Junge Rechtsphilosophie 351510268X, 9783515102681

Die im Band versammelte junge Rechtsphilosophie nimmt sich einer ganzen Breite aktueller und ständiger Fragen der Rechts

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German Pages 214 [218] Year 2012

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Rationalität ohne Idealität: Grundzüge einer relativistischen Diskurstheorie des Rechts
Die Verfassung der politischen Selbstbestimmung – Am Beispiel der nationalstaatlichen Demokratiekonzeption -
Die Relata eines juristischen Kausalbegriffs und der juristische Syllogismus
Unbestimmte Rechtsbegriffe aus Sicht philosophischer Vagheitstheorie
Gefühl und juristisches Urteil: Die phänomenologischen Grundlagen der Rechtsfindung
„Rechtsentwicklung“ in Rechtstheorie und kritischer Rechtsphilosophie: Ein Vergleich am Beispiel der Transnationalisierung des Rechts
Ökonomische Analyse des Rechts
Rechtserzeugung als performativer Vorgang in der Sprache
Zur Rechtsklugheit - Eine heuristische Begriffsannäherung
Recht und Rechtspluralismus: Forschungsperspektiven der ‚Rechts‘-Wissenschaften und ‚Rechts‘-Philosophie
Menschenwürde als Prinzip: Eine konzeptionelle Verbindung von Menschenwürde und Abwägung
Pluralismus, Toleranz und das Recht des Kindes auf eine offene Zukunft: Die wachsende Autonomie des Kindes als Herausforderung für die liberale Ethik
Wahre Würde: Ansätze zu einer Metatheorie der Menschenwürdetheorien
Über die technokratischen Grundlagen des modernen Rechtsverständnisses
Autorinnen und Autoren
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Junge Rechtsphilosophie
 351510268X, 9783515102681

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Carsten Bäcker / Sascha Ziemann (Hg.)

Junge Rechtsphilosophie

ARSP Beiheft 135 Franz Steiner Verlag

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

Carsten Bäcker / Sascha Ziemann (Hg.) Junge Rechtsphilosophie

archiv für rechts- und sozialphilosophie archives for philosophy of law and social philosophy archives de philosophie du droit et de philosophie sociale archivo de filosofía jurídica y social Herausgegeben von der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) Redaktion: Dr. Annette Brockmöller, LL. M. Beiheft 135

Carsten Bäcker / Sascha Ziemann (Hg.)

Junge Rechtsphilosophie

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. Franz Steiner Verlag: ISBN 978-3-515-10268-1 Nomos Verlag: ISBN 978-3-8487-0032-5

Inhalt

Vorwort

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7

Carsten Bäcker Rationalität ohne Idealität. Grundzüge einer relativistischen Diskurstheorie des Rechts .....................................................................................

9

Andreas Funke Die Verfassung der politischen Selbstbestimmung – Am Beispiel der nationalstaatlichen Demokratiekonzeption von Ingeborg Maus .................

23

Thomas Grosse-Wilde Die Relata eines juristischen Kausalbegriffs und der juristische Syllogismus

45

..

Daniel Gruschke Unbestimmte Rechtsbegriffe aus Sicht der philosophischen Vagheitstheorie

55

Julia Hänni Gefühl und juristisches Urteil. Die phänomenologischen Grundlagen der Rechtsfindung ................................................................................

77

Bernhard Jakl „Rechtsentwicklung“ in Rechtstheorie und kritischer Rechtsphilosophie. Ein Vergleich am Beispiel der Transnationalisierung des Rechts ................

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Klaus Mathis Ökonomische Analyse des Rechts

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......................................................

Sabine Müller-Mall Rechtserzeugung als performativer Vorgang in der Sprache

......................

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Christian Nierhauve Zur Rechtsklugheit. Eine heuristische Begriffsannäherung

.......................

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Ralf Seinecke Recht und Rechtspluralismus. Forschungsperspektiven der ‚Rechts‘-Wissenschaften und ‚Rechts‘-Philosophie ..................................

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Nils Teifke Menschenwürde als Prinzip. Eine konzeptionelle Verbindung von Menschenwürde und Abwägung ........................................................

159

Friederike Wapler Pluralismus, Toleranz und das Recht des Kindes auf eine offene Zukunft. Die wachsende Autonomie des Kindes als Herausforderung für die liberale Ethik ........................................................................

171

Inhalt

6

Tim Wihl Wahre Würde. Ansätze zu einer Metatheorie der Menschenwürdetheorien

...

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Magdalena Ziętek Über die technokratischen Grundlagen des modernen Rechtsverständnisses

201

Autorinnen und Autoren

213

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Vorwort

Die in diesem Band versammelte Junge Rechtsphilosophie kann auf eine stolze Tradition deutschsprachiger Rechtsphilosophie zurückblicken. Betrachtet man etwa die vergangenen drei Jahrhunderte, so wird man der deutschsprachigen Rechtsphilosophie nicht nur eine bedeutende, sondern über weite Strecken die weltweit führende Rolle zuerkennen können. Ein beredter Ausdruck und zugleich ein Höhepunkt dieser großen Tradition ist nicht zuletzt die Gründung der inzwischen weltweit operierenden Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR), früher Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, im Jahre 1909 in Berlin.1 Noch heute kann die deutschsprachige Rechtsphilosophie von sich beanspruchen, weltweit rezipiert und in diesem Sinne wissenschaftlich von globaler Bedeutung zu sein. Allerdings steht der beständigen Bedeutsamkeit der deutschsprachigen Rechtsphilosophie in der Welt ein schleichender Bedeutungsverlust an der Mehrzahl der deutschen Rechtswissenschaftlichen Fakultäten gegenüber, an denen der Rechtsphilosophie und all ihren Erscheinungsformen zunehmend nur noch der Charakter einer Orchideenwissenschaft zuerkannt wird. Zu diesem internen, wissenschaftspolitischen Problem der deutschsprachigen Rechtsphilosophie tritt eine externe Herausforderung: Wer heute, auch im Bereich der Philosophie und der Rechtswissenschaft, weltweit Beachtung finden will, muß in englischer Sprache gelesen werden können. Der vorliegende Band, der ausschließlich deutschsprachige Beiträge versammelt, wird die Welt nicht ändern können. Er will aber ein Zeichen für die diesen beiden Problemen trotzende Lebendigkeit der deutschsprachigen Rechtsphilosophie geben.2 In Wahrnehmung des externen Problems der deutschsprachigen Rechtsphilosophie ist den Beiträgen immerhin jeweils ein englischsprachiges abstract vorangestellt. Wünschenswert wäre es, wenn der Band als Zeugnis des reichen Potentials deutschsprachiger Rechtsphilosophie dazu beitragen könnte, das interne Problem anzugehen: Wer (weltweit) beachtenswerte Rechtsphilosophie fördern will, muß an den Universitäten die dafür erforderlichen institutionellen Voraussetzungen schaffen und sichern, und zwar in Forschung und Lehre. Das Verständnis der Rechtsphilosophie wie der anderen Grundlagenfächer als Pflichtfächer in den Curricula der 1

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Die Internationale Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) wurde am 1. Oktober 1909 in Berlin als „Internationale Vereinigung für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie“ gegründet. Die IVR ist die älteste, größte und bedeutendste Vereinigung im Bereich der Rechts- und Sozialphilosophie. Gründungsvorsitzende waren Josef Kohler, Fritz Berolzheimer und Carl Fürstenberg. 1959 wurde in Wien die Aufgliederung in nationale Sektionen beschlossen. Heute zählt die IVR über 40 nationale Mitgliedsverbände mit mehr als 2000 Mitgliedern auf der ganzen Welt. Die Gesamtvereinigung ist ein eingetragener Verein deutschen Rechts mit Sitz in Wiesbaden. Ihr Zweck ist gemäß Satzung die Pflege und Förderung der Rechts- und Sozialphilosophie auf nationaler und internationaler Ebene ohne Ausschluß einer wissenschaftlichen Richtung. Zur Erfüllung dieses Zwecks führt die Vereinigung alle zwei Jahre Weltkongresse durch. Siehe zur Geschichte der IVR die Selbstdarstellung auf der Website der Deutschen Sektion (>www.rechtsphilosophie.dewww.icj-cij.orghttp://plato.stanford.edu/entries/tropes/http://www.dieter-mersch.de/download/mersch. performativitaet.und.ereignis.pdf< (Stand: 26.08.2011), 2004; J. Hillis Miller, Performativity as Performance/Performativity as Speech Act: Derrida’s Special Theory of Performativity, South Atlantic Quarterly 106 (2007, Nr. 2), S. 219–235; Uwe Wirth, Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität, in: Uwe Wirth (Hrsg.), Performanz, Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002, S. 9–62. Es wäre an dieser Stelle nicht gerade seriös, eine Definition dieses Begriffes anzugeben, denn seine Verwendungen sind so verschieden wie die Kontexte dieser Verwendungen. Um nutzbar zu werden, muss ein Begriffsverständnis, das mehr beinhaltet, als die Bezugnahme zur Erzeugungsdimension des Sprechens, erst entwickelt werden. Ein Vorschlag dazu folgt sogleich. Abzugrenzen ist der Begriff der Performativität allerdings von jenem der Performanz: „Sprechen bedeutet mehr als nur ‚etwas sagen wollen’, vielmehr haben wir es mit einem ‚Überschuss‘ zu tun, der sich dem einseitigen Zugriff einer Schematisierung durch die Ordnung des Symbolischen oder des Verstehens verweigert. Nichts anderes meint der Begriff der Performanz: Er stellt dem Sinn, dem Inhalt der Rede ein anderes gegenüber. Das Andere ist die Wirkung, die spezifische Macht der Rede, ihre Kraft, die über den Sinn hinausschießt und ihn zuweilen durchkreuzt und verbiegt.“ (Dieter Mersch, Performativität und Ereignis [Fn. 18], S. 2 f.) Dieser Begriff der Performanz ist nicht zu verwechseln, aber auch nicht vollständig zu trennen vom Begriff der Performativität: während Performanz die Aktualisierung dieses Überschusses im konkreten Sprechen bezeichnet und damit vom sprechenden Subjekt aus gedacht ist oder zumindest nicht ohne das Subjekt zu denken ist, erfasst das Performative die Eigenschaft und Notwendigkeit des Sprachlichen, aus der Spannung zwischen Vorgängigkeit und

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ständnis dieses Begriffs vorschlagen, welches beschreiben könnte, wie in der Sprache Recht erzeugt wird, und zwar weiter gehend, als es Kriterien wie Kontext, Konventionalität oder Regelabhängigkeit vermögen. Um sich diesem Begriff der Performativität zu nähern, ist es sinnvoll, noch einmal die Praxis des Gebrauchs der Sprache zu betrachten, die sich immer als ein Gebrauch von lautlichen oder schriftlichen Zeichen darstellt. Dem Zeichen selbst wohnt eine Wiederholbarkeit inne, eine R e z i t i e r b a r k e i t , die sie erst zum Zeichen macht:20 „Jedes Zeichen, sprachlich oder nicht, gesprochen oder geschrieben (…), kann zitiert – in Anführungszeichen gesetzt – werden; von dort aus kann es mit jedem gegebenen Kontext brechen und auf absolut nicht sättigbare Weise unendlich viele neue Kontexte erzeugen. Das heißt nicht, dass das Zeichen außerhalb eines Kontextes gilt, sondern ganz im Gegenteil, dass es nur Kontexte ohne absolutes Verankerungszentrum gibt. Diese Zitathaftigkeit, diese Verdoppelung oder Doppelheit, diese Iterabilität des Zeichens ist kein Zufall und keine Anomalie, sondern genau das (Normale/Anormale), ohne das ein Zeichen nicht einmal mehr auf so genannt „normale“ Weise funktionieren könnte. Was wäre ein Zeichen, das nicht zitiert werden könnte? Und dessen Ursprung nicht unterwegs verloren gehen könnte?“21 Dem Zeichen wohnt also eine Wiederholbarkeit inne, die man mit Derrida Iterabilität nennen kann, und der Begriff der Iterabilität weist daraufhin, dass ein Zeichen, wenn es zitiert wird, mit einem neuen, einem anderen Kontext verknüpft wird. D. h. jeder Zeichengebrauch ist nicht Wiederholung, sondern ein immer wieder einzigartiges Ereignis.22 Weil aber das Zeichen im Zeichengebrauch rezitiert, iteriert und als Zeichen wiederholt wird, hat man es beim Sprechen mit einer Spannung aus Ereignishaftigkeit und Wiederholung zu tun, die nur in Form der Iteration geschehen kann. Sie spielt sich immer zwischen zwei Polen ab, die man auch als Zitierung und Neu-Setzung, als Vorgängigkeit und Selbstbezüglichkeit bezeichnen kann. Die so gezeichnete Dimension des Sprechens kann nicht über den Begriff des Sinns erschlossen, sondern muss als spezifische Äußerlichkeit des Zeichengebrauchs23 gesehen werden. Anhand dieser Überlegung kann man das Performative fassen: es schließt diese Eigenschaft und Notwendigkeit des Sprachlichen ein, aus der Spannung zwischen Vorgängigkeit und Selbstbezüglichkeit des Sprechereignisses heraus vollzogen zu werden und auf diese Weise die Wirklichkeit zu durchformen. Ausgangspunkt für

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Selbstbezüglichkeit des Sprechereignisses heraus vollzogen zu werden und so die Wirklichkeit zu durchformen. Gemeinsam ist beiden die Abgrenzung vom Semantischen. Vgl. auch Butlers Unterscheidung zwischen performance und performativity: „the former presumes a subject, but the latter contests the very notion of the subject.“, Judith Butler / Peter Osborne / Lynne Segal, Gender as Performance: An Interview with Judith Butler, Radical Philosophy 67 (Summer 1994), S. 32–39 (33). Wirth bezeichnet dieses Verständnis des Zeichens als eines „infinite(r) Rezitierbarkeit“ und „indefinite(r) Rekontextualisierbarkeit“, vgl. Wirth, Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität (Fn. 18), S. 19. Derrida, Signatur Ereignis Kontext (Fn. 17), S. 32. Solche Ereignisse ihrerseits entziehen sich einer Wiederholbarkeit: „Es gibt nur einen Satz ‚auf einmal‘ (…), nur ein einziges aktuelles ‚Mal’“, Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, 2. Aufl. München 1989, S. 227. Zum Begriff des Ereignisses s. auch Jacques Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003, S. 21. Die These einer spezifischen „Äußerlichkeit des Zeichens“ […] im Anschluss an Derrida und Foucault“ stammt von Wirth, Bezug nehmend auf Wellbery. Vgl. Wirth, Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität (Fn. 18), S. 43 und David Wellbery, Die Äußerlichkeit der Schrift, in: Hans-Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Schrift, München 1993, S. 337–348 (343).

Rechtserzeugung als performativer Vorgang in der Sprache

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den so gefassten Begriff des Performativen ist immer beides: verändernde Wiederholung und Setzung, oder: Vorgängigkeit und Selbstbezüglichkeit. Vorgängigkeit bedeutet dabei: Bezugnahme auf frühere Zeichengebräuche, die keine Ableitung ist. Selbstbezüglichkeit bedeutet: es findet im Sprechen immer eine Verknüpfung eines Zeichens mit einem neuen Kontext statt, die als solche nur an sich selbst anknüpfen kann. Durch diese Verknüpfung wird einem Zeichen gleichsam Sinn „zugefügt“ – Zeichen sind dabei keine stabilen Bedeutungsträger, die Gegenstände oder Begriffe unmittelbar abbilden – erst der Zeichengebrauch kann sinnzuschreibungsfähig sein. Performativität in diesem Sinne beschreibt also die Struktur des Sprachgebrauchs, die im Ereignis des Sprechens eine vorgängige und selbstbezügliche Verknüpfung eines Zeichens mit einem neuen Kontext vollzieht. Diese Verknüpfung ist gleichzeitig ein Vorgang, Zeichen und Kontext werden verknüpft, und auch das Ergebnis performativer Erzeugung, eine Verknüpfung. Sie bringt selbst keinen Sinn hervor, denn das Zeichen kann als äußerliches Zeichen keinen Sinn mit sich tragen, nur der Verknüpfung von Zeichen und Kontext kann (immer wieder neu) Sinn zugeschrieben werden. IV. Modell performativer Rechtserzeugung Die anschließende Frage ist nun, wie man von dieser Struktur des Sprachgebrauchs, die die erzeugende Dimension des Sprechens beschreibt, zum Vorgang der Rechtserzeugung gelangt. Mithilfe der bislang genannten Feststellungen ist der Weg dorthin relativ kurz: wenn Erzeugen in der Sprache performativ funktioniert, Rechtserzeugung ihrerseits in der Sprache geschieht und diese Gegebenheit konstitutiv für die Rechtserzeugung ist, muss angenommen werden, dass Rechtserzeugung performativ funktioniert. Wie man diese performative Struktur des Sprachgebrauchs im Vorgang der Rechtserzeugung wieder erkennen könnte, möchte ich im Folgenden anhand eines Modells performativer Rechtserzeugung deutlich machen, das ich vorliegend nur sehr knapp skizzieren kann. Ein solches Modell muss notwendig am Zeichen selbst ansetzen. Rechtserzeugungsereignisse24 lassen sich grundsätzlich als performative Sprechereignisse verstehen, in denen sprachliche Zeichenketten mit Kontexten verknüpft werden.25 Wenn 24

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Dass Vorgänge der Rechtserzeugung als Ereignis betrachtet werden können, war gerade Ausgangspunkt der eingenommenen Perspektive (s.o. I.); der Grund dafür liegt in dem Versuch, Rechtserzeugung zunächst ohne normativistischen oder sozialpraktischen Überbau zu untersuchen, um die Möglichkeit von Rückschlüssen auf beide Ebenen, jene des Sollens und jene des Seins, zu wahren. Der Vorteil dieses Vorgehens ist darin zu sehen, dass keine der beiden Dimensionen des Rechts gegenüber der jeweils anderen privilegiert wird, und so jedenfalls theoretisch die Möglichkeit besteht, deren Zusammenhang zu erklären. Dies gilt sowohl für Rechtsprechung, als auch für Gesetz- und Verfassungsgebung. Für die Rechtsprechung ist es die Formulierung „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil …“, welche regelmäßig ein Urteil in Kraft treten, gelten lässt. Im Rahmen der Gesetz- und Verfassungsgebung handelt es sich häufig um Verkündungen, die nicht lautlich geschehen, sondern über den Druck, etwa im Bundesgesetzblatt (das Grundgesetz beispielsweise wurde im Bundesgesetzblatt Nr. 1 verkündet, vgl. dazu Reinhard Mussgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der BRD, Heidelberg 2003, Rn. 87; in der Paulskirchenverfassung vom 27.3.1849 findet sich die Eingangsformel: „Die deutsche verfassungsgebende Nationalversammlung hat beschlossen und verkündet als Reichsverfassung“, zit. nach Rainer Wahl, Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates bis 1866, in: Isensee/Kirchhof [Hrsg.], a.a.O., S. 45–91, Rn. 32.). Die Verkündung bei der

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dieser Vorgang über eine performative Struktur, wie sie für den allgemeinen Sprachgebrauch herausgearbeitet wurde, erklärbar sein soll, dann müssen Rechtsnormen auf ähnliche Weise wie Zeichen funktionieren: sie können lediglich die punktuelle Wirkung ihrer Verknüpfungen mit einem Kontext darstellen, nicht in Form normativer Kräfte auf zeitlich folgende Rechtsvorgänge einwirken, sondern auf dieselben kann iterativ Bezug genommen werden. In einem Rechtserzeugungsereignis, etwa bei einer Urteilsverkündung, wird nun also eine sprachliche Zeichenkette, hier: „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil …“ mit einem Kontext, hier: dem Gerichtssaal, den Zuschauern, dem Termin der Urteilsverkündung, etc., verknüpft. Dieser Verknüpfung kann einerseits sprachlicher Sinn zugeschrieben werden, von allen Anwesenden, aber auch von Abwesenden, die etwa nachträglich davon berichtet bekommen. Andererseits kann dieser Verknüpfung aber auch normativer Sinn zugeschrieben werden, etwa, dass das im Anschluss verkündete Urteil im Vollzug des Aussprechens ergeht, in Kraft tritt, gilt.26 Wenn Rechtsnormen wie Zeichen funktionieren, dann kann dadurch aber noch keine konkrete Rechtsnorm entstanden sein. Denn ein Zeichen kann nicht dadurch entstehen, dass es nur einmal ‚erfunden’ wird.27 Was durch die Verknüpfung des Satzes „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil …“ mit dem beschriebenen Kontext entstanden ist, möchte ich deshalb Vor-Zeichen oder Vor-Norm nennen. Erst die iterative Verwendung dieser Verknüpfung im Nachhinein, etwa, wenn in einem weiteren Rechtserzeugungsereignis, einem anderen Urteil, auf dieses erste Urteil, auf diese erste Verknüpfung Bezug genommen wird, erst dieser folgende Gebrauch der Vor-Norm lässt daraus eine Norm entstehen.28 Diese Norm kann, weil sie von zukünftigen Rechtserzeugungsereignissen abhängig ist, erst ex post, durch weitere performative Verwendungen der ursprünglichen Verknüpfung als entstanden betrachtet werden. Deshalb bedeutet ein performatives Verständnis von Rechtserzeugung auch ein rekursives Verständnis von Normativität. Normen können nach diesem Modell nicht präskriptiv ‚wirken’, sondern lediglich in der Zukunft re-iteriert und dadurch erst erzeugt werden. Normativität erweist sich so als gewissermaßen passives, rekursives Konzept. Wenn eine Norm erst durch ihren späteren Gebrauch, ihre Anwendung, erzeugt wird, dann müssen Anwendung und Erzeugung einer Norm unterschiedliche Benennun-

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Gesetzgebung etwa ist konstitutives Element des Gesetzgebungsprozesses, ohne Verkündung keine Geltung (Theodor Maunz / Günter Dürig, Grundgesetz, Kommentar, München 2008, Art. 82, Rn. 1), außerdem ist sie letztursächlich. Dass die Verkündung in der Regel schriftlich und nicht mündlich vollzogen wird, ändert nichts an der Qualifikation als performatives Sprechereignis, weil die schriftliche Verkündung sich als Fiktion mündlicher Verkündung behandeln lässt. Darauf verweist auch der Gebrauch der Bezeichnung ‚Verkündung’ und nicht etwa ‚Druck’ oder ‚Publikation’, was schließlich auch möglich wäre. Damit ist nicht etwa die Behauptung, dass bei jedem Vorgang dieser Art zwangsläufig verschiedene Sinnzuschreibungen vorgenommen werden, formuliert, sondern lediglich eine Unterscheidung, die letztlich Austin eingeführt hat: jene von lokutionären und anderen Gehalten einer Äußerung (Vgl. Austin, How to do things with words [Fn. 11], S. 91 ff.), die unabhängig von der empirischen Untrennbarkeit analytisch aufspaltet in einen ‚rein sprachlichen’ Gehalt einer Äußerung und jenen Gehalt, der durch die performativen Wirkungen derselben entsteht. Es kann gerade dann sinnvoll sein, eine derartige Betrachtung anzulegen, wenn das Augenmerk auf der Ebene der performativen Wirkung (hier: der erzeugten Rechtsnormativität) liegt. Anders als die Illokutions-/Perlokutionsunterscheidung ist die vorliegende auch bei Austin unproblematisch. Vgl. dazu oben Fn. 21. Zu beachten ist dabei allerdings, weil jede Sinnzuschreibung nur als subjektiver Akt denkbar ist, dass zeitlich nachfolgende Bezugnahmen in neuen performativen Rechtserzeugungsereignissen nicht einen einmal erzeugten allgemeinen Sinn einer einmal erzeugten Rechtsnorm betreffen können.

Rechtserzeugung als performativer Vorgang in der Sprache

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gen für ein und dieselbe Praxis sein.29 Es bedeutet gleichzeitig, dass die Frage, ob und wie auf die Norm so zurückgegriffen wird, dass sie zur Norm wird, weder von der Norm selbst noch von jenem Sprecher, der die ursprüngliche sprachliche Zeichenkette äußert, bestimmt werden kann. Ob Rechtserzeugung gelingt oder nicht, hängt nach dem Modell also nicht von Faktoren ab, die zum Zeitpunkt des performativen Erzeugungsereignisses vorliegen oder gar bestimmbar wären, sondern von zukünftigen. Normativität ist damit nicht die Folge eines bestimmten Rechtserzeugungsereignisses, sondern das Ergebnis einer P r a x i s , die im Zeitpunkt ihrer Erzeugung noch nicht abgeschlossen ist. In diesem Modell tauchen die Begriffe der Autorität bzw. Kompetenz30, verstanden als Fähigkeit, Normen zu erzeugen, sowie der Legitimation einer Norm nicht auf, und dabei handelt es sich aus der Logik des Modells heraus um eine Zwangsläufigkeit: wenn die Erzeugung einer Norm allein von ihrer nachträglichen Re-Iteration abhängt, kann die ihre Normativität herstellende Autorität nur in dieser iterativen Struktur selbst liegen – nicht in Eigenschaften oder Kompetenzen, die bestimmten Subjekten (faktisch oder über Kompetenzzuweisungen) zu eigen sind. Ihre Legitimation kann ebenfalls nur ex post geschehen, die Kategorie der Richtigkeit kann dafür schon deswegen nicht konstitutiv sein, weil der Sinn einer Norm nicht eindeutig bestimmbar ist.31 Sein und Sollen stellen sich in diesem Modell als miteinander verwobene Ebenen dar, die kategorial nicht voneinander unterschieden werden können: Normativität und ihr faktischer Gebrauch gehen ineinander auf und bedingen sich gegenseitig. Erst ein zeitlich nachfolgender Gebrauch lässt die ‚gebrauchte‘ Normativität entstehen. Normativität von Rechtsnormen ist damit ein gewissermaßen passives Konzept. Deswegen möchte ich diesen ursprünglich gedachten Umschlagspunkt von Sein in Sollen im Momentum der Rechtserzeugung Sein-Sollen-Modulation nennen, angelehnt an den musikalischen Ausdruck ‚Modulation‘, der den Übergang von einer Tonart zur anderen innerhalb eines Stückes bezeichnet, gleichwohl dieser Übergang immer erst retrospektiv auszumachen ist, weil er sich nur aus dem Zusammenhang mit dem jeweils nachfolgenden Notentext bzw. Klang ergibt.32 29

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Was nun bei einer derartigen Normerzeugung genau als Norm erzeugt wird, ist nicht eindimensional zu beschreiben: was bleibt von einem Erzeugungsereignis, ist ein Normtext, der sämtliche normativen Sinnzuschreibungen, die in Bezug auf die Verknüpfung der performativen Äußerung mit dem Ereigniskontext vorgenommen werden, verkörpert und gleichzeitig den Anknüpfungspunkt für spätere Erzeugungsereignisse darstellt. Der Normtext wird zu einem Zeichen, sobald er re-iteriert wird, was äußerlich als Zitation zu beobachten ist. Auf die ursprünglichen Sinnzuschreibungen wiederum wird allein durch neue sprachliche und normative Sinnzuschreibungen in diesen folgenden Erzeugungsereignissen Bezug genommen, sie werden nicht unbedingt expliziert. Die ursprüngliche Verknüpfung einer performativen Äußerung mit ihrem Kontext taucht dabei allerdings nicht mehr auf; sie ist notwendige Bedingung für die Entstehung der Norm, selbst aber nicht Teil derselben. Zur rechtstheoretischen Bestimmung des Begriffes der Autorität etwa: Joseph Raz, The Authority of Law, Oxford 1979; Joseph Raz, The Problem of Authority: Revisiting the Service Conception, Minnesota Law Review 90 (2005–2006), S. 1003–1044; Brian Bix / Joseph Raz, Authority, and Conceptual Analysis, The American Journal of Jurisprudence 50 (2005), S. 311–316. An dieser Stelle scheint es sinnvoll, noch einmal darauf hinzuweisen, dass es sich bei diesem Modell um einen deduktiv-deskriptiven Erklärungsversuch, nicht um einen normativen Ansatz handelt. Musikwissenschaftlich bezeichnet Modulation den Übergang von einer Tonart zur anderen innerhalb eines Stückes. Interessant ist insbesondere an der musikalischen Modulation, dass zumeist ein Akkord, der bereits vor der Modulation auftaucht, funktional umgedeutet wird – d.h. derselbe Akkord, der bislang etwa als Subdominante verwandt wurde, wird nun als Tonika einer neuen Tonart verwendet: im Moment dieser funktionalen Umdeutung ist er noch als Teil der ursprünglichen Tonart hörbar, erst im Zusammenhang mit den nachfolgenden Klängen lässt er sich als Ausgangspunkt der

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Sabine Müller-Mall

Diese Beschreibung des Verhältnisses von Sein und Sollen unterliegt keinem naturalistischen Fehlschluss, weil sie Sollen nicht aus dem Sein ableitet. Vielmehr stellen sich beide Ebenen als in ständiger reflexiver Spannung zueinander stehend dar, welche wiederum nicht linear fassbar, aber durch den Begriff des Performativen beschreibbar ist. Die Möglichkeit dieser Beschreibung ergibt sich erst daraus, dass nicht die Eigenschaften des Seins oder des Sollens genauer untersucht werden, um daraus dann deren Erzeugung zu rekonstruieren, sondern umgekehrt daraus, dass der Vorgang der Erzeugung zum Ausgangspunkt der Betrachtung gemacht wird. Die Ergebnisse meiner Untersuchung, das möchte ich zum Schluss betonen, negieren nicht die Möglichkeit rechtlicher Normativität, sondern argumentieren für eine radikale Änderung der Perspektive auf Normativität. Um rechtliche Normativität zu verstehen, kann nicht bei Normen – verstanden als Regelformulierungen – angeknüpft werden, sondern nur bei der Untersuchung von performativen Ereignissen, die im Nachhinein als rechtserzeugend verstanden werden. Nicht ein RegelAnwendungs-Schema sollte also Ausgangspunkt weiterer rechtstheoretischer Untersuchungen sein, sondern die Erzeugungssituation selbst.

neuen Tonart einordnen (vgl. dazu Diether de la Motte, Harmonielehre, 8. Aufl. Kassel 1992, S. 142 ff.). Ein auch staatsrechtlich am Rande relevantes Beispiel findet sich etwa in Haydns Kaiserquartett op. 76, 3, wo in den Takten 12 und 13 eine Modulation von C- nach G-Dur zu beobachten ist: nach Tonika und Dominante in C folgt eine Generalpause, woraufhin die Dominante noch einmal erklingt, die nachfolgenden Dominante von G und Tonika von G verdeutlichen erst, dass die Wiederholung der Dominante von C die Tonart nach G moduliert hat: sie ist gleichsam deren Tonika. (vgl. noch einmal Diether de la Motte, Harmonielehre, a.a.O., S. 143).

Christian Nierhauve

Zur Rechtsklugheit Eine heuristische Begriffsannäherung

The scientific quality of jurisprudence has always been a bone of contention among legal philosophers. Whereas the terms legal science and jurisprudence are commonly viewed as synonyms, this fact fails to acknowledge that the term jurisprudence has a meaning all its own when regarded in the original meaning of its Latin roots, prudentia iuris. The potential for insight into the relationship between law and prudence remains lost to legal philosophy while this amalgamation of the two very separate terms continues. By means of a philosophical dissection, this paper will strive to reclaim this lost meaning of the term prudence where the practical application of the law is concerned

„Hab nun ach die Philosophey Medizin und Juristerey Und leider auch die Theologie Durchaus studirt mit heisser Müh. Da steh ich nun ich armer Tohr Und bin so klug als wie zuvor.“ Johann Wolfgang Goethe, Urfaust, in: U. Gaier (Hrsg.), Faust Dichtungen, Bd. I. Texte, Stuttgart 1999, S. 493.

I. Die andauernde Aktualität der Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?1 Wie steht es um das Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft?2 Ist die Jurisprudenz Rechtswissenschaft oder zumindest ihr Charakter wissenschaftlich?3 Der Streit um die Szientifizierbarkeit des juridischen Anwendungswissens blickt auf eine lange Tradition zurück. Zu einer juristischen Parömie wurde wohl Kirchmanns Vortragstitel aus dem Jahre 1847 „Über die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“4. Doch lehren uns die Rechtshistoriker, dass Jahrhunderte bevor Kirchmann seine Streitschrift vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin verlas, die italienischen Humanisten über die certitudo iurisprudentiae diskutierten.5 So alt die Debatte um die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz auch sein mag, so scheint sie dennoch unverbraucht. Erst jüngst sah sich der 91. Deutsche Juristen-Fakultätentag dazu veranlasst, die Einrichtung einer Arbeits1

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R. v.Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?, wieder abgedr. in: O. Behrends (Hrsg.), R. Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?, Göttingen 1998, S. 47 ff; K. Larenz, Aufgabe und Eigenart der Jurisprudenz, JuS 1971, S. 449; B. Rüthers / C. Fischer, Rechtstheorie, München, 6. Aufl. 2011, S. 186; K. Röhl / H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, München, 3. Aufl. 2008, S. 79. R. Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft, Rechtstheorie 1971, S. 37. K. Kettembeil, Zum Charakter der Jurisprudenz als Wissenschaft, Frankfurt a.M./Bern 1975. J. v.Kirchmann, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, neuabgedruckt in: MeyerTscheppe (Hrsg.), Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz, Heidelberg 2000. Siehe etwa Troje, Wissenschaftlichkeit und System in der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts, in: J. Blühdorn / J. Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, Frankfurt am Main 1969, S. 63 ff.

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Christian Nierhauve

gruppe zu beschließen, die dazu bestimmt sei, die Diskussion innerhalb der deutschen Rechtswissenschaft über ihr Selbstverständnis aufzugreifen und inhaltlich weiterzuführen.6 Und nicht zuletzt bildete die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz eines der Oberthemen des 25ten IVR Weltkongresses in Frankfurt. Das Thema der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz bleibt in der juristischen Grundlagenforschung aktuell, und damit insbesondere der Rechtsphilosophie von Dauer. II. Die symbolische Bedeutung des Begriffes Rechtswissenschaft Die Debatte um die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz wird spätestens seit dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart vom dem Glauben an ein verwissenschaftlichtes Recht und einer methodisch geleiteten Rechtsfindung dominiert.7 Das Selbstverständnis von der Art des Umganges mit dem disziplineigenen Gegenstand findet Ausdruck in der Bezeichnung des Faches als Rechtswissenschaft. Mag für manchen gar schon in dem Glauben an die Rechtswissenschaft nur noch ein Traum vergangener Zeiten zu sehen sein8, schwingt nichtsdestoweniger die symbolische Botschaft der verblassenden Erinnerung bei jeder Verwendung des Begriffes Rechtswissenschaft immer neu mit, so dass er wohl kaum der Traumdeutung als erledigt überlassen werden sollte. Will man sich nicht in der Schwebe einer oneirologischen Symboldeutung verlieren, so ist auf dem Gebiet der Wissenschaftsgeschichte auf festen Boden zu hoffen. Doch liegt bis heute eine umfassende Historie der Rechtswissenschaft nicht vor, weswegen sich auch keine eindeutige Aussage darüber treffen lässt, was man sich genuin unter Rechtswissenschaft vorzustellen hat, ab wann und mit welchem Einfluss sie vertretend für das Rechtsverständnis in Theorie und Praxis stand und welche theoretischen Grundlegungen der Auslöser dafür waren.9 Versucht man den von einem wechselnden Zeitgeist getragenen Motiven der Wissenschaftlichkeitsthese und Verwissenschaftlichungsbestrebungen bis in unsere Tage nachzugehen, verliert man sich in Undurchsichtigkeit und Verworrenheit, zwischen unzähligen Denkschulen10 und einem selbstvergessenen synkretistischen Rechtswissenschaftsverständnis in der Gegenwart. So lässt sich wohl nur die communis opinion ausmachen, dass die Verbindung von Recht und Wissenschaft als die alternativlose Möglichkeit wahrgenommen wird, Werte wie Rationalität, Objektivität und Allgemeinheit des Rechts zu bewahren. Jedwede Revidierung des Rechtswissenschaftsparadigmas ruft die Befürchtung einer Preisgabe dieser Werte zu Gunsten eines irrationalen Rechtssubjektivismus hervor.11 6 7 8 9 10 11

Siehe DJFT 2011/II, Beschluss zu Top 6a abrufbar unter >http://www.djft.de/http://www.commission-on-legal-pluralism.com/about/< (letzter Zugriff am 7.1.2012). Wichtig ist auch die erste Konferenz dieser Gesellschaft 1981 im italienischen Bellagio, aus der später der Sammelband Allott/Woodman (Hrsg.), People’s Law and State Law: The Bellagio Papers, Dordrecht (Niederlande) u.a. 1985 entsteht. Über diese Konferenz schreibt S. Roberts (1986, Fn. 13), 171: „The Conference at Bellagio in September 1981, where People’s Law and State Law originated, was the largest and most important gathering of its kind for many years. Almost every lawyer that professionally active in ‚legal anthropology‘ seems to have been there …“. Zur Umbenennung des Journal of Legal Pluralism siehe das Geleitwort zu dessen erster Ausgabe von J. Griffiths, From the Editor, in: J. Leg. Pluralism 19 (1981), V f. Siehe B. de Sousa Santos, Law: A Map of Misreading. Toward a Postmodern Conception of Law, in: J. Law & Soc‘y 14 (1987), 279–302 u. ders., Toward a New Legal Common Sense, 2. Aufl. London 2002 (zuerst 1995). Siehe weiter G. Teubner, Die zwei Gesichter des Janus: Rechtspluralismus in der Spätmoderne, in: Liber Amicorum Josef Esser, hrsg. v. E. Schmidt u. a., Heidelberg 1995, 191–214 (zuerst 1992 im Engl.) u. ders., Globale Bukowina. Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, in: RJ 15 (1996), 255–290.

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bei der Beschreibung der Fragmentierung des Völkerrechts benutzt.16 Aber auch die Auslieferungsverlangen des spanischen Richters Baltasar Garzón gegen verschiedene Angehörige der entmachteten argentinischen Junta oder den ehemaligen Diktator Chiles, Augusto Pinochet, werden zu den Phänomenen eines globalen Rechtspluralismus gezählt.17 Gerade in den jüngsten Diskussionen zu „Rechtspluralismus“ zeigt sich die geschmeidige Anpassungsfähigkeit des Begriffs, der heute in der Politikwissenschaft, der Soziologie und Philosophie genauso wie in der Rechtswissenschaft Verwendung findet.18 Wir müssen uns aber davor hüten, den Begriff über seine analytischen Möglichkeiten hinaus zu strapazieren. Brian Tamanahas Postulat: „Legal pluralism is everywhere“,19 hilft nur beschränkt weiter, weil es die analytischen Gewinne des Begriffs zu zerstören droht. II. „What is Legal Pluralism?“ Wenn der Begriff „Rechtspluralismus“ seine Konturen zu verlieren droht, erscheint die Frage: „What is legal pluralism?“, umso drängender. Erst im Jahr 1986 publizierte John Griffiths das schon seit 1979 verbreitete Manuskript mit dem gleichnamigen Titel.20 Der im Journal of Legal Pluralism veröffentlichte Aufsatz diente der jungen Bewegung als Manifest und zählt noch heute zu den wichtigen Referenzdokumenten der Disziplin. In scharfen Polemiken und prägnanten Pointen formuliert Griffiths die wissenschaftspolitische und -theoretische Agenda dieses Rechtspluralismus. In einem kämpferischen und programmatischen Ton fordert er von der anthropologischen Forschung einen deskriptiven und ideologiefreien Zugriff auf „Recht“. Deutlich kritisiert er eine vermeintlich ‚herrschende Anschauung‘ zu Begriff und Vorstellung von „Recht“, die Sozial- und Rechtswissenschaften gleichermaßen dominiere. Er nennt sie „legal centralism“ und meint einen „etatistischen Positivismus“, der die Geltung von Recht ausschließlich auf den Staat, seine Institutionen und seine Macht zurückführt: „Legal pluralism ist the fact. Legal centralism is a myth, an ideal, a claim, an illusion. Nevertheless, the ideology of legal centralism has had such a powerful hold on the imagination of lawyers and social scientists that its picture of the legal world has been able successfully to masquerade as fact and has formed the foundation stone of social and legal theory. A central objective of a descriptive conception of legal pluralism is therefore destructive: to break the stranglehold of the idea that what law is, is a single, unified and exclusive hierarchical normative ordering depending from the power of the 16 17 18

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Zu den ‚gesellschaftlichen Rechten‘ siehe insb. G. Teubner (1992 u. 1996, Fn. 15). Zu den ‚völkerrechtlichen‘ Phänomenen i.w.S. siehe A. Peters (2010, Fn. 3). Siehe insb. P.S. Berman, Global Legal Pluralism, in: S. Cal. L. Rev. 80 (2007), 1155–1237, hier 1211– 1213. Sogar auf der Zivilrechtslehrertagung 2005 am 27.09.2005 in Basel wurde „Rechtspluralismus“ verhandelt, siehe das Referat von J. Köndgen, Privatisierung des Rechts. Private Governance zwischen Deregulierung und Rekonstitutionalisierung, in: AcP 206 (2006), 477–525, insb. 516–521. Zum Rechtspluralismus in der Rechtsphilosophie siehe jetzt J. Waldron, Legal Pluralism and the Contrast Between Hart’s Jurisprudence and Fuller’s, in: The Hart-Fuller Debate in the Twenty-First Century, hrsg. v. P. Cane, Oxford u.a. 2010, 135–155. Siehe B. Tamanaha, Understanding Legal Pluralism: Past to Present, Local to Global, in: Sydney L. Rev. 30 (2008), 375–411, hier 375. Siehe J. Griffiths (1986, Fn. 12), 39, Fn. 1.

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state, and of the illusion that the legal world actually looks the way such a conception requires it to look. In short, part of the purpose of this article is simple debunking, as a prolegomenon to any clean empirical thought about law and its place in social life.“21 Scharf und unmissverständlich proklamiert Griffiths diesen deskriptiven Begriff des Rechtspluralismus. Mit dem Ziel, die empirische Vielfalt der Rechtswelt in ihrer Mannigfaltigkeit wahrnehmen zu können, denunziert er alle anderen Zugriffe auf Recht als „Ideologie“. Auch seine Unterscheidung von einem „strong“ und einem „weak legal pluralism“ dient diesem Zweck.22 Ein „schwacher Rechtspluralismus“ könne bloß die eingehegte und nur normativ bewältigte Vielfalt, etwa in einer föderalen Ordnung oder der staatlichen Anerkennung von gesellschaftlichem Recht als (verrechtlichtem) Gewohnheits-, Vereins- oder Gesellschaftsrecht, betrachten. Dagegen suche ein „starker Rechtspluralismus“ die Vielfalt von rechtlichen oder sozionormativen Phänomenen innerhalb eines „sozialen Feldes“ überhaupt erst wahrzunehmen. Doch schon dieser deskriptive Begriff des Rechtspluralismus wird von Spannungen und Unklarheiten durchzogen. Sie zeigen sich auch in den beiden Definitionen, mit denen Griffiths seinen Rechtspluralismus auf den Begriff bringt.23 Und sie ergeben sich aus den Diskrepanzen und Konvergenzen, die zwischen dem Rechtlichen und dem Sozialen von „Rechtspluralismus“ bestehen: „Legal pluralism is an attribute of a social field and not of ‚law‘ or of a ‚legal system‘. A descriptive theory of legal pluralism deals with the fact that within any given field, law of various provenance may be operative. It is when in a social field more than one source of ‚law‘, more than one ‚legal order‘ is observable, that the social order of that field can be said to exhibit legal pluralism.“24 Griffiths Rechtspluralismus lässt sich nicht auf die normativen Fragen, die innerhalb einer „Rechtsordnung“ oder eines „Rechtssystems“ entstehen, ein. Statt dessen gilt sein Interesse der (beobachtbaren) Komplexität und Vielschichtigkeit der einen sozialen Ordnung, die sich aus vielen einander überlappenden oder miteinander konkurrierenden und interagierenden sozio-legalen Ordnungen zusammensetzt. Nachdem Griffiths die ‚rechtsplurale‘ Struktur von sozialen Feldern in seiner ersten Definition zu Rechtspluralismus betont hat, fokussiert er in seiner zweiten Definition das Verhältnis von einer pluralistischen Sozialstruktur und Rechtspluralismus: „Legal pluralism is a concomitant of social pluralism: the legal organization of society is congruent with its social organization. ‚Legal pluralism‘ refers to the normative heterogeneity attendant upon the fact that social action

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J. Griffiths (1986, Fn. 12), 4 f. Siehe J. Griffiths (1986, Fn. 12), insb. 7 f. Andere ‚Definitionen‘ von „Rechtspluralismus“ finden sich z.B. bei R. Michaels, Global Legal Pluralism, in: Annu. Rev. Law. Soc. Sci. 5 (2009), 243–262, hier 245 o. M. Chiba, Other Phases of Legal Pluralism in the Contemporary World, in: Ratio Juris 12 (1998), 228–245, hier 242. Diesem folgt E. Melissaris, Ubiquitous Law. Legal Theory and the Space for Legal Pluralism, Farnham u.a. 2009, 27. J. Griffiths (1986, Fn. 12), 38.

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always takes place in a context of multiple, overlapping ‚semi-autonomous social fields‘, which it may be added, is in practice a dynamic condition.“25 Rechtspluralismus begreift Griffiths nicht nur als normalen Begleiter „sozialer Pluralität“. Er projiziert das im kleinen „sozialen Feld“ entwickelte Problem des Rechtspluralismus auf die Gesamtgesellschaft, die ihrerseits von verschiedenen sozialen Feldern durchzogen wird. Ihre Kreise schneiden einander und produzieren dadurch in unterschiedlichen Räumen weitere sozio-normative Pluralitäten – einen unendlichen Rechtspluralismus. Griffiths beschränkt sich aber nicht auf die Kritik des juristischen, normativen und staatsorientierten Rechtsbegriffs. Er entwickelt einen eigenen Begriff von Recht, ein Recht des Rechtspluralismus, das ihm als begrifflicher Dietrich den Zutritt in die Vielfalt von Recht in der sozialen Welt eröffnet. Ohne diesen weiten Rechtsbegriff könnte er das viele ‚Recht‘ nicht als Recht beschreiben, sondern müsste es als außerrechtliche Konvention oder nichtrechtliche Sitte dem (staatlich-juristischen) Recht entgegenstellen: „… law is the self-regulation of a ‚semi-autonomous social field‘. The idea that only the law of the state is law ‚properly so called‘ is a feature of the ideology of legal centralism and has for empirical purposes nothing to be said for it.“26 Deutlich löst Griffiths den Begriff des Rechts von der nationalen oder staatlichen Gemeinschaft und bindet ihn an die „Selbst-Regulierung“ eines „semi-autonomen sozialen Feldes“. Natürlich behält auch der Staat in seinem eigenen sozialen Feld sein Recht, doch das staatliche Rechtsmonopol wird begrenzt von vielen konkurrierenden „semi-autonomen“ ‚Rechten‘ des Rechtspluralismus und dadurch aufgelöst. Diese von Griffiths betonten fünf Elemente des „Rechtspluralismus“ – also (1.) sein deskriptiver und (2.) ideologiekritischer Standpunkt, (3.) seine Betonung der Komplexität und Interaktivität sozialer Ordnungen, die sich (4.) aus verschiedenen ‚sozio-normativen Rechten‘ zusammensetzen, und (5.) sein staatsfreier Rechtsbegriff – gehören trotz allem „Pluralismus der Rechtspluralismen“ zu den Kernbestandteilen rechtspluralistischer Rechtstheorie und -empirie auch im global legal pluralism.27 Zudem wird „Rechtspluralismus“ auch heute nicht nur als „sensibilisierender“ Begriff verwendet;28 er bleibt Ideologieträger und wird offensiv für (wissenschafts-) politische Absichten eingesetzt. Er deutet nicht nur auf Alternativen zum staatlichen Recht, sondern bestreitet die Legitimität des allein staatlich-politischen Rechts und versucht dadurch ein anderes ‚Recht‘ als Recht anzuerkennen.

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J. Griffiths (1986, Fn. 12), 38. J. Griffiths (1986, Fn. 12), 38. Dieser „Pluralismus der Rechtspluralismen“ gehört zu den Gemeinplätzen von „Rechtspluralismus“, siehe nur Fr. v.Benda-Beckmann, Rechtspluralismus. Analytische Begriffsbildung oder politischideologisches Programm, in: Zeitschrift für Ethnologie 119 (1994), 1–16, hier 12; R. Michaels (2009, Fn. 23), 245 oder auch N. Krisch (2010, Fn. 3), 71–78. Dies betont Fr. v. Benda-Beckmann (1994, Fn. 27), 2 u. ders., Who’s Afraid of Legal Pluralism?, in: J. Leg. Pluralism 38 (2002), 37–82, hier 37.

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III. „The Concept of Law“? John Griffiths wichtige Kritik der allein am Staat orientierten Begriffsbildung von „Recht“ hat eingefahrene und erblindete Begriffsbestimmungen wieder neu sehen gelehrt, indem sie offen und undogmatisch an andere Begriffsschichten im Recht erinnert hat. Die offene Begriffsbestimmung von „Recht“ im „Rechtspluralismus“ aber droht nun die Grenzen des Rechtlichen zu sprengen. Darauf hat schon Sally Falk Moore in ihrem wegweisenden Aufsatz zum „semi-autonomen sozialen Feld“ deutlich hingewiesen.29 Was gewinnen wir, wenn im Begriff „Recht“ alle Formen sozialer Regulierung zusammenschmelzen? Dadurch wird die Frage nach dem begrifflichen Recht im Rechtspluralismus aufgeworfen. Sie lenkt das Interesse auf wissenschaftliche Begriffsbildungen im Allgemeinen und von „Recht“ im Besonderen, gerade mit Blick auf das Verhältnis von Gesellschaft und Recht. Nicht erst die anthropologischen Debatten um „Rechtspluralismus“ haben Fragen nach dem Begriff von „Recht“ provoziert. Auch wenn die abstrakte Frage „Was ist Recht?“ unter ‚postmetaphysischen‘ Bedingungen seltsam erscheint,30 sie gehört seit jeher zu den zentralen Fragen der Rechtsphilosophie und beschränkt sich nicht nur auf Kontroversen zwischen sog. „Naturrechtlern“ und sog. „Rechtspositivisten“. Blickt man zum Beispiel in die deutsche Rechtsphilosophie um 1900, stellen sich ähnliche Fragen um die Verbindung von Recht und Staat oder die Unterscheidung von „Recht“ und „Nicht-Recht“ wie im zeitgenössischen Rechtspluralismus. So entwickelte etwa Ernst Rudolf Bierling einen an der „Anerkennung“ der Rechtsgenossen orientierten Rechtsbegriff.31 Damit setzte er in der Begriffsbildung auf die anerkannte gemeinschaftliche Ordnung als das zentrale Element von „Recht“ und unterwarf sogar das staatliche Recht diesem allgemeinen Maßstab der „Anerkennung“.32 Damit aber verliert Bierling die Möglichkeit, „Recht“ und „Nicht-Recht“ scharf voneinander trennen zu können. Wenn jede ‚anerkannte‘ Sozialordnung Recht bildet, dann schmilzt in dieser sozio-legalen Welt alle ‚anerkannte‘ Normativität zu „Recht“ zusammen.33 „Recht“ verliert sich in einem Ordnungsamalgam, in dem nicht weiter zwischen rechtlichen, sozialen oder moralischen Normen unterschieden werden kann. In dieser Zeit plädierte auch Rudolf Stammler für ein besonders kantisches und deshalb formales „Weltrecht“.34 Auch Stammler verzichtet auf einen am Staat orientierten Rechtsbegriff. In seiner Definition des „Rechts“ als „das unverletzbar selbstherrli29 30

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Siehe S.F. Moore (1973, Fn. 11), 745. Siehe nur die gegenüber müßigen Begriffsspekulationen skeptische Einleitung von H.L.A. Hart, The Concept of Law, 2. Aufl. Oxford 1994 (1. Aufl. 1961), 1–17. Die Frage stellt prominent natürlich I. Kant, Metaphysik der Sitten, hrsg. v. W. Weischedel (= Immanuel Kant Werkausgabe VIII), Frankfurt am Main 1977 (zuerst 1797), Einleitung, § B, AB 31–33. Siehe E.R. Bierling, Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe, 2 Teile in 1 Band, Neudruck der Ausgabe Gotha 1877–1883, Aalen 1965 u. ders., Juristische Prinzipienlehre, 5 Bde., 2. Neudruck der Ausgabe Tübingen 1894, 1898, 1905, 1911 u. 1917, Aalen 1975 (Bd. 2 u. 5) u. 1979 (Bd. 1, 3 u. 4). Zugespitzte Formulierungen des Rechtsbegriffs finden sich in Bierling (1894), 19 u. ders. (1877), 3. Siehe etwa Bierling (1877, Fn. 31), 138. Kritisch schon E. Ehrlich, Ueber Lücken im Rechte, in: Juristische Blätter 17 (1888), 447 ff., hier 523. Zum „Weltrecht“ siehe R. Stammler, Das Recht im staatlosen Gebiete, in: ders., Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge. Erster Band 1888–1913, Charlottenburg 1925, 351–374 (zuerst 1911), 371–374 u. ders., Lehrbuch der Rechtsphilosophie, Nachdruck der 3. Aufl. Berlin u.a. 1928, Berlin 1970 (1. Aufl. 1922), 289–292.

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che verbindende Wollen“35 unterscheidet er Rechtsnormen von anderen sozialen Normen durch ihren objektiven Gehalt. Sie gelten „ohne Rücksicht“ auf die „Zustimmung“ oder Anerkennung der Normunterworfenen.36 Dieser Hinweis auf das Zwingende im Recht als maßgeblichem Differenzierungskriterium zum „Nicht-Recht“ ergänzt Stammler weiter um das Stichwort des Richtigen als normativem Orientierungspunkt von „Recht“.37 Wichtiger als dieses normative Postulat aber ist Stammlers begriffliche Verbindung von „Recht“ und „Gesellschaft“.38 Auch ohne auf eine gesellschaftliche Anerkennung zurückzugreifen, bindet Stammler beide Begriffe eng aneinander und identifiziert das „Recht des Rechts“ im „Bestand des sozialen Lebens“.39 So stellt er das „Recht“ vor den „Richterstuhle der Sozialphilosophie“ und löst das Recht ebenfalls im Sozialen auf.40 Diese Tradition eines am Maß der gesellschaftlichen Ordnung entwickelten Begriffs von „Recht“ repräsentiert heute aber vor allem Eugen Ehrlich. Dezidiert löst dieser sein „lebendes Recht“ aus den Begriffsfängen des Staates, der streitschlichtenden Gerichte oder der vollstreckenden Zwangsstäbe.41 Statt dessen begreift er solche Regeln als „Recht“, die von dem gesellschaftlichen „Gefühl“ einer „opinio necessitatis“ getragen werden.42 Ehrlichs „Recht“ der Gesellschaft besteht in der sich von der Gesellschaft selbst gegebenen Ordnung. Es ist ein „Recht“ ohne Einmischung von außen, ohne Zwänge des Staates und ohne bevormundende Politik. Doch gerade Ehrlich scheitert mit seinem Rechtsbegriff an der Trennung von „Recht“ und „Nicht-Recht“. Seine „Gefühlstheorie“, die verschiedene soziale Normarten und auch Recht an der den Normbruch begleitenden Gefühlsregung unterscheiden will, verbannte Kelsen nicht zu Unrecht auf den „Gipfel der Kuriosität“.43 Trotz der berechtigten Kritik aber übersieht die Ehrlich-Rezeption bis heute, dass dieser seinem Abgrenzungskriterium selbst skeptisch begegnete und sich des empirischen Phänomens „Recht“ schon sicher war, bevor er es auf einen wissenschaftlichen Begriff brachte.44 Die in den vielen Dörfern und auf den Höfen der Bukowina gelebten Regeln über typische Gegenstandsbereiche von Recht, wie die Organisation der Familie oder die Verteilung von Erbschaften, hat Ehrlich längst als „Recht“ anerkannt, bevor er sie (rechts-)wissenschaftlich zu begreifen und zu beschreiben versuchte. In dieser axiomatischen oder intuitiv-evidenten Setzung von „Recht“ als einem Gesellschafts-Recht unterscheidet Ehrlich sich nicht von Kelsens neo-kantianischtranszendentaler Behauptung der Einheit von Staat und Recht.45 Zwar versichert 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45

R. Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung, Nachdruck der 5. Aufl. Berlin u.a. 1924, 1978 (1. Aufl. 1896), 483. R. Stammler (5. Aufl. 1924, Fn. 35), 473. Siehe nur den berühmten Titel von R. Stammler, Die Lehre von dem Richtigen Rechte, 1. Aufl. Berlin 1902, neu bearbeitete Auflage Halle (Saale) 1926. R. Stammler (5. Aufl. 1924, Fn. 35), 482. Siehe R. Stammler (3. Aufl. 1928, Fn. 34), 237. Siehe R. Stammler (5. Aufl. 1924, Fn. 35), 509 u. 516. Siehe E. Ehrlich (1913, Fn. 8), 32. Siehe E. Ehrlich (1913, Fn. 8), 147. Zu dieser sog. „Gefühlstheorie“ siehe E. Ehrlich (1913, Fn. 8), 146 f. Vgl. insb. die scharfe Rezension von H. Kelsen, Eine Grundlegung der Rechtssoziologie, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 39 (1915), 839–876, hier 862. Siehe E. Ehrlich (1913, Fn. 8), 146 f. Zu Kelsens Rechtsbegriff siehe das III. Kapitel in H. Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, hrsg. v. M. Jestaedt, Tübingen 2008 (1. Aufl. 1934), 19–38. Zur Identität von „Recht und Staat“, ebd., Kap. VIII, 115–128 und zur „Überwindung“ weiterer „Dualismen“ weiter, ebd., Kap. IV, 39–61

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Kelsen seine „radikal realistische Rechtstheorie“, die er allein am „positiven Recht“ orientiert, in einem klaren epistemischen Paradigma, doch seine Vorstellung von der Rechtswissenschaft als normativer „Geistes-Wissenschaft“ bleibt letztlich genauso vorausgesetzt wie seine Grundnorm.46 Dennoch setzt sich seine klare Unterscheidung von „Recht“ und „Nicht-Recht“ am Maß des ‚gesollten Zwangs‘ gegen die alternativen gesellschaftlichen Rechte seiner Zeit durch: „die Rechtsnorm“ sei „eine Zwangsnorm im Sinn einer Zwang anordnenden Norm“.47 Trotz aller Polemik gegen die „reine Rechtslehre“ dient sie der ‚herrschenden Anschauung‘ des Rechts (auch heute wieder) als Selbstbeschreibungsformel, gerade weil sie das Recht von allen nichtjuristischen Zugriffen abschirmt und dieses ‚Recht‘ dem modernen Nationalstaat als soziales Instrument zur Verfügung stellt.48 Diese am positiven Recht orientierte Tradition repräsentiert in der angloamerikanischen Welt H.L.A. Hart. Auch Hart entwickelt sein „The Concept of Law“ am Vorbild des modernen Nationalstaates und schneidet seinen Begriff von „Recht als Einheit von primären und sekundären Regeln“ auf dieses zuvor als paradigmatisch ausgezeichnete Phänomen zu.49 Doch dieses „Concept of Law“ unterscheidet sich in zwei wesentlichen Punkten von Kelsens Rechtslehre. Hart entwickelt seine Rechtstheorie vom Standpunkt der ordinary language philosophy des Oxfords der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts.50 Deshalb formuliert er seinen Rechtsbegriff deutlich vorsichtiger als Kelsen und vermeidet die spekulativen Reste, die sich noch in Kelsens Vorstellung des einen Systems und der Einheit des Rechts wiederfinden.51 Zum anderen muss Hart sein „Concept of Law“ nicht dogmatisch als einzige richtige Anschauungsweise von „Recht“ postulieren, sondern hält es offen für andere (plurale) Sprachspiele mit „Recht“.52 IV. „A Non-Essentialist Concept of Law“? Blicken wir heute in die Geschichte dieser Begriffe und Begriffsbildungen von „Recht“, so erscheint es aussichtslos, den einen ‚archimedischen‘ Punkt im „Recht“ zu finden. Zwar zeigen gerade Kelsen und Stammler, dass diese Begriffslosigkeit mit Hilfe klar formulierter methodologischer Prämissen überwunden werden kann; doch die Kontingenz der epistemischen Prämissen bleibt in ihren Untersuchungen stets als blinder Fleck zurück. Fehlt es hingegen (wie heute) an einem herrschenden und damit ideologischen Paradigma der (Rechts-)Wissenschaft, dann müssen wir auch den Begriff „Recht" aus unserer (Rechts-)Sprache heraus entwickeln und dürfen dabei nicht vergessen, dass wir diese Sprache nie nur abbilden, sondern immer auch ein Stück fortsprechen. Wir verändern unsere (rechts-)begriffliche Episteme während wir mit ihrer Hilfe ihre (Rechts-)Begriffe zu fassen versuchen – wir arbeiten also an und auf dem Boden, auf dem wir stehen. Auf diesem wackligen Grund operieren 46 47 48 49 50 51 52

Siehe nur H. Kelsen (1. Aufl. 1934, Fn. 45), 17 u. III. Zur Grundnorm siehe nur ebd., 78–84. H. Kelsen (1. Aufl. 1934, Fn. 45), 25. Siehe hierzu H. Kelsen (1. Aufl. 1934, Fn. 45), 28–33. Siehe H.L.A. Hart (1961, Fn. 30), insb. 15–17, 79–81 u. 94 u.ö. Zu Harts Verhältnis zur „linguistischen“ Philosophie siehe nur N. Lacey, A Life of H.L.A. Hart. The Nightmare and the Noble Dream, Oxford 2004, insb. Kap VI, 112–151. Besonders deutlich wird dies in Kelsens Ausgangsfrage und seiner ‚vorausgesetzten‘ Suche nach Einheit und Ordnung, siehe H. Kelsen (1. Aufl. 1934, Fn. 45), 62. Dies zeigt J. Waldron (2010, Fn. 18).

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auch ‚post-‘ oder ‚spätmoderne‘ Rechtspluralisten, wie z. B. Boaventura de Sousa Santos oder Gunther Teubner.53 Sie stehen den begrifflichen Problemen um „Recht“ zwar nicht gleichgültig, aber doch gleichmütiger gegenüber und nutzen diese Einsicht in die epistemische Veränderung des Rechts unter den Bedingungen der Globalisierung zu eigenen (wissenschafts-)politischen oder (wissenschafts-)paradigmatischen Zwecken. Deutlich schreibt Santos unter der Flagge einer „Postmoderne“ gegen die Pathologien der Moderne, die ihre großen Versprechen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht eingelöst hätten.54 Als linker Aktivist beklagt er die regulierende Macht der Märkte und die epistemische Gewalt der naturwissenschaftlichen Denkparadigmen in Öffentlichkeit und Wissenschaft.55 Aber nicht allein der Ökonomie und den Naturwissenschaften schiebt er die Schuld am Versagen der Moderne zu. Als Gehilfen im für ihn pathologischen Prozess der Moderne identifiziert Santos das Recht.56 Gegen das staatliche Monopol auf Recht, die wissenschaftliche Rekonstruktion von Recht und seine Rolle als politisches Steuerungsinstrument setzt er „Rechtspluralismus“ und „Interlegalität“ als ein „oppositionelles postmodernes Recht“.57 Sie zielen auf ein Recht, das seine emanzipatorische Kraft aus der komplexen Struktur von konkurrierenden ‚Rechten‘ innerhalb eines sozialen Raums zieht. Nicht die politische Legislative verfügt über diese „Interlegalität“, sondern alle Ebenen der Gesellschaft partizipieren an der Rechtfertigung und Fertigung von „Recht“. Auch Teubner versucht mit seinem Rechtspluralismus grundsätzliche Veränderungen in der Wahrnehmung des Rechts anzustoßen. Dezidiert fordert Teubner ein „Recht ohne Staat“.58 Im Geiste der ‚Rechtsvielfalt‘ von Eugen Ehrlichs „Bukowina“ versucht er das „lebende Recht“ globaler gesellschaftlicher Funktionssysteme freizulegen. Doch er stellt das Problem „Recht“ von seiner „Funktion“ auf seinen „Code“ um.59 Gegen Niklas Luhmann begreift er Recht nicht mehr aufgrund seiner „Funktion der Stabilisierung normativer Erwartungen“ als „Recht“.60 Statt dessen blickt Teubner allein auf die gesellschaftlichen Kommunikationen und deren Orientierung an dem „binären Code Recht/Unrecht“.61 Schon die Sprache vom „Recht“ fertigt Recht. Dieser „linguistic turn“ bereitet auch Teubners Theorie der gesellschaftlichen Verfassungen den Weg und steht zudem für eine privatere Politik des Rechts.62 Auch Teubner will der Gesellschaft, wie Gnaeus Flavius, das Recht zurückgeben, um es so anders und neu „repolitisieren“ zu können.63 Einen ähnlich ‚postmodernen‘ Versuch über „Recht“ bietet schließlich Brian Tamanahas „non-essentialist concept of law“. Auch sein ‚essenzfreier‘ Rechtsbegriff 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63

Zu „Moderne“ und „Postmoderne“ siehe B. Santos (2. Aufl. 2002, Fn. 15), 1–84. Von „Spätmoderne“ spricht im Untertitel G. Teubner (1992, Fn. 15). Siehe insb. B. Santos (2. Aufl. 2002, Fn. 15), 8 f. Zu seiner politischen Agenda siehe etwa B. Santos, The World Social Forum and the Global Left, in: Politics & Society 36 (2002), 247–270. Siehe B. Santos (2. Aufl. 2002, Fn. 15), 21 u.ö. Siehe nur B. Santos (2. Aufl. 2002, Fn. 15), 436–438. Siehe nur G. Teubner (Hrsg.) (1997, Fn. 2). Siehe G. Teubner (1996, Fn. 15), 272. Siehe N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1993, Kap. 3, 124–164, hier 131. Siehe G. Teubner (1996, Fn. 15), 272. Zur Theorie gesellschaftlicher Verfassungen siehe nur G. Teubner, Fragmented Foundations. Societal Constitutionalism beyond the Nation State, in: P. Dobner / M. Loughlin (Hrsg.), The Twilight of Constitutionalism?, Oxford u. New York 2010, 327–341. Zur „Repolitisierung“ des Rechts siehe etwa G. Teubner (1996, Fn. 15), 282 f.

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sprengt alle Kategorien von Recht. Um vor allem die rechtsbegrifflichen Probleme der Anthropologie, aber auch Santos‘ „Interlegalität“ und Teubners „Code“ hinter sich zu lassen, lichtet er in Recht und Rechtspluralismus alle vermeintlich essentiellen Anker.64 Die Zuschreibung von Recht solle weder an den institutionalisierten „Zwang“, an eine gesellschaftliche „Ordnung“, an eine soziale „Funktion“, an eine interne „Struktur“ oder auch nur an einen „Code“ gebunden sein.65 Statt dessen löst Tamanaha den Begriff „Recht“ sogar von dem Wort „Recht“: „Law is whatever people identify and treat through their social practices as ‚law‘ (or recht, or droit, and so on).“66 Dadurch verändert sich auch sein Begriff des Rechtspluralismus: „Thus, the plurality I refer to involves different phenomena going by the label ‚law‘, whereas legal pluralism as typically conceived involves a multiplicity of one basic phenomenon, ‚law‘ (as defined).“67 Aus der Konkurrenz verschiedener ‚Rechte‘ innerhalb eines begrifflichen Paradigmas von „Recht“ wird die Konkurrenz verschiedener ‚Rechte‘ aus verschiedenen Anschauungsweisen zu „Recht“. In den weiten Zugriffen auf „Recht“ wird das Problem eines scharfen wissenschaftlichen Begriffs von Recht im Rechtspluralismus galant umgangen. Aus der Not der Begriffsbildung wird die Tugend der Begriffssetzung. Das eine rettende Recht erscheint außer Reichweite und deshalb wird es als das reine, wissenschaftliche oder objektive eine Recht verabschiedet. Selbst Kelsen hatte sich mit seinem Plädoyer für den Staat als (‚wissenschaftlichem‘) Alleinherrscher über das Recht trotz aller Ideologiekritik in den Fängen der Ideologie einer ‚herrschenden Meinung‘ verfangen.68 An die Stelle der geschlossenen Begriffskonzepte zu „Recht“ tritt ein offener, nichtessentialistischer Begriff von „Recht“. Er wird bewusst für politische Forderungen oder zur „Revolution“ oder auch nur zur Reformation bestehender wissenschaftlicher Paradigmen eingesetzt. „Rechtspluralismus“ tritt selbst als Rechtsbegriff an, der die Politik und Wissenschaft vom Recht, ja die ganze ‚Weltanschauung des Rechts‘ verändern soll. V. Das Recht des Rechtspluralismus? Die wichtige, doch keinesfalls neue, Einsicht der ‚Postmodernen‘ in die Kontingenz der Begriffsbildung darf im Recht aber keinesfalls zu einem anything goes verleiten. Noch dem wissenschaftlich entblößten Wort „Recht“ kommt als historisch-politischem, lebensweltlichem und selbstverständlich auch juristischem Grundbegriff eine zentrale Rolle für die soziale Anschauung unserer Welt und des individuellen Verständnisses ihres Sinns zu. Diese Verbindungen kann auch ein rein ‚wissenschaftliches‘ Recht nicht kappen. Deshalb halten auch die ‚postmodernen‘ Autoren weiterhin am Begriff „Recht“ fest und ersetzen ihn nicht durch alternative Konzepte wie

64 65 66 67 68

Siehe B. Tamanaha, A Non-Essentialist Version of Legal Pluralism, in: J. Law & Soc’y 27 (2000), 296–321 u. ders., A General Jurisprudence of Law and Society, Oxford 2001, Kap. 7, 171–205. Siehe nur B. Tamanaha (2001, Fn. 64), insb. 175 f. u. ders. (2000, Fn. 64), 311. Siehe B. Tamanaha (2000, Fn. 64), 313 u. fast wortgleich ders. (2001, Fn. 64), 194. B. Tamanaha (2001, Fn. 64), 194; siehe weiter auch ders. (2000, Fn. 64), 315. Zu Kelsens „anti-ideologischen Tendenz“ siehe nur das Vorwort von H. Kelsen (1. Aufl. 1934, Fn. 45), III–IX u. weiter 16–18.

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„soziales Handeln“ oder „social control“.69 Noch Tamanahas „non essentialist concept of law“ bildet einen Begriff von „Recht“ oder „law“ oder „droit“ und hinterlässt der Wissenschaft sogar eine Definition. Rudolf Wiethölters hoffnungsfroher Fatalismus büßt seine Aktualität auch unter globalen Bedingungen nicht ein: „Ohne Recht geht es nicht – mit Recht geht es auch nicht!“70 In dieser Klemme zwischen essentieller Begriffsparteilichkeit und essenzfreier Begriffslosigkeit aber geben die ‚postmodernen‘ und anthropologischen Provokateure nur verschlüsselte Hinweise auf die Lösung des Rätsels „Recht“. Sie nutzen die Begriffsschwäche unserer Zeit performativ für ihre eigenen (wissenschafts-)politischen oder (wissenschafts-)theoretischen Ziele. Klarer sind die Hinweise der Alten. Max Weber, Karl Llewellyn oder H.L.A. Hart formulierten die Probleme um die Begriffsbildung im „Recht“ noch deutlicher. Scharf unterscheidet z. B. Max Weber zwischen den Erkenntniszwecken der sozialwissenschaftlichen „Idealtypen“ und den Begriffen der juristischen Dogmatik. Während diese den „richtigen Sinn“ einer juristischen Sollens-Ordnung zu entfalten versuchen, müssen jene das Verstehen von „sozialem Handeln“ ermöglichen.71 Selbst wenn beide Disziplinen in den gleichen Worten sprechen, verwenden sie doch verschiedene Begriffe. H.L.A. Hart und Karl Llewellyn begegnen demgegenüber schon dem Problem des Definierens mit großer Skepsis.72 Diese Kritik an müßigen Begriffsspekulationen teilt Harts ‚ordinary legal philosophy‘ mit der ordinary language philosophy Ludwig Wittgensteins. An die Stelle der Definitionen tritt die Orientierung an konkreten Fragen und Problemen, die „den Ausweg aus dem Fliegenglas“ der spekulativen Begriffsanalyse zeigen sollen:73 „Wir wollen nicht das Regelsystem für die Verwendung unserer Worte in unerhörter Weise verfeinern oder vervollständigen. Denn die Klarheit, die wir anstreben, ist allerdings eine vollkommene. Aber das heißt nur, daß die philosophischen Probleme vollkommen verschwinden sollen. … – Es werden Probleme gelöst (Schwierigkeiten beseitigt), nicht ein Problem. Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber gibt es Methoden, gleichsam verschiedene Therapien.“74 Diese, Wittgensteins philosophische „Methoden“ tragen auch Harts Analyse der konkreten Probleme, die mit der begrifflichen Zuschreibung von „Recht“ verbun69 70 71 72 73 74

Überraschenderweise verwendet selbst Griffiths den Begriff „Recht“ heute vorsichtiger, siehe J. Griffiths, The Idea of Sociology of Law and its Relation to Law and to Sociology, in: Law and Sociology (= Current Legal Issues 2005, Vol. 8), hrsg. v. M. Freeman, Oxford 2006, 49–68. So lautet die pointierte Rekonstruktion der kritischen Theorie anno 1992 bei R. Wiethölter, Zur Regelbildung in der Dogmatik des Zivilrechts, in: Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken, hrsg. v. M. Herberger u.a., Stuttgart 1992, 222–240, hier 230. Siehe zu den „Idealtypen“ und den mit ihnen verbundenen Erkenntnisperspektiven nur M. Weber (1922, Fn. 5), 9–11 und zur Differenz zwischen juristischer und sozialwissenschaftlicher Begriffsbildung von „Recht“ ebd., 181, 16 f. u. 18. Siehe nur das 1. Kapitel bei H.L.A. Hart (1961, Fn. 30), 1–17 u. den einleitenden Teil von K. Llewellyn (1930, Fn. 10), 431–433. Das geflügelte Wort findet sich bei L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe Bd. I, Frankfurt am Main 1984, 225–580 (zuerst postum 1953), § 309. L. Wittgenstein (1953, Fn. 73), § 133. Ein ähnlicher philosophischer Zug findet sich schon in ders., Tractatus logico-philosophicus, in: Werkausgabe Bd. I, Frankfurt am Main 1984 (zuerst 1921), 6.521.

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den sind.75 Und dieser Geist der ordinary language philosophy gibt auch der Frage nach dem Recht des Rechtspluralismus neue und wichtige Impulse. Das Recht des Rechtspluralismus durchläuft eine Metamorphose. Sein epistemisches Interesse verschiebt sich von der Begriffsbildung „Recht“ in das Problem „Rechtspluralismus“. Die spekulativen Begriffsfragen nach „dem Recht“ verwandeln sich in Fragen nach der empirisch-deskriptiven Bedeutung von „Rechtspluralismus“ und seiner normativen oder legitimen Bewältigung. In deskriptiver Hinsicht gewinnt das Recht des Rechtspluralismus ein besonderes Gespür für soziale, kulturelle oder normative Lagen und artikuliert diese in der Sprache des ‚Rechts‘. Drei deskriptive Problemlagen lassen sich unterscheiden. Historischgenetisch verfolgt der rechtsplurale Blick die Herausbildung einer einheitlichen oder einer von Spannungen durchzogenen normativen Ordnung als einem Amalgam verschiedener sozialer, politischer oder normativer ‚Rechte‘.76 Sein soziologisches Gespür erweitert den rechtlichen Horizont um die Konkurrenz verschiedener (quasi-) ‚Rechte‘ innerhalb eines sozialen Feldes oder eines ‚Rechtsraums‘.77 Erst in diesem begrifflichen Horizont können die Friktionen und Widersprüche zwischen einem ‚formalen‘ Recht der Bücher und einem „lebenden“ oder praktizierten Recht wahrgenommen werden. Die Suche nach konkurrierenden Kulturen, Weltanschauungen oder Paradigmen des Rechts legt schließlich die verschiedenen Bedeutungsschichten von „Recht“ für verschiedene (kleinere) Gemeinschaften innerhalb einer (großen) Gesellschaft offen. Die Verflechtung von „Recht“ und seinen nomoi and narratives führt den Forscher in vielfältige Wahrnehmungen und Anschauungen des Rechts, wenn z. B. der Religionsfreiheit aus der Sicht von Staat und religiösen Gruppen grundverschiedene Bedeutung zukommt.78 Diese drei deskriptiven Zugriffe auf „Recht“, die sich unterschiedlich variieren lassen, werden selbstverständlich nicht erst durch „Rechtspluralismus“ möglich, sondern gehören zum Forschungsinstrumentarium verschiedener rechtshistorischer und -soziologischer Studien. Das Recht des Rechtspluralismus aber zeigt dezidiert auf die ‚rechtlichen‘ und normativen Hintergründe und Beziehungen dieser Phänomene. Es versucht die vielen normativen, kulturellen, sozialen oder politischen Aspekte in der deskriptiven Verwendung von „Recht“ zurückzugewinnen. Dadurch entzieht es allen Wissenschaften vom ‚Recht‘ die freie Verfügungsbefugnis über den Begriff „Recht“. Er darf nicht mehr willkürlich definiert werden, weil das Wort „Recht“ immer von seiner Geschichte und seiner normativen Bedeutung heimgesucht wird – auch das ist keine neue Einsicht. ‚Recht‘ wird zu einem reflexiven und unsicheren Begriff, dessen historischer Ballast uns dazu zwingt, dass wir uns des Begriffs „Recht“ immer wieder neu und offen versichern. Die deskriptive Einsicht in die Vielfalt der Rechtswelt bleibt nicht für sich. Sie dient der normativen Analyse von „Rechtspluralismus“ als Grundlage. Wieder bieten sich drei perspektivische Optionen. Zunächst kann die Ordnung im Chaos von Ge-

75 76 77 78

Siehe insb. H.L.A. Hart (1961, Fn. 30), 6–13 u. auch die Analyse des „Völkerrechts“ ebd., 213–237. Zu Rechtspluralismus in historischer Perspektive siehe etwa die Arbeiten von L. Benton, Law and Colonial Cultures. Legal Regimes in World History 1400–1900, Cambridge 2002, dies. (2011, Fn. 6) o. B. Tamanaha (2008, Fn. 19). Klassisch noch immer S.F. Moore (1973, Fn. 11). Grundlegend R. Cover, The Supreme Court 1982 Term. Foreword: Nomos and Narrative, Harvard Law Review 97 (1983), 4–68.

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sellschaft und Recht in den pluralistischen Forschungsblick genommen werden.79 Im Vordergrund stehen dann die verschiedenen Möglichkeiten oder Mechanismen zur institutionellen Bewältigung der gesellschaftlichen oder rechtlichen Unordnung. Solch ein institutionalisierter Rechtspluralismus kennt viele Gestalten: etwa den Föderalstaat mit seinem Kompetenzsystem, Freiheitsrechte mit ihren sozialen, ökonomischen oder politischen Vielfaltsräumen oder plurale (gesellschaftliche) Rechtssetzungsermächtigungen in Verträgen, Verkehrssitten oder dem Gewohnheitsrecht. Dieser (rechtlich) befriedete Rechtspluralismus zehrt aber stets von einem archimedischen Standpunkt zur Beobachtung und Bewertung der Pluralität. Erst diese Perspektive stiftet der gesellschaftlichen oder rechtlichen ‚Unordnung‘ ihren ordentlichen Anschein. Das Andere dieses institutionalisierten oder geordneten Rechtspluralismus bildet der offene Rechtspluralismus. Ihm fehlt der normative Fluchtpunkt. Und seine Vielfalt gedeiht in den vielen internationalen Privat- und Verfahrensrechten, den Rechtskreisen der Rechtsvergleicher, dem (vermeintlich) fragmentierten Völkerrecht oder den sozio-normativen Eigen-‚Rechten‘ von unabhängigen (auch globalen) Gemeinschaften. Auch wenn diese immer auch instrumentalisierbare Vielfalt wie im forum shopping beargwöhnt wird, muss sie nicht per se verdammt werden. Zwar droht ein ‚Recht‘ des Stärkeren, wenn das ‚objektive Recht‘ zur Disposition seiner Subjekte steht, doch die offene Pluralität bietet zugleich die Hoffnung auf ein spontan wachsendes ‚Graswurzelrecht‘. Dieser offene Rechtspluralismus aber leidet dennoch stets an einem normativen Defizit, weil ihm ein einendes normatives Maß fehlt. Er muss blind auf den Eigenwert von Pluralismus und Rechtspluralismus vertrauen. Erst eine dritte Perspektive schöpft das normative Potential des Rechtspluralismus voll aus. Ein reflexiver oder kritischer Rechtspluralismus untersucht nicht nur die gegebenen Ordnungen und Unordnungen der sozialen und rechtlichen Pluralität, sondern hofft auf deren ‚Richtigkeit‘. Er versucht die gegebenen Spannungen zwischen Einheit und Vielheit, Ordnung und Unordnung des Rechts in einem normativpluralistischen Standpunkt ‚aufzuheben‘ – wie auch immer dieser aussieht. Er formuliert eine Hoffnung, die sich gleichermaßen an die Hersteller von allgemeinen ‚Rechts‘-Regeln wie von konkreten ‚Rechts‘-Entscheidungen richtet. Diese Hoffnung kann ihre normativen Direktiven in Prozeduren, genauso wie in materialen und formalen Gewährleistungen von „Recht“ formulieren.80 Methodologisch kann sie dabei auf regelgeleitete Kollisionsrechte (wie im IPR) oder auch auf ad hoc ‚Abwägungen‘ oder ‚Verhältnismäßigkeiten‘ (wie in der deutschen Grundrechtsdogmatik) zurückgreifen, die sich im Laufe der Zeit möglicherweise zu festeren Regeln verdichten. Zu ihrem dogmatischen Arsenal zählen die margins of appreciation Doktrin des EGMR genauso wie der ordre public Vorbehalt des IPR. Auch die Bewertung institutioneller Einrichtungen gehört zur Aufgabe des kommunikativen Rechtspluralismus. Die Agenda des kritischen Rechtspluralismus umgreift also die umfassende Rekonstruktion von sozialer und rechtlicher Pluralität im Paradigma des „Rechtspluralismus“ und mit dem Anspruch ihrer ‚richtigen‘ Einrichtung und Ausübung. Die größte Schwierigkeit dieses kritischen Rechtspluralismus besteht natürlich darin, den normativen Standpunkt für diese Wertungen freizulegen. Ein solcher kommuni79 80

Auch Griffiths „weak legal pluralism“ beschreibt einen solchen normativ-institutionalisierten Rechtspluralismus, siehe J. Griffiths (1986, Fn. 12), insb. 7 f. Vgl. hierzu z.B. K. Günther, Rechtspluralismus und universaler Code der Legalität: Globalisierung als Rechtstheoretisches Problem, in: Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas, hrsg. v. L. Wingert u. K. Günther, Frankfurt am Main 2001, 539–567 u. jetzt auch E. Melissaris (2009, Fn. 23).

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kativer Rechtspluralismus kann dabei weder auf ein allgemeine noch auf eine partikulare Perspektive zurückgreifen. Während jede einseitige Lösung eines pluralen Konflikts von Recht sich von selbst verbietet, droht auch jede allgemeine Lösung stets in parteiliche Allianzen und „parteiliche Unparteilichkeit“ umzuschlagen.81 Diese Aporie versucht die Formel vom „Rechtspluralismusrecht“ als Antwort auf die Frage nach dem Recht des Rechtspluralismus zu verdecken, indem sie den Blick auf konkrete Probleme richtet, ohne dabei die Notwendigkeit von allgemeinen oder abstrakten Begriffsbestimmungen und Lösungen zu leugnen.82 Dies mag unbefriedigend klingen, aber „Rechtspluralismus“ lässt sich nicht im Allgemeinen lösen. Es ist nur ein allgemeiner Hinweis auf die normativen Verwicklungen von vielen konkreten (pluralistischen) Problemen. Die Idee des „Rechtspluralismus“ mahnt Gesetz- und Rechtsgeber, Richter und Parteien, Rechtsubjekte und Rechtsgenossen immer wieder zur Vorsicht in der versicherten Berufung auf ihr Recht, das vielleicht nur eines unter vielen sein kann. Rechtspluralismus begreift „Recht“ als einen synthetischen Begriff mit vielen Wurzeln, vielen Assoziationen, vielen Weltanschauungen und vielen Hoffnungen. Deshalb steht „Rechtspluralismus“ nicht für eine bloß relativistische Position, sondern seine Perspektivenvielfalt erinnert an den weisen Rabbi, der sehr wohl weiß, mit wieviel ‚Recht‘ er es in seiner Welt zu tun hat und wie wichtig dieses ‚Recht‘ für seine Subjekte ist. Deshalb begegnet er allen Vorstellungen eines absoluten und letzten Rechts genauso skeptisch wie den Versuchen, Recht allein auf ein positives und politisches Steuerungsinstrument zu reduzieren.

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Zur „parteilichen Unparteilichkeit“ siehe Wiethölter (1992, Fn. 70), 230. Sie spielt ebenfalls auf Wiethölters Formeln vom „Rechtsverfassungsrecht“ und „Rechtfertigungsrecht“ an, zu diesen siehe R. Wiethölter, Zum Fortbildungsrecht der richterlichen Rechtsfortbildung. Fragen eines lesenden Rechtfertigungslehrers, in: KritV 3 (1988), 1–28 u. ders., Recht-Fertigungen eines Gesellschafts-Rechts, in: Rechtsverfassungsrecht. Recht-Fertigung zwischen Privatrechtsdogmatik und Gesellschaftstheorie, hrsg. v. G. Teubner u. Chr. Joerges, Baden-Baden 2003, 13–21.

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Menschenwürde als Prinzip Eine konzeptionelle Verbindung von Menschenwürde und Abwägung 1

Is human dignity an absolute principle or is it amenable to balancing and therefore a limitable right like other constitutional rights? In my doctoral thesis, I have examined this question by analyzing the structure of article 1(1) of the German Basic Law and come to the result that the absoluteness of the principle of human dignity is only an apparent absoluteness. Indeed, we can talk about protection in an absolute sense under ordinary circumstances, but the abstract priority of human dignity will have to be relativized in actual applications.

Zwischen dem Problem der Begründbarkeit der Menschenrechte und der Menschenwürde besteht ein enger Zusammenhang. Denn Menschenrechte als moralische Rechte vor ihrer Transformierung in Grundrechte existieren nur, wenn deren Träger Menschenwürde haben. In Verfassungen wie dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in dem Menschenwürde und Menschenrechte in positives Recht transformiert wurden, wird das Problem der Begründbarkeit der Menschenrechte durch das Problem der Durchsetzbarkeit der Menschenrechte zurückgedrängt, weil die Begründung der Menschenrechte dabei und so auch hier vorausgesetzt wird. Grundrechte fördern aufgrund der Institutionalisierung die Durchsetzbarkeit der Menschenrechte. Meine These lautet daher, dass auch die Menschenwürde als Grundrecht und nicht bloß objektive Norm die Durchsetzbarkeit der Menschenwürde fördert und damit besseren rechtlichen Schutz bietet. Das Prinzip Menschenwürde erfüllt als oberster Wert des Grundgesetzes und als Grundrecht unterschiedliche Funktionen.2 Es ist fraglich, ob diese unterschiedlichen Funktionen in einfacher Weise miteinander in Einklang zu bringen sind. Wenn Grundrechtskollisionen nur über eine Abwägungsprozedur gelöst werden können, stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls wie die Menschenwürde als Grundrecht der Abwägung zugänglich ist. Wie vertragen sich Menschenwürde und Abwägung vor dem Hintergrund, dass der Satz von der Unantastbarkeit der Würde des Menschen das Fundament des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland bildet und dieser Satz zudem durch Art. 79 Abs. 3 GG mit einer Ewigkeitsgarantie ausgestattet ist? In Verfassungssystemen ohne einen ausformulierten Grundrechtskatalog kann die Menschenwürde als Quelle dienen, aus der spezielle Grundrechte wie das allgemeine Persönlichkeitsrecht ableitbar sind. In diesem Sinne begreift Jürgen Habermas die Menschenwürde als „moralische Quelle, aus der sich die Gehalte aller Grundrechte speisen“.3 Die Menschenwürde hat dabei einen sehr weiten Gehalt ohne 1

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Diese Abhandlung stellt die Ergebnisse meiner Untersuchungen zur Frage der Abwägungsfähigkeit der Menschenwürde dar, die ich für meine im Jahr 2010 in Kiel abgeschlossene Dissertation durchgeführt habe. Breitere Ausführungen finden sich daher bei Nils Teifke, Das Prinzip Menschenwürde. Zur Abwägungsfähigkeit des Höchstrangigen, Tübingen 2011. Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser erste Satz des Grundgesetzes bildet das Fundament der Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland. Jürgen Habermas, Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte, in: ders., Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Berlin 2011, S. 13–38, S. 16. In dieser Abhandlung

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selbst Grundrecht zu sein. Als Grundrecht muss die Menschenwürde demgegenüber eng definiert werden. Anderenfalls besteht die Gefahr, dass die Menschenwürde ersichtlich einschränkbar wäre und zugleich die vielbeschworene Abwägungsfestigkeit ins Wanken geriete. Wird die Menschenwürde allerdings so eng definiert, dass sie nicht mehr mit anderen Prinzipien zu kollidieren scheint und damit nicht abwägungsbedürftig ist, droht sie, den weiten Gehalt, der ihr als fundamentaler Wert zukommt, zu verlieren. Angesichts dieses Dilemmas kann der Menschenwürde ihre überragende Bedeutung innerhalb des Rechts nur dann zuteil werden, wenn ihre unterschiedlichen Funktionen so miteinander in Einklang gebracht werden, dass die Menschenwürde als Grundrecht mit einem engen Anwendungsbereich der Menschenwürde als fundamentalem Wert nicht entgegensteht. In einem ersten Schritt ist die These der absoluten Geltung des obersten Verfassungssatzes zu untersuchen. Die damit verbundene Frage der Abwägungsfähigkeit steht gleichsam im Zentrum der Debatte über die Menschenwürde. Sie betrifft in erster Linie die Struktur der Menschenwürdenorm des Grundgesetzes. Eine Analyse der Normstruktur des Art. 1 Abs. 1 GG, die zu dem Ergebnis führt, dass die Menschenwürde nur scheinbar absolut gilt, bietet sodann einen neuen Konstruktionsvorschlag zum Verhältnis von Menschenwürde und Abwägung. Die Frage der Absolutheit der Menschenwürde ist jedoch nicht nur eine strukturelle Frage, sondern verlangt auch eine Inhaltsbestimmung der Menschenwürde als Rechtsbegriff. Die Ergebnisse der Untersuchung zum Inhalt und zur Struktur der Menschenwürdegarantie münden in den Entwurf einer aus sieben Elementen bestehenden Theorie der Menschenwürde. Aufgrund ihrer engen Verwobenheit bilden die einzelnen Elemente ein System, in dem die Menschenwürde als überwölbende Idee sowohl relativ als auch absolut ist. Dieser Doppelcharakter der Menschenwürde spiegelt sich in der Relativität der Menschenwürde als Rechtsbegriff und der Absolutheit der Menschenwürde als Rechtsidee wider. „Zur Abwägungsfähigkeit des Höchstrangigen“ lautet der Untertitel meiner Dissertation „Das Prinzip Menschenwürde“. Dieser Untertitel deutet an, dass das Prinzip Menschenwürde auf Grund seines Doppelcharakters, der wie die Doppelnatur des Rechts4 insgesamt in einer realen und einer idealen Dimension besteht, das Verhältnis von Abwägung und Höchstrangigkeit nicht als Gegensatz darstellt. I. Absolutheitsthese Anlass für die zunehmende Menschenwürdedebatte sind zum einen neue Entwicklungen im Bereich der medizinischen Forschung wie der Embryonenforschung. Hinzu treten aktuelle Anlässe wie die Diskussion über die sogenannte Rettungsfolter in Entführungsfällen oder die Probleme im Zusammenhang mit terroristischen Anschlägen. Die umstrittene Frage der Zulässigkeit eines Flugzeugabschusses im Falle eines von Terroristen als Waffe eingesetzten Flugzeugs hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. In seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz hat das Gericht die Ermächtigung zum Abschuss eines von Terroristen gekaperten Flugzeugs

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untersucht Habermas den „Zusammenhang des systematischen Begriffs der Menschenrechte mit dem genealogischen Begriff der Menschenwürde“ (Vorwort, S. 10). Zur Doppelnatur des Rechts Robert Alexy, Die Doppelnatur des Rechts, in: Der Staat 50 (2011), S. 389–404.

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für nichtig erklärt, weil darin ein Verstoß gegen die Menschenwürde zu sehen ist, wenn nicht nur Terroristen, sondern auch unschuldige Passagiere an Bord sind.5 Im Zentrum der Debatte steht folgende Frage: Gewährleistet die Menschenwürde absoluten Schutz oder kann sie, wie dies bei Grundrechten ganz allgemein möglich ist, angesichts stärkerer gegenläufiger Gründe zurückgedrängt oder eingeschränkt werden? Um zu beurteilen, ob eine Garantie absolut oder nicht absolut ist, muss man wissen, was eine absolute bzw. nicht absolute Garantie ist. Das ist eine normtheoretische Frage. Die gegenwärtige Diskussion leidet daran, dass über die Struktur der Absolutheit ebenso wie über die der Nichtabsolutheit keine Klarheit herrscht. Erfolgversprechend ist daher eine Analyse der Struktur der Menschenwürdenorm unter Zugrundelegung der Prinzipientheorie Robert Alexys.6 Das Instrument der strukturtheoretischen Analyse soll danach die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien sein. Regeln sind nicht abwägungsfähige Normen, die nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können. Sie stellen ein reales Sollen dar. Prinzipien sind demgegenüber abwägungsfähige und abwägungsbedürftige Normen, die in höherem Maße als Regeln lediglich ein prima facie-Sollen darstellen und auch als ideales Sollen bezeichnet werden können. Während Regeln definitive Gebote enthalten, sind Prinzipien zu optimierende Gebote. Die Frage der Absolutheit kann daher auf die Frage zurückgeführt werden, ob die Menschenwürdegarantie eine Regelstruktur oder eine Prinzipienstruktur hat. Nach der Absolutheitsthese müsste die Menschenwürdenorm eine Regel sein. Das passt zur Kernthese des Bundesverfassungsgerichts in seiner Rechtsprechung zur Menschenwürde: „[E]ine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes findet nicht statt.“7 Im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist in der rechtswissenschaftlichen Literatur die Absolutheitsthese weit verbreitet. Weil die Würde des Menschen nach Art. 1 Abs. 1 GG unantastbar ist, sei nur eine absolute Geltung mit dem Wortlaut der Verfassung vereinbar, wonach eine Einschränkung der Menschenwürde nicht möglich ist. Demnach hat die Unbeschränkbarkeit des obersten Verfassungssatzes zur Folge, dass ein Eingriff in die Menschenwürde zugleich deren Verletzung bedeutet. Folglich kann ein Eingriff in Art. 1 Abs. 1 GG niemals gerechtfertigt sein. So findet die in der Grundrechtsprüfung gebräuchliche Dreiteilung von Schutzbereich, Eingriff und Schranke keine Anwendung auf die Menschenwürde. Bei Grundrechten aber bedeutet unter normalen Umständen ein Eingriff noch keine Verletzung. Eine Grundrechtsverletzung liegt erst dann vor, wenn der Eingriff nicht gerechtfertigt ist. Ob ein Grundrecht verletzt ist oder – mit anderen Worten – ob ein Grundrechtseingriff nicht gerechtfertigt ist, kann in der Regel erst definitiv festgestellt werden, nachdem die den Eingriff rechtfertigenden Gründe mit den Gegengründen im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung abgewogen werden. Die Abwägung kann daher als das Kernstück der Grundrechtsprüfung bezeichnet werden. Die Menschenwürde aber soll um ihres absoluten Schutzes willen der Abwägung entzogen sein. Die Behauptung, dass die Menschenwürde abwägungsfähig ist, ist mit der Absolutheitsthese, der zufolge die Menschenwürde unter allen Umständen gegenüber jedem anderen Verfassungsprinzip vorgeht, nicht vereinbar. Nach 5 6 7

BVerfGE 115, 118. Vgl. hierzu Teifke (Fn. 1), S. 101 ff. BVerfGE 34, 238 (245); 80, 367 (373).

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der Absolutheitsthese kann die Menschenwürde keinen Beschränkungsmöglichkeiten unterliegen. Wenn jeder Eingriff in die Menschenwürde zugleich deren Verletzung darstellt, ist bereits jeder Eingriff in den Schutzbereich verfassungswidrig. Aus der Absolutheitsthese folgt also, dass unter gar keinen Umständen in die Menschenwürde eingegriffen werden darf. Vor diesem Hintergrund besteht zwischen Absolutheit und Abwägung ein Exklusivitätsverhältnis. Gegen die Absolutheitsthese ist einzuwenden, dass die Rechtsprechung zur Menschenwürde die Exklusivität zwischen Absolutheit und Abwägung zwar voraussetzt, aber nicht anwendet. Meine These ist, dass trotz ihrer absoluten Konstruktion die Rechtsprechung zur Menschenwürde auch Abwägungsstrukturen aufweist. Denn hinter der Anwendung der Objektformel8 stehen durchaus Verhältnismäßigkeitserwägungen, auch wenn diese so offensichtlich sind, daß sie nicht jedes Mal ausdrücklich ausgeführt werden müssen, wenn an dem Ergebnis, zu dem sie führen, kein Zweifel besteht. II. Menschenwürde und Abwägung Ausgehend von der eingangs beschriebenen Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien komme ich zu dem Ergebnis, dass die Menschenwürdenorm des Grundgesetzes ein Prinzip ist, das kein absolutes Prinzip ist, sondern ein – zumindest theoretisch – einschränkbares Recht. 1. Kein absolutes Prinzip Nach der hier zu Grunde gelegten Prinzipientheorie ist der Begriff des absoluten Prinzips definitorisch ausgeschlossen. Wenn die Menschenwürdenorm des Grundgesetzes ein Prinzip ist, wofür vieles spricht, kann sie also kein absolutes Prinzip sein. Vielmehr ist sie ebenso wie andere Prinzipien eine abwägungsbedürftige und damit einschränkbare Norm. Eine nicht abwägungsfähige Menschenwürde-Regel ist als Ergebnis einer Abwägung eine dem Prinzip zugeordnete Grundrechtsnorm und hat keine vom Prinzip unabhängige Bedeutung.9 Denn der auf der Regelebene konkretisierte Würdeanspruch hängt von Abwägungen ab.

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Die von Günter Dürig geprägte Objektformel lautet: „Die Menschenwürde ist betroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.“ (Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 [Erstbearbeitung], Rn. 28). Anders Christoph Goos, Innere Freiheit. Eine Rekonstruktion des grundgesetzlichen Würdebegriffs, Göttingen 2011, S. 165. Goos nimmt zwischen dem ersten und dem zweiten Satz des Art. 1 Abs. 1 GG eine klare Trennung vor. Der erste Satz sei eine Regel und bestehe in einem abwägungsfesten Antastungsverbot, dessen Inhalt abstrakt zu bestimmen sei. Der zweite Satz enthalte dagegen zwei Prinzipien, „nämlich die (mit dem Antastungsverbot nicht identische) Achtungs- und Schutzpflicht für die Würde des Menschen“. Eine solche Trennung zwischen Antastungsverbot und Achtungsund Schutzpflicht wird hier zugunsten eines einheitlichen Menschenwürdegrundrechts nicht verfolgt. Ein Grundrecht mit Doppelcharakter weist dagegen nicht diese strikte Trennung auf.

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2. Hohes Gewicht Das Besondere des Prinzips Menschenwürde ist sein hohes abstraktes Gewicht, das alle anderen Prinzipien überragt. Daraus ergibt sich zwar kein absoluter Vorrang, aber zumindest ein abstrakter Vorrang der Menschenwürde. Das höchste abstrakte Gewicht resultiert aus der Absolutheit der Menschenwürde als Rechtsidee. Die Menschenwürde als moralischer Begriff hat zwar beim Übergang zum Recht den Verlust des Absoluten zu verzeichnen.10 Sie verliert aber durch die Positivierung als unmittelbar geltendes Recht nicht ihren überpositiven Charakter, was bedeutet, dass der absolute Charakter der Menschenwürde als Rechtsidee bleibende Bedeutung hat. Habermas bezeichnet die Menschenwürde auch als das „begriffliche Scharnier“ für die Verbindung von Recht und Moral.11 „Die Menschenwürde bildet gleichsam das Portal, durch das der egalitär-universalistische Gehalt der Moral ins Recht importiert wird.“12 In der Rechtswirklichkeit gilt die Menschenwürde jedoch nur scheinbar absolut.13 Auch wenn aufgrund des höchsten abstrakten Gewichts der Eindruck einer absoluten Geltung entsteht und daher unter normalen Umständen von einem absoluten Schutz gesprochen werden kann, ist nicht ausgeschlossen, dass unter extremsten Umständen das Prinzip der Menschenwürde zurückgedrängt wird. 3. Enger Anwendungsbereich Dem hohen Gewicht und sozusagen dem „großen Schein“ der Menschenwürde widerspricht es, sie als „kleine Münze“14 zu behandeln. Um einen inflationären Gebrauch des höchsten Verfassungswertes zu vermeiden, ist es geboten, nicht bereits in gewöhnlichen Fällen auf die Menschenwürde abzustellen. Ein Eingriff in die Menschenwürde zeichnet sich stets durch hohe Intensität aus. Es ist daher zwischen dem Schutzgut Menschenwürde und einem Eingriff in dieses Schutzgut zu unterscheiden. Zwar ist der Begriff der Menschenwürde so weit und unbestimmt, dass so gut wie alle positiven Definitionsversuche sich bislang nicht durchsetzen konnten.15 Daher bleibt auch die am Ende meiner Untersuchung stehende Definition des Schutzbereichs des Art. 1 Abs. 1 GG relativ vage, nach der die Menschenwürde das Recht auf

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Vgl. hierzu unter Bezugnahme auf Kant Teifke (Fn. 1), S. 58 ff., 158 ff. Habermas (Fn. 3), S. 21: „Die Idee der menschlichen Würde ist das begriffliche Scharnier, welches die Moral der gleichen Achtung für jeden mit dem positiven Recht und der demokratischen Rechtsetzung so zusammenfügt, dass aus deren Zusammenspiel unter entgegenkommenden historischen Umständen eine auf Menschenrechte gegründete politische Ordnung hervorgehen konnte“. Habermas (Fn. 3), S. 21. Zu diesem Spannungsverhältnis zwischen Rechtsidee und Rechtswirklichkeit vgl. Habermas (Fn. 3), S. 35: „Die Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit, die mit der Positivierung der Menschenrechte in die Wirklichkeit selbst einbricht, konfrontiert und heute mit der Herausforderung, realistisch zu denken und zu handeln, ohne den utopischen Impuls zu verraten“. Die Rede von der „kleinen Münze“ findet sich schon bei Dürig (Fn. 8), Rn. 29. Aufgrund der Definitionsprobleme wird häufig auf die von Theodor Heuss bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates geäußerte Bezeichnung der Menschenwürde als „nicht interpretierte These“ verwiesen, siehe von Doemming/Füßlein/Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, Art. 1, in: JöR 1 (1951), S. 48–54, S. 49.

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ein Ernstnehmen als Person16 garantiert. Ein Eingriff in die Menschenwürde ist demgegenüber das Nichternstnehmen als Person durch fundamentalen Disrespekt. Diese Definitionen für den Schutzbereich der Menschenwürde und einen Eingriff in diesen Schutzbereich stehen durchaus im Einklang mit der bekannten und in der Rechtspraxis Anwendung findenden Objektformel. Nach der Objektformel ist die Menschenwürde „betroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“.17 Auf diese Weise lässt sich trotz eines weiten Begriffs der Menschenwürde durch einen engen Eingriffsbegriff die Zahl der Menschenwürdefälle auf ein geringes Ausmaß reduzieren. Wenn also die Menschenwürde nicht zur kleinen Münze gemacht werden soll, scheint die Reduzierung von Grundrechtsfällen durch Verneinung der Tatbestandsmäßigkeit bei der Menschenwürde die adäquate Lösung zu sein. Damit fallen potentielle Menschenwürdefälle zwar in den Schutzbereich. Wenn aber die Schwelle der Mindestintensität für eine Beeinträchtigung als Eingriff in die Menschenwürde nicht erreicht wird, ist die Tatbestandsmäßigkeit zu verneinen. Dieser Konstruktionsvorschlag lässt sich nicht nur auf praktische Erwägungen, sondern auch eine theoretische Analyse stützen und entspricht sowohl dem Wortlaut der Verfassung als auch dem Willen des Verfassungsgebers und passt im übrigen auch gut in das System der Grundrechte, das die Menschenwürde nicht als Auffanggrundrecht vorsieht. Im Wertsystem der Grundrechte ist die Menschenwürde vielmehr Wurzel aller Grundrechte. Darüber hinaus wird mit dieser Konstruktion vermieden, dass die Menschenwürde als Tabu oder als Totschlagargument verwendet wird. a) Tabu Das Aufrichten eines Tabus oder das Festhalten an der Menschenwürde als Tabu18 ist mit der Begründungsbedürftigkeit der Menschenwürde nicht vereinbar. Entweder wird regelmäßig tabuisiert, dass sogenannte absolute Garantien häufig nur vermeintlich absolut sind und sich hinter ihnen Abwägungsstrukturen verbergen, oder dieser Umstand wird schlicht nicht erkannt. Nicht bloß der tatsächliche Vorgang einer Abwägung der Menschenwürde wird oft als tabu angesehen. Weithin als Tabubruch gilt bereits die Diskussion über die Abwägungsfähigkeit der Menschenwürde.19 Da16 17 18 19

Gemeint ist die Person nicht nur als liberales Individuum, sondern auch als moralisches Subjekt. Zum Begriff der idealen moralischen Person vgl. Julian Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus, München 1993, S. 111 f. Dürig (Fn. 8), Rn. 28. So Ralf Poscher, Menschenwürde als Tabu. Die verdeckte Rationalität eines absoluten Rechtsverbots der Folter, in: G. Beestermöller / H. Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter. Der Rechtsstaat im Zwielicht?, München 2006, S. 75–87, S. 79 ff. Zu dieser Verbindung von Handlungs- und Thematisierungstabu vgl. Poscher, „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“, in: JZ 2004, S. 756–762, S. 758 ff., der behauptet, dass bereits die Struktur der Menschenwürdegarantie als solche ein Tabu aufweise, und sich weigert, „überhaupt in eine zweckrationale Argumentation hinsichtlich der Absolutheit des Menschenwürdeschutzes einzutreten“. Dass hingegen die Tabuisierung und die Absolutheit des Menschenwürdeschutzes rational seien, lasse sich nicht im Rahmen des Rechtssystems und seiner Dogmatik, aber aus der rechtssoziologischen Außenperspektive erklären. Für eine rationale Rekonstruktion eines irrationalen Tabus auch Josef Isensee, Tabu im freiheitlichen Staat. Jenseits und diesseits der Rationalität des Rechts, Paderborn 2003, S. 61; gegen ein Begründungs- und Hinterfragungsverbot Winfried Kluth, Menschenwürde zwischen Naturrecht und Tabu, in: O. Depenheuer / M. Heintzen / M. Jestaedt / P. Axer (Hrsg.), Staat im Wort. Festschrift für Josef Isensee, Heidelberg 2007, S. 535–548, S. 547.

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mit drohe eine Uminterpretation des Art. 1 Abs. 1 GG, die zu einem Dammbruch führe.20 Nach Philip Kunig würde der Dammbruch „den Rückschritt von der menschenwürdeorientierten Ordung zur – bloßen – Verhältnismäßigkeitsordnung bedeuten“.21 Dabei wird allerdings in der Regel übersehen, dass sich eine Tabuisierung mit einem effektiven Menschenwürdeschutz nicht verträgt. Schließlich steht eine Verhältnismäßigkeitsordnung einer menschenwürdeorientierten Ordnung nicht entgegen, sondern kann dieser vielmehr zu einer besseren Durchsetzung verhelfen. Auf der einen Seite widerspricht also die Menschenwürde als Tabu der diskursiven Demokratie, auf der anderen Seite darf sie durch eine Enttabuisierung nicht zu einem Totschlagargument verkommen.22 b) Totschlagargument Immer beliebter ist es geworden, in zweifelhaften Fällen für sich oder andere einen Eingriff in die Menschenwürde zu reklamieren, weil mittlerweile allgemein bekannt ist, dass ein Eingriff in die Menschenwürde aufgrund der geforderten Unabwägbarkeit bereits eine Verletzung der Menschenwürde darstellt und demzufolge der Eingriff nicht durch weitere Prüfung gerechtfertigt werden kann. Die Menschenwürde ist daher in der öffentlichen Debatte zur diskursiven Allzweckwaffe geworden, mit der eigene Positionen durch das Zauberwort „Menschenwürde“ vor Gegenangriffen geschützt werden können. In diesem Sinne beschreibt Edzard SchmidtJortzig die Menschenwürde als Totschlagargument: „Schon wer den Begriff in die Debatte einführt und für sich reklamiert, hat gewonnen. Dagegen anzuargumentieren, ist zwecklos. Wer es versucht, grenzt sich aus. Er gilt als unsozial und scheint nicht auf Gerechtigkeit aus zu sein. Das Zauberwort taugt damit regelrecht sogar zum Totschlagargument.“23 In der öffentlichen Auseinandersetzung geht dann die Tatsache völlig unter, dass auch hinter der Frage, ob in einem bestimmten Fall ein Eingriff in die Menschenwürde vorliegt, Abwägungen stehen, die allerdings verdeckt stattfinden. Der hier vorgelegte Konstruktionsvorschlag von Menschenwürde und Abwägung ist daher redlicher und verleiht der Argumentation in Menschenwürdefällen größere Transparenz. III. Sieben Elemente einer Theorie der Menschenwürde In aller Kürze sollen hier die Ergebnisse meiner Untersuchung zu einer Theorie der Menschenwürde zusammengefasst werden, die aus sieben Elementen besteht, wobei diese Elemente eng miteinander verwoben sind, also ein System bilden.

20 21 22 23

Vgl. statt vieler Philip Kunig, Zum Dogma der unantastbaren Menschenwürde, in: R. Gröschner / O.W. Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit. Eine Auseinandersetzung mit dem Absolutheitsanspruch der Würde, Tübingen 2009, S. 121–132, S. 131. Kunig (Fn. 20), S. 131. Kritisch zur Enttabuisierung vor dem Hintergrund des Totschlagsarguments Gerd Roellecke, Das Geheimnis der Tabus. Kulturell bedingte Orientierungen in Grenzsituationen, in: O. Depenheuer (Hrsg.), Recht und Tabu, Wiesbaden 2003, S. 61–74, S. 68. Schmidt-Jortzig, „Menschenwürde“ als Zauberwort der öffentlichen Debatte. Demokratische Meinungsbildung in hoch komplexen Problemfelden, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 52 (2008), S. 50–56. S. 51.

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1. Grundrechtscharakter Das erste Element besteht in der Notwendigkeit, die Menschenwürde als Grundrecht einzustufen. Damit ist sie nicht nur höchstes objektives Prinzip der Verfassung, sondern zugleich ein einklagbares subjektives Recht. Zwar ist der Grundrechtscharakter in der verfassungsrechtlichen Literatur heftig umstritten.24 Die Subjektqualität des Individuums als Schutzgegenstand der Menschenwürde spricht aber für die Subjektivierung der Menschenwürdenorm und damit für die Grundrechtsqualität des Art. 1 Abs. 1 GG. Auch die zutreffende Forderung, dass die Menschenwürde nicht zur „kleinen Münze“ gemacht werden soll, schließt nicht aus, sie als Grundrecht zu behandeln. Ferner überzeugt das Argument gegen den Grundrechtscharakter, die Menschenwürde als Grundrecht öffne Art. 1 Abs. 1 GG für Abwägungen, nicht.25 Denn auch als bloß objektive Norm ist die Menschenwürde in Abwägungsprozeduren einbezogen, auch wenn sie auf diese Weise scheinbar nicht selbst abgewogen wird, sondern lediglich anderen Grundrechten Schranken setzen oder dazu dienen soll, andere Grundrechte zu verstärken. Wird beispielsweise bei einer Kollision zwischen Meinungsäußerungsfreiheit und Menschenwürde die Meinungsäußerungsfreiheit eingeschränkt, setzt die Menschenwürde des einen der Meinungsäußerungsfreiheit des anderen keine feststehende Grenze, sondern die Schrankenfunktion der Menschenwürde liegt darin, beide Prinzipien, die Menschenwürde sowie die Meinungsäußerungsfreiheit, im Rahmen einer Abwägung möglichst weitgehend zu realisieren. Auch wenn die Menschenwürde letztlich Vorrang genießt, beruht dieser Vorrang auf einer Abwägungsentscheidung. Damit steht bereits das zweite Element einer Theorie der Menschenwürde fest. 2. Abwägungsfähigkeit Das zweite Element ist die Abwägungsfähigkeit der Menschenwürde. Zwar kann in gewöhnlichen Fällen bei Anwendung der Objektformel die Menschenwürde als Regel mit definitiver Geltung behandelt werden. Die Objektformel selbst ist aber nichts anderes als das Ergebnis einer abstrakten Abwägung. Die abstrakte Abwägung führt bereits vor der Prüfung, ob ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG vorliegt, zu einem engen Menschenwürdetatbestand, der durch die Objektformel definiert wird. In schwierigen Fällen muss eine konkrete Abwägung hinzukommen, bei der das konkrete Gewicht der widerstreitenden Prinzipien und die konkrete Eingriffsintensität für die Entscheidung des Falles von Bedeutung sind. 3. Prinzipiencharakter Aus dem zweiten Element folgt das dritte, der Prinzipiencharakter der Menschenwürde, da in Abwägungen nur Prinzipien und keine Regeln eingestellt werden können. Die Menschenwürde als Prinzip mit einem engen Tatbestand, der für die hier vorgeschlagene Konstruktion von Menschenwürde und Abwägung charakteristisch ist und die Sonderstellung der Menschenwürde unterstreicht, kann als vermittelnde 24 25

Vgl. hierzu Teifke (Fn. 1), S. 71 ff. So auch Kunig (Fn. 20), S. 126.

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Position zwischen der absoluten Konstruktion in der herrschenden Lehre und Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf der einen Seite und kritischen, der Menschenwürde ihrer Sonderstellung beraubenden Stimmen auf der anderen Seite betrachtet werden. 4. Regelebene Der Prinzipiencharakter der Menschenwürde schließt die Existenz einer Regelebene keinesfalls aus. Diese ist das vierte Element der Theorie der Menschenwürde. Die Besonderheit bei der Menschenwürde besteht darin, dass die Prinzipien- und die Regelebene sehr nah beieinander liegen. Daraus entsteht der Eindruck der Unbeschränktheit der Menschenwürde. Die These von der absoluten Geltung der Menschenwürde könnte nur auf die Regelebene zutreffen. Trotz der herausragenden Bedeutung der Regelebene der Menschenwürdenorm bleibt die Regelebene von Prinzipienrelationen abhängig. Aufgrund dieser relativen Fundierung ist auch auf der Regelebene ein absoluter Schutz ausgeschlossen. Dass die Menschenwürde dennoch zumindest scheinbar absolut gilt, ergibt sich daraus, dass es eine Reihe von Bedingungen gibt, unter denen das Prinzip der Menschenwürde mit hoher Sicherheit allen anderen Prinzipien vorgeht. Diese Reihe von Bedingungen bildet auf der Regelebene ein Netzwerk konkreter Präferenzentscheidungen zugunsten der Menschenwürde. 5. Absolutheit als regulative Idee Das fünfte Element besteht in der Absolutheit als regulative Idee.26 Die These, dass die Menschenwürde absolut gelte, lässt sich mit deren Abwägungsbedürftigkeit nicht vereinbaren. Die Menschenwürde als moralischer Begriff mag zwar absolut gelten, als Rechtsbegriff ist die absolute Geltung dagegen ausgeschlossen. Die Absolutheit existiert im Bereich des Rechts lediglich als regulative Idee. Während sich die Autonomie als Grund der Menschenwürde vor dem Hintergrund ihrer Herkunft aus der Moral primär auf den Gebrauch der inneren Freiheit27 (positive Freiheit, das Richtige zu erkennen und zu tun) bezieht und insoweit einen absoluten Wert darstellt, geht es im Recht wesentlich um den Gebrauch der äußeren Freiheit (negative Freiheit, die in der Handlungsalternative besteht, etwas zu tun oder zu unterlassen).28 Der Übergang zum Recht bedeutet daher den Verlust des Absoluten. Auch wenn die Menschenwürde als moralischer Begriff im Recht ihre absolute Geltung verliert, büßt sie aber durch die Positivierung ihren überpositiven Charakter nicht ein, was bedeutet, dass der absolute Charakter der Menschenwürde als Rechtsidee bleibende Bedeutung hat. Nur im Lichte der Rechtsidee ist die Menschenwürde auch im Bereich des Rechts ein absoluter Wert.

26 27 28

Vgl. hierzu Teifke (Fn. 1), S. 157 ff. Vgl. hierzu die Konzeption der inneren Freiheit bei Goos (Fn. 9), S. 139 ff. Vgl. Habermas (Fn. 3), S. 24, der aus dem Grundbegriff der Autonomie für Vernunftmoral und Vernunftrecht folgert: „Während uns die Moral Pflichten auferlegt, die alle Handlungsbereiche lückenlos durchdringen, schafft das moderne Recht Freiräume für private Willkür und individuelle Lebensgestaltung“.

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6. Höchstes abstraktes Gewicht Die Absolutheit der Rechtsidee, die sich auf den absoluten Wert der Autonomie bezieht, verleiht der Menschenwürde vom Standpunkt der Verfassung aus das höchste abstrakte Gewicht, weil dieses gegenüber den abstrakten Gewichten aller anderen grundrechtlich relevanten Prinzipien überwiegt. Dieses sechste Element der Theorie der Menschenwürde bringt wiederum die Sonderstellung der Menschenwürde als Höchstwert des grundrechtlichen Systems zum Ausdruck. Zugleich schließt es aber eine Relativierung im Blick auf konkrete Fälle ein. 7. Doppelcharakter als überwölbende Idee Das siebte Element ist die Menschenwürde als überwölbende Idee, die die vorangehenden sechs Elemente zusammenfasst und zu einer Einheit verbindet. Die überwölbende Idee besteht darin, dass die Menschenwürde sowohl relativ als auch absolut ist. Zwischen der Relativität der Menschenwürde, die durch die ersten vier Elemente betont wird, und der im fünften Element aufgezeigten Absolutheit der Menschenwürde besteht ein notwendiger Zusammenhang. Diesen Zusammenhang verdeutlicht bereits das sechste Element. Denn auf der einen Seite kann die These vom höchsten abstrakten Gewicht der Menschenwürde als Abglanz der Absolutheit der Idee bezeichnet werden. Auf der anderen Seite aber bleibt die Menschenwürdenorm abwägungsfähig, auch wenn ihr abstraktes Gewicht einen annähernd unendlichen Wert aufweist. Da der abstrakte Vorrang der Menschenwürde stets im Hinblick auf konkrete Fälle zu relativieren ist, bleibt festzuhalten, dass die Würde des Menschen gemäß Art. 1 Abs. 1 GG praktisch zwar weitgehend abwägungsfrei, theoretisch aber grundsätzlich abwägungsfähig ist. Der Doppelcharakter der Menschenwürde spiegelt sich schließlich in der Relativität der Menschenwürde als Rechtsbegriff und der Absolutheit der Menschenwürde als Rechtsidee wider. IV. Praktische Relevanz Auch wenn die Untersuchung den Streit um die Menschenwürde inhaltlich nicht zu lösen vermag, kann der Entwurf einer Theorie der Menschenwürde doch dazu beitragen, Orientierung in komplexen Problemlagen und Konfliktsituationen zu bieten und Handlungsoptionen aufzuzeigen. Neben drängenden Fragen von gesellschaftlicher Bedeutung, die den Beginn und das Ende des Lebens, das Recht auf ein Existenzminimum oder den Kernbereich privater Lebensgestaltung betreffen, bleibt die Folter in der Menschenwürdediskussion das paradigmatische Beispiel einer Menschenwürdeverletzung. Daher sollen die bisherigen Ergebnisse anhand der Folterdiskussion überprüft werden. Neben den neuen terroristischen Bedrohungen, die Ausgangspunkt einer intensiv geführten Folterdebatte sind, wird die sogenannte Rettungsfolter auch in Entführungsfällen diskutiert. Nicht zuletzt in Reaktion auf den Fall der Folterandrohung des damaligen Frankfurter Polizeivizepräsidenten Daschner gegen den Entführer des

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Bankierssohns Jakob von Metzler29 mehren sich auch unter den Verfechtern der Absolutheitsthese die Stimmen, die trotz der weiterhin behaupteten absoluten Geltung der Menschenwürde für Kollisionen Würde gegen Würde Ausnahmen von der Unabwägbarkeit zulassen wollen. Nicht selten werden Kollisionen dieser Art als tragische Kollisionen bezeichnet, weil es für sie keine befriedigende Lösung gebe. Die Rede von tragischen Kollisionen aber hat allenfalls einen moralischen, nicht einen rechtlichen Sinn. Auch bei Kollisionen Würde gegen Würde ist zu fragen, ob das konkrete Gewicht der Menschenwürde, in die eingegriffen wird, oder das konkrete Gewicht der Menschenwürde, in die nicht eingegriffen wird, überwiegt.30 Auf das abstrakte, überragend hohe Gewicht der Menschenwürde kommt es hier nicht an, da es auf beiden Seiten in die Waagschale geworfen wird. Bezogen auf den Entführungsfall bedarf es zur Rechtfertigung der Folter daher eines ebenso intensiven Eingriffs in die Menschenwürde der entführten Person. Hier ist bereits fraglich, ob beim Entführungsopfer neben dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit auch die Menschenwürde betroffen ist. Auch wenn eine Menschenwürdebeeinträchtigung sicher angenommen werden kann, bleiben weitere Fragen, die wiederum nur eine Betrachtung unter empirischer Unsicherheit zulassen. Die hohe Hürde der Anforderungen an die Gewißheit der den Eingriff tragenden Prämissen kann dagegen nur überwunden werden, wenn empirische Sicherheit vorliegt. Da die Informationen, die durch Folter gewonnen werden, regelmäßig unzuverlässig sind, muß die Rechtfertigung der Folter scheitern. Neben dem Nichtvorliegen der empirischen Prämissen ist die Folter aber bereits aus normativen Gründen verfassungsrechtlich verboten. Das absolute Folterverbot ist bereits das Ergebnis einer Abwägung, die der Verfassungsgeber vorgenommen hat.31 Denn der beschriebene Kollisionsfall ist durch Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG verfassungsrechtlich vorentschieden.32 Daher kommt für in Polizeigewahrsam befindliche Personen vorrangig Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG zur Anwendung, der gegenüber der Unantastbarkeit der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG die speziellere Norm ist und lautet: „Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich mißhandelt werden.“ Der paradigmatische Fall einer seelischen und/oder körperlichen Mißhandlung ist die Folter, die in der finalen Zufügung von physischen oder psychischen Leiden zur Brechung des Willens des Betroffenen besteht. Dass die Frage, ob Folter im Extremfall erlaubt sein soll, bereits auf Verfassungsebene durch eine Abwägung vorentschieden ist, bedeutet nicht, dass die Menschenwürde nicht mehr abwägungsfähig ist. Das absolute Folterverbot als Ergebnis 29

30

31 32

Zum Fall Daschner vgl. Reinhard Merkel, Folter und Notwehr, in: M. Pawlik / R. Zaczyk (Hrsg.), Festschrift für Günther Jakobs zum 70. Geburtstag am 26. Juli 2007, Köln/Berlin/München 2007, S. 375–403, S. 376 ff.; Jörn Ipsen, Folterverbot und Notwehrrecht, in: W. Lenzen (Hrsg.), Ist Folter erlaubt? Juristische und philosophische Aspekte, Paderborn 2006, S. 39–45, S. 39 ff. Ähnlich wie hier auf die „vertrauten Formen der Abwägung“ abstellend Fabian Wittreck, Achtungsgegen Schutzpflicht? Zur Diskussion um Menschenwürde und Folterverbot, in: U. Blaschke / A. Förster / S. Lumpp / J. Schmidt (Hrsg.), Sicherheit statt Freiheit? Staatliche Handlungsspielräume in extremen Gefährdungslagen, Berlin 2005, S. 161–190, S. 177. So auch Mathias Hong, Das grundgesetzliche Folterverbot und der Menschenwürdegehalt der Grundrechte – eine verfassungsjuristische Betrachtung, in: G. Beestermöller / H. Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter. Der Rechtsstaat im Zwielicht?, München 2006, S. 24–35, S. 34. Vgl. hierzu Christoph Enders, Der Staat in Not – Terrorismusbekämpfung an den Grenzen des Rechtsstaats –, in: DÖV 2007, S. 1039–1046, S. 1041. Nach Dietmar von der Pfordten, Ist staatliche Folter als fernwirkende Nothilfe rechtsethisch erlaubt?, in: W. Lenzen (Hrsg.), Ist Folter erlaubt? Juristische und philosophische Aspekte, Paderborn 2006, S. 149–172, S. 169, sprechen auch rechtsethische Gründe dagegen, das „absolute rechtliche Verbot der Folter zu relativieren“.

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einer Abwägung zeigt aber, dass die Abwägung nicht alles erlaubt oder aufweicht, sondern vielmehr, dass auch im Wege der Abwägung Grenzen gesetzt werden können. Insgesamt zeigt sich, dass die Auseinandersetzung mit den Grundfragen menschlichen Lebens nicht angemessen geführt wird, wenn die Menschenwürde als Tabu behandelt oder als Totschlagargument verwendet wird. Auch wer die Unantastbarkeit der Menschenwürde als etwas Heiliges begreift, kann in der gesellschaftlichen Debatte dieser Auffassung eher Geltung verschaffen, wenn der unendliche Wert der Menschenwürde argumentativ herausgestellt wird, statt mit der Warnung vor einem Dammbruch von vornherein eine Diskussion über Menschenwürde abzulehnen. Daher bietet der neue Entwurf der Konstruktion von Menschenwürde und Abwägung tatsächlich mehr wirksamen Würdeschutz als die Position der absoluten Geltung der Menschenwürde. Denn bei der Abwägung geht es nicht um ein Entweder-Oder, sondern um ein Mehr oder Weniger: „Je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips ist, desto größer muß die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen sein.“33 Nun ist aber die Wichtigkeit der Erfüllung des Prinzips der Menschenwürde so groß, dass es ausgeschlossen scheint, dass der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung eines anderen Prinzips höher ist.

33

Alexy, Theorie der Grundrechte, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1996, S. 146.

Friederike Wapler

Pluralismus, Toleranz und das Recht des Kindes auf eine offene Zukunft Die wachsende Autonomie des Kindes als Herausforderung für die liberale Ethik

Pluralism of political theories, religious convictions and conceptions of a good life is an inevitable fact in liberal, normative-individualistic societies. The freedom of the autonomous individual to choose his/her own life is an important feature in liberal political philosophy, and ethics. The article sounds out the limits of tolerance in pluralistic societies looking at the special problem of children growing up in non-liberal social communities. The question is raised if children need a “right to an open future” to protect their future capacity of choosing their own life against paternalistic restrictions.

Im Jahr 2010 erhielt eine Familie aus Deutschland politisches Asyl in den USA wegen religiöser Verfolgung.1 Der Grund: Die Eltern, die einer evangelikalen Glaubensgemeinschaft angehören, hatten sich geweigert, ihre Kinder zur Schule zu schicken und sie statt dessen zu Hause unterrichtet. Die Neutralitätspflicht, die in deutschen Schulen herrscht, war ihnen ebenso ein Dorn im Auge wie das Bildungsziel, Kinder zu einem kritischen Umgang mit Informationen und zu Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensweisen zu erziehen. All dies, so die Eltern, untergrabe den festen Glauben an Gott, zeigt sich dieser für sie doch gerade darin, dass die Werte und Gebote der Bibel unumstößlich gelten und nicht hinterfragt werden können. Das staatliche Schulsystem stelle Lebensweisen als normal und beliebig wählbar dar, die nach den Vorstellungen der Eltern sündig und gottlos sind. Die Kinder würden zudem zur Aufsässigkeit gegenüber ihren Eltern erzogen und ihnen damit entfremdet. Mit anderen Worten: Die bibeltreuen Eltern wenden sich gegen eine liberale Erziehung, die auf individuelle Freiheit, Persönlichkeitsentfaltung und Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensweisen setzt. Dagegen stellen sie ihre eigene Vorstellung von einem gottesfürchtigen Leben, in dem das Individuum sich den nicht hinterfragbaren Regeln der religiösen Gemeinschaft unterwirft. In Deutschland reagieren die Schulbehörden überwiegend repressiv auf die Schulverweigerung aus religiösen Gründen und versuchen, die Schulpflicht mit Hilfe von Ordnungs- und Zwangsgeldern, Geldbußen und Ersatzzwanghaft durchzusetzen.2 In einigen Oberlandesgerichtsbezirken entziehen die Familiengerichte auch die elterliche Sorge, jedenfalls soweit sie Fragen des Schulbesuchs betrifft.3 Begründung: Das Wohl des Kindes sei gefährdet, wenn die Kinder keine Schule besuchen könn1 2

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Siehe Maria Holzmüller, „Peinlich für Deutschland“, Süddeutsche Zeitung v. 27.1.2010, >http://www.sueddeutsche.de/karriere/2.220/us-asyl-fuer-schulverweigerer-peinlich-fuerdeutschland-1.60519