Der Vorteil dieses Tauschhandels lag auf der Hand: Es fielen keine zusätzlichen Kosten für den Einsatz von Devisen an. Die folgenden Ausführungen legen den Schwerpunkt auf eine Darstellung des Kaffeehandels mit Äthiopien, der die Tragweite der Bemühungen des Politbüros im internationalen Handel um Rohkaffee mit den sozialistischen Staaten besonders deutlich zeigen soll. Das Beispiel des Handels mit Äthiopien ist besonders brisant, da die DDR in diesem Falle sogar Waffen und anderes militärische Material lieferte, um im Gegenzug schnellstmöglich große Mengen an Rohkaffee zu beziehen. Vergleicht man den Ende der 1970er-Jahre initiierten Kaffeehandel der DDR mit Äthiopien, Angola und den Philippinen mit den bisherigen Handelsbeziehungen zu südamerikanischen Anbietern, fällt auf, dass den neuen Partnerschaften besonders intensive personelle Verflechtungen zugrunde lagen. Als hochrangige Schlüsselakteure, welche direkt vor Ort in die jeweiligen Aushandlungsprozesse verwickelt waren, seien an dieser Stelle Werner Lamberz, Alexander Schalck-Golodkowski und Erich Honecker genannt. Werner Lamberz, der Sekretär des ZK der SED für Agitation und Propaganda, hat beispielsweise entscheidend zum Abschluss des Kaffeeabkommens zwischen der DDR und Äthiopien beigetragen. Das äthiopische Kaffeeabkommen von 1977 und die mit dessen Durchführung verbundenen Probleme sollen an dieser Stelle eingehender analysiert werden.15 Allerdings muss betont werden, dass die DDRFührung bereits vor dem akuten Kaffeeengpass des Jahres 1977 den Import von äthiopischem Kaffee in Betracht gezogen hatte. In der Handelsvereinbarung beider Länder vom 18. Dezember 1976 ist bereits die Rede von der Einfuhr äthiopischen Kaffees in die DDR, dieser sollte allerdings noch auf regulärem Wege, also mit Devisen bezahlt werden, wie unter Artikel VIII bestimmt wurde. Im Gegenzug erhoffte man sich durch den Verkauf von Maschinen, LKW, Dieselgeneratoren und -pumpen, Textilien, Pharmazeutika und anderen DDR-
15 Eine ausführliche Analyse des Kaffeehandels der DDR mit Äthiopien erfolgt im Rahmen meines Dissertationsprojekts: Anne Dietrich: Südfrüchte, Rohrzucker und Kaffee aus Übersee – Der Importhandel der DDR mit den Entwicklungsländern Kuba und Äthiopien zwischen Konsumversprechen und ideologischem Anspruch (Arbeitstitel), DFG-Graduiertenkolleg »Bruchzonen der Globalisierung« an der Universität Leipzig.
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Produkten an Äthiopien ebenfalls die Einnahme von Devisen.16 Erst mit den rapiden Rohkaffeepreissteigerungen des Jahres 1977 setzte ein Umdenken in Bezug auf die Zahlungsmodalitäten ein. Nun kam der DDR-Führung der Gedanke, den begehrten Rohstoff auf Basis eines Tauschhandels nach dem Muster »Ware-gegen-Ware« zu erstehen. Im Juni 1977 reiste Werner Lamberz mit einer Delegation, die sich größtenteils aus Wirtschaftsexperten des ZK, der Staatlichen Plankommission und des Außenhandelsministeriums zusammensetzte, nach Addis Abeba. Die Delegationsmitglieder hatten die Aufgabe, mit ihren äthiopischen Gesprächspartnern über die Möglichkeit des Kaffeehandels auf Tauschbasis zu beraten. Da innerhalb des Politbüros bekannt war, dass Lamberz über sehr gute Beziehungen zu Äthiopiens neuem Machthaber Mengistu Haile Mariam verfügte, versprach man sich den schnellen und erfolgreichen Abschluss eines entsprechenden Abkommens. Das Handelsprotokoll zwischen Äthiopien und der DDR, welches am 16. Juni 1977 von Ashagre Yigletu, dem äthiopischen Minister für Handel und Tourismus, und Friedmar Clausnitzer, dem Stellvertreter des Außenhandelsministers der DDR, unterzeichnet wurde und die Versorgung der DDR mit äthiopischen Kaffee im Tausch gegen militärische und zivile Güter aus DDRProduktion garantieren sollte, markierte den Höhepunkt der fünf Tage andauernden Verhandlungen in Addis Abeba.17 Aus diesem geht hervor, dass ein gegenseitiger Warenaustausch auf langfristiger und stabiler Basis über einen Zeitraum von mehreren Jahren erfolgen sollte. Zu den weiteren Beschlüssen der Delegationen beider Länder gehörte die Zusage einer Lieferung von jährlich 5000 Tonnen Rohkaffee in den Jahren 1977 bis 1982 von Seiten der äthiopischen Regierung, welche durch deren staatliche Unternehmen ausgeführt werden sollte. Für die Jahre 1977 und 1978 sollte darüber hinaus die Bezahlung dieser Exporte mittels der Lieferung von Waren aus DDR-Produktion erfolgen.18 Einen Monat später wurden diese Beschlüsse dann mit der in Berlin unterzeichneten Handelsvereinbarung vom 15. Juli 1977 bekräftigt. Schon vor der Unterzeichnung dieser neuen Handelsvereinbarung, welche auch die Zusage einer Lieferung von mindestens 5000 Tonnen Rohkaffee zusätzlich zu den bereits vereinbarten 5000 Tonnen jährlich enthielt,19 erreichte den Staatsratsvorsitzenden der DDR eine erste Rückmeldung zum Stand der Dinge. In einem Brief Günter Mittags und Werner Lamberz’, welchen diese am 6. Juli 1977 an Erich Honecker geschickt hatten, waren grundlegende Mitteilungen zum beabsichtigten Kaffeehandel mit Afrika enthalten. Dazu hieß es ganz konkret: 16 Ministry of Foreign Affairs Archive, Addis Abeba, Äthiopien [MoFA]/ GDR – DMG – 6/15, unpag. 17 Vgl. MoFA/ GDR – DMG – 6/15, unpag.; Ethiopian Herald, Saturday 18 June 1977, S. 1. 18 MoFA/ GDR – DMG – 6/15, unpag. 19 Ebd.
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»Mit Äthiopien verlaufen die Dinge recht gut. Genosse Schalk [gemeint ist Alexander Schalck-Golodkowski, A. D.] übt eine straffe und sichere Führungstätigkeit aus. […] Alle Schiffe sind aus dem Rostocker Hafen mit den vertraglich festgelegten LKW W 50 und einem Teil der nichtzivilen Güter ausgelaufen. […] Der Transport nichtziviler Güter auf dem Luftwege erfolgt normal. Rückstände in der Lieferung militärischer Güter unsererseits (Stahlhelme und Munition) werden wir mit Heinz Keßler [Generaloberst der NVA und späterer Verteidigungsminister der DDR, A. D.] klären. Die äthiopische Seite ist bereit, uns über die vertragliche Festlegung (5 000 t Rohkaffee) hinaus sofort 7 000 t zu liefern. Das ist ein ausgezeichnetes Entgegenkommen und zeigt das eindeutige Vertrauensverhältnis zur SED. Wir haben Genossen Schalk bevollmächtigt, Verträge bis zu 10 000 t Rohkaffee für 1977 abzuschließen, damit wir durch Gegenlieferungen mit DDR-Waren noch mehr freie Devisen ablösen und unsere Zahlungsbilanz weiter entlasten können.«20
Auch von der Situation im postkolonialen Angola war die Rede. In diesem Kontext hoffte man auf die Eroberung einer »Kaffeelinie«. Dazu sollte eine Gruppe von 200 Experten, bestehend unter anderem aus Kaffeeexperten, Röstmeistern, LKW-Fahrern, Bauingenieuren und Ökonomen, aus der DDR nach Angola entsandt werden. Geplant war außerdem ein Kaffeebetrieb der DDR, welcher direkt vor Ort die Leitung der Geschäfte übernehmen sollte anstelle des staatlichen angolanischen Monopolbetriebes.21 Im Brief hieß es dazu: »Was Angola anbetrifft, so hat der Ministerrat der DDR bedauerlicherweise noch keinerlei Entscheidungen getroffen. Genosse Rauchfuß [Wolfgang Rauchfuß war Minister für Materialwirtschaft, Stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates und Mitglied des ZK der SED, A. D.] – der bereits für die Gemischte Regierungskommission DDR/Angola eingesetzt wurde, wurde auch für die Gemischte Regierungskommission DDR/Äthiopien benannt. Operativ leitet natürlich Genosse Schalk in beiden Fällen die Arbeit weiter. Wir haben veranlaßt, daß in den nächsten 8 bis 10 Tagen die Genossen Ramuta, Schlimper, ein Kaffee-, LKW- sowie ein Handelsexperte nach Angola fahren, um alle Vorbereitungen für den schnellstmöglichen Einsatz unserer Arbeitsbrigaden zu treffen. Wie Du weißt, können wir bei rechtzeitigem und klugem Vorgehen wichtige ökonomische Positionen – einschließlich der gesamten Kaffeelinie – in der VR Angola für uns gewinnen. […] Wir haben die Absicht, besonders aus den durch die DDR bisher nicht verkauften Handelsbeständen, ein Maximum in Angola abzusetzen, und uns durch flexible Handelsmethoden neue Möglichkeiten für den weiteren Import von Kaffee und damit die Ablösung freier Valuta zu ermöglichen.«22
Letztendlich konnten im Jahr 1977 mit Angola 5500 Tonnen Rohkaffee gegen DDR-Waren im Wert von 68,8 Millionen Valutamark und im Jahr 1978 8929 20 SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 151 – 152. 21 Hans-Joachim Döring: »Es geht um unsere Existenz«. Die Politik der DDR gegenüber der Dritten Welt am Beispiel von Mosambik und Äthiopien, Berlin 1999, S. 117. 22 SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 153.
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Tonnen Rohkaffee gegen DDR-Waren im Wert von 87,1 Millionen Valutamark getauscht werden.23 Aus dem Handel mit Äthiopien und Angola ließen sich für die DDR mehrere Vorteile ziehen. Zum einen konnte man dadurch billigen und Devisen sparenden Kaffee für die eigene Bevölkerung beziehen. Zum anderen förderte die Aufnahme der Handelsbeziehungen mit den jungen afrikanischen Nationalstaaten auch den Aufbau eines positiven Images der DDR. Im angolanischen Fall ließen sich mittels der Tauschgeschäfte sogar Überplanbestände abbauen, da Angola einen großen Absatzmarkt auch für ganz alltägliche Konsumgüter bot.24 Die äthiopische Führung war hingegen vorrangig an militärischen Gütern interessiert. Äthiopiens Diktator Mengistu benötigte zum damaligen Zeitpunkt dringend Waffen und Munition, außerdem semimilitärisches Gerät, da sich die Situation in Äthiopien weiter verschärfte.25 Neben den Konflikten mit Oppositionellen und nicht-amharischen Volksgruppen im Inneren des Landes spitzte sich nun auch die Lage in der östlichen Grenzregion Ogaden zu, welche der somalische Führer Siad Barre für sein Land beanspruchte. Der Sommer 1977 markierte einen dramatischen Wendepunkt im Ogadenkrieg zwischen Somalia und Äthiopien. Die somalische Armee marschierte Mitte Juli in Äthiopien ein. Erste Waffenlieferungen von Berlin-Schönefeld nach Addis Abeba waren bereits vor Kriegsausbruch im März 1977 erfolgt.26 Die SED rechtfertigte diese Lieferungen als solidarische Soforthilfe gegen das »imperialistische Invasionsgebaren« des US-unterstützten Regimes im äußersten Osten Afrikas. Um die Unterstützung des anderen, sozialistischen Landes am Horn von Afrika der DDRBevölkerung gegenüber zu rechtfertigen, musste die Revolution in Äthiopien und Diktator Mengistu Haile Mariam mit allen Mitteln verteidigt werden. Dabei forschte keiner der Verantwortlichen nach den genauen Hintergründen der Konflikte in Äthiopien.27 Dass die von der DDR im Tausch gegen Kaffee gelieferten Waffen nicht nur gegen somalische Invasoren, sondern im Rahmen des »Roten Terrors« auch gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt wurden, blieb in diesem Zusammenhang ebenso unerwähnt wie die Tatsache, dass die äthiopische Region Ogaden größtenteils von ethnischen Somali besiedelt und aus diesem Grunde von somalischen Nationalisten beansprucht wurde.28 Anzu23 24 25 26 27 28
SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 404. Vgl. SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 302. Vgl. Döring: »Unsere Existenz« (Anm. 21), S. 118. Ebd., S. 115. Vgl. ebd., S. 114. Auf die exakten Hintergründe der Revolution in Äthiopien, der Herrschaft des Derg-Regimes, der Machtergreifung Mengistus und des Ogadenkrieges zwischen Äthiopien und Somalia kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht detailliert eingegangen werden. Zur ausführlichen Darstellung siehe z. B.: Gebru Tareke: The Ethiopian Revolution: War in the Horn of Africa, New Haven, London 2009; Odd Arne Westad: The Global Cold War. Third World
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merken ist an dieser Stelle noch, dass neben den eigenen wirtschaftlichen Vorteilen auch die Außenpolitik der Sowjetunion eine Rolle spielte; die UdSSR hatte sich erst im Frühjahr 1977 von Siad Barre abgewandt, um fortan Mengistu zu unterstützen. Mit der materiellen Sicherung des DDR-äthiopischen Tauschhandels nach dem Muster »braune gegen blaue Bohnen« wurde Alexander Schalck-Golodkowski beauftragt, der diesbezüglich die Vollmacht erhielt, für Kaffeeimporte bis zur Höhe von 10.000 Tonnen Kaffee beziehungsweise 130 – 140 Millionen Valutamark in Absprache mit den betreffenden Ministerien Exportprodukte zur Verfügung zu stellen.29 Zu den vereinbarten und gelieferten militärischen Gütern gehörten vor allem leichte Waffen, Fahrzeuge und sogenanntes Dauerbrot, doppelt gebackenes Brot, welches von den Äthiopiern dringend zur Truppenversorgung benötigt wurde, und von ihnen den Beinamen »Lamberz-Brot« bekam.30 Über die eigentlich von den Äthiopiern geforderten Waffen verfügten die Arsenale der Staatsreserve zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr. Aber allein durch die Brotlieferungen konnte der Bezug von 800 Tonnen Rohkaffee im ersten Quartal 1978 gesichert werden.31 Die Abwicklung des Tauschhandels verlief jedoch keineswegs problemlos. Von beiden Handelspartnern wurde wiederholt Kritik an der Gegenseite geäußert. Der zuständige DDR-Außenhandelsbetrieb (AHB) Genußmittel machte für die Schwierigkeiten vor allem das staatliche äthiopische Exportunternehmen verantwortlich: »Das staatliche Unternehmen CMC [Abkürzung für Coffee Marketing Corporation, A. D.] ist organisatorisch wie personell noch nicht gefestigt und nicht in der Lage, reibungslos wesentlich höhere Exportanteile zu bewältigen. […] Seitens General Manager, Fikre Menker, wurde wiederholt zum Ausdruck gebracht, daß seinem Unternehmen und damit seinem Lande infolge der hohen Lieferverpflichtungen gegenüber der DDR die Verkaufsmöglichkeiten nach kapitalistischen Ländern stark eingeschränkt würden […]. Die Verhandlungen mit General Manager von CMC, Fikre Menker, gestalteten sich insbesondere durch Überbetonung interner Probleme seines Unternehmens und ständiges Hinauszögern der Abschlüsse äußerst schwierig. Es ist kritisch einzuschätzen, daß die Erzielung optimaler Preise infolge Fehlens einer Konkurrenzsituation und des steten Terminzwanges behindert war. […] Im Interesse der weiteren Verbesserung der Markt- und Preisarbeit sollten seitens des Ministeriums für Außenhandel und der Auslandsvertretung die künftige Einbeziehung von weiteren leis-
Interventions and the Making of our Times, Cambridge 2007, S. 250 – 287; Bahru Zewde: The »Red Terror« in Ethiopia: Historical Context and Consequences, in: Bahru Zewde: Society, State and History : Selected Essays, Addis Ababa 2008, S. 428 – 444. 29 Döring: »Unsere Existenz« (Anm. 21), S. 118. 30 Vgl. ebd., S. 119; Ethiopian Herald, Friday 6 October 1978, S. 1. 31 Döring: »Unsere Existenz« (Anm. 21), S. 119.
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tungsstarken Exportfirmen bei Wahrung der Vorrangigkeit des staatlichen Unternehmens geprüft werden.«32
Besonders aufschlussreich ist die hier offen zutage tretende Erwartung der DDRAußenhändler, sich durch die Ausnutzung kapitalistischer Wettbewerbsprinzipien in einem sozialistischen Land eigene Vorteile zu verschaffen. Die Analyse des AHB Genußmittel fiel eher nüchtern aus, die entsprechenden Schlussfolgerungen waren sehr pragmatisch, ideologische Überlegungen fanden hierin keinen Platz. Dieser Pragmatismus, welcher ab der zweiten Hälfte der 1970erJahre ideologische Motive des DDR-Südhandels mehr und mehr in den Hintergrund drängte, ließ sich bereits aus dem oben zitierten Brief Günter Mittags und Werner Lamberz’ an Erich Honecker herauslesen. Am konkreten Beispiel der Kaffees wurde 1977 deutlich, dass die Versorgung der eigenen Bevölkerung für die Staatsführung der DDR klare Priorität vor einer Solidarität mit dem globalen Süden hatte. Dennoch wurde sowohl der Kaffeehandel mit Äthiopien als auch der mit Angola weiterhin entwicklungspolitisch legitimiert, wie bereits oben dargelegt wurde. Dies war allerdings lediglich Rhetorik. Der Bericht des AHB Genußmittel lässt nämlich an anderen Stellen erkennen, dass man sich von Seiten der DDR durchaus bewusst war, welche volkswirtschaftliche Bedeutung Kaffee im sozialistischen Äthiopien zukam und welche Gefahren für den eigenen Tauschhandel daraus erwachsen konnten. Die äthiopische Regierung war auf Deviseneinnahmen aus Kaffeeexporten angewiesen, schon allein um damit ihre teuren Rüstungsausgaben ausgleichen zu können. Der Tauschhandel mit der DDR brachte zwar auch Waffen ins Land, mittels der auf dem Weltmarkt erzielten Gewinne auf Dollarbasis ließen sich allerdings deutlich mehr zivile und nichtzivile Güter erwerben. Im Jahr 197633 erzielte Äthiopien über 300 Millionen Birr aus dem Export von 69.838 Tonnen Kaffee.34 Im Folgejahr stiegen die Einnahmen sogar noch um fast 60 Prozent auf 540 Millionen Birr, welche der Verkauf von circa 50.000 Tonnen ins Devisenausland eingebracht hatte.35 Während also die Exportmenge aufgrund der Lieferverpflichtungen der DDR gegenüber, aber auch wegen genereller Lieferprobleme zurückging, wuchsen die Verkaufserlöse beträchtlich, was zweifellos auf die steigenden Weltmarktpreise 32 SAPMO-BArch DY 3023/1218, Bl. 496 – 504. 33 Das äthiopische Kaffeejahr verläuft vom September des Vorjahres bis zum September des Folgejahres, in den hier angegebenen Jahren waren das dementsprechend September 1975 bis September 1976 (Kaffeejahr 1976), September 1976 bis September 1977 (Kaffeejahr 1977), September 1977 bis September 1978 (Kaffeejahr 1978). 34 Ethiopian Herald, Wednesday 19 January 1977, S. 1; Ethiopian Herald, Friday 21 January 1977, S. 1; vgl. SAPMO-BArch DY 3023/1218, Bl. 494: Hier findet sich die leicht abweichende Ziffer von 68.000 t exportiertem Rohkaffee. Ein Birr entsprach zum damaligen Zeitpunkt etwa 0,48 US$. 35 Ethiopian Herald, Sunday 1 January 1978, S. 1; SAPMO-BArch DY 3023/1218, Bl. 494: Hier ist die Angabe konkreter und beziffert die Mengen des exportierten Rohkaffees auf 48.246 t.
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zurückzuführen war. Der Aufwärtstrend setzte sich 1978 mit über 578 Millionen Birr durch den Verkauf von 73.841 Tonnen Kaffee fort.36 Wiederholt wurde in Artikeln des Ethiopian Herald auf die Bedeutung von Kaffee als »nation’s number one cash earner« und »Rückgrat der äthiopischen Wirtschaft« hingewiesen.37 Häufig fand sich in diesem Zusammenhang auch der Aufruf an die äthiopische Bevölkerung, den heimischen Konsum einzuschränken, um somit mehr Kaffee für den Export freizusetzen.38 Es sollten also die höchstmöglichen Mengen auf dem Weltmarkt abgesetzt werden. Ein Interessenkonflikt zwischen den Wirtschaftsfunktionären Äthiopiens und der DDR schien in diesem Zusammenhang unausweichlich. Der Organisation des bilateralen Handels auf Basis von Tauschgeschäften stand vor allem die National Bank von Anfang an skeptisch gegenüber. Der Hauptgrund dafür war wiederum die Tatsache, dass der von der DDR gewünschte Rohkaffee das bedeutendste Exportgut Äthiopiens darstellte und hohe Summen an Devisen ins Land brachte. Ein weiterer wesentlicher Kritikpunkt war der Umstand, dass die Gegenlieferungen der DDR häufig nicht die Erwartungen der Äthiopier erfüllten. So waren beispielsweise die aus der DDR gelieferten LKW und Traktoren für den Einsatz in Äthiopien oft wenig geeignet.39 Nicht nur die Produkte an sich, auch die Art und Weise der Lieferung gaben Anlass für Beanstandungen: Bereits bezahlte Waren trafen nicht, nicht rechtzeitig oder in nicht ausreichender Menge ein.40 All diese Schwierigkeiten trugen dazu bei, dass die äthiopische Seite sich Schritt für Schritt vom Tauschhandel mit der DDR distanzierte. Aus äthiopischer Perspektive sah die Situation, welche 1979 zum Abbruch des Tauschhandels führte, wie folgt aus: »Äthiopien lehnte weitere Verträge mit Tausch von Kaffee gegen Waren ab. Zwar konnte Äthiopien Kaffee in diesen Mengen liefern, benötigte aber Devisen für die Finanzierung seines Krieges, die hauptsächlich durch den Kaffeehandel erwirtschaftet wurden. Äthiopien versuchte andere landwirtschaftliche Produkte anzubieten, welche die DDR ausschlug, da sie ebenfalls Devisen brauchte und mittels Austausch eigener Waren mit äthiopischem Kaffee ihren großen Kaffeebedarf abzudecken beabsichtigte. Der Interessengegensatz konnte in den Verhandlungen im Jahr 1978 nicht beigelegt werden, so
36 Ethiopian Herald, Wednesday 18 October 1978, S. 1. 37 Ethiopian Herald, Sunday 1 January 1978, S. 1; Ethiopian Herald, Saturday 14 January 1978, S. 1; Ethiopian Herald, Saturday 11 February 1978, S. 3; Ethiopian Herald, Wednesday 9 August 1978, S. 2. 38 Vgl. Ethiopian Herald, Sunday 1 January 1978, S. 1. 39 Vgl. Haile Gabriel Dagne: Das entwicklungspolitische Engagement der DDR in Äthiopien. Eine Studie auf der Basis äthiopischer Quellen, Münster 2004, S. 63; vgl. Interview vom 28. 11. 2013 mit Asefa Mariam, Export Manager, Paul Ries & Sons Ltd. 40 Vgl. Dagne: Das entwicklungspolitische Engagement (Anm. 39), S. 79.
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dass die DDR gezwungenermaßen die Einfuhr von Kaffee aus Äthiopien ab dem 1. Januar 1979 unterbrach.«41
Mit der Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen im Jahre 1980 kehrten beide Seiten dann zu den alten Zahlungsmodalitäten von 1976 zurück, wie im Artikel 4 des Handelsprotokolls vom 7. November 1979 festgelegt wurde.42 Zwar wurden nach wie vor die gleichen Waren angeboten beziehungsweise nachgefragt, die Bezahlung erfolgte nun aber wieder mittels des Einsatzes von harter Währung. Die DDR sollte noch bis 1989 Kaffee aus Äthiopien importieren, diesen aber fortan mit Devisen bezahlen. Den 1977 initiierten Kaffeehandel mit Äthiopien sollten weitere internationale Transaktionen mit »sozialistischen Brüderländern« ergänzen. Der Import von angolanischem Kaffee wurde bereits oben erwähnt. Beim Kaffeetauschhandel Ende der 1970er-Jahre spielten aber auch asiatische Anbauländer eine Rolle. Im zweiten Halbjahr 1977 unternahm Erich Honecker eine ausgedehnte Asienreise. Auf den Philippinen war er persönlich an den Verhandlungen mit Diktator Marcos über die Lieferung von Rohkaffee beteiligt.43 Ergebnis dieser Verhandlungen waren Kaffeelieferungen in Höhe von 5000 Tonnen im Wert von 47,5 Millionen Valutamark im Jahr 1978, welche durch DDR-Waren zum selben Wert beglichen wurden.44 Der Robusta-Kaffee von den Philippinen war von keiner sonderlich guten Qualität. Er wies eine hohe Fehlerzahl auf, war aber mit seinem kräftigen und würzigen Geschmack noch im Bereich des Zumutbaren.45 Noch deutlich negativer fiel die Beurteilung der neuen Kaffeemischungen aus, welche sich zu großen Teilen aus äthiopischem Arabica und angolanischen und philippinischen Robustas zusammensetzten. Die neuen Mischungen erreichten nicht die Mindestgütequalitätsgrenze der 13 von maximal 20 erreichbaren Punkten des DDR-eigenen Standardisierungswesens. So musste sogar die Mindestgrenze bei der Geschmacksbewertung von Röstkaffee auf 10 heruntergesetzt werden.46 Es änderte sich demzufolge auch die sensorische Wahrnehmung und Bewertung von »mundig-ausgeglichen, angenehme Säure, leicht röstbitter, abgerundet« in »stark würzig, stark fruchtig, teilweise unrein«.47 Die Vermutung liegt nahe, dass sowohl die afrikanischen Länder als auch die Philippinen schlechtere Qualitäten in die DDR exportierten und sich den qualitativ hochwertigeren Kaffee für ihre Käufer im Devisenausland vorbehielten. Wahr41 42 43 44 45
Ebd., S. 73 – 74. MoFA/ GDR – DMG – 6/15, unpag. Vgl. Döring: »Unsere Existenz« (Anm. 21), S. 61. SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 404. Vgl. SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 405. Zur Beurteilung der philippinischen Rohkaffeemuster. 46 Vgl. Döring: »Unsere Existenz« (Anm. 21), S. 121 – 122; Staadt: Eingaben (Anm. 3), S. 48. 47 SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 480 – 481.
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scheinlich in der Hoffnung, dass sich so die Geschmacksqualität verbessern würde, ließ der Außenhandelsminister der DDR, Horst Sölle, wieder vermehrt südamerikanischen Rohkaffee importieren, der den Kaffeemischungen beigegeben werden sollte. Der Kaffee aus Südamerika war auch tatsächlich qualitativ hochwertiger, da Brasilien und Kolumbien im Gegensatz zu Äthiopien, Angola und den Philippinen Kaffee nach internationalem Standard in die DDR exportierten. Im Gegensatz zum eingetauschten afrikanischen und asiatischen kostete der lateinamerikanische Rohkaffee allerdings wertvolle Devisen. Anfang des Jahres 1978 wurde Sölle deswegen von Seiten des Politbüros angemahnt. Er wurde verpflichtet, in einer schriftlichen Selbstkritik zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. In einem Schreiben vom 30. Januar 1978 an Werner Krolikowski, den Ersten Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, äußerte er sich dazu folgendermaßen: Aus den »durch die Genossen der Parteiführung geschaffenen Beispiele des Kaffeeimports aus Angola und Äthiopien nach dem Prinzip ›Ware gegen Ware‹« habe das Außenhandelsministeriums nicht die entsprechenden Schlüsse gezogen. Es hätte deswegen »in bezug auf den Import von Kaffee eine politisch und ökonomisch falsche Orientierung verfolgt […]«. Sölle suchte die Schuld auch bei seiner Person: »Offensichtlich war ich von konservativem Denken befallen und ging davon aus, daß der Kaffeeimport, der in den letzten Jahren gegen Barzahlung erfolgte, auch in Zukunft nicht anders durchgeführt werden kann.«48 Er bereue außerdem, dass er sich »nicht gründlich genug mit den neuen Möglichkeiten für den Außenhandel beschäftigt habe, die sich aus dem bedeutungsvollen Bündnis mit den jungen Nationalstaaten ergeben, woraus letztlich für uns Schaden entsteht«.49 Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass die Versorgung der DDR mit Kaffee Ende der 1970er-Jahre aufgrund der wachsenden Weltmarktpreise zur Chefsache erklärt worden war und eigenmächtige Entscheidungen der ursprünglich verantwortlichen Ministerien in diesem Sektor entsprechend sanktioniert wurden. Das Potenzial, Devisen beim Import von Kaffee einzusparen, sollte auch zukünftig voll ausgeschöpft werden. Nachdem der Tauschhandel mit Äthiopien 1979 abgebrochen worden war, musste nach neuen Möglichkeiten gesucht werden. Um die Versorgung mit preisgünstigem Kaffee ab Anfang der 1980erJahre zu gewährleisten, beschloss die Staatsführung der DDR 1982, den Ausbau von Kaffeeplantagen in Vietnam zu fördern.50 Ende der 1980er-Jahre konnten die ersten aus diesem Förderprogramm resultierenden Kaffeefrüchte in Vietnam
48 SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 427. 49 SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 427 – 428. 50 Vgl. Walter Lack, Kathrin Grotz, Tadesse W. Gole (Hg.): Kaffee. Ein globaler Erfolg, Berlin 2013, S. 104.
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geerntet werden, allerdings konnte die sich im Zustand der Auflösung befindende DDR aus diesen Ernteerträgen kaum mehr Wert schöpfen. Im nun folgenden Abschnitt geht es um die Verarbeitung des aus Südamerika, Afrika und Asien in die DDR importierten Kaffees. Dabei sollen allerdings nicht nur die Misserfolge der DDR-Kaffeeproduktion – wie die desaströse Einführung des Mischkaffees Kaffee-Mix 1977 –, sondern auch deren Innovationen – wie der Kaffee-Frischdienst der 1950er- und 1960er-Jahre oder das in den 1980ern bei Röstfein entwickelte Wirbelschichtverfahren – thematisiert werden. Wieder gehe ich bei der Darstellung der einzelnen Produktionsphasen chronologisch vor. Mit der industriellen Röstung des Kaffees wurde in der DDR erst 1952 wieder begonnen, in Betrieben, die in den Jahren zuvor fast ausschließlich Kaffeeersatz erzeugt hatten und auf dem technischen Stand der 1930er-Jahre arbeiteten.51 Bohnenkaffee wurde dort vorerst nur in kleinen Mengen und unter strenger staatlicher Kontrolle geröstet, um Brennverluste der wertvollen Kaffeebohnen zu vermeiden.52 Eine Neuerung, welche Ende der 1950er-Jahre eingeführt wurde, war der sogenannte Kaffee-Frischdienst. Um Röstkaffee umgehend vom Röstbetrieb zum Großhandel und von dort weiter zum Einzelhandel zu befördern und ihn während des Transports vor Feuchtigkeit, fremden Aromen, Schädlingsbefall und Ähnlichem zu schützen, wurden spezielle Kraftwagen verwendet. In einer Warenkunde der damaligen Zeit, herausgegeben vom Kaffee-Leitbetrieb der DDR, wurden die Vorzüge dieser Transportnovität gepriesen: »Der VEB Kaffee- und Nährmittelwerke Halle hat […] einen gutorganisierten KaffeeFrischdienst mit vielen Lastkraftwagen eingerichtet. Nach einem festgelegten Lieferplan werden pünktlich zwei- bis dreimal wöchentlich alle Großhandelsläger der wichtigsten und erreichbaren Orte bedient. Die Kraftwagen fahren so pünktlich, daß sich der Großhandel mit seinen Dispositionen auf die Anlieferung einstellen kann und in die Lage versetzt ist, ebenfalls pünktlich und sofort den Kaffee an den Einzelhandel weiterzuleiten. Der VENAG-Kaffee-Frischdienst ist vorbildlich und ein nicht zu unterschätzender Dienst am Kunden zur Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung.«53
Auch Röstfein Magdeburg verfügte über derartige Fahrzeuge. Die Kleintransporter des Röstfein-Frischdienstes fuhren täglich die umliegenden Verkaufsstellen ab und versorgten die Geschäfte mit frisch geröstetem Kaffee.54 Da die SED-Führung, was die wirtschaftliche Entwicklung der DDR betraf, Anfang der 1960er-Jahre optimistisch in die Zukunft blickte, ließ sie im Rahmen 51 SAPMO-BArch, DE 1/49629, unpag. 52 Vgl. Hundert Jahre röstfeiner Geschmack (Anm. 14), S. 17. 53 Der Kaffee. Die kleine Venag-Warenkunde. Wir lernen den Kaffee kennen und lieben, hg. vom VEB Kaffee- und Nährmittelwerke Halle/Saale, Halle/Saale o. J., S. 69. 54 Vgl. Hundert Jahre röstfeiner Geschmack (Anm. 14), S. 14 – 15.
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des NÖS55 die Zukunftsvorstellungen bis 1980 erarbeiten. Die »Generalperspektive Kaffee« aus dem Jahr 1960 beinhaltete unter anderem folgende Punkte: Der Siebenjahrplan der Kaffeeindustrie sah eine Rekonstruktion der vorhandenen Anlagen bis 1965 vor. In Zukunft sollten die Kaffeeröstereien, zum damaligen Zeitpunkt noch Mittelbetriebe, zu Großbetrieben anwachsen. Außerdem war eine vierfache Steigerung der Produktion von Röstkaffee zwischen 1960 und 1980 geplant. Dieser ambitionierte Plan sollte mittels einer Automatisierung der Röster, dem Übergang von der Hand- zur maschinellen Verlesung und der Anschaffung moderner Packmaschinen zur standardisierten Kaffeeverpackung erfüllt werden. Als Fachkraft für die Kaffeeherstellung in der DDR sollte das neue Berufsbild »Kaffee-Werker« geschaffen werden Das Kaffeesortiment sollte sich aus zwei qualitativ hochwertigen Mischungen, ein oder zwei sogenannten »Haushaltsmischungen«, zwei Extraktmischungen der entsprechenden Qualitäten, einem koffeinfreien Extrakt, einer Sorte Kaffeeersatz-Extrakt und Malzkaffee zusammensetzen. Die Auslieferung des Kaffees sollte in der gesamten DDR durch einen Frischdienst erfolgen, der den Röstkaffee von der Fabrik ohne Zwischenlagerung im Großhandel direkt in die Verkaufsstellen transportierte. Diese Fuhren sollten zweimal wöchentlich erfolgen.56 Ein Großteil dieser Pläne wurde zeitnah verwirklicht. Erste Erfahrungen mit dem Kaffee-Frischdienst hatte man, wie oben beschrieben, bereits Ende der 1950er-Jahre im Raum Magdeburg und Halle gemacht. Unterschiedliche Kaffeesorten wurden schon Anfang der 1960er-Jahre in der DDR unter den Produktnamen Kosta, Rondo und Mona angeboten.57 Diese wurden in den Kaffeeröstereien der DDR produziert, unter anderen bei Röstfein in Magdeburg, bei VENAG (VEB Kaffee- und Nährmittelwerke) in Halle und beim VEB Bero Kaffee und Extrakt in Berlin.58 Mit Ausnahme der Firma Röstfein, welche unter der Rechtsform des Konsumgenossenschaftsverbands firmierte, handelte es sich bei den Kaffeeröstereien der DDR um volkseigene Betriebe.59 Der VEB Kaffee- und Nährmittelwerke (VENAG) in Halle fungierte als Leitbetrieb, der die Marken-
55 Abkürzung für Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft. Zum größeren Kontext des NÖS und der Jahres- und Perspektivplanung s. z. B. Philipp Heldmann: Herrschaft, Wirtschaft, Anoraks, Göttingen 2004; Steiner : Von Plan zu Plan, Bonn 2007. 56 SAPMO-BArch, DE 1/49629, unpag. 57 Vgl. Der Kaffee (Anm. 53), S. 60 – 62. Später sollten noch andere Sorten, wie bspw. MokkaFix (Silber und Gold) und Im Nu (Kaffeeersatz-Extraktpulver), folgen. 58 Die hier genannten Betriebe waren die größten und über den längsten Zeitraum aktiv betriebenen Röstereien in der DDR. Es gab außerdem noch kleinere bzw. nur temporär betriebene Röstereien in der DDR, darunter den VEB Kermi in Stralsund, den VEB Kaffeegroßrösterei Drei Streif in Nordhausen oder den VEB Kaffee und Tee in Radebeul. 59 Vgl. Hundert Jahre röstfeiner Geschmack (Anm. 14), S. 26.
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rechte zu den DDR-Kaffeesorten verwahrte und an die anderen Kaffeebetriebe übertrug. Der Angebotsrückgang bei brasilianischem Rohkaffee ab Mitte der 1970erJahre führte nicht nur dazu, dass die Staatsführung der DDR sich gezwungen sah, ihren Kaffeebedarf durch Importe aus anderen Kaffeeanbauländern abzudecken. Vielmehr zwangen die damit verbundenen drastischen Weltmarktpreissteigerungen60 die Regierung zu einem rigiden Sparkurs, um so der wachsenden Auslandsverschuldung entgegenzuwirken. Die Volkswirtschaft der DDR war Ende der 1970er-Jahre bereits deutlich angeschlagen, und die Gewährleistung ihrer Zahlungsfähigkeit gestaltete sich aufgrund der enormen Ausgaben für Rohstoffimporte zunehmend schwieriger. Wie mittels eines Tauschhandels mit sozialistisch orientierten Ländern in Afrika und Asien Devisen beim Import von Rohkaffee eingespart werden konnten, wurde bereits oben dargelegt. Im Folgenden soll thematisiert werden, welche Maßnahmen vonseiten des Politbüros ergriffen wurden, um durch eine Einschränkung des Angebots den heimischen Kaffeekonsum zu drosseln. Ausgangspunkt für die spätere Radikalkur zur Umgestaltung der Kaffeeversorgung der DDR-Bevölkerung war Alexander Schalck-Golodkowskis »Konzeption zur Durchsetzung der Einsparung von Valutamitteln beim Import von Rohkaffee«, welcher der Leiter des Bereiches Kommerzielle Koordinierung im April 1977 an den für die DDR-Wirtschaft zuständigen ZK-Sekretär Günter Mittag gerichtet hatte.61 Darin enthalten waren zwei wesentliche Vorschläge: die Reduzierung des Kaffeesortiments auf lediglich eine Kaffeesorte auf dem Niveau von Rondo zum Preis von 120 Mark pro Kilo und die Einführung eines Mischkaffees.62 Beide Vorschläge stießen innerhalb des Politbüros zunächst auf Ablehnung, man befürchtete Widerstand und Unruhen von Seiten der Bevölkerung, weswegen Schalck-Golodkowskis Kaffeevorlage in der Politbürositzung vom 28. Juni 1977 vertagt wurde. Bereits knapp einen Monat später, am 26. Juli 1977 wurden die modifizierten Versorgungsrichtlinien für Kaffee allerdings vom Politbüro einstimmig beschlossen.63 Im Einzelnen wurden folgende Entscheidungen getroffen: Beschränkung des Kaffeesortiments auf das Angebot von Mona (80 Mark pro Kilogramm), Rondo (70 Mark pro Kilogramm) und eines 60 Wünderich berichtet von einem historischen Höchststand von 3,69 US$ für ein Pfund Kaffee im April 1977: Vgl. Wünderich: »Kaffeekrise« (Anm. 3), S. 244. Döring geht von Preissteigerungen von zum Teil 400 % aus: vgl. Döring. »Unsere Existenz« (Anm. 21), S. 115. 61 Vgl. SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 47 – 49: Konzeption zur Durchsetzung der Einsparung von Valutamitteln beim Import von Rohkaffee; vgl. Staadt: Eingaben (Anm. 3), S. 41; Wolle (Anm. 3), S. 200; Vgl. Wünderich: »Kaffeekrise« (Anm. 3), S. 246. 62 SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 47 – 49: Konzeption zur Durchsetzung der Einsparung von Valutamitteln beim Import von Rohkaffee. 63 Vgl. Staadt: Eingaben (Anm. 3), S. 44; Wolle: Die heile Welt (Anm. 3), S. 200.
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koffeinfreien Kaffees, Einstellung der Kaffeesorte Kosta (60 Mark pro Kilogramm), Produktion des geplanten Mischkaffees unter dem Namen Kaffee-Mix bestehend aus einer Zusammensetzung von 51 Prozent Röstkaffee und 49 Prozent Surrogaten.64 Der neue Mischkaffee sollte bei einem Preis von 48 Mark pro Kilogramm zukünftig ganze 20 Prozent des Kaffeeverbrauchs der DDR abdecken und damit den Kaffeemarkt in der DDR gehörig umkrempeln.65 Als dem Politbüro im September 1977 allerdings erste Zahlen vorlagen, zeigte sich, dass die tatsächlichen Ergebnisse weit hinter den Erwartungen zurückblieben: Kaffee-Mix erreichte nur eine Nachfrage von 3 Prozent. Rondo hingegen erzielte ganze 84,3 Prozent, vorgesehen war für diese Kaffeesorte ursprünglich lediglich ein Marktanteil von 15 Prozent.66 Die Gründe, warum der neue Mischkaffe bei den Konsumenten nicht ankam, werden im nächsten Abschnitt vorgestellt. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass bereits in der Testphase von den verantwortlichen ZK-Abteilungen Versuche unternommen wurden, den Geschmack des Kaffee-Mix zu verbessern. Hans-Joachim Rüscher, Leiter der Abteilung Leicht-, Lebensmittel- und Bezirksgeleitete Industrie beim ZK der SED, bemerkte in einem internen Schreiben vom 19. August 1977 an Hermann Pöschel, den Leiter der ZK-Abteilung für Forschung und technologische Entwicklung, dass bei den erzielten Geschmacksverbesserungen erste Erfolge zu verzeichnen seien, zumindest konnte der Bittergeschmack etwas gemindert werden.67 Trotz weiterer Optimierungsversuche konnten die Kaffeekonsumenten in der DDR aber nicht zum Kauf des Mischkaffees motiviert werden, sodass die Produktion von Kaffee-Mix wegen fehlender Nachfrage bereits Anfang des Jahres 1978 wieder eingestellt wurde.68 Ein wesentlich erfolgreicheres Experiment war die Einführung der Wirbelschichtröstung Anfang der 1980er-Jahre. Gemeinsam mit Wissenschaftlern der Technischen Hochschule in Magdeburg wurde dieses Verfahren 1981 bei Röstfein als Alternative zur gängigen Trommelröstung erdacht.69 Am Anfang dieser Erfindung stand der Umstand, dass die Rösttrommeln des Betriebs in Magdeburg nicht mehr einsatzfähig waren und kein Geld zur Beschaffung neuer Maschinen zur Verfügung stand. Das neue Verfahren bot den Vorteil, dass ohne Trommeln mittels des Einsatzes von heißem Wasserdampf geröstet werden konnte. Es war außerdem zeit- und energiesparend, und Brennverluste konnten
64 Vgl. Staadt: Eingaben (Anm. 3), S. 44; Rainer Gries: Produktkommunikation. Geschichte und Theorie, Wien 2008, S. 181; Wünderich: »Kaffeekrise« (Anm. 3), S. 247. 65 Vgl. SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 155. 66 SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 155; vgl. Staadt: Eingaben (Anm. 3), S. 45. 67 SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 204. 68 Vgl. Wünderich: »Kaffeekrise« (Anm. 3), S. 258. 69 Vgl. Hundert Jahre röstfeiner Geschmack (Anm. 14), S. 45.
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gänzlich vermieden werden.70 Aufgrund der erfolgreichen Umstellung bei Röstfein in Magdeburg wurde vom ZK der SED beschlossen, ab 1982 auch die anderen Röstbetriebe der DDR auf die Wirbelschichtverfahrenstechnik umzurüsten.71 Dies verlief zwar nicht gänzlich reibungslos, einige Mitarbeiter der DDR-Kaffeeindustrie konnten sich beispielsweise mit der neuen Technik nicht anfreunden,72 sollte aber die Kaffeeherstellung in der DDR bis Ende der 1980erJahre sichern. Im folgenden Abschnitt soll nochmals die Einführung des Kaffee-Mix im Jahr 1977 thematisiert werden, da dies als entscheidende Zäsur für die Kaffeekonsumkultur der DDR interpretiert werden kann. In Eingaben, welche aufgebrachte Bürger an Verkaufsstellen, Bezirksleitungen oder sogar direkt an den Staatsratsvorsitzenden richteten, brachten sie ihre Unzufriedenheit über die Kaffeemissstände im eigenen Land zum Ausdruck. Ihre Beschwerdebriefe beinhalteten neben Kritik am neuen Mischkaffee aber auch Unmutsbekundungen über die generelle Verschlechterung des gesamten Kaffeesortiments der DDR. Kaffeetrinker fühlten sich durch die Einstellung der preiswerten Marke Kosta und Qualitätseinbußen bei den noch verbliebenen Kaffeesorten um ihre »wohlverdiente Tasse Kaffee« betrogen. Sie kritisierten, dass sie nicht im Vorfeld über die Maßnahmen des Politbüros zur Versorgung mit Kaffeeerzeugnissen informiert und Qualitätssenkungen anstelle von offenen Preisanhebungen vorgenommen worden waren.73 So wurde im Kontext der »Kaffeekrise« 1977 deutlich, wie unheilvoll sich mangelnde Glaubwürdigkeit, fehlende Informationspolitik, tatsächliche Qualitätsminderung und versteckte Preiserhöhungen zu einer Legitimationskrise des sozialistischen Versorgungsstaates entwickelten. Um die Reaktionen der DDR-Bürger auf das sich drastisch verschlechternde Kaffeeangebot 1977 nachvollziehen zu können, ist es zunächst notwendig, sich den Stellenwert, welchen Kaffee mittlerweile in ihrem Leben eingenommen hatte, zu vergegenwärtigen. Während Kaffee in den 1950er-Jahren, wie bereits oben angedeutet, noch ein teures und rares Luxusgut war, avancierte Bohnenkaffee in den 1960er-Jahren auch in der DDR zum Alltagsgetränk. In diesem Zusammenhang musste ein Rückgriff auf Surrogat- oder Mischkaffee Erinnerungen an längst überwunden geglaubte Zeiten des Mangels wecken.74 So lässt sich auch erklären, warum die bereits im vorangegangenen Abschnitt behandelte Lancierung des Kaffee-Mix keineswegs optimal verlief. Die DDR-Bürger 70 Vgl. ebd., S. 20. 71 SAPMO-BArch, DY 30/3271, Bl. 267. 72 Davon zeugt z. B. die Eingabe eines Mitarbeiters der VEB Kaffee- und Nährmittelwerke Halle aus dem Jahr 1984, der hohe »volkswirtschaftliche Verluste« durch die Umstellung auf Wirbelschichtverfahren befürchtete. Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/3271, Bl. 267. 73 SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 321. 74 Vgl. Wünderich: »Kaffeekrise« (Anm. 3), S. 241.
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waren schlichtweg Besseres als diese »hochveredelte Mischung aus erlesenem Röstkaffee und fein abgestimmten Surrogaten«75gewöhnt und demzufolge auch nicht bereit, Geschmackseinbußen ohne weiteres hinzunehmen. So häuften sich die Beschwerden zum neuen Mischkaffee bereits in den ersten Wochen nach seiner Markteinführung. Hans-Joachim Rüscher wandte sich erneut an Hermann Pöschel und übersandte ihm im August 1977 eine Auswahl an Eingaben, welche Konsumenten bei Verkaufsstellen und Kaffeebetrieben eingereicht hatten. Darin wurde vor allem Kritik an Geschmack und Aroma, Zusammensetzung und Verträglichkeit sowie am Widerspruch zwischen geringer Qualität und reißerischer Aufmachung beziehungsweise überhöhtem Preis des Kaffee-Mix laut. Es folgen Auszüge aus Rüschers Beschwerdesammlung, welche in ihrer Auswahl die immer wieder geäußerten Kritikpunkte von Kaffeekonsumenten der DDR zeigen sollen. Elfriede L. aus Weißenfels ließ sich (wie so viele andere auch) über das kaffeeuntypische Aroma des Kaffee-Mix aus: »Wie beim Geruch schon festgestellt, beweist sich beim Trinken, daß das Getränk kein Kaffee-Aroma aufwies, sondern vorwiegend nach Malz-Kaffee schmeckte. Meiner Meinung nach kann es nicht im Interesse der Beschlüsse des IX. Parteitages der SED sein, auf eine solche Art das Lebensniveau der Bürger zu erhöhen.«76
Ilse W. aus Chemnitz, damals Karl-Marx-Stadt, thematisierte in ihrem Schreiben die Diskrepanz von ansprechender Verpackung und eher dürftigem Inhalt: »Anbei sende ich Ihnen die wirklich gut aussehende Packung des neuen Kaffee-Mix. Wenn der Kaffee so schmecken würde, wie die Packung aussieht, dann wäre es schön. […] Wer das ausprobiert hat, der trinkt bestimmt keinen Kaffee!«77
Für die attraktive Aufmachung des neuen Mischkaffees hatte Schalck-Golodkowski eigens modernste Verpackungstechnik aus dem Westen importieren lassen.78 Der schöne Schein konnte aber nicht über den schlechten Geschmack hinwegtäuschen. Ein Gefälle bestand auch im Preis-Leistungs-Verhältnis, sah die Rezeptur schließlich nur einen geringen Anteil von Röstkaffee und im Vergleich dazu einen zu hohen Verkaufspreis vor.79 In diesem Zusammenhang wurde von vielen Konsumenten der Verdacht geäußert, dass es sich bei der Preisfestlegung für den neu eingeführten Kaffee-Mix um eine schleichende Preiserhöhung handelte. Kurt und Hertha S. aus Dresden bezeichneten den Kauf des neuen Kaffeeprodukts in ihrem Beschwerdebrief gar als Geldverschwendung: 75 So wurde Kaffee-Mix auf der Verpackung charakterisiert. Vgl. Gries: Produktkommunikation (Anm. 64), S. 180. 76 SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 209. 77 SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 208. 78 Vgl. Rainer Gries: Produkte & Politik. Zur Kultur- und Politikgeschichte der Produktkommunikation, Wien 2006, S. 136. 79 Vgl. SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 321.
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»Beim erstmaligen Genuß der neuen Kaffee-Sorte ›Kaffee-Mix‹ möchten wir Sie wissen lassen, daß diese Sorte einfach nicht das Geld wert ist. […] Das Wasser läuft nicht durch den Filter, geschmacklich eine große Enttäuschung. […] Alles in allem – schade ums Geld.«80
Die Kritik am neuen Mischkaffee beschränkte sich allerdings nicht nur auf Eingaben. Schnell war »Erichs Krönung« oder »Edescho«81, wie Kaffee-Mix im Volksmund in Anlehnung an zwei populäre Westkaffees genannt wurde82, auch das Ziel vieler alltäglicher Spötteleien. Man witzelte über eine angeblich abführende oder gar sterilisierende Wirkung des Mischkaffees, man regte sich über seinen Geschmack und Preis auf. Kunden rieten sich gegenseitig in den Verkaufsstellen vom Kauf ab, erwarben stattdessen, sofern vorhanden, Rondo oder Mona und den Malzkaffee Im Nu, welchen sie zur Herstellung eigener Haushaltsmischungen verwendeten.83 Den staatlich produzierten Kaffee-Mix wollte offensichtlich niemand trinken. Die Konsumentenzufriedenheit mit anderen Kaffeesorten aus ostdeutscher Produktion schwand ebenso. Dafür wandten sich die Kaffeeliebhaber der DDR ab der zweiten Hälfte der 1970erJahre vermehrt dem Konsum westdeutscher Kaffees zu. Die »Kaffeekrise« von 1977 führte nicht nur zu einer kurzfristigen Verknappung und längerfristigen Verschlechterung des Kaffeeangebotes in der DDR. Die Kaffeetrinker der DDR verloren darüber jegliches Vertrauen in das heimische Sortiment und richteten sich nun verstärkt an bundesdeutschen Konsummustern aus. Der abschließende Teil meiner Ausführungen behandelt demzufolge die Hinwendung der DDR-Konsumenten zum Westkaffee. Dessen Bedeutung sowohl für die Volkswirtschaft als auch für die Bevölkerung der DDR sollte nicht unterschätzt werden. Zum einen profitierte der Staatshaushalt von den zusätzlichen Einnahmen durch den Verkauf des zum Luxusgut proklamierten Westimports,84 zum anderen sicherte der per Post- und Reiseverkehr aus der Bundesrepublik eingeführte Kaffee zu einem großen Teil die Versorgung der DDR-Bürger. Wie bereits oben angedeutet, übte Röstkaffee aus bundesdeutscher Produktion aufgrund seiner geschmacklichen Vorzüge eine außerordentlich attraktive Wirkung auf die Konsumenten in der DDR aus.85 Wer es sich leisten konnte, erwarb ihn in speziellen Verkaufsstellen, welche von der 80 SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 209. 81 Abkürzung für : Erichs Devisenschoner. 82 Vgl. Wolle: Die heile Welt (Anm. 3), S. 200; vgl. Döring: »Unsere Existenz« (Anm. 21), S. 121; Wünderich: »Kaffeekrise« (Anm. 3), S. 249; Lack, Grotz, Gole (Hg.): Kaffee (Anm. 50), S. 104. 83 Vgl. SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 208 – 209, 321. 84 Bei den angebotenen Marken aus bundesdeutscher Produktion handelte es sich ab Ende der 1970er-Jahre vor allem um Tchibo und Jacobs. 85 Vgl. Wünderich: »Kaffeekrise« (Anm. 3), S. 243.
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Staatsführung eigens für das Angebot von Westwaren, ostdeutschen Mangelwaren und Feinkost aus internationaler Produktion eingerichtet worden waren. Im Intershop wurde Westkaffee gegen Deutsche Mark verkauft und brachte somit auf direktem Wege Devisen in die Staatskasse. Im Delikat wurde mit einiger Verzögerung ebenfalls Westkaffee angeboten, er konnte hier gegen einheimische Währung erworben werden, allerdings zu deutlich höheren Preisen. Durch den massiv vorangetriebenen Ausbau der Intershop- und Delikat-Verkaufsstellen in den 1970er-Jahren und deren kontinuierlich wachsendes Angebot an Kaffeesorten aus der Bundesrepublik wurde die Konzentration der ostdeutschen Konsumenten auf westdeutschen Kaffee zusätzlich begünstigt. Dank Alexander Schalck-Golodkowski, der im Herbst 1977 entsprechende Abkommen mit Röstereien in der Bundesrepublik abgeschlossen hatte, konnten die Marken Tchibo Gold-Mocca und Jacobs Krönung auch in größeren Stückzahlen angeboten werden.86 Eine andere Möglichkeit, in den Genuss von Westkaffee zu kommen, bot sich für diejenigen, die Familie oder Freunde in der Bundesrepublik hatten. Über den grenzüberschreitenden Reiseverkehr und in Westpaketen, welche vermehrt in der Weihnachtszeit verschickt wurden, strömte Röstkaffee aus bundesdeutscher Produktion in beträchtlichen Mengen in viele Privathaushalte.87 Konkrete Zahlen liegen dazu für die Jahre 1976 und 1977 vor. In einem Schreiben des Zolls an den Minister- und Staatsratsvorsitzenden Willi Stoph zur Einfuhr von Kaffee im Post- und Reiseverkehr heißt es: »Auf Grund der Untersuchungen des Instituts für Marktforschung kann eingeschätzt werden, daß im Jahre 1976 ca. 9 900 bis 10 000 t Bohnenkaffee in Geschenksendungen eingeführt wurden. Nach den Erfahrungen des I. Halbjahres 1977 kann in diesem Jahr mit einer ähnlichen Menge gerechnet werden. […] Aus der BRD und Westberlin wieder einreisende Bürger der DDR führen in der Regel Kaffee zwischen 250 – 500 g mit. Ähnliches gilt für Bürger der BRD und Westberlin, die Verwandte und Bekannte in der DDR besuchen.[…] Insgesamt kann auf Grund einer groben Schätzung im Reiseverkehr mit einer jährlichen Kaffeeeinfuhr von 2 500 bis 3 500 t gerechnet werden.«88
Eine dritte Option, Westkaffee zu beziehen, bestand neben den oben genannten auch für DDR-Bürger ohne Westkontakte, nämlich die, ihn gegen Gefälligkeiten oder besondere Dienstleistungen, die mit Ost-Mark nicht zu bezahlen waren, einzutauschen.89 So konnte sich beispielsweise ein Handwerker in der DDR mit Westkaffee versorgen, unabhängig davon, ob er über eigene Beziehungen in die Bundesrepublik verfügte oder nicht. Der von der Staatsführung der DDR ins 86 Vgl. SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 389. In der entsprechenden Information von SchalckGolodkowski vom 25. 11. 1977 ist von 250 t Röstkaffee aus den Häusern Jacobs und Tchibo die Rede, welcher den Bedarf bis Ende des Jahres 1977 abdecken sollte. 87 Vgl. Wünderich: »Kaffeekrise« (Anm. 3), S. 243. 88 SAPMO-BArch, DY 3023/1218, Bl. 143 – 145. 89 Vgl. Wünderich: »Kaffeekrise« (Anm. 3), S. 243.
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Leben gerufene Tauschhandel mit Kaffee wurde sozusagen mit anderem Materialeinsatz auch auf nationaler Ebene fortgesetzt. Ende der 1970er-Jahre enthielt statistisch jede sechste in der DDR getrunkene Tasse Kaffee Westkaffee.90 Dass der Konsum von Westkaffee aus diesen Gründen von Seiten der Herrschenden teils wohlwollend, teils argwöhnisch betrachtet wurde, widerspiegelt das ambivalente Verhältnis der DDR-Führung zur Konsumkultur ihres Landes. Der Konsum von Westkaffee sollte in den folgenden Jahren in der DDR kontinuierlich ansteigen. Dies kann allerdings nicht allein auf einen Mangel an äquivalenten Erzeugnissen aus DDR-Produktion zurückgeführt werden, sondern erklärt sich auch aus dem Misstrauen der DDR-Bevölkerung in die eigene Produktkultur.
Schluss Betrachtet man die Kaffeekonsumgeschichte der DDR aus einer transnationalen Perspektive, so rücken zwei Verflechtungsgeschichten in den Fokus: zum einen eine Verflechtung auf der Ebene der Produktion zwischen der DDR und »ihren« Kaffeeexportländern, welche für Äthiopien, Angola, Brasilien, Kolumbien, die Philippinen oder Vietnam mittels einer detaillierten Analyse der jeweiligen Handelsbeziehungen sichtbar gemacht werden kann, zum anderen eine Verflechtung auf der Ebene der Konsumtion zwischen der DDR und der Bundesrepublik, die auf eine gemeinsame Konsumtradition zurückzuführen ist. Interessant ist, dass beide Verflechtungen besonders deutlich in Zeiten des Angebotsmangels und der Versorgungskrise zutage traten. Sowohl der von der Staatsführung der DDR beschlossene Tauschhandel mit dem Kaffeeanbauland Äthiopien als auch die Hinwendung der DDR-Konsumenten zum Westkaffee sind als Reaktion auf die »Kaffeekrise« des Jahres 1977 zu interpretieren. Mit zuvor bestehenden Import- und Konsumtraditionen wurde sozusagen aus einer konkreten Notsituation heraus gebrochen. Die Staatsführung der DDR ergriff mit der Hinwendung zu sozialistisch orientierten Ländern des globalen Südens gezielte Außenhandelsmaßnahmen, um ihr Konsumversprechen der Bevölkerung gegenüber weiterhin erfüllen zu können. Die Konsumenten in der DDR wiederum wandten sich von ihrem paternalistischen Versorgungsregime ab und dem bundesdeutschen Kaffee zu. Spätestens dadurch wurde offensichtlich, dass in einer Situation des Mangels der Wunsch nach Wahlfreiheit politische Sprengkraft besitzt. Kaffee war in diesem Kontext eine brisante Ware.
90 Staadt: Eingaben (Anm. 3), S. 50.
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Der Kaffee der Gerechtigkeit. Wertzuschreibungen des fair * gehandelten Kaffees zwischen 1973 und 1992
Kaffee ist das bekannteste und umsatzstärkste Fair-Trade-Produkt weltweit.1 In Deutschland ist es allein für ein Drittel des Gesamtumsatzes mit fair gehandelten Waren verantwortlich.2 In diesem Artikel möchte ich der Frage nachgehen, weshalb fairer Handel und Kaffee in einem scheinbar so engen Zusammenhang stehen, indem ich die Geschichte des fair gehandelten Kaffees in der Bundesrepublik Deutschland in den Blick nehme. In den Niederlanden und der Bundesrepublik wurde ab 1973 ein Kaffee aus dem guatemaltekischen Hochland angeboten, der das wohl erste fair gehandelte Lebensmittel weltweit war.3 Diese Etikettierung ist aber nicht unumstritten, schon aus dem Grund, weil es 1973 keine Definition für fairen Handel gab und der Begriff selbst noch gar nicht in seiner heutigen Bedeutung existierte.4 Heute * Der vorliegende Artikel basiert auf Ergebnissen meiner Dissertation, die im November 2013 an der Universität Bielefeld unter dem Titel »Fairer Handel und Kaffee. Eine global-lokale Verflechtungsgeschichte« eingereicht wurde. Sie wird voraussichtlich 2014 als Buch erscheinen. Die Dissertation entstand mit der großzügigen Unterstützung der Gerda-Henkel-Stiftung Düsseldorf, der Bielefeld Graduate School in History and Sociology und der Universität Bielefeld. 1 Bei Raynolds und Long heißt es: »Coffee represents the core of the certified Fair Trade system at global and national levels«, Laura T. Raynolds, Michael A. Long: Fair/Alternative Trade: Historical and Empirical Dimensions, in: Laura T. Raynolds, Douglas L. Murray, John Wilkinson (Hg.): Fair Trade. The Challenges of Transforming Globalization, London, New York 2007, S. 15 – 32, S. 23. Mit der Verwendung der Begriffe »fair« bzw. »fairer Handel« ist hier keine Wertung meinerseits verbunden. 2 Vgl. die Rubrik »Fairer Handel« ! »Zahlen und Fakten« ! »wichtige Produkte« auf http:// www.forum-fairer-handel.de (abgerufen im Dezember 2013). 3 Vgl. Gavin Fridell: Fair Trade Coffee. The Prospects and Pitfalls of Market-Driven Social Justice, Toronto, Buffalo, London 2007, S. 41; Marlike Kocken: Fifty Years of Fair Trade. A Brief History of the Fair Trade Movement, 2003, URL: http://www.fair-trade-hub.com/supportfiles/brief_history_of_fair_trade.pdf, S. 2 (abgerufen im Dezember 2013). 4 In den 1970er-Jahren war – bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland – vom »Dritte-WeltHandel« die Rede, in den 1980er-Jahren dominierte die Bezeichnung »alternativer Handel«, erst seit den späten 1980er-Jahren hat sich der Begriff »fairer Handel« immer mehr durchgesetzt. Zur Geschichte des fairen Handels in der Bundesrepublik vgl. Markus Raschke: Fairer Handel. Engagement für eine gerechte Weltwirtschaft, Ostfildern, 2. Aufl. 2009.
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meint fairer Handel meist, dass benachteiligten Kleinproduzenten im globalen Süden ein Marktzugang ermöglicht sowie ein höherer und über dem Weltmarktniveau liegender Preis für ihr Produkt gezahlt wird.5 Das war in der Vergangenheit nicht immer so, doch es lassen sich zwei Kontinuitäten ausmachen, die es ermöglichen, von einer zusammenhängenden Geschichte des fairen Handels – hier speziell des fair gehandelten Kaffees – zu sprechen. Die erste Kontinuität liegt in den beteiligten Akteuren: Die meisten der Organisationen, die in den 1970er-Jahren am Verkauf des Kaffees aus Guatemala beteiligt waren, gehören noch heute zum direkten Umfeld des fairen Handels. Die zweite und mit Blick auf diesen Artikel entscheidende Kontinuität liegt darin, dass der Kaffee stets eine ethische Wertzuschreibung besaß: Den Käufern wurde vermittelt, dass sie fair gehandelten Kaffee kaufen sollten, da dies die »moralisch bessere« Entscheidung sei.6 Worin diese Wertzuschreibungen lagen und weshalb Kaffee seit 1973 das umsatzstärkste und bekannteste Produkt im fairen Handel ist, soll in diesem Artikel untersucht werden.
Entwicklungspolitische Bewusstseinsbildung am Beispiel Kaffee In den 1960er-Jahren gewann die Idee von Entwicklungshilfe in den westlichen Industrienationen an Popularität, unter anderem aufgrund der Befürchtung, dass sich wirtschaftlich rückständige und instabile Länder des globalen Südens der Sowjetunion zuwenden könnten.7 Die frühen Entwicklungshilfeleistungen basierten auf der Überzeugung, dass es ausreiche, armen Ländern kurzfristige finanzielle Unterstützung zu leisten, um ihnen so die Entwicklung zu einer Industrienation zu ermöglichen.8 Spätestens Ende der 1960er-Jahre wurde je5 Vgl. dazu Raschke: Fairer Handel (Anm. 4), S. 21 – 24; Alex Nicholls, Charlotte Opal: Fair Trade. Market Driven Ethical Consumption, London u. a. 2005, S. 6 – 8. 6 Die Frage, weshalb und wie Waren Wert zugeschrieben wird, ist u. a. in der Wirtschaftssoziologie ein viel diskutiertes Thema, vgl. einführend Jens Beckert, Patrik Aspers (Hg.): The Worth of Goods. Valuation & Pricing in the Economy, New York 2011. Sehr einflussreich für diesen Artikel war ferner Arjun Appadurais Konzept des »social life of things«, vgl. Arjun Appadurai: Introduction: Commodities and the Politics of Value, in: ders. (Hg.): The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge u. a. 1986, S. 3 – 63. 7 Vgl. Odd Arne Westad: The Global Cold War. Third World Interventions and the Making of Our Times, Cambridge (Mass.) 2005; Peter H. Smith: Talons of the Eagle. Latin America, the United States, and the World, New York, Oxford, 4. Aufl. 2013. 8 Zu den Konzepten vgl. Karl Bachinger, Herbert Matis: Entwicklungsdimensionen des Kapitalismus. Klassische sozioökonomische Konzeptionen und Entwicklungen, Köln, Weimar, Wien 2009; Emile G. McAnanay : Saving the World. A Brief History of Communication for Development and Social Change, Urbana, Chicago, Springfield 2012; Wolfgang Knöbl: Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Amerika, Frankfurt/Main, New York 2007.
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doch Kritik an diesem Verständnis von Entwicklungshilfe laut. Dabei spielten die Dependenztheorien, von lateinamerikanischen Wissenschaftlern entwickelt, eine entscheidende Rolle. Die Dependenztheoretiker begründeten die ökonomische Rückständigkeit der Länder des globalen Südens mit fortbestehenden globalen Abhängigkeitsverhältnissen. Sie sahen die Länder des globalen Südens gefangen in einem Weltwirtschaftssystem, das einseitig die Industrienationen begünstigte. Der im Auftrag der Weltbank erstellte und 1969 veröffentlichte Pearson-Bericht schien die Kernaussagen der Dependenztheorien zu bestätigen.9 Damit stand die bisherige Entwicklungshilfe generell infrage: Finanzielle Unterstützung schien demzufolge nicht per se hilfreich zu sein, sondern nur dann, wenn die globalen politischen Voraussetzungen grundlegend geändert und die Position der Entwicklungsländer im Welthandel entscheidend gestärkt würden. Dazu sollten unter anderem die UNCTAD-Konferenzen der Vereinten Nationen 1964 und 1968 beitragen, auf denen Vertreter von Ländern des globalen Südens weitreichende Forderungen erhoben. Die meisten Industrienationen – auch die Bundesrepublik – scheuten sich aber vor Zugeständnissen.10 Das Umdenken in der Entwicklungshilfetheorie und die Blockadetaktik der Industrienationen wurde durch Medienberichte auch außerhalb der politischen Entscheidungsgremien wahrgenommen. In der Bundesrepublik der späten 1960er-Jahre entfalteten die Themenbereiche »Dritte Welt« und Ungerechtigkeit im Welthandel vor allem unter vielen christlich eingebundenen Jugendlichen ein erhebliches Mobilisierungspotenzial, in zahlreichen Gemeinden entstanden Jugendgruppen, die sich mit Entwicklungspolitik und Entwicklungshilfe befassten.11 Die meisten Mitglieder der Gruppen einte der Wunsch, eine so verstandene »Weltverantwortung« zu übernehmen und auf politische Änderungen im Welthandel hinzuarbeiten.12 Das wollten die Jugendverbände der evangelischen und katholischen Kirche erreichen, indem sie den Mitgliedern eine Möglichkeit zum entwicklungspolitischen Engagement boten. 1970 wurde von den Jugendverbänden gemeinsam die »Aktion Dritte-Welt-Handel« (A3WH) gegründet, die sich rasch zur wichtigsten Form entwicklungspolitischen Enga9 Vgl. Kommission für Internationale Entwicklung: Der Pearson-Bericht. Bestandsaufnahme und Vorschläge zur Entwicklungspolitik, Wien, München, Zürich 1969. 10 Vgl. Bastian Hein: Die Westdeutschen und die Dritte Welt. Entwicklungspolitik und Entwicklungsdienste zwischen Reform und Revolte 1959 – 1974, München 2006, hier vor allem S. 132 – 133. 11 Vgl. Hein: Die Westdeutschen (Anm. 10); Claudia Olejniczak: Die Dritte-Welt-Bewegung in Deutschland. Konzeptionelle und organisatorische Strukturmerkmale einer neuen sozialen Bewegung, Wiesbaden 1999. 12 Ernst Schmied: Die ›Aktion Dritte Welt Handel‹ als Versuch der Bewußtseinsbildung. Ein Beitrag zur Diskussion über Handlungsmodelle für das politische Lernen, Aachen 1977, S. 61; Raschke: Fairer Handel (Anm. 4), S. 19 – 20.
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gements in der Bundesrepublik entwickelte. Sie ist aus der Rückschau als Startschuss des fairen Handels in Deutschland zu sehen. Die wichtigste Funktion der A3WH lag darin, Waren an Jugendgruppen zu verteilen, die diese dann in kurzfristig angelegten Verkaufsaktionen absetzten. Die Waren wurden über die niederländische Importorganisation Stichting S.O.S. importiert und stammten von Genossenschaften im globalen Süden.13 Das wichtigste Ziel des Warenverkaufs war allerdings aus Sicht der A3WH-Verantwortlichen und der meisten Jugendgruppen nicht etwa ein größtmöglicher Umsatz. Vielmehr sollte der Verkauf von Waren als Aufhänger für ein Gespräch mit den Käufern genutzt werden. In dem Gespräch sollten die Verkaufenden auf die Probleme im Welthandel hinweisen und so die »neue[n] Denkanstöße zum Thema Entwicklungshilfe in die Öffentlichkeit« bringen.14 Indem man in der bundesdeutschen Gesellschaft auf die Missstände der Entwicklungshilfe aufmerksam machte, so die Überzeugung der an der A3WH-Beteiligten, würde sich auch der Druck auf die Bundesregierung erhöhen – was letztlich zu politischen Änderungen führen werde. In den ersten Jahren der A3WH handelte es sich bei den verkauften Waren fast ausschließlich um kunsthandwerkliche Gegenstände. Allerdings regte sich an diesem Warensortiment früh Kritik.15 Diese war nicht nur darauf zurückzuführen, dass das Käuferinteresse an Kunsthandwerk bei wiederholten Verkaufsaktionen schnell nachließ. Viel entscheidender war, dass die Handwerksgegenstände nur begrenzt als Träger einer entwicklungspolitischen Botschaft geeignet zu sein schienen. Die A3WH-Verantwortlichen suchten früh nach Möglichkeiten, um genossenschaftlich produzierte Verbrauchsgüter wie Schokolade, Tee oder Kaffee in das Sortiment aufzunehmen. Diesen Gütern war gemein, dass sie nahezu ausschließlich im globalen Süden produziert und zum größten Teil im globalen Norden konsumiert wurden, dass sie als Agrarprodukte einem schwankenden Preisgefüge unterlagen und dass die nationalen Ökonomien der Exportländer oft existenziell von diesen Gütern abhängig waren. Aus Sicht der A3WH-Beteiligten ließ sich daher an Schokolade, Tee oder Kaffee eindrücklich und nachvollziehbar darstellen, wie die Industrienationen im Welthandel von der Abhängigkeit der Entwicklungsländer profitierten.16 13 Zur Geschichte der Stichting S.O.S. vgl. Paul Arnold: ›Went v’r jet dunt dan dunt v’r ’t jot!‹ De geschiedenis van de Kerkraadse Stichting Steun onderontwikkelde Streken, later S.O.S. Wereldhandel, 1959 – 1986, in: Ad Knotter, Willibrord Rutten (Hg.): Studies over de sociaaleconomische geschiedenis van Limburg XLVI, Maastricht 2001, S. 3 – 43. 14 Brot für die Welt: Der Ferne Nächste, Nr. 1, 1970. 15 Vgl. bspw. Bernd Dreesmann: Bazare zur Bewußtseinsbildung? Neue ›Aktion 3. Welt-Handel‹ geplant, in: E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit, Nr. 10/70, Oktober 1970, S. 10 – 11; Protokoll Aktion 3. Welt-Handel, Sitzung vom 3. September 1970, S. 1, in: Misereor Archiv Aachen (MAA), FH 6. 16 Vgl. o. V.: »Aktion Dritte Welt Handel«, in: eji Evangelische Jugend Information Nr. 2 (1972),
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Im Jahr 1973 stellte die A3WH den Kontakt zur guatemaltekischen Kaffeekleinbauern-Vereinigung Fedecocagua her.17 Ab Sommer 1973 konnte der Kaffee aus Guatemala unter der Bezeichnung Indio-Kaffee angeboten werden. Schon die Benennung des Kaffees macht deutlich, dass die Produktionsbedingungen des Kaffees das wichtigste Verkaufsargument darstellten. Explizit wurde darauf hingewiesen, dass indigene Kleinbauern unterstützt würden, die dadurch einen Marktzugang, Unabhängigkeit von den Zwischenhändlern und eine gerechtere Entlohnung erhalten würden. Zur Bewerbung des Kaffees wurde das Bild einer direkten Beziehung zwischen Konsumenten und Produzenten vermittelt. Mit dem Verkauf, so hieß es auf der Verpackung des Indio-Kaffees, werde »eine Brücke vom indianischen Kaffeebauern direkt zum europäischen Verbraucher« geschlagen.18 Der aus Sicht der A3WH-Verantwortlichen wichtigste Effekt des Kaffeeverkaufs lag nicht auf Produzenten-, sondern auf Konsumentenseite: in der angestrebten »entwicklungspolitischen Bewusstseinsbildung«. Der Indio-Kaffee wurde mit einem Faltzettel ausgeliefert, auf dem verschiedene Welthandelsprobleme knapp dargestellt wurden. Die Hoffnung in den Reihen der A3WH: Wer diesen Faltzettel lese und sich dabei mit den Verkäufern unterhalte, werde von selbst »zum ›bewußten‹ Kaffeetrinker« und denke darüber nach, warum der Anteil an Steuern und Zöllen noch höher sei als der Erzeugerpreis, den die A3WH »ohnehin enorm hoch angesetzt« habe.19 Diese Orientierung am Konsumenten war entscheidend, denn der erhoffte Erfolg in der Bewusstseinsbildung legitimierte den Verkauf von Kaffee, der eigentlich mehreren auf die Produzenten bezogenen Zielen der A3WH widersprach. Kaffee wurde in Form von Rohbohnen importiert und musste in Europa weiterverarbeitet werden. Die A3WH-Verantwortlichen hatten es dagegen als Ziel ausgegeben, möglichst viele Verarbeitungsschritte in den Erzeugerländern stattfinden zu lassen.20 Außerdem verstärkte der Import von Kaffee grundsätzlich die Abhängigkeit der Exportnationen von Primärgütern. Und nicht zuletzt besaßen in Genossenschaften zusammengeschlossene Kaffeebauern bereits ein gewisses Maß an Organisation, während beispielsweise die Produzenten von Kunsthandwerk viel eher den ärmsten und am stärksten benachteiligten
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S. 26, Protokoll der Sitzung des Leitungskreises der A3WH am 16./17. Juni 1972, S. 6, in: MAA, FH 2; Harry Neyer: Vom Bastkorb zum Guatemala-Kaffee. Trends, Tendenzen und offene Fragen bei der Aktion Dritte Welt Handel, in: E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit, Nr. 4 (1973), S. 19 – 21. Fedecocagua steht für : Federaciûn de Cooperativas Agrcolas de Productores de Caf¦ de Guatemala. Entwurf für Packungsaufdruck, undatiert, in: MAA, FH 11. Harry Neyer : Vom Bastkorb zum Guatemala-Kaffee. Die Aktion Dritte Welt Handel weitet sich aus, in: Pax Christi, Nr. 5/73, September/Oktober 1973, S. 15 – 16, S. 15. Vgl. bspw. Berthold Burkhardt an Harry Neyer, 24. April 1973, S. 2, in: MAA, FH 3.
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Schichten zuzurechnen waren.21 Doch diese Kritikpunkte fielen kaum ins Gewicht, da es der A3WH in erster Linie darum ging, den Konsumenten Informationen zu Welthandelsproblemen vermitteln zu können. Und dafür schien Kaffee aufgrund seiner produktspezifischen Eigenschaften und der Handelsbedingungen besonders geeignet zu sein. Der Verkauf des Indio-Kaffees erwies sich schnell als Erfolg – und zwar, wie auf einem Auswertungsseminar der A3WH betont wurde, sowohl im Verkauf als auch als »Brücke zur entwicklungspolitischen Bewußtseinsbildung«.22 Doch bereits zwei Jahre nach dem Beginn des Indio-Kaffee-Verkaufs traten plötzlich und unerwartet schwerwiegende Probleme auf. Mitte 1975 erlebte die brasilianische Provinz Paran – eine der wichtigsten Kaffeeanbau-Regionen des Landes – einen schweren Frost, dem die meisten Kaffeebäume zum Opfer fielen. Der daraus entstehende Angebotsrückgang führte dazu, dass der Kaffeepreis an der New Yorker Börse in bislang ungeahnte Höhen kletterte.23 Paradoxerweise geriet der Genossenschafts-Dachverband Fedecocagua, dessen Ziel unter anderem ein gerechter Preis für die beteiligten Kleinbauern war, durch den globalen Anstieg der Kaffeepreise in existenzielle Schwierigkeiten. Um den guatemaltekischen Kleinbauern in den Jahren zuvor die Entscheidung für einen Beitritt zum Genossenschaftsverband zu erleichtern, war ihnen garantiert worden, dass sie stets frei über Bei- und Austritt entscheiden könnten. Eine gemeinsam getragene, verbindlich gemachte Verantwortung, wie sie heute grundlegendes Element des Kooperativenwesens ist, bestand damals nicht. Der Direktor der Fedecocagua hatte mit seinen Handelspartnern bereits Anfang 1975 Preise und Abnahmemengen für das kommende Kaffeejahr ausgehandelt. Diese ausgehandelten Preise wurden von dem nach oben schnellenden Kaffeepreis bald übertroffen. Freie Zwischenhändler, die sich am aktuellen Weltmarktpreis orientierten, boten den Kleinbauern einen höheren Preis für den Kaffee als die Fedecocagua. Die meisten Kleinbauern traten daher kurzerhand aus und verkauften ihren Kaffee auf dem freien Markt.24 Als Folge konnte die Fedecocagua ab 1975 nur 21 Vgl. Protokoll der Sitzung der Arbeitsgruppe Pädagogik vom 29. Januar 1971, S. 1, in: MAA, FH 7. 22 Protokoll des Auswertungsseminars vom 1.–3. Februar 1974, S. 1, in: MAA, FH 7. 23 Vgl. bspw. John M Talbot: Grounds for Agreement. The Political Economy of the Coffee Commodity Chain, Lanham u. a. 2004; Mark Pendergrast: Kaffee. Wie eine Bohne die Welt veränderte, Bremen 3. Aufl. 2006 und die Berichterstattung bei Frank Otte: Teuer wie nie zuvor, in: Die Zeit, Nr. 23, 1976. 24 Vgl. Alfredo Bartolome Hernndez Contreras: El cooperativismo cafetalero guatemalteco federado. Una experiencia en el mbito de la cooperaciûn econûmica externa, Guatemala 1987, S. 51; o. V.: »Der Weltmarkt des Kaffees«, in: Unsere Dritte Welt, Nr. 9, November 1976, S. 5; GEPA/A3WH: Zur Kaffeesituation, undatiert, in: MAA, FH 9; Ruben Quaas: Selling Coffee to Raise Awareness for Development Policy. The Emerging Fair Trade Market in Western Germany in the 1970s, in: Historical Social Research, Nr. 36 (2011), S. 164 – 181.
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noch deutlich weniger Kaffee als geplant liefern und diesen darüber hinaus in einer schlechteren Qualität und zu höheren Preisen als vereinbart. Dadurch geriet bald auch die deutsche A3WH in Schwierigkeiten. Der IndioKaffee musste erheblich teurer als der konventionell gehandelte Kaffee angeboten werden, da die Großröstereien allein durch ihre Lagerbestände den Preis noch längere Zeit auf einem niedrigen Niveau halten konnten. Dazu kam, dass der A3WH das wichtigste Argument für den Verkauf des Indio-Kaffees verloren ging: Wie in einem Infoheft der inzwischen gegründeten A3WH-Handelsorganisation GEPA angemerkt wurde, erzielten die guatemaltekischen Kleinbauern auch auf dem freien Markt »im Moment einen gerechten Preis für ihren Rohkaffee«.25 Nicht zuletzt aufgrund der Probleme im Kaffeesektor musste die GEPA in den späten 1970er-Jahren sinkende Umsatzzahlen verzeichnen. Dazu kam, dass auch die theoretische Zielsetzung des fairen Handels, die entwicklungspolitische Bewusstseinsbildung anhand des Warenverkaufs, infrage gestellt wurde, da ein Erfolg kaum messbar war. 1977 wurde in einem Artikel konstatiert, die A3WH habe »die von ihr selbst gestellten Ansprüche nicht oder nur sehr unvollständig eingelöst«.26 Und schließlich wurde die Förderungswürdigkeit der Fedecocagua immer zweifelhafter. Verschiedene Berichte hoben hervor, dass den Kleinbauern in der Organisation kaum mehr Mitspracherecht eingeräumt würde.27 Die Krise, in der der faire Handel in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre steckte, konnte erst dadurch überwunden werden, dass ab 1979 ein weiterer Kaffee ins Sortiment der GEPA aufgenommen wurde, der eine ganz andere Wertzuschreibung als der Indio-Kaffee erfüllte.
Kaffeetrinkend die Revolution unterstützen Im Juli 1979 eroberte die Frente Sandinista de Liberaciûn Nacional (Sandinistische Befreiungsfront, FSLN) Nicaraguas Hauptstadt Managua. Der bis dato herrschende Diktator Somoza floh ins US-amerikanische Exil.28 Die Berichte, die 25 GEPA/A3WH: Zur Kaffeesituation, undatiert, in: MAA, FH 9. Die Abkürzung GEPA steht für : Gesellschaft zur Förderung der Partnerschaft mit der Dritten Welt mbH, sie wurde aus den Reihen der A3WH als eigenständige, bundesdeutsche Importorganisation im Jahr 1975 gegründet und ist heute Europas größtes reines Fair-Handelsunternehmen. 26 Wolfgang Müller : Handel zwischen Barmherzigkeit und Profit, in: blätter des iz3w, Nr. 59 (1977), S. 9 – 21, S. 16. 27 Vgl. Diskussionspapier für den P.P.A. am 9. 6. 1978, in: Archiv der GEPA (GA), PPA von 1976 bis 6. 10. 1978; Bericht zur Feldarbeit des Genossenschaftsverbandes FEDECOCAGUA anläßlich eines Projektbesuches vom 9. bis 18. September 1980, in: MAA ZA: 2003/21 GF HAV: GEPA Gewürzaktion 1979 – 1982/Fedecocagua 1979 – 80. 28 Vgl. Clifford L. Staten: The History of Nicaragua, Santa Barbara u. a. 2010; Frances Kinloch Tijerino: Historia de Nicaragua, 3. Aufl., Managua 2008.
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in deutschen Medien abgedruckt wurden, machten deutlich, dass die Revolution in Nicaragua nicht nur von einer kleinen Gruppe von Guerillakämpfern getragen wurde, sondern vom nicaraguanischen Volk, das sich geschlossen gegen einen skrupellosen Diktator erhob.29 Diese klare Trennung in Gut und Böse gab einer entstehenden Solidaritätsbewegung Aufwind. Sie gewann rasch an Zulauf, als immer mehr Medienberichte das Bild einer »zutiefst menschlichen, weil christlich motivierten Revolution« zeichneten und die ersten Amtshandlungen der sandinistischen Regierung darauf hindeuteten, dass diese wirklich am Aufbau einer gerechteren Gesellschaft interessiert zu sein schien.30 Auch bei dem A3WH-Handelsunternehmen GEPA sympathisierte man mit der sandinistischen Revolution. Dazu kam, dass die GEPA-Verantwortlichen darauf hofften, über die entstehende Solidaritätsbewegung weitere Käuferkreise erschließen zu können. Bereits Ende 1979 flog der Projektberater der GEPA nach Nicaragua, um dort Möglichkeiten einer »solidarischen Zusammenarbeit« mit der FSLN zu erkunden.31 Ihm gegenüber äußerten Vertreter der nicaraguanischen Regierung wiederholt den Wunsch nach wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit den Organisationen des fairen Handels. Die Entscheidung fiel für den Handel mit Kaffee. Für die nationale Wirtschaft Nicaraguas und für den geplanten Neuaufbau des Landes hatte der Kaffeeexport entscheidende Bedeutung. Zugleich war die GEPA angesichts der Probleme mit der Fedecocagua auf der Suche nach weiteren Kaffeequellen. Eine Zusammenarbeit lag daher auf der Hand und war schnell beschlossene Sache; ab 1980 bot die GEPA Kaffee aus Nicaragua an, der in Deutschland über Weltläden und Aktionsgruppen verkauft wurde. Der Nicaragua-Kaffee unterschied sich in mehreren Punkten von dem IndioKaffee, seinem guatemaltekischen Pendant im fairen Handel. Die Sandinisten hatten die nicaraguanische Wirtschaft zentralisiert, der zu exportierende Kaffee wurde durch eine staatliche Exportorganisation gesammelt und verteilt. Anders als beim Indio-Kaffee aus Guatemala war somit im Fall des Nicaragua-Kaffees 29 Vgl. bspw. Heinz G. Schmidt: »Blutige Rebellion« gegen Somoza, in: epd-Entwicklungspolitik Nr. 22 (1978), S. 7 – 8, S. 7 oder o. V.: Dollars für Kugeln, in: Der Spiegel, Nr. 4/78, 23. Januar 1978, S. 119 – 120. 30 Werner Balsen, Karl Rössel: Hoch die internationale Solidarität. Zur Geschichte der DritteWelt-Bewegung in der Bundesrepublik, Köln 1986, S. 413; vgl. auch o. V.: Barmherzig im Sieg, in: Der Spiegel, Nr. 34/79, 20. August 1979, S. 93 – 96, S. 93; zur Nicaragua-Solidarität in Westdeutschland ferner Michael Förch: Zwischen utopischen Idealen und politischer Herausforderung. Die Nicaragua-Solidaritätsbewegung in der Bundesrepublik. Eine empirische Studie, Frankfurt/Main 1995; Rosemarie Karges: Solidarität oder Entwicklungshilfe? Nachholende Entwicklung eines Lernprozesses am Beispiel der bundesdeutschen Solidaritätsbewegung mit Nicaragua, Münster, New York 1995. 31 Gerd Nickoleit: Bericht über meinen Besuch in Nicaragua vom 15.–22. Nov. 1979, S. 1, in: GA P.P.A. Ab: 23. Apr. 1979 Bis: 14. Dez. 1981.
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ungewiss, wo die Bohnen genau herkamen. Von nicaraguanischen Stellen konnte nur vermutet werden, dass etwa 60 Prozent des Kaffees von Kleinbauern hergestellt würden.32 Auf Seiten der GEPA vertraute man darauf, dass die sandinistischen Revolutionäre die geplanten Sozialreformen zugunsten der Ärmsten durchsetzen würden, weshalb der Kaffeeverkauf mit den Zielen des fairen Handels vereinbar zu sein schien. Dennoch lässt sich festhalten: Der von der GEPA verkaufte Kaffee unterschied sich nicht von dem, der im konventionellen Markt gehandelt wurde, denn auch dieser wurde von Nicaraguas staatlicher Exportorganisation bezogen. Der Unterschied zwischen dem konventionell und dem fair gehandelten Kaffee lag vor allem in der symbolischen Wertzuschreibung. Während Nicaragua-Kaffee im konventionellen Handel aufgrund seiner geschmacklichen Eigenschaften meist als Bestandteil von Kaffeemischungen eingesetzt wurde, bot die GEPA den Kaffee unvermischt an. Außerdem zahlte sie, wie beim IndioKaffee auch, im Einkauf einen zehnprozentigen Aufschlag auf den Weltmarktpreis, der zum Wiederaufbau Nicaraguas eingesetzt werden sollte. Auf diese Weise ließ sich der Kaffee aus Nicaragua explizit als Mittel zur Unterstützung der sandinistischen Revolution und des nicaraguanischen Staats verkaufen. Mit dieser Wertzuschreibung wurde der Nicaragua-Kaffee rasch zum bedeutendsten Umsatzträger im GEPA-Sortiment. Im Mittelpunkt stand nicht mehr – wie noch beim Indio-Kaffee – die Förderung von Kleinbauern, sondern die Solidarität mit einem politischen System. Diese Neuorientierung führte dazu, dass der faire Handel seit den frühen 1980er-Jahren nicht länger allein Abnehmer aus dem kirchlichen Umfeld, sondern zunehmend linkspolitisch orientierte Konsumenten ansprach. Ab 1980 hatte die GEPA also sowohl den aus Guatemala stammenden IndioKaffee als auch den Kaffee aus Nicaragua im Sortiment. Anders als in Nicaragua war in Guatemala eine rechtsgerichtete Militärregierung an der Macht, die den Berichten nach vor allem die indigene Landbevölkerung blutig unterdrückte.33 Bald wurde unter den Gruppen, die in Weltläden und an Aktionsständen für den Verkauf der fair gehandelten Produkte sorgten, die Befürchtung laut, dass durch den Verkauf des Indio-Kaffees aus Guatemala über die Exportsteuer letztlich
32 Vgl. Besuche bei ENCAFE und ENAZUCAR. Gespräch mit SeÇor Buitrago von ENCAFE, undatiert, in: Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH), Teilnachlass Jens Michelsen, E. 1; Gerd Nickoleit: Bericht über meinen Besuch in Nicaragua (Anm. 31). 33 Die Unterdrückung der Mayas erreichte in Guatemala spätestens 1981 einen neuen Höhepunkt, vgl. Estelle Higonnet (Hg.): Quiet Genocide. Guatemala 1981 – 1983, New Brunswick, London 2009; zur Berichterstattung bspw. auch Carlos Mosch, Klaus Höweling: Guatemala: Der Völkermord wird fortgesetzt, in: blätter des iz3w, Nr. 103 (1982), S. 10 – 12.
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auch die Militärregierung finanziert werde.34 In der Folge sprachen sich immer mehr Gruppen gegen eine weitere Kooperation der GEPA mit der guatemaltekischen Fedecocagua aus. Die Diskussionen gewannen im Oktober 1981 erheblich an Schärfe. In dem Monat ging eine Meldung durch die westdeutschen Zeitungen, dass die guatemaltekische Regierung zahlreiche ländliche Genossenschaften geschlossen habe, da diese als kommunistisch eingeschätzt worden seien.35 Die Tatsache, dass die Fedecocagua von der Schließung allem Anschein nach nicht betroffen war, diente vielen Gruppen als vermeintlicher Beleg dafür, dass diese der guatemaltekischen Militärregierung als »Aushängeschild, Kontrollmechanismus und Geldquelle« diene.36 In der Konsequenz wurde »ein entschiedenes Nein« zum Indio-Kaffee gefordert, als Alternative wurde den Gruppen nahegelegt, auf den Verkauf und Konsum von Nicaragua-Kaffee umzuschwenken.37 An den Diskussionen um Indio- und Nicaragua-Kaffee zeigt sich sowohl die Bedeutung als auch die Fragilität der symbolischen Wertzuschreibungen des fair gehandelten Kaffees. Während der Indio-Kaffee dazu diente, den Aufbau von Kleinbauerngenossenschaften zu unterstützen und den Kleinbauern einen als gerecht verstandenen Preis zu zahlen, ging es bei dem Nicaragua-Kaffee um die Unterstützung des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Neuaufbaus eines ganzen Landes. Die Frage, in welchem politischen Kontext der Kaffee produziert wurde, gewann für viele Konsumenten an Relevanz und wurde in der Folge auch auf den Indio-Kaffee übertragen, der allerdings vor allem als »Kleinbauern«-Kaffee attraktiv gewesen war. Eine linkspolitische Identifikationsmöglichkeit bot er nicht, im Gegensatz zum Nicaragua-Kaffee. Auch wenn sich viele Akteure im fairen Handel um eine Relativierung der negativen Urteile über die Fedecocagua bemühten, verlor der Indio-Kaffee immer mehr an Rückhalt, weshalb schließlich seitens der GEPA der Handel mit der Fedecocagua Mitte der 1980er-Jahre beendet wurde. Der Verkauf des Nicaragua-Kaffees erreichte dagegen erst ab 1982 seine Blütezeit, wofür wiederum eine Verschiebung der Wertzuschreibungen entscheidend war. Ab 1981 sickerten in der bundesdeutschen Nicaragua-Solidaritätsbewegung erste Vermutungen durch, die bald zur Gewissheit wurden: Die 34 Vgl. Roland Bunzenthal: »Warum Guatemalas Indio-Kaffee nicht nur befreiend wirkt«, in: Frankfurter Rundschau, Nr. 59, 11. März 1981, S. 9. 35 Vgl. bspw. Süddeutsche Zeitung vom 16. Oktober 1981, S. 10; Raschke: Fairer Handel (Anm. 4), S. 82 – 88. 36 o. V.: Indio-Kaffee, in: IDES Informationsdienst El Salvador Nr. 59/47, o. J., S. 4. 37 o. V.: Argumente gegen den Verkauf des Indio-Kaffees der Fedecocagua, in: Forum entwicklungspolitischer Aktionsgruppen, Nr. 49, Dez. 1981, S. 13; vgl. auch: Rainer Sakic/ AG3WL: Fedecocagua?, in: Forum entwicklungspolitischer Aktionsgruppen, Nr. 51, Februar 1982, S. 8 – 9; o. V.: Resolution der Regionalkonferenz Nord zum GEPA-Kaffee-Import aus Guatemala, in: Alternativ Handeln, Nr. 8, Dezember 1981, S. 7.
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USA unterstützten auf versteckten Wegen Guerilla-Truppen, die sogenannten Contras, die von Honduras aus nach Nicaragua einfielen und dort gezielt zivile Ziele angriffen. Die US-Regierung unter Ronald Reagan hoffte auf eine Demoralisierung der nicaraguanischen Bevölkerung und darauf, dass diese letztlich zur Absetzung der sandinistischen Regierung führen würde. Die sandinistische Regierung wurde von der Reagan-Administration inzwischen offen als sozialistisch und der Sowjetunion nahestehend eingeschätzt.38 Für den Großteil der Nicaragua-Solidaritätsbewegung in der Bundesrepublik war die Unterstützung der Contras durch die USA ein untrügliches Zeichen für die imperialistische Vorgehensweise der US-Regierung und dafür, dass die USA gezielt die Entwicklung Nicaraguas aus hegemonialen Interessen behinderten.39 Die meisten Solidaritätsbewegten sahen sich in der Pflicht, Nicaragua gegen die US-amerikanische Bedrohung beizustehen. In dem Zusammenhang gewann der Konsum von Nicaragua-Kaffee zunehmende Bedeutung, spielte er doch selbst in dem Konflikt zwischen den Sandinisten und den Contras eine besondere Rolle. Als wichtigstes nicaraguanisches Exportgut stellte Kaffee das Rückgrat der sandinistischen Wirtschaft dar. Die wichtigste Kaffeeanbau-Region, im Norden Nicaraguas gelegen, wurde häufig zum Ziel der von Honduras aus operierenden Contra-Truppen. Um der Demoralisierung der Bevölkerung entgegenzuwirken, bemühte sich die nicaraguanische Regierung, die Kaffeeernte trotz aller Widrigkeiten am Laufen zu halten, auch wenn »dies viele Menschenopfer kosten« werde.40 Ab Ende 1983 reisten zahlreiche junge Europäer und US-Amerikaner nach Nicaragua, um dort als sogenannte Brigadisten zu arbeiten. Die Hoffnung der Freiwilligen – und der sandinistischen Regierung, die diese zur aktiven Unterstützung aufgerufen hatte – lag darin, dass die USA durch die Anwesenheit von Angehörigen westlicher Staaten von einem Angriff auf Nicaragua abgehalten werden könnten. Die meisten Brigadisten wurden als Helfer bei der Kaffeeernte eingesetzt.41 38 Vgl. Roger C. Peace: A Call to Conscience. The Anti-Contra War Campaign, Amherst, Boston 2012; Staten: The History (Anm. 28); Calvin L. Smith: Revolution, Revival and Religious Conflict in Sandinista Nicaragua, Leiden, Boston 2007. 39 Vgl. bspw. Nikolaus Werz: Revolution und Konterrevolution, in: blätter des iz3w, Nr. 109, Mai 1983, S. 3 – 9; o. V.: »Hände weg von Nicaragua«, in: Der Spiegel, Nr. 25/83, 20. Juni 1983, S. 88 – 97. 40 Diese Vermutung äußerten Vertreter der staatlichen Kaffeeexportorganisation Nicaraguas bei einem Besuch in Deutschland, s. Aktennotiz zu Gesprächen mit Vertretern aus Nicaragua am 31. Oktober 1985, in: GA PPA ab: 07.09.85 bis: 25.04.87; vgl. »Nicaragua«, undatiert, S. III, in: GA PPA ab: 19. 03. 1982 bis: 17. 12. 1983. 41 Vgl. u. a. Arbeitsbrigaden nach Nicaragua, in: Forum entwicklungspolitischer Aktionsgruppen, Nr. 76, Februar 1984, S. 23 – 24; Klaus Heß, Barbara Lucas: Die bundesdeutsche Solidaritätsbewegung, in: Otker Bujard, Ulrich Wirper (Hg.): Die Revolution ist ein Buch und ein freier Mensch. Die politischen Plakate des befreiten Nicaragua 1979 – 1990 und der internationalen Solidaritätsbewegung, Köln 2007, S. 306 – 322.
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Diese vielfältigen Faktoren führten dazu, dass dem nicaraguanischen Kaffee sowohl von der sandinistischen Regierung als auch in den Reihen der Solidaritätsbewegung symbolische Bedeutung für Erfolg und Scheitern der sandinistischen Revolution zugeschrieben wurde. Der Konsum von Solidaritätskaffee aus Nicaragua stellte daher für viele Solidaritätsbewegte einen ganz persönlichen Bezugspunkt zur Revolution dar. Kaffee wurde zum Medium einer direkten Teilhabe an den Auseinandersetzungen in Nicaragua, galt als Mittel zur unmittelbaren Verteidigung der sandinistischen Revolution und als Unterstützung eines kleinen Landes im Kampf gegen die imperialistische Bedrohung durch die USA. Diese Wertzuschreibungen spiegelten sich auch in den Plakaten der Solidaritätsbewegung, in denen zum Konsum von Nicaragua-Kaffee aufgerufen wurde, um die sandinistische Revolution zu verteidigen. Je stärker der Nicaragua-Kaffee im Kontext des Kalten Krieges gedeutet und als antiamerikanisches Solidaritätsprodukt konsumiert wurde, desto stärker wuchsen allerdings bei vielen Akteuren im fairen Handel die Ressentiments. Vor allem für die Unterstützer aus dem kirchlich-katholischen Umfeld – in dem der faire Handel seine Wurzeln hatte und nach wie vor verankert war – lag das Ziel des Handels nicht in erster Linie darin, ein politisches System zu unterstützen, sondern benachteiligte Kleinbauern zu fördern. Dazu kam, dass immer mehr Medien über die Unterdrückung der katholischen Kirche in Nicaragua berichteten und die sandinistische Regierung auch vor Menschenrechtsverletzungen nicht zurückschreckte.42 Das katholische Hilfswerk Misereor war neben dem evangelischen Kirchlichen Entwicklungsdienst der wichtigste Gesellschafter des Handelsunternehmens GEPA. Vertreter von Misereor konnten im Herbst 1985 durchsetzen, dass die Verpackung des von der GEPA verkauften Nicaragua-Kaffees geändert wurde: Während zuvor allein positive Errungenschaften der sandinistischen Revolution genannt worden waren, wurde nun im Text auf der Verpackung eine Passage zu »Schattenseiten der revolutionären Entwicklung« eingefügt, die die Menschenrechtsverletzungen, die Unterdrückung von Kirche und Opposition und eine verstärkte Militarisierung Nicaraguas anprangerte. Außerdem hieß es, dass die Sowjetunion und Kuba versuchten, Einfluss in Nicaragua zu gewinnen, und das Land somit »ein Opfer des Ost-West-Konfliktes zu werden« drohe.43 Unmittelbar im Anschluss an die Änderung des Verpackungstextes gingen unzählige Brandbriefe von Weltläden bei der GEPA ein, in denen die Änderungen vehement zurückgewiesen wurden. Durch den neuen Text sei, so eine 42 Für weitere Informationen zu den polarisierenden Diskussionen um die positive oder negative Bewertung der sandinistischen Regierung muss ich auf meine Dissertation verweisen. Vgl. einführend auch Förch: Zwischen utopischen Idealen (Anm. 30). 43 Vgl. GEPA Gesellschaft für Partnerschaft mit der Dritten Welt mbH: Kaffee aus Nicaragua, Wuppertal o. J.
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Reaktion, eine »Solidaritätsarbeit unmöglich« und der Kaffee unverkäuflich geworden.44 Auch daran zeigt sich, welche Bedeutung der immateriellen Wertzuschreibung dem fair gehandelten Kaffee zukam.
Ökologisch und gerecht Wie beschrieben gab es in den 1980er-Jahren nach wie vor viele, die fair gehandelten Kaffee vor allem konsumierten, um Kleinbauern unterstützen zu können. Auch für die kirchlichen Hilfswerke war dies der entscheidende Grund für die wirtschaftliche Beteiligung an dem Handelsunternehmen GEPA. Ab Mitte der 1980er-Jahre sah sich die GEPA mit dem Problem konfrontiert, dass sie keinen Kaffee im Sortiment hatte, der sich explizit als Kleinbauernkaffee vermarkten ließ. Bei dem Kaffee aus Nicaragua, der von staatlichen Stellen exportiert wurde, war unklar, in welchem Maße er von Kleinbauern produziert wurde. Und im Fall des Indio-Kaffees aus Guatemala war die Beendigung der Zusammenarbeit mit der Fedecocagua Mitte der 1980er-Jahre bereits beschlossene Sache. Ab etwa 1985 bemühte sich die GEPA intensiv um die Importmöglichkeit eines ausschließlich von Kleinbauern hergestellten Kaffees. Das Handelsunternehmen hoffte außerdem darauf, die Kleinbauern für einen Kaffeeanbau nach zertifizierbar ökologischen Kriterien gewinnen zu können, denn davon versprach man sich die Möglichkeit, neue Absatzmöglichkeiten in den Reihen der ökologiebewussten Konsumenten zu erschließen.45 Seit 1983 hatte die GEPA sporadischen Kontakt zur UCIRI, einer Vereinigung von indigenen Kaffee-Kleinbauern im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca.46 Die UCIRI war 1981 gegründet worden, um den Kleinbauern die Möglichkeit zu geben, der Willkür der Zwischenhändler und der Abhängigkeit von Großgrundbesitzern zu entkommen. An der Gründung der UCIRI war unter anderem der aus den Niederlanden stammende Jesuit Frans Vanderhoff beteiligt, der bald selbst zum fest in die indigenen Strukturen eingebundenen Mitglied der UCIRI wurde. Nicht zuletzt über Vanderhoff kam der Kontakt zwischen der GEPA und der mexikanischen Kaffeeorganisation zustande. 1985 besuchten GEPA-Vertreter die UCIRI. Bei dem Besuch weckten sie die Hoffnung, die mexikanischen Kleinbauern zum ökologischen Kaffeeanbau bewegen zu können, da diese bislang zum großen Teil ohnehin auf den Einsatz 44 Im Auftrage der AG3WL-Mitgliederversammlung vom 1.–3. November 1985 in Frankfurt, in: MAA ZA: GF HAV: GEPA Nicaragua-Kaffee. 45 Vgl. Planungsaufgabe: Einführung, 4. Februar 1985, in: GA, PPA ab: 07.09.85 bis: 25.04.87. 46 UCIRI steht für : Uniûn de Comunidades Indgenas de la Regiûn del Istmo. Zum Hintergrund und zur Entstehung der UCIRI vgl. Fridell: Fair Trade Coffee (Anm. 3).
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chemischer Mittel verzichtet hatten.47 Schließlich wurde vereinbart, dass der bei der GEPA übliche Aufschlag von zehn Prozent auf den Weltmarktpreis von den mexikanischen Bauern zur Umstellung auf ökologischen Kaffeeanbau verwendet werden sollte. 1986 wurde der Kaffee von der deutschen Organisation Naturland als ökologisch angebaut zertifiziert und von der GEPA als »Caf¦ Orgnico« verkauft. Bei der Werbung berief sich die GEPAvor allem auf die indigenen Wurzeln der Kleinbauern, der Verweis auf die Ethnizität der Produzenten wurde zur Erzeugung von Glaubwürdigkeit genutzt. Mit dem indigenen Naturverständnis sei ein chemieintensiver Landbau schlicht nicht in Einklang zu bringen, die Kleinbauern wollten schließlich »nicht mehr aus dem Boden herausholen, als er hergibt«.48 Schnell stellte sich heraus, dass die Verbindung der Wertzuschreibungen ökologisch und fair neue Absatzmöglichkeiten erschloss. Heute werden etwa zwei Drittel der weltweit als fair zertifizierten Lebensmittel im ökologischen Anbau produziert, und Mexiko erzeugt heute etwa 60 Prozent des weltweit gehandelten Bio-Kaffees.49
Kaffeeverkauf als Überlebenshilfe Bald nachdem die UCIRI mit der GEPA den Handelsvertrag geschlossen hatte, verkaufte sie auch an die Stichting S.O.S. in den Niederlanden, die ebenfalls einen über dem Weltmarktniveau liegenden Preis zahlte.50 Die UCIRI-Kleinbauern produzierten allerdings weitaus mehr Kaffee, als über den fairen Handel in Europa abgesetzt werden konnte. Der Absatz fair gehandelter Waren beschränkte sich – in den Niederlanden wie in Westdeutschland – vor allem auf Weltläden und Aktionsgruppen, in Supermärkten war fair gehandelter Kaffee zu dem Zeitpunkt nicht erhältlich.51 Um diese Eingrenzung zu überwinden, wurde von dem aus den Niederlanden stammenden UCIRI-Mitglied Frans Vanderhoff und dem Direktor einer niederländischen Spendenorganisation ein Gütesiegel für den niederländischen Kaffeemarkt entwickelt. Damit sollte Kaffee von 47 Der Grund dafür wird aus der Rückschau meist in dem Naturverständnis der Maya-Kleinbauern gesehen, lag aber auch darin, dass die Bauern zu der Zeit noch nicht über die Mittel für chemieintensive Landwirtschaft verfügten, vgl. Gerd Nickoleit: Projektvorlage für die PPA-Sitzung vom 14./15. Juni 1985, S. 2, in: GA, PPA Ab 16. 3. 1984 Bis 15. 6. 1985. 48 Caf¦ Orgnico – Caf¦ Sano, in: GEPA Gesellschaft zur Förderung der Partnerschaft mit der Dritten Welt mbH (Hg.): Caf¦ Orgnico, Wuppertal November 1986. 49 Vgl. Fridell: Fair Trade Coffee (Anm. 3), S. 175. 50 Zur Erinnerung: Die Stichting S.O.S. war in den frühen 1970er-Jahren die erste Importorganisation der deutschen »Aktion Dritte-Welt-Handel«. 51 Vgl. Bericht der GEPA aus Anlaß des Jahresabschlusses 1987/88, S. 7, in: GA, PPA ab 10.09.88 bis 09.03.90.
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konventionellen Röstereien als fair gehandelt ausgezeichnet und im Supermarkt verkauft werden können, sofern die Hersteller überprüfbar bestimmte Kriterien – Handel mit bestimmten Produzenten zu einem festgelegten Mindestpreis – einhielten. Durch das Gütesiegel sollte sichergestellt werden, dass die Konsumenten einen fair gehandelten Kaffee als solchen erkennen und auf die Einhaltung der Kriterien vertrauen konnten. 1987 kam das erste Fair-Trade-Siegel in den Niederlanden auf den Markt. Die Bekanntheit des fairen Handels stieg schnell, ebenso die Umsatzzahlen.52 Diese Entwicklung wurde auch in Deutschland aufmerksam verfolgt. In der Bundesrepublik lag die Legitimation des fairen Handels für die meisten ehrenamtlichen Unterstützer in Weltläden und Aktionsgruppen allerdings zu der Zeit nicht darin, möglichst große Umsatzzahlen zu erreichen, sondern darin, am Beispiel der verkauften Waren wirtschaftliche und politische Problemkonstellationen aufzeigen zu können. Dies schien bei einem Absatz fair gehandelter Waren über Supermärkte oder über den ebenfalls ins Auge gefassten Versandhandel unmöglich. Dazu kam, dass die meisten Unterstützer im fairen Handel ein eigenes, in sich geschlossenes Handelssystem sahen, das möglichst keine Überschneidungen mit gewinnorientierten, kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen haben dürfe, um sich nicht selbst zu delegitimieren. Bis Ende der 1980erJahre wurden jegliche Bemühungen um eine Ausweitung des fairen Handels in Deutschland von Vertretern der Basisgruppen blockiert.53 Die Position der Gegner der Handelsausweitung wurde jedoch bald entscheidend geschwächt. In den späten 1980er-Jahren verlor das Internationale Kaffeeabkommen (International Coffee Agreement, ICA), das bis dato für die Stabilität des Kaffeepreises gesorgt hatte, weltweit an Rückhalt.54 1989 konnten sich die beiden größten Kaffeeexportnationen, Kolumbien und Brasilien, nicht über die Aufteilung der Exportmengen einigen. Auch auf Seiten der Abnehmernationen wurde das ICA immer kritischer gesehen. Für viele Industrienationen war das Abkommen nicht zuletzt aus dem Grund geschlossen worden, um die vom Kaffeepreis abhängigen Länder wirtschaftlich zu stabilisieren und von einer Anlehnung an die Sowjetunion abzuhalten. Die sich abzeichnende Entspannung zwischen den Blockmächten nahm dem ICA diese geostrategische 52 Vgl. zur Entstehung und Entwicklung des niederländischen Gütesiegels »Max Havelaar« einführend Fridell: Fair Trade Coffee (Anm. 3). 53 Vgl. bspw. Rolf Obertreis: GEPA im Schwebezustand, in: epd-Entwicklungspolitik, Nr. 16/17 (1989), S. 2 – 3; Michael Sommerfeld, Rainer Stahl: Von der Politik zum Kommerz. Zum entwicklungsbezogenen Handel, in: blätter des iz3w, Nr. 159, August 1989, S. 31 – 33; Raschke: Fairer Handel (Anm. 3), S. 96 – 102. 54 Vgl. Steven Topik, John M. Talbot, Mario Samper : Introduction. Globalization, Neoliberalism, and the Latin American Coffee Societies, in: Latin American Perspectives 37, Nr. 2 (2010), S. 5 – 20; Talbot: Grounds for Agreement (Anm. 23).
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Legitimation. Angesichts des seit Jahren konstant bestehenden Überangebots auf dem Kaffeeweltmarkt hofften viele Import-Nationen vielmehr auf sinkende Preise, wenn der Kaffeemarkt nicht mehr reguliert würde. Diese Faktoren führten schließlich dazu, dass das ICA Mitte 1989 ausgesetzt wurde. Unmittelbar im Anschluss daran fiel der Kaffeepreis auf einen historischen Tiefstand, die Preiskrise wurde für viele Kleinbauern existenzbedrohend.55 Diese Entwicklung wirkte sich auf den fairen Handel in der Bundesrepublik aus, denn durch die nach unten stürzenden Kaffeepreise verschob sich die argumentative Basis grundlegend. Nun konnte eine Ausweitung des fairen Handels dadurch legitimiert werden, dass man mit steigenden Umsatzzahlen schlicht mehr Kleinbauern im globalen Süden das Überleben sichere.56 Diesem Argument hatten die Gegner einer Handelsausweitung nur wenig entgegenzusetzen; der Weg des fairen Handels in den Massenkonsum war frei. Ab 1989 wurde von mehreren Organisationen, allen voran den kirchlichen Hilfswerken Misereor und Kirchlicher Entwicklungsdienst, nach dem niederländischem Vorbild die Einrichtung eines deutschen Gütesiegels für fairen Handel ins Auge gefasst und vorangetrieben. Für die nötigen Vorarbeiten zur Einrichtung des Gütesiegels wurde eine Planungsgruppe unter dem Namen Arbeitsgemeinschaft Kleinbauernkaffee gegründet. Der Name deutet bereits an, dass die Hilfe für Kleinbauern an erster Stelle stand und dass man sich bei der geplanten Ausweitung des fairen Handels in erster Linie auf Kaffee konzentrieren wollte. Für Letzteres sprachen aus Sicht der Verantwortlichen mehrere Gründe. Die Genossenschaftsverbände der Kaffeeproduzenten waren vergleichsweise stabil organisiert und konnten problemlos und zuverlässig größere Mengen liefern. Dies schienen aus Sicht der AG Kleinbauernkaffee wichtige Voraussetzungen für die geplante Zusammenarbeit mit den konventionellen Röstereien zu sein, schließlich sollte verhindert werden, dass durch ausbleibende Lieferungen der Ruf des fairen Handels von vornherein beschädigt würde.57 Dazu kam, dass Kaffee allein aufgrund seiner wirtschaftlichen Bedeutung schnell ökonomischen Erfolg und öffentliche Aufmerksamkeit in Aussicht stellte. Vor allem aber war man in der AG Kleinbauernkaffee überzeugt, dass sich die – den meisten Konsumenten zu dem Zeit55 Vgl. bspw. Christopher M. Bacon u. a. (Hg.): Confronting the Coffee Crisis. Fair Trade, Sustainable Livelihoods and Ecosystems in Mexico and Central America, Cambridge (Mass.), London 2008. 56 Vgl. Michael Glöge: 15 Jahre AG3WL – und so weiter?, in: Forum entwicklungspolitischer Aktionsgruppen, Nr. 150 (1991), S. 16 – 20, hier : S. 17; Ingo Herbst u. a.: A3WH – Im Spannungsfeld zwischen Politik und Selbstzerfleischung, in: AG3WL-Rundbrief Nr. 41, Oktober 1990, S. 32 – 37. 57 Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung der AG Kleinbauernkaffee am 16. Juni 1992, in: MAA ZA: 2011/15 JUST Transfair (Ex AG Kleinbauernkaffee) 1991 – 1992.
Der Kaffee der Gerechtigkeit
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punkt noch unbekannten – Ziele und Botschaften des fairen Handels mit Kaffee besonders eindrücklich und verständlich transportieren ließen. Die Situation im Kaffeemarkt – das heißt, der rasante Sturz der Kaffeepreise, von dem die reichen Industrienationen im globalen Norden profitierten, während die armen Produzenten im globalen Süden in eine existenzielle Notlage gerieten – sollte eindrücklich die Ziele und die Notwendigkeit eines fairen Handels vor Augen führen. In einer Ankündigung des Gütesiegels hieß es, am Beispiel von Kaffee werde besonders deutlich, »daß ein Teil der Welt auf Kosten des anderen« lebe.58 Und in der Konzeption des Gütesiegels wurde angeführt, Kaffee sei für die Konsumenten ein Produkt, mit dem sie »in so vielfältiger Weise Gutes und Erfreuliches« verbänden, während er »auf der anderen Seite den kleinen Produzenten so wenig Lebensfreude zu bescheren in der Lage« sei.59 Kaffee bot also die Möglichkeit einer scheinbar klaren Trennung zwischen reichen, von den niedrigen Kaffeepreisen profitierenden Konsumenten und armen, in der Existenz bedrohten Produzenten. Dass mit dieser Zuordnung sehr oft eine Vereinfachung einherging, war den Akteuren durchaus bewusst. Es sei, so hieß es im Vorfeld der Kampagne, nur äußerst schwierig, »breite Konsumentenschichten durch eine abstrakte Zielsetzung […] zu mobilisieren«. Deshalb beabsichtige man, die »Sympathie und Aktionsbereitschaft auf konkrete Zielsetzungen und Gruppen zu richten […], die die größten Lasten der zu niedrigen Preise und ungerechten Handelsstrukturen« trügen. Aus diesem Grund habe man sich »für den kleinen Kaffeebauern entschieden«.60 Von dem Produkt Kaffee erhoffte man sich also, dass es besonders gut die Zielsetzungen des fairen Handels darstellen und eine Kaufbereitschaft der Konsumenten auslösen könne. 1992 wurde das Gütesiegel in der Bundesrepublik unter dem Namen Trans Fair auf den Markt gebracht. Der erste mit dem Siegel ausgezeichnete Kaffee war der Viva-Kaffee der Rösterei Schirmer, der in Mindener Supermärkten verkauft wurde. Mit dem Trans-Fair-Siegel gelang es, den Marktanteil des fair gehandelten Kaffees schnell zu erhöhen: von zuvor unter einem halben Prozent auf bald etwa drei Prozent. Die umfassende Berichterstattung über den fairen Handel trug darüber hinaus dazu bei, dass Fragen nach dem Produktionskontext der Waren und nach Gerechtigkeit in Handelsbeziehungen zwischen ungleichen Handelspartnern für viele Konsumenten zu einem Thema und zu einem Bestandteil der öffentlichen Diskussion wurden. Kaffee war das erste in Super58 Vgl. Roland Röscheisen: Kaffee? Kaffee fair!, in: Nord-Süd Info-Dienst, Nr. 57, Dezember 1992, S. 12 – 14, S. 13. 59 Fairer Kaffee-Handel – ein Programm zur Unterstützung von Kleinbauern, undatiert, S. 1 – 2, in: MAA ZA: 2011/15 JUST: AG Kleinbauernkaffee 1990 – 1992. 60 Konzept Kaffee-Kampagne in der Bundesrepublik Deutschland, Februar 1990, S. 2, in: MAA ZA: GF HAV: Arbeitsgemeinschaft Kleinbauernkaffee 1989 – 1992.
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märkten als fair gehandelt angebotene Produkt. Ihm folgten bald weitere, doch an die Bedeutung des Kaffees kamen (und kommen) sie nicht heran. Warum stehen fairer Handel und Kaffee in einem so engen Zusammenhang? Dafür gibt es wohl mehrere ausschlaggebende Faktoren. Ein wichtiger Grund war schlicht die ökonomische Bedeutung des Kaffees. Er wurde als Verbrauchsgut ständig neu nachgefragt und war spätestens seit Mitte der 1970erJahre in der Bundesrepublik Deutschland das »Volksgetränk Nummer Eins«.61 Dadurch stellte es für den fairen Handel wirtschaftlichen Erfolg in Aussicht. Doch noch wichtiger war, dass Kaffee stets eine besonders geeignete Projektionsfläche für die ethischen Wertzuschreibungen bot. In den 1970er-Jahren galt er als bestes Medium zur Vermittlung der Problematik von Entwicklungshilfe. In den 1980er-Jahren war er aufgrund seiner Bedeutung im Konflikt um Nicaragua das Solidaritätsprodukt schlechthin. Und in den 1990er-Jahren ließ sich an Kaffee so gut wie an keinem anderen Produkt die unverschuldete Notlage der Kleinbauern, die zerstörerische Kraft des freien Marktes und die daraus resultierende Handlungsnotwendigkeit verdeutlichen. Kaffee spiegelte also zu jeder Zeit die jeweils dominanten Zielsetzungen im fairen Handel wider. Doch der Kaffee war nicht einfach nur Projektionsfläche. Preissteigerungen, politische Regulationsversuche des Kaffeehandels und geschmackliche Eigenschaften der Bohnen beeinflussten den fairen Handel und die mit dem Verkauf verbundenen Wertzuschreibungen.62 Die Geschichte des Kaffeekonsums in Deutschland zeigt, dass sein Konsum immer mit unterschiedlichen Vorstellungen und Wertzuschreibungen verbunden war. Kaffee stand für Exotik und Fremdheit, für Luxus und Reichtum, für Arbeitsfleiß, für Entspannung, für italienische Lebensart, für Heimatgefühle und für revolutionären Aufbruch.63 Kaffee, so ließe sich vermuten, bietet eine Projektionsfläche, die es erlaubt, das Produkt mit den unterschiedlichsten und gleichzeitig besonders wirksamen Wertzuschreibungen auszustatten. Blickt man auf die Geschichte des fairen Handels, findet sich diese Vermutung bestätigt.
61 Monika Sigmund: Kaffee – Die Bedeutung des Genussmittels in den beiden deutschen Staaten. Dissertation an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Universität Hamburg 2012 (erscheint Dez. 2014), S. 219. 62 Dass Dinge selbst zu Akteuren werden können, ist nicht zuletzt durch die Akteur-NetzwerkTheorie betont worden, vgl. dazu Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt/Main 2007. 63 Vgl. die anderen Beiträge in diesem Band, ferner bspw. Sigmund: Kaffee (Anm. 61); Annerose Menninger : Genuss im kulturellen Wandel. Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in Europa (16.–19. Jahrhundert), Stuttgart 2004; Roman Rossfeld (Hg.): Genuss und Nüchternheit. Geschichte des Kaffees in der Schweiz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Baden 2002.
Kommentare: Jakob Vogel, Angelika Epple
»Die Krönung« – Kaffee, Qualitäten und Experten (Jakob Vogel) Musste in den 1970er-Jahren noch Frau Sommer den Deutschen im Fernsehen vor der Tagesschau die Qualität eines guten Kaffees erklären, konstatierte die Werbung Ende der 1980er bereits selbstbewusst: »Laura, Dein Kaffee schmeckt wunderbar!«1 Doch trotz der großen Anstrengungen der Werber, den Verbrauchern eine dem Wirtschaftswunder entsprechende Kaffeekultur zu vermitteln, scheint die wirkliche Qualität des in den deutschen Haushalten gebrauten Kaffees weiterhin ungewiss zu sein. Die Kaffeefirmen füllen ihre Internetseiten daher gerne mit ausführlichen Hinweisen über die Herkunft und Herstellungsweise des Kaffees, um den Kunden das »Geheimnis des unverwechselbaren Charakters« des Kaffeegeschmacks deutlich zu machen und en passant das eigene Produkt als »Qualitätskaffee« herauszustreichen.2 Die eloquenten Qualitätsoffensiven der Kaffeeröster und -händler können jedoch nicht verdecken, dass sich ein Teil der Verbraucher seit einiger Zeit von den im Handel dargebotenen Produkten abgewandt hat, um ihr Getränk aus den Händen jener professionellen »Baristas«, der Barmänner (und -frauen) einer Kaffeebar, zu empfangen, denen nachgesagt wird, einen wirklichen »Spitzenkaffee« zuzubereiten. Eine beständig wachsende Zahl von »Kaffeeakademien« bietet darüber hinaus Kurse an, in denen die angesagten »Kaffee-Sommeliers« dem zahlenden Publikum das nötige Wissen um die Qualität und Herstellung eines »perfekten Kaffees« vermitteln.3 In den florierenden »Coffee-Shops« im 1 Siehe z. B. die Fernsehwerbung für Jacobs-Kaffee von 1982 und 1989 unter : https:// www.youtube.com/watch?v=RyZyfV82CDQ [18. 8. 2014] und https://www.youtube.com/ watch?v=Gb-I4HQLpKw (abgerufen 18. 8. 2014). 2 Vgl. etwa http://www.dallmayr.de/kaffee/ (abgerufen 18. 8. 2014); http://www.vandyckkaffee.de/blog/kaffeewissen/qualitaetskaffee/ (abgerufen 18. 8. 2014). 3 http://www.dw.de/die-hamburger-kaffeeakademie-euromaxx-highlights/av-15946449 (abgerufen 18. 8. 2014).
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Jakob Vogel
Starbucks-Stil erobern auf der anderen Seite zahlreiche Geschmackszusätze die Kaffeetassen und neuerdings auch Pappbecher der Verbraucher – Zeichen einer sich breit ausdifferenzierenden Konsumkultur des schwarzen Getränks, dessen »Qualität« sich damit jeweils zielgruppengerecht auf recht unterschiedliche Weise definiert. Trotz der zentralen Stellung, welche die Fragen der Qualität und des Geschmacks auf diese Weise in der Werbung wie auch in der Konsumpraxis der Verbraucher einnehmen, hat die historische Forschung diesen Aspekten vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit zugewandt.4 Dies mag daran liegen, dass die klassische Wirtschaftsgeschichte die Geschichte des Kaffees eher in wirtschaftswissenschaftlichen Kategorien betrachtete und ihn dabei in der Regel in national aggregierenden Statistiken oder lokalen Unternehmensgeschichten verortete,5 während sich die sozialgeschichtliche »Ernährungsgeschichte« mehr der Ausbreitung der sozialen Praxis des Kaffeetrinkens sowie den Kaffeehäusern und Caf¦s als Orten des Genusses als dem Geschmackserlebnis und seinem Wandel widmete.6 Selbst die seit Mitte der 1990er-Jahre florierende Konsumgeschichte hat die Geschmacks- und Qualitätsfragen nur am Rande thematisiert, da sie in der Erweiterung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ihre Schwerpunkte weit mehr auf die Rolle des Konsums als Marker von sozialer Ungleichheit und Geschlechterdifferenzen sowie die öffentlichen »Konsumpolitiken« zur Beeinflussung des Verbraucherverhaltens als auf Fragen der Bewertung der Produktqualitäten legte.7 Wie insbesondere die französische Forschung zur Geschichte der Produktqualitäten gezeigt hat, bietet der Fokus auf die Frage der Qualität der Produkte, nach den Mechanismen der sozialen Konstruktion von Qualitätsnormen und -standards, nach der mit der Bestimmung und Kontrolle der Qualität verbundenen Expertise, nach der Zirkulation des entsprechenden Wissens und den damit befassten professionellen oder semi-professionellen Experten sowie nach den mit der Qualität beziehungsweise dem Geschmack verbundenen Bildern 4 Eine seltene, wenn auch eher essayistische Ausnahme bietet: Wolfgang Schivelbusch: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft: Eine Geschichte der Genussmittel, München, Wien 1980. 5 Vgl. u. a. Mark Pendergrast: Kaffee. Wie eine Bohne die Welt veränderte, 2. Auflage, Bremen 2001; Ursula Becker : Kaffee-Konzentration. Entwicklung und Organisation des hanseatischen Kaffeehandels, Stuttgart 2002. 6 Vgl. etwa Hans-Jürgen Teuteberg: Kaffee, in: Thomas Hengartner, Christoph Maria Merki (Hg.): Genussmittel. Ein kulturgeschichtliches Handbuch, Frankfurt/Main 1999, S. 81 – 116. 7 Vgl. u. a. Hannes Siegrist u. a. (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums, Frankfurt/Main 1997; Hartmut Berghoff (Hg.): Konsumpolitik. Die Regulierung des privaten Verbrauchs im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999; s. a. den Forschungsüberblick von Manuel Schramm: Konsumgeschichte, Version: 2.0, in: DocupediaZeitgeschichte, 22. 10.2012, URL: http://docupedia.de/zg/Konsumgeschichte_Version_2.0 _Manuel_Schramm?oldid=92883.
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und Vorstellungen demgegenüber die Chance, neue Perspektiven für eine Geschichte der Produkte zu entwerfen, die sowohl Produktions- als auch Konsumgeschichte in einem integrierenden kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Tableau vereinigt.8 Tatsächlich spielen die Standards der Produktqualität eine zentrale Rolle nicht nur für die Produzenten und den Handel (etwa indem sie bestimmte Produktkategorien definieren, die je nach Qualitätsmerkmalen auch preislich voneinander getrennt werden), sondern auch für die Verbraucher, die ihre Konsumgewohnheiten eng an die typischen Qualitätseigenschaften eines Produktes binden. Die Vorstellungen der Konsumenten über die mit einem Produkt notwendigerweise verknüpften Eigenschaften beeinflussen damit in vielfältiger Art und Weise direkt den Prozess der Produktion sowie die Marketingstrategien des Handels – und dies nicht erst, seitdem die Wirtschaftswissenschaft ein »konsumentenorientiertes Marketing« entdeckt hat. Auch fließen sie auf diesem Weg direkt in die Preisgestaltung der Produkte ein. Im Kontext der Salzherstellung beispielsweise spielten Konsumentenvorstellungen über wesentliche Produkteigenschaften schon in der Frühen Neuzeit eine entscheidende Rolle für die Produzenten und den Handel, denn die Salinen wie die Händler orientierten sich bei der Herstellung und dem Verkauf des Salzes nicht nur an einem idealabstrakten Bild der »Reinheit« des Stoffes, sondern berücksichtigten auch die Konsumentenwünsche über andere Produkteigenschaften, etwa die Nutzung des Salzes bei der Herstellung von Fleisch- und Wurstwaren oder beim Einlegen von Fischen.9 Salz war in diesem Sinne nicht gleich Salz, da es sich durch seine Qualitätsmerkmale nicht nur äußerlich, sondern auch in seinen Anwendungsweisen deutlich unterschied. Die mit derartigen Qualitätsfragen befasste Produktgeschichte hat der historischen Entwicklung von offiziellen Produktstandards und -normen ein besonderes Augenmerk zugewandt, wobei insbesondere die Geschichte der Entstehung der staatlichen beziehungsweise städtischen Lebensmittelüberwachung und -kontrolle um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in den Fokus der Forschung geriet.10 Zentrale Akteure der Entwicklung waren auf der einen Seite 8 Wegweisend hierzu insbesondere Alessandro Stanziani (Hg.): La qualit¦ des produits en France, XVIIIe – XXe siÀcles, Paris 2003; ders.: Histoire de la qualit¦ alimentaire. France XIXe – XXe siÀcles, Paris 2005. S. a. den Forschungsüberblick von Peter Atkins u. a.: That elusive feature of food consumption: Historical perspectives on food quality, a review and some proposals, in: Food and History 5 (2007), S. 247 – 266. 9 Jakob Vogel: Ein schillerndes Kristall. Eine Wissensgeschichte des Salzes zwischen Früher Neuzeit und Moderne, Köln 2008, insb. S. 385 – 428. 10 Martin Bruegel, Alessandro Stanziani (Hg.), La s¦curit¦ alimentaire, entre sant¦ et march¦, Sonderheft der Zeitschrift Revue d’histoire moderne et contemporaine 51 (2004); Vera Hierholzer : Nahrung nach Norm. Regulierung von Nahrungsmittelqualität in der Industrialisierung 1871 – 1914. Göttingen 2010.
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diejenigen Politiker und Beamten, die im Rahmen der Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts die Überwachung des Lebensmittelmarktes zu einem wesentlichen Anliegen öffentlicher Politik machten, wie auch auf der anderen Seite die nicht zuletzt von professionellen Interessen geprägten Mediziner und Lebensmittelchemiker, die in den neu geschaffenen Kontrollinstitutionen ein einträgliches Aktionsfeld sahen. Mehr oder weniger standardisierte Normen für Produkte und ihre Kontrolle durch öffentliche Instanzen waren dabei aber, wie die Forschung gezeigt hat, keine Erfindung des modernen, von wissenschaftlichen Experten und ihrer Expertise dominierten Fürsorge- und Versorgungsstaates. Vielmehr existierten bereits in der Frühen Neuzeit in verschiedenen Marktzusammenhängen Kontrollmechanismen, in deren Zusammenhang auch bestimmte Grundstandards für Produkte festgelegt und ihre Übertretung beziehungsweise die Verfälschung von Produkten mit Sanktionen belegt wurden. Dies zeigen beispielsweise die Studien über die von den Ärzten spätestens seit dem 18. Jahrhundert übernommene Kontrolle des Arzneimittelmarktes oder auch die Überwachung von Lebensmittelmärkten und Schlachthöfen im Rahmen der öffentlichen »Gesundheitspolicey«.11 Daneben sorgten etwa in der Textilindustrie oder im Schuhmacherhandwerk innerzünftische Normen für eine Absicherung der Käufer über die geforderte Warenqualität.12 Die Beiträge des vorliegenden Bandes zeigen deutlich, dass der Fokus auf die Produktqualität über diese Aspekte der öffentlichen Lebensmittelkontrolle und der Warensicherheit hinaus auch für die Kaffeegeschichte eine ganze Reihe von wichtigen neuen Perspektiven und Fragen eröffnet. Diese können dabei auch ihrerseits der Geschichte der commodities und ihrer Qualitäten neue Impulse verleihen. Julia Laura Rischbieter zum Beispiel unterstreicht in ihrem Beitrag die zentrale Rolle, die die großen Röster-Firmen im Kontext der Globalisierungsprozesse seit Ende des 19. Jahrhunderts für die Strukturierung des deutschen Kaffeemarktes und seiner Qualitätsvorstellungen im Rahmen der commodity chain erreichen konnten. Eine standardisierte Produktpalette mit gleichbleibender Qualität und festgesetzten Preisen bildete hier die Voraussetzung zum Aufbau des Konsumentenvertrauens in ein Produkt, das im 18. und frühen 19. Jahrhundert noch als »Türkentrank« gebrandmarkt worden war und jetzt in 11 Bettina Wahrig: Geheimnis und Publizität des pharmakon. Verhandlungen über den Umgang mit Giften im 18. Jahrhundert, in: Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert, Berlin, New York 2008, S. 45 – 59; Steven L. Kaplan: Meilleur pain du monde. Les boulangers de Paris au XVIIIe siÀcle, Paris 1996; Sydney Watts: Boucherie et hygiÀne Paris au XVIIIe siÀcle, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 51 (2004), S. 79 – 103. 12 Philippe Minard: R¦putation, normes et qualit¦ dans l’industrie textile franÅaise au XVIIIe siÀcle, in: Stanziani (Hg.): La qualit¦ des produits, S. 69 – 92; ders.: Facing uncertainty. Markets, norms and conventions in the eighteenth century, in Perry Gauci (Hg.): Regulating the British Economy 1660 – 1850, Ashgate, 2011, S. 177 – 194.
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Gestalt des »Markenkaffees« den Konsumenten als »Kolonialware« wie ein quasi einheimisches Produkt der imperialen Gesellschaft des Kaiserreichs präsentiert wurde. Das einheitliche äußere Gestaltungsbild der Verkaufssorten ermöglichte es den Röstern, auf Schwankungen der globalen Marktlage des Rohkaffees zu reagieren, indem sie die zugrunde liegende Mischung den jeweiligen Weltmarktpreisen entsprechend anpassten. Damit konnte sich die Zusammensetzung des Produktes durchaus verändern, zumindest solange sich darunter die Geschmacksqualität des Verkaufsproduktes nicht maßgeblich änderte. Die standardisierte Herstellung des Markenkaffees im Rahmen der sich ausdifferenzierenden globalen Handelsbeziehungen griff dabei ihrerseits mehr und mehr auf vorstandardisierte Sorten zurück, etwa wenn – wie Christof Dejung anschaulich darstellt – weltweit operierende Handelsgesellschaften wie die Schweizer Firma Volkart aus der Ernte verschiedener Kaffeeplantagen eigene Sorten zusammenstellten und mit den klangvollen Namen Pastores, Gloria, Coral, Jade Azul oder Miralinda den Röstern einen bereits normalisierten »Rohstoff« anboten. Die auf diese Weise deutlich werdende Kette von Standardisierungsprozessen im Rahmen der globalen commodity chain des Kaffees und ihre wechselseitigen Abhängigkeiten verweist auf die enge Verzahnung der Produktgeschichte mit der Geschichte der Kategorisierung und Standardisierung der den Produkten zugrunde gelegten »Rohstoffen« – eine Beziehung, die J¦rúme Bourdieu am Beispiel des amerikanischen Mineralölmarktes und der Kategorisierung der verschiedenen Rohölsorten sowie NadÀge Sougy am Fall der Kohlesorten des Bergbaus im französischen Departement NiÀvre herausgearbeitet haben.13 Wendet man in ähnlicher Weise den Blick auf die unterschiedlichen Momente, in denen sich eine Expertise über die Produktqualitäten in der commodity chain ausdrückt, so geraten neben den von Dorothee Wierling präsentierten Händlern und Importeuren mit ihrem Wissen über die Herkunftsqualitäten und Verkaufsmöglichkeiten des Rohkaffees oder den Zollbeamten der Hafenstädte, die den angelieferten Kaffee je nach Qualität in ihrem Wert einschätzen müssen, auch die Kaffeepflücker in den Blick, die tatsächlich über ein beträchtliches praktisches Wissen über den Reifegrad der Kaffeekirschen und ihre fachgerechte Ernte verfügen müssen. Die von Justus Fenner in seinem Beitrag dargestellten Probleme der Fincabesitzer im mexikanischen Chiapas, Jahr für Jahr gute Arbeiter für ihre Plantagen zu rekrutieren, verdeutlichen diesen Aspekt, denn erst 13 J¦rúme Bourdieu: Anticipations et ressources finies : le march¦ p¦trolier am¦ricain dans l’entre-deux-guerres, Paris 1996; NadÀge Sougy : Le combustible min¦ral au XIXe siÀcle : une affaire de qualit¦s, in: J¦rúme Bourdieu u. a. (Hg.): Nomenclatures et classifications : approches historiques, enjeux ¦conomiques, Versailles 2004, S. 69 – 96; dies.: Les charbons de la NiÀvre. La houillÀre de La Machine, ses produits et ses march¦s (1838 – 1914), Grenoble 2008.
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Jakob Vogel
die regelmäßige Arbeit auf den Kaffeeplantagen vermittelte den Pflückern das wichtige praktische Wissen, auf dem der Ernteprozess aufbaute. Qualitätswissen, so macht dieses Beispiel deutlich, ist in insofern nie allein Wissen von (wissenschaftlichen) Experten oder staatlichen Behörden, vielmehr fließt in die verschiedenen Phasen von Produktion, Handel und Konsum der Produkte in vielfältiger Weise auch ein nicht schriftlich festgehaltenes praktisches Wissen ein, etwa in der Gestalt von Geschmackstests oder auch bei der praktischen Herstellung des Konsumprodukts durch den Verbraucher. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erhielten neben der Herstellungs- und Handelskette des Kaffees aber auch maschinelle Verfahren mehr und mehr Einfluss auf die Bestimmung von Produktqualitäten. Volker Wünderichs Beitrag in diesem Band zeigt dies sehr anschaulich am Beispiel der sogenannten Beneficio-Anlagen, die durch ihre maschinelle Aufbereitung der geernteten Kaffeekirschen in der Zeit zwischen den Weltkriegen eine zentrale Rolle für die hohe Qualitätszuschreibung für den in Costa Rica hergestellten Exportkaffee besaßen. Das Beispiel verdeutlicht, wie eng die Geschichte der Produktqualität von Konsumgütern in der modernen Lebensmittelindustrie des 20. und 21. Jahrhunderts mit technikhistorischen Fragen verknüpft ist, seitdem technische Instrumente und Maschinen einen zunehmenden Einfluss auf die Qualität der einzelnen Produkte erhalten. Dennoch wäre es falsch, vor dem Hintergrund derartiger Tendenzen einer wachsenden technischen Standardisierung der Produktion und damit der Produktqualitäten den Einfluss der kulturellen Vorstellungswelten von Produzenten und Verbrauchern auf die Qualitätsbestimmung gering zu schätzen. Die verschiedenen Beiträge des Bandes unterstreichen dies nicht zuletzt durch ihren Hinweis auf die zentrale Rolle der nationalen Zuschreibungen für die Kategorisierung verschiedener Kaffeesorten, die seit der Zwischenkriegszeit den internationalen Kaffeemarkt bestimmten und andere Sortenbestimmungen wie etwa nach den auf den Kaffeeplantagen genutzten Kaffeearten Arabica und Robusta in den Hintergrund drängten. Wie Christiane Berth darstellt, galten in den Nachkriegsjahrzehnten den bundesdeutschen Verbrauchern vor allem die zentralamerikanischen Sorten des Costa-Rica- und Guatemala-Kaffees als Spitzenqualität, und zwar unabhängig davon, dass letzterer aufgrund der Handelskonflikte mit strengen Einfuhrquoten belegt war und mit dem brasilianischen Kaffee durchaus ein vergleichbares und sogar billigeres Produkt auf dem Markt existierte. Im Zusammenhang mit den Solidaritätskampagnen der späten 1970er- und 1980er-Jahren für das vom Bürgerkrieg geplagte Land Nicaragua konnte, wie Ruben Quaas in seinem Beitrag für den Band deutlich macht, eine derartige nationale Herkunftsbezeichnung des Kaffees sogar zu einem politischen Bekenntnis aufsteigen, das von den Verbrauchern als Ausweis einer besonderen Qualität des Produkts angesehen wurde und zwar auch jenseits des
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legendären minderen Geschmacks des Kaffees. Im Kontext der späten DDR waren es, Anne Dietrich zufolge, dagegen weniger derartige regionalen beziehungsweise nationalen Herkunftsbezeichnungen des Ursprungskaffees, sondern vielmehr die Provenienz der jeweiligen Handelsmarken als »Ost-« und »Westkaffee«, welche von den Konsumenten als Marker für die Produktqualität angesehen wurden. Dass die in Deutschland spätestens seit dem Nationalsozialismus gängige Unterscheidung von hochwertigem »Bohnenkaffee« und minderwertigem »Ersatzkaffee« (Nicole Petrick-Felber) in keiner Weise eine kulturelle Notwendigkeit darstellt, unterstreicht schließlich der Beitrag von Bhaswati Bhattacharya zum Kaffeekonsum in Indien, das als Herstellerland von Kaffee zwar seit Langem auf dem Weltmarkt aktiv war, nicht aber eine den europäischen Märkten vergleichbare Konsumkultur des Kaffees präsentieren konnte. Wie anschaulich dargestellt wird, entsprach hier tatsächlich erst der Instantkaffee den Qualitätsvorstellungen breiter Verbraucherkreise, die sich durch ihren Kaffeekonsum als Angehörige einer »westlichen« Lebensstilen offenen middle class präsentierten. Deutlich werden vor dem Hintergrund dieser Beispiele die historisch äußerst wandelbaren und situativ sehr unterschiedlichen Qualitätsvorstellungen des Kaffees, die dem Produkt je nach Kontext und Gestalt sehr unterschiedliche Eigenschaften und zum Teil divergierende Qualitätsmerkmale zuschreiben konnten. Weit davon entfernt, eine braune Einheitsbrühe zu sein, entwickelt der Kaffee damit auch erst unter dem differenzierenden Blick des Historikers sein angeblich »unverwechselbares Aroma«, das die Werbung den Verbrauchern seit vielen Jahrzehnten mit so großen Anstrengungen nahezubringen versucht.
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Angelika Epple
Jenseits globaler Warenketten: Commodityscapes, Verflechtungen, Relationierungen und die Rückkehr der Akteure (Angelika Epple) Globalgeschichte ist en vogue. Während noch vor wenigen Jahren Globalgeschichte unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck stand, ist sie heute – auch in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft – in der Mitte des Faches angekommen. Das Paradigma der nationenzentrierten Gesellschaftsgeschichte hat längst ausgedient. Wer die Forderung aufstellt, der »nationale Methodologismus« müsse überwunden und das Denken in Containern aufgegeben werden, wird kaum eifrige Gegenreden provozieren können. Zunächst skeptisch beäugt von prominenten Vertretern des Faches, wird die Globalgeschichte in der Zwischenzeit bereits als Erbin der Historischen Sozialwissenschaft gehandelt. Wie ist diese Entwicklung zu bewerten? Hat sich das kritische Potenzial der Globalgeschichte auf dem Weg zum Mainstream der Disziplin abgeschliffen? Entscheidend für die Beantwortung dieser Frage ist freilich, was unter »Globalgeschichte« verstanden wird. Die Globalgeschichte hat viele unterschiedliche Wurzeln, die sich grob in eher kulturwissenschaftlich und eher sozial- oder wirtschaftsgeschichtlich orientierte Ansätze unterteilen lassen. Einmal abgesehen davon, dass es vielen Studien gelingt, die beiden Ansätze zu verbinden, ist es hilfreich, sich diese Zweiteilung vor Augen zu führen. Je nachdem welcher Richtung sich eine globalgeschichtliche Studie zuordnen lässt, wird die Antwort auf die genannte Frage anders ausfallen. Die kulturwissenschaftlich orientierte Richtung der Globalgeschichte übernahm von postkolonialen Theorien oder von sozialanthropologischen Ansätzen die Auffassung, der eigene Standort müsse bis hin in die verwendete Begrifflichkeit reflektiert werden, er dürfe also nicht absolut gesetzt werden, denn nur so sei es möglich, den eingeschriebenen Eurozentrismus zu überwinden. Sie übernahm die Skepsis gegenüber Strukturen, die sich akteurslos geben, und die Skepsis gegenüber historischen Interpretamenten, die auf einheitliche weltumfassende Entwicklungen (Modernisierungstheorien) setzen. In diesen Studien stehen häufig Mikrogeschichten, translokale Verflechtungen, globale Biografien von Einzelpersönlichkeiten im Vordergrund. Anders sieht dies in der Richtung der Globalgeschichte aus, die eher in sozialund wirtschaftshistorischer Tradition steht. Sie übernahm die Vorliebe für Makrostrukturen, die Fragestellung nach sozialer Ungleichheit und stellt – im weitesten Sinne – ökonomische oder politische Erklärungen in den Mittelpunkt ihrer Argumentation. Sie überträgt diese allerdings auf einen weltweiten oder zumindest weltregionalen Rahmen. Dabei wird manchmal eher die zunehmende Vernetzung der Welt in den letzten 200 Jahren betont und danach gefragt, wie
Jenseits globaler Warenketten
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und warum sich die Integration der Peripherien beschleunigt hat, manchmal wird untersucht, warum sich seit 1800 eine zunehmenden Divergenz zwischen unterschiedlichen Weltregionen herausbildete, warum es zu einer weltregionalen Herausbildung von »arm« und »reich« kam oder warum das Zeitalter Europas aus globaler Perspektive sein Ende gefunden hat. Interessanterweise basieren diese Richtungen, auch wenn sie sich in ihren Befunden teilweise vehement widersprechen, auf ähnlichen Vorannahmen, nämlich darauf, dass es erstens eine Weltgesellschaft gebe (auch wenn sie nicht notwendigerweise als funktional ausdifferenziert bestimmt wird), dass es zweitens einen Motor hinter den Entwicklungen gebe, dass dieser Motor letztlich von ökonomischen Triebkräften befeuert werde und schließlich viertens, dass dies mit makrostrukturellen Untersuchungen zu belegen sei. Während also beide (hier idealtypisch voneinander unterschiedenen) Richtungen der Globalgeschichte das nationale Paradigma überwinden, könnte man sagen, dass die kulturwissenschaftliche Richtung es eher unterschreitet, während die sozial- und wirtschaftsgeschichtliche es eher überschreitet. Jenseits des Mainstreams allerdings bewegen sich Studien, die versuchen, diese beiden Richtungen miteinander zu verbinden. Ein prominenter Zweig einer derartig kulturwissenschaftlich informierten Globalgeschichte, die sich mit ökonomischen Themen und Makrostrukturen beschäftigt, ist in dem vorliegenden Band versammelt. Er befindet sich genau auf der Schnittstelle zwischen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte: Produktion und Export von Waren (Volker Wünderich), globaler Wettbewerb, die Integration von Märkten oder die Herausbildung von domestic markets (Julia Laura Rischbieter ; Bhaswati Bhattacharya), lokale und globale Handelsnetzwerke (Dorothee Wierling, Christiane Berth, Christof Dejung, Ruben Quaas) sind Themen, die üblicherweise dem Bereich der Wirtschaftsgeschichte, die Arbeiteranwerbung dem Bereich der Sozialgeschichte (Justus Fenner) zugeschlagen werden. Genussmittel oder deren Mangel (Nicole Petrick-Felber), Kommunikation und Interaktionen von Akteuren (Dorothee Wierling) und Verflechtungsgeschichten jeder Art gehören dagegen eher in den Bereich der Kulturgeschichte. Die Geschichte des Kaffees, die unzähligen Verflechtungsgeschichten seiner Warenkette jenseits rein ökonomischer Wertschöpfungsgeschichten, die Warenbiografien oder, wie ich es mit Robert J. Foster in Anschluss an Arjun Appadurai nennen möchte, die commodityscapes aus globaler, regionaler und lokaler Perspektive zu betrachten, dieser Ansatz kann zu einer Globalgeschichte werden, deren kritisches Potenzial noch immer sehr wirksam ist. Warum kann es gerade einem Thema wie diesem gelingen, einerseits den Fallstricken einer makrostrukturellen Globalgeschichte zu entkommen, und andererseits Verflechtungsgeschichten und Relationierungen in den Mittelpunkt einer kulturwissenschaftlich orientierten Globalgeschichte zu stellen?
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Angelika Epple
Hier mag ein kurzer Rückblick in die Geschichte des Forschungsthemas hilfreich sein:
Globale Warenketten: Grenzen des Global-Commodity-Chain-Ansatzes Die Beschäftigung mit Waren, deren Wertzuschreibungen, Lebenszyklen oder Biografien, deren Produktion, Distribution und Konsumption stellt seit vielen Jahren ein Experimentierfeld dar, innerhalb dessen unterschiedliche Verbindungsmöglichkeiten von wirtschafts- und kulturwissenschaftlichen Ansätzen ausgetestet werden. Dabei hat der Global-Commodity-Chain-Ansatz in den letzten 20 Jahren viel an Aufmerksamkeit gewonnen und das mit guten Gründen. Bereits in den 1970er-Jahren von Immanuel Wallerstein und anderen Weltsystemtheoretikern angestoßen, erfreute er sich in den 1990er-Jahren zunehmender Popularität. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht lag dies daran, dass dieser Ansatz als Antwort auf ein ungelöstes Problem erscheinen konnte, das die damalige global ausgerichtete Wirtschaftsgeschichte kennzeichnete: Wie kann die an ökonomischen Makrostrukturen orientierte Weltgeschichte auf ein neues Fundament gestellt werden? Wie können die überwiegend ökonomisch ausgerichteten Interpretamente der Weltgeschichtsschreibung die kulturwissenschaftliche Kritik an makrostrukturellen Ansätzen aufnehmen und Akteure erneut sichtbar machen? So traten Gary Gereffi, Miguel und Robert Korzeniewicz mit dem Versprechen an, mittels der Analyse von Global Commodity Chains (GCC) den Gegensatz von Mikro- und Makroansätzen in der wirtschaftshistorischen Globalgeschichte aufzulösen. Ein wesentlicher Baustein der Integration der Peripherie in die Ökonomie des Zentrums stellte für Gereffi die Entwicklung der GCC von eher produzentenorientierten zu eher verkäuferorientierten Warenketten dar. Jenseits der konventionellen Entwicklungsrhetorik, von der die damalige wirtschaftshistorische Geschichtsschreibung zur Industrialisierung durchdrungen war, konnte er zeigen, wie diese historische Verschiebung zu einer Reorganisation von Netzwerken geführt hat. Die neuen Netzwerke lösten sich von der Zentrierung um die Produktion und funktionierten nunmehr nach neuen Regeln. Erstmalig tauchten nun, insbesondere wenn einzelne Unternehmen in den Blick genommen wurden, Fragen der Ethnizität oder Verwandtschaftsmuster als Wettbewerbsvor- oder -nachteile in den Untersuchungen auf. Anderen ökonomischen Theorien war dies bisher entgangen. So wegweisend ein solcher Ansatz in den frühen 1990er-Jahren gewesen sein mag, heute hat er an Strahlkraft längst verloren. In der Zwischenzeit wurde deutlich, dass kulturwissenschaftliche Ansätze in diese Konzeption der GCC noch keinen wirklichen Eingang gefunden haben. Wie Robert J. Foster aus-
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führte, konzipierten Gary Gereffi, Keith Hopkins, aber auch Immanuel Wallerstein selbst, die GCC als eine lineare Kette, der, vereinfacht ausgedrückt, Glied für Glied Wert hinzugefügt wird. Zwar ermöglicht es der klassische GCC-Ansatz, auch kulturelle Zuschreibung und kulturelle Variabilität mit in die Untersuchung aufzunehmen. Die Grenzen werden jedoch deutlich, wenn es um die in dieser Theorie so hervorgehobene Bedeutung des Tauschwerts einer Ware (im Gegensatz zum Gebrauchswert) geht. Der Tauschwert wird in Profiten bemessen, der Gebrauchswert mit qualitativen Kriterien. Bei einer genaueren Betrachtung wird so doch deutlich, dass dieser Ansatz, ganz ähnlich wie klassische wirtschaftsbasierte Modernisierungstheoreme, der Auffassung verhaftet blieb, historischer Wandel lasse sich auf einige wenige oder gar einen einzigen Parameter wie die zunehmende wirtschaftliche Integration der Peripherie in das Weltsystem zurückführen.
Commodityscapes und die Rückkehr der Akteure Steven Topik, Carlos Marichal, Zephyr Frank und anderen Wissenschaftlern ist es zu verdanken, die GCC erneut für globalgeschichtliche Studien interessant gemacht zu haben. Sie lösten die Analyse der Warenketten überzeugend aus dem Kontext der Weltsystemtheorie heraus. Aufschlussreich ist es daher, wenn Steven Topik in seinem Beitrag zu diesem Band rückblickend nochmals die Leistungen der klassischen GCC würdigt. Mit der GCC habe der Begriff des Wertes eine grundlegende Veränderung erfahren. Indem der Wert nun als etwas verstanden worden sei, das einer Ware in value chains hinzugefügt wird, sei die ehemals um Arbeit zentrierte Werttheorie von Karl Marx oder David Ricardo abgelöst worden. Märkte wurden daraufhin zu allererst als instabile Institutionen erkennbar, die von Menschen bestimmt werden, die je unterschiedliche soziale, politische oder religiöse Ziele verfolgen. »[M]arkets are plastic«, resümiert Steven Topik. Der Begriff des Wertes ist in diesem Zusammenhang für kulturgeschichtliche Ansätze besonders erhellend. Der Anthropologe Robert J. Forster geht daher noch einen Schritt weiter. Er kritisiert noch grundlegender als Steven Topik, dass Gary Gereffi in seinem Konzept der GCC mit dem Begriff der value-chains an einem linearen Bild festhalte, demzufolge dem Produkt auf seinem Weg ins Zentrum immer mehr Wert hinzugefügt würde. Interessanter sei es jedoch, zu analysieren, welche Bedeutungen Produkten im Gebrauch von Konsumenten zugeschrieben würden. Nur so könnten beispielsweise die von Gayatri Spivak immer wieder betonte bricolage in den Blick gelangen – also die Verwendungsweisen von Produkten, für die sie gar nicht vorgesehen waren. Ohne dass dieser Begriff in dem vorliegenden Band verwendet würde, han-
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deln doch zahlreiche Beiträge von genau diesem Phänomen: der nicht vorgesehenen Verwendungsweise der Ware Kaffee. Und folgerichtig sind es vor allem die Akteure, die in den unterschiedlichen Beiträgen des Bandes im Vordergrund stehen. Nicht immer werden dabei globalgeschichtliche Fragen behandelt. Was aber überdeutlich zutage tritt, ist die veränderte Sichtweise auch auf das Lokale. Dorothee Wierling kartografiert beispielsweise mit einem an Bourdieu geschulten Blick für Kräftefelder die Hamburger Kaffeeimporteure als Gruppe. Sie führt vor, wie sich der lokale Hamburger Kontext im 20. Jahrhundert unter dem Einfluss des Staates, aber auch in Abhängigkeit von den veränderten Bedingungen auf dem Weltmarkt entwickelte. Hier stehen also die lokalen Aus- und Einwirkungen auf globale Relationierungen im Vordergrund. In ihrer als Verflechtungsgeschichte angelegten Studie zeigt Christiane Berth die Eskalation des Konflikts um die deutschen Vermögen in Guatemala in den 1950er-Jahren. Kaffee galt unterschiedlichen Akteuren – guatemaltekischen Eliten, korrupten Militärangehörigen, Landarbeitern, deutschen (enteigneten) Plantagenbesitzer, Diplomaten und Anwälten als wirksames politisches Druckmittel. Dabei veränderten sich die Handels- und Kommunikationsnetzwerke im Untersuchungszeitraum derartig, dass der Rückgriff auf alte Verhaltensweisen keinerlei Erfolge mehr zeitigen konnte. Stärker auf die Verschiebung der Bedeutungen des Produkts für unterschiedliche Akteure geht dagegen Ruben Quaas in seinem Beitrag ein. Er weist nach, wie wichtig es für die Erfolgsgeschichte des fair gehandelten Produkts »Kaffee« in der BRD war, mit immer neuen Bedeutungszuschreibungen verbunden werden zu können: mit der paternalistischen Entwicklungshilfe in den 1970er-Jahren, der Solidarität mit der sandinistischen Revolution in den 1980er-Jahren oder der Unterstützung für in Not geratene Kleinbauern in den 1990er-Jahren. Akteure, lokal-globale Relationierungen und Verflechtungsgeschichten – so könnte man diese Herangehensweisen zusammenfassen. Aus globalgeschichtlicher Perspektive könnten manche Warengeschichten des Bandes noch weiter ausgreifen. Eine Möglichkeit des weiteren Ausgreifens klingt in dem Beitrag von Christof Dejung an. Zwar startet auch seine Studie im Kleinen, insofern er sich überwiegend auf die Untersuchung persönlicher Kontakte im weltweiten Kaffeehandel konzentriert, aber er weist zugleich globale Auswirkungen der Mikroebene nach. Weiterführend sind hierbei seine Überlegungen in Anschluss an Giovanni Arrighi, der überzeugend gegen die Grundauffassung der Weltsystemtheorie betonte, dass ökonomische Macht nicht mit politischer Macht deckungsgleich sein müsse. Um kultur- und wirtschaftsgeschichtliche Globalgeschichte noch stärker zu verbinden, wären auch andere Ansätze denkbar. Interessant ist beispielsweise der Ansatz der Circuit of Culture/Commodityscapes, wie ihn Robert J. Forster entwickelt hat. Er greift dabei Sidney Mintz’ Unterscheidung von outside mea-
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nings (wie ist eine Ware zu erhalten) und inside meanings (die unterschiedliche Bedeutung, die unterschiedliche Konsumenten ihr zuschreiben) auf und dynamisiert sie. Im Zentrum der Analyse stehen dann die Verschiebungen (shifts) der Bedeutung von Produkten in ihrem Gebrauch. So kann es auch gelingen, den von Sidney Mintz in seiner großen Studie zum Zucker zugleich eingeführten bias aufzulösen, der eine spatial division zwischen Produktion und Konsumption in die Forschung zu Waren einführte. Auf die Nachhaltigkeit dieses bias weist in dem vorliegenden Band Bhaswati Bhattacharya daher zu Recht hin. Tatsächlich sind Studien, wie beispielsweise über die Kaffeekonsumption in Indien unumgänglich, möchte man unkritische, romantische Warenbiografien nicht fortschreiben. Darauf zielt die Untersuchung der commodityscapes ab. Sie fragt danach, wie sich die Bedeutungen verändern, die Waren für Akteure an unterschiedlichen Knoten der Netzwerke haben. Dann steht nicht mehr die Produktion oder die Konsumption oder der Verkauf im Vordergrund, sondern der Kreislauf der Waren als eine nicht-lineare Bewegung. Zugleich geht es in diesen Studien um die wandelbare und stets unstabile Bedeutung der Waren und deren oft wirkungsmächtigen Folgen. Ein Beispiel aus einer anderen Produktbiografie als die des Kaffees mag diesen Gedanken verdeutlichen. Die globale Wirkungsmächtigkeit von Bedeutungsverschiebungen zeigt sich deutlich, wenn man die Erfindung der Qualität bezüglich des kolonialen und zugleich industrialisierten Produkts »Schokolade« näher betrachtet. Das Produkt »Schokolade« ist untrennbar mit dem kolonialen Zusammentreffen der spanischen Eroberer und der Bewohner Amerikas sowie den entsprechenden Umdeutungen des Kakaos seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert verbunden. Es ist aber auch mit der Geschichte der europäischen Industrialisierung und dem Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden Maschinenpark verbunden. Die Geschichte des modernen Produkts und seiner sich wandelnden Bedeutungszuschreibungen zeigt, dass es einer kleinen Expertengruppe gelang, die Deutungshoheit über das Produkt an sich zu ziehen. In langen Aushandlungsprozessen zwischen Händlern, Produzenten, Konsumenten und Chemikern wurde in der industrialisierten Welt das Produkt »Schokolade« letztlich so definiert, dass ein festgelegter Prozentsatz an Kakao und Zucker nicht unter- und ein bestimmter Prozentsatz an Pottasche und anderen Substanzen nicht überschritten werden durfte. Zwar legte eine solche Definition nicht unbedingt den Gebrauchswert fest, aber sie gab einen klaren Rahmen vor, innerhalb dessen sich alle am Schokoladehandel beteiligten Akteure nunmehr bewegen mussten. Damit gelang es Lebensmittelchemikern aus Europa und den USA, die Qualität von Schokolade chemisch zu definieren und die Qualitätsprüfungen an eine hochspezialisierte Berufsgruppe der Industrieländer zu binden. Die Produktgeschichte der Schokolade und die Bedeutungsverschiebungen dessen, was unter »guter Schokolade« zu verstehen ist, erlauben daher
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erhellende Einblicke in lokale Aushandlungsprozesse und in Mechanismen, mit denen globale Machtverhältnisse auf Dauer gestellt werden.
Schluss Die Beiträge des vorliegenden Bandes greifen – häufig implizit – die vielfältigen Diskussionen der vergangenen Jahre zur Geschichte der Waren als Königsweg der Globalgeschichte auf. Die Geschichte globaler Waren(ketten) hat das Potenzial, aus der Verbindung von mikro- und makrogeschichtlichen Fragestellungen, aus der Kombination von kulturwissenschaftlicher und wirtschaftsgeschichtlicher Methodik Funken zu schlagen. Globalgeschichte bleibt dann ein weiterhin innovativer Forschungszweig mit großem kritischem Potenzial. Eine der eindrücklichsten Studien der letzten Jahre ist die 2013 bei Cambridge University Press erschienene Untersuchung des Warwicker Historikers Giorgio Riello zur globalen Geschichte der Baumwolle. Selbstbewusst kündigt er in den ersten Zeilen des Buches an, nicht nur die Geschichte der Baumwolltextilien erzählen zu wollen, sondern auch die Geschichte durch die Baumwolltextilien: »It is a story of how the world we live in has changed over the last thousand years.« Es handelt sich bei der Studie um eine faszinierende Globalgeschichte, der es gelingt, von akteursbezogenen, mikrogeschichtlichen Analysen ausgehend, das alte indische Baumwollsystem vor 1500 mit dem Europahandel der Frühen Neuzeit, der afrikanischen Sklavenwirtschaft und der Arbeit auf amerikanischen Baumwollplantagen und schließlich der europäischen Industrialisierung seit dem 18. Jahrhundert bis hin zur Gegenwart zu verbinden. Überzeugend ist dabei seine Argumentation, dass kultur-, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Herangehensweisen dazu tendierten, historischen Wandel monokausal und – je nach Perspektive – mit anderen, singulären Variablen zu erklären. Die Wirtschaftshistoriker verließen sich dabei zu stark auf die Bedeutung messbarer und, so würde ich hinzufügen, vergleichbarer Resultate wie Produktionsniveaus, Tauschwerte et cetera. Mit der Geschichte der Baumwolle führt Riello jedoch vor, wie gewinnbringend die Zusammenschau der unterschiedlichen Variablen ist: »This book tells a story of change that is not just about long processes; it sees change itself as the product of a variety of interconnected variables, it deals with consumption, trade, culture, technology, and so on, and argues that it was their interactions that produced momentous change.« Von einem Verlust des kritischen Potenzials der Globalgeschichte kann bei einem solchen Ansatz keine Rede sein.
Autorinnen und Autoren
Christiane Berth ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Europainstitut der Universität Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Ernährungs- und Konsumgeschichte, Migrationsgeschichte, zentralamerikanische Geschichte und die Geschichte des Kaffeehandels. Nach einem Aufenthalt als Gastwissenschaftlerin an der Universidad de Costa Rica war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und an der Universität St. Gallen tätig. Derzeit arbeitet sie an einem Habilitationsprojekt über globale Perspektiven auf Ernährung und Konsum in Nicaragua. Bhaswati Bhattacharya ist Senior Fellow am Centre for Modern Indian Studies der Georg-August-Universität Göttingen. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen den maritimen Handel im Indischen Ozean, asiatische Handelsnetzwerke und globale Waren mit einem speziellen Schwerpunkt auf der Geschichte des Kaffees in Indien. Ende 2014 erscheint ihr Buch zur Geschichte des indischen Kaffeehauses (The Indian Coffee House: A Social History, New Delhi 2014). Zusammen mit Gita Dharampal-Frick und Jos Gommans veröffentlichte sie: The world of Asian Commerce: Temporal and Spatial Continuities, Journal of the Economic and Social History of the Orient, 50 (2007), Bd. 2 – 3. Christof Dejung ist Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz. Er lehrte und forschte unter anderem an der Universität Zürich, der Universität Göttingen und der School of Oriental and African Studies der University of London; 2010 – 11 Lehrstuhlvertretung für Außereuropäische Geschichte an der Universität Freiburg i. Br.; 2013 – 15 Marie Curie Senior Research Fellow an der University of Cambridge. Jüngste Publikationen: Die Fäden des globalen Marktes. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des Welthandels am Beispiel der Handelsfirma Gebrüder Volkart 1851 – 1999, Köln 2013; mit Niels P. Petersson (Hg.): Foundations of World-Wide Economic Integration. Power, Institutions and Global Markets, 1850 – 1930, Cambridge, New York 2013; mit
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Autorinnen und Autoren
Monika Dommann und Daniel Speich Chass¦ (Hg.): Auf der Suche nach der Ökonomie. Historische Annäherungen, Tübingen 2014. Anne Dietrich schloss ihr Magisterstudium der Kulturwissenschaften und Anglistik 2010 an der Universität Leipzig ab. Seit 2011 ist sie Doktorandin am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig und dort wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for Area Studies. Sie ist Mitglied des DFGGraduiertenkollegs »Bruchzonen der Globalisierung« (GK 1261). Derzeit arbeitet sie an der Fertigstellung ihrer Dissertation zum Thema »Südfrüchte, Rohrzucker und Kaffee aus Übersee – Der Importhandel der DDR mit den Entwicklungsländern Kuba und Äthiopien zwischen Konsumversprechen und ideologischem Anspruch«. Die Recherchen für dieses Projekt beinhalteten Archivreisen nach Havanna, Addis Abeba, Berlin und London. Seit 2013 unterrichtet Anne Dietrich außerdem Seminare zu konsumgeschichtlichen Themen. Angelika Epple ist Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Bielefeld. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte der Globalisierungen, der Geschichtstheorie und der vergleichenden internationalen Historiografiegeschichte. Seit 2013 ist sie stellvertretende Sprecherin des Projekts »Die Amerikas als Verflechtungsraum« des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Publikationen (Auswahl): Lokalität und transnationale Verflechtungen, Historische Anthropologie, 21. Jg, 2013, 1. Heft, Hg. gem. mit Felix Brahm und Rebekka Habermas; Das Unternehmen Stollwerck. Eine Mikrogeschichte der Globalisierung (1839 – 1932), Frankfurt/Main, New York 2010; Empfindsame Geschichtsschreibung. Eine Geschlechtergeschichte der Historiographie zwischen Aufklärung und Historismus (Beiträge zur Kulturgeschichte), Köln u. a. 2003. Justus Fenner, Ethnologe der Universität Hamburg (1986) und Doktor der Sozialwissenschaften des Colegio de Michoacn, Mexiko (2009). Seit 2003 als Forscher am Programa de Investigaciones Multidisciplinarias sobre Mesoam¦rica y el Sureste (PROIMMSE-IIA-UNAM) in San Cristûbal de Las Casas, Chiapas, im Rahmen des von ihm koordinierten Projektes »Tierra y Trabajo en Chiapas, Siglo XIX y XX« tätig. Neueste Buchpublikation: La Llegada al Sur. La controvertida historia del deslinde de los terrenos baldos en Chiapas, en su contexto internacional y nacional, 1881 – 1917, PROIMMSE-IIA-UNAM/COLMICH, 2012. Nicole Petrick-Felber studierte Wirtschaftswissenschaften in Berlin, Paris und Moskau und besitzt einen Abschluss als Master of Science in Economics and Management Science der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach zweijähriger
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Berufserfahrung in der freien Wirtschaft wandte sie sich der Geschichtswissenschaft zu. Nicole Petrick-Felber war von 2010 bis 2012 Promotionsstudentin am Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts und bis 2014 Doktorandin in Neuerer und Neuester Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie hat zur nationalsozialistischen Konsumpolitik am Beispiel von Tabak und Kaffee (Titel: Kriegswichtiger Genuss. Die Konsumgeschichte von Tabak und Kaffee im ›Dritten Reich‹) bei Professor Dr. Norbert Frei promoviert. Ruben Quaas, geboren 1982 in Göttingen, mittlerweile wohnhaft in Hamburg, 2002 – 2008 Studium der Mittelalterlichen und Neueren Geschichte, Neuere deutsche Literatur und Völkerrecht an der Universität Bonn, 2006 Studium an der Universit degli Studi di Perugia (Italien), 2007 – 2013 freiberuflicher Redakteur, 2009 – 2014 Promotionsstudium an der Universität Bielefeld, Titel der Promotion: »Fairer Handel und Kaffee. Eine global-lokale Verflechtungsgeschichte«. Julia Laura Rischbieter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsinteressen gelten Waren- und Kapitalmärkten im 19. und 20. Jahrhundert, dem Zusammenhang von langfristigen ökonomischen Strukturen und wirtschaftlichen Krisen aus der Perspektive von Akteuren sowie der Wissenschaftsgeschichte des ökonomischen Denkens. Ihr aktuelles Forschungsprojekt untersucht die Rolle multilateraler und kommerzieller Finanzinstitutionen für die Ausgestaltung internationaler Kreditbeziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg und fragt nach deren Bedeutung für und in den Verschuldungskrisen von Ländern. Steven Topik ist seit 1984 Professor für Geschichte an der University of California, Irvine. Zuvor unterrichtete er an der Colgate University in New York und der Universidade Federal Fluminense in Brasilien, nachdem er an der University of Texas, Austin promovierte. Seit seinen ersten zwei Bücher über Brasilien, The Political Economy of the Brazilian State, 1889 – 1930, Texas 1987, und Trade and Gunboats, Stanford 1996, publizierte er über Weltgeschichte und Waren, besonders über Kaffee: The Second Conquest of Latin America mit A. Wells, Texas 1998; The World that Trade Created, mit Kenneth Pomeranz, 3. Aufl., New York 2012; The Global Coffee Economy in Africa, Asia and Latin America, 1500 – 1998, mit W. G. Clarence-Smith, Cambridge 2003; From Silver to Cocaine, mit Carlos Marichal and Zephyr Frank, Stanford 2006; und Global Markets Transformed 1870 – 1945, mit Allen Wells, Harvard 2014, das auf Deutsch im Beck Verlag unter dem Titel Weltmärkte und Weltkriege, 1870 – 1945, München 2012, erschien.
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Autorinnen und Autoren
Jakob Vogel, Professor für Geschichte Europas (19. und 20. Jahrhundert) am Centre d’histoire de Sciences Po Paris. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Sozialgeschichte Europas vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Wissensgeschichte, Europäische Kolonialgeschichte, Geschichte der Nation und des Nationalismus. Publikationen (Auswahl): mit H. Berghoff (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt 2004; Ein schillerndes Kristall. Das Salz im Wissenswandel zwischen Frühneuzeit und Moderne, Köln 2008; Public-private partnership. Das koloniale Wissen und seine Ressourcen im langen 19. Jahrhundert, in: Rebekka Habermas, Alexandra Przyrembel (Hg.): Von Käfern und Menschen. Kolonialismus und Wissen in der Moderne, Göttingen 2013; mit Davide Rodogno, Bernhard Struck (Hg.): Shaping the Transnational Sphere. Experts, Networks, Issues, Oxford 2014. Dorothee Wierling, Stellvertretende Direktorin der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und Professorin an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Erfahrungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Geschlechter- und Generationengeschichte, Oral History. Publikationen (Auswahl): Mädchen für alles. Arbeitsalltag und Lebensgeschichten städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende, Berlin, Bonn 1987; Geboren im Jahr eins. Der Geburtsjahrgang 1949 in der DDR, Versuch einer Kollektivbiographie, Berlin 2002; Oral History, in: Michael Maurer (Hg.): Aufriss der Historischen Wissenschaften Bd. 7, Neue Methoden und Themen der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2003; Eine Familie im Krieg. Leben, Sterben und Schreiben 1914 – 1918, Göttingen 2013. Ihr Projekt über die Geschichte der Hamburger Kaffeehändler im 20. Jahrhundert steht kurz vor dem Abschluss. Volker Wünderich, Privatdozent und apl. Professor am Historischen Seminar der Leibniz-Universität Hannover. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des 20. Jahrhunderts (Deutschland, Lateinamerika), Kaffee und Kolonialwaren in transatlantischer Perspektive, Sozialgeschichte und ethnische Frage in Zentralamerika. Publikationen (Auswahl): Arbeiterbewegung und Selbstverwaltung. KPD und Kommunalpolitik in der Weimarer Republik, Wuppertal 1980; Sandino. Eine politische Biographie, Wuppertal 1995 (span. Managua 1995, 2. Aufl.2010); Die »Kaffeekrise« von 1977. Genussmittel und Verbraucherprotest in der DDR, in: Historische Anthropologie 11/2003, S. 240 – 261; Zentralamerika heute (Hg.) mit Kurtenbach, Mackenbach, Maihold, Frankfurt/Main 2008.